Gott, Geist, Vernunft: Prinzipien und Probleme der Natürlichen Theologie 9783161525841, 9783161529214, 3161525841

English summary: Natural theology is the philosophical reflection of the existence and nature of God or the Divine. Phil

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Table of contents :
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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Feuerbachs These
1. Theologie als verstellte Selbsterkenntnis des Menschen
2. Die Hypostasierungsthese
3. Spekulative Selbsterkenntnis
4. Gottes- und Menschenbild als philosophisches Problem
II. Die Transzendenz der Gattung
1. Gattungsentwicklung und Transzendenz
2. Das Wesen des Menschen und die Zukunft
3. Religion als Repression und Utopiebewusstsein
4. Die Denkbarkeit des Ultimum
III. Erkenntnis des Transzendenten
1. Einwände gegen Anselms Argument
2. Anselm über das Gute
3. Das eine Argument
4. Seinsweise und Attribute des höchsten Denkbaren
IV. Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis
1. Noch einmal das eine Argument
2. Selbstbewusstsein
3. Formale Analogien zwischen Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis .
4. Gotteserkenntnis und Welterkenntnis
V. Naturerkenntnis und spekulative Theologie
1. Kritik des theologischen Apriorismus
2. Ontologie als Basis der Theologie
3. Seinsordnung und Kontingenz
4. Probleme einer Theologie aus Ontologie
VI. Geist, Vernunft, Natur
1. Eine Aporie
2. Glauben, Wissen, Spekulation
3. Sein und Geist
4. Identität von Geist und Natur?
VII. Probleme der Natürlichen Theologie
1. Theodizee als Problem der Natürlichen Theologie
2. Religionsphilosophie und Natürliche Theologie
3. Die Vielfalt der Religionen
4. Natürliche Theologie zwischen Philosophie und Offenbarungstheologie
Literatur
Personenregister
Sachregister
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Gott, Geist, Vernunft: Prinzipien und Probleme der Natürlichen Theologie
 9783161525841, 9783161529214, 3161525841

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Collegium  Metaphysicum Herausgeber / Editors

Thomas Buchheim (München) · Friedrich Hermanni (Tübingen) Axel Hutter (München) · Christoph Schwöbel (Tübingen) Beirat / Advisory Board

Johannes Brachtendorf (Tübingen) · Jens Halfwassen (Heidelberg) Johannes Hübner (Halle) · Anton Friedrich Koch (Heidelberg) Michael Moxter (Hamburg) · Friedrike Schick (Tübingen) Rolf Schönberger (Regensburg) · Eleonore Stump (St. Louis)

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Henning Tegtmeyer

Gott, Geist, Vernunft Prinzipien und Probleme der Natürlichen Theologie

Mohr Siebeck

Henning Tegtmeyer, geboren 1968; 1990–98 Studium der Deutschen und Slawischen Philologie sowie der Philosophie und Germanistik; 2004 Promotion; 2012 Habilitation; seit 2013 Professor für Metaphysik und Religionsphilosophie an der KU Leuven.

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. e-ISBN PDF 978-3-16-152921-4 ISBN 978-3-16-152584-1 ISSN  2191-6683 (Collegium Metaphysicum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Stempel Garamond gesetzt, auf alterungs­beständiges Werkdruck­papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Für Kathi

Vorwort Es gehört zu den realen Ironien unserer Zeit, dass eine Rückbesinnung auf Tradition nur als Traditionsbruch vollzogen werden kann. Denn der Bruch mit oder Abbruch von Traditionen ist selbst zu einer Tradition geworden. Er kann noch immer zu Kulturkämpfen aller Art motivieren, besonders wenn er unter pathetischen Titeln wie ‚Aufklärung‘, ‚Moderne‘ oder neuerdings wieder ‚Humanismus‘ proklamiert wird, hat sich aber von etwas Umstrittenen in etwas für selbstverständlich Gehaltenes verwandelt, auf das man sich jederzeit als scheinbar letzten Grund berufen kann und mit dem jegliche Kritik beginnnt und endet. Das gilt auch und besonders für Philosophie und Wissenschaften. Ein wichtiges Indiz dafür ist das hohe Ansehen, welches Autoritätsargumente heutzutage im philosophischen, wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs genießen. Metaphysik, die von Aristoteles bis zu Descartes, Leibniz und Wolff allgemein als Erste Philosophie und Grundlage aller Wissenschaften angesehen wurde, wird heutzutage für obsolet gehalten. Metaphysikkritik ist dagegen zu etwas geworden, was man nicht mehr vollziehen, sondern nur noch beschwören muss. Wir haben es mit einer ihrerseits verfestigten, für ‚unhintergehbar‘ erklärten, für nicht mehr kritisierbar gehaltenen Tradition zu tun. Wer diesen Zustand für eine Gefährdung der Philosophie hält, gerät in die paradoxe Situation, mit dem Bruch brechen und die Kritik kritisieren zu müssen, also gerade das zu betreiben, womit es der modernen Tradition nicht mehr rechter Ernst ist: Begründungen zu fordern und sich um Gründe an Stelle von bloßen Bekenntnissen zu bemühen. Anscheinend muss man das Paradoxe dieser Situation akzeptieren. Zumindest verdankt die nachfolgende Studie ihr Entstehen dem Eindruck, dass es mit dem Bruch mit Metaphysik philosophisch nicht seine Richtigkeit haben kann und dass es daher einer erneuten und gründlichen Revision der Fundamente der Philosophie im Allgemeinen und der Philosophie der Neuzeit im Besonderen bedarf. Das schließt manche Kritik, manche schmerzhafte Infragestellung auch der Traditionen und Schulzusammenhänge ein, denen wir Heutigen unsere philosophische und wissenschaftliche Bildung verdanken. Loyalität ist eine ethische, aber leider nicht immer eine philosophische Tugend, und Kritik ist nicht notwendig ein Ausdruck von Undankbarkeit. Klar ist, dass eine erneute Hinwendung zur Metaphysik weder nostalgisch noch restaurativ motiviert sein kann. Nicht um Rettung, Wiederherstellung

VIII

Vorwort

oder museale Rekonstruktion kann es hier gehen, sondern vielmehr darum, Inspiration bei dem Geist des eigenständigen, kritischen und gründlichen Den­ twas kens zu suchen, der die Werke der großen Metaphysiker prägt und belebt. E davon scheint in jüngster Zeit erneut im philosophischen Diskurs zu erwachen, auch wenn es noch zu früh und obendrein missverständlich ist, von einer echten Renaissance der Metaphysik zu sprechen. Im Folgenden wird der Versuch einer kritischen Durchdringung der Metaphysik und ihrer Kritik exemplarisch auf einem begrenzten Feld unternommen, dem Feld der Natürlichen Theologie. Die Bedeutsamkeit dieser metaphysischen Disziplin liegt auf der Hand. Wenn an den hier angestellten Überlegungen etwas Wahres ist, dann werden weitere Untersuchungen folgen müssen, etwa in der Logik und der Erkenntnistheorie, der Anthropologie, Ethik und Ästhetik und darüber hinaus. Dazu werden gemeinsame Denkanstrengungen und wechselseitige Kritik und Kooperation erforderlich sein und bleiben. Bei der Entstehung des vorliegenden Buches haben zahlreiche Personen und Institutionen fördernd und helfend mitgewirkt. Es wurde zunächst am Lehrstuhl für Theoretische Philosophie der Universität Leipzig, dann im Zuge von Lehr- und Forschungstätigkeiten an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz niedergeschrieben und schließlich im Sommer 2012 von der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig als Habilita­ tions­schrift angenommen. Herzlich danken möchte ich in diesem Zusammenhang den Gutachtern Pirmin Stekeler-Weithofer, Holm Tetens und Rolf Schönberger, nicht zuletzt für wichtige Hinweise für die Überarbeitung und Publikation des Buches. Danken möchte ich ferner den Herausgebern der Reihe Collegium Metaphysicum, Thomas Buchheim, Friedrich Hermanni, Axel Hutter und Christoph Schwöbel, dafür, dass das Werk hier erscheinen kann, sowie der VG Wort für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Stephanie Warnke-De Nobili und Matthias Spitzner vom Verlag Mohr Siebeck haben wertvolle Hilfe bei der Drucklegung des Manuskripts geleistet, wofür ich ihnen ebenfalls herzlich danke. Besonders dankbar bin ich Pirmin Stekeler-Weithofer für das langjährige Vertrauen und die Ermutigung meiner Arbeit, die er stets mit kritischer Toleranz begleitet hat, sowie für die Gelegenheit, eine Fassung des Buches in seinem Oberseminar zu diskutieren. Die Teilnehmer an dieser Veranstaltung haben mir mit Kritik und konstruktiven Hinweisen weitergeholfen. Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang auch die Kollegen und Freunde, mit denen ich Grundthesen und Einzelaspekte meiner Überlegungen zur Allgemeinen und Speziellen Metaphysik immer wieder diskutieren konnte, vor allem Klaus-Dieter Eichler, Stephan Grotz, Johann Gudmundsson, Falk Hamann, Peter Heuer, Christian Kietzmann, Heiner Klemme, Nikos Psarros, Stefan Seit und Thomas Wendt sowie die Teilnehmer an den alljährlich in Frankreich oder Deutschland stattfindenden monastisch-universitären Kolloquien. Allen voran ist ihr Be-

Vorwort

IX

gründer Norbert Meder zu nennen, ferner Marc Balmès, Dietmar David Hartwich, Thibault de Pompignan, Samuel Rouvillois sowie Ulrich Wienbruch. Der konzentrierten Arbeits- und Diskussionsatmosphäre dieser Zusammenkünfte und besonders den kritischen Interventionen der genannten Personen verdanke ich äußerst wichtige Anregungen. Nicht in Worten ausdrücken kann ich meinen Dank an Kathi Beier, meine Frau und wichtigste Diskussionspartnerin. Leipzig, im Juni 2013

Henning Tegtmeyer

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I.  Feuerbachs These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.  Theologie als verstellte Selbsterkenntnis des Menschen . . . . . . . . . . 2.  Die Hypostasierungsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.  Spekulative Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.  Gottes- und Menschenbild als philosophisches Problem . . . . . . . . . .

29 32 38 46

II.  Die Transzendenz der Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1.  Gattungsentwicklung und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.  Das Wesen des Menschen und die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.  Religion als Repression und Utopiebewusstsein . . . . . . . . . . . . . . 4.  Die Denkbarkeit des Ultimum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 56 65 71

III.  Erkenntnis des Transzendenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1.  Einwände gegen Anselms Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.  Anselm über das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.  Das eine Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.  Seinsweise und Attribute des höchsten Denkbaren . . . . . . . . . . . . .

81 88 96 104

IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1.  Noch einmal das eine Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.  Formale Analogien zwischen Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis . 4.  Gotteserkenntnis und Welterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123 128 147 165

V.  Naturerkenntnis und spekulative Theologie . . . . . . . . . . . . . . 181 1.  Kritik des theologischen Apriorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 2.  Ontologie als Basis der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3.  Seinsordnung und Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

XII

Inhaltsverzeichnis

4.  Probleme einer Theologie aus Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

VI.  Geist, Vernunft, Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 1.  Eine Aporie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.  Glauben, Wissen, Spekulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.  Sein und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.  Identität von Geist und Natur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245 249 267 293

VII.  Probleme der Natürlichen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 1.  Theodizee als Problem der Natürlichen Theologie . . . . . . . . . . . . . 2.  Religionsphilosophie und Natürliche Theologie . . . . . . . . . . . . . . 3.  Die Vielfalt der Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.  Natürliche Theologie zwischen Philosophie und Offenbarungstheologie

307 322 334 345

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386

We are not convinced there has been any improvement. Leonard Cohen

Einleitung Ein Plädoyer für die Rationale oder Natürliche Theologie muss heutzutage anachronistisch erscheinen.1 Denn die Geschichte der Philosophie hat, so scheint es doch, aus sich heraus gerade umgekehrt weg von der Natürlichen Theologie, der wichtigsten Disziplin der Speziellen Metaphysik, geführt, und zwar teils ganz fort von der Religion, teils auch zu einer postmetaphysischen Religionsphilosophie. Wer sich heute philosophisch mit Fragen befasst, die in den Überschneidungsbereich von Philosophie und Theologie gehören, der tut dies in der Regel in einem religionsphilosophischen und nicht in einem im eigentlichen Sinn metaphysischen Denk- und Reflexionsrahmen. Mag es auch in den vergangenen Jahren zu so etwas wie einer Renaissance metaphysischer Theoriebildung gekommen sein, so betrifft diese Entwicklung in erster Linie die Allgemeine Metaphysik, die Ontologie, und nicht so sehr die Spezielle Metaphysik mit ihren kosmologischen und theologischen Fragen. Wer diese philosophiegeschichtliche Großentwicklung nicht für eine Fortschrittsgeschichte hält, trägt eben deswegen die Begründungslast. Die folgende Arbeit wird damit beginnen, diese Last abzutragen. Die Geburtsstunde der Religionsphilosophie fällt in das Jahr 1793, das Erscheinungsjahr von Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Diese Schrift ist die konsequente Fortsetzung seines kritischen Projekts und die Anwendung ihrer Ergebnisse auf den religiösen Glauben. In der Kritik der reinen Vernunft glaubt Kant die Unmöglichkeit jeglicher Natür1   Die tradierten Benennungen der philosophischen Disziplin, um die es im Folgenden gehen soll, nämlich desjenigen Teils der Speziellen Metaphysik, der sich mit Gott oder dem Absoluten beschäftigt, sind allesamt nicht ganz glücklich. Spricht man mit Wolff und Kant von Rationaler Theologie, dann suggeriert das, dass es sich bei Offenbarungstheologie um etwas nicht Rationales oder gar Irrationales handelt – doch womöglich unterscheidet diese sich von jener nicht durch einen Mangel an Rationalität. Aber auch die Bezeichnung Natürliche Theologie klingt etwas irreführend, denn Natürlichkeit oder Naturwüchsigkeit kann man dieser Disziplin nicht in jeder Hinsicht nachsagen. Gemeint ist, dass sie vollständig auf eine natürliche Quelle zurückgeht, nämlich die Vernunft allein, während Offenbarungstheologie aus einer übernatürlichen Quelle zu schöpfen beansprucht, der Selbstoffenbarung Gottes. Treffender wäre wohl die Bezeichnung ‚philosophische Theologie‘. Aber den Titel ‚philosophisch‘ nimmt auch Schellings Offenbarungsphilosophie zu Recht für sich in Anspruch, und Thomas von Aquins philosophisch streng durchgearbeitete Theologie könnte es zumindest über weite Strecken mit gleichem Recht tun. Ich werde daher in der Regel dem üblichen Sprachgebrauch folgen, indem ich von Natürlicher Theologie spreche.

2

Einleitung

lichen oder Rationalen Theologie wie überhaupt jeder Speziellen Metaphysik gezeigt zu haben, in der Kritik der praktischen Vernunft die Notwendigkeit eines reinen praktischen Vernunftglaubens an die Existenz Gottes und in der Kritik der Urteilskraft die Vereinbarkeit eines solchen moralischen Glaubens mit dem an sich nicht wahrheitsfähigen, aber auch nicht widerlegbaren Gedanken des Schöpfergottes. Dieser Denkweg ist keineswegs so paradox, wie er vielen Lesern bis heute erscheint, sondern im Gegenteil äußerst stringent. Denn den Grundgedanken seiner Kritik der Natürlichen Theologie behält Kant in seinen späteren Schriften immer bei, und dieser Gedanke lautet: Gott ist kein Gegenstand möglichen Wissens. Soll daher noch philosophisch legitim über Gott gesprochen werden, dann immer unter dem Vorbehalt, dass dabei nicht Gott selbst Redegegen‑ stand ist – ganz gleich ob ein solches Wesen existiert oder nicht –, sondern der Begriff oder besser die Vorstellung, die wir uns von Gott machen. Gott selbst bleibt dem Denken entzogen. Es denkt vielmehr, indem es Gott denkend zu fassen sucht, sich selbst in einer bestimmten Hinsicht oder Perspektive. Nicht Gott selbst ist Thema, sondern unsere denkende Selbstorientierung an Gott. 2 Mit diesem Schritt etabliert Kant die moderne Religionsphilosophie als Nachfolgedisziplin der Natürlichen Theologie.3 Kant sieht die Religion, also die menschliche Bezugnahme auf Gott, vor allem in moralischer Perspektive, als Ausdruck des gemeinschaftlichen menschlichen Strebens nach dem Guten, und ordnet diesem Gedanken die kosmologische Sicht Gottes als Schöpfer und Gesetzgeber der Natur nach. Deswegen ist Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft in allererster Linie Moralphilosophie, einschließlich einer moralphilosophischen Sicht auf die Geschichte der Menschheit. Aus Sicht der bloßen praktischen Philosophie erscheint hier die Geschichte vom Sündenfall als Parabel für die Anfälligkeit des Menschen für die widermoralischen Verlockungen der Sinnlichkeit,4 Jesus Christus als sittlich vorbildlicher Mensch und seine Auferstehung am dritten Tage als Allegorie auf die Möglichkeit der Überwindung der aus der Sinnlichkeit erwachsenden Bosheit durch die Kraft der praktischen Vernunft.5 Doch der religionsphilosophische Moralismus Kants und die damit verbundene thematische Verengung der Religionsphilosophie sind nicht alternativlos. 2   Vgl. auch den Aufsatz Was heißt: sich im Denken orientieren?/[DO], der bereits wesentliche Thesen William James’ über die Möglichkeit eines Willens zum Glauben in religiösen Fragen vorwegnimmt. 3   Noch rigider bestimmt Dalferth die Differenz: „Religionsphilosophie ist keine metaphysische oder theologische Disziplin, weil sie nicht Gott oder den Gottesgedanken, sondern menschliche Religionspraxis […] zum Thema hat und auch die Gottesfrage und das Glau­bens­ problem stets als religiöse Phänomene reflektiert.“ (Dalferth 2003, S.  76; Hervorhebung i. Orig.) 4  Vgl. RGV, Erstes Stück. 5   Vgl. ebd., Zweites Stück, zweiter Abschnitt.

Einleitung

3

Daher erwächst Kants Religionsschrift bereits sechs Jahre nach ihrem von Zensur und Kontroversen begleiteten Erscheinen ein Gegenentwurf in Gestalt von Schleiermachers Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Indem Schleiermacher Kants Moralismus als einseitig zurückweist und Religion stattdessen als eine umfassende individuelle Weltsicht und Lebenshaltung, als ein ‚Lebensgefühl‘ beschreibt, wird er zum zweiten Gründervater der Religionsphilosophie und zur eigentlich prägenden Figur des religionsphilosophischen Diskurses bis heute. Kants methodische Grundprämisse behält er allerdings bei: keine Behauptungen über Gott zu formulieren, sondern den Sinn bzw. die existenzielle Bedeutung des Glaubens an die Existenz Gottes und seiner möglichen und tatsächlichen Spielarten zu analysieren. Eben deswegen kann auch Schleiermacher wie schon Kant von der Religion im Singular sprechen, obwohl er anders als Kant von einer unabschließbaren Mannigfaltigkeit religiöser Konfessionen ausgeht. Die verschiedenen Konfessionen differieren inhaltlich, aber sie kommen in Form und Funktion darin überein, Ansichten des Unendlichen zu sein. Dabei ist die Religionsphilosophie auch bei Schleiermacher metaphysisch abstinent und soll sich von speziellen metaphysischen Aussagen frei halten. So schlägt sie die Brücke zur Theologie rein doxastisch und ohne metaphysische Grundlegung. 6 Von hier führt auch ein Weg zu Feuerbachs ambitioniertem Versuch einer naturalistischen Reduktion religiösen Glaubens auf menschliche Selbstverhältnisse und der Theologie auf Anthropologie. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Feuerbach sowohl Hegel als auch Schelling in seinen Schriften scharf angreift, aber Schleiermacher weitgehend verschont. Die Möglichkeit von Feuerbachs Projekt ist in Schleiermachers Religionsphilosophie angelegt, nicht aber in derjenigen Hegels und Schellings, die zentrale Theoreme der Allgemeinen und der Speziellen Metaphysik beibehalten.7 Nicht diese im Rückblick anachronistisch scheinenden Versuche einer Restitution Natürlicher Theologie setzen sich historisch durch, sondern die von Kant und Schleiermacher initiierte Tradition, die schließlich zu William James führt, dem bis heute faktisch wohl wirkmächtigsten Religionsphilosophen überhaupt. Die Religionsphilosophie insgesamt

6   Vgl. Schleiermacher 1799, Zweite Rede, S.  24 ff. Spätestens seit Schleiermacher wird damit aber der Status der protestantischen Theologie als Wissenschaft prekär, und zwar auch dann noch, wenn sie sich selbst als primär historisch-philologische Disziplin versteht. 7   Hegel geht in der Einleitung zu seinen Vorlesungen zur Philosophie der Religion so weit, den Gehalt der Religionsphilosophie mit dem der Natürlichen Theologie (theologia naturalis) zu identifizieren, als Behandlung desjenigen, „was die bloße Vernunft von Gott wissen könne“. (PhR 1, S.  3; Hervorhebung i. Orig.) Dieser Terminologie werde ich im Folgenden allerdings nicht folgen, sondern an der Gegenstandsverschiedenheit von Religionsphilosophie und Natürlicher Theologie festhalten. Feuerbach selbst hat, wie unten zu zeigen sein wird, ein deutliches Bewusstsein der Unvereinbarkeit seines Denkansatzes mit der spekulativen Theologie Hegels. Darin unterscheidet er sich von einer großen Zahl heutiger Hegelinterpreten.

4

Einleitung

ist historisch betrachtet ein Produkt des philosophischen Bewusstseins einer Krise der Metaphysik, vor allem der Natürlichen Theologie. Dass innerhalb dieser Tradition der Begriff der religiösen Erfahrung zum Kernbegriff und Ausgangspunkt jeder Theoriebildung wird, ist schon bei Schleiermacher angelegt, der „Anschauung und Gefühl“ und damit zwei unmittelbar erfahrungsbezogene kognitive Vermögen des Menschen als subjektive Bedingungen von Religion ansieht. 8 Das lässt sich systematisch als unmittelbare Konsequenz der Abkehr von metaphysisch-spekulativem Denken verstehen. Denn wenn, wie Kant meint, das menschliche Denken grundsätzlich unfähig ist, erfahrungstranszendente Gegenstände denkend zu erfassen, dann kann das spekulative Denken grundsätzlich auch keine Basis mehr für das philosophische Nachdenken über Religion sein. Damit wird die Theoriebildung der Natürlichen Theologie insgesamt diskreditiert. Das reine Denken, ganz gleich ob theoretisch oder praktisch, wird von der Religionsphilosophie ferngehalten, und an seine Stelle kann nur religiöse Erfahrung treten. Dass es so etwas wie religiöse Erfahrung überhaupt gibt, ist dabei das Grundpostulat der Religionsphilosophie nach Schleiermacher und James. Dadurch unterscheidet sie sich von denjenigen Spielarten einer dominant religionskritischen Philosophie nach Feuerbach, wie sie etwa der Marxismus, aber auch die Psychoanalyse nach Freud ausbilden. Das Postulat religiöser Erfahrung hat von Anfang an einen apologetischen Charakter. Es impliziert, dass religiöse Erfahrung wie auch jede andere genuine menschliche Erfahrung ein Phänomen darstellt, über welches die Philosophie nicht gleichgültig hinweggehen kann und welches jede voreilige reduktive Erklärung scheitern lässt. Es ist daher auch kein Zufall, dass die moderne Religionsphilosophie der Darstellung religiöser Erlebnisse breiten Raum gibt.9 Solche Erlebnisse werden typischerweise summarisch als Erfahrungen von Fülle (Charles Taylor), Sinn (Thomas Rentsch, Hans Julius Schneider) oder Selbsttranszendenz (Hans Joas) beschrieben. Der erfahrungstheoretische Ansatz steht allerdings vor einem methodischen Dilemma. Diejenigen Erlebnisse, die als erfahrungstheoretische Basis religionsphilosophischer Reflexion fungieren sollen, müssen zunächst frei von religiösem Vokabular charakterisiert werden können, um nicht eine petitio principii zu begehen. Deswegen schreibt Hans Joas: „Ich schlage also vor, auf eine Art von Erfahrungen zu reflektieren, die nicht selber schon Gotteserfahrungen darstellen, ohne die wir aber nicht verstehen können, was

  Schleiermacher 1799, S.  29.   Dies können eigene Erfahrungen sein wie bei William James, aber auch Passagen aus der erzählenden Literatur wie bei Hans Joas, der auf eine Stelle in Knut Hamsuns Mysterien verweist, (vgl. Joas 2004, S.  17 f.) oder aus Autobiographien anderer Personen wie bei Charles Taylor, der die Schilderung eines mystischen Naturerlebnisses von Bede Griffiths zitiert. (Vgl. Taylor 2007, S.  5) Vgl. zu Taylors Ansatz insgesamt auch Gordon 2008. 8 9

Einleitung

5

Glaube, was Religion eigentlich ist. Ich nenne diese Erfahrungen Erfahrungen der Selbsttranszendenz.“10

Auf diese Weise soll nämlich ausgeschlossen werden, dass in das fragliche Erlebnis bereits Elemente religiösen Glaubens eingehen. Denn wenn der Glaube schon Voraussetzung von Erlebnissen der relevanten Art wäre, dann wären sie ihrerseits nicht mehr die Grundlage dieses Glaubens und damit als theoretische Basis ungeeignet. Deswegen greifen Erfahrungstheoretiker wie Joas auf Erfahrungen der Freundschaft und Liebe, der Naturschönheit, mitmenschlicher Solidarität zwischen Fremden oder auch der existenziellen Angst zurück, die in dem Sinne universal sind, dass jeder Mensch sie in seinem Leben machen kann.11 Damit stößt der erfahrungstheoretische Ansatz aber an das zweite Horn des Dilemmas: Die genannten typischen Erfahrungen führen nicht zwangsläufig zu einer religionsphilosophischen Reflexion, da sie auch nichtreligiösen Deutungen zugänglich sind. „Nicht-religiöse Menschen werden dazu neigen, alle von mir genannten Erfahrungen als rein psychologische Phänomene zu betrachten.“12

Wenn Joas im Anschluss an diesen Selbsteinwand hinzufügt, dass die religiöse Deutung bestimmter Erfahrungen bestimmte weitergehende Erlebnisse überhaupt erst ermögliche, z. B. die Erfahrung des Gebets,13 dann führt diese Überlegung nicht aus der Schwierigkeit heraus, sondern nur zurück zum ersten Horn des Dilemmas. Denn diese Erfahrungen sind, wie Joas selbst betont, nur denjenigen zugänglich, die religiös gläubig oder zumindest offen für religiöse Überzeugungen sind. Betrachten wir die Struktur erfahrungstheoretischer Ansätze in der Religionsphilosophie etwas genauer. Der bisher verwendete Begriff der religiösen Erfahrung ist nämlich noch nicht eindeutig. Einige der darunter subsumierten Beispiele, z. B. so genannte Fülleerlebnisse oder Gebetserfahrungen, scheinen religiös im Sinne einer bestimmten Spezies bzw. Sorte von Erfahrung zu sein,14 andere, z. B. die Erfahrung von Schönheit, Liebe oder Solidarität, eher religiös im Sinne einer bestimmten Deutungsweise von Erfahrung. Ich möchte diese Differenz terminologisch fassen, indem ich religiöse Erfahrung als spezielle Erfahrung bzw. Erfahrungsart von religiöser Erfahrung als einem Deutungsmodus von Erfahrung unterscheide.15 Religiös im ersten Sinne können nur ganz bestimmte Er  Joas 2004, S.  17.   Ebd., S.  18–22. 12   Ebd., S.  23. 13   Vgl. ebd., S.  24 f. 14   Von speziellen Erfahrungen geht auch Alvin Plantinga in seiner Konzeption eines empirisch fundierten Glaubens aus; vgl. Plantinga 2000. 15   Eine analoge Doppeldeutigkeit verwirrt notorisch auch die einschlägigen Kontroversen über den Begriff der ästhetischen Erfahrung. Vgl. dazu Tegtmeyer 2006, Kap. 1.2. 10 11

6

Einleitung

fahrungen sein, nämlich religiöse Erlebnisse, religiös im zweiten Sinn so gut wie jede Erfahrung, die religiös aufgefasst wird.16 Stützt sich Religionsphilosophie vor allem auf spezielle religiöse Erlebnisse, dann ist sie mit folgendem Problem konfrontiert: Derartige Erlebnisse sind ihrem subjektiven Sinn nach Erfahrungen eines vom erfahrenden Subjekt selbst Verschiedenen, d. h. in einem formalen Sinn objektiv. Deswegen sind sie aus Sicht des Subjekts echte Erfahrungen und nicht bloße Einbildungen oder anderweitig deviante mentale Zustände. Spezielle religiöse Erfahrung wird vom erfahrenden Subjekt kognitivistisch, d. h. entweder als spezielle Einsicht oder als zu einer Einsicht führend gedeutet. Das festzuhalten bedeutet keine rationalistische Verkürzung des komplexen Phänomens religiöser Erfahrung, da die existenzielle und auch affektiv-leibliche Bedeutsamkeit einer derartigen Erfahrung damit keineswegs in Abrede gestellt wird; im Gegenteil, sie wird in der kognitiven Deutung erst eigentlich verständlich. Allerdings sind religiöse Erfahrungen dieses Typs nicht selbstinterpretierend. Ihre expressive Artikulation allein reicht nicht aus. Es bedarf eigener theoretischer Anstrengungen, um den Gegenstand zu benennen, der Quelle der jeweiligen Erfahrung sein mag, und zwar gerade angesichts der offenkundigen Tatsache, dass in der speziellen religiösen Erfahrung Ursache und Quelle derselben häufig nicht zusammenfallen. So ist in mystischen Erfahrungen, wie Bede Griffiths sie beschreibt,17 ein Erlebnis wie das des Gangs durch eine Frühlingslandschaft die – nächste – Ursache des mystischen Erlebnisses, nicht aber dessen Quelle. Für Griffiths ist dessen Quelle vielmehr der sich offenbarende Gott.18 Eine derartige Selbstdeutung mystischer Erfahrung durch das erfahrende Subjekt ist aber, anders als bei Erfahrungen einer anderen Art und anderer Objekte, durch die Erfahrung selbst nicht festgelegt. Die Selbstdeutung geht über die gedeutete Erfahrung als solche hinaus. Das Erlebnis selbst legt zwar nahe, dass die Deutung die erlebte Situation transzendieren muss, aber sie legt nicht fest, wie das zu geschehen hat. Für eine metaphysisch abstinente Religionsphilosophie bringt das die Schwierigkeit mit sich, dass sie auch die Begriffe nicht bestimmen kann, mit denen das Subjekt eines religiösen Erlebnisses dieses deutet. Sie muss sich damit begnügen, die bloße äußere Form einer solchen Deutung begrifflich zu umreißen. Es ist daher nur konsequent, wenn die moderne Religionsphilosophie im Zusammenhang mit der Selbstinterpretation religiöser Erfahrungen Ausdrücke wie ‚das Transzendente‘, ‚das Heilige‘ oder ‚das Numinose‘ ins Spiel bringt. Derartige Termi16   „Es gibt daher keinen Bereich oder Aspekt menschlichen Lebens, der nicht Gegenstand religionsphilosophischen Nachdenkens sein könnte.“ (Dalferth 2003, S.  70, Anm.  7) 17   Vgl. Taylor a.a.O. 18   Deswegen steht der Begriff der mystischen Erfahrung auch keineswegs in so prinzipiellem Widerspruch zu Kants Maxime, dass Gott und das Transzendente überhaupt keine Gegenstände möglicher Erfahrung sind, wie Kant selbst meint. Sie können dessen unbeschadet als Quelle und erste Ursache religiöser und mystischer Erfahrung aufgefasst werden, auch nach Kants eigenen Prinzipien.

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ni sind nicht mehr und können nicht mehr sein als formale Platzhalter für inhaltlich bestimmte Begriffe, welche die Religionsphilosophie aber nicht selbst finden oder konstruieren kann, sondern sich von dritter Seite vorgeben lassen muss. Eine religionsphilosophische Theorie religiöser Erlebnisse kann von sich aus nicht über das religiöse Erlebnis selbst hinauskommen. Tut sie es, dann ist sie nicht mehr Religionsphilosophie im von Kant und Schleiermacher eingeführten Sinn, sondern Metaphysik, was sie nicht sein will, oder rein offenbarungsgestützte Theologie und damit nicht mehr philosophisch. Schließt eine religionsphilosophische Theorie religiöser Erfahrung dagegen an religiöse Erfahrung im Sinne eines Deutungsmodus an, dann stellt sich das genannte Problem auf andere Weise, aber ebenso unmittelbar. Denn Erfahrung religiös aufzufassen heißt nichts anderes, als religiöse Begriffe auf Erfahrung und deren Gegenstände zu beziehen, z. B. den Begriff der Inkarnation auf Formen der mitmenschlichen Begegnung19 oder den Begriff des Wunders auf Ereignisse wie die Geburt eines Menschen. Aber hier gilt umso mehr, dass die ins Spiel gebrachten Begriffe – Inkarnation, Wunder – den Gegenstand der Erfahrung transzendieren. Man kann einem Fremden begegnen oder Zeuge einer Geburt werden, ohne sich denkend auf die Inkarnation oder den Begriff des Wunders zu beziehen, und eine solche nichtreligiöse Deutung derartiger Erfahrungen lässt sich nur von einem bereits eingenommenen religiösen Standpunkt aus als flach oder ungenügend kritisieren. Einer metaphysisch enthaltsamen Religionsphilosophie ist im Kontrast dazu keinerlei Kritik an solchen konträren Deutungen möglich, weder an der religiösen noch an der nichtreligiösen Interpretation von Erfahrung. Die hier vorgetragenen Überlegungen sind im Grunde nicht mehr als Illustrationen des allgemeinen aristotelischen Gedankens, dass Arten und Modi der Erfahrung und der erfahrungsbezogenen kognitiven Vermögen nicht anders differenziert werden können als mit Blick auf die Verschiedenheit der Erfahrungsgegenstände.20 Für eine erfahrungsgestützte Religionsphilosophie hat dieses einfache Prinzip aber dramatische Konsequenzen. Denn da religiöse Erfahrung ihrem subjektiven Sinn gemäß die Erfahrung eines Transzendenten ist, das erfahrene Transzendente aber jede mögliche Erfahrung so weit übersteigt, dass es in keiner möglichen Erfahrung als solches gegeben ist, muss eine Religionsphilosophie, deren Basis die religiöse Erfahrung ist, selbst auf eine die Erfahrung transzendierende Theorieebene steigen, um die Erfahrung angemessen deuten zu können. Sie muss in der Lage sein, zu den Gehalten, auf die das Erfahrungssubjekt selbst sich in seiner Selbstdeutung bezieht, Stellung zu neh-

  So Dalferth 2003, S.  15 ff.  Vgl. De Anima B 8–12 mit Blick auf die Sinne, NE Z hinsichtlich der vernünftigen Vermögen. 19

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men. Das aber bedeutet zugleich, dass die Religionsphilosophie nicht metaphysisch neutral bleiben kann. Um das deutlicher zu sehen, ist ein Blick auf einen ambitionierten Versuch, eine metaphysisch neutrale Religionsphilosophie zu entwickeln, sehr instruktiv, nämlich auf Hans Julius Schneiders Deutung religiöser Erfahrung.21 Schneider will seine metaphysische Neutralität, die er als Konsequenz aus Einsichten Kants und Wittgensteins in die Grenzen menschlicher Vernunft geboten sieht, 22 durch die Einnahme einer durchgehend pragmatischen Sicht auf Religion und religiöse Erfahrung bewahren. Eine pragmatische Sicht auf Religion einzunehmen heißt, Religion eben nicht auf ihren Gehalt und die Art und Weise ihres Transzendenzbezugs hin zu untersuchen, sondern im Hinblick auf ihren ‚Sitz‘ im Leben und ihre Bedeutsamkeit für die Lebensführung.23 Entsprechend ist auch folgende „Arbeitsdefinition“ von Religion zu deuten, die Schneider in Auseinandersetzung mit William James entwickelt: „Religionen sagen uns etwas über ‚das Ganze‘ der menschlichen Situation und sind zugleich eine Hilfe, mit diesem Ganzen praktisch zurechtzukommen.“24

Denn ein pragmatischer Zugang zu Religion kann nicht über den Gehalt religiösen Glaubens selbst gesucht werden, sondern allein über lebenspraktische Konsequenzen. Entsprechend sagt uns Schneiders Arbeitsdefinition nicht, was Religion ist, sondern was sie tut: etwas über das menschliche Leben im Ganzen aussagen und bei der Bewältigung des entsprechend verstandenen Lebens zu helfen. Beides wird von Schneider als primär praktische Leistung von Religion verstanden, da er das ‚Sagen‘ der Religion, die religiöse Rede, nicht primär theoretisch, im Hinblick auf ihren Wahrheitsanspruch, sondern praktisch versteht, nämlich im Hinblick auf Haltungen zur Welt, die sie ermutigt. In dieser Hinsicht kann er religiöse Rede auch mit Metaphern, Märchen und Mythen vergleichen, nämlich hinsichtlich ihrer Effekte auf Hörer oder Leser. 25 Zugleich wird damit bewusst in Kauf genommen, dass über den Gehalt und Gegenstand religiösen Redens und Denkens prima facie nichts ausgesagt ist. Über Immanenz oder Transzendenz des religiösen Denkens entscheidet der religionsphilosophische Pragmatismus zunächst nicht. Schneider verteidigt diesbezüglich einen religionsphilosophischen „Pluralismus ohne Beliebigkeit“, 26 der sich nicht zu inhaltlichen Beschränkungen des religiösen Feldes drängen lässt. Damit fällt dann allerdings nicht nur der bei Schneider ausführlich erörterte Zen-Buddhismus unter den pragmatischen Begriff der Religion, sondern darunter fallen auch   Vgl. Schneider 2008.   Vgl. ebd., S.  7. 23   Darin stimmt Schneider mit dem religionsphilosophischen Ansatz Hermann Lübbes überein; vgl. Lübbe 1986. 24   Schneider 2008, S.  137. 25   Vgl. ebd., Erstes Kapitel, 1. 26   Ebd., Sechstes Kapitel, 3. 21

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pragmatisch äquivalente Ideologien wie der Szientismus oder der Dialektische Materialismus, auch wenn Schneider sie und vergleichbare Ideologien nicht als solche diskutiert. Ihre lebenspraktischen Konsequenzen sind freilich höchst unterschiedlich, aber sie alle legen umfassende praktische Konsequenzen nahe und fallen damit unter die Definition. Das ist für sich genommen noch kein Einwand. Ein Einwand wird daraus aber, wenn man beobachtet, dass die pragmatische Philosophie der Religion ihre metaphysische Neutralität und ihren religiösen Pluralismus letztlich nicht bewahren kann. Denn indem Schneider jegliche religiöse Rede als bloße façon de parler deutet und sie schließlich unter Redefiguren wie Metapher oder Analogie bzw. unter Textformen wie Märchen oder Parabel subsumiert 27 und indem er die Rede über einen personalen Gott als pragmatisch sinnvolle Hypostasierung darstellt,28 legt er sich auf eine figurative und damit nonveridische Deutung religiöser und theologischer Rede fest. Religiöse und theologische Rede können aus Schneiders Sicht wohl pragmatische Richtigkeitsansprüche, nicht aber ontologische Wahrheitsansprüche erheben. Das bedeutet aber im Rückschluss, dass seine Religionsphilosophie atheistisch ist, da jede andere, selbst eine agnostische Position unvereinbar wäre mit der These, dass jede Rede über einen personalen Gott ipso facto metaphorisch zu deuten sei. Das ist ohne Zweifel eine gravierende Selbstfestlegung, für die Schneider, soweit ich sehe, kaum eigens argumentiert, abgesehen von verstreuten Hinweisen auf die Maxime der ontologischen Sparsamkeit: Man könne religiöse Rede verstehen, ohne ‚Gott‘ für einen referierenden Terminus und andere religiöse Redeweisen für bedeutungsvoll im Sinne Freges zu halten. Deswegen sei es ratsam, religiöse Rede insgesamt nonveridisch zu deuten, zumal so die Kohärenz unserer philosophischen, wissenschaftlichen und lebensweltlichen Überzeugungen maximiert werde.29 Schneider selbst behauptet, dass seine Religionsphilosophie dennoch mit religiösem Theismus vereinbar sei, dann nämlich, wenn man Gott als bloß internen Gegenstand des theistischen Sprachspiels auffasse, ohne damit ontologische Implikationen zu verbinden.30 Es ist aus seiner Sicht möglich, Theist, d. h. bei ihm Teilnehmer an theistischer religiöser Praxis, zu sein und an die Existenz Gottes als des internen Gegenstands dieser Praxis und der zugehörigen Redeform zu glauben, zugleich aber zu denken, dass diese Redeform bloß figurativ ist, dann   Ebd., S.  92 ff.   „Eine personale Redeweise kann also durchaus geeignet sein, eine religiöse Erfahrung zu artikulieren. Sie kann nicht schon als Redeweise falsch sein. Aber es zeigt sich auch sofort, dass (wie immer bei gleichnishaften Redeweisen) nicht jede sich anbietende Fortsetzung akzeptabel ist […].“ (Ebd., S.  186 f., Hervorhebung H.T.) 29  Vgl., stellvertretend für zahlreiche gleichsinnige Passagen, die Ausführungen ebd., S.  190 f., zur Möglichkeit eines Festhaltens personaler Redeweisen über Gott bei gleichzeitiger Zurückweisung ontologischer (Fehl-) Deutungen solcher Redeweisen. 30   Vgl. ebd., S.  220–225. 27

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nämlich, wenn man diese figurative Rede als hilfreiche Stütze der gesamten und als gut erfahrenen Praxis ansieht.31 Aber diese Position ist unmöglich, da der Gedanke, dass Gott existiert, unvereinbar ist mit dem Gedanken, dass Gott eine nützliche Fiktion ist. Der Glaube an die Existenz Gottes ist der ermöglichende Grund theistischer Rede und Praxis. Wer ihn aufgibt oder gar nicht erst ausbildet, ist auch dann kein Theist, wenn er an einer theistisch geformten Praxis einschließlich der zugehörigen Redeformen teilnimmt. Er teilt dann nämlich weder den theistischen Glauben noch die sich damit verbindenden Besorgnisse und Hoffnungen mit den anderen Teilnehmern an der gleichen Praxis.32 Religionen sind über den Gehalt ihres Glaubens differenziert, nicht über das äußere Tun. De facto schließt Schneider so jeglichen Theismus aus dem Kreis ernsthaft vertretbarer religiöser Bekenntnisse aus. Dieser faktische Atheismus beruht auf einer Entscheidung Schneiders und ergibt sich nicht einfach aus dem gewählten pragmatischen Ansatz. Das zeigt der Vergleich mit William James, der sich seinerseits für den Theismus entscheidet, wofür Schneider ihn kritisiert.33 Diese Beobachtung spricht aber nur auf den ersten Blick für die metaphysische Neutralität der pragmatischen Analyse von Religion als solcher. Weder James noch Schneider begehen einen philosophischen Fehler, wenn sie die metaphysische Neutralität aufgeben und Stellung für bzw. gegen den religiösen Theismus beziehen. Diese Stellungnahmen sind vielmehr erforderlich, weil ohne sie die religionsphilosophische Analyse bereits in den Anfängen steckenbleiben müsste. Der lebenspraktische Sinn religiöser Rede lässt sich nicht unabhängig von einer Bewertung ihrer Bedeutung bestimmen. Indem James religiöse Rede als bedeutungsvoll, Schneider sie hingegen als bedeutungslos beurteilt, tun beide etwas Unvermeidliches: Sie verlassen den theoretischen Rahmen einer rein pragmatischen Religionsanalyse. An beiden Analysen philosophisch ungenügend bleibt allenfalls, dass die jeweilige Stellungnahme nicht theoretisch gefasst, sondern als persönliches Bekenntnis vorgetragen wird.34 Das Gesagte gilt aber mutatis mutandis für jede dem methodischen Anspruch nach metaphysisch abstinente Religionsphilosophie. Findet sie nicht zu einer 31   Vgl. Schneider 2003, S.  177–194, gegen Spaemanns Kritik an Lübbes funktionalistischem Religionsbegriff in Lübbe 1986. Vgl. dazu von Spaemann auch „Funktionale Religionsbegründung und Religion“, in Spaemann 1994, S.  208–231. 32   Vgl. Spaemann, Gerücht, 2007, S.  7 f. Diese Aussage vereinfacht die Verhältnisse insofern, als religiöser Zweifel sehr wohl mit Theismus vereinbar ist. Am Argument ändert das insofern nichts, als Schneider nicht mit der Figur des religiös Zweifelnden operiert, sondern mit der des überzeugten Atheisten, der gleichwohl die äußere religiöse Praxis beibehält. 33   Schneider 2008, S.  60 ff. 34   Vgl. ebd., Einleitung. In Übereinstimmung mit dem hier Gesagten kritisiert auch Hegel einen religionsphilosophischen Fideismus, der Gott als Gegenstand religiösen Glaubens für unerkennbar, unbestimmbar oder kurzer Hand für nicht intelligibel erklärt, als in sich widersprüchlich und „eitel“, als bloß haltlos subjektiven Empfindungsglauben und obendrein als unchristlich; vgl. PhR 1, S.  100 f.

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theoretischen Bewertung des Gehalts und der damit verbundenen Geltungsansprüche religiösen Denkens und Sprechens, dann bleibt sie hinter ihrem Gegenstand zurück. Gelangt sie zu einer solchen Beurteilung, dann verliert sie ihre metaphysische Neutralität. Scheut nun eine metaphysisch abstinente Religionsphilosophie, welche ohne Natürliche Theologie auskommen soll, diesen Verlust nicht, dann scheint sie vor einer theoretisch wenig attraktiven Alternative zu stehen. Entweder sie optiert für einen metaphysischen Atheismus und nimmt so die Gestalt religionskritischer, reduktionistischer Religionsphilosophie an. Ein solcher Atheismus darf aber nicht einfach angenommen werden. Ansonsten handelte es sich nämlich auch hier um eine bloße Glaubensentscheidung. Oder aber sie stellt sich selbst auf den Boden eines bestimmten religiösen Bekenntnisses und gibt sich etwa als christliche, jüdische oder islamische Religionsphilosophie. Sie ließe sich dann den Gehalt ihrer metaphysischen Prämissen jeweils aus einer bestimmten religiösen Tradition vorgeben und argumentierte relativ zu diesen Prämissen, deren kritische Prüfung jenseits ihrer Möglichkeiten läge. Dass eine solche fideistische, konfessionsgebundene Religionsphilosophie nicht in vollem Sinne Philosophie ist, bedarf m. E. keiner aufwendigen Begründung,35 ebenso wenig der Hinweis auf die formale Ähnlichkeit mit einem bekenntnisartig angenommenen Atheismus. Vor dem so beschriebenen komplexen theoretischen Dilemma steht die Religionsphilosophie allerdings dann nicht mehr, wenn sie einen Weg findet, die theoretisch geleitete Suche nach der Lösung der metaphysischen Probleme, vor die sie sich gestellt sieht, selbst, d. h. im Rahmen der Philosophie zu betreiben, wenn sie also aufhört, bloße Religionsphilosophie zu sein, und zur Speziellen Metaphysik übergeht.36 Damit kehren wir an den Anfang der gesamten hier angestellten Überlegung zurück, denn die Religionsphilosophie beginnt ja mit 35   Dalferth stellt sich daher zu Recht gegen das Projekt einer christlichen Philosophie (vgl. Dalferth 2003, I C 2), muss sich aber die Frage gefallen lassen, was die von ihm avisierte ‚hermeneutische Religionsphilosophie‘, welche ihrerseits weder theologisch noch metaphysisch argumentiert und sich auf die verständige Auslegung der aus den religiösen Traditionen her überkommenen und ihr damit gegebenen religiösen Gehalte beschränkt, von einer konfessionell gebundenen Philosophie noch unterscheidet. Eine solche Religionsphilosophie kann wohl kaum mehr sein als eine Magd der jeweils einschlägigen Theologie, ganz wie die so genannte christliche Philosophie im Sinne Romano Guardinis oder Étienne Gilsons. 36   Der aus Wolffs Philosophie stammende Terminus bezeichnet den Teil der Metaphysik, der nur von solchen Gegenständen handelt, die nicht auch Objekte anderer Wissenschaften sind, insbesondere nicht Objekte der empirischen Wissenschaften. Dies gilt am meisten von Gott, dem Gegenstand der Rationalen Theologie, aber auch von der Welt im Ganzen, dem Gegenstand der Rationalen Kosmologie, und von der Seele als solcher, unabhängig von ihrer Verbindung mit dem Körper, als Thema der Rationalen Psychologie. Rationale Theologie wird dabei verstanden als eine spezielle Ontologie derjenigen Gegenstände, deren Existenz im religiösen Reden unterstellt wird. Für eine solche spezielle Ontologie ist die Frage, ob es Gott, Götter oder transzendente Mächte gibt, eine echte, metaphysisch zu beantwortende Frage und nicht vorab theistisch oder atheistisch vorentschieden.

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Kants These der Unmöglichkeit Natürlicher Theologie. Diese These beruht auf seiner Kritik des so genannten ontologischen Gottesbeweises. Deswegen ist eine Prüfung dieser Kritik hier unumgänglich. Die Erörterung kann sich zunächst auf Kants Kritik dieses Teils der Natürlichen Theologie beschränken, weil Kant selbst meint, dass das so genannte ontologische Argument anderen theologischen Argumenten wie dem kosmologischen und dem physikotheologischen zu Grunde liege und daher für die Natürliche Theologie unentbehrlich sei. Diese Behauptung wird unten genauer zu betrachten sein. Hier interessiert zunächst nur der erste Schritt. Denn sollte sich zeigen, dass seine Kritik des ontologischen Arguments scheitert, dann bräche schon damit sein Gesamtargument gegen die Natürliche Theologie zusammen.37 Kant selbst formuliert das ontologische Argument nicht explizit, sondern verweist lediglich am Schluss des einschlägigen Textabschnitts vage auf Descartes und Leibniz38 und setzt es ansonsten als bekannt voraus. Nach seinem primär an Leibniz, nicht so sehr an Descartes und gar nicht an Anselm orientierten Verständnis des Arguments wird hier vom Begriff des ens realissimum auf die notwendige Existenz eines solchen Wesens geschlossen. Dem hält Kant entgegen, dass „Sein“, d. h. Existenz, „offenbar kein reales Prädikat“ sei, sondern „bloß die Position eines Dinges, oder gewisser Bestimmungen an sich selbst.“39 So stünde es sehr wohl im Widerspruch mit der Voraussetzung, würde man urteilen ‚Gott ist nicht allmächtig‘ oder ‚Gott ist nicht gut‘, weil Gott dann nicht mehr das ens realissimum wäre, als das ihn die ontologische Kennzeichnung einführt. Es beinhalte aber keinen Widerspruch zu dieser Kennzeichnung, wenn man Gottes Existenz negierte und „das Ding selbst mit allen seinen Prädikaten“ aufhöbe.40 Jeder Existenzialsatz sei synthetisch und damit nicht aus bloßen Begriffen und damit weder aus Definitionen noch aus definiten Kennzeichnungen analytisch ableitbar.41  Vgl. KrV, B 635, 657.   Ebd., B 630. 39   Ebd., B 626. 40   Ebd., B 623. Der Begriff des ens realissimum verlangt also noch den stützenden Begriff eines ens necessarium, eines an sich notwendigen Wesens, und dieser Begriff lässt sich Kant zu Folge nicht als gehaltvoll erweisen, wie auch Henrich zu Recht ausführt. Dieser schreibt Kant allerdings durchweg die stärkere These zu, dass ens necessarium ein undenkbarer, weil widersprüchlicher Begriff sei; vgl. Henrich 1960, S.  160 ff. Das belegen allerdings nicht nur die von Henrich angeführten Zitate nicht, es stünde auch zu Kants theologischem Postulat der reinen praktischen Vernunft im Widerspruch, nach dem wir Gott sehr wohl als ens necessarium et realissimum denken müssen, wenn auch nur in praktischer Hinsicht. Bereits in der Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund bezeichnet Kant diesen Schluss als „Kartesianisch“ (EMB, A 191). Diesem stellt er einen Beweisversuch entgegen, bei dem umgekehrt die Existenz eines ens necessarium aufgezeigt werden soll, worauf man dann zeigen kann, dass dieses Wesen auch ens realissimum sein muss. Nach der subjektivistischen Umdeutung der Modalbegriffe in der Kritik der reinen Vernunft steht ihm auch dieser Weg nicht mehr offen. Vgl. auch dazu Henrich 1960, S.  158 ff. 41   Ebd., B 626. Hermanni glaubt, dass Kants Kritik auch Anselm und Descartes trifft, 37

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Dieser Einwand ist in sich schlüssig, und er trifft Leibniz. Doch ein Blick in entscheidende Referenztexte, und zwar sowohl in Anselms Proslogion als auch in Descartes’ Meditationen, zeigt, dass Kant andere und wichtigere Fassungen des von ihm kritisierten Arguments mehr oder weniger vollständig verfehlt. Dass Kant sich zumindest mit Anselm nicht auseinandergesetzt hat, ja anders als Descartes und Leibniz Anselms Text nicht einmal gekannt haben dürfte, spielt dabei keine Rolle, da Kant selbst nicht ad hominem argumentiert, sondern einen generellen Einwand gegen jegliche Natürliche Theologie vorzubringen beansprucht, und damit a fortiori gegen eine Theologie wie die Anselms, der sola ratione Einsicht in die Existenz und Seinsweise Gottes zu gewinnen erstrebt.42 Erst recht gilt dies für den Teil von Kants Kritik, der sich explizit gegen Descartes richtet und der dessen Argument für die Existenz Gottes zu entkräften beansprucht. Ich bezeichne den Gottesbeweis, den Anselm formuliert und den Descartes weiterentwickelt, als ‚so genannten‘ ontologischen Beweis. Denn das von Kant kritisierte Argument verdient zwar durchaus die Bezeichnung ‚ontologisch‘, weil hier von einem Zusammenhang zwischen Existenz und Eigenschaften aus argumentiert wird. Es lässt sich aber rasch zeigen, dass weder Anselm noch Descartes so argumentieren.43 Anselms Beweis müsste vielmehr ‚dialektischer Gottesbeweis‘ heißen, weil er die Behauptung, dass Gott nicht existiert, als absurd zu erweisen unternimmt, ohne sich dabei überhaupt auf ontologische Festlegungen einlassen zu müssen. Descartes argumentiert im ersten Schritt seiner Theologie ebenfalls nicht genuin ontologisch, sondern selbstbewusstseinstheoretisch. Ein genuin ontologisches Argument im Sinne Kants wird erst in einem zweiten Schritt an diese erste Überlegung angeschlossen und baut auf dieser auf. Mit Blick auf Descartes erweist sich Kants Rekonstruktion daher obendrein als viel zu einfach, da sie den ersten Teil des cartesischen Arguments unberücksichtigt lässt. meint aber, dass ein erweitertes ontologisches Argument nach Leibniz der Kritik standhält, wenn nämlich angenommen wird, dass das Streben nach Existenz desto größer ist, je vollkommener das jeweils in Rede stehende Wesen ist. Demnach wäre Gott als das vollkommenste Wesen zugleich das Wesen mit dem stärksten Existenzstreben und damit notwendig existent. Vgl. Hermanni 2011, S.  43 ff. Obersatz und Konklusion dieses Arguments sind m.E. anfechtbar. 42   Monologion I, S.  40. Henrich meint Kant gegen eine solche Kritik verteidigen zu können. Es gehe ihm eben um einen grundsätzlichen Angriff auf die Ontotheologie, nicht auf „Laubwerk und Schnörkel“ dieser oder jener Variation derselben. (Henrich 1960, S.  174) Das kann man gelten lassen und dennoch fragen, ob die Widerlegung eines Arguments tatsächlich die Widerlegung eines ganz anderen Arguments einschließt, welches mit dem ersten lediglich in der Konklusion übereinstimmt. 43   Mit Bezug auf Anselms Proslogion verwirft auch Anscombe die These, dass sich darin ein ontologisches Argument für die Existenz Gottes finde. Vgl. Anscombe 1985, 1987 und 1993. Koch schreibt Descartes, was die dritte Meditation betrifft, ein „gehaltsexternalistisches“ Argument für die Existenz Gottes zu (Koch 2004, S.  41 f.), Anselm dagegen in Übereinstimmung mit der Standarddeutung ein ontologisches (vgl. ebd., S.  47).

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Ein anderer klassischer Gottesbeweis verdiente es dagegen sehr viel mehr, als ontologisch bezeichnet zu werden, und zwar der von Aristoteles ausgehende Beweis aus dem Phänomen der Bewegung, den Thomas von Aquin formuliert, den Kant irreführend als kosmologischen Beweis bezeichnet und von dem er zu Unrecht behauptet, dass er den ‚ontologischen‘ Gottesbeweis voraussetze.44 Der kosmologisch genannte Beweis ist ein theologisches Argument eigenen Rechts und durchweg ontologisch. Es führt von Aussagen über die allgemeine Ontologie zu Aussagen über die Natürliche Theologie. Der von Kant physikotheologisch genannte Beweis45 kann dann als Fortsetzung und Stützung dieser ontologischen Argumentation rekonstruiert werden und wird erst seit dem 18. Jahrhundert als eigenständiges theistisches Argument vorgetragen. Die Rückführung beider Argumente auf Anselms und Descartes’ Argument und damit die Reduktion jedes Gottesbeweises auf den ‚ontologischen‘ scheitert dagegen nachweislich.46 Kants Terminologie hat sich in der einschlägigen Literatur leider weitgehend eingebürgert, und zwar auch bei Autoren, die seine Kritik und seine Schlussfolgerungen keineswegs teilen, z. B. bei Wolfgang Cramer, Alvin Plantinga oder Richard Swinburne. Ich werde dagegen in der nachfolgenden Arbeit Kants Benennungen weitgehend vermeiden und durch passendere zu ersetzen versuchen bzw. nur dort auf Kants Redeweise zurückgreifen, wo der Kontext sicherstellt, dass es sich um zitierende und nicht um auktorial behauptende Rede handelt. Denn man kann an der Literatur bis heute ablesen, wie groß die suggestive Kraft dieser irreführenden Bezeichnungen ist. Anselms dialektisches Argument richtet sich gegen einen ‚Toren‘, einen Atheisten, der behauptet, dass Gott nicht existiert, zugleich aber akzeptiert, dass man mit dem Ausdruck ‚Gott‘ ein Wesen meint, über dem nichts Größeres und Besseres gedacht werden kann. Der Atheist muss also behaupten, dass diese Kennzeichnung leer ist oder bestenfalls ein ens rationis, ein Gedankending bezeichnet. Diese Behauptung kann er aber nicht aufrechterhalten, da er dann be44   So auch Maritain 1955, S.  9. Bochen´ski legt nahe, dass Kant mit dieser These Recht haben könnte, auch wenn die von ihm vorgetragene Begründung nicht korrekt sei. Vgl. Bochen´ski 2003, Appendix. 45   Dieser wird häufig und ganz zu Recht auch teleologisch genannt. Allerdings ist der Terminus ‚teleologisch‘ mehrdeutig. Er kann erstens die innere Teleologie der Organe und Vollzüge eines Lebewesens meinen, zweitens die äußere Teleologie des Zusammenstimmens und der geordneten Interaktion verschiedener Lebensformen in einem Lebensraum, drittens schließlich das als geordnet gedachte Gesamtgefüge der Natur und des Kosmos. Ich ziehe es daher im Folgenden vor, Kants etwas sperrigen und wenig sprechenden Ausdruck beizubehalten. 46   Kant subsumiert den Gottesbeweis der dritten Meditation unter die kosmologischen Beweisversuche, wie seine Rekonstruktion der Grundform des kosmologischen Arguments zeigt. Das legt ihn auf die kaum nachvollziehbare Deutung fest, dass dieses Argument das ontologische Argument der fünften Meditation voraussetze. Zur Reduktionsproblematik mehr unten in V.

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liebiges anderes als besser denken müsste als das beste Denkbare. Denn was nicht existiert, besitzt auch keinerlei Vollkommenheit, so dass also jedes beliebige Ding, und sei es noch so schlecht, besser und vollkommener wäre als dasjenige, was als das Beste und Vollkommenste gedacht wird. Dann ließe sich denken, dass Gottes Nichtexistenz möglich wäre, und damit dächte man ihn kleiner und unvollkommener, als es die Kennzeichnung verlangt. Somit zwingt Anselm den Atheisten, seine Behauptung zurückzuziehen. Der Atheist muss feststellen, dass seiner Behauptung kein möglicher Gedanke entspricht, dass er mit der Äußerung von ‚Es gibt keinen Gott‘ entweder keinen Gedanken artikuliert oder aber den Ausdruck ‚Gott‘ in einer anderen als der richtigen und von ihm selbst anerkannten Bedeutung verwendet hat. Die Eleganz dieser Argumentation liegt in ihrem performativen Charakter. Es findet hier gar kein unmittelbarer Schluss von den Eigenschaften einer Sache auf ihre Existenz statt, sondern es wird die Inkompatibilität zweier Gedanken demonstriert, des Gedankens, dass Gott das größte und beste denkbare Wesen ist, und des Gedankens, dass ein solches Wesen nicht existiert. Diese beiden Gedanken sind nicht zusammen behauptbar. Mindestens einer von ihnen ist falsch und muss aufgegeben werden. Dass ‚Sein‘ kein reales Prädikat ist, kann Anselm dabei Kant ohne weiteres zugestehen.47 Der Schluss von kontingenten Vollkommenheiten auf die Existenz eines Trägers derselben ist immer ungültig. Anders verhält es sich aber mit dem Gedanken eines schlechthin Vollkommenen, das besser gedacht werden muss als alles andere Seiende. Geschlossen wird hier eben nicht von Vollkommenheit auf Existenz, sondern von der Unmöglichkeit, die Nichtexistenz des gedachten allervollkommensten Seienden zu denken, auf die Notwendigkeit, dessen Existenz zu affirmieren. Kant kommt nur an einem einzigen Punkt seiner Kritik des ‚ontologischen‘ Arguments in die Nähe dieses Gedankengangs, und zwar dann, wenn er erwägt, ob der Schluss von den Eigenschaften auf die Existenz im besonderen Fall des allerrealsten Wesens und nur dort berechtigt sein könnte.48 Aber er vermag hier nur „eine bloße Tautologie“ zu sehen,49 da hier von vornherein angenommen werde, was nachher bewiesen werden soll, nämlich die Existenz des allerrealsten Wesens. Damit verfehlt er aber den Kerngedanken des Arguments. Indem Kant ferner behauptet, dass die Nichtexistenz des ens realissimum ohne Widerspruch gedacht werden könne,50 ignoriert er eben den Gedanken, der das Rückgrat von Anselms Argument bildet: dass genau das nicht möglich ist. Die   Deswegen ist es so problematisch, das ontologische Argument mit Spinoza und Hegel für den Schlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit überhaupt und damit auch für das Verständnis empirisch gegebener Sachverhalte zu halten. Inwiefern dieser Gedankengang dennoch eine gewisse Berechtigung hat, wird erst unten in IV erhellen können. 48   KrV, B 624. 49   Ebd., B 625. 50   Ebd., B 623. 47

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Möglichkeit dieser These Anselms muss in Kants Erörterung allerdings unsichtbar bleiben, da in der Kennzeichnung Gottes als des allerrealsten Wesens der Gedanke Anselms, dass Gott dasjenige sein muss, über dem nichts Größeres und Besseres gedacht werden kann, nicht sichtbar wird. Das allerrealste Wesen, so könnte Anselm Kant erwidern, ist vielleicht ohne Widerspruch als bloßes ens rationis denkbar, nämlich dann, wenn die Seinsweise dieses Wesens auf die gleiche Weise gedacht werde wie die alles sonstigen Seienden. Vom größten und besten Denkbaren gilt das aber nicht; seine Nichtexistenz zu denken ist nicht möglich. Beharrte Kant nun darauf, dass aus der Denknotwendigkeit Gottes, die er als die unbedingte Notwendigkeit eines „Ideals der Vernunft“ durchaus zugesteht,51 nicht dessen wirkliche Existenz folge, so müsste ihm Anselm entgegenhalten, dass er das zu denken versuche, was sich nicht denken lasse. Denn die Behauptung, dass Gott als Idee notwendig in der menschlichen Vernunft existiere, möglicherweise aber nicht in Wirklichkeit, artikuliert selbst einen Gedanken. Ein Gedanke darf aber keinen Widerspruch enthalten. Dieser Bedingung genügt Kants Gedanke nicht, da er die Notwendigkeit der Existenz Gottes mit der Möglichkeit seiner Nichtexistenz zusammen behaupte, also einen Satz und dessen Negation. Verschleiert wird dieser Widerspruch durch einen falschen Gebrauch der wichtigen Unterscheidung zwischen dem Sein im Verstand und dem Sein in Wirklichkeit. Diese greift hier nicht. Wie Hegel in seiner Kritik an Kants Kritik des ontologischen Arguments später deutlich gesehen hat,52 geht es in dieser Kontroverse nicht allein um Fragen der rationalen, philosophischen Theologie, sondern es geht auch um die Frage nach der Kraft des menschlichen Denkens überhaupt. Denn wenn Kant ernsthaft das Prinzip bestreiten will, dass aus der unbedingten Notwendigkeit eines Gedankens das Bestehen eines entsprechenden Sachverhalts folgt, dann ergeben sich daraus sehr weitgehende Konsequenzen. Eine unbedingte Denknotwendigkeit ist die unbedingte Unmöglichkeit, das Gegenteil zu denken. Wenn aus einer solchen Denknotwendigkeit keine Seinsnotwendigkeit folgt, dann heißt das, dass etwas nicht der Fall sein kann, was doch als der Fall seiend gedacht werden muss. Umgekehrt heißt es auch, dass etwas der Fall sein kann, was als der Fall seiend gar nicht gedacht werden kann. Kurz gesagt, es ergibt sich ein weitreichender Skeptizismus bezüglich des Verhältnisses von Denken und Wirklichkeit. Kant glaubt diesen zu entschärfen, indem er die Sinnlichkeit, also das Vermögen der Anschauung als zweiten Stamm menschlicher Erkenntnis und als Korrektiv irregehender Vernunft etabliert. Aber dieses Korrektiv kann die Aufgabe nicht bewältigen, die Kant ihm aufbürdet, da das Angeschaute nach Kant gedacht werden muss, um erkannt zu werden. Wenn aber keine   Ebd., B 596.  Vgl. WdL 1, S.  73–77.

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Entsprechung zwischen Gesetzen des Denkens und Gesetzen des Seins besteht, dann kann es keine Erkenntnis der Wirklichkeit geben, ganz gleich was Anschauung leistet. Was die Kritik an Descartes betrifft, so verkennt Kant wie bereits angemerkt die Bedeutung des Arguments der dritten Meditation. Diese geht aus von der reflexiv gewonnen Erkenntnis der eigenen Existenz des je denkenden Subjekts und von der klaren und deutlichen Erkenntnis der grundsätzlichen Fallibilität und damit Unvollkommenheit der je eigenen Meinungen über alles vom Subjekt selbst verschiedene Seiende. Darin wird das Subjekt inne, dass es als denkendes Wesen immer schon einem Maßstab denkerischer Vollkommenheit untersteht, den es nicht selbst gemacht haben und dem es selbst nicht entsprechen kann. Auch Kant ist dieser Gedanke nicht fremd; er klingt in seiner Rede von Gott als einem Ideal der reinen Vernunft an. Aber anders als Kant bricht Descartes diesen Gedankenansatz nicht ab, sondern setzt ihn im Zuge einer spekulativen Philosophie des Geistes als Selbstbewusstseinstheorie fort und gelangt so zu einem selbstbewusstseinstheoretischen Argument für die Existenz Gottes, welches durch eine ontologische Überlegung im Sinne der von Kant kritisierten Argumentation lediglich vollendet werden soll.53 Dadurch entgeht auch Descartes Kants Kritik an Leibniz’ ontologischem Argument. Allerdings lässt sich der Theologe Descartes von einer ganz anderen Seite her durchaus kritisieren, und zwar von der Warte eines aristotelischen, ontologischen und erkenntnistheoretischen Realismus, wie ihn Thomas von Aquin vertritt. Denn von hier aus erscheint es, als sei die methodische Ordnung des Denkens bei Descartes systematisch verkehrt, als werde hier eine Aussage über die eigene und über Gottes Existenz gemacht, noch bevor der Existenzbegriff und der Sinn korrespondierender Aussagen geklärt ist, wie es die allgemeine Ontologie leisten müsste. Der Gehalt dieser Aussagen bleibe daher in Ermangelung verfügbarer ontologischer Explikation notwendig unbestimmt oder auf eine schlechte Weise intuitiv.54 Als einzige gangbare Alternative erscheint da der allmähliche ontologische Aufstieg zur theologischen Einsicht, wie ihn Aristoteles skizziert und Thomas ausarbeitet. Dieses Vorgehen setzt sich aber seinerseits Descartes’ Kritik an jeder erkenntniskritisch nicht genügend abgesicherten Ontologie aus. In dieser Konfrontation offenbart sich ein fundamentales methodisches Dilemma der Natürlichen Theologie. Weder der dialektisch-selbstbewusstseins  Das setzt allerdings voraus, dass der Gottesbeweis der fünften Meditation als Fortsetzung der dritten Meditation gedeutet werden kann; eine Deutung, die in der einschlägigen Literatur nicht mehr verbreitet ist. Ich werde sie unten in IV am Text zu rechtfertigen suchen. 54   Noch in Heideggers Vorwurf, dass der Sinn von Ausdrücken wie ‚ich bin‘ und ‚Gott existiert‘ bei Descartes durchgehend unbefragt bleibe (SuZ, §  21), klingt diese thomistisch inspirierte Kritiklinie an, ebenso bei Jacques Maritain, vgl. Maritain 1955, S.  9. Dieser Kritik schließt sich auch Jean-Luc Marion an; vgl. Marion 1975, S.  181. 53

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theoretische noch der ontologische Weg zur Gotteserkenntnis scheinen für sich genommen sicher und gangbar. Ja, schlimmer noch, beide Methoden scheinen einander wechselseitig zu zerstören. Aber die Auswirkungen dieser Schwierigkeit betreffen nicht die Theologie allein. Denn wenn man auf den sehr unterschiedlichen Denkwegen des Aristotelismus und des Cartesianismus etwas lernen kann, dann die Lektion, dass Probleme der Metaphysik und vor allem der Theologie auf die gesamte Philosophie durchschlagen und letztlich auch auf die Wissenschaft. Es macht für das Unternehmen wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung einen Unterschied ums Ganze aus, ob es eine Möglichkeit rationaler Gotteserkenntnis gibt oder nicht, und zwar auch und gerade dann, wenn man mit Anselm, Thomas, Descartes und Kant überzeugt ist, dass ein atheistisches Argument, also ein Beweis der Nichtexistenz Gottes undurchführbar ist. In den verschiedenen Gründen, die die genannten Denker für diese gemeinsame Einschätzung haben, zeigt sich die relevante grundlegende Differenz: Während Kant meint, dass jeder Versuch, ein solches Argument zu formulieren, die Grenzen menschlicher Erkenntnis notwendig überschreiten und damit die Wissenschaft ebenso überfordern würde wie ein Gottesbeweis, glauben Anselm, Thomas, Descartes sowie später Hegel und Schelling, dass ein solches Argument schon deswegen notwendig fehlerhaft sein muss, weil es zu einem nachweislich falschen Ergebnis führt: Die Falschheit des Atheismus – und damit die Wahrheit des Theismus – ist aus Sicht dieser Denker demonstrabel. Denn die nachvollziehende Einsicht in die Beweiskraft eines gelingenden theistischen Arguments erweist zugleich die Grundlosigkeit jedes nur erdenklichen atheistischen Arguments. Für das Falsche kann es keinen Beweis geben. In diesen Auskünften spiegeln sich die Differenzen in den Beurteilungen der Leistungsfähigkeit der Vernunft und der Möglichkeit von Wissenschaft. Zumindest eine realistische Wissenschaftsauffassung lässt sich nur dann rechtfertigen, wenn unterstellt werden kann, dass philosophische Gotteserkenntnis möglich ist – eine andere Rechtfertigung kann es nach einhelliger Überzeugung der genannten Denker nicht geben. Das heißt nicht, dass Atheisten und Agnostiker kein realistisches Wissenschaftsverständnis ausbilden können. Es heißt aber, dass der Wissenschaftsrealismus für sie eine Sache des Glaubens bleiben muss. Die Frage nach der Möglichkeit Natürlicher Theologie erweist sich damit als Schicksalsfrage der Philosophie, so oder so. Daher ist es mehr als der Ausdruck eines vagen Unbehagens, wenn beklagt wird, dass die Philosophie mit dem Verzicht auf die Spezielle Metaphysik ihre höchsten und wichtigsten Gegenstände preisgegeben und dem Nichtdenken überlassen habe. Vielmehr artikuliert sich hier die Sorge über den drohenden Sinnverlust von Philosophie und Wissenschaft im Ganzen. Im Bewusstsein des hier skizzierten Dilemmas formuliert Schelling einen Neuansatz in der Natürlichen Theologie, den er in den großen Zusammenhang einer philosophischen Gesamtinterpretation der Offenbarungstheologie, einer

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„Philosophie der Offenbarung“ stellt. In der nachfolgenden Studie kann es nicht darum gehen, diesen Gesamtansatz zu diskutieren, der mehr an Problemen lösen muss, als sich im Rahmen der Natürlichen Theologie klären lässt. Einige davon können erst im Schlusskapitel dieser Arbeit und unabhängig von Schelling zumindest im Ansatz exponiert werden. Aber wenn Natürliche Theologie überhaupt möglich ist – und Schelling ist davon überzeugt –, dann muss sie auch den Schlüssel zum Verständnis der Offenbarungsphilosophie liefern. Es lässt sich zeigen, dass Schellings Projekt einer Offenbarungsphilosophie die Natürliche Theologie zum Fundament hat und damit den Titel „Philosophie“ zu Recht trägt. Im Rahmen dieses Ansatzes versöhnt Schelling auf interessante Weise den ontologischen Ansatz der aristotelischen und thomistischen Tradition mit dem selbstbewusstseinstheoretischen Ansatz, den Descartes in Anknüpfung an Augustinus und Anselm formuliert. Dabei ändert sich der Status des selbstbewusstseinstheoretischen Arguments. Muss der zweistufige Gottesbeweis bei Descartes vor aller Ontologie die Existenz Gottes und damit die Wahrheitsfähigkeit menschlichen Denkens sichern, so wird die Theorie des Selbstbewusstseins bei Schelling zum Instrument, mit dem das Wesen Gottes und damit auch die Semantik des Gottesbegriffs erhellt werden. In gewisser Weise bedeutet das eine Rückkehr zu Augustinus, von dessen Trinitätsspekulationen sowohl Anselm als auch Descartes ihren Ausgang nehmen. Die Existenz Gottes wird bei Schelling dagegen wie bei Aristoteles und Thomas vom Sein der natürlichen und historischen Welt aus und damit a posteriori bewiesen. Damit entlastet er die selbstbewusstseinstheoretische Analyse von der ihr bei Descartes zugemuteten Aufgabe einer Grundlegung der Ontologie, ohne auf diese Weise dem radikalen cartesischen Zweifel die Tür zu öffnen. So gelingt es ihm, die beiden Hauptparadigmen der Natürlichen Theologie aus der Situation einer wechselseitig destruktiven Konkurrenz heraus und zu einer echten Komplementarität hinzuführen. Die hier gewählte Ordnung der Darstellung folgt mithin nicht der Chronologie der Entstehung der Referenztexte. Denn wenn die hier zu verteidigende These stichhaltig ist, dann liefert das Schicksal der Natürlichen Theologie in der Moderne keinen Stoff für eine Fortschrittsgeschichte; Fortschritte finden sich nur lokal. Eine chronologische Darstellung verbietet sich daher. Descartes gelingt eine Vertiefung des anselmischen Grundgedankens. Aber ein gravierender methodischer Einwand gegen das anselmisch-cartesische Vorgehen findet sich bereits bei Thomas, woran Caterus, der Verfasser der Ersten Einwände gegen die Meditationen, in aller Höflichkeit erinnert. Bei Thomas findet sich auch die ambitionierteste Gestalt eines alternativen und genuin ontologischen Ansatzes in der Natürlichen Theologie. Das macht chronologisch betrachtet einen Schritt von Descartes zurück zu Thomas erforderlich. Wenn Schelling wiederum eine Synthese beider Ansätze gelingt, dann heißt das nicht, dass er dies im Sinne ei-

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ner bewussten Hinwendung zu Thomismus oder Cartesianismus geleistet hätte. Es geht um die Struktur seiner Natürlichen Theologie, nicht um explizite Bezugnahmen. Gegen die hier gewählte Darstellungsform ließe sich einwenden, dass sich die Nichtachtung der Chronologie vermeiden ließe, wenn man rein systematisch argumentierte und die Exegese klassischer Texte der Philosophiegeschichtsschreibung überließe. Nur so entgehe man dem Verdacht der hermeneutischen Willkür, also der Inanspruchnahme philosophischer Autoritäten für die eigenen, ihnen fremden Zwecke. Dieser Einwand lässt sich nicht abstrakt entkäften. Nur die Durchführung der Arbeit selbst kann zeigen, dass die systematische Erschließung der Prinzipien und Probleme der Natürlichen Theologie ins Herz dessen führt, was die hier besprochenen Denker selbst umtreibt, dass hier also keine ihnen fremde Zwecke verhandelt werden, sondern ihre eigenen. Umgekehrt verbietet der Respekt vor ihrer Denkleistung eine rein systematische, d. h. namenfreie Darstellung. Hier geht es nicht um neue Gedanken, sondern um die Erschließung und systematische Fruchtbarmachung überlieferter. Das die hier entwickelten Interpretationen leitende Interesse ist also durchweg systematisch. Im eigentlichen Sinn historisch-doxographische Fragestellungen werden dabei nicht oder nur insoweit verfolgt, wie es für den systematischen Gedankengang fruchtbar ist. Das betrifft insbesondere die Diskussion tatsächlich ausgetragener Kontroversen, z. B. Anselms Auseinandersetzung mit Gaunilo von Marmoutier, Descartes’ Stellungnahmen zu den gegen seine Meditationen vorgebrachten Einwänden oder Thomas von Aquins Kritik des scholastischen Averroismus. Keine dieser Diskussionen beansprucht für sich, die jeweilige Diskursgeschichte umfassend zu rekonstruieren, wie es eine philosophiehistorisch ausgerichtete Darstellung leisten müsste. Hier soll aber nicht weniger, sondern anderes als das geleistet werden: Es soll wie gesagt der jeweilige Ertrag der zu diskutierenden Debatte für die systematische Profilierung der Natürlichen Theologie herausgestellt werden, in der Überzeugung, dass eine systematische Auseinandersetzung zugleich die Diskursgeschichte verständlicher und besser bewertbar macht. Die historisch-biographische Einordnung der dabei verhandelten Texte in die Umstände ihrer Entstehung tritt demgegenüber naturgemäß in den Hintergrund. Bloß modische Aktualisierungen und oberflächliche Anpassungen historisch überlieferter Gedanken an die Denkund Darstellungsgewohnheiten der heutigen Zeit sind dabei aber möglichst zu vermeiden. Ein zentrales Ergebnis der folgenden Studien ist, dass Kants Kritik der Natürlichen Theologie, der wohl am wenigsten dogmatische und am wenigsten oberflächliche Versuch ihrer Destruktion, scheitert. Damit ist im Grunde schon weiten Teilen der nachkantischen Religionsphilosophie, die das Gegenteil ohne weitere Prüfung voraussetzt, der Boden entzogen. Streng genommen gilt das auch für zwei so anspruchsvolle und radikale Religionskritiker wie den schon

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erwähnten Ludwig Feuerbach und für Ernst Bloch, deren alternative Deutungen religiösen Glaubens und Hoffens die Wahrheit des Atheismus voraussetzen. Unbeschadet dieser im Lichte der vorliegenden Untersuchung fragwürdigen Voraussetzung stellen beide Ansätze eine genuine Herausforderung für die Natürliche Theologie dar, denn sie beanspruchen auf je ihre Weise, alle Phänomene des religiösen Bewusstseins und Lebens ohne „Gotteshypothese“, also vollständig atheistisch erklären zu können. Dabei präsentieren sie auch partielle Rechtfertigungsversuche religiösen Glaubens und Hoffens. So kann es scheinen, als sei mit dieser Form der partiell rettenden Religionskritik ein Weg eröffnet, auch ohne die Zumutung der theologischen Spekulation, ja in energischer Zurückweisung jedes entsprechenden Versuchs dennoch religiöses Bewusstsein vollständig zu explizieren, und zwar unter Wahrung zentraler Glaubensimplikationen. Beide Autoren zielen letztlich, anders als die bisher angeführten religionsphilosophischen Denker nach Kant, auf eine atheistische Metaphysik ab, in der dennoch oder erst recht die Würde des Menschen als geistiges Wesen gedacht werden kann. Feuerbach unternimmt diesen Versuch in einer zwar von Hegel inspirierten, aber letztlich ganz eigenständigen subversiven Deutung des „ontologischen“ Arguments Anselms, bei der die Idee des Menschen an die Stelle Gottes als desjenigen gesetzt wird, über dem nichts Größeres gedacht werden kann. Das ist der Kern seiner Umdeutung der Theologie in Anthropologie, die sowohl Kritik der Selbstentfremdung des menschlichen Selbstbewusstseins durch Religion als auch Affirmation der normativen Gehalte des religiösen Denkens ist. Bloch schreibt die von Feuerbach ausgehende Denklinie konsequent fort, greift aber energischer als dieser auf die Figur der Eschatologie im jüdischen und christlichen Denken einschließlich der Geschichte der zugehörigen Häresien zurück. Die Idee der Eschatologie deutet er, ebenso subversiv, als Idee der Selbsterlösung der Menschheit, die seiner Meinung nach ihren klarsten Ausdruck gerade im häretischen Denken findet. Hier glaubt er das Material für eine rein innerweltliche, Hoffnung rechtfertigende Utopie der vollständigen Menschheitsbefreiung ohne theologischen Überbau und damit ohne Spezielle Metaphysik zu finden. Doch diese Anthropologie wird erst durch die Einbettung in einen spekulativen Materialismus und damit in eine allgemeine Ontologie und Kosmologie verständlich, die den Menschen als schönste Blüte des Naturprozesses versteht. Mit dieser Erweiterung der Anthropologie zur Metaphysik beansprucht Bloch das Erbe des aristotelischen, thomistischen und Schellingschen Denkens für sich. Man kann es so ausdrücken: Während Feuerbachs atheistische Theologiekritik auf einer subversiven Umkehrung der dialektischen Theologie Anselms beruht, geht Blochs atheistische Metaphysik auf eine subversive Negation des ontologisch-kosmologischen Denkens in der Natürlichen Theologie zurück. Beide Ansätze sind so auf einzigartige Weise mit den beiden Hauptsträngen des philosophischen Theismus verbunden.

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Die Provokation des Feuerbach-Blochschen Zugangs zu Religion besteht insgesamt gerade in der These, dass die Phänomene des religiösen Bewusstseins ohne Gott und ohne metaphysische Theologie besser erklärt und begriffen werden können als mit ihnen. In gewisser Hinsicht ist die von Feuerbach und Bloch ausgehende Provokation der Natürlichen Theologie sogar radikaler als die von Kant ausgehende. Deswegen muss die Auseinandersetzung mit diesem Strang der Theologiekritik am Beginn der nachfolgenden Untersuchung stehen. Dabei zeigen sich aber einige Theorieelemente, die nicht recht zu den Selbstauskünften der beiden Denker zu passen scheinen. Das betrifft erstens Probleme der jeweils skizzierten Metaphysik. Feuerbach gründet seine Religionskritik ausdrücklich auf eine naturalistische Anthropologie, deren Grundzüge aber unscharf bleiben und von durchgehenden Inkohärenzen bedroht sind. Bloch geht noch expliziter von einem Materialismus aus, welcher der Materie selbst innewohnende teleologische Tendenzen annehmen muss, um auf diese Weise Begriffe wie ‚Idee‘, ‚Form­ursache‘ und ‚Zielursache‘ und die damit verbundenen Grundsätze einer ‚idealistischen‘ Ontologie vermeiden zu können. Stattdessen sollen Ideen, Formen und natürliche Ziele in einer materialistischen Teleologie zu Potenzen und ‚Auszugsgestalten‘ einer aktiv zu denkenden Materie umgedeutet werden, in radikaler Überbietung sowohl des Marx-Engelsschen Materialismus als auch materialistischer Deutungen der spinozistischen Ontologie. Dieser Befund bestätigt übrigens die oben gemachte Beobachtung, dass gründliche Religionsphilosophie um inhaltliche Stellungnahmen zu metaphysischen und ontologischen Fragen nicht herum kommt. Zweitens gelingt es weder Feuerbach noch Bloch, die Spannung zwischen dem kritischen und dem affirmativen Teil ihrer Religionsphilosophie aufzulösen. Beide wollen wie schon angedeutet bestimmte Teile des religiösen Denkens, insbesondere den Gedanken der besonderen Würde des Menschen in der Ordnung der Natur, retten, ohne deren religiös-theologische Begründung zu akzeptieren. Keiner von beiden kann dies aber mit den Mitteln der jeweils angenommenen Ontologie leisten. Drittens überfordern auch die ontologischen Theoreme selbst, mit denen Feuerbach und Bloch arbeiten, die jeweils angenommene theoretische Basis. Das zeigt sich bei Feuerbach in den systematischen Unklarheiten seiner Aussagen über das Wesen des Menschen, die später Marx’ berechtigte, wenn auch selbstzerstörerische Kritik auf sich gezogen haben, aber auch in seiner hybriden Anknüpfung an Anselm, wenn er behauptet, dass nichts Besseres gedacht werden könne als der vollkommene Mensch. Es zeigt sich bei Bloch in den Schwierigkeiten, den Gedanken einer teleologischen ‚Prozessmaterie‘ überhaupt verständlich zu machen, der zwar durchgehend postuliert werden muss, aber an keiner Stelle begründet werden kann. Daran zeigen sich zugleich ganz allgemeine Schwierigkeiten einer lediglich auf Annahmen gegründeten Ontologie. Auf diese Weise bleiben die Kritiker hinter der von ihnen kritisierten Tradition zu-

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rück. Aus den inneren Unstimmigkeiten ihrer jeweiligen Ansätze erwächst so die Motivation zum Studium dessen, was sie zurückweisen: der Natürlichen Theologie. Die Auseinandersetzung mit Feuerbach führt dabei zurück zu Anselm, die Diskussion Blochs zu Aristoteles und Thomas von Aquin. Feuerbach empfängt von Anselms ‚einem Argument‘ aus dem Proslogion den systematischen Anstoß zu seiner anthropologischen Kritik der Theologie. Bloch steht als Vertreter einer ‚aristotelischen Linken‘ in der auf Aristoteles zurückgehenden Tradition der ontologischen Reflexion der Eigenschaften und Möglichkeiten der Materie und ihrer Bedeutung für das Sein der Natur, die auch der Natürlichen Theologie nicht gleichgültig sein können. Feuerbach und Bloch schreiben sich so in verschiedene Kapitel der Geschichte der Metaphysik ein. Das unterscheidet sie von einer ganzen Reihe heutiger Autoren, die sich publikumswirksam als ‚Humanisten‘, bekennende Atheisten und Religionskritiker präsentieren, also von Autoren wie Daniel Dennett in den USA, Richard Dawkins oder Christopher Hitchens in Großbritannien sowie Ulrich Kutschera in Deutschland.55 Diese Position bleibt in der hier vorliegenden Studie weitgehend unberücksichtigt. Das ist weder ein Lapsus, noch entsteht dadurch eine argumentative Lücke. Denn den genannten Autoren ist gemeinsam, dass sie die Nichtexistenz Gottes bloß voraussetzen, statt dafür zu argumentieren, und die Argumente der Natürlichen Theologie nicht oder allenfalls in Karikatur zur Kenntnis nehmen.56 Der gesamte von Autoren wie den genannten vorgetragene ‚humanistische‘ Angriff auf die Religion geschieht hinsichtlich der Grundaussagen argumentfrei. Für den Diskurs der Speziellen Metaphysik ist ihre Position damit schlicht irrelevant. Bewegt sich der so genannte ‚neue Humanismus‘ damit insgesamt an der Peripherie der Natürlichen Theologie, so gehört ein Problemzusammenhang aus dem Zentrum des Diskurses doch zum Standardrepertoire seiner Religionskritik, und zwar das Theodizeeproblem. Das daraus ableitbare atheistische Argument verdient eine gründlichere Aufarbeitung, als sie im Schlusskapitel der vorliegenden Arbeit geleistet werden kann.57 Allerdings fehlt es der großen Mehrheit der einschlägigen Beiträge zur Theodizee-Debatte an Geduld und theoretischer Sorgfalt vor allem hinsichtlich der davon berührten ontologischen 55  Eine Zusammenstellung der Kernargumente des heutigen Atheismus liefert Baggini 2003. 56   Ein Beispiel liefert Dennett, der auf zwei Seiten zunächst Anselms These und dann die nicht näher spezifizierte kosmologische These zusammenfasst und verwirft, „ohne die Argumente anzuführen, die dem zu Grunde liegen“. (Dennett 2006, S.  240; auf der folgenden Seite begnügt sich der Autor mit dem unbestimmten Autoritätsargument, dass „viele Philosophen“, die sich über viele Jahre hinweg mit Argumenten der Natürlichen Theologie befasst hätten, schließlich zu dem Schluss gelangt seien, dass es sich dabei eher um „Tricks“ oder „Paradoxien“ (puzzles) als um ernsthafte wissenschaftliche Vorschläge handele.) 57   Im Ansatz findet eine solche Aufarbeitung in der Diskussion Weidemanns statt; vgl. Weidemann 2007.

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Fragen, meist sogar an einem eigentlichen Sinn für die Schwierigkeit der damit verbundenen Termini, so dass z. B. die Begriffe Übel und Vollkommenheit meist rein intuitiv verwendet werden. Eine kompetente Theodizee-Debatte lässt sich nicht im Rahmen der Natürlichen Theologie allein führen, weil ihre Themen und Probleme weit ins Feld der allgemeinen Ontologie und der Naturphilosophie führen. In der gegenwärtigen Phase der Philosophiegeschichte, in der eine Erneuerung der Metaphysik und Ontologie noch immer aussteht, verfügen wir noch nicht wieder über die begrifflichen und theoretischen Mittel, um uns auf eine solche Debatte einlassen zu können. Denn wenn es sich beim Theodizee-Problem nicht allein um ein Problem der Natürlichen Theologie handelt, dann erst recht nicht um eines, das sich offenbarungstheologisch lösen ließe. Daher lässt sich gerade für die Gegenwart nicht so sehr mit Kant ein Scheitern aller bisherigen Versuche in der Theodizee konstatieren als vielmehr ein Scheitern voreiliger Versuche, ein Scheitern der Theodizee zu konstatieren. Wenn an den hier angestellten Überlegungen etwas ist, dann steht uns zumindest der philosophische Diskurs über Probleme der Natürlichen Theologie und damit des wichtigsten Teilgebiets der Speziellen Metaphysik wieder offen. Damit ist zugleich die Möglichkeit eröffnet, Fragen nach den ersten Prinzipien des Seins und Denkens wieder mit der gleichen Gründlichkeit, methodischen Strenge und intellektuellen Disziplin zu behandeln, mit der sie in früheren Epochen der Philosophiegeschichte behandelt wurden. Ich hatte eingangs auf die historische Rolle der Religionsphilosophie als Nachfolgedisziplin der rationalen Theologie hingewiesen, welche diese neue philosophische Disziplin von Anfang an strukturell überfordert hatte. Denn es ist klar, dass die Religionsphilosophie die Natürliche Theologie nicht ersetzen kann, da sie einen anderen Gegenstand hat als diese. Sie erreicht aber auch niemals die Autonomie, welche die Natürliche Theologie methodisch und inhaltlich für sich beanspruchen kann, da ihr Thema sie vor Fragen stellt, die sie mit ihren eigenen Mitteln, denen einer metaphysikfreien Theorie religiöser Erfahrung, nicht beantworten kann, ohne stillschweigend doch wieder auf Theoreme der Natürlichen Theologie oder wenigstens auf Theoreme einer atheistischen, materialistischen Metaphysik zurückzugreifen. Für die heutige Situation ergibt sich daraus aber auch die umgekehrte Beob­ achtung, dass Natürliche Theologie die Religionsphilosophie nicht ersetzen muss und nicht ersetzen kann. Sie muss sie nicht ersetzen, weil neben einer autonomen metaphysischen Disziplin wie der Natürlichen Theologie eine Religionsphilosophie, verstanden als Phänomenologie religiösen Bewusstseins und religiöser Praxis sowie als Hermeneutik religiöser Erfahrung, ihr Eigenrecht bewahrt. Sie kann sie nicht ersetzen, weil ihr Thema ein anderes ist: Sie handelt von Gott oder vom Transzendenten, die Religionsphilosophie von Formen und Gestalten menschlicher Bezugnahme auf Gott und Transzendenz.

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Damit ist noch ein weiterer Sinn aufgezeigt, in dem ein Denkweg von der Religionsphilosophie zur Speziellen Metaphysik führt, nämlich als eine Hinführung, parallel zu dem Denkweg, den Aristoteles von der Erfahrung der uns umgebenden Welt über die Naturphilosophie zur allgemeinen Metaphysik vorzeichnet. Die Religionsphilosophie kann das philosophische Denken vor die Fragen und Probleme bringen, welche nur die Spezielle Metaphysik beantworten kann, während die Spezielle Metaphysik uns umgekehrt die ersten Gründe und damit den Leitfaden an die Hand gibt, mit dem wir uns in der Vielfalt religiöser Phänomene theoretisch orientieren können. Dass dabei der Speziellen Metaphysik der theoretische Primat vor der Religionsphilosophie zukommt, ändert nichts daran, dass es sich bei diesen Disziplinen nicht um konkurrierende Unternehmungen handeln muss. Überlegungen zum Verhältnis der beiden Disziplinen sowie zum Verhältnis von Philosophie und philosophischer Theologie zur ‚positiven‘ Religion stehen am Schluss dieser Untersuchung. Wie sich zeigt, weicht die folgende Arbeit in ihrem Aufbau stark von den derzeit gängigen Darstellungen der Religionsphilosophie und philosophischen Theologie ab. Vor allem englischsprachige Werke beginnen in der Regel mit einer Diskussion des ‚ontologischen‘ Arguments, gehen von dort zu ‚kosmologischen‘ und ‚physikotheologischen‘ bzw. ‚teleologischen‘ Argumenten über, um schließlich über ‚moralische‘ Argumente wie Kants praktischen Gottesbeweis oder Pascals Wette zu Argumenten aus religiöser Erfahrung, z. B. aus Wundern, zu gelangen. John Mackie hat dieses Schema entwickelt.58 Es soll dabei vom Argument mit dem stärksten Geltungsanspruch, dem ontologisch genannten Argument, welches rein a priori operiert, absteigend zu immer schwächeren bzw. zunehmend aposteriorischen Argumenten fortgeschritten werden, um durch den sukzessiven Aufweis der Schwächen und Fehler jedes dieser Argumente schließlich zu einer „eindeutige[n] Ablehnung des Theismus“59 zu gelangen. Im Kontrast zu allen diesem Schema verbundenen Arbeiten bleiben in der nachfolgenden Untersuchung ‚praktische‘, d. h. nichtmetaphysische Argumente für die Existenz Gottes wie diejenigen Kants oder Pascals ebenso unberücksichtigt wie erfahrungsgestützte Argumente wie bei William James. Daher kann z. B. Humes Theologiekritik hier nicht das Gewicht bekommen, das sie bei Mackie erhält. Da ferner das ‚teleologische‘ oder ‚physikotheologische‘ Argument für die Existenz Gottes nicht eigenständig ist, reduziert sich die Zahl möglicher theistisch-metaphysischer Argumente in der Natürlichen Theologie auf zwei Grundtypen, den anselmisch-cartesischen und den aristotelisch-thomistischen. Deren vergleichende Auslegung ist trotz Mackies in vielen Details 58   Vgl. Mackie 1985. Everitt 2004 und Oppy 2006 bedienen sich mit gewissen Variationen desselben Aufbauschemas. 59   Mackie 1985, S.  379.

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verständiger Kritik erst noch zu leisten. Denn an entscheidenden Stellen unterschätzt Mackie nachweislich die von ihm kritisierten Texte und deutet die angegriffenen Argumente falsch. Das wird an den relevanten Stellen zu zeigen sein. Dabei wird sich auch zeigen, dass der ‚kosmologische‘, also eigentlich ontologische Gottesbeweis in Wahrheit nicht schwächer als dialektische oder selbstbewusstseinstheoretische Argumente in der Natürlichen Theologie ist, sondern lediglich aufwendiger, was die Gewinnung der Prämissen betrifft. Dessen ungeachtet sind beide Beweisarten philosophische Beweise im ursprünglichen Sinn dieses Terminus. Dazu ist hier eine methodische Bemerkung angebracht. Die Analytische Philosophie fasst den Beweisbegriff in der Regel formalistisch auf, nämlich im Sinne eines formal gültigen deduktiven Arguments. Dementsprechend haben sich seit Kurt Gödel und Norman Malcolm vor allem Logiker immer wieder an formalen Rekonstruktionen des ‚ontologischen‘ Arguments Anselms versucht, 60 und Swinburne hat das ‚kosmologische‘ Argument als abduktiven Schluss probabilistisch formalisiert. Für die Natürliche Theologie wird durch solche Versuche nicht viel gewonnen, denn wie Swinburne mit Plantinga freimütig einräumt, wird auf diese Weise bestenfalls die ‚Kohärenz des Theismus‘ (Swinburne) gezeigt, nicht aber seine Wahrheit. Dem Kritiker bleibt es unbenommen, die Geltung der Konklusion eines formal gültigen Schlusses zu bestreiten, indem er die Geltung mindestens einer Prämisse in Frage stellt. Und tatsächlich sind die semantischen und epistemologischen Modelle, die in die Prämissenbildung der jeweiligen Rekonstruktionen eingehen, z. B. bei Plantinga die Mögliche-Welten-Semantik oder bei Swinburne die Methode der probabilistischen Induktion, so beschaffen, dass man aus ontologischen Gründen gut daran tut, ihre tatsächliche Geltung zu bestreiten oder einzuklammern. In der älteren philosophischen Tradition wird der Beweisbegriff dagegen dominant inhaltlich verstanden. Demnach hat ein Argument dann beweisende Kraft, wenn es die Wahrheit der Konklusion einsichtig macht, weil es den Grund ihres Wahrseins angibt. 61 Diesem Zweck ist die formale logische Darstellung, z. B. in Form eines deduktiven Syllogismus, nach- und untergeordnet. Manche der stärksten philosophischen Argumente der Tradition, z. B. das Cogito-Argument, lassen sich nicht syllogistisch darstellen, doch ihrer Beweiskraft tut das keinen Abbruch. Ähnliches gilt für das ‚eine Argument‘ Anselms und für das selbstbewusstseinstheoretische Argument für die Existenz Gottes   Jetzt nachzulesen in Bromand/Kreis 2011.   „Wir glauben aber etwas zu wissen, schlechthin, nicht nach der sophistischen, akzidentellen Weise, wenn wir sowohl die Ursache, durch die es ist, als solche zu erkennen glauben, wie auch die Einsicht uns zuschreiben, dass es sich unmöglich anders verhalten kann. Es leuchtet […] ein, dass das Wissen etwas Derartiges ist.“ (Anal. post., 71 b. Ebd., 71 a, führt Aristoteles aus, dass das Verständnis eines Beweises das Verständnis der darin vorkommenden Begriffe voraussetzt. Die Voraussetzung, dass die darin vorkommenden Begriffe nicht leer sind, gilt dagegen nicht für jeden Beweis. So genannte Dass-Beweise haben eben das zum Beweisziel. Dazu gehört auch das Argument dafür, dass es einen ersten Beweger geben muss. 60 61

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bei Descartes, die beide nicht in einem üblichen Sinne deduktiv von logisch stärkeren Prämissen zu logisch schwächeren Konklusionen fortschreiten. Das ontologische Argument bei Aristoteles und Thomas von Aquin ist ebenfalls kein formal-deduktiv gültiges Argument, sondern induktiv, wie Swin­ burne zu Recht sagt. Dass induktive Argumente nicht als formal zwingende Schlüsse ausweisbar sind, hat schon Aristoteles, der das so gut wie irgendein anderer Logiker gewusst hat, 62 nicht davon abgehalten zu fragen, unter welchen Bedingungen induktive Argumente aus inhaltlichen Gründen auf sicherem Weg zu wahren Konklusionen führen. 63 Die Geltung eines solchen Arguments kann eben nicht von seiner Form allein abhängen. Es sollte uns daher nicht überraschen, dass wir in der Natürlichen Theologie insgesamt auf Argumente stoßen, die keine formalen Entsprechungen in anderen Teilen der Philosophie finden. Entsprechend flexibel ist in diesem Punkt denn auch die traditionelle Terminologie. Anselm von Canterbury bezeichnet seinen Gottesbeweis durchgehend als argumentum, Thomas von Aquin nennt seine Argumente viae, Wege, zur Gotteserkenntnis, scheut sich aber gleichfalls nicht, von probare, aufweisen oder beweisen, zu sprechen, einen Terminus nutzend, der durchgehend im Sinne des Nachweises der Gültigkeit verwendet wird, ganz gleich ob es sich dabei um deduktive oder induktive Argumente handelt, der aber in der Regel vermieden wird, wenn bloße Autoritätsargumente (auctoritates) ins Spiel kommen. Descartes spricht von deductio oder demonstratio bevorzugt auch dann, wenn ein nichtdeduktives, aber evidentes Argument für eine bestimmte These oder einen Lehrsatz vorgebracht werden kann. 64 Auch Schelling spricht wie später Husserl und Heidegger vom philosophisch strengen, wissenschaftlichen Nachweis oder Beweis als der methodisch strengsten Form des Aufzeigens der Wahrheit eines Satzes. 65 Dazu ist allerdings das gutwillige, kooperative Mitdenken des Lesers zwingend erforderlich. Ohne diese Bereitschaft zur gemeinsamen Wahrheitssuche geht aber auch jedes formal gültige Argument ins Leere. Ob ein so verstandener Beweis letzten Endes ins Ziel kommt oder ins Leere geht, lässt sich prinzipiell erst in der Durchführung beurteilen. Aber nur das Wahre lässt sich auch beweisen.

  Vgl. ebd., 91 b 17.   Anal. pr., 68 b. Dass probabilistische Schlüsse dessen ungeachtet rein formal ungeeignet sind, die Wahrheit ihrer Konklusionen zu sichern, liegt auf der Hand, und Swinburne räumt das auch ein. 64   Vgl. Engfer 1996, S.  61. 65   Vgl. etwa PdK, §  14 et passim, aber auch die an diesem Punkt systematisch verwandten Thesen bei Stekeler-Weithofer 2008, S.  2 ff. 62

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I.  Feuerbachs These 1.  Theologie als verstellte Selbsterkenntnis des Menschen Feuerbach lehrt, „dass das Geheimnis der Theologie die Anthropologie ist“,1 d. h. dass religiöse und insbesondere theologische Sätze anthropologisch zu lesen seien, als Sätze über das Wesen des Menschen. Denn jede Religion sei als ein mehr oder weniger kohärentes System anthropologischer Vorstellungen zu verstehen, jede explizite Theologie als eine mehr oder weniger kohärente anthropologische Theorie. Damit ist nicht die wenig überraschende Beobachtung gemeint, dass jede Religion auch ein Ensemble von Vorstellungen über die menschliche Natur entwickelt und dass jede Theologie auch einen anthropologischen Teil enthält. Gemeint ist vielmehr, dass gerade diejenigen Vorstellungen und Sätze, die sich scheinbar eben nicht auf das Menschliche, sondern auf das Göttliche beziehen, in Wahrheit vom Menschen handeln. Damit komme der Mensch in Religion und Theologie zweimal vor, aber auf gegensätzliche Weise. Jede der beiden Seiten, das Göttliche und das Menschliche, wird über den Gegensatz zur jeweils anderen verstanden, das Göttliche als nicht- und übermenschlich und damit als unsterblich, unendlich, unfehlbar und ohne Makel, das Menschliche als nicht- und ungöttlich, als sterblich, endlich, fehlbar, unvollkommen und sündhaft. Was geschieht nun, wenn man Vorstellungen über Gott als Vorstellungen über den Menschen deutet, also in religiösen oder theologischen Sätzen über Gott den Ausdruck „Gott“ durch den Ausdruck „der Mensch“ ersetzt? Man erhält Paare einander widersprechender Sätze wie „Der Mensch ist unfehlbar“ und „Der Mensch ist fehlbar“, „Der Mensch ist unsterblich“ und „Der Mensch ist nicht unsterblich“, etc., und damit systematisch verwirrte Vorstellungen. „Gott und Mensch sind Extreme: Gott das schlechthin Positive, der Inbegriff aller Realitäten, der Mensch das schlechtweg Negative, der Inbegriff aller Nichtigkeiten.“2

Das resultierende religiöse und theologische Menschenbild ist in Feuerbachs Sicht widersprüchlich. Das ist für ihn ein erstes Indiz für die Selbstentfremdung des Menschen durch Religion und Theologie.   WDC, S.  7.   Ebd., S.  75. Man beachte den Rückgriff auf die Bestimmung Gottes als ens realissimum.

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I.  Feuerbachs These

„Es muss also nachgewiesen werden, dass […] dieser Gegensatz, dieser Zwiespalt, mit welchem die Religion anhebt, ein Zwiespalt des Menschen mit seinem eigenen Wesen ist.“3

Die Folgen dieses Zwiespalts charakterisiert er mit drastischen Worten: „Die Religion ist das Verhalten des Menschen zu seinem eignen Wesen – darin liegt ihre Wahrheit –, aber zu seinem Wesen nicht als dem seinigen, sondern als einem andern, aparten, von ihm unterschiednen, ja entgegengesetzten Wesen – darin liegt die Unwahrheit, darin die Schranke, darin das böse Wesen der Religion, darin die unheilschwangere Quelle des religiösen Fanatismus, darin das oberste, metaphysische Prinzip der blutigen Menschenopfer, kurz, darin die prima materia aller Gräuel, aller schaudererregenden Szenen in dem Trauerspiel der Religionsgeschichte.“4

Nun ist die Widersprüchlichkeit des Menschenbildes in der – mit Feuerbach interpretierten – Religion und Theologie alles andere als offensichtlich. Denn sie entsteht nur unter Voraussetzung der Identität von Gott und Mensch. Selbst wenn man die Gleichsetzung gelten lässt, ließe sich dem durchaus mit Feuerbach entgegenhalten, dass der Mensch hier nicht auf beiden Seiten in derselben Hinsicht thematisch werde. In der Vorstellung und Darstellung des Göttlichen entwirft der Mensch aus Feuerbachs Sicht nämlich ein Ideal-, in der Vorstellung und Darstellung des Menschlichen ein Realbild seiner selbst. Beide Bilder würden nun als gegensätzliche Darstellung desselben nicht durchschaut, weil das göttliche Ideal im religiösen und theologischen Denken hypostasiert, d. h. zum eigenständigen, vom Menschen unabhängigen Wesen gemacht werde. Dennoch, so könnte man Feuerbach im Rahmen seines eigenen Denkansatzes entgegenhalten, handelt es sich um zwei distinkte, logisch nicht konfligierende Menschenbilder: eines zeigt den Menschen, wie er ist, das andere zeigt ihn, wie er sein sollte. Doch dagegen wendet Feuerbach ein, dass gerade die Hypostasierung des normativen Menschenbildes zum Gottesbild verhindere, dass der Mensch darin ein Ideal seiner selbst erkenne. Indem der Mensch das Göttliche für eine metaphysisch vom Menschen abgetrennte, entrückte Sphäre halte, verliere das dergestalt vergöttlichte Ideal seine orientierende, handlungsleitende Kraft. Mehr noch, indem der Mensch das Ideal seiner selbst von sich selbst, von seinem Wesen abtrenne, verarme zugleich sein Selbstverständnis, weil es um das Ideale darin verkürzt werde. „Um Gott zu bereichern, muss der Mensch arm werden, damit Gott alles sei, der Mensch nichts sein.“5

Der religiös denkende Mensch, so Feuerbach, denkt nur noch realistisch von sich und damit in einer entscheidenden Hinsicht zu niedrig. Indem der Mensch  Ebd.   Ebd., S.  316; Kursivierung H.T. 5   Ebd., S.  65. 3 4

1.  Theologie als verstellte Selbsterkenntnis des Menschen

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die Theologie aufhebe, könne er sich die ideale Sicht seines eigenen Wesens wieder aneignen, die Selbstentfremdung überwinden und versuchen, besser zu werden und sich dem Ideal anzunähern. Durch diese Aufhebung der Theologie finde der Mensch dann auch zur wahren Religion, die im Kern atheistisch, nämlich anthropologisch sei. 6 Selbst als wohlwollender Interpret Feuerbachs wird man zugestehen müssen, dass der Eindruck von anthropologischem Widerspruch und menschlicher Selbstentfremdung in Religion und Theologie zunächst einmal ein Konstruktionseffekt von Feuerbachs eigener Darstellung ist. „Erst schafft der Mensch Gott nach seinem Bilde, und dann erst schafft wieder dieser Gott den Menschen nach seinem Bilde.“7

Dass Gottesbilder in Wahrheit Menschenbilder sind, ist keine offensichtliche Wahrheit. Was Feuerbach zu ihrer Begründung braucht, ist zweierlei: erstens eine Transformationstheorie, die erklärt, wie der Übergang von Menschenbildern zu Gottesbildern vonstatten geht, zweitens eine Irrtumstheorie zur Erklärung der Tatsache, dass diese Transformation undurchschaut bleibt und erst durch philosophische Aufklärung durchsichtig wird. Ein Typ religionsphilosophischer Theorie, der beides zugleich zu leisten beansprucht, ist die Familie der spätestens seit der französischen Aufklärung verbreiteten Betrugstheorien, welche die Religion als Wirkung priesterlicher Manipulation und Volkstäuschung ansehen. Derartigen Theorien zu Folge ist Religion ein Aberglaube, den eine mächtige Priesterkaste zu ihrem eigenen Vorteil, d. h. zu Zwecken des Erhalts von Macht, Besitz und Privilegien unter den übrigen Menschen erweckt und wach hält. 8 Doch Feuerbach kritisiert wie vor ihm Hegel und nach ihm Marx solche Theorien als unplausibel. Was darin nämlich unerklärt bleibt, ist der Erfolg dieses angeblichen Betrugs, der tatsächliche religiöse Glaube in einer hinreichend großen Gemeinschaft von ‚Betrogenen‘. Denn ein Betrug kann nur dann wirksam sein, wenn die betrügerische Behauptung aus Sicht der Betrogenen glaubhaft erscheint, wenn hinreichend starke Gründe für die Übernahme der entsprechenden Überzeugungen sprechen. Nun gilt das, gerade nach Meinung der Radikalaufklärung, für die religiösen Glaubensge  „Wenn daher meine Schrift negativ, irreligiös, atheistisch ist, so bedenke man, dass der Atheismus – im Sinne dieser Schrift wenigstens – das Geheimnis der Religion selbst ist, dass die Religion selbst zwar nicht auf der Oberfläche, aber im Grunde, zwar nicht in ihrer Meinung und Einbildung, aber in ihrem Herzen, ihrem wahren Wesen, an nichts anderes glaubt, als an die Wahrheit und Gottheit des menschlichen Wesens.“ (WDC, S.  17) 7   Ebd., S.  215. Ähnliches gilt von Nietzsches späterer Religions- und Metaphysikkritik, einer Version der Reduktion der Theologie auf Anthropologie, die kaum mehr, eher weniger ist als ein spätes Echo Feuerbachs, wenn auch mit einem deutlicheren Bewusstsein der geistigen und kulturellen Konsequenzen dieses Gedankens als bei Feuerbach selbst. 8   Eine etwas abgemilderte Betrugstheorie, nämlich eines Betrugs in frommer Absicht (pia fraus), findet sich auch in den von Lessing edierten Reimarus-Fragmenten; vgl. Lessing, Mehreres, 1777, S.  372. 6

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I.  Feuerbachs These

halte etwa des Christentums keineswegs. Dass etwa Gott eine ewige Substanz, einfach und zugleich personal dreifaltig, allwissend, allmächtig und vollendet gut oder dass die menschliche Seele unsterblich sei und der Leib auferstehen könne, scheinen keine auch nur einleuchtenden Gedanken, sondern unplausible, ja widersinnige Behauptungen zu sein. Gerade der prima facie nicht zu bestreitende Mangel an Plausibilität der christlichen Doktrin spricht aber gegen die Betrugstheorie. Sie muss erklären können, wie derartige Glaubenslehren Menschen einleuchtend erscheinen können. Die Betrugstheorie macht die radikalaufklärerische Religionskritik ihrerseits inkohärent.

2.  Die Hypostasierungsthese Feuerbach knüpft daher nicht hier an, sondern an Hegels Theorie des spekulativen Satzes.9 Denn schon nach Hegel sind die Kernsätze der Theologie spekulativ zu deuten in einem Sinn, welcher in der Phänomenologie des Geistes erläutert wird.10 Spekulative Sätze sind Aussagen über ‚höhere‘, d. h. reine oder nichtempirische Vernunftbegriffe. Solche Aussagen bestimmen die regierende Logik dieser Begriffe; d. h. sie stellen logische Beziehungen zwischen reinen Vernunftbegriffen dar. Eine formale Eigenheit zumindest vieler spekulativer Sätze ist die freie Vertauschbarkeit von linker und rechter Seite der Aussage, also von ‚A ist B‘ zu ‚B ist A‘ und umgekehrt. Diese Besonderheit enthält schon den Hinweis, dass die logische Form spekulativer Sätze nicht die gewöhnliche Logik der Verknüpfung von Subjekt und Prädikat, die zugehörige Semantik nicht die der Zuordnung einer Eigenschaftsangabe zu einer Gegenstandsbenennung ist. Zwar sind Subjekt und Prädikat auch im Fall ‚gewöhnlicher‘, i.w.S.  empirischer Aussagen konvertibel. ‚Alle Menschen sind sterblich‘ lässt sich bekanntlich zu ‚Einige Sterbliche sind Menschen‘ konvertieren.11 Mit gewissen Einschränkungen gilt dies selbst für singuläre Sätze wie ‚Dieser Ofen ist schwarz‘, den man äquivalent zu ‚Dieses Schwarze ist ein Ofen‘ umformen kann. Diese Umformung ist in geeigneten Kontexten, wenn nämlich der Gegenstandsbezug mit Hilfe des deiktischen Terminus ‚dies‘ hinreichend transparent ist, sogar reversibel. Im Beispiel muss der Sortalterminus ‚Ofen‘ diese Arbeit leisten. Im Allgemeinen sind logische Konversionen aber nicht umkehrbar. Aus der Aussage oder dem Satz, dass einige Sterbliche Menschen sind, folgt formal betrachtet nicht, dass von der Sterblichkeit alle Menschen betroffen sind. Das weist auf folgende formale Ordnung bei der Konversion von Subjekt- und Prädikatbe Vgl. PhG, S.  43 sowie WDC, S.  18.   Eine auf den ersten Blick analoge Erläuterung findet sich in Schellings Einleitung zur Freiheitsschrift als Unterscheidung zwischen identischen und prädikativen Sätzen, vgl. Freiheitsschrift, S.  14. 11  Vgl. De int., 20 a. 9

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griffen in ‚verständiger‘, gegenständlicher Rede hin: Es gilt, logisch zwischen grundlegenden und abgeleiteten Aussageformen zu unterscheiden, und konvertierte Aussagen sind immer abgeleitet, wie man aus der allgemeinen Irreversibilität der logischen Konversion ersehen kann. Dafür gibt es auch einen semantischen Grund. In der kanonischen Semantik, die auf der aristotelischen Ontologie beruht, werden Gattungen von Arten ausgesagt (z. B. die Gattung ‚Sterbliche‘ von der Art ‚Mensch‘) oder Eigenschaften von Substanzen (z. B. Qualitäten wie die Schwärze vom Ofen), nicht aber Arten von Gattungen oder Substanzen von Qualitäten. Deswegen ist die Konversion zwar logisch möglich, aber sie macht die logischen Verhältnisse undurchsichtig: Der Satz ‚Einige Sterbliche sind Menschen‘ lässt offen, ob sich ‚Mensch‘ und ‚sterblich‘ wie Art und Gattung zueinander verhalten oder kontingent überlappen wie die Ausdrücke ‚Mensch‘ und ‚kraushaarig‘ in ‚Einige Menschen sind kraushaarig‘. Allgemein gilt: Die kanonische Semantik legt fest, dass in der logischen Grundform links von der Kopula ein Art- oder ein Substanzbegriff, rechts davon ein Gattungs- oder Akzidenzbegriff steht. Damit ist die Grundform ‚verständiger‘, art-, substanz- und gegenstandsbezogener Rede beschrieben.12 Doch nicht jeder Satz muss sich auf diese Grundform zurückführen lassen. Es gibt philosophisch interessante Sätze, bei denen keine vergleichbare semantische Asymmetrie zwischen den Sätzen der Form ‚A ist B‘ und Sätzen der Form ‚B ist A‘ besteht. Dazu gehören Identitätsaussagen wie ‚Der Morgenstern ist der Abendstern‘ oder ‚Tullius ist Cicero‘, in denen die Bedeutungsgleichheit von Namen M und N ausgesagt wird, also ‚M = N‘. Beide sind frei in beide Richtungen konvertibel. Hegel nennt aber auch Sätze wie ‚Das Wahre ist das Ganze‘13 oder ‚Gott ist das Sein‘.14 Auch diese Sätze können konvertiert werden, und zwar zu ‚Das Ganze ist das Wahre‘ bzw. ‚Das Sein ist göttlich‘. Linke und rechte Seite sind in beiden Typen von Sätzen frei vertauschbar. Das liegt offenbar daran, dass hier nicht einer Substanz ein Akzidenz zugesprochen wird, sondern dass zwei ‚höhere‘, philosophische Begriffe, in Hegels Terminologie zwei ‚Ideen‘, zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. ‚Das Wahre ist das Ganze‘ sagt die ‚Identität‘ der Ideen des Wahren und des Ganzen aus, ‚Gott ist das Sein‘ die ‚Identität‘ Gottes und des Seins. Keiner der beiden jeweils miteinander verknüpften Begriffe ist allgemeiner als der andere, keiner hat einen größeren Umfang. Deswegen sind sie vertauschbar wie die Namen M und N im obigen Identitätsurteil. Man kann das auch ausdrücken, indem man spekulative Sätze als im   Vgl. Balmès 2010.   PhG, S.  19. 14   Ebd., S.  44. Bei Schelling finden sich auch Beispielsätze wie ‚Das Gute ist das Böse‘ oder ‚Freiheit ist Notwendigkeit‘. Allerdings bedarf es nach Schelling stets einer sorgfältigen Prüfung solcher Sätze, da die darin verknüpften Termini nicht immer vertauschbar sind. Denn in seiner Analyse verhalten sich die in spekulativen Sätzen verknüpften Begriffe wie Grund und Folge zueinander. Wenn dies der Fall ist, dann können sie nicht frei vertauschbar sein. Vgl. Freiheitsschrift, S.  14. 12 13

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logischen Sinne subjektlose Sätze kennzeichnet. ‚Das Wahre ist das Ganze‘ ist ebenso ein Satz über das Wahre wie über das Ganze. In ‚Das Wahre ist das Ganze‘ ist ‚das Wahre‘ sehr wohl Satzthema oder Satzfokus, nicht aber eigentliches Subjekt. Analoges gilt von ‚Gott ist das Sein‘. Hegel findet eine Vielzahl weiterer spekulativer Sätze in Theologie und religiöser Überlieferung, z. B. im Johannesevangelium. So sieht er den Satz ‚Gott ist die Wahrheit‘ bzw. ‚Gott ist das Wahre‘ als spekulativ an. Das bedeutet, dass er die Konversion ‚Die Wahrheit ist Gott‘ bzw. ‚Das Wahre ist das Göttliche‘ als logisch äquivalent ansieht.15 Das bedeutet aber auch, dass beide Begriffe logisch wechselseitig voneinander abhängen. Der Begriff Gott kann nicht ohne den Begriff der Wahrheit erläutert und verstanden werden und umgekehrt. Der Satz hat nicht die Form des ‚endlichen‘, gegenstandsbezogenen Verstandesurteils ‚S ist P‘ (mit S als Platzhalter für einen Art- oder Substanz-, P für einen Gattungsoder Akzidenzbegriff), sondern des ‚unendlichen‘, ideenbezogenen spekulativen Urteils ‚A ist B‘ (mit A und B als Platzhaltern für Ideen bezeichnende Termini). Das bedeutet, dass hier nicht einer Substanz, Gott, eine Eigenschaft, Wahrheit, zugesprochen wird, sondern dass die Begriffe des Göttlichen und des Wahren zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Keiner der beiden in einem spekulativen Satz vorkommenden Begriffe kann ein Substanzbegriff sein. Identitätsaussagen über Substanzen wie ‚Der Morgenstern ist der Abendstern‘ sagen aus, dass zwei Namen bedeutungsgleich sind, weil sie dieselbe Substanz benennen. Spekulative Sätze verknüpfen aber nicht Namen, sondern Ideen. Das ist – unbeschadet aller sonstigen Analogien – der Unterschied zwischen gewöhnlichen Identitätsaussagen und spekulativen Sätzen. Allerdings zieht Hegel aus seiner Betrachtung der Logik theologischer Sätze nicht oder jedenfalls nicht explizit den Schluss, den er aus Feuerbachs Sicht ziehen müsste, nämlich das ‚Gott‘ weder ein Name noch ein Substanzbegriff wäre. Genau dies legt die Deutung zentraler Sätze der Theologie als spekulativ nämlich anscheinend nahe. Für Feuerbach ist klar, dass Gott so wenig ein Substanzbegriff sein kann wie Wahrheit. Beides sind vielmehr Ideen in Hegels Sinn. Akzeptiert man dies, dann erübrigt sich anscheinend die Frage nach dem ihnen korrespondierenden Gegenstand. So wie es kein Ding und keine Klasse von Gegenständen gibt, die das Wahre oder die Wahrheit sind, so gibt es dann keine Substanz, die Gott wäre. Gott ist nach Feuerbach vielmehr die Nominalisierung des Begriffs des Göttlichen, wie Wahrheit die Nominalisierung von ‚wahr‘ ist. Die Annahme, dass Gott eine Substanz ist, ginge so auf ein begreifliches sprachliches Missverständnis zurück, den voreiligen Schluss nämlich, dass dem Ausdruck ‚Gott‘ in theologischen Sätzen auch eine Substanz entsprechen muss, 15   Dabei kann er sich auf eine alte, neuplatonisch inspirierte theologische Tradition stützen. Auch Augustinus und Anselm von Canterbury bemühen sich, Gott nicht allein als Ursprung der Wahrheit, sondern auch als die ursprüngliche Wahrheit selbst auszuweisen. Vgl. De Trinitate VIII 1.2; De Veritate X.

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von der diese Sätze handeln. Das ontische Verständnis theologischer Rede wäre dem gemäß das Ergebnis einer undurchschauten Hypostasierung. Der Grund für den Irrtum der Religion wird von Feuerbach mithin zunächst in der Struktur der Sprache und in den Möglichkeiten semantischer Missverständnisse gesucht. Nun ist Feuerbach keineswegs ein Gegner der Substanzontologie als solcher, und er glaubt ebenso wenig wie Hegel, dass die philosophische, ‚spekulative‘ Logik ohne Subjektbegriffe auskommt, auch wenn spekulative Sätze subjektlos sind. Aber spekulative Sätze sind logisch hochstufige Sätze, welche die Subjekt-Prädikatstruktur verständlicher, gegenständlicher Rede als ontologische Grundlage voraussetzen.16 Anders als Hegel glaubt Feuerbach jedoch, dass das nicht genannte, aber stets mitzudenkende Subjekt theologischer Sätze, der eigentliche Gegenstand, von dem sie handeln, der Mensch ist. Für Hegel handeln spekulative Sätze von der Natur des Geistes. Aber der Geist ist keine Substanz, jedenfalls nicht im gewöhnlichen Sinn. Feuerbach schließt daraus, anders als Hegel, dass der Geist überhaupt keine Substantialität besitzen kann. „Aber geistiges Sein ist eben nur Gedachtsein, Gefühltsein, Geglaubtsein. Also ist sein [Gottes; H.T.] Sein zwischen sinnlichem Sein und Gedachtsein, ein Mittelding voll Widerspruch.“17

Man beachte hier die stillschweigende, aber alles andere als triviale Gleichsetzung des geistigen Seins mit dem Sein im Geiste. Geistige Entitäten wie Gott kommen hier von vornherein nur als gedachte oder vorgestellte in den Blick. Genau genommen handelt Feuerbach hier nicht von Gott, sondern von Gottesgedanken und -vorstellungen. Ihm scheint dieser Zug aber berechtigt, denn der Gedanke, dass Gott als rein geistiges Wesen selbständig existiere, enthält, so meint er, einen Widerspruch. Deswegen spricht er Gott eine selbständige, substantiale Existenz ab. Auch soll der Ausdruck ‚Geist‘ lediglich als substantiviertes Adjektiv aufgefasst werden. ‚Geist‘ wäre demnach ein grammatisches Derivat des Ausdrucks ‚geistig‘, mithin ein Eigenschafts- und kein Substanzbegriff.18 Das aber hat weitreichende ontologische Konsequenzen. Wenn nämlich 16   Gegen eine allzu platonistische Hegel-Interpretation muss betont werden: Hegels Invektiven gegen das ‚verständige Denken‘ etwa des Empirismus oder der Philosophie des ‚gesunden Menschenverstandes‘ sind nicht als Angriffe gegen die Substanzontologie zu verstehen, sondern als eine Kritik unpassender oder gedankenloser Anwendungen und ontischer Missverständnisse derselben in der spekulativen Philosophie. Allerdings schützt Hegel selbst seine Texte nicht immer hinreichend gegen solche allzu radikalen Lesarten. 17   WDC, S.  341. Das Argument setzt voraus, dass wirkliches Sein material verfasst und sinnlich wahrnehmbar sein muss. Zu dieser Voraussetzung bekennt sich Feuerbach (ebd., S.  340) explizit. 18   Ob das nach Feuerbach auch für den Begriff der Seele gelten, ob also ‚Seele‘ sprachphilosophisch als Substantivierung des Adjektivs ‚beseelt‘ oder – vielleicht systematisch plausibler – des Verbs ‚leben‘ gedeutet werden soll, ist exegetisch schwer zu entscheiden. Schwierig wäre dabei vor allem die Festlegung auf einen materialistischen Monismus, welcher einen

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I.  Feuerbachs These

Geist ein Qualitätsbegriff ist, dann gibt es eine Natur des Geistes nur in Abhängigkeit von der Natur derjenigen Substanzen, zu deren Qualitäten es gehört, geistig zu sein. Das aber können nur die Menschen sein. Deswegen kann nur der Mensch das Subjekt spekulativer und insbesondere theologischer Rede sein. Feuerbach kritisiert Hegel scharf dafür, dies nicht gesehen oder nicht ausgesprochen zu haben: „Wenn daher in der Hegelschen Religionsphilosophie auf dem Standpunkt der mystisch-spekulativen Vernunft der oberste Grundsatz der ist: ‚Das Wissen des Menschen von Gott ist das Wissen Gottes von sich selbst‘, so gilt dagegen hier, auf dem Standpunkt der natürlichen Vernunft, der entgegengesetzte Grundsatz: ‚Das Wissen des Menschen von Gott ist das Wissen des Menschen von sich selbst‘.“19

Theologische Rede – verstanden als Rede über Geistiges – wäre entsprechend als verborgen anthropologische Rede aufzufassen. So gedeutet, ist Feuerbachs anthropologische Interpretation religiöser Rede Transformations- und Irrtumstheorie in einem. Sie erklärt, dass spekulative Rede auf gewisse geistige Eigenschaften des Menschen fokussiert, indem sie diese zueinander ins Verhältnis setzt. Sie erklärt ferner, dass diese Redeform für ontische Fehldeutungen nach dem Muster der substantialistischen Standarddeutung der Subjekt-Prädikat-Logik offen ist. Die Selbstentfremdung des Menschen in der Religion wäre demnach das Ergebnis einer solchen Fehldeutung spekulativer Rede. Ein intentional herbeigeführter Betrug der Gläubigen durch miteinander verschworene Priester muss nicht angenommen werden, auch dann nicht, wenn das Ergebnis, der faktische Glaube, für eine jeweilige Priesterkaste faktisch vorteilhaft sein mag. Die Sprache selbst verführt nach Feuerbach den Menschen, seine eigenen wesentlichen Eigenschaften in einem gedachten Gott zu hypostasieren. Es sind nicht die Priester, welche ihn dazu verleiten. Es ist entsprechend die Aufgabe der Philosophie, ihn aufzuklären und von seiner „Selbsttäuschung“ zu befreien. Der Zweck der Philosophie ist hier „ein therapeutischer“.20 Doch auch Feuerbachs spekulative Irrtumstheorie des religiösen Glaubens muss sich einer Plausibilitätsprüfung stellen können, wie er selbst einräumt. Hier offenbaren sich gewisse Schwächen. Zunächst einmal kann Sprache als solche nicht der einzige und nicht einmal der wichtigste Grund des Missverständnisses sein. Denn die Möglichkeit von Substantivierungen ist der Struktur der Sprache nicht nur immanent, sondern im entwickelten Sprachgebrauch unvermeidlich und allgegenwärtig. Wir beziehen uns sprachlich auf Quantitäten, Begriff von ‚belebter Materie‘ zu erläutern hätte. Alternativ dazu und für Feuerbach attraktiver wäre wohl eher ein Panpsychismus, zu dem er Anregungen bei Leibniz gewinnt. Vgl. LP, §§  3 f. 19   WDC, S.  46 (in der 2. Aufl. von Das Wesen des Christentums). Feuerbach wirft Hegels Religionsphilosophie daher auch inkonsequente Spekulation und „religiösen Mystizismus“ (S.  380, Anm.) vor. 20   WDC, S.  8.

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Qualitäten, Prozesse oder Handlungen, indem wir Numerale wie ‚drei‘, Adjektive wie ‚rot‘ und Verben wie ‚schneien‘ oder ‚gehen‘ zu ‚die Drei‘, ‚die Röte‘, ‚der Schneefall‘ oder ‚der Gang‘ substantivieren. Derartige Substantivierungen dienen der sprachlichen Fokussierung auf akzidentelle Bestimmungen. Doch unbemerkte Hypostasierungen sind damit bei kompetenten Sprechern nicht verbunden. Wir sind nicht so logisch verwirrt zu glauben, dass der Gang eines Menschen eine Substanz wäre, nur weil sich das Substantiv ‚Gang‘ bilden und sinnvoll verwenden lässt. Im Gegenteil: Gerade weil kompetente Sprecher wissen, dass keineswegs jedes gehaltvolle Substantiv eine Substanz bezeichnet, ist die Theorie der unwillkürlichen Hypostasierung nicht plausibel. Was Feuerbach hier benötigt, ist daher eine spezielle Erklärung dafür, warum die Hypostasierung gerade menschlicher Wesenseigenschaften eine besonders verführerische Möglichkeit des Denkens darstellen soll. Ferner ist der Schluss, dass der Geist nicht Substanz sein kann, nicht unmittelbar aus der Logik spekulativer Sätze ableitbar. Denn auch wenn Ausdrücke wie ‚Gott‘ und ‚Geist‘ in spekulativen Sätzen nicht substantial zu deuten sind, so heißt das noch nicht, dass sie sich nicht außerhalb eines spekulativen Kontexts doch auf Substanzen beziehen können, die rein geistig sind. Selbst wenn man die Reduktion von ‚Geist‘ auf ‚geistig‘ mitvollzieht, so folgt daraus nämlich noch nicht, dass ‚geistig‘ nur eine menschliche Eigenschaft bzw. eine Eigenschaft bestimmter körperlich verfasster Wesen benennen kann. Sagt man, dass dies deshalb der Fall sein müsse, weil Substanzen notwendig materiell verfasst, also Körper sind, dann setzt man voraus, was erst zu beweisen ist, nämlich einen ontologischen Materialismus. Auch ignoriert Feuerbach, dass es im theologischen Diskurs eine eigene theoretische Rechtfertigung für spekulative Sätze wie ‚Gott ist die Wahrheit‘ oder ‚Gott ist die Liebe‘ gibt. Denn schon bei Augustinus21 und dann bei Anselm von Canterbury22 wird die Wahrheit spekulativer Sätze über Gott mit der These begründet, dass Gott actus purus, reine Wirklichkeit ist, d. h. ein Wesen, welches alle seine Vermögen (potentiae) jederzeit vollkommen aktualisiert. In Gott ist nichts bloß möglich und nichts unentwickelt; er ist schlechthin vollkommene Aktualität. Und er ist dies essentialiter, seinem Wesen gemäß. Sein Wesen ist es, seine Möglichkeiten in reiner Wirklichkeit zu sein – und nicht lediglich Möglichkeiten zu haben. Gott ist wirkliches, immer schon aktualisiertes Vermögen. Und dies ist nach Anselm der Grund dafür, dass man Gott seine Vermögen substantialiter zuschreiben kann, indem man sagt, dass Gott die Wahrheit, die Liebe, das Leben, die Macht etc. ist. Damit wird nämlich das Missverständnis ausgeschlossen, dass Gott seine Eigenschaften etwa nur hat, dass sie ihm ac  De Trinitate XV 4.   De Veritate I. Zum Verhältnis der anselmischen und thomanischen Wahrheitsauffassung vgl. auch Anscombe 1984. 21

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cidentaliter zukämen, wie es Sätze wie ‚Gott lebt‘, ‚Gott liebt‘, ‚Gott weiß‘ etc. nicht ausschließen.23 Spekulative Rede über Gott erscheint in dieser Betrachtung daher nicht als uneigentlich, als Abkürzung, Verdichtung oder Dramatisierung des theologischen Diskurses, sondern im Gegenteil als besonders adäquate Form der Rede über das Sein Gottes.24 Dass diese Rede im Kern schon atheistisch wäre, wie Feuerbach folgert, dafür gibt es bei näherer Betrachtung keinen Anhaltspunkt. Möglicherweise ist also Hegel keineswegs so inkonsequent, wie Feuerbach meint, wenn er aus seiner Betrachtung spekulativer theologischer Sätze nicht den Schluss zieht, dass Gott nur eine Hypostasierung wäre.25 Auffällig bleibt in jedem Fall, dass Feuerbach es an keiner Stelle für nötig hält, ein Argument für die Nichtexistenz Gottes als einer selbständigen Substanz anzuführen. Er bezeichnet dies im Vorwort zur ersten Auflage des Wesens des Christentums als „eine Aufgabe ohne alles philosophische Interesse“, da Gott dem modernen Bewusstsein ohnehin nicht mehr sein könne als ein „Schatten der Vergangenheit“.26

3.  Spekulative Selbsterkenntnis Doch mit den eher technischen Fragen nach der logischen Struktur von Feuerbachs Theorie ist deren spekulativer Kern noch gar nicht berührt. Dazu ist eine inhaltliche Erörterung erforderlich. Wie denkt sich Feuerbach den inneren Zusammenhang der Idee von Gott mit den realen Eigenschaften des Menschen? Wie denkt er sich das Verhältnis des Göttlichen und des Menschlichen? Feuerbach bezeichnet die Religion als „Traum des menschlichen Geistes“.27 Darin träumt der Mensch von sich selbst, von seinem eigenen (Gattungs-)Wesen. Dieses Wesen wird durch seine wesentlichen Eigenschaften begriffen, durch dasjenige also, was man vom Wesen des Menschen aussagen oder prädizieren kann. 23   Mit dem Satz ‚Gott ist die Wahrheit‘ muss Anselms Rekonstruktion deswegen zusätzliche Schwierigkeiten haben, weil Wahrheit kein Vermögen ist. Gemeint ist hier aber offenkundig der interne, begriffliche Zusammenhang von Wahrheit und Wissen. Darauf wird im dritten Kapitel ausführlich zurückzukommen sein. Der Satz ‚Gott ist das Leben‘ erscheint im Unterschied dazu nur dann problematisch, wenn man Leben als eine körpergebundene Seinsweise auffasst. Daran wird hier offensichtlich nicht gedacht, sondern ‚Leben‘ wird von Gott analogisch ausgesagt. 24   Vgl. zur Einheit von Gottes Wesen und Wirklichkeit auch WDC, S.  86 und 269. 25   Der philosophische Hauptgegner Feuerbachs ist aber, wie aus zahlreichen über das Wesen des Christentums verstreuten Invektiven hervorgeht, nicht Hegel, sondern Schelling, den er als Vertreter einer „puerile[n], bodenlose[n] Phantastik“ im Kreis „unserer modernen religiösen Spekulanten“ (ebd., S.  321) kennzeichnet. 26   Ebd., S.  7 f. 27   Ebd., S.  20.

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„Was das Subjekt ist, das liegt nur im Prädikat; das Prädikat ist die Wahrheit des Subjekts.“28

Das Wesen des Menschen sei nun durch drei Vermögen oder Vollkommenheiten bestimmt, nämlich Vernunft, Wille und Herz. Denn sie sind die spezifischen Vermögen, welche am meisten den Menschen als Menschen charakterisieren. Mehr noch: „Vernunft, Liebe, Willenskraft sind Vollkommenheiten, die Vollkommenheiten des menschlichen Wesens, ja absolute Wesensvollkommenheiten. […] Der Mensch ist, um zu denken, um zu lieben, um zu wollen. Was aber der Endzweck, ist auch der wahre Grund und Ursprung eines Wesens.“29

Feuerbach verfolgt diesen Gedanken weiter, indem er Vernunft, Liebe und Wollen als letzte Ziele des Menschen bestimmt, also solche, welchen der Mensch um ihrer selbst willen folgt. In diesem Zusammenhang behauptet er den notwendig selbstzweckhaften Charakter des Denkens, Wollens und Liebens.30 Das ist aber ungenau gedacht. Denn das Denken übt der Mensch nicht um seiner selbst willen aus, sondern um eines intrinsischen Ziels willen. Man denkt nicht, um zu denken, sondern um zu wissen bzw. zu verstehen. Wissen bzw. Verstehen ist das Ziel des theoretischen Denkens, nicht Denken als solches. Ebenso will der Mensch nicht das Wollen, sondern etwas davon Verschiedenes. Das Wollen richtet sich auf ein praktisches Ziel.31 Auch die Liebe ist notwendig intentional, auf jemand oder etwas gerichtet. Zwar sind Denken, Wollen und Lieben zugleich relationale Vermögen, also Vermögen, in spezifische Relationen zum gedachten, gewollten oder geliebten Objekt einzutreten. Insofern hat das Denken, Wollen und Lieben neben der objektiven notwendig auch eine subjektive Seite.32 Aber die erstrebte Relation ist eine andere als das Denken, Wollen und Lieben selbst. Denken, Wollen und Lieben haben spezifische, vom Denk- oder Wollensakt bzw. von der aktualen Liebe verschiedene Ziele. Obendrein sind Wille und Liebe nicht zwei distinkte Vermögen, sondern gehen aus einem hervor. Etwas zu lieben heißt, es als Gutes wertzuschätzen, kognitiv und affektiv. Etwas zu wollen heißt, es als ein Gutes handelnd zu erstreben.33 Liebe ist die affektive Seite des Wollens, Wollen die tätige Seite der Liebe. Deswegen sind in der Tra  Ebd., S.  55 f., Hervorhebung i. Orig.   Ebd., S.  31, Hervorhebung i. Orig. 30   Ebd., S.  31 f. 31   Dies gilt selbst für entelechetische Handlungen, also solche Handlungen, die auf kein externes, vom Handeln selbst verschiedenes Ziel gehen. Hier ist das Handeln selbst dasjenige, worauf sich das Wollen richtet, nicht aber das Wollen als solches, wie Feuerbach meint. 32   Mehr zu theoretischer und praktischer Intentionalität unten in IV. 33   Dagegen spricht nicht, dass man etwas vernünftigerweise wollen kann, ohne es als gut zu beurteilen, z. B. als ein kleinstes von mehreren Übeln. Auch in solchen Fällen wird aus Liebe zum Guten gewollt, auch wenn der Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Gewollten indirekt und vermittelt ist. Ein geringeres Gut wird um eines höheren Guten willen, nämlich zur Abwendung eines noch größeren Übels preisgegeben. 28 29

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dition die Ausdrücke caritas und voluntas häufig nahezu synonym verwendet worden.34 Als Wohlwollen ist Liebe aber zugleich selbst Güte und damit gut. Wissen und Güte sind die eigentlichen Vollkommenheiten des Menschen, Denken und Wollen bzw. Liebesvermögen nur, sofern sie die subjektive Anlage dazu sind. Gleiches gilt auch für das menschliche Streben nach Macht, d. h. nach der Sicherung und Erweiterung seiner Fähigkeiten. Macht ist als solche kein letzter Zweck, sondern Mittel zur Erreichung des je Gewollten, d. h. um das Wollen ans Ziel zu bringen. Ein Wille zur Macht als solcher, wie ihn etwa Friedrich Nietzsche in der Nachfolge von Thomas Hobbes als naturgegeben unterstellt, ist demnach eine Verkehrung der Güterordnung des Wollens. Feuerbach unterscheidet nicht zwischen der Anlage, ihrer Ausbildung und ihrer Vollendung. Das ist kein einfacher Lapsus. Denn er möchte ja argumentieren, dass die Gott zugeschriebenen Vollkommenheiten in Wahrheit menschliche Vollkommenheiten seien. Nun sind Denken, Wollen und Lieben dadurch, dass sie Strebevermögen sind, ipso facto keine Vollkommenheiten, sondern subjektive Bedingungen des Erwerbs menschlicher Vollkommenheit. Indem der Mensch strebt, wird er sich aber auch der eigenen Endlichkeit und Unvollkommenheit bewusst. Doch Feuerbach abstrahiert davon und antizipiert im Streben dessen Vollendung. Daher meint er das Streben selbst schon als eine Vollkommenheit ansehen zu dürfen. Der – bloß gedachte – Abschluss dieses Strebens wird dann nach Feuerbachs Hypostasierungsthese Gott als göttliche Eigenschaft zugeschrieben. Diese Zuschreibung ist für ihn vereinbar mit der Möglichkeit, dass das menschliche Vollkommenheitsstreben selbst keinen Abschluss findet, sondern ins Unendliche fortschreitet. Gott werden Allwissenheit, Allmacht und Güte zugeschrieben, da der Mensch nach immer mehr Wissen, nach der Erweiterung seiner Macht und Kompetenz und nach der Ausweitung und Reinigung seines Liebesvermögens strebe. Allmacht, Allwissenheit und vollendete Güte sind nach Feuerbach deswegen die gedachten Eigenschaften Gottes, weil sie die zugleich wesensimmanenten und unendlichen, realiter nicht zu erreichenden Strebensziele des Menschen sind. Damit greift Feuerbach, wie er selbst wiederholt herausstellt, den augustinischen Gedanken auf, dass die wesentlichen Eigenschaften Gottes zugleich die wesentlichen Eigenschaften des Menschen sind. Nach Augustinus sei der Mensch insofern Ebenbild Gottes, als er die Trinität der göttlichen Personen als Trinität der Seelenvermögen Denken (Vater), Wollen (Sohn) und Lieben (Heiliger Geist) in sich trage und vorfinde.35 Diese drei Vermögen charakterisieren 34   So schreibt Augustinus dem menschlichen Geist in De Trinitate (VIII, XI, XIV) als drittes Grundvermögen neben intellectus und memoria zunächst dilectio oder caritas, später eher voluntas zu, anscheinend als das grundlegende Vermögen, aus dem dilectio und caritas hervorgehen. 35   Die Zuordnung ist exegetisch ungenau. Tatsächlich ordnet Augustinus dem Vater das Gedächtnis (memoria) zu, dem Sohn das Denken und Erkennen (intellectus) und dem Heili-

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zusammen das Geistige und damit auch die menschliche Vernunft. Diese ist Spur und Siegel des Göttlichen. Darauf wird zurückzukommen sein. An dieser Stelle ist Feuerbachs Grundgedanke, dass theologische Reflexion eigentlich menschliche Selbstreflexion ist, theologische Erkenntnis daher wesentlich menschliche Selbsterkenntnis sein muss, bereits ausgesprochen, wenn auch nur in gewisser Hinsicht bzw., aus Feuerbachs Sicht, inkonsequent. Augustinus betont den besonderen Rang des Menschen, der deshalb Krone der Schöpfung ist, weil er als einziges sterbliches Geschöpf Gottes dessen Fähigkeiten besitzt: als denkendes Wesen ist der Mensch der Wahrheit fähig, als wollendes Wesen frei, als liebendes Wesen gut und gerecht, zumindest dem Vermögen und dem wesenseigenen Streben nach. Für Feuerbach beruht die angenommene Göttlichkeit dieser Vermögen auf der Zuschreibung an ein hypostasiertes Ideal. Der Mensch schreibt Gott diejenigen Eigenschaften zu, welche er an sich selbst besonders schätzt. Allerdings besitzt der Mensch neben geistigen Vermögen noch viele andere schätzenswerte Eigenschaften. So ist körperliche Schönheit ein Vorzug, dessen Menschen fähig sind, ebenso Gesundheit und Kraft. Diese Vollkommenheiten werden Gott allerdings nicht oder nicht buchstäblich zugeschrieben, auch wenn Feuerbach geradezu behauptet, dass solche Zuschreibungen möglich, aus historisch kontingenten Gründen im Christentum aber unterblieben seien. Doch das ist nicht überzeugend. Denn geistige Vermögen und geistiges Streben scheinen für das Wesen des Menschen so spezifisch zu sein, wie es körperliche Vermögen und Vollkommenheiten niemals sein können. Der Mensch ist in seiner Lebensform und seinen Lebensvollzügen wesentlich und nicht bloß akzidentell dadurch bestimmt, dass er ein denkendes Wesen ist. Vernunft ist das formende und organisierende Vermögen menschlichen Lebens und menschlicher Tätigkeit. Deswegen, so Feuerbach, stattet der Mensch auch Gott mit Denkvermögen aus. Ja, mehr noch, Gott als vollkommene Intelligenz ist „ein notwendiger Gedanke“: „[F]ür die Vernunft […] ist Gott die Offenbarung der Vernunft […].“36

Feuerbach drückt diesen Gedanken auch in den Worten Anselms aus, wenn er schreibt, dass Gott hier als das Wesen gedacht werde, „quo nihil maius cogitari potest“.37 Im Gottesgedanken reflektiert menschliche Vernunft sich selbst, und sie tut es notwendig in dieser gedanklichen Form: „Nur wo du Gott denkst, denkst du, rigoros ausgesprochen; denn erst Gott ist die realisierte, die erfüllte, die erschöpfte Denkkraft.“38 gen Geist den Willen bzw. die Liebe (voluntas). Vgl. De Trinitate XV. Allerdings ist die Zuordnung menschlicher Geistesvermögen zu den göttlichen Personen auch bei Augustinus selbst nicht immer ganz einheitlich. 36   Ebd., S.  80. 37  Ebd. 38  Ebd.

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I.  Feuerbachs These

Bringt dieser Gedanke aber nicht Feuerbachs Projektionstheorie in Bedrängnis? Denn wenn der Gottesgedanke nach Voraussetzung irrtümlich und falsch ist, wie kann er dann gleichzeitig notwendig sein? Die hier gemeinte Notwendigkeit kann nämlich nur die harte Denk- oder logische Notwendigkeit begrifflicher Wahrheiten sein. Diese schließen aber Falschheit und Irrtum aus. Eine schwächere Notwendigkeit, etwa irgendeine psychologische, anthropologische oder historische Notwendigkeit kann nicht gemeint sein, weil hier von der inneren Struktur des Denkens die Rede ist, nicht von äußeren Zwängen oder Schranken, denen das Denken womöglich unterliegt bzw. von denen es vielleicht gehemmt wird. Die Notwendigkeit Gottes kann nicht die subjektive Notwendigkeit einer Zwangsvorstellung sein. Das Denken bringt vielmehr den Gottesgedanken als Frucht seiner Selbstreflexion hervor und vollendet sich darin. Das ist Feuerbachs These. Das hieße aber, dass Gott notwendiger Gegenstand des Denkens ist. Aber ein denknotwendiger Gegenstand kann kein bloß fingierter oder hypostasierter Gegenstand sein. Er existiert als intelligibler Gegenstand. Aus der Denknotwendigkeit folgt die intelligible Existenz. Das ist der Kern des von Kant so genannten ontologischen Gottesbeweises. Wenn Feuerbachs Überlegung nun genau die Struktur dieses Beweises oder Arguments wiederholt, wie kann er dann dessen Konklusion vermeiden, den Schluss nämlich, dass Gott existiert? Feuerbach muss anerkennen, dass Gott als intelligibler Gegenstand menschlichen Denkens existiert, aber er kann nicht seine denkunabhängige, wirkliche Existenz einräumen. Sein Ausweg aus diesem Dilemma besteht darin, Gott stattdessen die Seinsweise eines Wunsch- und Zielbildes menschlichen Strebens zuzuschreiben. Das ist der eigentliche Sinn der Rede davon, dass Gott ein Traum des menschlichen Geistes sei. In der Beschreibung des unterstellten Seins Gottes denkt der Mensch eigentlich, wie er selbst gern wäre bzw. was er sich als künftige Vollendung seines eigenen Wesens erhofft. In Gott denkt der Mensch nach Feuerbach seine wesentlichen Möglichkeiten.39 Nun ist dies offenkundig nicht der Gehalt desjenigen religiösen und theologischen Denkens, mit dem Feuerbach sich auseinandersetzt. Denn dieses geht von der klaren Wesensverschiedenheit von Gott und Mensch aus. Das ist zwar noch kein Einwand gegen ein theologiekritisches Denken, das sich selbst als therapeutisch versteht. Denn dieses muss die Denkgehalte, welche es kritisch rekonstruiert, nicht so lassen, wie es sie vorfindet. Es kann sie zu therapeutischen Zwecken reformulieren und dabei abändern. Eine notwendige Gelingensbedingung therapeutischen Denkens ist allerdings, dass sich am Ende der 39   Dieser Aspekt von Feuerbachs anthropologischer Reduktion der Religion wird auch in dem Gedanken ausgesprochen, dass der Vogel, wenn er sich einen Gott dächte, diesen nur als geflügelt denken könnte. Dass es dazu im theologischen Denken gerade keine Analogie gibt, verweist auf ein grundlegendes Problem derartiger Überlegungen, wie man sie schon bei Leibniz und Fichte findet; vgl. z. B. Fichte 1800, S.  20.

3.  Spekulative Selbsterkenntnis

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kritisch-rekonstruktiven Bemühung ein kohärentes Bild ergibt. Genau hier erheben sich aber systematische Bedenken. Diese hängen damit zusammen, dass die Eigenschaften Gottes und die eines als vollkommen gedachten Menschen logisch nicht zusammenpassen. Denn Gott werden Eigenschaften zugeschrieben, welche ein Mensch nicht haben kann, und umgekehrt. Gott ist unendlich, d. h. vollkommen ohne jede Einschränkung, er ist – in der ansatzweise schon erläuterten Redeweise – Wissen, Güte, Macht und Leben. Diese Eigenschaften kommen dem Menschen – selbst dem als unsterblich gedachten – nicht zu. Der Mensch bleibt in einem unhintergehbaren Sinn endlich, der sich nicht auf physische Sterblichkeit reduzieren lässt. Auch vollkommene menschliche Macht oder Güte, vollkommenes menschliches Wissen können nicht die Dimension göttlicher Vollkommenheit erreichen, welche als zum Wesen Gottes gehörig gedacht werden. Der Mensch vermag es, weise, gütig oder mächtig zu sein, aber Weisheit ist nicht Allwissenheit, menschliche Güte ist nicht unendlich, und menschliche Macht ist keine Allmacht. Noch deutlicher wird die Differenz, wenn man diejenigen Vollkommenheiten in den Blick nimmt, welche nur ein endliches Vernunftwesen besitzen kann. Nur der Mensch und nicht Gott kann gelassen sein, denn Gelassenheit ist als souveräne Haltung zu den eigenen Affekten bestimmt, setzt also Affizierbarkeit schon voraus. Affekte sind ein Kennzeichen des Endlichen. Gott ist nicht affizierbar. Deswegen kann Gelassenheit nicht zu den göttlichen Vollkommenheiten gehören, sondern es handelt sich um eine Vollendung des spezifisch Menschlichen.40 Auch tapfer, besonnen oder großzügig vermag nur der Mensch zu sein, nicht aber Gott. Denn tapfer ist, wer seine Furcht vor Gefahr zu beherrschen versteht, besonnen, wer seine Begierden zu kontrollieren vermag, großzügig, wer sein Besitzstreben regulieren und, falls erforderlich, hintanstellen kann. Da Gott keinen Gefahren ausgesetzt ist, keine Begierden hat und nicht nach Besitz strebt, ist er auch der hier einschlägigen Tugenden nicht fähig. Das Gleiche gilt für sämtliche von Aristoteles so genannten ethischen Tugenden. Diese betreffen allesamt den richtigen Umgang mit Affekten. Deshalb handelt es sich um spezifisch menschliche Vollkommenheiten, die Gott nicht zukommen können.41 Wenn dies aber zur Logik des Diskurses über Gott und den Menschen gehört, dann kann Gott nicht als Wunsch- und Zielbild menschlichen Strebens gedeutet werden. Denn der Besitz von Eigenschaften, die einer Gattung verwehrt sind, weil sie der Gattungsnatur widerstreiten, kann von gattungszuge40  Solches gilt selbst dann, wenn man wie im christlich-neuplatonischen Denken die menschliche Gelassenheit als endliche Annäherung an die Ruhe und Affektlosigkeit oder Impassibilität Gottes deutet. 41   Deswegen betont Aristoteles auch, dass es in der Ethik darum gehen müsse, das für uns Gute zu bestimmen. Vgl. NE A 4, 1096  b. Die Auszeichnung der ethischen Tugenden insgesamt als spezifisch menschlicher, derer ein Gott nicht fähig ist, findet sich in NE K 8, 1178  b.

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I.  Feuerbachs These

hörigen Wesen nicht sinnvoll erstrebt werden. Das gilt a fortiori dann, wenn dazu eine Transformation erforderlich wäre, welche die Preisgabe von Vermögen und Eigenschaften mit sich brächte, welche gerade spezifische Vollkommenheiten von Angehörigen der fraglichen Gattung ausmachen. Das ist bei ethischen Tugenden der Fall. Der vollkommene Mensch bedarf ihrer gerade auf Grund seiner Endlichkeit. Die Überwindung seiner Endlichkeit ginge notwendig mit der Aufgabe dieser Tugenden einher. Es ist daher – bei aller sonstigen Inkohärenz – nur folgerichtig, wenn wie in Nietzsches Phantasma des Übermenschen das Abwerfen solcher bloß menschlicher Tugenden mitgedacht wird. Das alles bedeutet, dass das menschliche Streben nach Vollkommenheit nicht als ein Streben, zu werden wie Gott, gedeutet werden kann. Denn die Erfüllung eines solchen Strebens ginge notwendig mit der Selbstaufgabe des eigenen Wesens einher. Menschliches Vollkommenheitsstreben kann folglich nicht oder allenfalls hyperbolisch als Streben nach Göttlichkeit verstanden werden. Daher kann die orientierende Kraft des Gottesgedankens sich auch nicht als die eines Leitgedankens der Nachahmung Gottes äußern.42 Das heißt aber zugleich, dass der Gottesgedanke nicht oder nicht vollständig auf menschliches Vervollkommnungsstreben zurückgeführt werden kann. Denn wenn man dieses Streben als den Versuch einer Annäherung an Gott oder einer möglichst weit gehenden Teilhabe am Göttlichen auffasst, dann benötigt man für diese Auffassung schon eine Idee Gottes oder des Göttlichen, die sich unabhängig von diesem Streben erläutern lässt. Daher kann der Gottesgedanke auch nicht seinen Ursprung im Streben nach Vollkommenheit haben, wohl aber umgekehrt das Streben seinen Ursprung in diesem Gedanken. Diese Schwierigkeit entstünde nicht, wenn sich die Notwendigkeit des Gottesgedankens als eine bloß psychologische, historische oder anthropologische erläutern ließe. Doch dieser Ausweg ist Feuerbach eigentlich versperrt, weil die Notwendigkeit einer Zwangvorstellung, einer fixen Idee oder eines sich manchen Menschen unter manchen Umständen aufdrängenden Gedankens von sich aus keinerlei normative Kraft besitzt. Die normative, orientierende Kraft des Gottesgedankens möchte Feuerbach aber gerade bei aller Kritik an Religion und Theologie bewahren. Sie ist für ihn der vernünftige und wertvolle Kern der Religion. Umgekehrt kann er diesen vernünftigen Kern von Religion nicht vollständig im Rahmen seines anthropologischen Ansatzes rekonstruieren. Denn die psychologisch-anthropologische Deutung der Notwendigkeit des Gottesgedankens hat zwangsläufig relativistische Konsequenzen. Ihr zu Folge hängt nämlich der Gehalt des Gottesgedankens vom menschlichen Selbstverständnis 42   Anders verhält es sich mit der imitatio Christi, der Nachfolge Christi in der theologischen Ethik. Denn hier wird Jesus Christus als endlicher Mensch zum – immer noch kaum erreichbaren – Vorbild menschlichen Denkens, Sprechens und Handelns, nicht aber als göttliche Sohnes-Person.

3.  Spekulative Selbsterkenntnis

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ab, so dass verschiedenartige menschliche Selbstverständnisse verschiedenartige Gottesvorstellungen erzeugen müssen. „Was der Mensch lobt und preist, das ist ihm Gott.“43

Nun haben unterschiedliche (Gruppen von) Menschen unterschiedliche Selbstverständnisse, und es ist daher nach Feuerbach nicht erstaunlich, dass es unterschiedliche, ja untereinander unvereinbare Gottesvorstellungen gibt. Da nun unterschiedliche menschliche Selbstverständnisse gleichermaßen richtig sein können – die Wahr-falsch-Unterscheidung ist aus Feuerbachs Sicht nicht einschlägig –, können auch unterschiedliche Gottesvorstellungen gleichermaßen richtig sein.44 Das heißt aber, dass sich die Normativität des Gottesgedankens in dieser Deutung in Relativismus auflöst. Diese Konsequenz kann Feuerbach allerdings nicht willkommen sein. Das ist wohl der Grund dafür, dass er de facto beständig zwischen den beiden Arten von Notwendigkeit schwankt, wenn er zu erläutern versucht, auf welche Weise Gott zu einem Gegenstand unseres Denkens wird. Er erläutert sie historisch, psychologisch oder anthropologisch, wenn er betonen will, dass Gott ein bloß gedachter und kein wirklicher Gegenstand ist: „ [U]nsere Aufgabe ist es ja eben, zu zeigen, dass die Theologie nichts ist als eine sich selbst verborgene, als die esoterische Patho-, Anthropo- und Psychologie und dass daher die wirkliche Anthropologie, die wirkliche Pathologie, die wirkliche Psychologie weit mehr Anspruch auf den Namen ‚Theologie‘ haben als die Theologie selbst, weil diese doch nichts weiter ist als eine imaginäre Psychologie und Anthropologie.“45

Dagegen erläutert er die Notwendigkeit immer dann begrifflich und a priori, wenn er hervorheben möchte, dass der Gottesgedanke aus der Natur des Denkens heraus zu dessen Gegenstand wird. Das Schwanken zwischen beiden Arten von Erläuterung zeigt sich überdeutlich, wenn er schreibt: „Alle auch noch so positiven Religionen beruhen auf Abstraktion […]. Die erste Bestimmung des göttlichen Wesens ist: Es ein abgesondertes, destilliertes Wesen. Es versteht sich von selbst, dass diese Abstraktion keine willkürliche, sondern durch den wesent  WDC, S.  185.   Mit Ausnahme von naturreligiösen Vorstellungen, die das Göttliche als ungeistige Naturkraft verstehen. Diese lassen sich auf Grund von Feuerbachs anthropologischer Theologie aus dem Bereich der echten Religion ausschließen. Vgl. ebd., S.  187. Allerdings sieht er in den Naturreligionen und dem Polytheismus die Anfänge eines theoretischen, vorwissenschaftlichen Interesses an einer Betrachtung der Natur um ihrer selbst willen. Vgl. ebd., S.  213. Eine genauere Untersuchung der antijüdischen Ausführungen Feuerbachs zum „egoistischen“, „utilistischen“, naturverächtlichen und daher wissenschaftsfeindlichen religiösen Glauben der Juden (S.  211 ff.) kann hier übrigens nicht erfolgen. 45   Ebd., S.  173. Ebenso zeigt sich diese Tendenz dort, wo die Menschwerdung Gottes, und zwar als Mann, als notwendiger Gedanke präsentiert wird, und zwar weil eine Person nur über den Leib individuiert sei. Vgl. S.  177 ff. Es muss wohl nicht betont werden, dass diese Überlegung dem gesamten Gedanken der Menschwerdung des Gottessohnes völlig zuwiderläuft. 43

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I.  Feuerbachs These

lichen Standpunkt des Menschen bestimmt ist. So wie er ist, so wie er überhaupt denkt, so abstrahiert er.“46

Denn hier wie durchgehend schwankt Feuerbach zwischen der These, dass der Gottesgedanke im Wesen des Denkens selbst wurzelt, und der These, dass der Gottesgedanke aus den natürlichen, aber durchaus kontingenten Eigenschaften des Menschen ‚abstrahiert‘ oder ‚destilliert‘ werde. In diesem Schwanken offenbart sich die Instabilität von Feuerbachs theologischer Position.47

4.  Gottes- und Menschenbild als philosophisches Problem Trotz dieser nicht leicht zu übersehenden Schwächen ist Feuerbachs Philosophie der Religion wirkmächtig geworden und geblieben. Das hat nicht nur kontingente historische Gründe. Feuerbachs Grundgedanke weist spekulative Züge aus, die es – bei aller Kritik – zu würdigen gilt. Die These, welche er formuliert, aber letztlich weder zureichend zu erläutern noch zu begründen vermag, lautet, dass die Erkenntnis des Wesens Gottes immer zugleich und notwendig menschliche Selbsterkenntnis, die Selbsterkenntnis des Menschen erst im Gottesgedanken vollendet ist, dass also Gottes- und Menschenbild ‚identisch sind‘ bzw. unauflöslich zusammengehören. Diesen Gedanken vermag Feuerbach selbst nicht festzuhalten und stringent auszulegen.48 Was hieße es, das zu tun? Zunächst einmal hieße es, einen Grundgedanken des ‚abrahamitischen‘ Monotheismus, also des Judentums, des Christentums und des Islam aufzuheben, den Gedanken nämlich, dass Gott den Menschen als sein Ebenbild schuf, dass der Mensch also imago Dei ist.49 Innerhalb des christlichen Denkens ist dies Bedingung dafür, dass der Gottessohn überhaupt Mensch zu werden vermag. Das impliziert, dass der Mensch in einer wesentlichen und nicht bloß oberflächlichen oder kontingenten Hinsicht so ist wie Gott, wenn auch keineswegs in   Ebd., S.  185; Hervorhebung i. Orig.   Andere interessante Aspekte der Religionskritik Feuerbachs, z. B. seine Deutung des Ursprungs christlicher sexueller Askese im eschatologischen Denken des Urchristentums (ebd., S.  280–292), können hier nicht erörtert werden. Die Entwicklung des Eschatologiegedankens zu einem herrschenden Paradigma vor allem der protestantischen Exegese des Neuen Testaments im 19. und 20. Jahrhundert, aber auch der katholischen Befreiungstheologie ist immerhin ein durchaus beachtliches Phänomen. Vgl. dazu aus theologischer Sicht allgemein Koziel 2007. 48  Feuerbach selbst kennt das Grundproblem, das Verhältnis von Gott und Mensch zu bestimmen, sehr wohl, (vgl. WDC, S.  373) versucht aber, die Inkohärenzen seiner Darstellung als Widersprüche im Gottesgedanken selbst darzustellen. Vgl. ebd., S.  359 f. 49  „Die von Feuerbach vermeintlich erst freigelegte anthropologische Dimension der christlichen Theologie eignete dieser von Beginn an. Nur lässt sie sich nicht auf diese reduzieren und so eliminieren.“ (Rentsch 2005, S.  34) Dass diese Dimension – wenn auch in unterschiedlicher, je spezifischer Weise – auch Judentum und Islam kennzeichnet, muss wohl nicht eigens hinzugefügt werden. 46 47

4.  Gottes- und Menschenbild als philosophisches Problem

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jeder Hinsicht. Wenn man sagt, dass der Mensch in unvollkommener Weise das ist, was Gott in vollkommener Weise ist, dann bedeutet das, dass das Wesen Gottes und das Wesen des Menschen zugleich durch eine tiefe Verwandtschaft verbunden und durch eine wesentliche Verschiedenheit getrennt werden. Diese Spannung zwischen Wesensähnlichkeit und Wesensunähnlichkeit zu bewahren gelingt Feuerbach nicht. Deswegen scheitert er an seinem eigenen Anspruch, den authentischen Kern des religiösen Denkens, die wahre Religion zu explizieren und von allem bloß theologischen und bloß tradierten Beiwerk zu reinigen. Feuerbach löst die Spannung in eine spannungslose Identität auf, indem er das Wesen Gottes mit dem des Menschen gleichsetzt. Es ist daher auch nicht erstaunlich, dass er den christlichen Gott mit dem Menschen Jesus Christus identifiziert.50 Die Spannung gehört aber zum Kern des religiösen Denkens. Durch sie erst wird es Denken und tritt aus dem Feld bloßen Vorstellens und bildlicher Imagination hinaus. Genauer ist dann weiterzuverfolgen, was Feuerbach mit Blick auf das Menschenbild im Licht des Gottesgedankens sagt: „Das Leben ist überhaupt in seinen wesentlichen, substantiellen Verhältnissen durchaus göttlicher Natur.“51

Diesen Gedanken muss man gegen seine Auslegung durch Feuerbach selbst festhalten und verteidigen. Denn Feuerbach reduziert die so behauptete Göttlichkeit des Lebens auf die bloße Wichtigkeit der Grundbedingungen und Grundvermögen des Lebens, z. B. Ernährung und Flüssigkeitsaufnahme, selbständige Bewegung, Körperreinigung, Fortpflanzung etc.52 Die Gleichsetzung des Göttlichen mit dem für das menschliche Leben Wichtigen kann aber nicht richtig sein, denn sie würde alle Religion auf Naturreligion reduzieren. Für eine Deutung des Monotheismus und der Sakramente reicht dieser Ansatz nicht aus. Feuerbach selbst erklärt den Unterschied zwischen Naturreligionen und eigent-

50   Ebd., S.  260 f. Auch hier entfernt sich Feuerbach weit von Hegel, für den Gott als Mensch nur ein Moment, nicht die ganze Wahrheit der absoluten Idee ist. Vgl. PhG, S.  414 f. 51   WDC, S.  445. 52   Für Feuerbach verweist das Sakrament der Taufe auf die Bedeutung des Wassers für die Reinlichkeit des Körpers, das Sakrament des Abendmahls auf die Bedeutsamkeit von Speise und Trank, das Sakrament der Ehe schließlich auf die Bedeutung der Liebe für Fortpflanzung und Gattungserhalt. In Erwartung der dann tatsächlich gegen ihn vorgebrachten Kritiken bezeichnet er seine Lehre – nur scheinbar selbstironisch – als „pneumatische Wasserheilkunde“ (ebd., S.  8). Im Vorwort zur zweiten Auflage verteidigt er seine Interpretation der Sakramente trotzig gegen den Vorwurf des anthropologischen Reduktionismus von Seiten seiner theologischen Kritiker: „Die Bosheit hat hieraus den lächerlichen Schluss gezogen: Baden, Essen und Trinken sei die summa summarum, das positive Resultat meiner Schrift. Ich erwidere hierauf nur dieses: Wenn der ganze Inhalt der Religion in den Sakramenten enthalten ist, […] so ist allerdings der ganze Inhalt und das positive Resultat meiner Schrift: Baden, Essen und Trinken […]“. (Ebd., S.  22, Kursivierung H.T.)

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I.  Feuerbachs These

lich theistischen, also zunächst polytheistischen und dann monotheistischen Religionen über die kulturelle Evolution des Menschen: „Die Religion hat – wenigstens ursprünglich und in Beziehung auf die Natur – keine andere Aufgabe und Tendenz, als das unpopuläre und unheimliche Wesen der Natur in ein bekanntes, heimliches Wesen zu verwandeln […].“ „So wie der Mensch aus einem nur physischen Wesen ein politisches, überhaupt ein sich von der Natur unterscheidendes und auf sich selbst sich konzentrierendes Wesen wird, so wird auch sein Gott aus einem nur physischen Wesen ein politisches, von der Natur unterschiedenes Wesen.“53

Dass der zu explizierende Unterschied so eigentlich nicht expliziert, sondern als Bestimmung schon vorausgesetzt ist, ist offenkundig. Zudem unterschlägt die Formulierung, dass Naturreligionen nicht zu denjenigen Phänomenen des Religiösen gehören, für die Feuerbachs Theorie Geltung beanspruchen kann. Denn hier verehrt und fürchtet der Mensch gerade nicht sein eigenes Wesen, sondern die nichtmenschliche Natur oder zumindest Teile davon. Der Übergang von einer Naturreligion zu einer theistischen müsste also gerade von Feuerbach als ein radikaler, mit einer Ersetzung des zu Grunde liegenden Prinzips verbundener Wechsel aufgefasst werden, nämlich des Prinzips der Verehrung der gefürchteten Umwelt durch das Prinzip des Menschen selbst. Doch die zitierte Passage deutet eher darauf hin, dass dieser Übergang kleingeredet werden soll. Zeigt er doch an, dass die anthropologische Reduktion der Religion nicht so einfach und klar durchführbar zu sein scheint, wie Feuerbach eigentlich meint.54 Ein methodischer Grund für die Unzulänglichkeit der Analyse Feuerbachs ist, dass er zwar die Rede über Gott auf die Rede über das Wesen des Menschen reduzieren will, dann aber gar keine Untersuchung über das Wesen des Menschen anstellt. Stattdessen belässt er es bei einer bloßen Auflistung der Bedingungen menschlicher Existenz. Über bloße Listen von Bedingungen kann aber keine Wesensanalyse geleistet werden. Denn wie Aristoteles lehrt, wird das Wesen einer Sache in deren Definition ausgesprochen. Aber keine bloße Liste von Eigenschaften, Vermögen oder Bedingungen des Daseins ist eine Definition.55 So ist der Mensch zwar ein federloses, partiell behaartes, zweibeiniges Säugetier mit Ohrläppchen, aber diese Liste erfasst weder disjunktiv notwendig noch konjunktiv hinreichend das Wesen des Menschen. Daran würde auch eine Ersetzung oder Ergänzung einzelner Begriffe durch andere (z. B. mangelhaftes, exzentrisches, soziales, lachendes, spielendes, Bilder machendes, Werkzeuge erfindendes oder Symbole gebrauchendes Tier) nicht das Geringste ändern. Das ist übrigens auch der Grund dafür, dass die moderne so genannte ‚philosophische Anthropologie‘ so weit hinter tradierte philosophische Wesensanalysen des Menschen zurückfällt.   WDR, S.  243 und 244.   In der späteren Schrift über das Wesen der Religion versucht Feuerbach, dieses Problem zu lösen. Vgl. auch die diesbezüglich repräsentative Textauswahl in WDR. 55  Vgl. Anal. post, 91 b. 53

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4.  Gottes- und Menschenbild als philosophisches Problem

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Denn zu einer Wesensbestimmung reicht es nicht aus, ein Merkmal oder ein Ensemble von Merkmalen oder Eigenschaften zusammenzutragen, welche Angehörige der zu definierenden Spezies von allen übrigen Lebewesen und Dingen unterscheiden. Das tun die hier genannten Eigenschaften des Menschen durchaus, die einen mehr, die anderen weniger. Doch sie sagen nichts aus über das Prinzip derjenigen Einheit, die es erlaubt, all diese Eigenschaften als Merkmale einer Spezies aufzuführen. Man kann einer solchen Liste weder entnehmen, wie viele Merkmale womöglich noch hinzukommen oder welche von ihnen weggelassen werden können, noch erlaubt sie eine Unterscheidung zwischen notwendigen und kontingenten Eigenschaften. Hat man das Wesen der Angehörigen einer Spezies bereits bestimmt, dann sind solche Fragen zu beantworten, und Merkmalslisten werden interpretierbar. Definiert man z. B. den Menschen als vernünftiges Lebewesen, dann kann man Federlosigkeit, Zweibeinigkeit und den Besitz von Ohrläppchen der animalischen und damit körperlichen Seite des menschlichen Wesens zuordnen, das Lachen, das Spielen und den Symbolgebrauch der Vernunftseite und die soziale Lebensweise beiden Seiten gleichermaßen, wenn auch in unterschiedlicher Hinsicht. Man weiß dann auch, dass das Ohrläppchen eher kontingenter Weise zum menschlichen Körper gehört und dass das Vermögen zu lachen kein basales Vermögen ist, sondern ein grundlegendes Vernunftvermögen voraussetzt, nämlich den Verstand. Das heißt aber, dass Artbestimmungen über Merkmalslisten Wesensdefinitionen voraussetzen müssen und nicht ersetzen können. Daher sind Definitionen durch Eigenschaftslisten ihrer Form nach fehlerhaft.56 Man muss also den Ausdruck ‚wesentliche, substantielle Verhältnisse‘ viel ernster nehmen, als Feuerbach selbst das tut. Das, was den Menschen seinem Wesen nach ausmacht, ist zum einen seine Vernunft, zum anderen seine Leiblichkeit und Endlichkeit. Man wird daher nicht fehlgehen, wenn man in diesen ‚wesentlichen Verhältnissen‘ oder Dimensionen des Menschseins zugleich den Ansatzpunkt für eine Bestimmung von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zwischen Mensch und Gott sucht und so Feuerbachs Untersuchung dorthin bringt, wohin er sie nicht zu bringen vermag. Erst dann ist Feuerbachs spekulative These, dass der Gottesgedanke notwendig ist, überhaupt philosophisch beurteilbar.57 56   Das gilt dann auch für Versuche, die Bedingungen eines guten menschlichen Lebens über Listen von Grundgütern zu erfassen, wie es Nussbaum 1998 und 1999, im Anschluss an Vorstellungen von John Rawls, sowie Seel 1995 versuchen. 57   Letztlich ist das Wesen des Menschen nicht ohne eine Philosophie der menschlichen Seele als Prinzip des Lebens und damit auch der Einheit der Person bestimmbar, da sich Vernunft nur dann als herrschendes, die menschliche Lebensform bestimmendes Vermögen auffassen lässt, wenn sie als höchstes Vermögen und Ordnungsprinzip der menschlichen Seele verstanden wird. Dies zeigt – im Anschluss an De Anima – Albertus Magnus; vgl. De homine A, S.  104/105–122/123, ferner De homine B, S.  464–473, über die Unsterblichkeit der Vernunftseele, sowie SG II, Kap.  55.

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I.  Feuerbachs These

Damit ist aber auch gesagt, dass Ähnlichkeit und Differenz von Gott und Mensch, bzw. zwischen Göttlichem und Menschlichem, in wesentlich normativen Begriffen erläutert werden müssen. Es wird darauf ankommen, das Göttliche als „Ideal der Vernunft“ (Kant) und damit als normativen Maßstab vernünftiger Vermögen und ihrer Akte zu begreifen. Nur so kann man Feuerbachs Gedanken, dass der Gottesgedanke notwendig ist, wirklich gerecht werden.

II.  Die Transzendenz der Gattung 1.  Gattungsentwicklung und Transzendenz Für das Sein des Menschen ist allerdings eine weitere Spannung konstitutiv, der in der bisherigen Erörterung noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt werden konnte. Gemeint ist das Verhältnis des einzelnen Menschen zu seiner Gattung, der Menschheit in extensionaler Bedeutung. Dieses Verhältnis bleibt implizit, wenn man sich wie Feuerbach auf den Ausdruck ‚der Mensch‘ im Sinne des generischen Singular konzentriert. Dass hier eine Spannung besteht, zeigt sich daran, dass Möglichkeiten der Menschheit nicht mit den Möglichkeiten individueller Menschen zusammenfallen, und zwar weder distributiv noch synchron kollektiv. Denn es kann sein, dass für die Menschheit als solche Möglichkeiten bestehen, die bisher noch gar nicht ergriffen werden konnten, und zwar von keinem Menschen und keiner Gruppe von Menschen, die bisher gelebt haben und derzeit noch leben. Diese – zugegeben ganz abstrakte – Überlegung ist der Ausgangspunkt für den Gedankengang, der Kant und Fichte zu der spekulativen These führt, dass das Wesen des Menschen, seine Menschheit in intensionaler Bedeutung, nur im Zuge der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit (extensional) realisiert werden kann und daher erst in unbestimmter Zukunft realisiert werden wird.1 Die Möglichkeit einer solchen vollendeten Erscheinung des menschlichen Gattungswesens ist für uns vollkommen transzendent und kein Gegenstand möglicher Erkenntnis. Dennoch, so Kant und Fichte, können wir auf diese transzendente Möglichkeit spekulativ vorgreifen, wenn wir betrachten, was von den Eigenschaften der vollendeten Menschheit sich, wenn auch noch unvollkommen, schon jetzt an der gesamten gegenwärtigen Menschheit zeigt. Für Kant etwa ist die allgemeine Teilnahme der europäischen Öffentlichkeit an der Französischen Revolution ein „Geschichtszeichen“, welches auf Tendenzen der Humanentwicklung schließen lässt.2 Ein solcher Vorgriff ist der eigentliche utopische Kern der geschichtsphilosophischen Spekulation bei Kant und Fichte.3 Diese gattungsgeschichtsphilosophische Spekulation ist Feuerbach durchaus nicht fremd; im Gegenteil. Er begreift die menschliche Geschichte ihrer Haupt  IGWA, bes. Sätze 2 und 3; Fichte 1800, Buch III.   Kant 1798, A 142 ff. 3   Vgl. dazu auch Kannetzky 2012. 1 2

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II.  Die Transzendenz der Gattung

tendenz nach durchaus als eine Geschichte des Fortschritts hin zu einer sukzessiven Selbstvervollkommnung der Gattung: „Die Geschichte der Menschheit besteht in nichts anderm als einer fortgehenden Überwindung von Schranken – Schranken, die immer der vorangehenden Zeit für Schranken der Menschheit und darum für absolute, unübersteigliche Schranken galten. Die Zukunft enthüllt aber immer, dass die angeblichen Schranken der Gattung nur Schranken der Individuen waren. […] Unbeschränkt ist also die Gattung, beschränkt nur das Individuum.“4

Und er verknüpft den Gedanken der sukzessiven Selbstvollendung der Menschheit in der Geschichte mit seiner anthropologischen Deutung der Religion: „Der Mensch hat sein höchstes Wesen, seinen Gott, in sich selbst, aber nicht in sich als Individuum, sondern in seinem Wesen, seiner Gattung. Kein Individuum ist vollkommen adäquat seiner Gattung, aber nur das menschliche Individuum ist sich bewusst des Bruchs zwischen der Gattung und dem Individuum; im Gefühle dieses Bruches wurzelt die Religion.“5

Dieser Ansatz ließe sich zu dem Gedanken weiterführen, dass dasjenige, was der einzelne Mensch notwendig als göttlich verehrt, eigentlich sein eigenes, aber noch nicht realisiertes Gattungswesen ist. Religion wäre damit eigentlich utopisch, nämlich die – sich selbst missverstehende – Antizipation einer erfüllten Zukunft. Dass Gott unendlich und unbeschränkt ist, wäre dann – in uneigentlicher Rede – Ausdruck der Hoffnung, dass es der Menschheit einmal gelingen wird, alle Schranken und Begrenzungen ihrer Existenz zu überwinden, von den Schranken menschlichen Wissens über die Begrenzungen menschlicher Liebesfähigkeit und mitmenschlicher Solidarität bis hin zu den Schranken physischer Endlichkeit und Sterblichkeit. Daran ließe sich eine reduktiv-anthropologische Analyse religiöser Eschatologie anschließen. Das Motiv der Identifikation des Göttlichen mit dem noch großenteils verborgenen Wesen des Menschen und damit der Ansatz zu einem utopischen Vorgriff auf die Zukunft der Menschheit findet sich durchaus bei Feuerbach; es spielt allerdings in seiner Religionskritik überraschenderweise nur eine marginale Rolle. Überhaupt ist diese nicht primär geschichtsphilosophisch ausgerichtet. Die historischen Überlegungen, welche sich bei Feuerbach allenthalben finden, sind nicht Teil seiner systematischen Gedankenarbeit, sondern Illustration eines an sich ahistorisch gemeinten Arguments. Der insgesamt ahistorische Charakter des Denkens Feuerbachs wird zu einem der Hauptziele marxistischer Kritik. Doch diese ist ihrerseits nicht ganz gerecht. Eine historisch-eschatologische Deutung des Gottesgedankens ist nicht prinzipiell unvereinbar mit Feuerbachs Denken. Es handelt sich vielmehr um eine theoretische Möglich4   WDC, S.  267 f., Hervorhebungen im Orig. Man beachte den utopischen Überschwang im ‚also‘ der Konklusion. 5   Ebd., S.  455.

1.  Gattungsentwicklung und Transzendenz

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keit, die er selbst nicht ergriffen und weiterverfolgt hat. Ausgearbeitet wird diese Deutung erst bei einem sehr viel späteren Denker in der Nachfolge Hegels, nämlich bei Ernst Bloch, dem sicher bedeutendsten Feuerbachianer im 20. Jahrhundert. Bevor der Gedankengang am Schluss des ersten Kapitels weiter verfolgt werden kann, muss daher Blochs gattungstheoretische Umdeutung der Feuerbachschen Religionskritik näher untersucht werden. Für Bloch ist die Eschatologie, die Hoffnung auf letzte Erlösung der Menschheit als ganzer, der eigentliche und zu bewahrende utopische Kern jeden religiösen Denkens, insbesondere aber des jüdischen, christlichen und eigentlich auch des islamischen. Dieses zu bewahrende Erbe der religiösen Tradition nicht zu verstehen und nicht aufnehmen zu können, hält er für eine Grundschwäche jeder herkömmlichen materialistischen Philosophie, insbesondere aber der marxistischen. Denn nach Bloch scheitert der Marxismus immer dann an der Notwendigkeit einer kritischen Affirmation wesentlicher religiöser und theologischer Denkmotive, wenn er den im Kern eschatologischen Charakter seines eigenen Denkens, die Hoffnung auf eine Welt ohne Unfreiheit und Ausbeutung, preisgibt oder aus den Augen verliert. Damit diese Hoffnung aber Gedanke und damit gebildete Hoffnung (docta spes) werden kann, muss dieses ultimum eines Endes der (Unfreiheits-)Geschichte gedacht werden. 6 Wo der Marxismus dies und damit das utopische Moment in seinem Denken verleugnet, verrät er sein eigenes Ziel und schlägt um in den un- und antiteleologischen Determinismus der bloß materialistischen Philosophie. Diese kennt keine anderen Gesetze der Bewegung als den bloß effizient-kausalen Mechanismus einer Materie, welche als „mechanische[r] Klotz“ verstanden wird.7 Eine marxistische Kritik der Metaphysik, welche sich darin erschöpft, für einen mechanistisch-deterministischen Materialismus zu argumentieren, schlägt selbst um in schlechte Metaphysik. Obendrein verrät sie den emanzipatorischen Impuls der Marxschen Idee, den „Wärmestrom“ im Marxismus, 8 an ein deterministisches Bild des Geschichtsgangs. Unberührt von dieser Kritik bleibt die Anerkennung der Bedeutsamkeit einer nüchternen Fakten- und Bedingungsanalyse der tatsächlichen Verhältnisse, wie sie den „Kältestrom“ bei Marx und im Marxismus kennzeichnen.9 Die menschliche Gattung soll also vom Zustand ihrer Erlösung von Begrenzung und Unfreiheit her gedacht werden. Darin kommen aus Blochs Sicht recht verstandene theologische Spekulation und marxistischer Materialismus überein. In beiden spreche sich ein eschatologisches Denken aus, welches jede herkömmliche Teleologie bei weitem übersteige und überbiete. Erklärt nämlich herkömmliche Teleologie innerweltliche Bewegung von ihrem Ende her, sofern  Vgl. PH, S.  233.   Ebd., S.  239. 8   Ebd., S.  241. 9   Ebd., S.  240. 6 7

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II.  Die Transzendenz der Gattung

dieses notwendige Bedingung der gesamten Bewegung ist – wie im Falle des von Absichten geleiteten menschlichen Handelns –, so fasst Eschatologie das gesamte Welt- oder zumindest Menschheitsgeschehen als eine große Bewegung auf, welche mit teleologischer Notwendigkeit auf ein theoretisch antizipierbares Ende zu verläuft.10 Eigentlich teleologisch ist diese Großbewegung aber erst dann, wenn die steuernde Notwendigkeit keine deterministische ist, d. h. wenn ein Verfehlen des Prozessziels nicht bloß denkbar, sondern auch tatsächlich möglich ist. Erst dann kann das, was die am Prozess beteiligten Akteure tun, tatsächlich einen Unterschied hinsichtlich der Frage machen, ob das Prozessziel erreicht wird oder nicht. Dazu ist wiederum zweierlei gefordert: Erstens, dass das Ziel nicht nur für den Theoretiker antizipierbar ist, sondern in irgendeiner Weise auch für die Akteure selbst. Zweitens, dass das antizipierte Ziel auch das Ziel der Akteure ist, dass die Akteure so handeln, wie sie es tun, weil sie selbst dieses Ziel für erstrebenswert halten. Allerdings erstreben die Akteure das ultimum der Erlösung nicht im Modus der Handlungsabsicht, weil sein Erreichen für keinen menschlichen Akteur absehbar ist. Es ist vielmehr eminent utopisch, sofern sein Eintreten keine vorab bestimmbare Stelle in der Zeit hat. Stattdessen wird das ultimative telos aller menschlichen Geschichte im Modus der Hoffnung erstrebt oder besser ersehnt. Blochs Analyse steht damit vor einer doppelten Aufgabe: Einerseits muss er eine ontologische Analyse geschichtlicher Möglichkeiten und ihrer tatsächlichen Bedingungen leisten, also die marxistische Tatsachenanalyse durch eine Analyse realer Möglichkeiten ergänzen.11 In dieser Analyse muss zugleich deutlich werden, inwiefern der tatsächlichen Geschichte zumindest eine Tendenz zur Erlösung innewohnt, so dass Erlösung latent schon in der je historischen Gegenwart anwesend ist. Diesen Teil der Aufgabe definiert Bloch als eine Ontologie des noch nicht Seienden. Andererseits muss er eine epistemisch-doxastische Analyse des historisch je vorliegenden menschlichen Möglichkeitsbewusstseins und seiner Bedingungen durchführen, da menschliche Möglichkeiten nur als begriffene auch ergriffen und verwirklicht werden können.12 Nicht begriffene Möglichkeiten verstreichen ungenutzt und verschließen sich so gegen ihre Verwirklichung. Umgekehrt schafft sich das Möglichkeitsbewusstsein in der handelnden Verwirklichung neue Möglichkeiten, die zuvor nicht bestanden haben, und erweitert so

10   Vgl. zu den Wurzeln ‚interner‘ Teleologie im Aristotelismus und ‚externer‘ Teleologie in der Stoa auch Hoffmann 2006. In dieser schematischen Weise ist der historische Gegensatz allerdings nicht zu halten, da auch Aristoteles selbst externe Teleologie kennt und sie zum integralen Bestandteil seiner Theologie macht. Mehr dazu unten in V. 11  Vgl. PH, S.  271–278. 12   Vgl. ebd., S.  284–288.

1.  Gattungsentwicklung und Transzendenz

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den realen Möglichkeitsraum.13 Dieser Teil der Aufgabe ist bei Bloch als eine Epistemologie des noch nicht Bewussten bestimmt. Blochs Ontologie des Möglichen ist zu einem guten Stück Tendenz- und Latenzforschung, in deren Zuge das Seiende auf noch nicht oder noch nicht vollkommen verwirklichte Möglichkeiten, auf Abgebrochenes und ,Unabgegoltenes‘ befragt wird. Das schließt eine normative Betrachtung zukunftsweisender Aspekte des insgesamt Vergangenen und Überwundenen ein, z. B. abgelegter Lebensweisen wie der der alttestamentarischen Propheten, des mittelalterlichen Mönchstums und der Mystik oder auch der Pariser Commune. In solchen Teilen der Vergangenheit wird der Vorschein des Zukünftigen gesucht.14 Dafür wird auch ein robuster Begriff des Novum, des ontologisch Neuen benötigt.15 Die Doxastik und Epistemologie des Möglichen ist hingegen großenteils Hoffnungs- und Wunschanalyse. Denn hier geht es darum, Zeugnisse menschlicher Hoffnungen und Wünsche auf das hin zu untersuchen, worauf sie gerichtet sind. Möglich ist eine solche Analyse deswegen, weil Wünsche mehr und anderes sind als bloße Begierden. Hoffnungen und Wünsche sind artikulierbar; sie haben eine propositionale Form, einen repräsentationalen Gehalt und bestimmte Erfüllungsbedingungen, so dass es möglich ist, zwischen jetzt erfüllbaren, jetzt noch nicht erfüllbaren und schlechthin unerfüllbaren Hoffnungen und Wünschen zu unterscheiden. Eine an der Untersuchung von Möglichkeiten interessierte Wunschanalyse muss artikulierte Hoffnungen und Wünsche betrachten. Blochs Untersuchung ist hier breit angelegt und richtet sich auf Beschreibungen von Tagträumen, auf Mythen, Märchen, Moritaten und Trivialromane ebenso wie auf ausgearbeitete Utopien, Staatsentwürfe oder geschichtsphilosophische Theorien. Damit soll dem universalen Charakter des utopischen, auf das Neue und Unbekannte gerichteten Bewusstseins Rechnung getragen werden. Menschen sind Hoffnungswesen; Hoffnung ist ein menschliches Universal. Verzweiflung kann nur als individuelle Privation menschlichen Hoffens aufgefasst werden und nicht etwa als universaler Habitus. Blochs Analyse nimmt Hoffnungen und Wünsche ernst. Er deutet sie nicht als „Wolken­ kuckucks­heim“,16 als Ausdruck einer angenehmen Vorstellung, der die Kraft fehlt, handlungsleitend zu werden. Der Gehalt der hier interessierenden Hoffnungen und Wünsche übersteigt das durch je individuelles Handeln Erreichbare, so dass solche Hoffnungen und Wünsche nicht zu Handlungszielen einzelner Akteure werden können. Sehr wohl aber können sie das gemeinsame und arbeitsteilige Handeln menschlicher Gemeinschaften, ja vielleicht der Mensch13   Damit korrigiert Bloch auch die Einseitigkeit solcher modaler Analysen des Handelns, welche das Handeln immer nur als das Ausschließen von Optionen und nicht zugleich als das Eröffnen neuer Möglichkeiten thematisieren. 14   Vgl. ebd., S.  14. 15   Vgl. ebd., S.  230 ff. 16   Ebd., S.  13.

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heit insgesamt informieren und orientieren. In Hoffnungen und Wünschen zeigt sich menschliches Möglichkeitsbewusstsein. Darin transzendiert der menschliche Geist das Wirkliche im Sinne des faktisch Gegebenen. Hoffen und wünschen kann nur ein denkendes Wesen, denn Hoffnungen und Wünsche sind Gedanken. So zeigt sich die transzendierende Kraft des Denkens. „Denken heißt Überschreiten“.17

2.  Das Wesen des Menschen und die Zukunft Im Hinblick auf seine Ontologie bekämpft Bloch zwei Gegner: auf der einen Seite einen deterministischen Materialismus, den er von Parmenides und dem eleatischen Zenon über Spinoza bis zu La Mettrie, d’Holbach und im Positivismus des 19. Jahrhunderts am Werk sieht, auf der anderen Seite einen statischen Idealismus, der das Wesen oder die Idee als unveränderlich, Dynamik hingegen nur in der Erscheinung denkt und den er bei Platon, im Platonismus und noch im „absoluten Hegel“ entdeckt.18 Dahin gehört für ihn aber auch Kant, sofern er das Mögliche als rein subjektive Denkbestimmung, als erkenntnistheoretische und nicht primär als ontologische Kategorie fasst.19 Dagegen verteidigt er einen ‚linken‘ Aristotelismus, der das Wesen selbst als dynamisch, der Entwicklung und Vervollkommnung fähig deutet, ausgehend vom ontologischen Begriff der dynamis, verstanden als Veränderungsmöglichkeit.20 Als dessen wichtigste Vertreter nennt er – in eigenwilliger Reihung – neben Aristoteles selbst Avicenna, Averroës, Nikolaus von Kues, Bruno, Leibniz und Marx, aber auch den „dialektischen Hegel“21, nicht aber Heraklit oder Bergson. Deterministischem Materialismus und statischem Idealismus gemeinsam ist nach Bloch, dass beide das Denken auf die bloß theoretische Erfassung einer durch das Handeln nicht zu verändernden Wirklichkeit beschränken. Dass der Determinismus im Unterschied zum platonistischen Idealismus die Wirklichkeit als in ihrem Inneren dynamisch auffasst, macht angesichts dieser Gemeinsamkeit aus Blochs Sicht keinen wesentlichen Unterschied, da beide keinen Spielraum für utopische oder eschatologische Hoffnung lassen. Denn beide le  Ebd., S.  2.   Ebd., S.  17. 19   Ebd., S.  282. Aus dem Kontext geht hervor, dass vor allem Kants theoretische Behandlung der Modalbegriffe gemeint ist und nicht so sehr die praktischen Modalbegriffe in der Kritik der praktischen Vernunft. Vgl. auch dazu Kannetzky 2012. 20   Vgl. „Avicenna und die aristotelische Linke“ (1952), in MP, S.  479–546. 21  Vgl. PH, S.  4. Die Auflistung legt bereits den Verdacht nahe, dass es sich bei der von Bloch so genannten ‚aristotelischen Linken‘ mit ihrem „spekulativen Materialismus“ (MP, S.  546) eher um ein philosophiehistorisches Konstrukt handelt als um eine tatsächlich auffindbare Denktradition; dieser Verdacht wird durch die nachfolgende Darstellung durchaus nicht entkräftet. Vgl. insbesondere ebd., S.  493. 17 18

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gen ihrer Wirklichkeitsauffassung etwas determinierend Notwendiges zu Grunde: der Materialismus ein jede Veränderung vorab determinierendes Geflecht von Naturgesetzen, welches den ontologischen Zufall ausschließt; der Idealismus ein letztlich mathematisch beschreibbares Ensemble unveränderlicher Ideen und Strukturgesetze des Seins, an dem alles Seiende notwendig teilhat, sofern es überhaupt als seiend begriffen und ausgesagt werden kann und das zumindest den Spielraum möglichen Werdens und Vergehens vorab bestimmt, ohne selbst zu werden, zu vergehen oder sich zu verändern. Eine Ontologie, die weder materialistisch-deterministisch noch idealistisch sein will, unterliegt damit von vornherein gewissen Beschränkungen, die einzuhalten zumindest nicht einfach ist. Soll sie den Idealismus vermeiden, darf sie weder ein die Wirklichkeit bestimmendes unwandelbares Reich der Ideen annehmen noch Ideen als wirklichkeitsbestimmende Gedanken Gottes auffassen. Ein Theismus im herkömmlichen Sinn ist ihr ebenso verschlossen wie der Platonismus selbst. Damit kann sie aber nur materialistisch sein, denn wenn das Sein des Seienden nicht aus der Idee oder aus dem absoluten Geist erklärt werden kann, dann kann sein letzter Grund nur in der Materie und ihren Eigenschaften gefunden werden. Bloch ist daher so konsequent, den Materialismus durchgehend zu verteidigen. Zugleich muss die Materie aber ganz bestimmte Eigenschaften haben, wenn sie der Möglichkeitsgrund menschlicher Freiheit und menschlicher Hoffnung sein soll. Sie darf nicht deterministischen Gesetzen unterworfen sein, aber ebenso wenig bloß indeterminiert im Sinne des Unterworfenseins unter den bloßen Zufall. Bloßer Zufall sichert noch keine Freiheit und keine Entwicklung, sondern steht beidem eher im Weg.22 Deswegen knüpfen Blochs Überlegungen zu Begriff und Wesen der Materie, anders als die des jungen Marx, bewusst nicht an das materialistische Denken Demokrits und Epikurs an, sondern an die aristotelische Physik.23 Materie muss für Bloch nämlich ihrerseits als Träger von Tendenzen und damit als Träger einer immanenten Teleologie aufgefasst werden. Wenn er daher offensiv einen Begriff der dynamischen Materie vertritt, dann heißt das, dass er der Materie selbst ein telos zuschreibt. Materie ist nach Bloch deswegen ein Träger von Teleologie, weil der Materie selbst die noch nicht ganz aktualisierte Tendenz zu Veränderung und Entwicklung innewohnt. Sie muss als agens und damit als in einem zu erläuternden Sinn aktiv verstanden werden. Dass dieser Materiebegriff nicht wirklich aristotelisch ist, ist Bloch durchaus bewusst. 24 Denn die Materie ist nach Aristoteles zwar dynamei on, mögliches Seiendes, 22   Das betont Bloch mit Nachdruck, wenn er sich etwa gegen den ontologischen Indeterminismus in der Nachfolge Werner Heisenbergs und Jacques Monods wendet, vgl. EM, Kap.  29. 23   „Insofern hat der Idealist-Materialist Aristoteles kräftiger zum Begriff der gärenden, der dialektischen Materie beigetragen als Demokrit; ein Paradox des Idealismus.“ (MP, S.  145) 24  Vgl. PH, S.  237 f.

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aber die materielle Möglichkeit wird bei Aristoteles genauer als passive Möglichkeit bestimmt: Materie ist insofern mögliches Seiendes, als sie empfänglich für Formen ist. Erst durch die Formung tritt sie aus der bloßen Potentialität hinaus. Erst die geformte Materie ist aktuales, wirkliches Seiendes. Die Form ist bei Aristoteles aktives, die Materie hingegen passives Seinsprinzip.25 Eben deswegen kann die Materie von sich aus auch der Hinderungsgrund für die vollkommene Aktualisierung einer Form an einer bestimmten einzelnen Substanz sein: „Daraus will Aristoteles die vielen Hemmungen, Zufalls-Durchkreuzungen, auch die zahllosen Fortschritts-Torsi erklären, deren die Welt voll ist. An der angegebenen Stelle [PH, S.  219; H.T.] wurde diese Definition als die eines Sündenbocks bezeichnet, und das ist sie auch, sofern sie verabsolutiert wird, und sofern sie dazu dienen soll, die Materie zur Entlastung der Entelechie insgesamt zu verteufeln.“26

Seine eigentlichen Gewährsmänner sind für Bloch dann weniger Aristoteles und die aristotelische Scholastik, sondern eher Giordano Bruno und Baruch Spinoza, der – gegen die bei ihm dominante Tendenz zum Determinismus – den averroistischen Begriff einer natura naturans weiterentwickele.27 Die Frage ist allerdings nicht so sehr, ob man die Materie „verteufeln“ sollte oder nicht, sondern welche Eigenschaften und Vermögen ihr sinnvoll zugeschrieben werden können. Kann Materie tatsächlich als agens von Prozessen, also als aristotelische causa efficiens gedacht werden? Aristoteles schließt das explizit aus.28 Nun kennt die Naturphilosophie durchaus das Prinzip der autopoietischen, sich selbst organisierenden Materie. Aber hier handelt es sich um belebte, also beseelte und damit schon geformte Materie, um die Materie einer lebendigen Substanz also, bei der die sukzessiv die Materie aktualisierende Form das eigentliche Prinzip der Organisation ist. Unbelebte Materie hingegen bewegt und verändert sich nicht selbst, sondern wird bewegt und verändert, wenn auch ggf. als ein ‚medialer‘ Prozess ohne eigentliches agens wie in Diffusionsprozessen oder in Redoxreaktionen, von denen Aristoteles noch nichts wissen konnte. Aber auch dazu bedarf es einer äußeren Ursache, zumindest in Gestalt eines Anstoßes. Unbelebte Materie bewegt andere Materie nur dann, wenn sie selbst bewegt wird. Und bloß stoffliche Prozesse verlaufen auch keinesfalls zielgerichtet auf ein bestimmtes Resultat hin, wie es die Entstehung einer bestimmten Form wäre. Deswegen spricht Aristoteles der Materie jedes Streben  Vgl. Met. Z 8, 1033 a; Z 10, 1035 b.   PH, S.  237. 27   Dass er auch getrost Feuerbach in die Ahnengalerie der ‚aristotelischen Linken‘ hätte aufnehmen können, hat sich oben gezeigt. 28   Das schließt nicht aus, dass die Materie eines bewegten Körpers einen relevanten Faktor der Einwirkung desselben auf einen anderen Körper darstellt. Aber in solchen Fällen ist nicht die Materie als solche Wirkursache und Quelle der Bewegung, sondern sie bewegt nur als ihrerseits bewegte. Vgl. Physik A 9, 192 a; H 2, 243 a. 25 26

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im Sinne einer aktiven Potenz ab. Allerdings sind unterschiedliche Arten von Materie für unterschiedliche Arten von Veränderung empfänglich und tauglich, wie auch Aristoteles betont. So lässt sich aus Wolle Garn herstellen, aber nicht eine Säge, während Eisen für Sägen oder Messer taugt, aber nicht trinkbar ist.29 Mit diesen Betrachtungen bleibt man aber noch immer innerhalb des Horizonts passiver Potenzen. Für eine Theorie der aktiven Materie sind sie vollkommen unergiebig. Doch derartige phänomenologische Hinweise allein ergeben noch keinen systematischen Einwand. Man könnte erwidern, dass die Phänomene ihre eigene Beschreibung mit Hilfe des Dualismus von Materie und Form nicht erzwingen und dass die Unmöglichkeit einer monistisch-materialistischen Beschreibung von Lebensvorgängen von Aristoteles nicht gezeigt wird. Bloch selbst unternimmt keinen solchen Versuch,30 aber viele andere haben versucht, die Selbstorganisation der Materie zu beschreiben. Will man diese hypothetisch-narrativen Versuche nicht im Einzelnen durchgehen, empfiehlt sich eine grundsätzliche Frage: Was verlangen monistische Theorien dieses Typs von der Materie? Hier befindet sich Bloch über das zu Erklärende in viel größerer Klarheit als die meisten materialistischen Monisten. Um steuerndes Prinzip ihrer eigenen teleologischen Entwicklung sein zu können, muss die Materie tatsächlich natura naturans sein. Das aber heißt, wenn man den Ursprung dieses Begriffs in der Scholastik betrachtet, nichts anderes, als dass der Materie zumindest einige der Attribute Gottes zukommen müssen. Sie muss von sich aus (a se), autark und erstursächlich sein, aber so, dass sie zugleich selbstformend ist und Ordnung (ordo) hervorbringt, erhält und weitergibt. Das kann nicht erst für die belebte Materie gelten, sondern muss nach materialistischer Voraussetzung schon ein Vermögen von Materie überhaupt sein. Darin eingeschlossen ist, dass sie ein Ziele setzendes Vermögen in sich tragen muss, denn eine Ordnung kann nur teleologisch definiert werden, d. h. von ihrem Zweck oder Ziel her. Ordnung ist nämlich immer die von Teilen zu einem Ganzen, und zwar so, dass der Begriff des jeweiligen Ganzen bestimmt, wie die Ordnung der Teile beschaffen sein muss, welche Teile überhaupt für das Ganze erforderlich sind und was eine Ordnung der Teile von deren Unordnung unterscheidet. Das zeigt, dass Bloch – in der Tradition Brunos und Spinozas – den Begriff der Materie theologisch ungeheuer aufladen muss. Die reduktionistischen Absichten, welche der materialistische Monismus typischerweise verfolgt, lassen sich auf diese Weise nicht verfolgen. Eine Ersetzung des Gottesbegriffs durch einen theologisch aufgeladenen Materiebegriff bedeutet als solche noch keine Überwindung der Theologie.  Vgl. Met. H 4, 1044 a.   Auch nicht in seiner als ontologische Kategorienlehre angelegten letzten Monographie Experimentum Mundi. Vgl. aber EM, Kap.  12. 29

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Das alles ist keine Widerlegung. Sehr wohl muss sich Bloch aber die Frage gefallen lassen, was ihn zur Annahme einer aktiven Materie berechtigt. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Bloch selbst diese Frage gar nicht erörtert, sieht man von Autoritätsargumenten, nämlich der Berufung auf Bruno, Spinoza und andere ‚materialistische Häretiker‘ ab. Dass eine philosophische Theorie häretisch ist, heißt ja noch lange nicht, dass sie wahr ist. Was sich bei Bloch anstelle einer sachlichen Erörterung der Verfügbarkeit eines theologisch und teleologisch aufgeladenen Materiebegriffs ausführlich und in immer neuen Variationen findet, sind Überlegungen dazu, warum er einen solchen Materiebegriff benötigt bzw. warum es gut ist, über die Materie so zu denken wie die ‚aristotelische Linke‘, und was damit in der modernen, insbesondere der marxistischen Philosophie geleistet werden kann. Diese beiden Fragen, die nach der Berechtigung und die nach der Brauchbarkeit, sind aber logisch distinkt, und die Beantwortung der zweiten enthebt nicht von der Pflicht, sich der ersten ebenfalls zu stellen. Dass ein bestimmter Begriff – zu bestimmten Zwecken – benötigt wird, garantiert nicht seine Verfügbarkeit. Neben der allgemeinen Ontologie behandelt Bloch besonders eingehend Fragen der speziellen Ontologie des Menschen, also der philosophischen Anthropologie. Besonders instruktiv ist hier seine Auseinandersetzung mit Feuerbach, und zwar weil dieser derjenige Denker aus dem Umkreis der ‚aristotelischen Linken‘ ist, der Blochs eigenem kritischen Rückgriff auf Motive theologischen Denkens am meisten Pate gestanden hat. Umso überraschender ist es da auf den ersten Blick, dass er sich im Prinzip Hoffnung der – trotz aller grundsätzlichen Anerkennung31 – letztlich harschen Kritik Marx’ an Feuerbachs ‚undialektischem‘, d. h. essentialistischem Menschenbild weitgehend anschließt. Blochs Kritik an Feuerbachs Essentialismus ist aber ganz anders ausgerichtet als die oben vorgetragene. Diese läuft darauf hinaus, dass Feuerbachs Essentialismus halbherzig und methodisch unvollendet bleibt. Bloch hingegen wirft Feuerbach mit Marx vor, überhaupt in essentialistischer Manier nach einem Wesen des Menschen zu suchen. Stattdessen empfiehlt er, ebenfalls mit Marx, ein historisierendes Verständnis der Gattung Mensch: „Hier nun aber setzt die Marxsche Konsequenz ein, die bei dem Abstrakt-Genus Mensch, dem klassenmäßig-geschichtlich ganz ungegliederten, nicht haltmachte.“32

Aus Blochs Sicht zeigt sich daran, dass Feuerbach den platonistischen Idealismus Hegels nicht zu überwinden vermocht habe. „Feuerbach, der Hegel so sehr wegen seiner Begriffs-Verdinglichungen getadelt hatte, lokalisiert zwar sein Abstrakt-Genus Mensch empirisch, doch nur dergestalt, dass er es

 Vgl. PH, S.  292 f.   Ebd., S.  304.

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dem einzelnen Individuum innewohnen lässt, gesellschaftsfrei, ohne Sozialgeschichte.“33

Letztlich sieht Bloch Feuerbachs platonisch-hegelianischen Humanismus in einen bloßen Naturalismus kollabieren, „der […] über den Menschen als naturhaftes Gattungswesen nie hinauskam“,34 statt den Menschen mit Marx als „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“35 zu begreifen. Gegen diese „Fetischisierung“ des Wesens des Menschen führe Marx das anthropologische Denken „auf den Boden der wirklichen Menschheit und möglichen Menschlichkeit.“36 So sei denn auch Feuerbachs Religionskritik keine humanistische Aufhebung des religiösen Gehalts, sondern nur „Religion zu herabgesetztem Preis, einem schlecht entzauberten Philistertum zuliebe“.37 Dieser Vorwurf verweist ex negativo auf Blochs eigene kritische Aufhebung religiösen Denkens, dessen bewahrenswerten Kern er in der Eschatologie sieht. Hier sucht er den eigentlich utopischen Kern des Religiösen, insbesondere mit Blick auf die drei großen monotheistischen Religionen. Einen vergleichbaren Zug vermisst er – trotz einzelner Aussagen Feuerbachs – in dessen philosophisch-kritischer Gesamtkonzeption. Blochs religionsphilosophischer Ansatz soll im nächsten Abschnitt genauer untersucht werden. Einige Gründe und Konsequenzen von Blochs Ablehnung der Anthropologie Feuerbachs sind aber schon hier herauszustellen. Für Bloch ist eine wesentlich unwandelbare menschliche Natur, wie Feuerbach sie unterstellt, deswegen nicht theoretisch akzeptabel, weil sie den Spielraum für eine Weiterentwicklung der Gattung Mensch von vornherein zu begrenzen und damit zu wenig Raum für utopische Hoffnung zu lassen scheint. In Feuerbachs Essentialismus sieht er mithin wie schon im ursprünglichen, ‚rechten‘ Aristotelismus, zuviel an statischem Platonismus am Werk. Nach Bloch ist es bei Aristoteles gerade die Setzung unwandelbarer, das Wesen einer Gattung bestimmender Formen, welche die wirksame Emanzipation von Platon verhindere. Und aus seiner Sicht folgt ihm darin jeder aristotelische Essentialismus, auch noch der Feuerbachs. So könne der ebenfalls aristotelische Gedanke einer das Sein bestimmenden dynamischen Teleologie seine theoretische und praktische Brisanz nicht entfalten. Das gelinge erst einem aristotelischen Materialismus, welcher die Potenz der Ausbildung immer neuer, wandelbarer Formen des Seienden in die Materie selbst verlege. Damit werden aber die Formen und Wesenheiten selbst zu abhängigen und variablen Größen. Das gilt nicht zuletzt für das Wesen des Menschen, wie Bloch es versteht. Im Menschen gelangt die Materie gewissermaßen zum Bewusstsein ihrer selbst und damit  Ebd.   Ebd., S.  302. 35   Ebd., S.  304. 36   Ebd., S.  307. 37   Ebd., S.  310. 33

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zum bewussten Ergreifen der Möglichkeiten zur Selbstgestaltung. Deswegen optiert Bloch für eine eher marxistische Anthropologie, nach der die menschliche Gattung sich selbst als ganze wie auch jeden einzelnen Menschen radikal transformieren kann. Einer solchen historisch-materialistischen Auffassung des Menschen zu Folge ist die Gattung Mensch nichts als das, was sie aus sich macht.38 So kulminiert die offene Veränderlichkeit des materiellen Seins in der radikalen Freiheit der menschlichen Selbstbestimmung. Das bedeutet aber auch, dass die Zukunft der Menschheit in radikaler Weise offen, ja unbestimmt ist. Es fragt sich, ob Bloch diese Konsequenz so emphatisch bejahen sollte, wie er es tut. Wenn die Menschheit nämlich zu jedem Zeitpunkt ihrer Existenz zu radikaler Selbstbestimmung fähig ist, dann ist die menschliche Seins- bzw. Lebensform letztlich allein von den kontingenten Entscheidungen der Menschen über ihr eigenes Schicksal abhängig. Bloch betont mit großem Nachdruck, dass diese Entscheidungen nicht beliebig sind, sondern als das Ergreifen oder Verpassen realer Möglichkeiten und Chancen gedacht werden müssen. Eben deswegen entwirft er eine ausgefeilte Ontologie der Möglichkeit und eine korrespondierende Epistemologie der Modalbegriffe, um gegen die nachkantische Konfusion logischer, epistemisch-doxastischer und real-ontologischer Möglichkeitsbegriffe argumentieren zu können.39 Welche Möglichkeit einem Akteur zu einer gegebenen Zeit realiter offensteht, hängt wesentlich von Vorentscheidungen ab, die er selbst und andere Akteure vor ihm schon getroffen haben. Keineswegs alles, was logisch möglich, also ohne Widerspruch denkbar ist, ist auch real möglich und damit erstrebbar. Doch reale Möglichkeiten können ihrerseits unerkannt bleiben, vertan werden und verstreichen. Ebenso muss das, was für real möglich gehalten wird, keineswegs real möglich sein. Möglichkeitsbewusstsein und sich daran knüpfende Hoffnungen oder Befürchtungen können de facto illusorisch sein. Aus solchen Diskrepanzen zwischen ontologischen und epistemisch-doxastischen Möglichkeiten, zwischen real Möglichem und Möglichkeitsbewusstsein erklärt Bloch die Abbrüche, Fortschrittshemmungen und historischen Katastrophen der Menschheitsgeschichte. Doch die faktischen Verhältnisse begrenzen das real Mögliche, ohne es festzulegen. Mehr noch, Faktizität und damit Historie sind für Bloch die einzigen Beschränkungen realer Möglichkeiten. Das Seiende ist zwar Gewordenes und damit abhängig von schon Gewesenem. Aber was gewesen ist, kann nicht das ausschließen, was noch nicht gewesen und damit noch nicht ist. Akteure entscheiden radikal frei. Das bedeutet auch, dass die Entscheidungen zukünftiger 38   Diese marxistische Auffassung vom Wesen des Menschen stimmt durchaus mit Nietzsches Bestimmung des Menschen als des ‚nicht festgestellten Tiers‘ überein, was in Anbetracht von Blochs vehementer Ablehnung der Philosophie Nietzsches (vgl. ebd., S.  318, 1099, sowie AIC, S.  323 f.) keine ganz selbstverständliche Beobachtung ist. 39  Vgl. PH, Kap.  18.

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Akteure überhaupt nicht antizipierbar sind, weil sie allein von den radikal kontingenten und in keiner Weise, also nicht einmal hypothetisch prognostizierbaren Selbstverständnissen und Selbstbestimmungen dieser Akteure und den durch das Handeln ihrer Vorläufer bestimmten Bedingungen abhängig sind. Wie radikal dieses Bild ist, macht folgende Überlegung klar: Auch nach einem herkömmlichen Verständnis von Willensfreiheit ist menschliches Handeln indeterminiert, die Zukunft daher offen.40 Sichere Prognosen sind somit ausgeschlossen. Wohl aber lassen sich über das künftige Handeln eines Akteurs begründete Erwartungen bilden, die sich teils aus der Bekanntschaft mit seinem Charakter, teils aus allgemeiner Kenntnis der menschlichen Natur ergeben. Letztere ermöglicht dann auch gewisse Erwartungen bezüglich des Handelns zukünftiger Akteure. Weil und sofern der Mensch ein Vernunftwesen ist, wird menschliches Handeln auch künftig von Gründen geleitet sein. Weil und sofern der Mensch ein sterbliches Naturwesen ist, dem es ,in seinem Sein um sein Sein geht‘ (Heidegger), wird menschliches Handeln auch künftig von der Sorge um sich, die eigene Seele und den eigenen Leib bestimmt sein. Die allgemeine menschliche Natur bestimmt hier formal wie inhaltlich den Spielraum dessen, woran sich zukünftiges menschliches Entscheiden und Handeln ausrichten kann. Wird aber das Wesen des Menschen nicht als bestimmend für, sondern als bestimmt durch und damit abhängig von menschlichem Entscheiden und Handeln gedacht, dann verlieren solche Erwartungen die gedankliche Grundlage. Extremer Ausdruck der anti-essentialistischen und radikalen Zukunftsauffassung Blochs ist sein Gedanke, dass der vollendete dialektische Materialismus keine natürliche Beschränkung mehr anerkennen müsse, auch nicht die der physischen Sterblichkeit, stattdessen könne er einen „Glauben ohne Lüge“ freimachen.41 „Gerade weil für dieses ganze Problem, ja für seine nur halbwegs sinnvolle Formulierung ein Non liquet des Materials noch vorliegt, ist auch kein Nein a limine aussagbar; gibt es für unser Schicksal in der Natur noch keine positive, so auch keine abschließend negative Lösung. Sozialismus denkt und handelt nicht mit theologisch überkommenen Lückenbüßern des bürgerlich-mechanistischen Weltbilds, doch ebensowenig denkt und handelt er mit Mechanismus selbst und in sein fixes Nichts hinein. […] Theorie-Praxis, wenn sie die soziale Utopie berichtigt und auf die Füße gestellt hat, hat eines ihrer letzten Probleme im Kraut gegen den Tod.“42

Physische Sterblichkeit ist aus Blochs Sicht mithin ein kontingenter Zug menschlicher Existenz, eine bloß faktische Begrenzung unseres Daseins, deren Aufhebung nicht bloß denkbar, d. h. logisch möglich, sondern als real mögliche möglicherweise herbeizuführen ist.  Vgl. De int., Kap.  9; Kant, KpV, A 180 ff.   PH, S.  1382. 42   Ebd., S.  1383; Kursivierungen H.T. 40 41

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II.  Die Transzendenz der Gattung

Das, was das Wesen des Menschen genannt wird, bestimmt nun zwar auch nach Bloch das Handeln, Streben und Hoffen des Menschen. Aber das Handeln bestimmt und verändert seinerseits das menschliche Wesen. Damit besteht die Möglichkeit, dass menschliches Streben und Hoffen zukünftig in Richtungen geht, die für den Theoretiker jetzt in keiner Weise antizipierbar sind. Für Blochs Hoffnungsdenken ist diese Konsequenz ein ernstes Problem, denn sie entzieht streng genommen jeder antizipatorischen Tendenzforschung, wie sie Bloch vorschwebt, den Boden. Wenn der Mensch nämlich so frei ist, dass er selbst sein Wesen immer neu bestimmen und festlegen kann, dann sagen Tendenzen gegenwärtiger Entwicklungen der menschlichen Lebensform gar nichts Interessantes über die Zukunft aus, und Tendenzforschung wird vollkommen nutzlos. Hoffnungsdenken droht so in reines Wunschdenken umzuschlagen, in das Denken als Wolkenkuckucksheim, von dem Bloch sich immer fernhalten wollte. Bloch selbst versucht, den unliebsamen Konsequenzen eines radikal offenen Geschichtsverständnisses auszuweichen, indem er die Entwicklung der Menschheit trotz allem teleologisch deutet. Zumindest die letzten Möglichkeiten der Menschheit werden als Erfolg oder Scheitern des Seins- und Geschichtsprozesses beschrieben, wobei der Erfolg in der finalen Vollendung des menschlichen Wesens bestehen soll, im „aufgedeckte[n] Angesicht“ des Menschen.43 Das Scheitern wäre im Verfehlen dieses Ziels zu sehen, z. B. in einem mit Atomwaffen geführten Weltkrieg oder in der Vernichtung der für das Überleben der Menschheit nötigen natürlichen Ressourcen. Allerdings setzt diese Lösung voraus, dass das telos des materiellen Prozesses in dessen Gründen und Anfängen, in einem latenten, uns noch verborgenen, aber als Tendenz wirksamen Wesen bereits angelegt ist, wenn auch für uns zwar denkend antizipierbar, aber nicht erkenntnismäßig fassbar. Aber eben eine solche teleologische Determiniertheit der Materie schließt Bloch ganz explizit aus und optiert abermals für den Marxschen Anti-Essentialismus. Die so entstehende Spannung ist nicht zu übersehen.44 In seiner Abgrenzung von Feuerbach hat sich Marx immer mehr einer nominalistischen Auffassung von Form- und Wesensbegriffen angenähert, einschließlich der Rede über das Wesen der Menschheit. Die Feuerbach-Thesen legen davon bereits Zeugnis ab. Es ist da nur konsequent, die Möglichkeit und die Bedingungen geschichtlichen Fortschritts nicht mehr in einer sukzessiven Verwirklichung und Manifestation des Wesens des Menschen zu suchen, sondern in der eigenständigen Dynamik eines Geschichtsprozesses, dessen Be  EM, S.  260.   Vgl. zur Ablehnung jeder fixierten Teleologie insbesondere PH, S.  1626. Der Sache nach hat das bereits Jürgen Habermas früh gegen Blochs Utopismus eingewendet; vgl. Habermas 1981, S.  158. Johan Siebers verteidigt die offene, nicht-essentialistische Teleogie Blochs, erkennt aber die Schwierigkeit an; vgl. Siebers 2012, S.  33 f., sowie zum diesbezüglichen Problembestand Steinacker 2012, S.  96 ff. 43

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3.  Religion als Repression und Utopiebewusstsein

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schreibung ohne Wesensbegriffe auskommt. Bloch folgt Marx, bringt mit dieser Entscheidung aber sein gesamtes Projekt in Schwierigkeiten. Denn dafür benötigt er die ältere, noch bei Feuerbach gelegentlich erwähnte Idee eines zunächst noch verborgenen, sich im Lauf der Humangeschichte aber allmählich zeigenden menschlichen Wesens, das zunächst das Zusammenleben der Menschen humanisiert, indem es die dafür erforderlichen Institutionen schafft und beständig verbessert, dann aber auch die nichtmenschliche Welt kontinuierlich fortschreitend an die Bedürfnisse humanen Lebens anpasst. In diesem essentialistischen Verständnis verändert sich das Wesen des Menschen, seine Vernunftnatur, keineswegs, sondern sie wird immer mehr manifest in einem Prozess der menschheitlichen Selbstvervollkommnung. Das telos der menschlichen Entwicklung ist in diesem Bild uns, die wir noch mitten im Geschichtsprozess stehen, verborgen. Dennoch können wir in Vergangenheit und Gegenwart Keime des Zukünftigen erkennen. Tendenzforschung wäre daher möglich, und die menschliche Hoffnung hätte Grund und Sinn. Bloch entscheidet sich für den marxistischen Anti-Essentialismus, aber seine Hoffnungsphilosophie setzt den Essentialismus voraus. Mit letzterer steht er nolens volens Feuerbach viel näher als Marx.

3.  Religion als Repression und Utopiebewusstsein Noch deutlicher zeigt sich diese Nähe zu Feuerbach in Blochs kritischer Aneignung des religiösen Erbes.45 Wie Feuerbach sieht auch Bloch Religion als durch und durch ambivalentes geistiges Phänomen und nicht primär als eine Ausdrucksform falschen Bewusstseins wie Marx und der orthodoxe Marxismus, und er nennt Feuerbach in diesem Zusammenhang als wichtigen Vorläufer.46 Insbesondere stimmt er ihm darin zu, dass das religiöse Denken wesentlich Ausdruck tiefer menschlicher Wünsche und Hoffnungen ist.47 Doch anders als Feuerbach sieht Bloch den Teil des religiösen Denkens, den er als Ausdruck menschlicher Selbstentfremdung versteht, vor allem als politisch-ideologisch motiviert an.48 Dort, wo im religiösen Denken die tiefe Verschiedenheit von Gott und Mensch und die Gottferne und Nichtigkeit des Menschen gedacht und betont werden, sieht er eine Herrschafts- und Unterdrückungsideologie am Werk. Der dem Menschen ferne Gott sei die Legitimation von Herrschaft und Ausbeutung durch einen König oder eine Priesterkaste. Hier ordnet er die   Vgl. dazu auch die wieder aufgenommene Feuerbach-Diskussion PH, S.  1517 ff.   Ebd., S.  1519. 47  Vgl. AIC, S.  279 f., zur Betonung des utopischen, wirkliche Verhältnisse immer transzendierenden Charakters dieser Hoffnungen S.  282, zur – schon von Gottfried Keller vermuteten – Nähe Feuerbachs zum mystischen Denken des Angelus Silesius S.  283. 48  Vgl. PH, S.  1520. 45

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II.  Die Transzendenz der Gattung

„menschenleere Naturreligion“49 in ihren verschiedenen Spielarten ein, insbesondere den „Astralmythos“ der altorientalischen Religionen und den ägyptischen Tierkult,50 aber auch den zürnenden und für Menschen unberechenbaren Jahwe des Alten Testaments, den er dem gegen Prometheus zürnenden Zeus zur Seite stellt.51 Die Spur dieses Denkens der radikalen Transzendenz Gottes verfolgt er von Martin Luther und Thomas Hobbes bis zu Rudolf Bultmann, Rudolf Otto und Karl Barth.52 Nicht erwähnt wird die so genannte politische Theologie Carl Schmitts, obwohl Schmitt ohne Zweifel in die Reihe passen würde. Demgegenüber führe ein anderes Moment des religiösen Denkens gerade aus der menschlichen Selbstentfremdung und damit auch aus Unfreiheit, Ausbeutung und politischer Unterdrückung heraus zu Emanzipation und Selbstbestimmung. Dieses zu bewahrende „Kulturerbe“ der Religion habe eben mit dem Gedanken der Immanenz Gottes, der Gottähnlichkeit und Gottnähe des Menschen zu tun, wie Bloch ihn im Prometheus-Mythos,53 in der Gestalt des Moses, in Jesus von Nazareth und dann in der Gnosis, bei Avicebron und auch bei Moses Maimonides, bei Thomas Münzer und Karl Marx ausgesprochen sieht.54 Dass der Atheist Marx diese Reihe beendet, ist kein Lapsus. Denn die humanistische Linie des religiösen Denkens führe dieses schließlich in den Atheismus, die Verneinung der Existenz eines transzendenten Gottes bei Betonung des Göttlichen im Menschen selbst, seine Fähigkeit, das Reich Gottes selbst zu errichten: „Von daher endlich vor allem das stärkste Paradox in der an Paradoxen so reichen religiösen Sphäre: die Eliminierung des Gottes selber, damit gerade das religiöse Eingedenken, mit Hoffnung in Totalität, offenen Raum vor sich habe und keinen Spukthron aus Hypostase. Was nicht weniger bedeutet als eben das Paradox: Die religiöse Reichsintention als solche involviert Atheismus, endlich begriffenen.“55

Blochs kritische Rezeption der Religionsgeschichte ist daher wesentlich auch eine Suche nach dem Atheismus in Judentum und Christentum, weniger in Konfuzianismus und Taoismus,56 am wenigsten im Buddhismus, in dem er, vielleicht unter dem Eindruck von Schopenhauers affirmativer Anknüpfung an die Lehren Buddhas, so gut wie kein emanzipatorisches Potential auszumachen vermag.57 Ebenso wenig vermag er wirklich Befreiendes im Islam zu sehen.58   Ebd., S.  1402.   Ebd., S.  1432–1438; vgl. auch AIC, S.  254 f. 51  Vgl. PH, S.  1428. 52  Vgl. AIC, Kap.  16. 53  Vgl. PH, S.  1427–1432. 54  Vgl. AIC, Kap.  53. 55   PH, S.  1412; Hervorhebungen i. Orig. 56   Vgl. ebd., S.  1438–1450. 57   Vgl. ebd., S.  1474 ff., zur Kritik an Schopenhauer S.  1479. 58   Vgl. ebd., S.  1506 ff. 49

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3.  Religion als Repression und Utopiebewusstsein

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Die Mystik der Sufis nimmt er von diesem Verdikt allerdings ausdrücklich aus, wenn auch mit Einschränkungen.59 Der arabische Aristotelismus Al-Farabis, Avicennas und Averroës’ erscheint Bloch hingegen als philosophisch-naturwissenschaftliche Opposition gegen den Islam und nicht als dessen Teil. 60 Im Manichäismus und bei Zoroaster sieht er beide Seiten der Religion, die repressive und die emanzipatorische, unmittelbar und kaum anders als bloß analytisch trennbar ineinander gewoben. 61 Feuerbach wird in diesem Zusammenhang für sein Unverständnis des chiliastischen und eschatologischen Denkens in der religiösen und theologischen Tradition scharf kritisiert. 62 Dabei gehört für Bloch zum humanistischen Aspekt der befreienden Religion nicht nur der Gedanke eines exemplarischen Menschen, wie er ihn in der jüdischen Messias-Erwartung ausgedrückt findet, sondern auch in der exemplarischen Figur eines Stifters, wie er sie zuerst in Moses, 63 dann in den Propheten bis zu Johannes dem Täufer und schließlich in Jesus findet, was den dazu erforderlichen rebellischen Charakter angeht, aber auch in der Figur des Hiob. 64 Im Exodus aus Ägypten erblickt Bloch den archetypischen Mythos der Menschheitsutopie, den Versuch einer gemeinsamen Erlösung von Unterwerfung und Entfremdung. Der Auszug aus der ägyptischen Unfreiheit und die Suche nach dem gelobten Land, dessen Lage und Beschaffenheit den Suchenden bis kurz vor dem Ziel ihrer Wanderung ganz unbekannt ist, wird so zur Allegorie des utopischen Charakters menschlichen Hoffens und Strebens schlechthin. 65 Der Exodus-Mythos wird nur durch Jesus überboten, der als Gott doch zugleich ganz Mensch ist, leidet und stirbt. 66 „Ein Mensch wirkte hier als schlechthin gut, das kam noch nicht vor.“67

  Vgl. ebd., S.  1509.  Vgl. Avicenna und die aristotelische Linke, in: MP, S.  479–546. Das weitere Schicksal des islamischen Aristotelismus nach der Kritik Al-Ghazalis scheint ihm in diesem Punkt leider Recht zu geben. 61  Vgl. PH, S.  1464–1474. 62   Vgl. ebd., S.  1517. 63   Vgl. ebd., S.  1453. 64   Vgl. ebd., S.  1455 f. 65   Eben deswegen ist das Exodus-Motiv das eigentliche Leitthema der Studie zum Atheismus im Christentum. Dabei behauptet Bloch an keiner Stelle, dass der Exodus der Juden kein historisches Ereignis gewesen wäre. ‚Mythos‘ impliziert nicht ‚fiktiv‘. Im Gegenteil, gerade die Historizität und Tatsächlichkeit des Moses und seiner Rolle in der Geschichte des jüdischen Volkes ermöglichen es Bloch, den Exodus-Bericht als exemplarisch zu deuten. In seinen späten Schriften wird der Exodus des jüdischen Volkes dann mehr und mehr zu einer Chiffre für den Natur- und Weltprozess überhaupt; vgl. EM, Kap.  34. 66  Vgl. PH, S.  1486 f. 67   Ebd., S.  1487. 59

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II.  Die Transzendenz der Gattung

Bloch sieht, ganz wie später die Befreiungstheologie, 68 in Jesus nicht allein einen pazifistischen „Unruhestifter“ und Sozialrevolutionär, 69 sondern auch den Begründer einer Ethik und Ästhetik des Armen, Kleinen und Unscheinbaren, in dem dieser gerade das Göttliche und Heilige sucht.70 In der Homousie, der Wesensgleichheit von Gott und Mensch in Christus, wird so aus Blochs Sicht zugleich die Transzendenz Gottes aufgehoben.71 „Eritis sicut Deus ist die Frohbotschaft des christlichen Heils.“72

Eben deswegen sucht Bloch in der religiösen Überlieferung auch nach den Vorboten eines utopischen, eschatologischen Natur- und Materiebegriffs, nach dem die Vollendung alles Seienden, auch des natürlichen, als zukünftig und noch ausstehend aufgefasst wird. Was die Auseinandersetzung mit Judentum und Christentum angeht, so kritisiert Bloch zwar eine radikal historistische, entmythologisierende Bibelkritik in der Nachfolge Bultmanns, 73 verteidigt aber eine ganz andere Form der textkritischen Bibelhermeneutik, welche „detektorisch“74 den überlieferten Text nach Spuren redaktioneller Bearbeitung, d. h. nach systematischen Sinnveränderungen und Sinnentstellungen, nach Brüchen, semantischen Unvereinbarkeiten und sonstigen Hinweisen auf mehrfache Autorschaft sucht. Dieses Verfahren lege der Text sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments auch durchaus nahe: „Denunziert wird dadurch Entstellung statt bloßer Verderbtheit des Texts, kurz Redaktion nach Weise der Reaktion. Immerhin fielen die Bruchstellen im Alten Testament besonders auf, dem so lang gestreckten Geschichts- und Geschichtenbuch, dem wohl gespanntesten Amalgamwerk überhaupt. Was als neuer Ring dann hinzutrat, wurde ebenfalls erst nachher zu dem gerundet, was es ist.“75

Solche Spuren wären nach Bloch als Hinweise auf nachträgliche priesterliche, also rabbinische oder kirchliche Textzensur zu deuten, wobei er die rabbinische Zensur mit Esra beginnen lässt, die kirchliche mit Paulus.76 Dieses textkritische Verfahren ist allerdings nur dann sinnvoll, wenn Blochs hermeneutische Hypothese zutrifft, dass der manifeste Bibeltext das Resultat zweier mit- und gegeneinander arbeitender Autorengruppen und Redaktionen

  Vgl. zum Einfluss Blochs auf die Theologie Leonardo Boffs Schwambach 2001, v. a. II 2.   PH, S.  1490. 70   Vgl. ebd., S.  1489. 71   Vgl. ebd., S.  1493. Dass dies gerade nicht der orthodoxen Auslegung des Homousie-Dogmas in der christlichen Tradition entspricht, muss hier wohl nicht eigens betont werden. 72   Ebd., S.  1504; Kursivierung H.T. In dieser Deutung fällt also die Botschaft Christi mit der Verheißung Satans im Paradies zusammen. 73  Vgl. AIC, S.  69. 74   Ebd., Kap.  18. 75   Ebd., S.  102. 76   Vgl. ebd., S.  101 ff. 68 69

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ist, einer ‚linken‘, „plebejerhaften“,77 häretischen, oppositionellen, revolutionären, egalitären, emanzipatorischen Theologie ‚von unten‘ und einer ‚rechten‘, herrschenden, mit den Mächtigen paktierenden, konservativen, elitären, repressiven Theologie ‚von oben‘. Diese beiden Richtungen stehen sich ex hypothesi in nahezu immerwährendem Kampf unversöhnlich gegenüber, wobei letztere sich faktisch immer durchsetzt, ohne Recht zu behalten, während erstere, immer unterliegend, doch niemals untergeht, sondern als unterdrückte Richtung verdeckt und verstellt immer weiter existiert und selbst für Anhänger der Herrschaftstheologie eine beständige Versuchung darstellt. Der manichäische Grundcharakter dieser texthistorischen Hypothese sollte für sich schon genügen, um misstrauisch gegen das exegetische Verfahren zu machen. Wie schon im Fall der ‚aristotelischen Linken‘ wird hier wohl eher eine Geschichtskonstruktion auf den überlieferten Textbestand projiziert als darin vorgefunden. Und wie im Fall der Annahme einer aktiven Materie wird auch zur Rechtfertigung des manichäischen Schemas der Bibelauslegung allein das utopietheoretische Bedürfnis angeführt: „Item, ohne solche Benutzung und neue Wendung der Bibelkritik ist überhaupt keine Religionsphilosophie mehr möglich, [?] am wenigsten eine des revolutionär-utopischen Begriffs.“78

Schwer verständlich an Blochs Geschichtsmanichäismus ist vor allem der Part der konservativen, elitären und reaktionären Partei. Diese Schwierigkeit teilt Blochs Ansatz mit jeglichem Manichäismus. Denn Bloch kann nicht erklären, was das Reaktionäre für seine Anhänger überhaupt attraktiv macht, wenn man annimmt, dass Freiheit und Erlösung eine universale, von allen Menschen geteilte Hoffnung ist. Wie kommt es da überhaupt zur Herrschaft einer bestimmten Kaste oder Klasse, und warum setzt sich deren Partikularinteresse gegen das universale Interesse, welches also auch das ihre ist, durch? Selbst wenn man annimmt, dass sich diese Frage im Rekurs auf eine marxistische Analyse der Genese von Produktionsverhältnissen beantworten ließe,79 bliebe immer noch eine Anschlussfrage offen: Wie kommt es, dass sich Menschen das Partikularinteresse einer herrschenden Klasse auch dann zu eigen machen und nicht etwa ideologisch verblendet, sondern ganz bewusst vertreten, wenn sie dieser Klasse gar nicht angehören, wie z. B. Paulus, der sich mit seiner Deutung des Jesus von   Ebd., S.  103.   Ebd., S.  108, Hervorhebung H.T. 79   Ebd., S.  88 f. Der Zusammenhang zwischen der ökonomischen Analyse von Produktionsverhältnissen und der religionskritischen Analyse von Glaubenssystemen und religiöser Praxis ist sicher einer der am wenigsten plausiblen Teile historisch-materialistischer Theorieanwendung. Hier steht der Marxismus stets in der Gefahr, entgegen allen anderslautenden Versicherungen (z. B. ebd., S.  89) in die schon von Hegel zurückgewiesene Theorie des Priesterbetrugs zurückzufallen, ergänzt allenfalls durch die motivationstheoretische Überlegung, dass Religion ‚Opium des Volkes‘ sei. 77 78

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II.  Die Transzendenz der Gattung

Nazareth gerade in Gegensatz sowohl zur jüdischen Orthodoxie als auch zu den unmittelbaren Jüngern Jesu stellt? Führt man dies allein auf Ehrgeiz und Machtstreben, hier des Paulus, zurück, dann fragt sich, wo in Blochs Menschenbild Raum für die Möglichkeit eines solchen Strebens nach Macht und Herrschaft gelassen wird. Der böse Part in dieser Art von Geschichtsschema wird postuliert, aber bleibt in seiner Natur unanalysiert. Mit Blick auf die angenommene reaktionäre Entstellung des Bibeltextes ist obendrein fraglich, warum die Redaktion einige der aus Blochs Sicht verfänglichsten Passagen überhaupt hat stehen lassen, anstatt sie ganz zu tilgen. Dazu zählt Bloch den Part der Schlange in der Sündenfall-Erzählung, die Geschichte Kains, den Turmbau von Babel, die Geschichte vom nächtlichen Kampf Jakobs mit dem Gott und das Buch Hiob, aber auch einige der Bücher über die Propheten und einige Christusworte sowie die Apokalypse des Johannes. Denn alle diese Stellen sprechen nach Bloch von der Empörung über und der Auflehnung gegen den Schöpfergott und die von ihm auf Erden geschaffenen Verhältnisse. In diesem Sinne legt Bloch auch das Jesus-Wort aus: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ (Mt. 10, 34) Blochs Erklärung für den Verbleib dieser Stellen im redigierten Text kann nicht überzeugen. Denn sie läuft darauf hinaus, dass die der Zensur anstößigen Stellen nicht mehr verdammt und gänzlich unterdrückt werden konnten, 80 weil sie schon ein zu vertrauter und wirkmächtiger Teil des Textkorpus gewesen seien. Nun hat aber die Bibelredaktion niemals Skrupel gehabt, ganze Bücher aus der Bibel zu tilgen, wenn starke Gründe für ihre Nichtzugehörigkeit zum heiligen Text gesprochen haben. Das bezieht sich nicht nur auf die apokryphen Evangelien des Neuen Testaments, sondern auch auf Teile des Alten Testaments, wie die wechselvolle Geschichte des Buches Jesus Sirach zeigt. Das letztgenannte Beispiel zeigt auch, dass für solche Tilgungen keineswegs immer inhaltliche Erwägungen sprechen müssen, da die Entfernung dieses Buches keinesfalls ein Ausdruck von Missfallen oder Geringschätzung im Hinblick auf den Textinhalt ist. Wenn nun ganze Bücher aus dem Kanon der heiligen Schrift nicht etwa heimlich, sondern ganz offen entfernt oder ihm wieder hinzugefügt werden konnten, erscheint es unplausibel, dass einzelne Textpassagen leichter umgeschrieben und verfälscht als ganz getilgt worden sein sollten. Wahre Religion ist nach Bloch atheistisch und zugleich utopisch-eschatologisch. Die Stärke der jüdischen und christlichen Überlieferung besteht aus seiner Sicht darin, dass dieser wahre Kern im Überlieferungsgeschehen nie ganz verlorengegangen sei, sondern sich gegen die Verfälschungsgeschichte immer behauptet habe. So sei die Bibel „das revolutionärste Religionsbuch überhaupt“. 81 Dieser utopisch-revolutionäre Gehalt ist es denn auch, der den jü  Vgl. ebd., S.  107.   Ebd., S.  104.

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dischen und christlichen Glauben nach Blochs Maßstab zum ‚wahren‘ macht, und nur dieser Gehalt allein. Das heißt, nur als utopisch-revolutionäre, ‚militant optimistische‘ Bestrebung ist Religion, ist insbesondere jüdischer oder christlicher Glaube ‚wahr‘ und gerechtfertigt. Als konservative, orthodoxe Bestrebung hingegen ist Religion falsch. Der dezisionistische Grundzug in Blochs gesamter Philosophie zeigt sich auch hier. Mit seiner Unterscheidung zwischen einem progressiven, emanzipatorischen, revolutionären und einem regressiven, elitären und reaktionären Strang religiöser Traditionen, insbesondere der jüdisch-christlichen, versucht Bloch, gegen den „vulgärmarxistischen Atheismus“82 auch das religiöse Denken als einen zentralen Bestandteil des kulturellen Erbes aufzuheben, statt es borniert zu ignorieren. Dadurch will er nicht nur das marxistische Anliegen stärken, sondern den Marxismus auch über seine eigenen Wurzeln und Vorläufer aufklären. An dieser Stelle kann nicht untersucht werden, welche Spannungen Blochs Ansatz in die marxistische Bewusstseinsanalyse hineinträgt. Welchen Spannungen seine Vorentscheidung für eine dezidiert, wenn auch undogmatisch marxistische Analyse des Religiösen diesen Analyseversuch aussetzt, ist wohl zumindest in Umrissen deutlich. Es bleibt die Aufgabe, das resultierende Verständnis Blochs von wahrer Religion genauer zu betrachten.

4.  Die Denkbarkeit des Ultimum Bloch stimmt mit Feuerbach darin überein, dass menschliche Gottesvorstellungen zumindest teilweise als Wunschvorstellungen eigener Vollkommenheit gedeutet werden sollten. Er gibt Feuerbach ferner Recht, dass religiöses Bewusstsein dann Ausdruck menschlicher Selbstentfremdung sei, wenn der projektive Charakter des religiösen Glaubens und damit die Hypostasierung der Vollkommenheitsidee zur Vorstellung eines vom Menschen abgetrennten vollkommenen Wesens undurchschaut blieben. Worin er ihm nicht zustimmt, ist der Gedanke, dass das bloße Durchschauen der Hypostasierung bereits die Selbstentfremdung aufhebt. Für Bloch kann die Aufhebung der Entfremdung erst dann eintreten, wenn alles beseitigt ist, was den Menschen an der eigenen Vollkommenheit hindert. Die Selbstentfremdung des Menschen kann aber erst im ultimum einer erlösten Menschheit aufgehoben werden, d. h. am Ende der Geschichte, aber in dieser Welt. Den Gedanken der Erlösung in einem Leben nach dem Tod hält er für eine Verfälschung des wahren religiösen Denkens durch reaktionäre Theologie. Fragt man aber, was Bloch unter Erlösung versteht, zeigt sich, dass sein Begriff davon und damit sein Verständnis von Utopie kaum bestimmter ist als   Ebd., S.  90.

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Feuerbachs Verständnis von menschlicher Vollkommenheit. Negativ lässt sich zwar durchaus einiges über den utopischen Gehalt menschlicher Hoffnung sagen, wie Bloch ihn auslegt. Er bezieht sich, was die physische Seite humanen Lebens angeht, auf die endgültige Beseitigung aller körperbezogenen Schmerz-, Mangel- und Entbehrungssituationen im Hinblick auf elementare Bedürfnisse, auf „Baden, Essen und Trinken“ (Feuerbach), Kleidung, Obdach, Gesundheit und physische Sicherheit bzw. auf die Stillung menschlichen Hungers und Durstes, in dem Bloch bereits den Anfang alles utopischen Bewusstseins sieht. 83 Dieser Teil der Utopie geht, wie oben gesehen, im Extrem bis zur Hoffnung auf physische Unsterblichkeit. Was die moralische Seite menschlicher Existenz angeht, so geht Blochs utopisches Denken auf die Überwindung von Krieg und Gewalt, letztlich von jeglicher Macht und Ungleichheit, von Unfreiheit und der Ausbeutung von Menschen durch Menschen, von allem, was zwischenmenschliche Liebe und Solidarität behindert. Bezüglich der personalen Selbstverhältnisse schließlich richtet sich menschliches Hoffen nach Bloch auf die vollkommene Beseitigung aller Hindernisse personaler Selbstbestimmung und ihres freien Ausdrucks. 84 Hier soll es nicht primär um die Frage gehen, ob Blochs Utopie überhaupt kohärent ist, d. h. ob sich diese Hoffnungen ohne Widerspruch als allesamt erfüllt denken lassen. 85 Dass utopische menschliche Hoffnungen nicht miteinander kollidieren, ist offenbar selbst eine Hoffnung. Vielmehr geht es darum zu bestimmen, welches Bild vom Menschen den theoretischen Vorgriff auf die Utopie, also die gedachte Erfüllung der Hoffnung leitet. An dieser Stelle zeigt sich erneut die seltsame Ambivalenz der Anthropologie Blochs, die sich stillschweigend auf ein Verständnis des Wesens des Menschen stützen muss, welches sie offiziell im Anschluss an den Marxschen Nominalismus dementiert. Indem Bloch eine Wesensbestimmung des Menschen verweigert, fällt er deutlich hinter Feuerbach zurück, dessen Wesensbestimmung des Menschen zwar methodisch misslingt, aber immerhin den Versuch einer anthropologischen Grundlegung der Religionskritik unternimmt. Das in Blochs Texten allgegenwärtige humanistische Pathos kann allenfalls rhetorisch verdecken, dass gerade die Bestim Vgl. PH, S.  71 f.  In Experimentum Mundi interpretiert Bloch den Ultimum-Gedanken wesentlich radikaler, universaler und spekulativer als die finale Aufhebung des Gegensatzes von Sein und Wesen, von Dass-Spannung und Was-Gehalt des Seienden; vgl. EM, Kap.  47–49. In traditioneller Metaphysik wird der Sein-Wesen-Gegensatz als nur in Gott aufgehoben, für alles endliche Seiende aber als unüberwindbar gedacht. Vor diesem Hintergrund kann man sagen, dass Bloch hier den Seinsprozess insgesamt als einen Prozess der Vergöttlichung alles Seienden versteht, unbeschadet der konsequenten Vermeidung theologischen Vokabulars in den einschlägigen Passagen. 85   Damit sind die realen Probleme, die eine tatsächliche physische Unsterblichkeit aller Menschen für die Lebensbedingungen der Menschheit mit sich bringen würden, noch gar nicht angesprochen. Vgl. dazu Jonas 1979, Kap.  6 . 83

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mung des Humanen ausbleibt. Deswegen kann Bloch auch nicht begründen, warum den Hoffnungen, Wünschen und Tagträumen der Menschen, denen seine ganze phänomenologische Aufmerksamkeit gilt, genau die epistemologische Dignität zukommt, die er ihnen zuspricht. Sie sollen Ausdruck von etwas Spezifischem, Wesentlichem und Unaufgebbarem sein, was den Menschen und seinen Weltbezug auszeichnet. Das zu sagen heißt aber, sie im Wesen des Menschen zu gründen, welches jedoch in Blochs Philosophie nur eine Leerstelle ist. Es ist auch kein Ausweg, die Manifestation des menschlichen Wesens ins ultimum der Erlösung zu verlegen und bis dahin auf Unwissenheit zu plädieren. Eine solche Auskunft wäre nicht mehr als eine schlechte Ausrede, weil das utopische Hoffnungsdenken von der Möglichkeit der theoretischen Antizipation des ultimum lebt. Wenn aber der denkende Vorgriff auf Erlösung schon aus dem Zustand der noch ausstehenden Erlösung heraus möglich ist, dann muss das auch für den denkenden Vorgriff auf das dann manifest werdende Wesen des Menschen gelten. Eine weitere, noch grundsätzlichere Differenz zwischen Feuerbach und Bloch besteht hinsichtlich des Gottesverständnisses. Für Feuerbach ist Gott Wunschprojektion des Menschen, idealisiertes Selbstbild. Für Bloch dagegen ist Gott Inbegriff aller menschlichen Macht- und Herrschaftsansprüche. Er hat kein wie auch immer geartetes positives Gottesverständnis und kann deswegen in gar keiner Weise positiv an die theologische Rede von der Güte oder der Weisheit Gottes anknüpfen. Für Bloch ist der Gottesgedanke das schlechthin zu Überwindende, nicht das zumindest partiell zu Bewahrende an der Religion. Das ist der Hauptgrund dafür, dass er in der christlich-theologischen Gedankenfigur der Menschwerdung Gottes nur eine Vorstufe zum Atheismus, nicht aber einen Gedanken eigenen Rechts über das Verhältnis von Gott und Mensch sehen kann. Blochs Gott ist allenfalls der satanische, von Grund auf böse und nichtige Demiurg des gnostischen Denkens, nicht aber der weise und gütige Gott der christlichen Theologie. Weisheit und Güte sind in Blochs Darstellung eher Attribute, die dem gedachten Gott von Seiten der reaktionären und repressiven Theologie zugeschrieben werden. Damit fehlt ihm aber dasjenige an der Tradition philosophisch-theologischer Spekulation, was er für sein Projekt einer philosophischen Rechtfertigung utopischen Denkens am nötigsten braucht, nämlich den Gedanken der Gottähnlichkeit und Transzendenz des Menschen. Weder an die These des Aristoteles, dass der Mensch seine gottähnliche Natur im theoretischen Fragen und Forschen zeigt, 86 noch an die trinitarischen Spekulationen des Augustinus, Hegels und Schellings oder an Descartes’ Augustinus aufgreifende Überlegungen zur Erkennbarkeit Gottes für den Menschen vermag Bloch in irgendeiner Weise positiv anzuknüpfen. Da ihm die Idee der Transzendenz letztlich doch nicht zur  Vgl. Met. A 2, 982 a ff.

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Verfügung steht, muss er stattdessen, wie schon beschrieben, Zuflucht in einer Konzeption der sich selbst transformierenden Materie suchen. Dass in diesem von ihm nur beiläufig diskutierten Strang der Tradition metaphysischen Denkens der Gedanke der Transzendierung bestehender politischer Verhältnisse viel stärker angelegt ist als in der materialistischen, gesteht Bloch gelegentlich verwundert zu, ohne daraus aber theoretische Konsequenzen zu ziehen. 87 Somit bleibt die theologische Grundlegung von Blochs Metaphysik der Hoffnung ebenso eine theoretische Leerstelle wie die anthropologische Begründung menschlichen Hoffens. Damit unterbleibt aber letztlich auch ein ernsthafter Versuch der Säkularisierung theologischen Denkens in der Tradition Feuerbachs, welche die Rede über Gott in Rede über Potenzen und Entwicklung der Gattung Mensch übersetzen müsste. Wie könnte ein solcher Versuch nun aussehen? Es müsste wohl darum gehen, die göttlichen Attribute – Allwissenheit, Allmacht, schrankenlose Güte – als Grenzbegriffe menschlicher Vollkommenheit auf der Gattungsebene zu reformulieren. Doch hier kehrt das gleiche Problem, welches schon die Erörterung von Feuerbachs individual-anthropologischer Umdeutung der Vollkommenheiten Gottes erhellt hatte, auf der gattungsanthropologischen Ebene wieder: Zwischen jeder überhaupt nur kohärent denkbaren88 Vollkommenheit der Menschheit als ganzer und den Eigenschaften, die Gott in der Theologie zugeschrieben werden, klafft ein unüberbrückbarer Abstand. Denkt man sich die humane Wissenskultur kontrafaktisch als schlechthin vollendet und nicht einmal mehr im Prinzip verbesserbar, weil schon alle wissenschaftlich überhaupt möglichen Aussagen in einen widerspruchsfreien und von jeglichem Irrtum bereinigten Zusammenhang stünden und von einer Gemeinschaft aller Wissenden bewahrt und fortwährend arbeitsteilig durchdacht würden, dann wäre dieser Vollendungszustand dennoch keineswegs ein Zustand kumulativer Allwissenheit, und zwar weil Wissenschaft sich in Bezug auf manche Gegenstände inhaltlicher Behauptungen enthalten muss. Anders gesagt, auch ein als vollendet gedachtes System wissenschaftlicher Aussagen enthielte notwendig Annahmen, Unterstellungen, Vermutungen und Plausibilitätsargumente, und zwar nicht nur im Hinblick auf ‚letzte Dinge‘ wie die Unsterblichkeit der menschlichen Seele oder ein zukünftiges Ende des uns bekannten Kosmos in der Zeit, sondern schon im Hinblick auf empirisch nicht oder nicht mehr kontrollierbare Einzel87  Verstreute Beobachtungen zu emanzipatorischen Motiven im Hauptstrom der platonisch-aristotelischen Philosophie und der daran anschließenden Theologie finden sich häufig in Blochs Werk, werden aber zu den ‚Paradoxien des Idealismus‘ gerechnet, vgl. etwa MP, S.  145. 88   Mit ‚Denkbarkeit‘ ist hier eine ernsthaft denk- und verstehbare, wenn auch vollkommen kontrafaktische Möglichkeit im Sinne von Blochs realer Möglichkeit gemeint und nicht die bloß logische Möglichkeit im Sinne der Widerspruchsfreiheit. Der Begriff der bloß logischen Möglichkeit ist zwar wesentlich weniger restriktiv, aber eben deswegen philosophisch uninteressant, wie Bloch zu Recht argumentiert.

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heiten wie die Frage, ob Abraham oder Homer tatsächlich gelebt und etwas von dem getan haben, was die Überlieferung ihnen zuschreibt. Man beachte wohl, dass dieser Abstand selbst dann bestehen bleibt, wenn man kein allzu skeptisches Bild menschlichen Wissens und menschlicher Wissenschaft unterstellt, also davon ausgeht, dass methodisch geordnetes und kooperatives menschliches Erkenntnisstreben tatsächlich zu Wissen führen kann. Traditionell gesprochen: Menschliches Wissen bleibt als solches selbst im Zustand der höchsten ihm möglichen Vollendung endlich und begrenzt. Noch augenfälliger ist der Abstand im Hinblick auf Macht und Güte. Wie immer ausgedehnt man sich die Intensität und Reichweite arbeitsteiliger menschlicher Kompetenz in der Natur- und Selbstbeherrschung und wie groß die Leistungsfähigkeit menschlicher Technik auch vorstellen mag – als allmächtig wird man die Menschheit niemals ernsthaft und ohne groteske Übertreibung beschreiben können. Schon das von Bloch als lösbares Problem behandelte Forschungsziel der physischen Unsterblichkeit durch medizinisch-technischen Fortschritt kann kaum mehr sein als eine Chimäre. Ebenso wenig wird man sich die Menschheit als jemals vollendet gut, als eine Gemeinschaft von Heiligen denken können, und zwar auch dann nicht, wenn globale gerechte Institutionen einen ‚ewigen Frieden‘ im Sinne Kants ermöglichten, wenn das Ausmaß gewaltförmiger Machtausübung dank guter und effizienter Erziehung auf ein Minimum reduziert würde, weil die Menschheit als ganze zu der Einsicht gelangt wäre, dass friedliche und kommunikative Konfliktlösungen gewaltsamen und konfrontativen vorzuziehen sind. Die Anfälligkeit für Bosheit und Sünde genügt bereits, um der Menschheit als Gattung die Möglichkeit letzter moralischer Vollendung abzusprechen. Diese Art von Anfälligkeit gehört zur endlichen Vernunft des Menschen, und diese ist nicht als in der Zeit und damit auch nicht zukünftig aufgehoben denkbar. Die Kluft zwischen der Endlichkeit des Menschen und der Unendlichkeit Gottes ist mithin auch nicht auf der Gattungsebene zu überwinden. Das ist ein gravierendes Problem für jeden hinreichend ambitionierten Versuch einer gattungsanthropologischen Säkularisierung theologischen Denkens. Gottes theologisch gedachte Vollkommenheit übersteigt jedes auch nur denkbare Vollkommenheitsniveau der Gattung Mensch. Für menschliche Vollkommenheit ist und bleibt der Begriff Gottes unerreichbares Ideal und transzendenter Maßstab. Dass die Idee Gottes jeder individuell und kollektiv möglichen menschlichen Vervollkommnung gegenüber transzendent bleibt, diese aber dennoch faktisch zu orientieren vermag, wie der metaphysische und theologische Diskurs trotz aller systematischen Schwierigkeiten faktisch zeigt, hat aber auch schon früh den Gedanken ermutigt, dass diese Idee Resultat einer bloß gedanklichen Abstraktion und Idealisierung sein könnte. Gerade die Fassbarkeit der Gottesidee weckt das theoretische Misstrauen, dass sie doch bloß erdacht sein könnte. Diese Vermutung lässt sich sprachphilosophisch so ausformulieren: Grundlage je-

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der theologischen Rede wäre zunächst einmal ein menschliche Vollkommenheit zwar transzendierendes, aber dennoch darin gegründetes Ideal geistigen Seins. Durch Abstraktion würde von der leiblichen Seite menschlicher Existenz abgesehen und auf deren rein geistigen Aspekt abgestellt, und anschließend würden durch Idealisierung die Einschränkungen endlicher Geistigkeit, wie sie den Menschen kennzeichnen, aufgehoben. Denn, so ließe sich argumentieren, als vernünftige Wesen streben wir nach Wissen und besitzen es auch in einem begrenzten Umfang. Das Wissen, welches wir als Gattung besitzen, ist eine Gattungsvollkommenheit, und zwar eine solche, die unserem Wesen entspricht. Das Wesen einer jeden Gattung muss man aber von dessen Vollendung oder Vollkommenheit her verstehen. Die Gattung Mensch lässt sich also – was Vernunft oder Geist betrifft – vom Wissen her verstehen. Was nun das Wesen einer Gattung am meisten charakterisiert, das kann in die Wesensdefinition derselben aufgenommen werden. Man kann also den Menschen als ein wissensfähiges Wesen definieren. Als wissendes Wesen allerdings nicht, da nicht nur jeder einzelne Mensch, sondern auch die Menschheit als ganze in vielerlei Hinsicht unwissend ist. Diese Einschränkung ist nun zwar ihrerseits charakteristisch für das Wesen des Menschen, aber gewissermaßen bloß faktisch. Die Unwissenheit gründet nicht in der vernünftigen Natur des Menschen, sondern in deren endlicher, stofflicher Manifestation. Will man deshalb zu Begriff und Idee des Wissens vorstoßen, dann muss man in einem ersten Schritt von der Begrenztheit menschlichen Wissens abstrahieren. Abstrahiert man also von der Endlichkeit, Körperlichkeit und damit Stofflichkeit des Menschen, dann kann man den Begriff einer reinen Vernunft bzw. eines reinen Geistes bilden. Ein rein vernünftiges Wesen, ein reiner Geist wäre dann am meisten dadurch charakterisiert, dass es bzw. er nach Wissen strebt. In diesem Streben wäre ein solches Wesen aber nach Voraussetzung nicht durch die Bedingungen menschlicher Endlichkeit eingeschränkt. Da es mithin durch nichts in seinem Streben behindert wäre, wäre das Streben daher als immer schon erfüllbar, d. h. aber als immer schon erfüllt zu denken. 89 Ein reiner Geist wäre daher als ein wissendes Wesen oder, was dasselbe meint, als allwissend zu definieren. Die Abstraktion drängt hier, wie man sieht, von sich aus zur Idealisierung weiter. Hypostasiert man dieses Wissens­ ideal, indem man sich den wissenden reinen Geist als wirklich existierend denkt, dann gelangt man zur Idee Gottes. Da menschliche Endlichkeit und Begrenztheit im Hinblick auf Macht und Güte ähnlich behandelt werden können, ließe sich in einem analogen Abstraktions- und Idealisierungsverfahren auch vom Streben des Menschen nach Macht bzw. nach dem Guten zur Idee Gottes als eines mächtigen und gütigen Wesens gelangen. Wir hätten mithin drei Ideale 89   Denn da nach Voraussetzung von den Hindernissen abstrahiert wird, welche der Erfüllung des Wissensstrebens entgegenstehen, fallen Erfüllbarkeit und Erfüllung kontrafaktisch zusammen.

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reiner Vernunft gewonnen. Deren Einheit läge nun lediglich darin begründet, dass Wissen, Macht und Güte drei grundlegende menschliche Strebensziele sind, was die Identifikation dieser drei Ideale in einer einzigen Idee ermutigt. Gott würde demnach als ein einziges Wesen mit den drei wesentlichen Eigenschaften des Wissens, der Macht und der Güte gedacht, weil der Mensch nach Wissen, Macht und Güte strebt. So scheint es, als ließe sich auf diese Weise ganz zwanglos die Tatsache erklären, dass Gott als Ideal eine transzendente Norm unseres Denkens und Handelns sein kann. Er wäre nach dieser Theorie der abstraktiven Konstruktion der Gottesidee nichts anderes als das. Der nötige Abstand zwischen der Idee Gottes und jeder endlichen Erfüllung gemeinschaftlichen menschlichen Strebens nach Wissen, Macht und Güte wäre anscheinend dennoch gewahrt. Es wäre aber gerade ein Argument gegen und nicht für die Existenz Gottes. Auf diesem Wege, so scheint es, ließe sich die ‚Säkularisierung‘ theologischen Denkens und Sprechens als Hypostasierung eines menschlichen Vernunftideals doch noch durchführen. Der Idealisierungsverdacht ist zugleich einer der wichtigsten Gründe für die Zweifel an der Geltung des so genannten ontologischen Gottesbeweises, bei dem, zumindest nach seinem üblichen Verständnis, von der Idee Gottes auf dessen Existenz geschlossen wird. Wäre Gott nur die undurchschaute Hypostasierung eines Ideals, dann wäre der ‚ontologische Beweis‘ entweder entsprechend zu ‚säkularisieren‘ oder ganz aufzugeben.90 Die Gegenthese lautet jedoch, dass eine solche abstraktive Idealisierung gar nicht möglich ist. Das heißt nicht, dass sich die Idee eines allwissenden, allmächtigen und schlechthin guten Wesens nicht bilden ließe. Es heißt vielmehr, dass sie sich nicht als bloß abstraktive Idealisierung menschlicher Geistigkeit verstehen lässt. Die Vollkommenheiten Gottes können kein Anthropomorphismus sein.91 Diese Gegenthese lässt sich allerdings nicht ihrerseits damit begründen, dass Allwissenheit, Allmacht und vollkommene Güte Eigenschaften sind, die jedes menschliche Maß prinzipiell übersteigen. Auch mit dem Schöpfungsgedanken kann hier nicht argumentiert werden. Denn dass Gott das Menschliche bei weitem transzendiert und – als allmächtig – auch als Schöpfer des Kosmos gedacht werden kann, sind zwei Gedanken, die aus Gottes transzendenter Vollkommenheit folgen, die aber ihrerseits im Verdacht steht, bereits Ergebnis der angenommenen Idealisierung menschlicher Vermögen zu sein. Stattdessen muss der Gegeneinwand vom Begriff menschlicher, endlicher Vernunftvermögen aus argumentieren. Der Idealisierungsverdacht gegen das ontologische Argument un90   Der Sache nach taucht dieser Verdacht schon in den Einwänden Gaunilos von Marmoutier gegen Anselms Argument auf, dann auch in den Einwänden Mersennes und Gassendis gegen Descartes’ Meditationen und schließlich in Kants so genannter Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises. Mehr dazu in den folgenden zwei Kapiteln. 91   Vgl. zum Problem der Formulierung eines transzendenten Ideals der Vollkommenheit auch te Velde 2006, S.  117.

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II.  Die Transzendenz der Gattung

terstellt nämlich, dass das vernünftige Streben des Menschen nach Wissen, Macht und Güte aus sich heraus möglich und verständlich ist, da dieses Streben als Abstraktions- und Idealisierungsbasis des Gottesgedankens vorausgesetzt werden muss. Dieses Streben ist unaufgebbar, denn es entspringt – wiederum nach Voraussetzung – dem menschlichen Wesen selbst, seiner Vernunftnatur. Es kann aber ferner nicht ohne die internen Normen begriffen werden, denen es untersteht, nämlich des Wahren und des Guten. Das heißt aber, dass vernünftiges menschliches Streben nicht ohne etwas begriffen werden kann, was die Erfüllung dieses Strebens notwendig transzendiert. Denn wie oben schon unterstrichen wurde, liegen unbegrenztes Wissen, unbegrenzte Macht und schrankenlose Güte jenseits des für Menschen individuell oder kollektiv jemals Erreich­baren. Vernünftiges menschliches Streben, auch wenn man es als ein­ gebettet in das kollektive Streben der menschlichen Wissens- und Kompetenzgemeinschaft versteht, untersteht einem transzendenten Maßstab, dem es nicht genügen kann. Mithin handelt es sich bei dem vernünftigen Streben eines endlichen Wesens wie des Menschen um ein ‚unendliches‘, unerfüllbares Streben. Das deutet bereits an, dass es zumindest nicht so leicht aus sich heraus verständlich gemacht werden kann, wie es die Abstraktions- und Idealisierungsthese voraussetzt. Das hat nicht nur mit der Paradoxie eines zugleich unerfüllbaren und unaufgebbaren Strebens zu tun. Es hat darüber hinaus ganz speziell etwas mit dem Verständnis der wissens- und handlungskonstitutiven Normen des Wahren und des Guten zu tun. Wie kann man die Seinsweise einer trans­ zendenten Norm erläutern, ohne dabei Bezug auf Transzendentes zu nehmen, d. h. rein immanent? Genau dies muss Vertretern der Abstraktions- und Idealisierungsthese aber gelingen. Denn sie müssen den transzendenten Gottesgedanken allein aus immanenten Voraussetzungen generieren können, d. h. ohne Bezugnahme auf Transzendentes. Andernfalls handelte es sich um eine petitio principii. Nun liegt zweifellos bereits im Begriff des Wissens der Bezug auf eine trans­ zendente Norm vor, weil Wissen nicht anders definiert werden kann als unter Bezugnahme auf den Begriff der Wahrheit. Ebenso liegt im Begriff des Handelns die Möglichkeit der Bezugnahme auf den Begriff des Erfolgs und damit des Könnens oder der Macht. Der Zusammenhang von Wissen, Macht und Transzendenz ist also begrifflicher Natur und keine absichtsvolle theoretische Erfindung zu bestimmten Zwecken. Es ist mithin notwendig und nicht etwa ein methodischer Fehler, in einer begrifflichen Analyse des menschlichen Strebens nach Wissen und Macht auf transzendente Normen Bezug zu nehmen. Aber damit ist für die Abstraktions- und Idealisierungsthese nichts gewonnen. Im Gegenteil: Nun lautet die Frage nämlich, was den Abstraktionstheoretiker überhaupt berechtigt, das kognitive und volitive Streben des Menschen als ein Streben nach Wissen und Macht zu beschreiben und den Menschen als wissensund handlungsfähiges Wesen zu bestimmen. Was berechtigt zum Gebrauch die-

4.  Die Denkbarkeit des Ultimum

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ser Ehrentitel? Beruhen solche Bestimmungen nicht am Ende bloß auf schmeichelhaften Selbstzuschreibungen? Wie die Vertreter einer solchen Theorie diesen Zweifel abweisen wollen, ist schlicht nicht zu sehen. Doch auch ein pragmatischer Zynismus wie bei Rorty, der sich die These offensiv zu eigen macht, dass Termini wie ‚vernünftig‘, ‚objektiv‘, ‚Wissen‘, ‚wahr‘ oder ‚gut‘ bloße Ehrentitel und Werbewörter sind, kann für diese Position kein attraktiver Ausweg sein. Die Abstraktions- und Idealisierungstheorie des Göttlichen steht so dem theologischen Fideismus und dem philosophischen Skeptizismus gleichermaßen nahe. Theologischer Fideismus und philosophischer Skeptizismus sind einander nahestehende und sich wechselseitig stabilisierende Positionen.92 Der Skeptizismus begründet die Alternativlosigkeit des Fideismus; der Fideismus macht den Skeptizismus erträglicher.93 Dies gilt selbst noch für Rorty, dessen Zynismus an vielen Stellen zumindest rhetorisch in einen optimistischen Fideismus umschlägt, etwa wenn es um die Verteidigung des Fortschritts, der Solidarität oder republikanischer Werte geht. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Abstraktions- und Idealisierungstheorie theologischer Rede dahin tendiert, eben die Begriffe des Wissens und der Macht zu unterminieren, von denen aus sie die Bedeutung theologischer Rede sprachphilosophisch aufklären will. Das ist noch keine reductio ad absurdum dieser Theorie. Es zeigt aber – für das moderne Denken vielleicht überraschend – an, dass Fragen nach Sinn und Bedeutung theologischer Rede zu den Grundlagen der Philosophie führen. Das philosophische Verständnis theologischer Rede hat, das zeigen die oben stehenden Überlegungen, Konsequenzen für die Bestimmung, ja die Explizierbarkeit philosophischer Kernbegriffe wie Wahrheit, Wissen und Können – so oder so. Damit ist der Zusammenhang allerdings noch nicht analysiert. Wohl aber ist der Problemhorizont angezeigt, in dem die philosophischen Fragen an Natürliche Theologie stehen.94 Im Rückblick auf die voranstehenden zwei Kapitel lässt sich festhalten: Feuerbach und Bloch vertreten bei aller inhaltlichen Verbundenheit und Nähe zwei distinkte Paradigmen atheistischer Religionskritik. Feuerbachs Denken reprä92   An einer Figur wie Friedrich Heinrich Jacobi wird deutlich, dass Fideismus nicht bloß eine theologische Position darstellt, sondern eine allgemeine philosophische Haltung zu den Grundlagen von Erkenntnis und Wissen bezeichnet. Vgl. Jacobi 1787. 93   Das gilt auch für Theoretiker einer unendlichen Annäherung an die Wahrheit wie Johann Gottlieb Fichte oder Charles Sanders Peirce. Zu sagen, dass der Prozess gemeinsamen menschlichen Erkenntnisstrebens die Tendenz hat, allmählich zum Wissen zu konvergieren, heißt, eine fideistische Haltung einzunehmen. Denn es impliziert, dass es zweifelhaft ist, ob unsere jetzigen Wissensansprüche berechtigt sind, da nur die ferne Zukunft dies erweisen kann. 94   Auf analoge Weise bespricht bereits Brentano den Zusammenhang zwischen philosophischem Atheismus und einer ‚pessimistischen‘ Sicht auf die Leistungsfähigkeit menschlicher Vernunft. Er hält Schopenhauer für den konsequentesten Denker dieses Zusammenhangs, im Gegensatz zu den optimistischen Materialisten des 19. Jahrhunderts; vgl. Brentano 1929, S.  9.

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II.  Die Transzendenz der Gattung

sentiert einen Ansatz, der vor allem im Zuge einer anthropologischen Selbstreflexion die denkende Bezugnahme auf Gott kritisch analysiert und zu destruieren versucht. Gott wird hier als innerer Gegenstand menschlichen Selbstbewusstseins aufgefasst und als ideales Selbstbild des Menschen neu gedeutet. Bloch steht – obwohl er diesem Ansatz viel verdankt – letztlich für eine Form der Religionskritik, die ihren Impetus eher einer materialistischen Ontologie und Kosmologie entnimmt, in deren Rahmen die Humangeschichte als integraler Bestandteil des Naturprozesses gedacht wird. Aus diesem Ansatz ergibt sich dann die Notwendigkeit der Zurückweisung des Theismus und der Kritik der Religion. Beide Ansätze scheitern, aber für das Folgende ist es wichtiger zu beobachten, dass sich in ihnen die beiden Hauptparadigmen Natürlicher Theologie spiegeln: in Feuerbachs Anthropologie das geistphilosophische, selbstbewusstseinstheoretische Paradigma, für das exemplarisch Anselm von Canterbury und René Descartes stehen; in Blochs Metaphysik das ontologische Paradigma, welches auf Aristoteles zurückgeht und maßgeblich von Thomas von Aquin ausgearbeitet worden ist. Jedes dieser Paradigmen ist auf charakteristische Weise mit einem spezifisch erkenntnistheoretischen Ansatz verbunden. Für den selbstbewusstseinstheoretischen Ansatz führt der Weg zur Gotteserkenntnis über das reine Denken, für den ontologischen über die spekulative Deutung der Erfahrung des wirklich Seienden. Von diesen methodischen Ansätzen zehren wie gesehen Feuerbach bzw. Bloch auch noch in ihrer Kritik. In den folgenden drei Kapiteln soll daher die Untersuchung dieser beiden Paradigmen und ihres Verhältnisses im Mittelpunkt stehen. Das selbstbewusstseins­ theoretische Paradigma wird exemplarisch an Anselm und Descartes betrachtet, das ontologische an Thomas von Aquin.

III.  Erkenntnis des Transzendenten 1.  Einwände gegen Anselms Argument Feuerbachs Versuch eines subversiven Gebrauchs des ‚ontologischen‘ Beweises – oder besser Arguments1 – für die Existenz Gottes ist als gescheitert anzusehen, während Bloch die Thematik insgesamt ignoriert. Aber auch Versuche einer reduktiven abstraktionstheoretischen Neuinterpretation des ontologischen Arguments, in der eben der ontologische Aspekt desselben und damit die Aussage eliminiert wird, dass Gott unabhängig von unserem Gottesgedanken existiert, erscheinen zumindest als problematisch. Angesichts dieses Befundes 1   Im Grunde ist am Titel ‚ontologischer Gottesbeweis‘ mit Blick auf Anselm das Meiste falsch. Denn wie sich zeigen wird, ist Anselms Gedankengang im Proslogion weitgehend ontologiefrei, und er spricht nicht von einem Beweis (demonstratio), sondern von einem Argument (argumentum) für die Existenz Gottes. Ähnliches gilt mutatis mutandis auch für Descartes, wie sich im folgenden Kapitel zeigen wird. Thomas von Aquin hält es noch geradezu für die Hauptschwäche von Anselms Argument, dass sein Autor einen echten Beweis für die Existenz Gottes für überflüssig halte, da das Sein Gottes eine an sich bekannte Tatsache sei. Vgl. SG I 10. Die Fixierung auf die Idee eines Beweises und die Gleichsetzung von Beweisen mit formal gültigen Schlüssen lenkt die gesamte moderne Diskussion des anselmisch-cartesischen Gedankens auf ein falsches Gleis. Erst mit Spinoza und Leibniz hält das Modell eines deduktiven Beweises Einzug in die Debatte. Dass auch noch Hindrichs dieser vom Terminus ‚Beweis‘ ausgehenden Suggestion erliegt, zeigt der Satz: „Die Cartesischen Beweise durchschaut Leibniz als die Sophismen, die sie sind.“ (Hindrichs 2008, S.  76; Hervorhebung H.T.) Dieses Urteil ist umso merkwürdiger, als Hindrichs das Argument aus der dritten Meditation gar nicht und das aus der fünften Meditation nur en passant erörtert und seine Diskussion ganz auf bestimmte Aspekte der Erwiderung Descartes’ auf den Einwand von Caterus stützt. Vgl. ebd., §  43 f. Die Fixierung auf die beweistheoretische Lesart beherrscht noch immer die gegenwärtige Debatte über das ‚ontologische Argument‘; vgl. stellvertretend die Diskussion bei Everitt 2004, S.  32 f., und Oppy 2006, Kap.  2. Ausnahmen stellen Jean-Luc Marion und Reinhard Hiltscher dar. Marion betont gerade die Ontologieferne des Arguments im Proslogion, das er, im Unterschied zum Monologion, vielmehr in der Tradition der ontologiekritischen Negativen Theologie sieht; vgl. Marion 2000. Hiltscher deutet das Proslogion als erkenntnistheoretischen Traktat, was der im Folgenden zu entwickelnden Lesart in einigen Punkten sehr nahe kommt; vgl. Hiltscher 2010, S.  21–40. Der auf S.  26 vorgenommene „Regress“ in eine ontologische These über die Existenz Gottes erscheint mit jedoch etwas inkonsequent und exegetisch unnötig. Es ist übrigens bezeichnend, dass weder Anselms noch Descartes’ Argument durch die bei van Inwagen unterschiedenen drei Hauptversionen des ontologischen Arguments auch nur im Ansatz repräsentiert werden. Das heißt, es handelt sich weder um ‚Meinongsche‘ noch um ‚konzeptualistische‘ noch um modal(logisch)e Argumente. Vgl. van Inwagen 2012.

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III.  Erkenntnis des Transzendenten

ist es wohl angebracht, das ‚ontologische Argument‘ in seiner Ursprungsgestalt bei Anselm und seiner weiter ausgearbeiteten Gestalt bei Descartes näher zu betrachten. Gemäß einer verbreiteten Lesart entfaltet Anselm das gesamte Argument im zweiten, dritten und vierten Kapitel des Proslogion. Es läuft dieser Lesart nach darauf hinaus, dass dasjenige, über dem nichts Größeres gedacht werden kann, existieren muss. Denn falls es nicht existierte, dann ließe sich etwas Größeres denken als dasjenige, über dem sich nichts Größeres denken lässt, nämlich ein Existierendes. Dieser Gedanke sei aber in sich widersprüchlich. Deswegen existiere Gott. Nun könne seine Existenz aber nicht kontingent sein, da sich in diesem Fall ein nichtkontingent, sondern notwendig Existierendes denken lasse, was im Widerspruch zur Voraussetzung stünde. Deswegen existiere dasjenige, über dem nichts Größeres gedacht werden kann, notwendig. Da nun Gott dasjenige sei, über dem nichts Größeres gedacht werden kann, existiere Gott notwendig. Dieses Argument ist Gegenstand einer Reihe von Standardeinwänden. Zu erwähnen sind hier vor allem zwei. Der eine besagt, dass die Kennzeichnung ‚dasjenige, über dem nichts Größeres gedacht werden kann‘ (quo nihil maius cogitari potest) keinen klaren Sinn habe. So gebe es im Bereich der natürlichen Zahlen zu jeder beliebig großen Zahl einen Nachfolger, der größer sei. Da also die Kennzeichnung ‚die größte natürliche Zahl‘ leer sei, könne auch die Kennzeichnung ‚diejenige natürliche Zahl, über der keine größere natürliche Zahl gedacht werden kann‘ keinen Sinn haben. Außerhalb des Kontextes der Arithmetik habe nun der Begriff der größten denkbaren Größe überhaupt keinen bestimmten Sinn mehr. Folglich beruhe auch Anselms Argument auf einer semantisch nicht klar und deutlich bestimmten Kennzeichnung; die Konklusion sei daher trügerisch. Der andere Einwand besagt, dass die Existenz einer Sache kein Moment ihrer Qualität oder Quantität sei.2 Aus Sätzen wie ‚Peter ist klug‘ oder ‚Der Mont Blanc ist groß‘ folgten nämlich keine Sätze über die Existenz Peters oder des Mont Blanc. Der Übergang von Sätzen der Form ‚S ist P‘ zu ‚S ist‘ bzw. ‚S existiert‘ sei nur dann kein Non sequitur, wenn die Existenz des Redegegenstandes vorausgesetzt werden dürfe. Der Schluss von einer qualitativen oder quantitativen Bestimmung auf die Existenz sei ansonsten fehlerhaft. Daher sei auch das ontologische Argument formal fehlerhaft, da es von einer Kennzeichnung, dem Spezialfall einer singulären Prädikation, nämlich dasjenige zu sein, über dem nichts Größeres gedacht werden könnte, auf die Existenz desjenigen schließe, über das prädiziert werde. Daher könne aus der bloßen Verständlich2   In Kants Formulierung: ‚Sein‘ ist kein reales Prädikat wie etwa ‚grün‘, ‚groß‘ oder ‚weise‘. Vgl. KrV, B 626. Dieser Einwand findet sich ähnlich auch schon in Humes Treatise I 2.6, S.  66 f.; vgl. auch Everitt 2004, S.  51 ff. Henrich bezeichnet diesen Einwand durchgehend als den ‚logischen‘; vgl. Henrich 1960.

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keit einer Prädikation, von der Anselms Argument ausgeht, nicht auf ihre Instantiierbarkeit geschlossen werden, geschweige denn auf die Notwendigkeit einer Instantiierung. An diesen Standardeinwänden fällt zunächst ihre innere Spannung auf. Der erste Einwand geht von der inneren Unverständlichkeit der Kennzeichnung ‚dasjenige, über dem nichts Größeres gedacht werden kann‘, aus. Der zweite Einwand gesteht im Gegensatz dazu gerade die Verständlichkeit einer solchen Kennzeichnung zu, bestreitet aber, dass damit für das Erreichen des Argumentationsziels irgendetwas gewonnen ist. Das ergibt zwar noch keinen Gegeneinwand. Man könnte beide Einwände als Glieder einer disjunktiven Widerlegungsstrategie auffassen. Dann sollte aber auch auffallen, dass die relevanten logischen Punkte auch ohne gründliche Logikkenntnisse leicht einzusehen sind, Anselm und seine Nachfolger also einen ziemlich elementaren logischen Fehler begingen, wenn sie tatsächlich so argumentierten, wie es die Kritiker unterstellen. Eine solche Unterstellung wäre also zumindest wenig wohlwollend. Ist es plausibel anzunehmen, dass Denker vom Format Anselms oder Des­ cartes’ derartig grundlegende Fehler begingen, ohne das zu bemerken? Diese Beobachtung artikuliert einen Verdacht und noch kein Argument. Tatsächlich übersehen die Kritiker jedoch einen hermeneutisch wichtigen Zug an Anselms Argument, nämlich die Tatsache, dass es nicht einfach mit den Kapiteln II bis IV abgeschlossen ist, sondern zu seiner inhaltlichen Entfaltung den Raum der gesamten Schrift benötigt. Das erste Kapitel benennt dabei die Voraussetzungen, Kapitel II bis IV präsentieren eine formalisierte Skizze des Arguments, aber erst die folgenden Kapitel erläutern den eigentlichen inferentiellen Gehalt. Damit ist schon ein erster gemeinsamer Fehler der Debatte zwischen Verteidigern und Kritikern des ontologischen Arguments von Spinoza und Leibniz bis zu Gödel und Plantinga einerseits, von Kant über Frege bis zu Lewis andererseits benannt: Beide Parteien konzentrieren ihre Untersuchung auf die formale Schlüssigkeit des Arguments. Dessen eigentliche Pointe erschließt sich aber erst in der inhaltlichen Reflexion. Diese Einsicht eint eine andere Fraktion von Kritikern des ontologischen Arguments, zu der Thomas von Aquin gehört, mit einer anderen Fraktion von Verteidigern desselben, zu der Descartes, Hegel und Schelling gehören. Von zentraler Bedeutung für das rechte Verständnis von Anselms Argument ist die Frage, wie die Kennzeichnung ‚dasjenige, über dem nichts Größeres gedacht werden kann‘ aufzufassen ist. Anselm selbst erläutert den Ausdruck durchaus präzise, und zwar bereits in dem ansonsten anders vorgehenden Monologion. Er bestimmt den Sinn dieser Kennzeichnung als Bezeichnung von etwas,

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III.  Erkenntnis des Transzendenten

„das durch sich selbst groß ist. Ich spreche aber nicht von einem räumlich Großen, wie es der Körper ist, sondern von dem, das, je größer es ist, umso besser oder würdiger ist, wie die Weisheit.“3

Damit ist schon der erste Einwand entkräftet, der mit einer Analogie zum Bereich der natürlichen Zahlen operiert. Denn hier wird nicht allein eine räumliche, sondern implizit auch eine überhaupt quantitative Deutung des Superlativs ‚das größte Denkbare‘ zurückgewiesen. Es geht hier um qualitative Größe, nicht um Quantität, um Größe im Sinne von Vollkommenheit, nicht im Sinne von Ausdehnung oder Umfang. Nur für quantitative Größe ist aber der Einwand berechtigt, dass die Kennzeichnung eines maximal Großen leer ist. Für manche Qualitäten gilt hingegen, dass für sie sehr wohl ein Maximum definiert ist, welches die Rolle eines begrifflichen non plus ultra spielt. Insbesondere gilt dies für evaluativ bedeutsame Qualitäten, deren Maximum zugleich ein Optimum ist, z. B. für Gesundheit. Ein vollkommen gesundes Lebewesen ist gesund schlechthin; mehr als das kann es aus begrifflichen Gründen nicht geben. Daher ist der Gedanke, ‚gesund‘ sei ein immer weiter steigerbares Adjektiv und zu jedem gesunden Lebewesen lasse sich im Prinzip immer noch ein gesünderes Lebewesen finden, grammatisch, logisch und metaphysisch verwirrt.4 Qualitäten, die ein Optimum zulassen, sind sprachlich daran zu erkennen, dass Instanzen des Superlativs zugleich den Standard des grammatischen Positivs definieren. Ein maximal gesundes Lebewesen ist gesund schlechthin und exemplifiziert den Begriff des Gesunden ohne jede Einschränkung; damit ist es zugleich Standard der Gesundheit. Wesen, die mehr oder weniger gesund sind, sind in dieser 3   „[…] quoniam quaecumque magna sunt, per unum aliquid magna sunt, quod magnum est per seipsum. Dico autem non magnum spatio, ut est corpus aliquid; sed quod quanto maius tanto melius est aut dignius; ut est sapientia. “ (Monologion II, S.  44) Dass die Nihil-melius-Formel eine Präzisierung der Nihil-maius-Formel ist, betont auch Marion, ebenso dass es sich um eine reine Denkbestimmung und nicht um die ontologische Kennzeichnung eines ens perfectissimum handelt. Vgl. Marion 2000, S.  93 ff. 4   Diesen grundlegenden Punkt betont später Leibniz, wenn er ausführt, dass Begriffe wie ‚die größte Zahl‘ oder ‚die höchste Geschwindigkeit‘ deswegen leer seien, weil sie einen Widerspruch in sich schlössen; vgl. MC, S.  38/39, sowie Brentano 1929, S.  23. Angesichts dessen verwundert es, wenn er von Descartes verlangt, dieser müsse zeigen, dass die Kennzeichnung eines Wesens als maximal vollkommen nicht ebenso leer sei. An der Verkennung des Unterschieds von quantitativer und qualitativer Größe scheitert auch Neuhaus’ an Vigor angelehnte Kritik des ontologischen Arguments; vgl. Neuhaus 2008. Denn obwohl hier anerkannt wird, dass Größe bei Anselm Vollkommenheit meint, wird die Widerlegung dennoch mengentheoretisch versucht. Das Problem einer mengentheoretischen Darstellung qualitativer Unterschiede wird dabei nicht reflektiert. Nach Pannenberg geht die mathematische Deutung der göttlichen Unendlichkeit auf Nikolaus von Kues zurück; vgl. Pannenberg 2007, S.  201. Doch das scheint zumindest ungenau gesagt, da der jeweils aus arithmetischen und geometrischen Paradigmen entnommene Unendlichkeitsbegriff auch bei Cusanus nur gewisse Metaphern der göttlichen Unendlichkeit bereitstellt, als Hilfsmittel der docta ignorantia, des nicht begreifenden Begreifens Gottes durch den menschlichen Geist. Vgl. Docta ignorantia I 26; Idiota de sapientia II, S.  75. Pannenberg selbst äußert sich durchaus in diesem Sinn; vgl. ebd., S.  203.

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Hinsicht mehr oder weniger so wie dieses Lebewesen; Wesen, die mehr oder weniger krank sind, weisen in dieser Hinsicht einen dazu mehr oder weniger konträren Habitus auf.5 Wie noch näher zu erörtern sein wird, gilt das Prinzip, dass ein Optimum nicht übertroffen werden kann, insbesondere für diejenigen Qualitäten, von denen Anselm dann mit Bezug auf Gott handelt, nämlich Wissen, Güte und Macht. Das wissendste Wesen von allen Wissenswesen müsste wissend schlechthin sein, d. h. allwissend bzw. ohne jegliche Unwissenheit. Darüber hinaus ist der Habitus des Wissens nicht mehr steigerbar. Allwissenheit ist das begriffliche Optimum des Wissens. Analog wäre das beste aller Wesen dasjenige, welches gut schlechthin, d. h. an welchem nichts Schlechtes wäre. Das mächtigste Wesen wäre ein solches, dessen Macht schlechthin unbeschränkt, d. h. welchem schlechthin alles möglich wäre. 6 Allwissenheit, uneingeschränkte Güte und Allmacht sind Optima des Wissens, des Guten und Mächtigen. Als solche sind sie Maxima. Es ist logisch unmöglich, mehr zu wissen als ein allwissendes Wesen, und gleiches gilt für Allmacht und Güte. Wenn Anselm daher die Kennzeichnung von etwas, über dem nichts Größeres gedacht werden kann, im Sinne eines Platzhalters für derartige Qualitäten verwendet, dann macht er mitnichten Gebrauch von einer in sich leeren Kennzeichnung. Im Gegenteil, eine solche Kennzeichnung hat einen begrifflich guten Sinn. Dass sie eine Instanz haben muss, ist Teil der zu erläuternden und zu begründenden These. Das führt zum zweiten Einwand, der vor der Verwechslung von Existenzaussagen und Prädikationen warnt. Dessen Erörterung wird allerdings deutlich mehr Raum einnehmen müssen. Dies kann schon deswegen in direkter Auseinandersetzung mit Anselm geschehen, weil das Argument bereits Anselm bekannt ist. Gaunilo von Marmoutier bringt es gegen Anselm vor, und Anselm weist es zurück. Gaunilo illustriert seinen Einwand mit folgendem Analogiebeispiel: „Manche sagen, dass es irgendwo im Ozean eine Insel gibt, welche einige wegen der Schwierigkeit oder vielmehr Unmöglichkeit zu entdecken, was es nicht gibt, ‚die Verlorene‘ genannt haben und von der sie fabulieren, dass sie viel fruchtbarer als die Inseln der Seligen sei, überquellend mit einer unschätzbaren Fülle an allen Reichtümern und Köst5  Den logischen Punkt von Anselms Superlativ sieht auch Strasser, vgl. Strasser 2000, S.  162 f. Seine daran anschließende Frage, ob die Unfähigkeit Gottes, Böses zu wollen, nicht eine Unvollkommenheit darstelle, (S.  163) fällt allerdings hinter das Niveau dieser Einsicht zurück. Diese so genannte Unfähigkeit, Böses zu wollen, kann einfach kein Mangel und keine Unvollkommenheit sein, am wenigsten aber ein Mangel an Freiheit, wie Strasser suggeriert. 6  Dass hier eine besonders hartnäckige philosophische Kontroverse der Theologiegeschichte von Augustinus über Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus bis zu Leibniz und Kant lokalisiert ist, ist bekannt, nämlich bezüglich der Frage, ob man Gott die Allmacht abspricht, wenn man seine Macht auf das logisch Mögliche beschränkt. Die theologische Brisanz der Frage liegt vor allem darin begründet, dass es sich um eine entscheidende Vorfrage jeder Theodizeedebatte handelt. Darauf wird unten zurückzukommen sein.

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lichkeiten, und da es keine Menschen gibt, die sie als Besitzer oder Bewohner besiedeln, übertrifft sie die bewohnten Landstriche hinsichtlich ihres Überflusses in jeder Hinsicht. Wenn jemand so etwas zu mir sagt, dann verstehe auch ich das Gesagte, worin keine Schwierigkeit enthalten ist, leicht. Aber wenn er anschließend hinzufügte: ‚Du kannst nicht länger bezweifeln, dass diese Insel, die vollkommener ist als alle anderen Landstriche, ebenso in Wirklichkeit existiert wie zweifellos in Deinem Verstand, weil es vollkommener ist, nicht allein im Verstand, sondern auch wirklich zu existieren. Ferner existiert sie notwendig, denn existierte sie nicht, dann wäre jeder beliebige Landstrich vollkommener als sie, so dass sie, die in Deinem Verstand vollkommener ist als alle, nicht vollkommener als alle wäre‘, wenn er mir auf diese Weise andemonstrieren wollte, dass die Existenz dieser Insel nicht mehr zu bezweifeln sei, dann würde ich entweder glauben, dass er scherzt, oder nicht wissen, wen ich für dümmer halten soll: mich, wenn ich ihm Recht gäbe, oder ihn, wenn er glaubte, das Sein dieser Insel demonstriert zu haben […].“7

Daher fordert Gaunilo, ganz in Übereinstimmung mit späteren Kritikern wie Kant, dass man sich hier wie auch in jedem anderen Fall vergewissern müsse, ob es die Sache gebe, von der die Rede sei, bevor man versuche, etwas Wahres von ihr auszusagen, 8 und wenn eine solche Vergewisserung nicht möglich sei, dann dürfe man eben nicht mit dem Anspruch auf Wissen Behauptungen über sie vorbringen. Nun gibt es für Gaunilo nur eine Methode einer solchen Vergewisserung, nämlich (1) über die vorgängige Bestimmung ihres Wesens und ihrer Eigenschaften sowie (2) die Prüfung, ob es etwas gebe, worauf die gefundene Bestimmung passt. Die unter (1) geforderte Wesensbestimmung könne ferner nur auf zweierlei Weise betrieben werden, nämlich entweder durch direkte Bekanntschaft mit der fraglichen Sache – was (2) erübrigen würde – oder durch einen Analogieschluss von Wesen und Eigenschaften art- oder wenigstens gattungsgleicher Wesen auf Wesen und Eigenschaften der gesuchten Sache.9 Beide Verfahren scheitern aber notwendig an der Aufgabe der Gotteserkenntnis: Gott kann – abgesehen allenfalls von der möglichen Gottesschau einiger Seliger – in   „[…] Aiunt quidam alicubi oceani esse insulam, quam ex difficultate vel potius impossibilitate inveniendi quod non est, cognominant aliqui ‚perditam‘, quamque fabulantur multo amplius quam de fortunatis insulis fertur, divitiarum deliciarumque omnium inaestimabili ubertate pollere, nulloque possessore aut habitatore universis aliis quas incolunt homines, terris possidendorum redundantia usquequaque praestare. Hoc ita esse dicat mihi quispiam, et ego facile dictum, in quo nihil est difficultas, intelligam. At si tunc velut consequenter ad­ iungat ac dicat: non potes ultra dubitare insulam illam terris omnibus praestantiorem vere esse alicubi in re, quam et in intellectu tuo non ambigis esse; et quia praestantius est non in intellectu solo, sed etiam esse in re; ideo sic eam necesse est esse, quia nisi fuerit, quaecumque alia in re est terra, praestantior illa erit, ac sic ipsa iam a te praestantior intellecta praestantior non erit; si, inquam, per haec ille mihi velit astruere de insula illa quod vere sit ambigendum ultra non esse; aut iocari illum credam, aut nescio stultiorem debeam reputare, utrum me, si ei concedam, an illum, si se putet aliqua certitudine insulae illius essentiam astruxisse [...].“ In: Proslogion, S.  141 f. 8   „Prius enim certum mihi necesse est fiat re vera esse alicubi maius ipsum et tum demum ex eo, quod maius est omnibus, in seipso quoque subsistere non erit ambiguum.“ (Ebd., S.  141) 9   Vgl. ebd., S.  139 f. 7

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diesem Leben weder ein Gegenstand unmittelbarer Bekanntschaft sein, noch ist es möglich, sein Wesen über die Kenntnis art- oder gattungsgleicher Gegenstände zu bestimmen, weil Gott als transzendentes Wesen über allen Gattungen und Arten steht und deshalb unter keine davon fallen kann. Selbst die Kategorien der Substanz oder der Person können von Gott allenfalls in einem übertragenen Sinn ausgesagt werden.10 Wenn das so ist, dann kann es für Gaunilo daher gar keine Möglichkeit der Gotteserkenntnis in diesem Leben geben, sondern nur den durch Liebe und Hoffnung gestützten Glauben an seine Existenz. Gaunilo plädiert daher für den Fideismus in theologischen Fragen.11 Anselm erzeuge nun aber den Anschein, als sei eine rein rationale, d. h. auf Vernunftgründe gestützte Erkenntnis Gottes doch möglich. Das tue er, indem er die Methode wissenschaftlicher Erkenntnis auf den Kopf stelle: Er setze lediglich die vage superlativische Kennzeichnung einer Sache, über der nichts Größeres gedacht werden könne, an den Anfang seiner Überlegung, und leite schon daraus eine Existenzaussage ab. Aber erstens kann – das legen Gaunilos Bedenken zumindest nahe, auch wenn er das entsprechende logische Prinzip nicht explizit nennt – aus einer bloßen Kennzeichnung unter keinen Umständen eine Exis­ tenz­ aussage abgeleitet werden. In diesem Punkt verhalten sich Kennzeichnungen logisch wie Nominaldefinitionen, für die das Gleiche gilt. Und zweitens sei schon der vage Superlativ in sich gar nicht recht verständlich, ein Schluss daraus daher erst recht nicht möglich.12 Anselm reagiert auf diesen Einwand gelassen. „Ich versichere zuversichtlich: Wenn mir jemand entweder der Sache nach oder auch nur im Denken etwas außer demjenigen, ‚über dem Größeres nicht gedacht werden kann‘, findet, worauf diese meine Argumentation ebenfalls passt, dann werde ich jene verlorene Insel finden und ihm zurückgeben, damit sie künftig nicht mehr verlorengeht.“13

Den allgemeinen Einwand, dass Existenzaussagen weder Prädikationen noch Kennzeichnungen noch aus Prädikationen oder Kennzeichnungen ableitbar sind, gesteht Anselm also von vornherein zu. Gaunilo und seine Nachfolger bis hin zu Kant, Mackie und Lewis können ihm in diesem Punkt keine Logiklekti10   Auf die analogia entis als Bedingung der logischen Möglichkeit theologischer Rede wird noch zurückzukommen sein. 11   Jedenfalls folgt dies aus seinem methodischen Einwand gegen Anselms Vorgehen. Wenn er daher am Schluss seiner Kritik Anselm verbal ermutigt, sein Argument stärker (robustior) zu machen, (ebd., S.  143) dann ist das wohl als Höflichkeitsformel zu verstehen. 12   Man sieht hier, wie im Grunde schon Gaunilo eine disjunktive Widerlegungsstrategie verfolgt, indem er zunächst die Verständlichkeit der Anselmschen Kennzeichnung zugesteht, dieses Zugeständnis in einem zweiten Schritt aber wieder zurücknimmt. Die logischen Bedenken gegen Anselms Verfahren stützen sich auf die Prinzipien der aristotelischen Definitionslehre, allem Anschein nach vor allem auf Topik ∆ 4, 141 a ff. 13   „Fidens loquor quia, si quis invenerit mihi aut re ipsa aut sola cogitatione existens praeter ‚quo maius cogitari non possit‘, cui aptare valeat connexionem huius meae argumentationis: inveniam et dabo illi perditam insulam amplius non perdendam.“ Ebd., S.  147.

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III.  Erkenntnis des Transzendenten

on erteilen, die ihm nicht bekannt wäre. Dagegen beharrt Anselm darauf, dass es sich bei der von ihm erwogenen Kennzeichnung von etwas, über dem nichts Größeres und Vollkommeneres gedacht werden könne, um eine Ausnahme von der Regel halte. In diesem Fall sei nämlich der Schluss von der Kennzeichnung auf die Existenzaussage zulässig.14 Denn Gaunilo habe nicht Recht mit dem Vorwurf, dass die fragliche Kennzeichnung vage und unverständlich sei. Sie sei vielmehr denkbar präzise, und der Schluss auf die Existenz der so zu kennzeichnenden Sache sei zwingend.15 Aber wie kann er das glauben?

2.  Anselm über das Gute Zur Beantwortung dieser Frage ist ein weiteres Mal das Monologion instruktiv, nämlich als Vorstufe zu Anselms eigentlichem Argument. Denn hier setzt er anders als im späteren Proslogion bei der gemeinsamen Erfahrung des innerweltlich Guten an und argumentiert, anders als später, auf ontologischer Basis. Die Erfahrung des Guten führt ihn zur Frage nach dessen Ursache. Dass das Gute wirklich in der Welt und als solches erfahrbar ist, scheint ihm dabei eine kaum bestreitbare Tatsache zu sein. Wir unterscheiden Gegenstände der Erfahrung ebenso nach gut und schlecht, wie wir sie nach groß und klein unterscheiden. Ebenso klar ist aber, dass die Güte oder Schlechtigkeit einer Sache nicht kontextfrei von gut oder schlecht machenden Eigenschaften abhängen kann, wie es vielleicht zunächst naheliegt zu vermuten. Denn ein schnelles Pferd ist ein gutes Rennpferd, aber ein schneller Dieb besonders gefährlich und insofern besonders schlecht.16 Das liegt daran, dass ein schnelles Pferd bei Pferderennen oder für Botenritte seinem Besitzer ausgesprochen nützlich ist, während ein schneller Dieb seinen Mitmenschen sehr schädlich werden kann. Aber auch Nutzen und Schaden sind keine ersten bzw. letzten Ursprünge des Guten, weil sie ihrem Begriff nach über sich selbst hinausweisen. Nützlich ist eine Sache nämlich nur dann, wenn sie etwas zu erhalten oder herbeizuführen hilft, was seinerseits gut ist. Dieses Gute kann nun entweder selbst gut im Sinne des Nütz14   Den exzeptionellen Charakter des Schlusses betont zu Recht auch Plantinga, vgl. Plantinga 2011, S.  454. 15   Vgl. mit Voranstehendem auch die kurze, aber präzise Darstellung in Brentano 1929, S.  20 f. Gaunilo paraphrasiert Anselms Kennzeichnung manchmal als ‚das, was größer ist als alles andere‘, manchmal auch mit ‚das, was größer ist als alles Denkbare‘ (vgl. Proslogion, S.  140). Anselm weist demgegenüber auf die Verschiedenheit der logischen Merkmale dieser beiden Kennzeichnungen von seiner eigenen hin (vgl. ebd., S.  149). Vgl. auch Hindrichs 2012, S.  186. 16  Vgl. Monologion I, S.  42/43. Die von Peter Geach erneut stark gemachte Unterscheidung attributiver und prädikativer Verwendungen des Prädikats ‚gut‘ (vgl. Geach 1956) verdankt sich eher einer aristotelisch-thomistischen Logik und Ontologie und ist bei Anselm nicht in gleicher Weise angelegt. Allerdings legen Anselms eigene Überlegungen sie schon durchaus nahe.

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lichen sein, wodurch die Frage nach dem ursprünglich Guten verschoben wird, wenn auch unmöglich ad infinitum, da sich andernfalls von keiner Sache wirklich angeben ließe, ob sie gut oder schlecht ist. Oder das fragliche Gute ist in sich gut und damit die gesuchte Quelle des Guten und des Nutzens. Nutzen und Schaden können aus logischen Gründen nicht ursprünglich gut bzw. schlecht und damit auch keine Quellen des Guten oder Schlechten sein, sondern sie gehören zu dem, was aus diesen Quellen fließt.17 Neben dem Nützlichen nennt Anselm noch das Gerechte (iustum), das Schöne (pulchrum) und das Edle (honestum) als weitere Arten des erfahrbaren Guten, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen, aber ebenso wie das Nützliche die Frage nach ihrer Quelle aufwerfen, auch wenn das Gerechte, das Schöne und das Edle anders als das Nützliche aus sich heraus gut zu sein scheinen, also nicht nur dadurch, dass sie auf ein anderes Gutes funktional hingeordnet sind. In gewisser Weise macht diese Beobachtung die Frage nach ihrem Ursprung nur noch dringlicher. Doch wonach ist hier genau gefragt? Offenbar müssen zwei Teilfragen unterschieden werden, nämlich die nach dem Maßstab des Guten, der es erlaubt, unterschiedliche Dinge als mehr oder weniger gerecht, schön oder edel und damit als mehr oder weniger gut zu beurteilen, und die nach der Ursache des Guten.18 Die erste Frage führt zum Problem des Guten als eines transzendentalen Begriffs, die zweite zum Problem der Schöpfung. Gerechtigkeit, Schönheit und Adel (im ursprünglichen Wortsinn) sind in sich gut. Das heißt, dass Gerechtes, Schönes oder Edles gut ist, weil es gerecht, schön oder edel ist. Zugleich definieren die Begriffe der Gerechtigkeit, der Schönheit und des Adels als Ideale spezifische Maßstäbe, nach denen sich etwas als mehr oder weniger gerecht, schön oder edel beurteilen lässt. Das Gerechte ist gut als Gerechtes, das Schöne als Schönes, das Edle als Edles. Darin ist auch enthalten, dass nur von bestimmten Gegenständen ausgesagt werden kann, dass sie gerecht sind, z. B. Menschen, und nur in bestimmten, spezifischen Hinsichten, z. B. als Richter, Kaufleute, Könige oder als Eltern. Die Gerechtigkeit eines Richters ist eine andere als die eines Kaufmanns, Königs, eines Vaters oder einer Mutter. Gleiches gilt für das Schöne und das Edle. Schön können nur Gegenstände und 17   Das Argument richtet sich so gegen jeden Versuch einer funktionalistischen Reduktion des Guten auf das Zuträgliche, Dienliche oder Förderliche. Solche Versuche gibt es u. a. sowohl in funktionalen Theorien der Moral (in denen ‚moralisch gut‘ etwa mit ‚gut für die Gemeinschaft‘ gleichgesetzt wird) als auch in gewissen Theorien im Kontext der ökologischen Ethik (in denen der Lebenswert eines Organismus oder einer Spezies mit ihrer Funktion für die Stabilität eines so genannten Ökosystems gleichgesetzt wird). Anselm paraphrasiert hier einen Gedanken aus Platons Philebos 20. 18   Vgl. F. S.  Schmitt, Einführung, in: Monologion, S.  20 ff. Schmitt betont mit Nachdruck, dass Anselm anders als Augustinus die beiden Fragen streng unterscheidet und die Frage nach der ersten Ursache des Guten noch nicht mit der Beantwortung der Frage nach dem höchsten Maßstab des Guten für beantwortet hält.

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Prozesse der sinnlichen Wahrnehmung sein, z. B. Lebewesen, Landschaften oder Artefakte, aber Lebewesen sind auf eine andere Weise schön als Landschaften oder Artefakte. Adel im ursprünglichen Wortsinn wiederum ist eine spezifische ethische Vollkommenheit der menschlichen Seele bzw. des menschlichen Charakters und seiner Äußerungen, also seines Verhaltens und seiner Handlungen.19 Das Gerechte, Schöne und Edle benennen überlappende Wertsphären. Eine Handlung kann zugleich gerecht, schön und edel sein, ein Artefakt hingegen schön, nicht aber gerecht, während ein Gerechter nicht auch edel sein muss. Die Begriffe des Gerechten, Schönen und Edlen differieren extensional, sind aber keine disjunkten Arten des Guten. All diese Beobachtungen drängen den Schluss auf, dass ‚gut‘ kein Gattungsbegriff ist. Das Gute ist keine Gattung des Seienden. Aber es ist auch kein mehrdeutiger Begriff. In Paaren von Sätzen wie ‚Ein guter Richter ist gerecht‘ und ‚Eine schöne Tat ist eine gute Tat‘ wird das Prädikat ‚gut‘ nicht äquivok verwendet. ‚Gut‘ hat vielmehr eine einheitliche Bedeutung, obwohl das Gute kein Genus bildet. Die Bedeutung dieses Begriffs ist vielmehr transkategorial oder, wie man in der späteren scholastischen Philosophie sagt, transzendental. Das hat dieser Begriff mit den Begriffen des Seins, des Einen und des Wahren gemeinsam. Transzendentale Begriffe werden über Gattungsgrenzen hinweg ausgesagt, auch über die Grenzen der obersten Gattungen, der Kategorien hinweg, und das heißt, weder univok noch äquivok, sondern analog.20 Anselm steht die explizite Unterscheidung zwischen Kategorien und Transzendentalien noch nicht zur Verfügung. Aber der Sache nach laufen seine Überlegungen zum maßstäblichen Ursprung des Guten auf diese Unterscheidung hinaus. Nur als transzendentaler Begriff kann nämlich das Gute Maß der guten und der schlechten Dinge in der Welt sein. Kein innerweltliches, kategorial bestimmtes Seiendes kann Maßstab der Güte alles anderen innerweltlich Guten sein. Ein solcher transzendentaler Maßstab muss vielmehr zugleich trans­zendent sein, da alles immanent Seiende nur ein kategorial bestimmtes sein kann.21 19   Hierher, also in das Feld des spezifisch Guten, gehört dann auch Geachs Analyse des attributiven Gebrauchs von ‚gut‘. Aus Anselms Analayse geht aber ebenso hervor, dass eine Reduktion aller Gebrauchsweisen von ‚gut‘ auf den attributiven Gebrauch logisch widersprüchlich und metaphysisch widersinnig ist. Vgl. dazu auch die Kontroverse zwischen Jo­ seph Raz und Christine Korsgaard in Raz 2003. 20   Vgl. Hindrichs 2008, S.  52. Moore entdeckt den transzendentalen Charakter des Guten in den Principia Ethica noch einmal; vgl. Moore 1903, §  13 f., allerdings ohne sich dessen bewusst zu sein. 21   Hindrichs 2008, §  26 betont zu Recht, dass die von Anselm verwendeten Redeformen keinesfalls eine platonistische Hypostasierung von Ideen wie der des Wahren oder Guten voraussetzen. Das gilt schon für das Monologion und nicht erst für das Proslogion. Der Schluss

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Damit ist die Seinsweise desjenigen Guten, das schlechthin gut und damit transzendentes Maß alles Guten und Schlechten ist, aber nur negativ bestimmt. Das schlechthin Gute darf nicht als ein innerweltlich Seiendes neben anderen verstanden werden, weder als Gattung noch als Individuum. Dennoch ist das Gute etwas bzw. ein Seiendes und nicht etwa nichts, da es sonst kein Maßstab sein könnte. „Dass also diese Natur, ohne die keine Natur ist, nichts sei, ist so falsch, wie es absurd ist, wenn man sagt, alles, was ist, sei nichts.“22

Das Gute muss also positiv bestimmt bzw. in irgendeinem zu erläuternden Sinn ‚eine Natur‘ sein. Aber in welchem Sinn? Anselm versucht, sich einer Antwort auf diese Frage noch auf eine andere Weise zu nähern, nämlich indem er über den ontologischen Rang verschiedener Gattungen des Seienden nachdenkt, wobei sich dem unbefangenen Denken von sich aus die Einsicht aufdränge, „dass das Pferd seiner Natur nach besser ist als das Holz und der Mensch vorzüglicher als das Pferd“.23 Das impliziert zum einen, dass ein Stück Holz als Holz gut oder schlecht sein kann (z. B. trocken, fest, elastisch, leicht brennbar, oder aber zu feucht, morsch, wurmstichig, etc.), ein Pferd als Pferd (schnell oder langsam, stark oder schwächlich, gesund oder kränklich, ausdauernd oder leicht zu ermüden, etc.), ein Mensch schließlich als Mensch (z. B. klug oder dumm, tapfer oder feige, weise oder töricht, etc.). Es impliziert zum anderen, dass ein Pferd, selbst ein schlechtes Pferd, besser und ontologisch vollkommener ist als selbst eine gute Portion Holz und dass ein Mensch, selbst ein schlechter Mensch, besser und vorzüglicher ist als ein gutes Pferd. Die Gattungen des Seienden ordnen sich zugleich als Rangstufen des Seins an, und dieser Rang ist es, der sich unserem Denken von sich aus als anerkennungswürdig aufdrängt. 24 Doch diese Ordnung muss nach oben hin begrenzt sein, wie Anselm behauptet. Es sei nicht denkbar, dass sich zu jeder Stufe des Guten, Edlen und Kostbaren eine noch höhere Stufe finden oder auch nur denken lasse. „Das […] hält niemand für nicht widersinnig, außer wer allzu widersinnig ist.“25 auf die Existenz des höchsten Guten bzw. des größten und besten Denkbaren stützt sich weder auf subsistierende Ideen noch auf ein ontologisches Gefälle hin zu den an den Ideen partizipierenden Dingen. Vgl. F. S.  Schmitt, Einführung, in: Monologion, S.  20 ff. Für die anderslautende Standardlesart von Anselms Argument vgl. etwa Röd 2009, S.  15 f., sowie Enders 2012, S.  243 f. 22   „Quod igitur illa natura, sine qua nulla est natura, sit nihil, tam falsum est quam absurdum erit, si dicatur quidquid est nihil esse.“ (Monologion VI, S.  54/55) 23   Monologion IV, S.  48/49. 24   Für Gattungen lässt sich dieser Gedanke leichter plausibilisieren als für Arten. Dass beispielsweise Affen ein höherer ontologischer Rang zukommt als Mücken oder Würmern, leuchtet leichter ein als die Behauptung, Gorillas seien eine edlere Spezies als Schimpansen oder Makaken, oder umgekehrt. Anscheinend ist es möglich, dass gattungsgleichen Arten der gleiche ontologische Rang zukommt. 25   „Hoc […] nemo non putat absurdum, nisi qui nimis est absurdus.” (Ebd.)

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Der Grund dafür wurde oben schon genannt. Es gibt deswegen nicht zu jedem beliebigen Guten ein Besseres, weil das Gute das Vollkommene ist und weil das schlechthin Vollkommene durch kein noch Besseres übertroffen werden kann. Hier nun wendet Anselm diese begriffliche Überlegung ontologisch: das schlechthin Gute muss als oberstes Gutes selbst Abschluss und Vollendung der Seinsordnung und damit ein Seiendes sein. Diese These hat mit dem zweiten Aspekt zu tun, der Frage nach der Ursache des Guten. Nach Anselm sind alle gerechten Dinge durch etwas (per aliud) gerecht, alle edlen edel durch etwas und ebenso alle nützlichen und schönen Dinge nützlich und schön durch etwas. Wenn er nun weiter ausführt, dass die gerechten Dinge durch die Gerechtigkeit (per iustitiam) gerecht sind, 26 so ist diese Auskunft im Lichte der Unterscheidung zwischen Maß und Quelle des Guten, Gerechten, Nützlichen, Edlen und Schönen weiter zu differenzieren. Denn zum einen haben sie die genannten Eigenschaften insofern, als sie dem Maßstab des Guten, Gerechten etc. hinreichend entsprechen, d. h. durch den Besitz der durch den Maßstab bestimmten Eigenschaft in einem hinreichenden Grad. Zum anderen haben sie diese Eigenschaften daher, dass sie aus etwas hervorgegangen sind, d. h. weil es eine Ursache dafür gibt, dass sie so beschaffen sind, wie sie es sind. Und zwar muss diese Ursache selbst die fragliche Eigenschaft besitzen. So kann nur etwas Gerechtes die Ursache der Gerechtigkeit von etwas anderem sein, nur etwas Schönes die der Schönheit einer anderen Sache, etc. Zum Beispiel ist eine Handlung deswegen gerecht, weil sie die Handlung einer gerechten Person ist; hier ist die gerechte Seele des Akteurs Ursache der Gerechtigkeit seiner Handlung. Vielleicht ist diese insbesondere deswegen gerecht, weil sie eine Handlung aus Achtung vor einem gerechten Gesetz ist; dann wäre das gerechte Gesetz die besondere Ursache des gerechten Tuns. Analog dazu ist Ursache der Schönheit eines Kunstwerkes neben technischem Können vor allem die Schönheit des Werkentwurfs im Geist des Künstlers, und zwar als dessen Exemplarursache, 27 die Ursache der Schönheit eines bestimmten Lebewesens – zumindest grosso modo – die Schönheit mindestens eines Elternteils oder eines Ahnen, etc. Allgemein bedeutet die These, dass alles Gute etc. durch etwas gut etc. ist, in kausaler Hinsicht Folgendes: Gutes wird durch etwas Gutes hervorgebracht oder erzeugt, und das Gleiche gilt auch für die spezielleren Vollkommenheiten, die Anselm im Monologion unterscheidet. Andernfalls wäre die Entstehung des Guten und Vollkommenen unbegreiflich, da etwas Schlechtes nicht oder jedenfalls nicht allein etwas Gutes verursachen kann, es sei denn, es gibt kontingente Umstände, zu denen auch der kausale Einfluss eines anderen Guten gehört. Die Ungerechtigkeit einer Person kann als solche keine gerechten Handlungen verursachen, sondern nur ungerechte. Die Hässlichkeit eines Werkentwurfs kann   Vgl. ebd., S.  42/43.   Vgl. zu diesem Beispiel auch Proslogion, S.  84/85.

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nicht Ursache der Schönheit des danach gefertigten Werkes sein, 28 etc. Das Gute einer Sache kann auch nicht zufällig, d. h. aus einer evaluativ indifferenten Ursache entstehen.29 Die Güte eines endlichen Seienden wird vielmehr jeweils von einer guten Ursache auf eine gute Wirkung vererbt.30 Doch Anselms These muss noch stärker sein und besagen, dass die Güte der Ursache mindestens so groß sein muss wie die der Wirkung.31 Denn andernfalls wäre die Entstehung eines Guten aus einem Wertindifferenten doch möglich. Will man das ausschließen, dann muss man sagen, dass jedes Gute einem mindestens ebenso Guten entspringt, ein schönes Kunstwerk dem Geist eines guten Künstlers, ein schöner Mensch als Kind schöner Menschen, die ethische Tugend als Effekt einer guten Erziehung, etc. Umfang und Macht des Guten in der Ursache müssen dem Umfang des Guten im Bewirkten mindestens entsprechen. Gutes kann nur von Gutem bewirkt werden, Vollkommenes nur von Vollkommenem. Das heißt nicht etwa, dass ein gutes Seiendes in der Geschichte seiner Existenz nicht noch besser werden kann, als es anfänglich ist. Es heißt aber, dass die Möglichkeit dazu schon anfänglich in ihm angelegt sein muss, und diese Möglichkeit muss es von seiner Ursache geerbt haben.32 Für möglichen Fortschritt in menschlichen Dingen bedeutet das, dass derlei nur dann möglich ist, wenn die Möglichkeit des Fortschritts in der ererbten menschlichen Natur gegründet ist. Der so genannte ‚Neue Mensch‘ der modernen Utopien muss aus dieser Perspektive eine Schimäre bleiben, durchaus im Unterschied zu seinem theologischen Vorläufer, dem durch Christus erneuerten Menschen. So gesehen wären aber auch jedem Versuch der technischen Optimierung des Menschen,

28   Auch nicht im zumindest vorstellbaren Fall, dass der hässliche Entwurf in der Ausführung auf Grund des technischen Unvermögens des Künstlers misslingt und so ein schönes Werk entsteht. Dieser Fall ist deswegen wenn nicht gänzlich unmöglich, so doch extrem zufällig und unwahrscheinlich, weil zwei geistig bedingte Unvollkommenheiten im Allgemeinen auch dann keine geistige Vollkommenheit erzeugen können, wenn sie gegenläufig sind. 29   Die Schönheit spontaner Kunstwerke, z. B. in musikalischen Improvisationen, liefert keine wirklichen Gegenbeispiele, da hier die poietische Kompetenz des Künstlers nächste Ursache des schönen Werkes ist, und diese ist ihrerseits etwas Gutes. Schwierigkeiten bekommt die These aber im Bereich flüchtiger, zufälliger Schönheiten der unbelebten Natur wie Eisblumen oder Wolkenbildungen. Die These, dass in sich schlechte Ursachen keine guten Wirkungen haben können, wird von Strasser bestritten. Vgl. Strasser 2000, S.  175. Die Relevanz dieser Frage für die Theodizeeproblematik liegt auf der Hand; dazu mehr unten in VII 1. 30   Allerdings schließt das Argument nur in einer Richtung, nämlich von der Wirkung auf die Ursache. Was gut ist, dessen Güte ist von etwas Gutem verursacht. Umgekehrt gilt nicht, dass etwas Gutes nur Gutes bewirken kann. Gutes kann durchaus Schlechtes bewirken, wenn auch nur akzidentell. 31   Die These findet sich nicht so explizit im Monologion; am nächsten kommt ihr Kap.  2 mit dem Theorem, dass alles Große durch etwas Großes groß ist. Denn hier ist offenkundig Größe im Sinne von Vollkommenheit gemeint. 32   Deswegen ist Blochs Absage an eine teleologische Determination der Materie (vgl. oben, II 2) begrifflich wie metaphysisch so schwierig.

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jedem so genannten enhancement, prinzipielle ontologische Grenzen gesetzt, und nicht erst moralische, wie viele Autoren meinen.33 Nun ist ferner jedes erzeugte Gute notwendig abhängig von seiner guten Ursache. Ist dieses wie in den genannten Beispielen wiederum ein erzeugtes Gutes, dann ist es seinerseits hinsichtlich seiner Güte abhängig von seiner nächsten Ursache. Das gilt für jedes endliche Gute. Seine Existenz (esse) und seine Güte (bonum) hängen von der Existenz und Beschaffenheit des jeweils ursächlichen Seienden ab, etc.34 In einem weiteren Schritt versucht Anselm nun zu zeigen, dass es eine Erstursache alles Guten geben muss, so dass alles Gute letztlich aus einer gewissen einheitlichen Entität (per unum aliquid) das Sein empfängt, das selbst in sich vollendet gut und in seinem Sein und seiner Güte von keinem höheren Sein mehr abhängig ist.35 Diese Entität muss ein erstes und höchstes Gutes sein, weil ihr Sein andernfalls wiederum von einem noch früheren und höheren Sein abhängig wäre, und sie muss einheitlich (unum) sein, weil eine Vielheit von höchsten Guten ihre Güte entweder wiederum von einem noch höheren Guten erhalten müsste – dann wären diese mannigfaltigen Guten nichts Erstes – oder aber hinsichtlich der Güte in Wechselwirkung stünde. Das aber ist unmöglich, da kein Seiendes zugleich Ursache und Wirkung der Existenz und Güte eines anderen sein kann. Nichts Relatives wird durch eine Relation ins Sein gebracht. Denn zwar ist ein Herr dadurch Herr, dass er einen Knecht hat, und umgekehrt. Aber in dieser Relation können sie nur dadurch stehen, dass sie als Substanzen durch artgemäße Ursachen ins Sein gebracht, in diesem Fall von Eltern gezeugt und geboren worden sind.36 Daraus folgert Anselm, (1) dass es ein einziges und höchstes Gutes geben muss und (2) dass dieses höchste Gute durch sich selbst (per se) existiert.37 Allerdings folgt die These, dass ein höchstes Gutes Ursache alles übrigen Guten sein muss, aus den oben angeführten Prämissen noch nicht. Denn zunächst besagt das Prinzip der notwendigen Verursachung jedes Guten ja nur, dass alles Gute von einem mindestens ebenso Guten verursacht sein muss, nicht unbedingt aber von einem Besseren, zumindest nicht von einem solchen, welches notwendig besser ist, als es das von ihm Verursachte jemals sein kann. Anselm glaubt zwar, dass dies der Fall sein muss. Zumindest lassen sich seine einschlägigen Überlegungen im Monologion so interpretieren: Einzelne Lebewesen kommen durch artgleiche Lebewesen ins Sein und damit durch etwas jeweils   Vgl. etwa Gesang 2007 sowie Knell/Weber 2009, Kap.  3.  Vgl. Monologion III, S.  4 4/45. 35   Vgl. ebd. 36   Vgl. ebd., S.  46/47. 37   An diesen Gedanken knüpft später Descartes mit der Lehre von Gott als causa sui an, wie sich im folgenden Kapitel zeigen wird. Es handelt sich bei der causa sui in Descartes’ Sinn nicht um eine Selbstverursachung im Sinne einer Selbsterzeugung. Zu dieser Klarstellung wird Descartes durch Arnauld genötigt. 33

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gleich Gutes; doch die gesamte Spezies kommt als solche nicht durch sich selbst ins Sein, sondern in Abhängigkeit von einem Größeren und Mächtigeren, dem sie ihr Wesen und ihre Vorzüge verdankt. Besonders deutlich wird dies am Menschen, denn der Mensch ist wohl das beste aller Lebewesen, aber er bringt sein Wesen und seine Wesensvorzüge nicht durch sich selbst ins Sein. Das Sein des Menschen ist ebenso abhängig wie das aller übrigen Lebewesen. Aber diese naturphilosophische Überlegung ist nicht zwingend, da man alternativ dazu von einer unveränderlichen, unentstandenen Gesamtordnung der Natur ausgehen könnte. Wenn nun die Spezies als solche schon immer existiert haben, dann muss ihre Existenz nicht mehr auf eine äußere Ursache zurückgeführt werden, und für den Erhalt ihrer Wesensvorzüge könnten die Angehörigen der Spezies durch Fortpflanzung selbst Sorge tragen. In Anselms Überlegung fehlt mithin ein Argument für die Unmöglichkeit einer unentstandenen Natur.38 Daran lassen sich noch weitere Einwände gegen seinen Versuch anschließen, die Existenz Gottes aus der Ordnung des Seins und der Natur zu erschließen. Denn wenn es denkbar ist, dass die Vollkommenheitsstufen des Seienden auch ohne erste, schlechthin vollkommene Ursache existieren können, da jede Gattung des Seienden sich auf der ihr wesenseigenen Vollkommenheitsstufe erhält, dann entfällt ein zentrales Argument für die These, dass das schlechthin Gute ein selbständig Seiendes sein muss. Es müsste selbständig bzw. substantiell sein, wenn es als Ursache alles Guten notwendig wäre. Nun scheint es aber, als bedürfte es einer solchen Ursache gar nicht, jedenfalls dann nicht, wenn man etwa mit Aristoteles eine ewige, unabänderliche Seinsordnung annähme. Zwar bliebe damit die Ordnung als solche unerklärt. Der Aristoteliker könnte aber zurückfragen, was genau eine Erklärung hier noch leisten soll. Denn wenn eine ewige und unabänderliche Ordnung des Seins den Rahmen abgäbe, innerhalb dessen sich alles Erklären und Verstehen bewegen müsste, dann scheint jeder Versuch, diesen Rahmen selbst noch einmal zu erklären, ins Leere gehen zu müssen.39

38   Empirische Funde wie fossile Spuren der Angehörigen ausgestorbener Spezies oder auch das Fehlen entsprechender Spuren rezenter Spezies in älteren Erdschichten sind zwar Indizien, können die Frage nach der Temporalität oder Überzeitlichkeit der Ordnung des Lebendigen aber nicht entscheiden. Thomas lehrt, dass die Temporalität und Geschichtlichkeit der Natur nicht bewiesen, sondern nur im Glauben festgehalten werden könnten, zumal auch ihre Ewigkeit nicht beweisbar sei. Vgl. die gründliche Erörterung dieses Problemkomplexes in SG II, Kap.  32–38, sowie kürzer in STh I, q.  46 a.  2. Historisch betrachtet hat sich die theologische Auffassung von der Zeitlichkeit der Natur gegenüber der aristotelischen bis in die moderne Naturwissenschaft hinein durchgesetzt. 39   Es kann hier durchaus offen bleiben, ob der Einwand tatsächlich mehr ist als ad hominem. Aristoteles gelangt auf Grundlage seiner Kosmologie bekanntlich zu dem genau entgegengesetzten Resultat, dass alles innerweltlich Gute innerhalb des ewigen Kosmos auf ein höchstes Gutes als dessen erste Finalursache verweist. Mehr dazu unten in V. Anselms bisher erörtertes ontologisches Argument reicht dazu aber in keinem Fall aus.

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Umgekehrt brächte der Verzicht auf die These, dass das oberste Gute als trans­zendenter Maßstab alles Guten substantiell sein muss, den Gedanken unter weiteren Druck, dass dieser Maßstab auch Ursache alles Guten sein kann. Denn das kann von einem rein qualitativen, nichtsubstantiellen Guten einfach nicht gelten, da eine Qualität, wie vollkommen sie auch sei, als solche keine Qualitäten bewirken kann. Der doppelte Gedanke von Gott als Maßstab und Quelle alles Guten stabilisiert sich im Monologion auf prekäre Weise: Die beiden Teile dieses Gedankens stützen einander, solange keiner von beiden in Frage gestellt wird. Sie unterminieren einander, wenn man einen von ihnen kritisch hinterfragt. Es gelingt Anselm zudem nicht, eine unauflösliche Einheit dieser beiden Gedanken zu demonstrieren. Nur ein solcher Nachweis aber würde Einwände wie die hier vorgetragenen ausschließen.40

3.  Das eine Argument Einwände wie der hier skizzierte haben Anselm anscheinend bewogen, sich um ein neues, strafferes und übersichtlicheres Argument zu bemühen. Nicht mehr verschiedene einander überkreuzende Ketten von Überlegungen wie noch im Monologion sollen im Proslogion zur Einsicht in die Existenz und das Wesen Gottes führen, sondern ein einziges Argument (unum argumentum) soll das leisten.41 Dieses Argument hat nun die Form einer reductio ad absurdum. Einem ‚Toren‘ (insipiens), nämlich einem Atheisten, der behauptet, dass es keinen Gott gebe, wird vorgeführt, dass diese Behauptung sich selbst widerspricht und daher zurückgenommen werden muss. Dabei ruht das gesamte argumentative Gewicht auf der schon angeführten Kennzeichnung Gottes als desjenigen, über dem nichts Größeres gedacht werden kann. Die Standardlesart führt das Verständnis nun insofern in die Irre, als sie der besonderen Argumentationsform des Proslogion im Ganzen nicht genügend Rechnung trägt und sich ganz auf den inferentiellen Gehalt der isolierten Kennzeichnung konzentriert. Diese Kraft kann sich aber erst im diskursiven Kontext des gesamten Textes entfalten. Entscheidend ist dabei, dass am Anfang die Behauptung eines Diskussionsteil40   Aus analogen Gründen scheitert auch Robert Spaemanns Versuch, für die Existenz Gottes aus der Möglichkeit des futurum exactum heraus zu argumentieren; vgl. Spaemann, Gottesbeweis, 2007, S.  31 f. Denn zwar ist richtig, dass aus ‚Es ist jetzt der Fall, dass p‘ für jede beliebige Zeit in der Zukunft folgt, dass p der Fall gewesen sein wird. Aber daraus folgt nicht, wie Spaemann meint, dass diese Folgerung nur dann Sinn hat, wenn es zu jedem zukünftigen Zeitpunkt auch eine Instanz gibt, welche wissen wird, dass p der Fall gewesen ist, was dann nur Gott sein kann. Denn den gleichen Gedanken kann man auch in Form eines kontrafaktischen Konditionals ausdrücken: ‚Wenn es zum fraglichen Zeitpunkt ein hinreichend informiertes Wesen gäbe, dann würde es wissen, dass p der Fall gewesen ist‘. Daraus folgt nicht die faktische zukünftige Existenz eines solchen Wesens. 41   Proslogion, Prooemium, S.  68/69.

3.  Das eine Argument

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nehmers steht.42 Anselms gesamte Argumentation ist – anders als im Monologion, das die Form seiner Gedankenführung bereits im Titel trägt – durchweg dialogisch und dialektisch verfasst, auch wenn er hier, anders als in zahlreichen anderen Schriften, nicht die Form eines expliziten Lehrdialogs wählt. Motor der gesamten Überlegung ist die Behauptung des Atheisten, es gebe keinen Gott, als Zug in einem Dialogspiel. Dass der Atheist genötigt wird, sich auf diese Behauptung festzulegen, anstatt in einem unartikulierten Zweifel oder in skeptischer Indifferenz zu verharren, ist dafür entscheidend.43 Anselm geht hier also formal ähnlich vor wie Aristoteles in seiner Widerlegung des Skeptikers.44 Dieser wird von Aristoteles genötigt, den Satz des Widerspruchs als gültig anzuerkennen, nicht durch eine eigene begründende Herleitung, da eine solche unmöglich ist, sondern indem er gedrängt wird, irgend etwas zu behaupten, woraufhin ihm nachgewiesen werden kann, dass er dafür die Geltung des Satzes vom Widerspruch schon voraussetzen muss. Damit ist dem Skeptiker nachgewiesen, dass er nicht ohne Selbstwiderspruch behaupten kann, dass Wissen unmöglich sei, da er dazu schon mindestens von einem Sachverhalt etwas wissen muss, nämlich vom Satz des Widerspruchs als fundamentalem Gesetz der Logik und Dialektik. Ohne diese Nötigung des Skeptikers zur Selbstfestlegung auf eine These fehlte dieser dialektischen Überlegung der Ausgangspunkt. So will auch Anselm den Atheisten zu einer analogen Selbstfestlegung zwingen, um ihm dann zu zeigen, dass die entsprechende Behauptung gehaltlos ist. Anstelle eines direkten Arguments für die Existenz Gottes wie noch im Monologion tritt im Proslogion die indirekte Argumentation in Gestalt des Nachweises, dass die Negation einer Existenzaussage über Gott einen Widerspruch erzeugt. Der Ausgang der Überlegung von einer expliziten Behauptung hat aber noch eine andere Pointe, die bis hierher noch nicht sichtbar geworden ist.45 Erst durch 42   Wenn auch eines bloß gedachten. Der Text ist kein Dialog, sondern eine Anrede an Gott selbst, die in ein Gebet eingebettet ist. Das ändert nichts an dem genuin dialogischen Charakter der fraglichen Passage, da auch ein innerer Dialog die logische Form des Dialogs hat. Auch besteht keinerlei Anlass, den argumentativen Hauptteil des Proslogion wegen dieser formalen Einbettung als bloßes Beiwerk eines vermeintlich ‚mystischen‘ Textes abzutun, wie F. S.  Schmitt zu Recht gegen eine spätestens seit Karl Barths Anselm-Studie verbreitete Interpretenmeinung ausführt; vgl. Schmitts Vorwort zum Proslogion, bes. IV f., sowie Barth 1958. Die mystische Lesart begeht den zur Standardlesart komplementären Fehler, die theoretische Kraft des Anselmschen Gedankengangs ganz zu übersehen oder zu leugnen. 43  Den dialogischen Charakter der Argumentation betonen auch Barnes 1972, Mackie 1985, S.  81, und Müller 2001, S.  48 f. Oppy 2006, S.  94 f., gibt eine Rekonstruktion, in der von Aussagen über Gedanken (des Toren) auf eine Aussage über die Existenz Gottes geschlossen wird. Dieser Fehlschluss stellt ganz sicher keine korrekte Rekonstruktion von Anselms Argument dar. 44   Met. Γ, 1006 a. 45   Strassers Rekonstruktion verfehlt diesen Punkt; vgl. Strasser 2000, S.  159 f. Genauer ist hier Hindrichs 2008, S.  43 f. und insbesondere S.  46, sowie auch Hindrichs 2012. Auch Röd macht auf die Bedeutung dieses Beginns aufmerksam, verzeichnet sie aber, wenn er ausführt,

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III.  Erkenntnis des Transzendenten

sie wird verständlich, warum Anselm auf Gaunilos Einwand so zuversichtlich erwidern kann, dass das Argument nur für dasjenige gelten kann, über dem nichts Größeres gedacht werden kann, und für nichts anderes. Der Atheist stimmt dieser Kennzeichnung zu. Täte er es nicht, sagte er im Gegenteil, dass Gott für ihn nicht das größte Denkbare sei, dann wäre für Anselm nichts verloren. Denn nun müsste der Atheist die Möglichkeit einräumen, dass es ein anderes, größeres Denkbares als Gott geben könnte, und die Argumentation könnte genauso fortschreiten, wie sie es im Proslogion tut. Beharrte der Atheist dann dennoch darauf, dass Gott weder als das größte und beste Denkbare zu bestimmen sei noch dass er existiere, dann sagte er etwas für die Diskussion Uninteressantes. Der Ausdruck ‚Gott‘ ist für das eigentliche Argument ohne entscheidende Bedeutung. Es geht vielmehr um die Frage, wie man ein schlechthin Vollkommenes denken soll.46 Vermag der Atheist Gott nicht als ein Vollkommenes zu denken, so kann dies nur eine für die systematische Frage irrelevante subjektive Schwierigkeit sein. Um Glaubensfragen geht es hier überhaupt nicht. Bestreitet der Atheist dagegen, dass das größte und beste Denkbare existiert, dann legt er sich auf einen Gedanken fest, der unmöglich ist. Denn er versuchte, zugleich ein schlechthin Vollkommenes zu denken und dessen Existenz aufzuheben. Damit aber hebt er auch seine Vollkommenheit auf. Es ist nämlich nicht so, wie es viele Paraphrasen von Anselms Argument suggerieren, dass Anselm Existenz als eine Vollkommenheit neben anderen ansähe, so dass einem inexistenten größten und besten Denkbaren eine Vollkommenheit abginge, die anderen aber erhalten blieben wie bei Italo Calvinos nicht existierendem edlen Ritter Sir Agilulf. Es ist vielmehr so, dass eine bloß gedachte, real nicht existente Sache überhaupt keine Vollkommenheit haben kann, nicht einmal im Gedanken desjenigen, der ein solches Seiendes zu denken versucht. Ein fiktiver guter Mensch ist kein guter Mensch und wird von dem ihn fingierenden Subjekt nicht als guter Mensch gedacht, sondern als fiktiv gut. Damit Anselms Argument funktioniert, ist es gar nicht erforderlich, Existenz als Vollkommenheit anzusehen.47 Es reicht, sie als notwendige Bedingung dafür anzusehen, dass eine Sache vollkommen sein kann. Um eine Sache als schlechthin vollkommen zu denken, hier werde ein Bezug zwischen „metaphysischen Sätzen und der empirischen Realität“ hergestellt, nämlich des faktischen Denkens des Atheisten; vgl. Röd 2009, S.  31. 46   Deswegen geht auch Thomas’ Einwand, viele Menschen, z. B. polytheistische Heiden und Pantheisten, dächten Gott nicht als dasjenige, über dem nicht Größeres gedacht werden könne, (SG I 11, S.  34/35) an Anselms Argument vorbei. Anselm argumentiert nicht ausgehend von landläufigen Vormeinungen und Vorstellungen über Gott, auch wenn die Formulierung „Und zwar glauben wir, dass Du etwas bist, über dem nichts Größeres gedacht werden kann“ (Proslogion, S.  85) eine solche Deutung nahezulegen scheint, sondern ausgehend von einer formal präzisen Kennzeichnung. Wie sich diese rechtfertigen lässt, wird allerdings noch einmal zu diskutieren sein. 47   Mackie 1985, S.  84 ff., entgeht diese Pointe. Vgl. dagegen Hindrichs 2008, S.  46.

3.  Das eine Argument

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muss man sie als existierend denken, sonst denkt man ihre Vollkommenheit nicht schlechthin, sondern gedanklich eingeklammert wie bei einer Fiktion oder einer kontrafaktischen Annahme. Der Atheist muss also dasjenige, über dem nichts Größeres und Besseres gedacht werden kann, als real existierend denken, da er sonst nicht dasjenige denkt, über dem nichts Größeres und Besseres gedacht werden kann. Dazu ist kein Schluss vom Denken aufs Sein oder auf die tatsächlichen Eigenschaften dieses Seienden erforderlich. Das Argument kann im Bereich des reinen Denkens verbleiben. Die Charakterisierung dieses Arguments als ontologisch ist also ganz irreführend.48 Auf der Verwechslung von Anselms Argument mit einem genuin ontologischen beruht aber auch Gaunilos Einwand. Dieser fragt, ob die These, dass größte denkbare Vollkommenheit wirkliche Existenz impliziert, nicht ganz allgemein gelten müsse, um in theologischen Fragen gelten zu können. Dann aber würden nicht allein Vollkommenheiten, sondern auch Unvollkommenheiten Existenz implizieren. So wird ja auch im Gedanken, dass ein bestimmtes Tier blind ist, dessen Existenz notwendig mitgedacht; wer also sagt: ‚N ist blind, und es gibt N nicht‘, verstrickt sich in einen Widerspruch. So scheint es, als seien aus beliebigen Prädikationen Existenzaussagen ableitbar, was Anselms Gedanken ad absurdum führen würde. Doch in Wahrheit handelt Anselms Argument nicht von Prädikationen und Existenzpräsuppositionen, sondern von etwas Speziellerem, nämlich dem Gedanken schlechthin größter Vollkommenheit. Er kann Gaunilo daher zugestehen, dass aus Prädikationen keine Existenzaussagen ableitbar sind. Ganz allgemein kann nämlich kein notwendiger Zusammenhang zwischen dem Subjekt der Prädikation und dem Prädikat unterstellt werden. Liegt eine zutreffende Prädikation der Form ‚S ist P‘ vor, dann gilt dennoch häufig: ‚Es ist möglich, das S nicht P ist‘. Auf der Kontingenz der Prädikation beruht selbst die Möglichkeit von Fiktionen, sei es der kontrafaktischen Negation eines Prädikats, das dem Subjekt in Wahrheit zukommt, sei es der kontrafaktischen Existenzannahme hinsichtlich eines Subjekts, welches in Wahrheit nicht existiert. Auf kon­ tingenter Prädikation beruht auch Gaunilos Gegenbeispiel der schlechthin vollkom­menen Insel. Deren unterstellte Vollkommenheit kann ihr nur kontingenter Weise zukommen; für ihre Existenz ist Vollkommenheit nicht entscheidend. Existenz und Vollkommenheit stehen in einem äußerlichen Zusammenhang, weswegen der von Gaunilo kritisierte Schluss in der Tat ein Fehlschluss   Das betont zu Recht schon Karl Barth, ebenso die grundlegende Differenz zwischen Anselms einem Argument und ‚ontologischen‘ Gottesbeweisversuchen wie in der fünften Meditation oder bei Leibniz; vgl. Barth 1958, S.  163. Allerdings ordnet er die Einsicht in den rein dialektischen, ontologiefreien Charakter des einen Arguments ganz seiner ‚mystischen‘ Deutung des Proslogion unter, nach der hier ein Beweis nur für den schon Gläubigen und Betenden erbracht werde. Damit wird Anselm – zu Unrecht – in die Nähe Bonaventuras gerückt, der Anselms Argument im Itinerarium tatsächlich mystisch auslegt. 48

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ist. Anders verhält es sich aber, so Anselms Entdeckung, mit einer Vollkommenheit, die jede erdenkliche andere Vollkommenheit übertrifft. Diese kann einfach nicht ohne inneren Widerspruch als nicht instantiiert gedacht werden, weil ihre Negation mit dem Prädikat selbst unvereinbar ist. Es handelt sich um einen notwendigen Gedanken. Allerdings schränkt das Prädikat ‚vollkommener als jedes erdenkliche sonstige Vollkommene‘ sowohl die Vollkommenheitshinsichten als auch den Bereich möglicher Subjekte von vornherein implizit ein. Bei den relevanten Vollkommenheiten kann es sich weder um mögliche Insel-Vollkommenheiten noch um irgendeine andere spezifische Vollkommenheit handeln. Damit scheidet im Grunde auch schon jegliches einer bestimmten Spezies zugehörige Wesen als Träger dieser höchsten denkbaren Vollkommenheit aus.49 Den impliziten Gehalt dieses Gedankens nach und nach zu explizieren ist das Ziel des größten Teils des Proslogion. Wenn Gaunilo daher eine gewisse Undurchsichtigkeit des einen Arguments beklagt, dann hat er damit in gewisser Hinsicht durchaus Recht: Die zunächst rein formale Kennzeichnung irgendeiner Sache, über der nichts Vollkommeneres gedacht werden kann, enthält bzw. fordert sehr viel mehr an inhaltlicher Bestimmtheit, als man der Formel selbst auf den ersten Blick ansieht.50 So kann Anselm dann auch erklären, wie der Atheist hat behaupten können, dass Gott nicht existiert, obwohl dieser Gedanke eigentlich unmöglich ist. Denn der Atheist verwendet eben den Ausdruck Gott nicht in der gehörigen Bedeutung, die einschließt, dass Gott etwas ist, über dem nichts Größeres und Besseres gedacht werden kann. Die Existenz Gottes kann der Atheist deswegen ohne offensichtlichen Widerspruch leugnen, weil er dem Ausdruck ‚Gott‘ entweder überhaupt keine bestimmte Bedeutung gibt oder aber ihn mit einer ihm fremden Bedeutung (cum alia extranea significatione) verwendet.51 Da der Atheist, wenn er den Ausdruck ‚Gott‘ gebraucht, Gott entweder gar nicht oder zu klein denkt, kann er meinen, dass Gott nicht existiert. Dann aber kann er 49   Aus diesem Grund lässt sich, anders als Oppy meint (vgl. Oppy 2006, Kap.  2.4), auch kein gültiges paralleles Argument bilden, in dem vom Gedanken eines maximal schlechten Wesens auf die Existenz des Teufels geschlossen wird. Oppy behauptet zu Unrecht, Anselms Argument und Gaunilos Parodie hätten dieselbe logische Form. Oppy kann das nur deshalb ohne offensichtliche Absurdität behaupten, weil er unter logischer Form nur die syntaktische Oberflächenform eines halb oder ganz formalisierten Arguments versteht; vgl. ebd., S.  33, Anm.  83. 50   Everitt kritisiert Plantingas Zurückweisung von Gaunilos Argument. Plantinga sagt, dass die Kennzeichnung einer Insel als maximal vollkommen einen inneren Widerspruch enthalte, da sich zu jeder beliebig schön gedachten Insel eine noch schönere denken lasse. Everitt wendet dagegen ein, dass ein Übermaß an Schönheiten die Annehmlichkeit einer Insel auch beeinträchtigen kann. Vgl. Everitt 2004, S.  34. Im Lichte der oben angestellten Überlegungen behält Plantinga gegen Gaunilo und Everitt Recht. Realiter mag es bei Inseln wie bei allen endlichen Dingen indefinite Grenzen überhaupt möglicher Vollkommenheit geben. Davon handelt allerdings weder Gaunilo, noch tun es Plantinga oder Everitt. 51   Proslogion, S.  88.

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selbst etwas anderes als Gott denken, über dem nichts Größeres und Besseres gedacht werden, und dessen Leugnung führt ihn abermals in den von Anselm ausgewiesenen Widerspruch. Nun scheint es, als sei dieses Argument nicht allein viel schwächer als ein genuin ontologisches, sondern auch schwächer als nötig. Denn die Denknotwendigkeit eines besten und vollkommensten Denkbaren scheint ja gerade nicht mit der wirklichen Existenz oder Nichtexistenz eines entsprechenden Seienden zusammenzufallen. Leibniz formuliert deshalb später einen genuin ontologischen Gottesbeweis, und auch Gödel, Lewis und Plantinga rekonstruieren Leibniz’ Beweisidee, nicht die Anselms.52 Hier wird vom Begriff des ens realissimum, d. h. eines Seienden, dem kein Mangel anhaftet und von dem folglich alle Prädikate, die eine Vollkommenheit bezeichnen, affirmativ ausgesagt werden müssen,53 auf die notwendige Existenz eines solchen Wesens geschlossen, weil Nichtexistenz ein Mangel und somit unvereinbar mit der unterstellten Natur dieses Seienden wäre. Untermauert wird dieser Schluss durch das Argument, dass die Kennzeichnung ‚ens realissimum‘ deswegen möglich sei, weil eine vollständige Auflistung der Eigenschaften dieses Seienden keinen Widerspruch enthielte. Denn es handelte sich nach Voraussetzung um eine Liste ausschließlich affirmativer Urteile, aber nur Affirmationen und Negationen können einander widersprechen.54 Eine vollständige Bestimmung des ens realissimum wäre also a priori gefeit gegen Widersprüche.55 52   Durchgeführt wird die Argumentation in den Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen; vgl. MC, S.  38 ff. Die Grundidee wird dann zur Prämisse der Metaphysischen Abhandlung; vgl. DM, S.  2/3. Gödels ontologischer Gottesbeweis wird rekonstruiert in Bromand/Kreis 2011, S.  483–491. Vgl. ferner Lewis 2011 sowie Plantinga 2011. 53   KrV, B 604. Das ist bei Lewis nur scheinbar anders, insofern er eingangs auf Anselms Formel ‚etwas, über dem nichts Größeres gedacht werden kann‘ zurückgreift, die er aber nicht als Kennzeichnung, sondern als Universalquantifikation deutet; vgl. Lewis 2011, S.  431. Doch Lewis selbst weist darauf hin, dass diese Deutung aus rein technischen Gründen gewählt wird. Inhaltlich geht es auch ihm wie Gödel und Plantinga um den Nachweis, dass aus der Möglichkeit der Existenz eines maximal vollkommenen Wesens dessen aktuale Existenz folgt, und damit um Leibniz’ ontologisches Argument. 54   Das wäre nur dann nicht der Fall, wenn die von Gott ausgesagten Prädikate privative Bedeutung hätten, z. B. Eigenschaften wie Blindheit oder Dummheit bezeichneten. Die entsprechenden Urteile wären dann ‚unendlich‘ in der von Kant übernommenen Terminologie der wolffianischen Logik (nach Meier). D.h., es handelte sich um Urteile, die der syntaktischen Form nach affirmativ, dem semantischen Gehalt nach aber negativ wären. Aber privative Prädikate bezeichnen keine Vollkommenheiten und sind daher von Gott nicht aussagbar. 55   KrV, B 606. Nicht ausgeschlossen sind damit allerdings gewisse materiale Inkompatibilitäten zwischen den affirmativen Prädikaten. So ist das Prädikat ‚grün‘ material inkompatibel mit dem Prädikat ‚rein geistig‘. Ein rein geistiges Seiendes kann nicht grün sein. Die Urteile ‚a ist rein geistig‘ und ‚a ist grün‘ widersprechen einander aber nicht formal. Vgl. Brentano 1929, S.  52 f. Dieses Problem kann Leibniz lösen, indem er das Postulat der Widerspruchsfreiheit auch auf die Folgerungen aus den jeweiligen affirmativen Prädikationen ausdehnt. Denn aus ‚a ist grün‘ folgt ‚a ist körperlich‘, und daraus folgt wiederum ‚a ist endlich‘; aus ‚a ist rein geistig‘ dagegen ‚a ist nicht körperlich‘. Diese Lösung des Inkompatibilitätsproblems verlangt allerdings, dass negative Prädikationen in der Theologie zumindest als Implikate affirmativer

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Gegen Leibniz und andere, die in seiner Nachfolge die Existenz Gottes in diesem Sinne ontologisch zu beweisen versuchen, hat Kants in der Einleitung wiedergegebener Einwand ohne Zweifel Biss. Denn das ontologische Argument bleibt unrettbar hypothetisch: Wenn es ein vollkommenes Wesen gibt, dann existiert dieses notwendig, weil seine mögliche Nichtexistenz Vollkommenheit logisch ausschließen würde. Dass das Antezedens erfüllt ist, zeigt das Argument nicht, sondern setzt es voraus. Leibniz und seine Nachfolger sehen nicht, dass gerade ihr ontologischer Apriorismus sie in diese von Kant enthüllte Schwierigkeit bringt. Sie wollen sich nicht dem Vorwurf aussetzen, ein schwaches, bloß dialektisches Argument wie das Anselmsche vorzubringen, sondern von vornherein ontologisch argumentieren, ohne aber zu klären, was sie dazu berechtigt, das zu tun. Aus dem hypothetischen Charakter des Leibnizschen Arguments erhellt: Es ist logisch vereinbar mit der These, dass ein schlechthin vollkommenes Wesen nicht existiert.56 Anselms scheinbar viel schwächeres dialektisches Argument entgeht dagegen dem Einwand Kants. Kants Einwand gegen Leibniz, dass die Vollkommenheit des ens realissimum eine nur gedachte sei, kann dabei von vornherein zugestanden werden. Daher ist der Gebrauch der Formel ens realissimum gerade nicht hilfreich, wenn es darum geht, das Besondere an Anselms Argument zu erfassen. Dieses handelt nicht zuerst und unmittelbar von einem optimalen, maximal ‚realen‘ Seienden wie das ontologische Argument bei Leibniz, Gödel und Plantinga, sondern vom Denken, welches versucht, den Gedanken eines maximal Vollkommenen zu formen. Dabei muss der Denkende bemerken, dass er diesen Gedanken nicht fassen kann, ohne sich dieses maximal Vollkommene als existierend zu denken, da es ansonsten in Widerspruch zu seiner Voraussetzung gerät. Denn wenn ich das schlechthin Vollkommene als nicht existent denke, denke ich kein schlechthin Vollkommenes, sondern irgendetwas anderes. Man kann das auch so ausdrücken: Leibniz’ Argument handelt von der Seinsmacht eines bestimmten Seienden, Anselms Argument von der Kraft des Denkens. Die Geschichte des Streits um dieses Argument ist in ihrem Kern immer die Geschichte des Streits darüber, was das Denken leisten kann. Gegen dieses Argument kann Kant nicht einwenden, dass man dieses Vollkommene mit allen seinen Prädikaten (welche ihm zukommen, ist noch gar Aussagen zugelassen werden. Dieser Preis ist jedoch für Leibniz dann nicht hoch, wenn gesichert werden kann, dass die Negativaussagen über Gott nicht ursprünglich, sondern aus affirmativen abgeleitet sind. Zugleich ist damit die unwillkommene Deutung ausgeschlossen, dass jedes affirmativ aussagbare Prädikat eine Eigenschaft Gottes bezeichnet. 56   Auch Descartes betont daher mit Nachdruck den tiefen Unterschied zwischen dem klassischen ontologischen Argument, wie es schon bei Johannes von Damaskus angelegt ist, und seinem eigenen kausalen Argument in der dritten Meditation. Ersteren bezeichnet er als „Trugschluss“; vgl. Med., Antwort auf die Zweiten Einwände, S.  137. Ganz analog kritisiert auch Brentano diesen Schluss, allerdings im Glauben, damit auch Anselm und Descartes zu treffen; vgl. Brentano 1929, S.  21 und 44 ff.

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nicht bestimmt) in Gedanken aufheben könne. Genau dies ist es, was der törichte Dialogpartner tut: Er bestreitet, dass es etwas gibt, im Vergleich mit dem nichts Vollkommeneres gedacht werden kann. Damit gerät er in Widerspruch zu sich selbst. Denn die Leugnung der Existenz eines vollkommensten Denkbaren ist seinerseits ein Gedanke und muss mithin kohärent mit dem Gedanken, dass ein höchst Vollkommenes denkbar ist, artikulierbar sein. Genau dies ist er aber nicht, da das höchste Denkbare nur als tatsächlich, ja notwendig Seiendes denkbar ist. Es hilft also nichts, mit Kant darauf zu beharren, dass der Gedanke eines maximal vollkommenen Seienden nur ein Gedanke sei. Das gilt nämlich für den Gedanken, dass es derlei in Wirklichkeit nicht gebe, ebenso. Der Kantianer, der mit Gaunilo gegen Anselm auf der Trennung des Denkbaren vom Wirklichen beharren wollte, tut genau das, was Kant seinem metaphysischen Gegner vorwirft: Er versucht, gleichsam in Gedanken skeptisch neben sein Denken zu treten und es von einem Standpunkt außerhalb desselben zu beurteilen.57 Mit Anselm kann man ihn darauf aufmerksam machen, dass das Resultat widersprüchliches Denken ist. Allerdings sticht Anselms Argument nur gegen den atheistischen Toren, nicht gegen den agnostischen Skeptiker, der sich nicht zu der Behauptung drängen lässt, dass es kein höchstes Denkbares gibt, sondern sich des Urteils in dieser Frage enthält. Denn da dieser wie der Skeptiker des Aristoteles in dieser Frage gar nichts behauptet, kann er auch nicht in Widerspruch zu irgendeiner seiner sonstigen Gedanken und Behauptungen geraten. Den Gedanken eines vollkommensten Denkbaren zu fassen und dann dessen Existenz zu leugnen ist widersprüchlich. Den Gedanken eines solchen Seienden zu fassen und dann nicht mehr weiterzudenken ist es nicht.58 Dem Problem des Agnostikers stellt sich in aller Entschiedenheit erst Descartes. Zu beachten ist ferner, dass das eine Argument an dieser Stelle seine inferentielle Kraft noch gar nicht entfaltet hat. Denn die Kennzeichnung eines größten und besten Denkbaren ist rein formal. Über Seinsweise und Eigenschaften eines 57   Suggestive Metaphern wie die von dem ‚Blick von Nirgendwo‘ (Thomas Nagel) oder auch ‚Blick von seitwärts‘, die John McDowell in Anlehnung an Kant in Mind and World prominent gemacht hat, spielen im philosophischen Diskurs häufig genug eine ambivalente Rolle, wenn sie nämlich einer nichtmetaphorischen Explikation des zu Grunde liegenden Problems im Weg stehen. Mit Wittgenstein ließe sich hier sagen: „Ein Bild hielt uns gefangen“. (PU, §  115) Insbesondere gilt dies, wo sie an Stelle von Sachargumenten zur Stützung in sich fragwürdiger transzendentaler Behauptungen angeführt werden. Davon nicht betroffen scheint mir allerdings ihr Gebrauch ad hominem, d. h. der Hinweis, dass die Metapher gerade auf den passt, der damit das Vorgehen seiner Gegner kritisch charakterisieren will. 58   Diese Charakterisierung des Agnostikers ist in ihrer Kürze unfair. Sie trifft insbesondere nicht die komplexe Position Kants, der einen theoretischen Agnostizismus in theologischen Fragen mit einem praktischen Fideismus kombiniert. Die polemische Bemerkung soll aber ein Problem markieren, welches im folgenden Kapitel ausführlicher erörtert werden soll. Auf eine agnostische Position und nicht, wie er selbst meint, auf eine atheistische läuft auch Mackies Kritik an Anselms Argument hinaus, vgl. Mackie 1985, S.  85 ff.

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solchen Seienden ist damit noch gar nichts gesagt. Der schrittweisen Explikation der dazu erforderlichen Bestimmungen widmet Anselm den Rest des Proslogion.

4.  Seinsweise und Attribute des höchsten Denkbaren Einige Eigenschaften sind mit der Kennzeichnung eines besten Denkbaren klarerweise unvereinbar. Es darf nicht vergänglich sein; wäre es ansonsten vollkommen, aber vergänglich, dann wäre etwas Besseres als es selbst denkbar. Denn wenn etwas Gutes vergänglich ist, dann ist seine Vergänglichkeit nichts in sich Gutes.59 Ein solches Seiendes darf daher nicht einmal potentiell vergänglich sein. Faktisches Nichtvergehen – ganz gleich ob überhaupt real möglich oder nicht – reicht für Unvergänglichkeit nicht aus. Daraus ergeben sich zunächst einige Beschränkungen hinsichtlich dessen, als was das beste Denkbare ontologisch bestimmt sein kann. So kann das höchste Denkbare kein Körper sein, da jeder Körper teilbar ist und damit im strengen Sinn vergänglich. 60 Auch kann es sich dabei weder um einen Zustand noch um einen Prozess handeln, damit aber auch nicht etwa um den bestmöglichen Zustand der Welt als ganzer. Blochs Gedanke eines Ultimum der Weltgeschichte erscheint in dieser Perspektive insofern als unzureichend, als es sich dabei gar nicht um ein in jeder Hinsicht Äußerstes, Letztes und Höchstes handeln kann. Dass ein solcher Zustand oder Prozess nicht das höchste Denkbare sein kann, ist allerdings nicht ganz leicht zu sehen, da ein optimaler Zustand der Welt ja durchaus ein äußerstes Denkbares zu sein scheint und auch ein Prozess der sukzessiven Vervollkommnung der Welt etwas ähnlich Erhabenes wäre. Zu einem kleineren Teil hängt die Schwierigkeit der Gleichsetzung des besten Denkbaren mit einem optimalen Zustand oder mit einem fortschreitenden Perfektionierungsprozess der Welt damit zusammen, dass ein optimaler Zustand der Welt womöglich nicht kohärent beschreibbar ist. So scheint es zunächst nahe zu liegen, den Tod als ein Übel zu betrachten, aber es bedarf nur eines geringen Aufwands an Überlegung, um einzusehen, dass physische Unsterblich59   Die Qualifikation ‚in sich‘ soll anzeigen, dass die Vergänglichkeit eines Guten dann etwas Gutes sein kann, wenn das Vergehen seinerseits auf ein höheres Gutes hingeordnet ist, wie das etwa bei der Vollendung der spezifischen Vermögen in den Abschnitten eines Lebenszyklus der Fall ist. Phantasie und Spielfreude beim Kind, Kraft und Begeisterungsfähigkeit beim Jugendlichen, Ehrgeiz und Lernbereitschaft beim jungen Erwachsenen sind je spezifisch gut, aber sie sind es nur als epochale, zu Übergang und Weiterentwicklung bestimmte Güter. Von rein instrumentellen Gütern ist hier nicht die Rede. 60   Das gilt nicht für die – ontologisch sehr problematischen – Atome Demokrits und Epikurs, die als unteilbar und daher unentstanden und unvergänglich bestimmt werden. Diese scheiden allerdings, selbst wenn sie überhaupt denkbar sind, aus noch zu nennenden Gründen als Kandidaten für das höchste Denkbare aus.

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keit nichts Gutes wäre. 61 Daraus wiederum zu schließen, dass der Tod etwas ceteris paribus Gutes ist, wäre ebenso merkwürdig. Wenn das aber so ist, dann ist auch ein Prozess der Perfektionierung der Welt im Ganzen nicht so leicht kohärent denkbar, wie man zunächst vielleicht glaubt. Denn wenn physische Unsterblichkeit nichts Gutes ist, dann kann eine wesentliche Verlängerung des Lebens wohl auch nur etwas Ambivalentes sein, eine medizinisch-technisch induzierte Lebensverlängerung ein entsprechend zweifelhafter Fortschritt. 62 Ähnliche Betrachtung auf anderen Gebieten erhellen, dass es nicht immer leicht ist zu bestimmen, was ein Übel ist und was nicht, was anders sein sollte, als es ist, und was nicht. 63 Zum größeren und wichtigeren Teil gründet sich die Schwierigkeit, die Perfektion oder Perfektionierung der Welt als bestes Denkbares anzusehen, darin, dass ein Zustand oder Prozess nichts Eigenständiges ist. Das hat Konsequenzen für die Frage, ob Zustand oder Prozess jeweils gut oder schlecht sind. Ein Zustand ist als Zustand einer Sache gut, als deren gute Verfassung. So sind die Gesundheit eines Lebewesens, die Herrschaft des Rechts in einem Staat oder der Frieden zwischen Staaten gute Zustände, Krankheit, Rechtsunsicherheit und Krieg dagegen die konträren schlechten Zustände. Analoges gilt dann auch für Genesung, Rechtsetzung und Befriedung einerseits, Erkrankung, Rechtsund Friedensbrüche andererseits. Zustände und Prozesse sind nicht anders bestimmbar als unter Bezugnahme auf die Gegenstände, an denen sie bestehen oder sich vollziehen. 64 Abstrahiert man davon, dann lässt sich der Charakter des jeweiligen Zustands oder Prozesses nicht mehr bewerten. Daraus folgt aber schon, dass Zustand oder Lauf der Welt keine möglichen Kandidaten für ein bestes Denkbares sein können. Aber auch die Welt als solche kann nicht das beste Denkbare sein, und zwar deswegen, weil die Welt kein Gegenstand ist und daher kein geeignetes Subjekt   Dazu bedarf es nicht einmal ausführlicher literarischer Gedankenexperimente wie im dritten Teil von Swifts Gullivers Reisen oder Karel Capeks Der Fall Makropulos. Vgl. aber Tugendhat 2006. 62   Vgl. damit die Position von Knell/Weber 2009, Kap.  3: „Radikale Lebensverlängerung“. 63   Diese Betrachtung spricht weder gegen einen gehaltvollen Begriff des Fortschritts noch gegen Perfektibilität als solche. Sie spricht aber gegen die Anwendung solcher Begriffe auf den Weltlauf und das menschliche Leben im Ganzen. Genau in dieser überschwänglichen Anwendung werden die Begriffe des Fortschritts und der Perfektionierung unbestimmt und ein entsprechender ‚Fortschrittsglaube‘ genauso problematisch wie der dazu konträre Geschichtspessimismus. Davon betroffen ist die oben in II angesprochene Geschichtsphilosophie der Aufklärung bis zu Kant ebenso wie der so genannte historische Optimismus bzw. Pessimismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. 64   Im Lichte solcher durchaus traditioneller ontologischer Beobachtungen erscheint die klassische und moderne Prozessontologie von Heraklit bis Bergson und Whitehead, die Prozesse für grundlegender als Substanzen hält, nicht einfach falsch, sondern zutiefst unverständlich. Blochs materialistische Prozessontologie entgeht dieser Kritik nur dadurch, dass sie Materie als Prozesssubstrat unterstellt. 61

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der Zuschreibung höchster Vollkommenheit sein kann. 65 Wenn nämlich die Welt alles ist, was der Fall ist (Wittgenstein), dann ändert sie sich in Abhängigkeit von allem, was jeweils anfängt, fortfährt oder aufhört der Fall zu sein. Nimmt man zu dem, was der Fall ist, auch noch das, was realiter der Fall sein kann, in den Weltbegriff auf, dann wird dieser gänzlich indefinit. ‚Welt‘ ist kein Gegenstandsbegriff, sondern ein auf unbestimmte Weise ontologische Totalität anzeigender Terminus. Das ist der tiefere Grund dafür, dass die Begriffe des Forschritts oder der Perfektionierung auf den Begriff des Weltganzen so schwer anwendbar erscheinen. Die Welt als solche und damit als ganze ist gut oder schlecht bzw. auf dem Weg zum Besseren oder Schlechteren in Abhängigkeit von dem, was Teile ihrer selbst dazu beitragen, da der Zustand der Welt abhängig vom Zustand der Teile der Welt ist, und zwar derjenigen Teile der Welt, denen kausale Kraft zukommt. Ontologisch gesprochen müssen dies aber Substanzen sein, da nur Substanzen Träger kausaler Kräfte sein können. Ein Kandidat für das beste Denkbare kann nur eine Substanz sein; die Welt ist aber keine Substanz. 66 Manche innerweltliche Substanzen tragen dazu bei, dass die Welt in guter Verfassung ist bzw. in eine bessere Verfassung kommt. Dennoch sind auch diese keine besten Denkbaren, und zwar weil sie selbst in ihrer Existenz von anderen Substanzen abhängig sind. Ihre Existenz ist kontingent und vergänglich. Das beste Denkbare kann also keine kontingente innerweltliche Substanz sein, sondern es muss sich dabei um eine selbständige, notwendige, unvergängliche, einfache Substanz handeln. 67 Auch kann es sich dabei um keine Demokritschen Atome handeln, denn diese sind zwar einfach und unvergänglich, aber ansonsten keine besten Denkbaren, da alles, was aus ihnen ex hypothesi zusammengesetzt ist, besser und wertvoller ist als sie. Das Gegenteil würde wohl auch ein Atomist nicht behaupten. Man beachte übrigens, wie sich hier die Argumentationsrichtung im Vergleich zu der des Monologion ändert. Wurde dort versucht, von einer Rangordnung des Guten in der Welt auf ein höchstes Gutes als Maß und Ursache alles sonstigen Guten zu schließen, so kehrt sich hier die Reihenfolge um. Die Notwendigkeit, die Existenz eines solchen Guten auszusagen, wird hier a priori, allein aus dem Gedanken des Guten und Vollkommenen entwickelt, und erst dann wird sein zu denkender ontologischer Status durch Abgrenzung von allem innerweltlichen Guten als der eines transzendenten Seienden bestimmt. 68 Dass 65   Diese ontologische Einsicht macht sich Kant für die Auflösung der ersten beiden Antinomien der reinen Vernunft zu Nutze, vgl. KrV, B 530. 66   Nicht einmal für Spinoza, der zwar Substanz und Natur mit Gott identifiziert, den Begriff der Welt (mundus) aber wohlweislich aus dieser Gleich(setz)ung herauslässt. 67   Proslogion III, sowie zur Einfachheit und damit Unteilbarkeit und Ewigkeit die Antwort auf Gaunilo, S.  145 f. 68   Allerdings argumentiert Anselm in gewisser Hinsicht nicht gänzlich a priori, sofern nämlich ein Vorverständnis innerweltlicher Güte und Vollkommenheit für das Verständnis

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dieses transzendente Seiende allerdings auch Ursache alles immanent Guten ist, kann aus dem einen Argument nicht hergeleitet werden. 69 Zwar legt Anselm dem höchsten Seienden bei, „allein durch sich bestehend, alles andere aus dem Nichts geschaffen“ zu haben, 70 weil ansonsten etwas Höheres als dieses gedacht werden könne. Aber streng genommen folgt daraus nur, dass das höchste Seiende die Fähigkeit besitzen muss, die Welt aus dem Nichts zu schaffen, nicht notwendig aber, dass es das auch tatsächlich getan hat. Dazu müsste nämlich gezeigt werden, dass die Welt ohne diese Schöpfung gar nicht existieren würde. Diesen Nachweis erbringt Anselm wie schon im Monologion, so auch hier nicht.71 Nach der Klärung des ontologischen Status des höchsten Seienden als einer ewigen, notwendigen und daher welttranszendenten Substanz72 geht er zur Bestimmung seines Wesens über und versucht, die göttlichen Attribute als notwendige Eigenheiten des höchsten Seienden auszuweisen. Die Argumentationsregel lautet dabei, dass das höchste Seiende alles sein müsse, „was besser ist zu sein als nicht zu sein“.73 So ist das höchste Seiende, Gott, allmächtig, vollendet gut und allwissend. Seine Allmacht wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass es nicht lügen, Wahres nicht falsch und Geschehenes nicht ungeschehen machen und sich selbst nicht vernichten kann. Denn Letzteres verlangt eine passive Potenz, die es in Gott nicht geben kann,74 ein partielles Unvermögen (impotentia) bzw. einen partiellen Mangel an Selbständigkeit, der seinen Träger als endlich Seiendes kennzeichnen würde.75 Auch eine Unfähigkeit zu lügen ist bei einem geistigen Wesen kein Unvermögen, sondern im Gegenteil eine Vollkommendes Arguments unerlässlich ist. Dieser Zug, den Anselm sich aus dem Monologion bewahrt, wird bei Descartes noch deutlicher herausgearbeitet. Dazu mehr im folgenden Kapitel. 69   Den Nachweis, dass Gott auf Grund seiner Allmacht und Güte auch Schöpfer der Welt sein muss, versucht Anselm dann noch einmal eigens in Cur Deus homo II zu erbringen. 70   „ Sed quid es, nisi id quod summum omnium solum existens per seipsum, omnia alia fecit de nihilo?“ (Proslogion V, S.  9 0/91) 71   Das Argument aus der Kontingenz des Innerweltlichen allein reicht dazu nicht aus, wie Kant zu Recht gegen Leibniz einwendet; vgl. KrV, B 487 und 588 f. Denn dass jede natürliche Veränderung, ja jede natürliche Spezies und jedes Naturgesetz ohne Widerspruch als nicht­ existent gedacht werden kann, zeigt nicht schon die Notwendigkeit einer transzendenten Ursache, sondern lediglich die Einbettung des natürlich Seienden in ein Gesamtgefüge der Natur. Darin gibt es notwendig externe Ursachen; über transzendente Ursachen ist damit aber noch nichts gesagt. Zum Unterschied zwischen dem Leibnizschen Kontingenzargument und dem ‚dritten Weg‘ des Thomas von Aquin vgl. unten V 3. 72   Anselm verwendet den Substanzbegriff wie schon angemerkt nicht, aber seine ontologische Charakterisierung enthält ontologische Kriterien, denen nur der Substanzbegriff genügt. Thomas greift daher wie vor ihm schon Augustinus auf den Substanzbegriff zurück, um die Seinsweise Gottes zu bestimmen, zumal die Rede von der substantiellen Einheit Gottes ohnehin zur dogmatischen Terminologie der katholischen Kirche gehört. Vgl. De trinitate V, 2.3, S.  370/371 sowie SG I 14, wo von der divina substantia die Rede ist. 73   „Quidquid melius est esse quam non esse“ (Proslogion, S.  90/91). 74  Vgl. SG I 16. 75  Vgl. Proslogion, S.  92.

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heit, wie umgekehrt eine Fähigkeit und Bereitschaft, Wahres falsch oder Geschehenes ungeschehen zu machen, keine Vollkommenheit, sondern gerade eine Einschränkung der Allmacht wäre, nämlich Ausdruck göttlichen Wankelmuts und göttlicher Unbeständigkeit. Dass der gegenteilige Eindruck entstehen kann, führt Anselm auf die Launen der natürlichen Sprache zurück, in der manchmal negative Termini zur Bezeichnung positiver Sachverhalte und umgekehrt verwendet werden, wie es auch Verben gebe, die keine Tätigkeiten bezeichnen, z. B. ‚sitzen‘ oder ‚ruhen‘, „obwohl ‚sitzen‘ etwas nicht tun und ‚ruhen‘ nichts tun ist“.76 Die Güte Gottes fordert ferner, dass er im höchsten Maße gerecht ist, und zwar so, dass die höchste Barmherzigkeit darin eingeschlossen ist, wie auch ein menschlicher Richter erst dann vollendet gerecht ist, wenn er zugleich Billigkeit walten zu lassen vermag.77 Barmherzigkeit verhält sich zur göttlichen Gerechtigkeit wie Billigkeit zu menschlicher: als deren Vollendung. Zugleich ist sie menschlicher Gerechtigkeit, etwa der eines Richters, verschlossen. Ein menschlicher Richter darf kraft seines Amtes nicht Gnade walten lassen, da er sonst kein gerechter Richter wäre. Als Richter ist er nämlich an das Recht gebunden und nicht souverän, es zu setzen oder aufzuheben. Bei Gott aber als allmächtigem, allwissendem und gütigem Richter und Souverän ist die Barmherzigkeit die höchste Steigerung der Gerechtigkeit und nicht etwa der Umschlag in Ungerechtigkeit. Denn seine Gerechtigkeit übersteigt auch noch bei weitem die eines jeden endlichen Souveräns mit Richtergewalt. „So also strafst Du gerecht und verschonst gerecht ohne Widerspruch.“78

Dass die Attribute der Allmacht, Allwissenheit und Güte zusammen das Theodizee-Problem auf den Plan rufen, dessen ist sich Anselm bewusst. Denn wenn Gott auf Grund seiner Allwissenheit künftige Übel vorhersieht und auf Grund seiner Allmacht diese verhindern kann, wieso verhindert er sie nicht? Das ließe sich durch einen Mangel an Güte erklären, aber der ist eben ausgeschlossen. Anselm nimmt das Problem so ernst, dass er in verschiedenen Schriften immer wieder darauf zurückkommt. In De veritate unterscheidet er verschiedene Perspektiven auf Gutes und Schlechtes, die die Unterscheidung zwischen dem an sich Guten und Schlechten einerseits und dem gut bzw. schlecht Erscheinenden andererseits ermöglichen. So erscheint dem Verbrecher seine Tat womöglich als gut, die Strafe aber als Übel, während dem Opfer die Tat als Übel, die Strafe dagegen gut erscheint, wie sie es auch ist. Und so kann es sein, dass manches 76  „[…] cum ‚sedere‘ sit quiddam non facere et ‚quiescere‘ sit nihil facere“ (Proslogion, S.  92/93). 77   Proslogion IX–XII. Vgl. auch NE E, 1137 a f. Deswegen ist es nicht nachvollziehbar, wenn Henrich behauptet, höchste Güte und höchste Gerechtigkeit Gottes seien „unmittelbar gegeneinander bestimmt” (Henrich 1960, S.  200) und widersprächen sich daher. 78   „Sic itaque sine repugnantia iuste punis et iuste parcis“ (ebd., S.  102/103).

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innerweltliche Übel als gewissermaßen göttliche Strafe in Wahrheit ein Gut ist. Allerdings bricht Anselm an dieser Stelle ab, wohl wissend, dass das noch keine Lösung des Theodizee-Problems ist, da die Übel in der Welt anscheinend viel zu zufällig verteilt sind, als dass sie als gerechte Strafen begriffen werden könnten. Doch zieht sich Anselm auch nicht wie später Duns Scotus und der protestantische Fideismus auf die Position zurück, dass der Mensch mit Gott nicht richten dürfe, sondern sich mit der Unergründlichkeit des göttlichen Ratschlusses zufrieden geben müsse. Zwar gesteht er diesem Gedanken insofern eine gewisse Rechtmäßigkeit zu, als es dem Menschen tatsächlich nicht zustehe, etwas Besseres als Gott zu denken, denn sonst „erhöbe sich das Geschöpf über den Schöpfer und säße über den Schöpfer zu Gericht, was ganz widersinnig ist“.79 Aber anders als der Fideismus betont Anselm, dass der Mensch dazu auch gar nicht in der Lage ist, und zwar nicht wegen der Begrenztheit seiner endlichen Vernunft, sondern weil es eben der Sache nach unmöglich ist, etwas Besseres als Gott zu denken. Daraus folgt, dass nichts, was der Mensch sich besser als Gott vorstellen mag, tatsächlich besser wäre als Gott. Ein allwissendes und allmächtiges Wesen, welches jedes von ihm vorhergesehene Übel abwenden würde, wäre nicht besser, sondern schlechter, als Gott es ist. Diesen Gedanken vertritt Anselm, aber es gelingt ihm weder im Proslogion noch in De veritate eine überzeugende Begründung dafür. 80 Erst in Cur Deus homo trägt Anselm dann die kanonisch gewordene und auch von Leibniz aufgegriffene Lösung vor, nach der zumindest die reale Möglichkeit des Bösen in der Welt eine unvermeidliche Folge der Willensfreiheit sei, die dem Menschen zu verleihen gerade Ausdruck der göttlichen Güte ist, der den Menschen nach seinem Bild und damit als denkendes und wollendes Wesen geschaffen habe. Der Sündenfall ist als Ausdruck dieser Freiheit unvermeidlich; zugleich trage die darin stattfindende Abwendung des Menschen von Gott ihre Strafe schon in sich, indem sie moralische Desorientierung und weitere Sünden, aber ebenso die damit einhergehenden Übel notwendig nach sich zieht. 81 So 79   „[…] ascenderet creatura super creatorem et iudicaret de creatore; quod valde est absurdum“ (ebd., S.  86/87). Vgl. damit Duns Scotus, Reportatio, d. 41. 80   Auch Spinozas Lösung des Theodizee-Problems in der Ethik überzeugt nicht, denn sie läuft darauf hinaus, in extremer Verschärfung der fideistischen Haltung Gut und Schlecht insgesamt für rein anthropozentrische Perspektiv-Begriffe auszugeben, denen im Seienden nichts entspricht. Vgl. Ethik I, Scholium, S.  102/103. Eine solche radikale Ent-Ontologisierung und Relativierung des Guten und Schlechten macht in der Konsequenz auch die göttlichen Attribute der Liebe, Güte und Gerechtigkeit gehaltlos und belässt Gott nur Wissen und Macht. Damit wird das Theodizee-Problem aber nicht gelöst, sondern seines Gehalts beraubt – mit Kollateralschäden in Axiologie und Ethik. 81   Vgl. ferner den Dialog De libertate arbitrii, in dem Anselm noch einmal die augustinische These bekräftigt, dass der Mensch nur dann sündige, wenn er einen freien Willen besitze. Man kann Bloch zugestehen, dass es nicht ganz einfach ist zu bestimmen, worin die Sünde des ersten Menschen überhaupt besteht, da er doch offenbar nach etwas Gutem strebt, nämlich der Erkenntnis des Guten und Bösen. Eine kanonische Deutung entwickelt Augustinus. Aus

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wird das innerweltlich Böse, zumindest was seine Möglichkeit betrifft, vollständig erklärt, die Übel immerhin zum Teil, sofern ihre Möglichkeit nämlich als Strafe aufgefasst werden kann. Vor allem aber stellt Anselm hier die Menschwerdung Gottes als höchsten Ausdruck seiner Liebe und Güte dar, da er es so der Menschheit gestattet, einen neuen Anfang zu machen und der Versuchung zur Sünde in Gestalt dieses exemplarischen Menschen zu widerstehen. Damit stellt der Christus gewordene Gott selbst die Einheit mit der Menschheit wieder her, die ohne die Menschwerdung weder von Gott noch von der Menschheit hätte bewirkt werden können, doch die Menschwerdung hebt die Willensfreiheit des Menschen nicht auf. Denn nicht allein Christus widersteht aus freiem Willen der Versuchung, sein Leben unter Aufopferung seiner Überzeugungen zu retten, sondern auch die übrige Menschheit ist frei, die Erlösung von der Sünde anzunehmen oder sie abzulehnen. Aber das Theodizee-Problem ist aus Anselms Sicht zwar das uns nächste, nicht unbedingt aber das in sich dringendste theologische Problem. Im Proslogion steht ein sehr viel tiefer liegendes theologisches Problem im Mittelpunkt der Erörterung des göttlichen Wesens. Dieses Problem liegt letztlich auch dem Theodizee-Problem zu Grunde. Es besteht in Folgendem: Wenn man sagt, dass Gott als das höchste Denkbare Substanz sein muss, und dann zur Bestimmung seines Wesens fortschreitet, welches durch die Benennung von göttlichen Attributen bestimmt wird, dann wird Gott nach dem ontologischen Paradigma von Substanz und Akzidens, eines ontologisch selbständigen Gegenstandes und seiner ontologisch abhängigen Eigenschaften bestimmt. Der Gegenstand ist ontologisch selbständig, weil und sofern er an sich etwas ist. Die Eigenschaften sind ontologisch unselbständig, weil und sofern sie an einem anderen sind, nämlich am Gegenstand. Dieses Paradigma scheint zwingend, will man überhaupt reflektiert über Gott denken und sprechen. Dass diese Möglichkeit besteht, will Anselm ja gerade zeigen. Die Substantialität, d. h. die Selbständigkeit und kausale Kraft scheint Gott denn auch im höchsten Maße zuzukommen, weit mehr als jeder endlichen Substanz. Problematisch sind dagegen die Eigenschaften Gottes. Denn Gott kann seine Eigenschaften nicht ebenso besitzen wie endliche Substanzen die ihren. Deren Eigenschaften wandeln sich; manche kommen ihnen rein akzidentell und kurzzeitig zu wie etwa Müdigkeit oder gute Laune zu einer bestimmten Zeit, andere entwickeln sich weiter wie volle Sprachkompetenz aus ersten Anfängen oder wie die Tugenden durch Gewöhnung und Übung. Wieder andere sind womöglich dauerhaft, aber bloß faktisch und nicht notwendig, wie z. B. die blaue Augenfarbe eines Menschen, die mit einer Zerstörung der Augen verlorengehen würde, auch wenn das faktisch nicht geschieht. seiner Sicht will der erste Mensch, angestachelt vom Versucher, selbst Gut und Böse bestimmen, es also setzen, wie nur Gott das kann. Seine erste Sünde ist also die hybris. Vgl. De gen. ad litt. XI. Eine alternative Lesart des gesamten Mythos wird vorgeschlagen in Tegtmeyer 2007.

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So kann es sich aber mit Gottes Eigenschaften nicht verhalten, da er als schlechthin vollkommenes Wesen unveränderlich sein muss. Folglich kann er seine Eigenschaften nicht nach Art von Akzidenzien besitzen. Gott kann seine Eigenschaften weder gewinnen noch verlieren, weder entwickeln noch ablegen, da er alle seine Eigenschaften notwendig und ewig besitzt. Man könnte sagen, dass Gott seine Eigenschaften nicht wie Akzidenzien, sondern eher wie Propria besitzt. Aber auch das wäre irreführend, und zwar insofern, als Propria unter Allgemeinbegriffe fallen und art- oder gattungsgleichen Substanzen gleichermaßen zukommen. Propria sind Wesensbestimmungen endlicher, sich in Arten und Gattungen gliedernder Substanzen. 82 Gottes Eigenschaften sind aber in einem emphatischen Sinn ihm eigen; nur Gott kann sie besitzen. Allmächtig, allwissend, vollkommen gut und gerecht kann außer Gott kein Wesen sein. Will man hier dennoch von Propria reden, dann ebenfalls in einem ausgesprochen emphatischen Sinn. Anselm drückt diesen Gedanken aus, indem er Gott mit seinen Eigenschaften sprachlich identifiziert. So heißt es in De veritate im Rückgriff auf das Johannesevangelium, dass Gott die Wahrheit ist. Im Proslogion kommen weitere Bestimmungen hinzu, so dass Gott Leben ist, Weisheit und Wissen, Güte und Liebe, etc. 83 Das soll ausdrücken, dass Gott diese Eigenschaften essentialiter und zugleich in so eminenter Weise zukommen, dass sie Ursache dafür sind, dass diese Eigenschaften auch in der Welt exemplifiziert werden, wenn auch in weitaus geringerem Maße. Dabei fallen die beiden Bestimmungen, dass Gott die Weisheit und dass er die Wahrheit ist, begrifflich nicht zusammen. Denn als Allwissender ist Gott nicht allein Maßstab alles Wissens und wahren Glaubens. Er ist zugleich letzter Seinsmaßstab, sofern die Dinge selbst richtig sind und ihrem wahren Wesen entsprechen, wenn sie so sind, wie sie von Gott bestimmt sind, defizient, verkehrt und falsch aber, wenn sie davon abweichen. Unser theoretisches Denken ist dann wahr und richtig, wenn es sich von den Dingen das Maß geben lässt, die Dinge selbst aber, wenn sie sich von Gott ihr Maß geben lassen. Mittelbar lässt sich so auch unser theoretisches Denken von Gott das Maß geben. Deswegen ist Gott nicht allein das Wissen, sondern auch die Wahrheit. 84 Diese Betrachtungen betreffen auch die Bestimmung Gottes als Substanz. Auch diese trifft auf Gott in einem ausgesprochen emphatischen Sinn zu, da Gott weder unter einen Art- noch unter einen Gattungsbegriff fällt. Gott ist sui generis und damit außerhalb aller sonstigen ontologischen Kategorien. Auch das Sein muss daher in einem anderen Sinn von ihm ausgesagt werden als von allem sonstigen Seienden. 85 Das alles läuft darauf hinaus, dass die notwendigen   Vgl. Oderberg 2007, Kap.  3.   Proslogion XII. 84  Vgl. De veritate X. 85   Thomas Rentsch drückt das etwas missverständlich so aus, dass Gott eine eigene logische Kategorie bilde, die zu den Fregeschen Kategorien von Name und Begriff hinzukommt, 82 83

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Bestimmungen Gottes von diesem insgesamt in einem anderen als dem gewöhnlichen Sinn der dazu erforderlichen Termini ausgesagt werden können. Gott ist Substanz, aber anders als jede andere Substanz ist er ewig, unveränderlich, einfach, nicht lokalisierbar, dabei aber nicht etwa nirgendwo, sondern allgegenwärtig. 86 Anders als jede andere Substanz existiert er so, dass seine Nichtexistenz von seinem Wesen ausgeschlossen ist. 87 Gott hat Eigenschaften, doch nicht in der Weise akzidenteller Bestimmungen, sondern als substantielle Züge seines ewigen und unwandelbaren Wesens, ferner in sonstigen Exemplifikationen dieser Eigenschaften inkommensurabler Intensität. Jeder Unterschied zwischen Akzidenzien und Propria fällt weg, zumal Gottes Propria ihm auf eine solche Weise eigen sind wie sonst kein Proprium irgendeiner Substanz. Diese Reflexionen gehören zu den Anteilen negativer Theologie, die Anselm als notwendiges Element jeder reflektierten Theologie scharf herausarbeitet. Andererseits kann Theologie es nicht bei negativen Bestimmungen belassen, da kein Gegenstand allein ex negativo bestimmt und von anderen unterschieden werden kann. Rein negative Theologie ist daher logisch vereinbar mit der These, dass Gott nicht existiert, und somit mit Atheismus. 88 Anselms Ziel ist denn auch affirmative Theologie. Es geht ihm um das intellegere, das Begreifen der Existenz und des Wesens Gottes. Aber gerade der Erfolg dieses Versuchs führt zu der Einsicht, dass Gottes Wesen die geistige Erfassung, die Möglichkeit vollständiger Erkenntnis übersteigt und unmöglich macht. Gott ist nicht allein dasjenige, über dem nichts Größeres gedacht werden kann, sondern auch dasjenige, was größer ist, als gedacht werden kann (quiddam maius est quam cogitari possit), das unzugängliche Licht des Geistes (lux inaccessibilis), welches alles erleuchtet, aber selbst den endlichen Geist blendet. 89 Diese Paradoxie ist der Ausgangspunkt der negativen Theologie auch bei Nikolaus von Kues, bei Jacobi, Levinas oder Marion. Doch Anselm bleibt hier nicht stehen, sondern versucht die aufgezeigte Paradoxie zumindest soweit wieder aufzulösen, dass der ursprüngliche Impuls des ja sogar „eine Wortart mit nur einem Wort“ sei. (Rentsch 2005, S.  88) Dem Sinn nach ist diese Auskunft aber völlig zutreffend, da der Ausdruck ‚Gott‘ die Standardbedeutungen grammatischer und logischer Kategorisierung transzendiert. 86   Um diesen etwas paradoxen Zug zu plausibilisieren, greift Anselm auf die Analogie mit der Seele zurück, die als unausgedehnt und unkörperlich Seiendes gerade deswegen das Vermögen hat, im Körper überall bzw. allgegenwärtig zu sein. Vgl. Proslogion, S.  106/107. 87   Anders als bei Leibniz ist diese These, wie man sieht, nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis der Argumentation für die Existenz Gottes. 88   Michael Wolff bezeichnet die relevante Form der Verneinung, nämlich in Sätzen der Form ‚Es ist nicht der Fall, dass N P ist‘, im Anschluss an die scholastische Logik als De-dictoVerneinung. Vgl. Wolff 2009, §  9. Aus rein logischen Gründen sind Sätze dieser Form logisch vereinbar mit ‚N existiert nicht‘ bzw. ‚Es gibt kein N‘. Daran kann auch eine Anhäufung negierter Eigenschaftszuschreibungen nicht das Geringste ändern. Anders steht es mit einer partiell negativen Theologie, die auch affirmative Aussagen über Gott enthält. 89   Proslogion, S.  110/111.

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Begreifens erhalten bleibt, anstatt sich selbst zu zerstören. Er tut dies, indem er die einzelnen Paradoxien der Aussagen über das Wesen Gottes einzeln erörtert. Dass Gott zugleich das größte Denkbare und größer als alles Denkbare ist, widerspricht sich nicht, da ‚denkbar‘ hier in verschiedenen Hinsichten ausgesagt wird. Als größtes Denkbares ist Gott insofern denkbar, als denkend eingesehen werden kann, dass ein solches Denkbares existieren muss. Als Übergroßes ist Gott zugleich nicht denkbar, sofern sein Wesen nicht vollständig denkend erfasst und theoretisch durchdrungen werden kann; diese Transzendenz Gottes kann ihrerseits aber sehr wohl denkend erfasst werden und unterscheidet sich dadurch von einfacher theologischer Ignoranz. Das Problem der Wesenserkenntnis ist speziell deswegen dilemmatisch, weil wir einerseits a priori erkennen können, welche Eigenschaften Gott essentialiter zukommen müssen, andererseits einsehen müssen, dass es sich hier nicht um Eigenschaften in einem gewöhnlichen Sinn handelt. Entsprechend verlangen die korrespondierenden Aussagen über das Wesen Gottes nach einer philosophischen Interpretation, die Anselm denn auch im Zuge des Proslogion liefert. Einige der Attribute Gottes sind nicht buchstäblich zu verstehen, sondern rein metaphorisch, obwohl diese Metaphern durchaus ihre Berechtigung haben und einen notwendigen Gedanken metaphorisch ausdrücken. So ist die Rede von Gottes Mitleid und Barmherzigkeit metaphorisch, da Gott als unveränderliches Wesen notwendig affektlos ist. Da Gott nichts fühlt oder empfindet, muss er auch dem Mitleid unzugänglich und über Barmherzigkeit – und damit auch Unbarmherzigkeit – ebenso erhaben sein wie über Begehren, Zorn oder Furcht. Dennoch muss man Gott als vollkommen gutem Wesen eine Eigenschaft zuschreiben, die man metaphorisch sehr gut mit ‚mitleidig‘ oder ‚barmherzig‘ umschreiben kann, da ihre Wirkungen mit denen des Handelns eines barmherzigen Menschen eine wesentliche Ähnlichkeit besitzen.90 „Du bist […] barmherzig, weil Du die Elenden rettest und Deine Sünder verschonst; und Du bist nicht barmherzig, weil Du von keinem Mitleiden mit dem Elend berührt wirst.“91

Ähnlich verhält es sich mit einigen der Verben, mit denen das Tun Gottes umschrieben wird, so wenn man sagt, dass Gott alles sehe oder Ratschlüsse fasse, von direkt körperlichen Metaphern wie dem Auge oder dem Arm Gottes ganz zu schweigen. Gott sieht nicht mit physischen Augen, und er denkt nicht diskursiv, d. h. weder schlussfolgernd noch mit sich zu Rate gehend. Diese Metaphern legen sich nahe wegen der Ähnlichkeit der Gott zuzuschreibenden Tätigkeiten mit menschlichem Handeln. 90   Wenn Schneider versucht, theologische Rede insgesamt metaphorisch zu deuten, lässt er dabei andere Redemodi, vor allem die Analogie, ganz außer Acht. Vgl. Schneider 2008, Kap.  3, sowie zu diesem Problemzusammenhang Turner 2004, Kap.  8. 91   „Et misericors es […], quia miseros salvas et peccatoribus tuis parcis; et misericors non es, quia nullae miseriae compassione afficeris“ (Proslogion, S.  94/95).

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Doch Anselm beharrt darauf, dass die Rede über Wesen und Eigenschaften Gottes nicht durch und durch metaphorisch ist. Denn eine durchgehend metaphorische Auffassung theologischer Rede kann den Übergang zu affirmativer Theologie nicht leisten, sondern verbleibt ganz im Denkrahmen negativer Theologie.92 Deswegen gibt es neben metaphorischer Rede noch einen zweiten Modus theologischer Rede, nämlich die Analogie. Diese unterscheidet Anselm der Sache nach von buchstäblicher und metaphorischer Rede. Die logische Differenz wird aber erst später von Thomas von Aquin gründlich expliziert. Genau genommen handelt es sich dabei nicht um einen einzigen Redemodus, sondern um eine Familie von Redeformen. Der Hauptunterschied der Angehörigen dieser Familie zu Metaphern besteht darin, dass Analogien wahr oder falsch sind, während Metaphern allenfalls angemessen oder unangemessen, gut oder schlecht gewählt, neu oder abgegriffen, konventionell oder kühn sein können.93 Analogien sind, grob und allgemein gesprochen, Verhältnisentsprechungen bei Verschiedenheit der logischen Subjekte, von denen das Verhältnis ausgesagt wird. Dabei kann grob zwischen zwei Grundtypen von Analogien unterscheiden.94 Zum ersten Analogietyp gehören Verhältnisentsprechungen zwischen verschiedenen logischen Subjekten, seien diese nun gattungsgleich oder gattungsverschieden, wobei die Entsprechung in der Beschaffenheit der Subjekte selbst oder in einer Gleichheit der Relation zu anderen Objekten bestehen kann. Zum zweiten Analogietyp gehören Entsprechungen in der Hinordnung auf einen gemeinsamen Bezugsgegenstand. Man spricht hier im Anschluss an Aristoteles auch von einer die Analogie begründenden Pros-hen-Relation, einer Gemeinsamkeit in der Hinordnung auf ein und dasselbe. (1) Ein Beispiel für den ersten Analogietyp, also für eine Relationsentsprechung zwischen generisch verschiedenen Subjekten ist Platons dreigliedrige Analogie zwischen den drei Ständen im Staat und den drei Teilen der Seele in der Politeia. Schematisch dargestellt: Herrscher: Wächter: dritter Stand = Vernunft: Mut: Begierde.95 92   Und zwar weil, wie Anselms Diskussion mustergültig zeigt, jede metaphorische Zuschreibung einer Eigenschaft ‚N istm P‘ die Negation der buchstäblichen Prädikation impliziert, also ‚N ist nicht P‘. 93   Ungeachtet der Tatsache, dass Metaphern als verkürzte Analogien gedeutet und vom Interpreten entsprechend zu Analogien vervollständigt und damit einer Wahrheitsbewertung zugänglich gemacht werden können. Vgl. Tegtmeyer 2006, Kap.  2.1.2. Den Sachzusammenhang zwischen Metaphern und Analogien betont auch Pannenberg 2007, S.  9. Daneben gibt es auch einen eher heuristischen Gebrauch von Analogien, in dem sie von Metaphern kaum zu unterscheiden sind. Vgl. dazu Stekeler-Weithofer 1997 und 2000. 94   Die zwei Grundtypen der Analogiebildung werden besonders klar bei Brentano analysiert; vgl. Brentano 1862, V, §  3. 95   Politeia ∆ 11, 434 f. Pannenberg unterstellt allerdings, dass die Analogiebildung bei Platon immer etwas der Analogie vorausgehend Gemeinsames der Analogieglieder voraussetze, also wohl eine gemeinsame Gattung. Vgl. Pannenberg 2007, S.  18. Ich kann für eine solche These bei Platon keinen Anhaltspunkt finden.

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Herrscher, Wächter und die Angehörigen des dritten Standes gehören zur Gattung Mensch, Vernunft, Mut und Begierde zu den Seelenvermögen. Das tertium comparationis ist hier die Gleichheit der jeweils geforderten Hierarchisierung: Der dritte Stand ist dem Wächterstand untergeordnet und dieser den Herrschern, wie die Begierde dem Mut untergeordnet ist und dieser der Vernunft. Es geht jeweils um Macht und die Verteilung von Aufgaben und Rechten. Im wohlgeordneten Staat herrschen die bestmöglichen Regierenden, und die Wächter beschützen den Staat nach innen und außen, während das Volk durch angemessene Abgaben den Unterhalt des Gemeinwesens sichert, ansonsten aber von politischen Pflichten freigestellt ist und seinen eigenen Interessen nachgehen kann. Genauso herrscht in der geordneten Seele die Vernunft, und der Mut dient der Selbstverteidigung, während die Begierden die Subsistenz der gesamten Person sichern, indem sie ihre eigene Befriedigung suchen, ohne dazu durchgehend der direkten Steuerung durch die oberen Seelenvermögen zu bedürfen. Im ungeordneten Staat dagegen herrschen entweder – wie in einem Militär- und Polizeistaat oder in einer militanten Theokratie – allein die Wächter oder – wie in Hobbes’ Naturzustand oder in einem aufgelösten Gemeinwesen ohne staatliche Struktur – unmittelbar das ganze Volk, d. h. alle und zugleich keiner. Genauso in der ungeordneten Seele: Hier herrscht entweder – wie beim Tollkühnen oder beim Reizbaren – der Mut über die Vernunft oder – wie beim Unmäßigen oder Lüsternen – die Begierden so über Vernunft und Mut, dass das Verhalten des Akteurs insgesamt unberechenbar wird, sogar für ihn selbst. Weitere Beispiele des ersten Typs, aber mit gattunsgleichen, artverschiedenen Subjekten sind die Aussagen des Aristoteles, dass das Verhältnis des gerechten Königs zu seinem Volk dem des Vaters zu seinen Kindern gleicht und das Verhältnis der Herrschenden untereinander in der Aristokratie dem des Ehemanns zu seiner Frau. Schematisch: König: Volk = Vater: Kinder; Aristokrat: Aristokrat = Ehemann: Ehefrau.96 Hierbei ist das tertium comparationis jeweils die Gleichheit der Relation zwischen artverschiedenen Subjekten. König und Vater, Aristokrat und Ehemann sind generisch gleiche – Angehörige der Gattung Mensch –, aber spezifisch verschiedene Subjekte, und das Gleiche gilt für Volk, Kinder und Ehefrau. Sie gehören gewissermaßen verschiedenen Kategorien des Politischen zu: Ehemann, Ehefrau und Kinder der vorpolitischen Kategorie der Familie und Hausgemeinschaft, des oikos; König, Aristokrat und Volk dagegen der Kategorie der polis, der staatlich verfassten Lebensgemeinschaft einer Vielheit von Familien. Die analoge Relation ist die philia, die Liebe, deren Spezifikationen durch die Analogie ausgelotet werden. Dabei kann eine Seite einer Analogie als theoretisches Modell der anderen fungieren und umgekehrt, wie auch im Rahmen der Analo  NE Θ 13, 1160 b f.

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gie jedes Glied derselben für das korrespondierende Glied auf der anderen Seite steht.97 (2) Die zweite Form der Analogie besteht zwischen solchen Gegenständen, die paronym unter einen Begriff fallen.98 Ein Arzt, ein Arzneimittel, ein Stück Obst oder ein Spaziergang sind ihrer Seinsweise nach gänzlich verschieden, aber sie fallen dennoch in je eigener Weise unter einen gemeinsamen Begriff, nämlich den des Gesunden bzw. der Gesundheit Förderlichen. Dementsprechend kann man sagen, dass der Arzt oder das Heilmittel sich zum gesunden Leib in gewissem Sinne ähnlich verhalten wie das Stück Obst oder der Spaziergang, auch wenn sie in anderem Sinne unähnlich sind, sofern nämlich Obst und Spaziergang eher geeignet sind, die bestehende Gesundheit zu erhalten, während Arzt und Arznei dieselbe im Falle der bereits eingetretenen Erkrankung wieder herstellen sollen. Das alle diese Substanzen, Eigenschaften und Vermögen Verbindende ist die Gemeinsamkeit der Hinordnung auf eines, nämlich den gesunden Menschen oder allgemein das gesunde Lebewesen. Das trennt sie zugleich scharf von allem Ungesunden, dem Gift, dem Mangel an Bewegung, Schlaf oder Frischluft oder dem Übermaß an Speisen. Gesundes und Ungesundes können völlig verschiedenen Seinsbereichen angehören oder umgekehrt ein und demselben. Ein Stück Obst und ein Stück Torte kommen darin überein, Nahrungsmittel zu sein. In den konträren Gegensatz des Gesunden und Ungesunden treten sie allein durch die Pros-hen-Relation ein. Zueinander im Gegensatz stehen sie durch die gegensätzliche Hinordnung auf die Gesundheit eines Menschen oder sonstigen Lebewesens, ihre Zuträglichkeit oder Abträglichkeit für dessen Gesundheit. Analogien dieses dritten Typs haben die Kraft, begrifflich scheinbar disparate, aber ontologisch zusammengehörige Seinsbereiche und diesen korrespondierende Wortfelder übersichtlich zu ordnen. 97   Aussagen über Analogien lassen sich dem entsprechend an verschiedenen Stellen angreifen, entweder indem man eines der Analogieglieder angreift oder indem man die Entsprechung bestreitet. So wird mancher wohl bezweifeln, dass Platon den wohlgeordneten Staat richtig beschreibt oder dass der Vater eine geeignete Analogiefigur für den König sein kann. 98  Vgl. Kategorien, 1a. Erstaunlicherweise unterbleibt bei Pannenberg jede Betrachtung paronymer Begriffsverwendung bei Aristoteles, obgleich die gesamte scholastische Debatte über die analogia entis bekanntlich von der Frage angetrieben ist, ob und in welchem Umfang bestimmte Prädikate von Gott und den Geschöpfen paronym ausgesagt werden können. Unbegreiflich ist es angesichts dieses Problemzusammenhangs, wie Pannenberg schreiben kann, ein „Mittleres zwischen homonym und synonym“ lasse sich bei Aristoteles „nicht verifizieren“. (Pannenberg 2007, S.  31) Deswegen entgeht Pannenberg in der Diskussion des aristotelischen Seinsbegriffs auch, dass das Sein von dem unter verschiedene Kategorien Fallenden paronym ausgesagt wird – und nicht bloß homonym, wie er vermutet (vgl. ebd., S.  27). Grund der Verwirrung ist wohl, dass Aristoteles neben dem engen auch einen weiten Begriff der Homonymie verwendet, unter den auch Paronymien fallen. Homonymie im engen Sinn liegt bei bloß zufälliger Ausdrucksgleichheit vor (apo tyches homonymon). Daneben kann es aber systematisch geordnet mehrdeutige Ausdrücke geben, zu denen Paronyme und sonstige Bedeutungsanalogien gehören. Vgl. Brentano 1862, V, §  3.

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Einen interessanten Sonderfall stellt Platons Liniengleichnis vor, nämlich den Mischfall einer Entsprechungs- und einer Hinordnungsanalogie.99 Denn hier wird zwar einerseits das Sichtbare zum Denkbaren ins Verhältnis gesetzt, andererseits das Sehen bzw. Wahrnehmen zum Denken; und eine weitere Teilung dieser Bereiche ergibt einerseits die Unterscheidung zwischen dem Erkannten und dem bloß Gedachten sowie die zwischen dem Gemeinten und dem Gesehenen, andererseits die Unterscheidung zwischen Wissen und Denken sowie zwischen Meinen und bloßem Wahrnehmen. Aber der eigentliche Gegenstand des Gleichnisses ist die Ordnung der kognitiven Akte selbst, zum einen in einer Vollkommenheitsordnung ‚x > y‘ (lies: x ist vollkommener als y), so dass sich ergibt: ‚Wissen > Denken > Meinen > Wahrnehmen‘; zum anderen in einer funktionalen Zuordnung, in der das Denken auf das Wissen ebenso hingeordnet ist wie das Wahrnehmen auf das Meinen, schematisch: Wissen: Denken = Meinen: Wahrnehmen. So ergibt sich zugleich die begriffliche Hinordnung aller kognitiven Akte und der zugehörigen Vermögen auf das Wissen. Vom Wissen aus und nur von dort ergibt sich die Hierarchisierung der übrigen Akte. Dadurch wird die Gattungsordnung und werden die Stufungen der verschiedenen kognitiven Leistungen explizit gemacht. Dennoch besteht die Analogie der Verhältnisse der höheren und niederen kognitiven Vermögen auch unabhängig von der Hinordnung auf das Wissen.100 Die Frage, mit der Anselm wie vor ihm schon Augustinus und nach ihm Thomas, Descartes, Hegel und Schelling ringen, ist nun, von welchem Typus die Analogien sind, die sich legitimerweise zwischen dem vollkommenen, unendlichen Sein Gottes und endlichen Seinsweisen bilden lassen. Dabei scheint die Hauptschwierigkeit darin zu bestehen, dass die eine Seite in einer jeden solchen Analogie schlechthin unbekannt oder zumindest mit Mitteln bloßer, natürlicher Vernunft nicht zugänglich ist, so dass die jeweilige Analogie als ganze nicht vernünftig bewertbar zu sein scheint, es sei denn im Sinne einer methodisch fragwürdigen theologischen Heuristik.101  Vgl. Politeia Z, 509 ff.   Klar ist, dass das Sehen oder Wahrnehmen hier lediglich im Sinne der Perzeption, der sinnlichen Auffassung des Gegebenen gemeint ist und nicht im Sinne der veridischen Objekt­ auffassung, wie sie in einem Urteil der Form ‚Ich sehen X‘ oder ‚Ich sehe, dass p‘ ausgedrückt wird. Nicht der sinnliche Erkenntnisakt ist gemeint, sondern dessen sensuelles Korrelat. Das Liniengleichnis ist übrigens entgegen dem ersten Anschein neutral gegenüber der Kontroverse zwischen Leibniz und Kant über die Frage, ob die Erkenntnisakte nur graduell nach dem Maß ihrer Klarheit und Deutlichkeit oder prinzipiell nach dem Stamm der entsprechenden Erkenntnisvermögen unterschieden sind. Da Platons Liniengleichnis nur die kognitiven Akte gemäß ihrer Vollkommenheit ordnet, ist es vereinbar mit einer begrifflichen Disjunktion zwischen Verstand und Sinnlichkeit im Sinne Kants. 101   Dass das platonische Sonnengleichnis den Prototyp einer solchen Analogiebildung ins Transzendente darstellt, betont Pannenberg zu Recht; vgl. Pannenberg 2007, S.  19. 99

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Gegen eine solche Einschätzung protestiert bereits Augustinus. Für ihn ist der Satz der Genesis, dass Gott von allen Geschöpfen allein den Menschen als sein Bild (imago) schuf, der Schlüssel zum rechten Denken über Gott. Denn er bringt einen Gedanken zum Ausdruck, den natürliche Vernunft fassen und argumentativ rechtfertigen kann, dass nämlich Gott als unendliches, nichtkörperliches Geistwesen mit keinem endlichen Seienden irgendeine Wesensähnlichkeit besitzen kann, es sei denn, es handelt sich dabei ebenfalls um ein Geistwesen. Deswegen kann von allem endlichen Seienden nur der Mensch eine Wesensähnlichkeit mit Gott besitzen. Aber diese Ähnlichkeit kann aus dem gleichen Grund nicht den Körper des Menschen betreffen, sondern nur den Geist. Der menschliche Geist ist also von allem endlichen Seienden das einzige, was überhaupt ein Bild Gottes und damit gottähnlich sein kann.102 Für Augustinus eröffnet sich damit ein Weg der analogischen Bestimmung Gottes, vor allem im Hinblick auf die Trinität, nach dem Strukturvorbild des menschlichen Geistes, und zwar einerseits im Hinblick auf die drei Grundvermögen Verstand, Gedächtnis und Wille (intellectus, memoria, voluntas), die nur zusammen und in Wechselwirkung den menschlichen Geist ausmachen und als drei aufeinander bezogene Vermögen zugleich das Prinzip der Einheit des Geistes entfalten, andererseits aber auch im Hinblick auf die notwendig selbstbezügliche Struktur jedes geistigen Aktes, durch den sich der Geist, indem er etwas von sich Verschiedenes intendiert, zugleich notwendig selbst gegeben ist. Dieser Zusammenhang von Selbstbewusstseinstheorie und Theologie wird später von Des­ cartes, Hegel und Schelling erneuert. Bereits Augustinus folgt dabei der methodischen Maxime eines nach Erkenntnis strebenden Glaubens (fides quaerens intellectum). Aber er betrachtet die entsprechenden Analogiebildungen als methodische Annäherungen, nicht als Resultate einer bereits ausgearbeiteten theologischen Theorie. Anselm glaubt hier weitergehen zu können, da sein Argument es ihm zu erlauben scheint, die Notwendigkeit des Gottesgedankens als gesichert zu behaupten und nicht lediglich wie Augustinus gläubig anzunehmen. Denn er glaubt gezeigt zu haben, dass der Gedanke, dass Gott nicht existiert, unmöglich ist. Die Negation eines unmöglichen Gedankens ergibt aber einen notwendigen Gedanken, und ein notwendiger Gedanke ist a fortiori ein wahrer Gedanke. Nach Anselm können wir also deswegen behaupten, dass Gott existiert, weil der Gedanke seiner Nichtexistenz unmöglich ist, und wir können behaupten, dass er als vollkommenes Geistwesen existiert, weil er nur so als maximal vollkommenes Wesen gedacht werden kann. Damit hat das Nachdenken über Analogien zwischen dem menschlichen Geist und Gott anscheinend eine sichere Grundlage. Zugleich ergibt sich eine Vorklärung hinsichtlich der Frage, von welchem Typ die relevanten Analogien sein müssen. Gott und Mensch sind offenkundig in  Vgl. De Trinitate IX, 2.2, S.  51.

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paronymem Sinn Geistwesen und damit Substanzen. Deswegen scheidet jede auf Synonymie beruhende Analogie aus. Gott und Mensch sind radikal gattungsverschieden, da Gott wie schon ausgeführt sui generis ist und unter keine Gattung des endlichen Seienden fällt, anders als der Mensch. Damit stellt sich die ontologisch wichtige Frage, ob diese radikale ontologische Differenz auch eine korrespondierende Differenz zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Geist begründet. Anselm tendiert dazu, diese Frage verneinend zu beantworten, also von einer Gattungsgleichheit des menschlichen Geistes mit Gott auszugehen. Demnach sind die Unterschiede graduell, nicht prinzipiell, und die relevanten Analogien wären vom Typ des Liniengleichnisses. Das heißt, der menschliche Geist verhielte sich zum göttlichen wie das menschliche Wahrnehmungsvermögen zum menschlichen Geist. Entsprechendes müsste dann auch von geistigen Akten gelten, nämlich dass sich menschliches Wissen zu göttlichem wie menschliche Wahrnehmung zu menschlichem Wissen verhielte. Mit solchen starken Analogien sind die oben angesprochenen Elemente negativer Theologie in Anselms Denken durchaus vereinbar, so etwa mit dem Gedanken, dass der Mensch nur ex negativo und damit nicht gänzlich begreifen kann, von welcher Art göttliche Allwissenheit ist (nicht diskursiv, nicht inferentiell, nicht erweiterbar, ohne Kontrast zwischen Denken und Wissen, infallibel, etc.). Auf vergleichbare Weise ist einem dummen Menschen unbegreiflich, was menschliches Denken in seiner höchsten Vollendung ist. Doch der Mensch kann in manchen Akten des direkten Erkennens eines Gegenstandes oder Sachverhalts in der unmittelbaren Anschauung dem göttlichen Wissen nahe kommen. Über das Aussehen eines bestimmten Gegenstandes zu einer bestimmten Zeit kann nämlich auch Gott nicht mehr wissen als der diesen Gegenstand zu dieser Zeit anschauende Mensch. Im Prinzip behaupten dann auch Thomas, Descartes, Hegel und Schelling eine ähnlich starke Analogie zwischen Gott und Mensch wie Anselm. Dem scholastischen und insbesondere dem nominalistischen Fideismus geht diese Analogiebildung dagegen viel zu weit. Für Johannes Duns Scotus und William von Ockham wird der Geistbegriff von Gott und vom Menschen lediglich homonym ausgesagt, so dass jede Analogiebildung in Gefahr steht, Fehlschlüsse zu erzeugen. Daher wird paronyme Rede und damit auch jeder Gebrauch von Analogien und Schlüssen aus Analogien im Feld der Theologie als trügerisch verworfen. Für den mittelalterlichen Nominalismus ist der Imago-Dei-Gedanke ein zu glaubender Satz ohne Wert für die theologische Theoriebildung. Zwischen dem göttlichen Geist und dem menschlichen besteht für sie keinerlei Ähnlichkeit, geschweige denn Gattungsverwandtschaft. Damit ist für sie wie später für Kant auch der Nutzen der Philosophie für die Theologie rein negativ: Die Philosophie dient der Kritik angemaßter Wissensansprüche im Feld des

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III.  Erkenntnis des Transzendenten

Glaubens. Ansonsten sollte die Theologie ihrer Auffassung nach aber von philosophischer Spekulation freigehalten werden.103 Es liegt auf der Hand, dass Anselm damit zugleich die wohl stärkste mögliche Einschätzung der Leistungsfähigkeit menschlicher Vernunft vertritt.104 Gott ist für ihn nicht allein der höchste Gegenstand menschlichen Denkens. Vielmehr ist der Mensch auch des theologischen Wissens fähig, wenn auch in diesem Leben nur in unvollkommener Weise. Dabei handelt es sich um solches Wissen, welches allein durch Vernunftgründe (sola ratione) und ohne Rekurs auf Autoritätsargumente (auctoritates) erworben und gerechtfertigt werden kann.105 Damit löst Anselm den Anspruch seiner methodischen Maxime credo ut intelligam ein.106 Der Glaube ist hier nicht etwa, wie viele Interpreten meinen, eine argumentative Voraussetzung der Gotteserkenntnis,107 da andernfalls darauf aufbauende Erkenntnis diesen Titel nicht verdienen würde. ‚Ich glaube, um zu erkennen‘, heißt vielmehr, dass der Glaube die unvollkommene Vorstufe der Gotteserkenntnis ist und nicht etwa deren inferentielle Basis. Nicht der Glaube ist logisches Prinzip des Wissens, sondern das Wissen ist Ziel des Glaubens. Glaube ist teleologisch auf Wissen ausgerichtet. Darin unterscheidet sich religiöser Glaube nicht von gewöhnlichen Überzeugungen, die sich zu Wissen verhalten wie das in seiner Art Unvollkommene zum in der gleichen Art Vollkommenen. Dass religiöser Glaube anders als viele innerweltliche Überzeugungen existenziell höchst bedeutsam ist, liegt an seinem Gehalt und nicht etwa an seiner logischen Form.108 Bevor wir uns der Weiterführung von Anselms Ansatz in der Natürlichen Theologie bei Descartes zuwenden, scheint es zweckmäßig, das eine Argument des Proslogion in der hier vorgelegten Interpretation noch einmal in übersichtlicher Form zu präsentieren: (1) Der Atheist denkt: „Gott existiert nicht.“ (2) Gott muss als etwas gedacht werden, über dem nichts Besseres gedacht werden kann. 103   Diese Darstellung ist insofern grob vereinfachend, als Duns Scotus ein solches Ergebnis mit erheblichem spekulativen und argumentativen Aufwand erreicht, anders als der diesbezüglich radikalere und schlichter vorgehende Ockham. 104   Den Zusammenhang zwischen rationaler Theologie und emphatischem Vernunftbegriff betont auch Müller 2001, Einleitung. 105   Zwar zitiert Anselm im Proslogion, anders als im Monologion, häufig die Schrift, aber die Bibelzitate werden von ihm durchgehend nicht als Argumente eingesetzt, sondern liefern Fragen und Problemstellungen. 106   Proslogion, S.  82. 107   So etwa Barth, dem zu Folge die theologische Erkenntnis oder besser Einsicht bloßer Nachvollzug des ohnehin schon Geglaubten ist (vgl. Barth 1958, Kap.  I 2), aber auch Bloch, der Anselms Maxime mit „Glauben ist die Voraussetzung des Erkennens“ übersetzt, vgl. ZP, S.  71. 108   Gegen Kambartel 1989.

4.  Seinsweise und Attribute des höchsten Denkbaren

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(3) Der Atheist denkt, dass etwas, über dem nichts Besseres gedacht werden kann, nicht existiert. (4) Also denkt der Atheist, dass manches besser ist als etwas, über dem nichts Besseres gedacht werden kann. (5) Der Atheist kann nicht denken, dass etwas, über dem nichts Besseres gedacht werden kann, nicht existiert. (6) Der Atheist muss denken, dass das beste Denkbare existiert. (7) Man muss denken, dass Gott existiert. (8) Man muss denken, dass Gott notwendig existiert. (9) Man muss denken, dass Gott schlechthin vollkommen ist.109 Man beachte, dass das Argument in dieser Rekonstruktion eine rein denkimmanente reductio ad absurdum des Atheismus und damit rein dialektisch bleibt. Aus (7) und a fortiori aus (8) lässt sich eine Existenzbehauptung über Gott ableiten, wenn man die Schlussregeln akzeptiert, (i) dass ein notwendiger Gedanke ein wahrer Gedanke ist, und (ii) dass aus der Wahrheit eines Gedankens die Existenz des Denkgegenstandes folgt. Dennoch kann das eine Argument als durchgängig dialektisch gedeutet werden. Weder wird hier eine ontologische These aus einer bloßen Definition oder Kennzeichnung abgeleitet, noch findet ein anderweitiger Schluss vom Denken auf ein denkunabhängiges Sein statt. Anselm benötigt derartige Übergänge überhaupt nicht. Doch scheint es sich andererseits bei der Gottesidee110 um mehr und anderes zu handeln als eine bloße widerspruchsfrei bedenkbare Vorstellung. Denn die Gottesidee lässt sich – und das zeigt das eine Argument – nicht ohne Widerspruch negieren. Also ist sie denknotwendig, und zwar schlechthin denknotwendig, da der Widerspruch, der durch ihre Negation entsteht, an keine besonderen, die Geltung des einen Arguments einschränkenden Bedingungen geknüpft ist. Damit entgeht sein Argument Kants Kritik ontologischer Gottesbeweise.

109   (4) ist auf die oben im Text erläuterte Weise in sich widersprüchlich und muss deswegen negiert werden, und deswegen folgen (5) und (6). Der widerlegte Atheist kann, wenn er rational ist, kein Atheist mehr sein, und deswegen wechselt die Kennzeichnung des Denkers ab (7). (9) folgt aus (2) und (7). Man beachte, dass der Ausdruck ‚etwas, über dem nichts Besseres gedacht werden kann‘ keine versteckte Existenzpräsupposition enthält. Die Selbstwidersprüchlichkeit von (4) ergibt sich allein aus der Unmöglichkeit, zu jedem beliebigen Guten ein noch Besseres zu denken. 110   Der Ausdruck ‚Gottesidee‘ steht hier abkürzend für die Aussage, dass Gott als dasjenige bestimmt wird, über dem nichts Besseres gedacht werden kann.

IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis 1.  Noch einmal das eine Argument Zeigt Anselms Argument nun das, was es zeigen soll? In einem Sinne ja, da es die Undenkbarkeit der Nichtexistenz eines schlechthin vollkommenen Wesens zeigt. So vermeidet es auf elegante Weise die Hypotheken einer a priori und unmittelbar ontologischen und damit unvermeidlich auf bloß dogmatische Vorannahmen gegründeten Argumentation. Deswegen ist die Kennzeichnung dieses Arguments als ‚ontologisch‘ wie gesehen irreführend, da Anselm sich mit einer rein dialektischen Argumentation begnügt. Die Existenz eines schlechthin vollkommenen Wesens muss gedacht und behauptet werden, weil deren Leugnung in sich inkonsistent wäre und damit nicht sinnvoll gedacht und behauptet werden kann. Auf der Grundlage dieses Zugeständnisses kann dann Anselm in Fortsetzung seiner dialektischen Überlegung methodisch gesichert nach und nach die Bestimmungen entwickeln, die man von diesem Wesen aussagen muss, wenn man es als schlechthin vollkommen denkt. Doch schon der Versuch des Aristoteles, den Skeptiker in einen argumentativen Selbstwiderspruch zu verstricken, richtet nichts aus gegen einen Skeptiker vom Schlage Humes, der die pragmatische Unvermeidlichkeit von alltäglichen Aussagen über die Welt zugesteht und die Inkohärenz des eigenen Zweifels an deren Erkennbarkeit einräumt. Denn ein Skeptiker dieses Schlages kann, wie Hume selbst es auch tatsächlich tut, die Inkohärenz seines Denkens in ein weiteres skeptisches Argument ummünzen. Diese Inkohärenz zeigt nämlich aus seiner Sicht nur das, was er ohnehin lehrt, nämlich die Schwäche der menschlichen Vernunft, die nicht einmal mit sich selbst darüber ins Reine kommen kann, wie vernünftig über die Welt zu denken und zu sprechen ist. Dass sich eine realistische, nichtskeptische Ontologie und Erkenntnistheorie im Gegensatz zur skeptischen These kohärent formulieren lassen, muss ihn anscheinend nicht beeindrucken, da die Kohärenz einer Theorie bekanntlich noch kein Garant für ihre Wahrheit ist.1 1  Vgl. Treatise I 4.1 und 2. Obendrein kann der Skeptiker ein theoretisches Surrogat für das anbieten, worauf sich alltägliche behauptende Rede ihrem Anspruch nach bezieht, indem er die Rede von innerweltlichen Dingen (an sich) durch die Rede von Kantschen Objekten als Erscheinungen in einer phänomenalen Welt ersetzt. Diese Art von Erkenntnisskepsis ist ihrerseits kohärent formulierbar und gegen die aristotelische Widerlegung immun.

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IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

Analog dazu muss sich ein Theologieskeptiker vom Schlage Humes auch von Anselms Argument nicht beeindrucken lassen. Denn auch wenn er die Denkunmöglichkeit des Atheismus zugesteht, muss er sich dadurch nicht zur Akzeptanz der theistischen These nötigen lassen, sondern kann sich auf einen agnostischen Standpunkt zurückziehen. Er könnte etwa behaupten, dass die Gesetze unseres endlichen Denkens dem Sein als solchem keinerlei Notwendigkeiten auferlegen können. Dass aus dieser Maxime ein weitreichender allgemeiner Skeptizismus gegen die Möglichkeit von Wissen und Wissenschaft erwächst, ist für sich genommen kein Einwand gegen diese Spielart des theologischen Agnostizismus. Es mag sein, so kann er sagen, dass ich Gott nicht als nichtexistent denken kann, wenn ich ihn als schlechthin vollkommen denke. Das ist eine Aussage über mein Denken. Über die wirkliche Existenz und Vollkommenheit irgendeines Seienden ist damit nichts entschieden. Denn vielleicht gibt es ein solches Wesen außerhalb meines Denkens nicht, auch wenn ich diesen Gedanken nicht konsistent formulieren kann. Deswegen, so der Agnostiker, muss ich mich des Urteils über die tatsächliche Existenz oder Nichtexistenz eines schlechthin vollkommenen Wesens enthalten.2 Dem Verteidiger Anselms erwachsen aus der agnostischen Herausforderung zwei Aufgaben: (1) Er muss die Natur des Denkens und die Möglichkeit seiner theoretischen Explizierbarkeit gründlicher und methodisch klarer erforschen, als Anselms selbst dies tut. (2) Er kommt nicht umhin, das Verhältnis von Denken und denkunabhängiger Wirklichkeit, von Denken und Sein zu analysieren, wobei abermals die Möglichkeit einer solchen Verhältnisbestimmung selbst methodisch begründet werden muss. René Descartes nimmt in seinen Meditationen diese doppelte agnostische Herausforderung für die Natürliche Theologie an, wobei er den sich daraus ergebenden wissensskeptischen Zweifel bis zum radikalen Ende durchdenkt. Doch die einzelnen Momente seiner Argumentation sind allesamt schon bei Anselm vorgeformt, wie sich im Einzelnen zeigen wird.3 Das gilt nicht zuletzt für den Zusammenhang von Selbstreflexion und Gotteserkenntnis, der das systematische Rückgrat des Gedankengangs der Meditationen bildet. Dieser Zusammenhang wird im Rahmen eines skeptischen Verfahrens hergestellt, das bereits Anselm und nicht erst Descartes anwendet. Dieses Verfahren besteht bei Anselm darin, dem theologischen Zweifel, der zu Häresie, Atheismus oder Agnostizismus führen kann, ernst zu nehmen und zum methodischen Ausgangspunkt der eigenen, entsprechend dialektisch ange  Vgl. auch Winfried Löffler, Was müsste ein Argument für die Existenz Gottes eigentlich leisten?, in: Bidese/Fidora/Renner 2008, S.  55–70, S.  6 4, zur certitudo libera und der Tatsache, dass die Zustimmung zur Konklusion eines Arguments niemals erzwingbar ist. 3   Die Nähe des theistischen Arguments bei Descartes zu dem bei Anselm ist schon den Zeitgenossen aufgefallen. So macht Caterus auf die Parallele zu Anselms Argument aufmerksam, welches er zusammen mit der Kritik des Thomas von Aquin paraphrasiert; vgl. Med., Erste Einwände, S.  87 ff. 2

1.  Noch einmal das eine Argument

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legten theologischen Reflexion zu machen, anstatt darauf lediglich dogmatisch und damit theoretisch unbefriedigend zu antworten. Eine solche skeptisch verfahrende Theologie kann aber nicht anders, als vom Standpunkt des zweifelnden Subjekts selbst auszugehen und somit in der Ersten Person zu sprechen (credo ut intelligam). Im Proslogion darf Anselm diese Überlegung deswegen in ein Dankgebet an eben das Wesen einbetten, an dessen Existenz er im inneren Zwiegespräch mit dem Atheisten in sich methodisch zweifelt, weil diese Überlegung bereits abgeschlossen ist und im Gebetszusammenhang gewissermaßen als ein Gesprächsbericht referiert wird. Wie fundamental die Bedeutung der subjektiven Perspektive für Anselms gesamte Überlegung ist, bemerkt auch sein Kritiker Gaunilo, der eigens darauf aufmerksam macht, dass das Argument Anselms der Form nach zunächst einmal eher einen Schluss auf die Existenz des Sprechers zulässt, und zwar mit strenger Notwendigkeit, anders womöglich als beim Schluss auf die Existenz des Wesens, über dem nichts Größeres gedacht werden kann. Damit ist für ihn zugleich die Frage aufgeworfen, von welcher Art diese Notwendigkeit der Existenz eines Sprechers ist und wie sie sich zur behaupteten notwendigen Existenz des größten Denkbaren verhält: „So weiß ich auch sicher, dass ich selbst existiere, aber ich weiß auch, dass es trotzdem möglich ist, dass ich nicht existiere. Vom höchsten Seienden, nämlich Gott, sehe ich ohne Zweifel ein, dass es unmöglich existieren und nicht existieren kann. Ob ich denken kann, dass ich nicht existiere, während ich doch ganz sicher weiß, dass ich existiere, weiß ich nicht. Aber wenn ich es kann: Warum weiß ich dann nicht auch irgendetwas anderes mit der gleichen Sicherheit? Wenn ich es aber nicht kann: dann wäre dies keine Eigenheit Gottes.“4

Gaunilo verweist damit auf einen scheinbar paradoxen Zug von Anselms Argument. Denn das zweifelnde Subjekt weiß ohne Zweifel, dass es existiert, da der Zweifel an der eigenen Existenz sich selbst unmittelbar aufhebt. Damit ist gezeigt, dass das Subjekt in einem allerdings noch aufzuklärenden Sinn notwendig existiert. Wenn das eine Argument Anselms aber diese Notwendigkeit gleich mitliefert, was unterscheidet diese Notwendigkeit dann von der der Existenz Gottes? Wenn es keinen Unterschied gibt, dann hat das die widersinnige Folge, dass die Seinsweise des Subjekts nicht von der Gottes unterschieden werden kann. Also existiert entweder das Subjekt genauso notwendig wie Gott, oder die Notwendigkeit der Existenz des Subjekts ist nur relativ zum Argu4   „Et me quoque esse certissime scio, sed et posse non esse nihilominus scio. Summum vero illud quod est, scilicet Deus, et esse et non esse non posse indubitanter intelligo. Cogitare autem me non esse, quamdiu esse certissime scio, nescio utrum possim. Sed si possum: cur non et quidquid aliud eadem certitudine scio ? Si autem non possum: non erit iam istud proprium Deo.“ Proslogion, S.  142 f. Alquié sieht durchaus treffend im kritischen Verhältnis Mersennes zu Descartes eine analoge Konstellation zum Verhältnis Gaunilos und Anselms; vgl. Alquié 1966, S.  230 f. Die Nähe des Cogito-Arguments zum Gottesbeweis insbesondere der fünften Meditation betont Henrich; vgl. Henrich 1999, S.  68.

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IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

ment, als dessen Voraussetzung. Dann aber fragt sich, ob nicht das Gleiche doch auch von der Notwendigkeit der Existenz Gottes gilt. Wenn es einen Unterschied gibt, dann ist er von Anselm noch nicht benannt. Anselm greift diese Schwierigkeit auf, indem er zugleich die von Gaunilo wiederholt bekundete Unsicherheit über den rechten Gebrauch des Ausdrucks ‚denken können‘ und seiner Negation ironisch kommentiert: „Es ist also gewiss, dass Du Dein eigenes Nichtsein denken kannst, auch wenn Du ganz sicher weißt, dass Du existierst; ich staune, dass Du sagst, Du wüsstest das nicht. Von vielem denken wir nämlich, dass es nicht existiert, von dem wir wissen, dass es existiert, und von vielem, dass es existiert, von dem wir wissen, dass es nicht existiert; nicht urteilend, sondern fingierend, dass es so ist, wie wir denken. Und sicherlich können wir [in diesem Sinn] denken, dass etwas nicht existiert, während wir wissen, dass es existiert, weil wir ja zugleich jenes können und dieses wissen. Gleichwohl können wir nicht denken, dass es nicht existiert, so lange wir wissen, dass es existiert, weil wir Sein und zugleich Nichtsein nicht denken können. Wer also diese zwei Bedeutungen meiner Äußerung unterscheidet, erkennt, dass nichts als nichtseiend gedacht werden kann, während gewusst wird, dass es existiert, und was immer außer dem existiert, über dem Größeres nicht gedacht werden kann, dessen Nichtsein kann gedacht werden, selbst wenn gewusst wird, dass es existiert. So ist es also eine Eigenheit Gottes, dass sein Nichtsein nicht gedacht werden kann, und dennoch kann auch das Nichtsein vieler [anderer] Dinge [in gewissem Sinn] nicht gedacht werden, während sie existieren.“5

Die eigene Nichtexistenz kann nach Anselm auf eine Weise sehr wohl gedacht werden, auf eine andere Weise gerade nicht. Das Subjekt kann seine eigene Nichtexistenz ‚fingieren‘, d. h. kontrafaktisch denken bzw. sich vorstellen, dass es nicht existiert. Eine solche kontrafaktische Überlegung ist auch für das Verständnis der eigenen faktischen Existenz erhellend, denn sie führt zu der Einsicht, dass das Subjekt als endliches Wesen kontingent existiert, wie alles, dem ein räumlich und zeitlich ausgedehntes Sein zukommt und dessen Nichtexistenz in Folge dessen ontologisch möglich ist. 6 Die Kontingenz der Existenz eines Gegenstandes ermöglicht wie oben ausgeführt erst den kontrafaktischen Gedanken seiner Nichtexistenz. Dessen unbeschadet kann das Subjekt nicht denken, dass es faktisch nicht existiert, während es diesen Gedanken fasst, weil hier Sein und Nichtsein desselben in derselben Hinsicht zu denken wären, was un5   „Scitur igitur quia potes cogitare te non esse, quamdiu esse certissime scis; quod te miror dixisse nescire. Multa namque cogitamus non esse quae scimus esse, et multa esse quae non esse scimus; non existimando, sed fingando ita esse, ut cogitamus. Et quidem possumus cogitare aliquid non esse, quamdiu scimus esse, quia simul et illud possumus et istud scimus. Et non possumus cogitare non esse, quamdiu scimus esse, quia non possumus cogitare esse simul et non esse. Si qui igitur sic distinguat huius prolationis has duas sententias, intelliget nihil quamdiu esse scitur, posse cogitari non esse, et quidquid est praeter id quo maius cogitari nequit, etiam cum scitur esse, posse non esse cogitari. Sic igitur et proprium est Deo non posse cogitari non esse, et tamen multa non possunt cogitari quamdiu sunt, non esse.“ Ebd., S.  148. (Hervorhebung, Übersetzung und Zusätze im deutschen Text H.T.) 6   Ebd., S.  145.

1.  Noch einmal das eine Argument

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möglich ist. Indem das Subjekt den Gedanken ‚Ich existiere nicht‘ bzw. ‚Ich denke, dass ich nicht existiere‘ zu fassen versucht, muss es die eigene Existenz schon voraussetzen. ‚Ich existiere nicht‘ ist daher kein Gedanke, d. h. kein sinnvoll behauptbarer Satz. Der relevante Unterschied zwischen der Existenz des Subjekts und derjenigen Gottes besteht nun aber darin, dass Gottes Nichtexistenz nicht einmal kontrafaktisch denkbar ist, auch wenn das erst sichtbar wird, wenn man den Ausdruck ‚Gott‘ durch die Kennzeichnung ‚dasjenige, über dem nichts Größeres und Vollkommeneres gedacht werden kann‘ ersetzt. Die Nichtexistenz eines solchen Seienden kann nach Anselm nicht einmal ‚fingiert‘ werden, es sei denn auf die gedankenlose Weise des atheistischen Toren. In gewisser Weise teilt die Wahrheit von Gottes Existenz diese Besonderheit mit allen notwendigen Wahrheiten. Ebenso unmöglich nämlich ist es zu denken oder sich vorzustellen, wie es wäre, wenn der Satz des Widerspruchs nicht gälte oder wenn es die Eins nicht gäbe. Auch hier handelt es sich um Scheingedanken oder um rein verbale Züge, denen sich kein Sinn zuordnen lässt. Die ernsthafte Leugnung des Satzes des Widerspruchs oder der Existenz der Eins hebt sich insofern selbst auf, als sie das Denken an seiner Wurzel zerstören würde, selbst aber ein Gedanke zu sein beanspruchen muss. Das gilt ganz unbeschadet der Tatsache, dass die Einsicht in diese Notwendigkeiten für sich genommen nicht hinreicht, die Seinsweise des Satzes vom Widerspruch – als negatives Grundprinzip logischer Geltung – oder der Eins – als Grundprinzip des Zahlenraums und damit des Mathematischen – aufzuklären. Klar ist nach dem bisher Ausgeführten, dass Gott in einem noch aufzuklärenden Sinn Substanz sein muss, was weder für die Eins noch für den Satz des Widerspruchs gilt. Die notwendige Geltung des Satzes des Widerspruchs ist konstitutiv für das Denken und damit für das Logische. Die notwendige Existenz der Zahl Eins ist konstitutiv für den Zahlenraum und für das mathematische Denken. Anselms Proslogion als ganzes gibt uns nun die Auskunft, dass die notwendige Existenz Gottes konstitutiv zunächst nicht unmittelbar für das Sein, sondern für unser Denken des Seins überhaupt ist. Diese Auskunft wird in der Schrift allerdings kaum ausgeführt. Man könnte Anselms ontologische Studien im Monologion, die für sich genommen als Argument für die Existenz Gottes scheitern, im Nachhinein zur Illustration dieser These heranziehen. Aber der hier aufscheinende Zusammenhang bleibt weitgehend der Intuition überlassen und wird nicht expliziert. Das liegt vor allem daran, dass der Begriff des Denkens (cogitare) insgesamt kaum erläutert wird, trotz des Hinweises auf die fundamentale Bedeutung des Satzes des Widerspruchs. Der notwendig performative, vollzugshafte Charakter des Denkens als Akt scheint auf, aber die Rede darüber bleibt appellativ. Aber gerade hier, im noch unverstandenen Begriff des Denkens, findet Descartes den methodischen Ansatzpunkt für die Durchführung

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IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

des Projekts der Meditationen: aus einer Analyse des Denkens selbst heraus das Verhältnis von Denken und Sein aufzuklären.

2. Selbstbewusstsein Auf welche Weise Descartes den skeptischen Zweifel radikaler als Aristoteles oder Anselm zur methodischen Grundlage seiner Philosophie macht, ist häufig beschrieben, aber nicht immer richtig begriffen worden. Ihn als den Begründer des modernen Skeptizismus zu sehen7 stellt seine Philosophie auf den Kopf, geht es ihm doch gerade um eine fundamentale reductio ad absurdum des Skeptizismus in Vertiefung der entsprechenden Bemühung des Aristoteles und um eine Grundlegung der Ersten Philosophie, wie schon der Titel der Meditationes de Prima Philosophia verrät, d. h. der Metaphysik. 8 Ebenso verkehrt aber ist die These, dass der methodische Zweifel Descartes’ nur eine methodische Inszenierung sei und das skeptische Anliegen in Wahrheit nicht ernst nehme.9 Vielmehr ist es sein Ehrgeiz, die Metaphysik gerade dadurch zu begründen, dass er just den Zweifel an ihrer Möglichkeit methodisch fruchtbar macht. Doch dazu muss er den Skeptizismus ausgesprochen ernst nehmen, ernster vielleicht als dieser sich selbst. Dass er den skeptischen Zweifel zur Methode der Untersuchung macht, ist daher keinesfalls ein Zeichen mangelnden Ernstes. Es lässt sich vielmehr zeigen, dass Descartes den Skeptizismus so konsequent radikalisiert, wie kein pyrrhonischer oder moderner Skeptiker einschließlich Humes es je getan hat. Denn Pyrrhon, Sextus Empiricus und auch Hume verwenden ihre skeptische Urteilsenthaltung letzten Endes lediglich als Lizenz zur gedanklichen Inkonsequenz. Den mangelnden intellektuellen Ernst lässt Descartes dem Skeptiker nicht durchgehen. Er überbietet den Pyrrhonismus methodisch gleich in zweifacher Hinsicht. Descartes geht nämlich erstens zwar wie der pyrrhonische Skeptiker von der Fallibilität unserer Urteile aus, aber er behandelt diese nicht unterschieden nach den einzelnen (Arten von) Gegenständen derselben wie etwa Sextus, sondern   Wie Kern 2006, S 9 ff. und 93 ff.   Entsprechend abwegig ist auch die spätestens seit Ernst Cassirer verbreitete Auffassung, dass Descartes die Ontologie durch Erkenntnistheorie ersetzen wolle, die damit zur neuen Ersten Philosophie werde. Vgl. Cassirer 1906, III 1, sowie Cassirer 1939, S.  25. Eine solche Ersetzung ist weder möglich, noch wird sie von Descartes erstrebt. Wohl aber geht es ihm um eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung der Möglichkeit von Metaphysik bzw. Ontologie. Eine solche Rechtfertigung ist aber nicht selbst schon die Erste Philosophie, sondern der Weg dorthin. Aristotelische und scholastische Einflüsse streitet Cassirer nicht ab, schreibt sie aber dem Doppelcharakter des cartesischen Denkens zwischen „Vergangenheit“ und „Zukunft“ zu; vgl. ebd., S.  11, sowie die knappe Auseinandersetzung mit der konträren These Gilsons auf S.  23. Gegen diese Deutung wendet sich auch Ariew; vgl. Ariew 1999, S.  188 ff. 9   Wie Gabriel 2008, S.  97, behauptet. Gabriel stimmt letztlich mit Kern darin überein, dass Descartes vor allem als Skeptiker bedeutend sei. Vgl. ferner Williams 1998. 7 8

2. Selbstbewusstsein

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fasst sie in sehr viel allgemeinere Klassen zusammen, und zwar geordnet nach ihrer Gegebenheitsweise für den menschlichen Geist. Manches wissen wir durch Unterricht, also auf die Autorität von Lehrern oder Zeugen hin. Hinsichtlich mancher Gegenstände sind wir auf Wahrnehmung angewiesen, um den Geist auf sie richten zu können; andere, z. B. die Gegenstände der Mathematik, sind dem menschlichen Denken auch ohne Wahrnehmung gegeben.10 Bezogen auf die Wahrnehmung lassen sich noch Gegenstände der Fernwahrnehmung, der Nahwahrnehmung und der Eigenwahrnehmung unterscheiden, wobei zu letzteren immer nur je ein Gegenstand gehört, nämlich der eigene Körper des wahrnehmenden Subjekts und seine Teile. Damit hat Descartes fünf Klassen von Urteilen und deren Gegenständen unterschieden, die sich nun nacheinander hinsichtlich ihrer Fallibilität untersuchen lassen. Zweitens verschreibt er sich der radikal skeptischen Methode, hinsichtlich jeder dieser Klassen von Urteilen skeptische epoche, also Enthaltung von Zustimmung oder Ablehnung, zu üben, wenn sich herausstellt, dass sie fallibel sind, d. h. dass die zu der jeweiligen Klasse gehörigen Urteile ihre Wahrheit nicht garantieren können. Dass er damit einen extremen und für alltägliche Wissensansprüche völlig überzogenen Skeptizismus ansetzt, dessen ist sich Des­cartes voll bewusst, und er betont es auch in den Erwiderungen immer wieder.11 Aber es dient ihm eben dazu, den skeptischen Zweifel an sein Ende zu bringen, während der Pyrrhoniker zuvor schon das Denken und Forschen einstellt und inkonsequent von der skeptischen Leugnung zur pragmatischen Anerkennung der Möglichkeit von Wissen über die Welt übergeht, wie dies Hume in seiner Rechtfertigung von Glauben und Gewohnheit im Hinblick auf den alltäglichen Umgang mit der Wirklichkeit tut. Descartes gelangt hingegen zu einer echten, methodisch geordneten skeptischen Reduktion der Möglichkeit von Erkenntnis. Dabei greift er zunächst durchaus auf vertraute und obendrein naheliegende pyrrhonische Argumente gegen die Möglichkeit von Wissen zurück. So spricht gegen die Verlässlichkeit von Autoritäten, dass sie sich häufig gegenseitig widersprechen. Und die Einwände gegen die Möglichkeit eines Wissens aus eigener Wahrnehmung machen zugleich die Glaubwürdigkeit von Augenzeugen und Lehrern zunichte. Denn wenn wir uns wahrnehmungsbezogen irren können, dann gilt das genauso für Zeugen und Sachverständige. Da sie

10   Darin schließt Descartes auch geometrische Gegenstände ein, die durch wahrnehmbare Figuren, Zeichnungen o.ä. repräsentiert werden können. Solche Repräsentationen sind für die denkende Betrachtung der Eigenschaften dieser Objekte hilfreich, ja vielleicht unerlässlich. Und dennoch kann zwischen der Wahrnehmung einer Repräsentation und der anschauenden Betrachtung der geometrischen Figur selbst unterschieden werden – und daher auch zwischen einer Fehlwahrnehmung der Repräsentation und einem Anschauungs- oder Denkfehler bei der Betrachtung der Figur selbst. Das genügt Descartes, um geometrische Gegenstände zu den Objekten des Denkens, nicht der Wahrnehmung zu rechnen. 11   So etwa in der Erwiderung auf die Siebenten Einwände, vgl. Med., S.  398 f.

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IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

fallibel sind, verlangt die skeptische Methode, die Wahrnehmung Dritter als Quelle von Wissen zu verwerfen. Die Sicherheit von Fernwahrnehmung ist deswegen trügerisch, weil, wie wir wissen, Gegenstände von fern betrachtet häufig ganz anders aussehen als aus der Nähe betrachtet, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Farbe als auch ihrer Größe und Gestalt. Das Gleiche gilt für die Wahrnehmung sehr kleiner Objekte.12 Es scheint, als könnten wir Nahwahrnehmungen eher trauen als Fernwahrnehmungen. Aber auch Nahwahrnehmungen sind nicht infallibel, wenn etwa ungünstige Lichtverhältnisse die Farbe, ja sogar die Gestalt eines Dinges anders aussehen lassen, als sie sind, ohne dass der Wahrnehmende das bemerkt. So erscheint ein gelbes Stück Baumwolle in blauem Licht grünlich, und ein gerader Stab sieht im Wasser gekrümmt aus. Sogar die Eigenwahrnehmung kann trügerisch sein. Es kann vorkommen, dass ein Mensch die Quelle einer bestimmten Empfindung, z. B. eines Schmerzes, falsch lokalisiert. Und im Traum glaubt man, wie Descartes ganz pyrrhonisch argumentiert, sich in Zuständen zu befinden, in denen man sich in Wahrheit nicht befindet. Man glaubt z. B., an einem Tisch zu sitzen und einen Text zu schreiben, während man in Wahrheit im Bett liegt und schläft. Da wir nun aber nicht mit Sicherheit subjektiv Wachvon Traumzuständen unterscheiden können – oft träumen wir, wenn wir glauben, wach zu sein, und manchmal auch umgekehrt –, muss Descartes in konsequenter Anwendung seiner skeptischen Methode auf Urteile verzichten, die sich direkt auf Nah- und Eigenwahrnehmungen beziehen oder indirekt darauf stützen.13 In der Konsequenz bedeutet das, dass er sich jedes Urteils über die physische Welt, ja über den eigenen Körper enthalten muss. Zugleich hat er damit von den fünf genannten Urteilsklassen vier als ungewiss ausgesondert. Die erste enthält Urteile, die sich auf die Autorität Dritter gründen. Die zweite umfasst Urteile, die auf dem kognitiven Kontakt mit räumlich fernen Objekten beruhen, die dritte solche, die auf den Kontakt mit räumlich nahen, die vierte solche, die auf den mit dem eigenen Körper zurückgehen. Bei der fünften und letzten Klasse von Urteilen findet ein solcher Kontakt gar nicht statt. Der Geist des Urteilenden hat es dazu nicht nötig, sich von einer ihm externen Quelle darüber informieren zu lassen, wie der fragliche Sachverhalt ist, um zutreffend urteilen zu können. Logische und mathematische Sachverhalte findet der menschliche Geist auf eine wenn auch erläuterungsbedürftige Weise in sich selbst vor. Da es hier keine externe Quelle gibt, entfallen auch die damit verbundenen Irrtumsmöglichkeiten. Das heißt nicht, dass logische oder mathematische Fehler ausgeschlossen wären. Im Gegenteil, es kann geschehen, dass eine Person logische oder mathematische Operationen fehlerhaft ausführt. Aber sofern diese Person ein kompetenter Logiker oder Mathematiker ist, kann   Med. I 5, S.  12.   Ebd., S.  12 f.

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sie die fehlerhafte Operation selbst denkend überprüfen und korrigieren. In diesem Sinne, und nur in diesem, sind logische oder mathematische Urteile – anders als wahrnehmungsbezogene – infallibel. Das liegt an ihrer Klarheit und Deutlichkeit, die auch Fehler deutlich sichtbar werden lässt. So wird auch verständlich, warum „die Arithmetik, die Geometrie und andere Wissenschaften dieser Art […] etwas von zweifelloser Gewissheit enthalten“, anders als „die Physik, die Astronomie, die Medizin und alle anderen Wissenschaften, die von der Betrachtung der zusammengesetzten Dinge abhängen“.14 Zugleich scheint es, als sei damit eine wichtige Einsicht über die endliche Macht des menschlichen Geistes gewonnen: Zwar kann er nicht immer zuverlässig zwischen dem, was der Fall ist, und dem, was der Fall zu sein scheint, unterscheiden, aber er kann doch die Gebiete und die Fälle, in denen er das klar und deutlich kann, von den Gebieten und Fällen unterscheiden, in denen eine solche Klarheit und Deutlichkeit nicht möglich sind, wenn auch unter dem Vorbehalt, dass der skeptische Zweifel hypertroph ist.15 Damit ist Descartes bereits an einen Punkt gekommen, den der Pyrrhonismus nicht erreicht, da dieser die Besonderheiten mathematischen Denkens und Wissens gar nicht berücksichtigt. Hume erkennt die Infallibilität des mathematischen Denkens durchaus an, ohne daraus Konsequenzen für seinen empiristischen Wissensbegriff zu ziehen.16 Im Kontrast zu derartig ungründlichen Varianten des Skeptizismus gibt Descartes dieser Beobachtung im Rahmen des skeptischen Diskurses ihr volles Gewicht, indem er darauf aufmerksam macht, dass logisches und mathematisches Wissen gegen skeptische Standardeinwände völlig immun ist. Doch er begnügt sich damit nicht, sondern formuliert für diesen Bereich einen skeptischen Einwand, für den er in der Literatur kein Vorbild findet: den Einwand aus der Möglichkeit eines genius malignus, eines bösen und mächtigen Geistes.17 Ein mächtiger und böser Geist könnte, so die Überlegung, 14   Ebd., S.  14. Übrigens erfolgt damit keineswegs schon eine Festlegung Descartes’ hinsichtlich des ontologischen Status mathematischer Gegenstände. Die Infallibilität mathematischer Urteile ist ebenso mit einer aristotelischen Deutung der Zahlen und Figuren der Mathematik als durch Abstraktion gewonnener entia rationis wie mit einer platonistischen Deutung derselben als sui generis existierender idealer Objekte vereinbar, zu denen der menschliche Geist einen eigenen, nichtperzeptiven Zugang hat. Descartes betont ebd., dass die Frage, ob mathematische Objekte wirklich existieren oder nur im Geist, für den Wahrheitswert mathematischer Urteile irrelevant ist. Dazu gibt es in den empirischen Wissenschaften keine Parallele. 15   Es hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis von Descartes’ Idee der Wissenschaft, ob man der skeptischen Methode auch nach Überwindung des radikalen Zweifels eine Funktion für den Aufbau des Wissens zuschreibt oder nicht. Darauf wird zurückzukommen sein. Vgl. zu den Schritten des methodischen Zweifels auch Koch 2004, S.  18 ff. 16   Mathematische Erkenntnisse beziehen sich nach Hume auf bloße Relationen zwischen Ideen, weswegen es ihm scheint, als sei es ganz gleich, ob man hier von genuinem Wissen oder nur von korrekten Ideenverbindungen spricht. Vgl. Treatise, I 1.5, S.  14, Enquiry IV 1, S.  25, aber auch KpV, A 88 ff. 17   Nach Spaemann gewinnt Descartes die Figur des genius malignus aus der mystischen

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bewirken, dass gerade auch das, was uns klar und deutlich auf eine bestimmte Weise erscheint, tatsächlich ganz anders beschaffen ist. Der Einwand mag ausgesprochen gesucht erscheinen, aber er leistet genau das, was er leisten soll: er hebelt die Evidenz mathematischen Denkens aus. Obendrein weist Descartes darauf hin, dass auch ein gütiger, aber nicht hinreichend mächtiger Gott an die Stelle des bösen Geistes treten kann, ein Gott nämlich, der nicht verhindern kann, dass unser Denken systematisch fehlerhaft ist.18 Aber der Einwand lässt sich im Prinzip auch ohne Rekurs auf ein transzendentes Wesen führen, das uns entweder täuscht oder zu schwach ist, um Denktäuschungen zu verhindern. Auch eine entsprechende naturgeschichtliche, z. B. evolutionäre Hypothese kann ein solches ersetzen. Warum, so könnte man nämlich fragen, sollte nicht als Nebenprodukt der Entwicklung unserer kognitiven Fähigkeiten eine systematische Unfähigkeit zur korrekten und begründeten Beurteilung gewisser mathematischer Sachverhalte entstanden sein, und zwar so, dass wir die entsprechenden Urteile im Gefühl subjektiver Gewissheit fällen und begründen?19 Es ist klar, dass ein solcher Verdacht, wenn er sich nicht zerstreuen lässt, sehr weitreichende Konsequenzen haben muss, ja an die Wurzel der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt geht. Denn zwar ist das klare und deutliche Denken nur für mathematische Erkenntnis hinreichend, für empirische Erkenntnis dagegen nicht. Aber wenn dem klaren und deutlichen Denken nicht zu trauen wäre, dann wäre jedes andere kognitive Vermögen wertlos. Der skeptische Zweifel scheint damit jede Erkenntnismöglichkeit überhaupt schon im Ansatz zu zersetzen. Die Bewegung des skeptischen Zweifels scheint damit das Denken selbst zu zerstören, nachdem sie es zuvor sukzessive von der fernen und nahen Außenwelt und sogar vom eigenen Körper abgetrennt hat. Doch genau an dieser Stelle kommt diese Bewegung an ihr Ende, und damit muss auch jeder skeptische Zweifel enden und verstummen. Denn um zu zweifeln, sich zu irren oder getäuscht zu werden, muss das Subjekt existieren. Es kann keine trägerlosen, frei schwebenden Zweifel oder Irrtümer geben, sondern es handelt sich notwendig Literatur seiner Zeit; vgl. ders., „Gottesbeweise nach Nietzsche“, in Spaemann, Gerücht, 2007, S.  43. Perler weist auf weniger radikale Vorläuferüberlegungen in der mittelalterlichen Philosophie hin, die sich mit der Möglichkeit befassen, ob unser Denken durch böse Dämonen irregeführt oder durch einen paternalistisch lügenden Gott geleitet sein könnte. Vgl. Perler 2006, §§  12 und 17. 18  Vgl. Med. I 12, S.  15. Es wird genauer zu untersuchen sein, ob Descartes mit einem theistischen Argument auch diese logische Möglichkeit ausschließen kann. Zu weiteren skeptischen Szenarien vgl. Kemmerling, Ideen, 1996, S.  155 ff. 19   Diese Spielart des skeptischen Arguments scheint besser zu einer platonistischen Auffassung der Seinsweise mathematischer Gegenstände zu passen. In aristotelischer Deutung ist mathematisches Denken erst über seinen Zusammenhang mit empirischem, weltbezogenem Denken als systematisch verzerrt und fehlerhaft modellierbar. Dass diese Möglichkeit immerhin besteht, zeigt, dass Descartes durchaus berechtigt ist, Fragen der Ontologie mathematischer Gegenstände zunächst ganz auszuklammern.

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um jemandes Zweifel oder Irrtümer. Zweifel und Irrtum fordern einen Zweifelnden oder sich Irrenden. Für eine Täuschung sind sogar zwei Subjekte erforderlich, ein täuschendes, z. B. der genius malignus, und ein getäuschtes.20 Ein Zweifel an der Existenz eines zweifelnden und damit denkenden Subjekts ist daher nicht möglich. Aber diese Formulierung ist noch zu schwach. Es genügt nicht zu sagen: ‚Die Durchführung des skeptischen Zweifels setzt die Existenz eines zweifelnden Subjekts der Skepsis voraus; sie lässt daher keinen Zweifel zu, dass es – mindestens – ein Subjekt gibt‘. Dieses Argument ist zwar schlüssig, aber nicht mehr als das. Ein stringentes Argument sichert nicht die Wahrheit seiner Konklusion. Descartes’ Gedanke ist insofern wesentlich stärker, als er den Zweifel selbst durchführt, was es ihm erlaubt, das Argument in der Nachfolge Anselms erstpersonal zu formulieren: ‚Ich zweifle, ich denke, also existiere ich‘ (‚Dubito, cogito, ergo sum‘). Auch hier handelt es sich um ein schlüssiges Argument, nicht aber um eines, dessen Prämisse auch nicht erfüllt sein kann. Denn indem je ich den skeptischen Zweifel durchführe, mache je ich die Prämisse des Arguments performativ wahr, und zwar auf eine Weise, die schlicht immun gegen Zweifel ist.21 Daher kann Descartes folgern: „Und so komme ich, nachdem ich derart alles mehr als zur Genüge hin und her erwogen habe, schließlich zu dem Beschluss, dass dieser Satz: ‚Ich bin, ich existiere‘, so oft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist.“22

Denn die subjektive Durchführung des skeptischen Zweifels selbst schließt jede Möglichkeit des Zweifels an der Existenz des Subjekts aus. 23 Gezeigt wird so nicht nur, dass es – relativ zur Voraussetzung irgendwelcher Akte des Zweifelns – (irgend)ein zu diesen Akten gehöriges Subjekt geben muss. Gezeigt wird vielmehr auch, dass je ich existiere. Zweifelnd und denkend bin je ich je mir notwendig und infallibel gegeben.24 Zur damit unmittelbar enthüllten Tatsache je  Zumindest wenn man das schwierige Problem der Selbsttäuschung unberücksichtigt lässt, bei dem Täuschender und Getäuschter identisch sein müssen. Vgl. dazu Beier 2010. 21  Vgl. auch Williams 1981, der von einer Selbstverifizierung dieses Gedankens spricht (S.  52). Im Unterschied zu dieser auch hier vertretenen Deutung des Cogito-Arguments versteht Koch das cogito im Anschluss an Kemmerling als deskriptiven, nichtperformativen Gedanken; vgl. Koch 2004, S.  52. Dazu steht in Spannung, dass er das ‚Ich denke‘ auch als intellektuelle Anschauung im Sinne Fichtes und Schellings kennzeichnet; vgl. ebd., S.  28. Eine Anschauung ist ihrer Natur nach performativ; a fortiori gilt das für eine intellektuelle Anschauung. Die performative Deutung des Arguments wurde prominent von Jaakko Hintikka vertreten; vgl. Hintikka 1962. Williams kritisiert allerdings Hintikkas allzu starke Bindung an Austins Konzept des Performativen, die das Verständnis dieser Deutung eher erschwere als begünstige; vgl. Williams 1981, S.  53. 22   Med. II 3, S.  18. 23   Das bestreiten Kemmerling, Bezweifelbarkeit, 1996 und Markie 1998, S.  71, Anm.  16. 24   Kant greift diesen cartesischen Gedanken zwar in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft in der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe auf, verzeichnet ihn aber dann im Paralogismus-Kapitel völlig, wenn er das ‚Ich denke‘ glaubt auf 20

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meiner Existenz kann ich mich nicht mehr mit Gründen skeptisch oder auch nur agnostisch verhalten. Allerdings muss nun, wie auch Descartes sieht, genauer untersucht werden, worauf sich die Sicherheit dieser Aussage, dass je ich existiere, gründet und was genau sie bedeutet. Was genau ist gezeigt, wenn gezeigt ist, dass je ich existiere? Und woran liegt es, dass sich das mit solcher Sicherheit zeigen lässt? Was den ersten Punkt angeht, so lassen sich ausgehend von den Ergebnissen der ersten Meditation eine bestimmte Klasse von Aussagen aus dem Bereich des durch die Einsicht Gesicherten ausschließen. Dasjenige, dessen je ich mir durch meine Selbstreflexion sicher sein kann, schließt nicht den Gehalt meiner Eigenwahrnehmung ein, da diese ja fallibel ist. Mein Körper und seine Zustände sind im Gehalt des ‚Ich existiere‘ daher nicht eingeschlossen, obwohl er Gegenstand meiner Eigenwahrnehmung zu sein scheint. Vielmehr handelt es sich bei der fraglichen Art von Existenz, die mit dem ‚Ich existiere‘ gemeint ist, um die eines denkenden Wesens, einer res cogitans.25 Dieser Ausdruck, den man zunächst so unbestimmt wie möglich mit ‚etwas Denkendes‘ übersetzen sollte,26 kann aber auch nicht einfach ein formal unbestimmtes Subjekt X sein, von dem das Denken, im weiten Sinn verstanden, als Prädikat ausgesagt wird, und zwar so, dass sein ontologischer Status völlig ungeklärt bliebe. Durch den Ausschluss weiterer Möglichkeiten lässt sich so das Wesen dieses ‚Ich‘ weiter eingrenzen. Zunächst einmal kann dieses Ich nicht Akzidenz einer anderen Sache sein, da es sich seiner selbst als Tätiges bewusst geworden ist, Akzidenzien aber nicht tätig sind. Logisch spiegelt sich das in der Tatsache wieder, dass dieses Ich notwendig Subjekt ist und niemals Prädikat von etwas anderem sein kann.27 Aus diesem Grund kann das Ich auch kein bloßes Vermögen, keine Potenz sein, da so genannte Potenzen als solche nicht tätig sind, sondern dasjenige, was sie besitzt, „bloße logische Funktionen“ des Urteilens reduzieren zu können. Vgl. KrV, B 407. Zwar darf man die Erkenntnis des Ich im cartesischen cogito nicht mit dem Inhalt einer materialen, ‚empirischen‘ Selbsterkenntnis verwechseln, wie Kant richtig sieht, aber die Reduktion des Ich auf die bloß formale Funktion der Einheit des Urteils verkennt den durchaus substantiellen, metaphysischen Charakter der cartesischen Einsicht. Diese lässt sich weder auf Logik noch auf Grammatik zurückführen. Vielmehr müssen Kants ‚Ich denke‘ als Prinzip der Einheit des Urteils, Freges Ausführungen zur Bedeutung des Urteilsstrichs und auch die sprachphilosophischen Untersuchungen zur Logik des Ich als eines indexikalischen Ausdrucks (in der Nachfolge Shoemakers und Castañedas; vgl. dazu auch Tugendhat 1979 und Rödl 1998) Descartes’ metaphysische Einsicht voraussetzen. Dazu unten mehr. Vgl. ferner Longuenesse 2008. 25  Vgl. Med. II 9, S.  20. 26   Vgl. Hennig 2006, S.  37. Beyssade macht auf eine grundlegende Parallele zwischen dem Cogito-Argument und dem theistischen Argument der dritten Meditation aufmerksam. In beiden Fällen geht die Einsicht in das quod est, die Existenz einer Sache, der Erkenntnis des quid est, der quidditas bzw. des Wesens voraus. Vgl. Beyssade 1992, S.  184. 27   Auch nicht in Fichtes notorischer Formel Ich = Ich, da es sich hier um ein Identitätsurteil und nicht um eine Prädikation handelt. Fichte selbst betont das mit Nachdruck. Vgl. Wissenschaftslehre, §  1.

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dazu befähigen, auf eine bestimmte Weise tätig zu sein. Nicht der Sehsinn sieht einen Gegenstand, sondern ein Wesen, welches einen Sehsinn besitzt. So braucht auch das Vermögen zu denken, die Vernunft, einen ‚Träger‘, den sie zum Denken befähigt. Das kann aus den genannten Gründen aber auch weder ein Humesches Bündel von Gedanken 28 noch ein bloß instantanes oder episodisches Subjekt im Sinne Parfits sein.29 Der Gedanke Humes, dass das Subjekt nichts anderes sei als die bloße Verknüpfung von Gedanken und Empfindungen, ist insofern in sich inkohärent, als Gedanken und Empfindungen sich nicht von sich aus verknüpfen, sondern von demjenigen verknüpft werden, der sie hat. Nicht es denkt und empfindet, sondern ich denke und empfinde, und zwar auch dann, wenn ein Gedanke oder eine Empfindung sich mir ‚aufdrängt‘, wie man sagt. Eben daran scheitert auch Parfits Idee eines episodischen Subjekts, dessen Gedanken und Erinnerungen sich über die Zeit hinweg so verknüpfen, dass die Illusion einer überzeitlichen subjektiven Identität entstehen soll. Diese überzeitliche Verknüpfung ist ebenso unmöglich wie die von Hume gedachte. Das episodische Subjekt kollabiert am Ende in Humes unhaltbare Vorstellung vom Subjekt als einem Bündel von Gedanken und Empfindungen (wobei Erinnerungen als bloße Abdrücke oder Spuren vergangener Gedanken und Empfindungen aufgefasst werden, was eine zeitlich ausgedehnte Existenz schon voraussetzt). Kurz und gut, das, was sich hier durch Selbstreflexion seiner eigenen Existenz vergewissert, muss eine Substanz sein, die aber begrifflich verschieden vom Körper ist. Das ‚Ich‘ kann nichts anderes sein als eine denkende Seele.30 Descartes nennt aber noch weitere Termini, die womöglich alternativ geeignet sind, das Ich als Substanz näher zu charakterisieren, nämlich mens, animus, intellectus und ratio.31 Diese Termini sind keineswegs synonym, sondern heben verschiedene Aspekte von Vernunft und Rationalität hervor. Mens bezeichnet in einem weiten Sinn das Vermögen zur Repräsentation von Gegenständen und Sachverhalten, animus den aktiven, tätigen, spontanen Charakter des Geistigen, und zwar im Kontrast zur auch von Rezeptivität gekennzeichneten Seinsweise der anima, der Seele insgesamt. Mit dem Terminus intellectus wird auf die Fähigkeit zum Erkennen und Beurteilen von Gegenständen und Sachverhalten abgehoben, während mit ratio das Vermögen zu schließen und somit ausgehend von Erkenntnissen zu anderen Erkenntnissen zu gelangen gemeint ist. All das sind  Vgl. Treatise, I 4. 6.   Vgl. Parfit 1983. 30  Hobbes wirft Descartes hier einen substantialistischen Fehlschluss vor. Ebenso wie Des­cartes könne man aus ‚Ich gehe spazieren‘ versucht sein zu folgern ‚Ich bin ein Spaziergang‘. (Vgl. Th. Hobbes, Dritte Einwände, Med., S.  156) Descartes bestreitet die Analogie. Ein dem Hobbesschen analoger Schluss wäre vielmehr ‚Ich denke, also bin ich ein Gedanke‘, aber dieser Schluss wäre eben, anders als das Cogito-Argument, ein Fehlschluss. (Vgl. ebd., S.  158) Problematisiert wird die These von der Substantialität der Seele bei Williams 1981, Kap.  4. 31   Med. II 9, S.  20. 28 29

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wichtige und distinkte Seelenvermögen, von denen an dieser Stelle offen bleiben muss, ob eines davon so dominant und wichtig ist, dass es legitim wäre, die Seelensubstanz als Ganze entsprechend zu benennen,32 oder ob sie eher ein Ensemble koordinierter Fähigkeiten bilden, welche insgesamt das komplexe Vermögen ausmachen, welches man als Vernunft bezeichnet. Überhaupt sollte man vom Begriff der Seele allzu bestimmte Vorstellungen weiterhin fernhalten. Wenn je ich einsehe, dass ich denke, indem ich denke, dann ist das, was denkt, gewissermaßen die nächste Substanz, nicht ein Körper, weil die Aussage ‚Körper denken‘ oder auch ‚Manche Körper denken‘ einen Kategorienfehler beinhaltet, den die erste Meditation aufzudecken hilft. Daraus darf man aber nicht umgekehrt schon folgern, dass die denkende Seele vom Körper getrennt zu existieren vermag.33 Die Trennung ist somit zwar zunächst rein begrifflich, aber sie hat dennoch Biss. Sie zeigt nämlich: Was immer es mit dem Ich als Substanz ontologisch betrachtet auf sich hat, das Denkvermögen ist ihm jedenfalls wesenseigen. Die cogitatio, das Denken in all seinen Aspekten, die durch die Begriffe mens, animus, intellectus und ratio sowie den in der dritten Meditation noch hinzukommenden Begriff der voluntas umrissen werden, bestimmt die Seinsweise dieser Substanz grundlegend. Hinsichtlich des zweiten Punkts, nämlich der Frage nach Beweiskraft und Beweisgrund des Cogito-Arguments, lassen sich ebenfalls zunächst einige Fehldeutungen ausschließen.34 Das Cogito-Argument hat zwar eine inferentielle Struktur, aber diese ist nicht syllogistisch. Deswegen geht jede Deutung fehl, die das ‚Cogito sum‘ als ein Enthymem, einen elliptischen Syllogismus deutet.35 Die Form des Arguments ist also nicht: (P1) Alles, was denkt, existiert. (P2) Ich denke. (K) Ich existiere.

Im Gegensatz zu diesem Syllogismus bedarf das Cogito-Argument der ersten Prämisse nicht. Nur damit kann es dem skeptischen Zweifel entgehen, den diese unfehlbar auf sich zieht. Denn entweder ist sie rein begrifflich zu lesen, wäre 32   Getreu der aristotelischen Maxime, nach der man eine Substanz häufig durch den Hinweis auf das in ihr dominierende Vermögen charakterisieren kann, z. B. den Menschen als Vernunftwesen oder die menschliche Seele als nous. 33   Vgl. den entsprechenden Einwand Arnaulds, Med., Vierte Einwände, S.  179–183. Immerhin wäre die begriffliche Trennung zwischen körperlichen und geistigen Substanzen auch dann klar und deutlich, wenn ‚Körper‘ Gattungsbegriff zu ‚Geistwesen‘ wäre. Dieser Einwand hat Descartes – zusammen mit der entsprechenden kritischen Nachfrage Mersennes – offenbar bewogen, seine anfängliche Behauptung zurückzunehmen, es sei ihm gelungen, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. Vgl. Med., Antwort auf die zweiten Einwände, S.  138. 34   Vgl. auch Engfer 1996, S.  80 f., gegen die Deutung des Arguments bei Wolfgang Röd. 35  Als Enthymem wird das Cogito-Argument schon von Gassendi gedeutet; vgl. dazu Ariew 1999, S.  194. Entsprechend gering veranschlagt Gassendi dessen Wert. Vgl. zu der syllogistischen Deutung auch Markie 1998, S.  57 f., und Williams 1981, S.  65.

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damit aber vereinbar mit der Möglichkeit, dass es nichts Denkendes gibt.36 Oder aber sie nimmt in der von Kant kritisierten Weise des Leibnizschen ontologischen Gottesbeweises die Existenz einer Sache in den Begriff auf, und das in einer vom skeptischen Standpunkt aus fragwürdigen, kaum kontrollierbaren Generalisierung über alles Denkende. Entweder ist diese Prämisse also trivial und ohne Kraft, oder sie ist stark, aber zweifelhaft. In jedem Fall würde ohnehin erst (P2) die Beweislast tragen müssen. Descartes entdeckt nun aber, dass sie dies auch ohne (P1) leisten kann, da diese Prämisse vom Denkenden selbst performativ wahr gemacht wird, damit aber auch vom jeweiligen Adressaten der Argumentation, sofern er den Gedankengang der skeptischen Untersuchung mitdenkend mitvollzieht. Deswegen kann er auch behaupten, dass (P1) von (P2) abhängig ist, da nur (P2) als Beglaubigung von (P1) dienen kann.37 Aus diesem Grund kann die Rolle des Cogito aber auch nicht von irgendeiner anderen Tätigkeit übernommen werden, welche ein Subjekt ebenfalls ausführen kann, z. B. ‚gehen‘, ‚hören‘ oder ‚essen‘.38 Denn zwar fordern Akte des Gehens, Hörens oder Essens ebenso wie Denkakte ein Aktsubjekt, welches sie ausführt. Aber entsprechend erstpersonal formulierte Schlüsse auf die Existenz eines solchen Aktsubjekts wären dennoch nicht infallibel, da ihre Prämissen nicht immun gegen das Traumargument aus der ersten Meditation wären. Die Infallibilität des Cogito-Arguments gründet in der besonderen Natur geistiger Akte.39 Hier wiederum sind typische Fehldeutungen dieser Natur abzuweisen. So meinen empiristische Philosophen des Geistes manchmal, geistige Akte zeichneten sich dadurch aus, dass sie dem Aktsubjekt, anders als deren Inhalte, besonders nahe und vertraut wären. Dem entsprechend könnte sich ein denkendes Subjekt seiner Denkakte deswegen sicherer sein als alles anderen, weil es diese besser kennte als alles andere, so wie man sich in seinem eigenen Haus meistens besser auskennt als andere Menschen. In dieser Deutung geistiger Akte im 36   François Babin kritisiert das Cogito-Argument als zirkulär, da das ‚sum‘ vom ‚cogito‘ bereits impliziert sei. Das zeige die Paraphrase ‚Ego sum cogitans‘. Daneben lehnt Babin wie auch andere Kritiker aus dem Umfeld der Jesuiten das gesamte Projekt einer Wissensbegründung durch methodische Skepsis ab. Zur Debatte zwischen Babin und Pierre-Sylvain Régis als Fürsprecher der cartesischen Position vgl. Ariew 1999, S.  198 ff. Um den Unterschied zwischen begrifflichen und empirischen bzw. analytischen und synthetischen Sätzen sichtbar zu machen, rät Brentano, erstere nicht affirmativ, sondern negativ zu formulieren, also ‚Alles, was denkt, existiert‘ in ‚Nichts, was nicht existiert, denkt‘ umzuformen. So werde deutlicher, dass hier keine Existenzunterstellungen im Spiel sind. Vgl. Brentano 1929, S.  45. 37   In der Erwiderung auf Mersenne, Med., S.  128. Präzise herausgearbeitet wird der Unterschied zwischen dem Cogito-Argument und einem syllogistischen Schluss von Schelling, vgl. GNP, S.  13 f. 38  „[…] auch hättest Du denselben Schluss aus jeder beliebigen anderen Betätigung Deiner selbst ziehen können, da es nach natürlicher Einsicht bekannt ist, dass, was immer wirkt, auch existiert.“ (P. Gassendi, 5. Einwände, Med., S.  234; Hervorhebung H.T.) Descartes weist diesen Einwand zurück und verwirft den scheinbar analogen Schluss ‚Ich laufe, also bin ich‘ als unbrauchbar, da seine Prämisse dem skeptischen Zweifel nicht standhält. (Vgl. Med., S.  324) 39   Vgl. auch die Erläuterung Schellings in GNP, S.  14.

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Sinne von Selbstkenntnis werden der geistige Akt und mit ihm das Aktsubjekt in eine Reihe mit allen Gegenständen gestellt, auf die sich geistige Akte richten, und daran schließt sich die Behauptung an, dass das Subjekt selbst mit seinen Akten die erste Stelle einnehmen müsse. Ein so verstandenes Cogito-Argument würde aber dem Zweifel aus der Möglichkeit eines genius malignus nicht standhalten. Dass Descartes’ Argument diesem Zweifel sehr wohl standhält, zeigt, dass geistige Akte im Empirismus falsch gedeutet werden. Geistige Akte zeichnen sich nicht dadurch vor anderen Akten und Gegenständen aus, dass sie dem Aktsubjekt etwas vertrauter oder genauer bekannt wären als nichtgeistige Gegenstände oder Vorgänge. Daher muss jedes Argument scheitern, welches eine besondere Autorität der ersten Person für geistige Akte auf eine solche besonders nahe Bekanntschaft zu gründen versucht.40 Diese besonders nahe Bekanntschaft erscheint aber auch schon rein phänomenal fraglich. Einem denkenden Wesen muss die genaue Natur seines jeweiligen Denkaktes nicht bekannt sein, wenn es den Akt vollzieht; d. h. es muss nicht immer wissen, dass es etwas meint, etwas vermutet oder etwas erwägt, um meinen, vermuten oder erwägen zu können. Häufig genug ist ein denkendes Wesen mit der Natur seiner geistigen Akte nur auf generische Weise vertraut: Es weiß, dass es einen Denkakt vollzieht, aber es überblickt womöglich nicht die spezifischen doxastischen oder epistemischen Normen, denen ein solcher Akt unterliegt, weiß also z. B. nicht, dass eine Vermutung – genau wie eine Meinung, aber anders als eine Erwägung – eine wenn auch schwache Affirmation des propositionalen Gehalts des entsprechenden Gedankens impliziert. Deswegen ist es womöglich unsicher im Urteil darüber, welchen Denkakt es aktual vollzieht. Denkakte sind dem Aktsubjekt nicht notwendig in jeder Hinsicht transparent. In diesem Sinne muss, wer etwas vermutet oder erwägt, nicht auch wissen, dass er etwas vermutet oder erwägt.41 Das Cogito-Argument bedarf auch nicht eines besonderen Vermögens der Introspektion. Das Wissen eines denkenden Wesens von seiner eigenen Existenz kann nicht auf einem besonderen Modus der Erfahrung beruhen, wie ihn der

  So auch Tugendhat, der auf die Unmittelbarkeit der Selbstbeglaubigung von Sätzen der Form ‚Ich φ‘ verweist, z. B. eines Satzes wie ‚Ich empfinde einen Schmerz‘. Vgl. Tugendhat 1979, S.  50. Diese Beobachtung wird durch das Traumargument entwertet. 41   Andreas Kemmerling deutet den Cogito-Gedanken als deskriptiven Meta-Gedanken, d. h. als Gedanken über meine Gedanken, nämlich dass es meine sind; vgl. Kemmerling, Ideen, 1996, S.  77. Eben deswegen kann dieser Gedanke aus seiner Sicht Zweifel an der eigenen Existenz nicht wirklich ausschließen; vgl. ebd., S.  138 ff. Durchgehend führt diese Darstellung zu einer empiristischen Teilung des Bewusstseins in „simples“ und „reflektiertes“ Bewusstsein; vgl. S.  180 ff. Auf diese Weise geht hier gerade die Einheit des Bewusstseins verloren, von der das Argument abhängt. Vgl. auch Kemmerling, Bezweifelbarkeit, 1996, S.  100, wo behauptet wird, dass das Cogito-Argument mit einem „mittelbaren“ Zweifel an der eigenen Existenz vereinbar sei. 40

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Ausdruck Introspektion anscheinend metaphorisch bezeichnen soll. Ansonsten wäre es schon durch das Traumargument ausgehebelt. Vielmehr beruht Descartes’ Argument offenbar auf einem besonderen Aktbewusstsein, welches auf noch aufzuklärende Weise mit geistigen Akten einhergeht und welches nur allzu oft empiristisch missdeutet wird. Dieses kann auch nicht im Akt der geistigen Stellungnahme bestehen, wie ein denkendes Subjekt sie in Urteilen der Form ‚Ich glaube, dass p‘ oder auch ‚Ich will, dass p‘ explizit macht.42 Denn geistige Akte finden auch da statt, wo es nicht zu einer Stellungnahme des Aktsubjekts kommt, z. B. beim Zweifeln oder Erwägen. Selbst wenn es gelingt, plausibel zu machen, dass solche Stellungnahmen das telos geistiger Akte sind (man zweifelt oder erwägt, um zu wissen oder sich wenigstens dem Wissen anzunähern), bilden sie doch nur eine besondere Gattung geistiger Akte und sind nicht geeignet, die Natur geistiger Akte insgesamt aufzuklären.43 Deswegen liegt der Schlüssel zum Verständnis geistiger Akte auch nicht im Normbewusstsein, also weder in der Kenntnis von formalen und inhaltlichen Korrektheitsstandards, denen geistige Akte unterstehen, noch im damit korrelierten Streben, die eigene Vernunft so zu gebrauchen, dass die eigenen Denkakte diesen Standards möglichst genügen.44 Normbewusstsein ist ein höchst bedeutsames Merkmal des Geistigen, mit dem das Vermögen zur geistigen Stellungnahme untrennbar verbunden ist. Selbst wer die tatsächlichen Normen des Geistigen nicht überblickt, also z. B. nicht zwischen einem Vermuten und einem Erwägen zu unterscheiden weiß, ist sich doch bewusst, dass sein weltbezogenes Denken den Normen des Wahren resp. des Guten untersteht und dass es einen wichtigen Unterschied zwischen richtigem und falschem Denken gibt. Richtig ist auch, dass dieses Bewusstsein für sich schon ein hinreichender Motivationsgrund ist, richtig zu denken und nicht etwa verkehrt. Doch der Verweis auf Normbewusstsein allein trägt dennoch wenig zum besseren Verständnis des Cogito-Arguments bei. Normbewusstsein ist nämlich seinerseits genauso wie das Vermögen zu geistiger Stellungnahme ein zu erklärender besonderer Wesenszug des Geistigen und kann nicht ohne weiteres als Prinzip, d. h. als erstes Erklärendes für geistige Akte dienen. Der grundlegende Wesenszug geistiger Akte ist vielmehr eine besondere Form von Intentionalität,45 die sich von der bloßen Affizierbarkeit einfacher vegetabilischer Perzeption ebenso unterscheidet wie von der Gerichtetheit ani  Vgl. Rödl 1998, S.  65, sowie Rödl 2007, Kap.  3 und 4.   Rödl betont, dass der für geistige Akte konstitutive Selbstbezug im Kontrast zur Bezugnahme auf den je eigenen Körper notwendig identifikationsfrei ist, also nicht die Form hat: ‚X denkt, und X = Ich‘. Vgl. Rödl 1998, Kap.  1. Es sollte deutlich sein, dass die Identifikationsfreiheit des Selbstbezugs selbst erklärungsbedürftig ist und daher für sich genommen nicht hilft zu verstehen, was geistige Akte sind und in welchem Sinn sie selbstbewusst sind. 44  Vgl. Hennigs entsprechende Interpretation des cartesischen Begriffs der conscientia; Hennig 2006, Kap.  7. 45   Auch diesen Zug bei Descartes unterstreicht bereits Schelling; vgl. GNP, S.  15. 42 43

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malischer Aufmerksamkeit. Schon Einzeller perzipieren Unterschiede in dem Milieu, in dem sie sich aufhalten, und können ein für sie ungünstiges meiden und ein günstiges aufsuchen. Komplexe, höher entwickelte vegetabilische Organismen zeigen überdies ein reiches Repertoire an Reaktionsweisen auf solche perzipierten Umweltbedingungen, das geeignet ist, sich durch Anpassung zu schützen oder sogar die Umwelt auf für sie günstige Weise zu verändern.46 Tiere verfügen im Kontrast zur rein passiven Perzeptivität der Pflanzen über ein System verschiedener Sinne und über eine damit korrelierte einfache Intentionalität der Selbstausrichtung, ein Vermögen, auf für ihren Lebensvollzug ­wichtige Gegenstände aufzumerken und darauf begehrlich, furchtsam oder aggressiv zu reagieren.47 Aber erst Menschen sind solche Lebewesen, deren Intentionalität gedoppelt ist, gerichtet zum einen auf einen wahrgenommenen Gegenstand, zum anderen – in ein und demselben Akt der Wahrnehmung – auf sich selbst und den eigenen Wahrnehmungsakt. Ein Mensch bemerkt in der Wahrnehmung immer schon zugleich, dass er wahrnimmt. Diese mit jeder Wahrnehmung, die als solche intentio prima bzw. intentio recta, auffassende Gerichtetheit auf einen Gegenstand ist, einhergehende Selbstwahrnehmung ist selbst nicht objektiv. Der wahrnehmende Mensch nimmt sich selbst in der Wahrnehmung von Objekten nicht als Objekt wahr, also als Thema seiner Wahrnehmung, sondern unthematisch bzw. in der intentio secunda bzw. intentio obliqua. Dennoch unterscheidet er wahrnehmend den Akt vom Gegenstand der Wahrnehmung. Man kann diese generischen Differenzen schematisch so darstellen: (A) Vegetabilische Perzeption: Pflanze Umwelt (B) Animalische (einfache) Intentionalität: Tier Objekt (C) Geistige (doppelte) Intentionalität: Mensch Objekt Abb. 1: Schema vegetabilischer, animalischer und humaner Perzeption

Dabei symbolisiert die Pfeilrichtung die dominierende Tätigkeitsrichtung der jeweiligen Perzeption (Pflanzen werden passiv affiziert; Tiere und Menschen richten sich aktiv auf Gegenstände aus, wenn auch ggf. in Folge einer passiven Affektion). Geradlinige Pfeile zeigen die dominante Perzeption an, der gebogene und punktierte Pfeil die Rückbezogenheit der intentio obliqua auf den Per46   Oderberg hält Perzeptivität für die generische Differenz zwischen Pflanzen und Tieren und rechnet daher perzeptionsfähige Einzeller zu den Tieren; vgl. Oderberg 2007, Kap.  8.2. Er übersieht dabei die perzeptiven Vermögen pflanzlicher Organismen. Der Unterschied zwischen Pflanzen und Tieren ist wohl eher darin zu suchen, dass Tiere im Unterschied zu Pflanzen (1) über eine komplexe und differenzierte Sinnlichkeit sowie (2) über eine mit den Sinnen korrelierte Begehrensstruktur verfügen. Da diese Bedingungen bei Einzellern nicht erfüllt sind, gibt es keinen Grund, sie zu den Tieren zu zählen. 47   Es versteht sich, dass animalische Reaktionsweisen auf wichtige Objekte in der Umgebung starke spezifische Differenzen aufweisen. So können sich aggressiv nur solche Tiere verhalten, die über ‚Waffen‘ wie Zähne, Krallen, Hufe, Stachel oder Gift verfügen.

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zeptionsakt selbst. Wichtig ist dabei, dass die zweite, selbstbezogene Intention menschlicher Wahrnehmung nicht vom wahrgenommenen Objekt ausgeht (das ist unmöglich), sondern vom Wahrnehmungsakt. Erst in dieser doppelten Gerichtetheit ist der volle intentionale Akt des Menschen als eines geistigen Wesens konstituiert.48 Mit Hilfe des Schemas lassen sich weitere phänomenologische Beobachtungen unterstreichen, die der Vergleich zwischen vegetabilischer, animalischer und humaner Perzeption ermöglicht: Einfache, bloß vegetabilische Perzeption kann schon deswegen nicht objektiv sein, weil sich in bloß passiver Affektion keine Objekte von ihrer Umgebung abheben lassen.49 Das ist erst in animalischer, differenzierter, aktiver Wahrnehmung (durch Aufmerksamkeitsausrichtung) möglich. Erst Tiere unterscheiden Objekte, und höher entwickelte Tiere können sogar Objekte wiedererkennen. Aber auch animalische Wahrnehmung ist noch nicht im vollen Sinne objektiv, da Tiere das Objekt selbst nicht von seiner Gegebenheitsweise unterscheiden können. Ihre Wahrnehmung ist nicht zugleich selbstrepräsentierend. Deswegen richten Tiere nicht allein ihre Aufmerksamkeit nur auf solche Gegenstände, die eine Bedeutung für ihren Lebensvollzug haben; sie nehmen an diesen Gegenständen auch nur das wahr, was für sie bedeutsam ist. Nur solches attrahiert die animalische Aufmerksamkeit, was als Beute, Feind, Sexualpartner, Konkurrent oder Herr, als Durst löschend, Hunger stillend, wärmend, als bedrohlich, zu nass, zu kalt etc. dem eigenen Lebensvollzug förderlich oder abträglich sein kann; alle sonstigen Eigenschaften bleiben notwendig unbemerkt. Animalische Wahrnehmung erfasst Objekte lediglich subjektrelational. Menschen sind die einzigen animalischen Wesen, die Objekte an sich, d. h. in ihrer intrinsischen qualitativen Beschaffenheit wahrnehmend erfassen können, und zwar nur indem sie zugleich wahrnehmend erfassen, dass sie es sind, die den jeweiligen Gegenstand wahrnehmen. Von allen animalischen Wesen sind daher nur Menschen zur objektiven Wahrnehmung von Objekten fähig. Dies ist der Grundzug geistigen Objekt- und Weltbezugs. Darin wurzeln bekannte Besonderheiten des menschlichen Weltbezugs: Tiere haben wie auch Pflanzen eine 48   Es versteht sich, dass Descartes selbst eine solche vergleichende Phänomenologie von Stufen der Perzeption und Intentionalität in der Durchführung des methodischen Zweifels nicht entwickeln kann. Der kontrastierende Vergleich wird hier unabhängig vom Denkweg der Meditationen angestellt und dient lediglich der Herausarbeitung desjenigen Propriums des Geistigen, welches das Cogito-Argument ermöglicht und beweiskräftig macht. Zum Denkweg der Meditationen ist dieser Vergleich nachträglich; er stellt auch die unmittelbare Evidenz des Cogito-Arguments nicht in Frage. Es dient einzig dem Schutz dieses Arguments gegen die oben angesprochenen Missverständnisse. 49   Deswegen kann der im Empirismus verbreitete, rein passivisch gedeutete Begriff der Perzeption nicht einmal die animalische Wahrnehmung erfassen, sondern beschreibt, ohne dass die Vertreter dieses Modells das wüssten, bloß vegetabilische Affektion. Alva Noës Konzept einer enactive perception ist ein Versuch, diese Einseitigkeit im Rahmen einer empiristischen Wahrnehmungstheorie zu korrigieren. Vgl. Noë 2004.

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Umwelt, aber nur Menschen haben eine bzw. leben in der Welt (M. Scheler, M. Heidegger). Das heißt, Menschen sind im Gegensatz zu Tieren zu einer nicht bloß subjektrelationalen und damit nicht bloß selektiven Wahrnehmung fähig. Deswegen kann ihnen die ganze Welt zum Gegenstand der Wahrnehmung werden, sei es als Objekt, sei es als miterfasster Horizont der jeweiligen Objekterfassung. Damit ist verbunden, dass nur Menschen zur Anschauung (Kant, Husserl) von Gegenständen fähig sind. Man hat Anschauung in der Tradition manchmal als interesselose Wahrnehmung beschrieben. Das ist aber deswegen irreführend, weil der angeschaute Gegenstand ja gerade als interessant angeschaut wird. Besser wäre es daher zu sagen, dass das menschliche Interesse an Objekten nicht wie beim Tier bedürfnisgebunden ist, sondern frei. Ferner beruhen auch (1) die menschliche Sprachlichkeit und (2) die spezifische Form menschlicher Sozialität auf der doppelten Intentionalität geistigen Weltbezugs.50 (1) Denn wenn es stimmt, dass behauptende Rede den Kern von Sprache überhaupt bildet und Sprache von jedem anderen Signal-, Kommunikations- und sogar Symbolsystem unterscheidet,51 dann ist die Möglichkeit behauptender Rede ihrerseits erklärungsbedürftig. Aber behauptende Rede ist überhaupt erst dadurch möglich, dass kognitiv zwischen einem gegebenen Objekt mit seinen Eigenschaften einerseits und dem Modus der Bezugnahme auf das Objekt andererseits unterschieden wird. Die Fähigkeit zur objektiven Bezugnahme und insbesondere zur Dingidentifikation ist Voraussetzung der kompetenten Verwendung von Namen und kann damit weder gleichgesetzt werden, noch ist es möglich, erstere aus letzterer herzuleiten. Wer wie Robert Brandom glaubt, diese kognitive Leistung ihrerseits im Rekurs auf die Verfügbarkeit entsprechender sprachlicher Differenzierungen erklären zu können, vor allem der Differenz zwischen Bezugnahmen de re und de dicto,52 der verkehrt die Erklärungsordnung. Denn wie sollte diese logische Differenzierung gelernt und verstanden werden, wenn der Unterschied der Sache nach nicht schon verstanden wäre? (2) Menschliche Sozialität ist ihrerseits zutiefst von der Sprachlichkeit des Menschen geprägt, insbesondere aber von Behauptungen und Mitteilungen. Denn indem sich Menschen gemeinschaftlich über Wahr und Falsch, Gut und 50  Vgl. Pol. A 1, 1253 a. Reichhaltige empirische Belege dafür liefern die vergleichenden Verhaltensstudien M. Tomasellos und seiner Mitarbeiter an Schimpansen und Kleinkindern, wenn auch z. T. gegen die Hypothesen und Schlussfolgerungen der Autoren der Studien. Denn sie zeigen, dass Kleinkinder – ganz im Gegensatz zu Schimpansen – noch vor dem Spracherwerb ein ursprüngliches Interesse an Gegenständen in ihrer Umwelt zeigen, und zwar ohne dass dieses Interesse durch Begierden induziert wäre. Das zeigt sich nicht zuletzt an ihrem Zeigeverhalten. Vgl. Tomasello 1999 und 2001. 51   So argumentiert nicht zuletzt Brandom mit Frege gegen einen sprachphilosophischen Pragmatismus, der apophantische Rede aus vorgeblich basaleren Formen der Kommunikation wie Aufforderungen oder Warnungen herleiten will, z. B. bei von Savigny. Vgl. von Savigny 1983, Brandom 1994, Kap.  2. Brandom glaubt allerdings die Möglichkeit apophantischer Rede genealogisch herleiten zu können. 52   Vgl. ebd., Kap 8.

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Schlecht, Nützlich und Schädlich verständigen, indem sie Fragen stellen, Gründe liefern und Gründe fordern, formen sie ihr Zusammenleben vernunftbestimmt und machen ihre Vernunft zu einem sozialen Faktum. Wenn Aristoteles so die politische Lebensform des Menschen von der Lebensform anderer sozial lebender Spezies unterscheidet,53 dann ist die spezifische Differenz hier eben die Differenz des Sprachlichen, des logos, und damit der öffentlich und sozial gewordenen Vernunft. Diese wäre aber ohne die doppelte Intentionalität des menschlichen, geistigen Weltbezugs unmöglich. Denn nur wer objektiv Bezug auf die Welt zu nehmen vermag, kann auch die intersubjektive Verständigung über Welt suchen und sein Urteil darüber ggf. korrigieren lassen. Intersubjektivität ist die Entwicklungs- und Vervollkommnungsbedingung vernünftiger Subjektivität. Diese wiederum wird durch den ursprünglich zwiefältigen Charakter humaner Intentionalität ermöglicht. Dass der humane Weltbezug im Kontrast zum animalischen durch doppelte Intentionalität gekennzeichnet ist, ist eine alte Einsicht.54 Aristoteles führt sie auf die noesis noeseos, die Erkenntnis des Erkennens zurück, die er in reinster Form Gott zuschreibt,55 in analoger Weise aber auch im menschlichen Erkennen wiederfindet, indem der Mensch sieht, dass er sieht, und erkennt, dass er erkennt.56 Thomas von Aquin bezeichnet den objektiven Teil der Wahrnehmungserkenntnis wie jeder Erkenntnis überhaupt (actus intelligendi) dem entsprechend als actus rectus bzw. actus primus intelligendi, den subjektiv-reflexiven als actus reflexus bzw. actus secundus intelligendi, den Intellekt selbst als Zweitobjekt (obiectum secundum) menschlicher Erkenntnis.57 Damit vertieft er zugleich die Bedeutung der Termini intentio prima und intentio secunda gegenüber Avicenna, der sie zunächst im Kontext von Erläuterungen zur aristotelischen Logik einführt.58 Aber eine besonders eindringliche Darstellung der zweifachen Intentionalität des Geistes findet sich schon bei Augustinus.   Pol., a.a.O.   Insofern doppelte Intentionalität identisch ist mit Selbstbewusstsein und also mit Subjektivität im eigentlichen Sinn, geht es nicht an, die „Entdeckung der Subjektivität“ erst dem christlichen Denken zuzuschreiben, wie es Theo Kobusch tut, vgl. Kobusch 2006. Der Sache nach ist das Thema Selbstbewusstsein schon in den großen Frühdialogen Platons präsent, wenn auch noch nicht terminologisch fixiert. Allerdings betont Kobusch selbst durchgehend den Einfluss des Platonismus auf die christliche Theoriebildung, würdigt dabei aber nicht immer im gleichen Maß die Bedeutung des aristotelischen Denkens, vor allem den Beitrag von De Anima und Met. Λ zur christlichen Seelenlehre und Bewusstseinstheorie. 55   Met. L 9, 1074 b. 56   De Anima Γ, 430 a, NE I 9, 1170 a f. 57   STh I, q.  28 a.  4 ad 2, q.  87 a.  3. 58   Ob er dabei seinerseits schon auf Überlegungen Al-Farabis zurückgreifen kann, ist in der Forschung umstritten, aber für unsere Zwecke nicht entscheidend. Genauer geht es dabei um die aristotelische Unterscheidung zwischen ersten und zweiten Substanzen, die von Avicenna auf sämtliche Kategorien ausgeweitet wird. In erster Intention wird demgemäß durch den Gebrauch eines Substanz- oder Akzidenzterminus Bezug auf die entsprechende Sache genommen (den Menschen, das Grüne, den bestimmten Ort, etc.). In zweiter Intention dage53

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„Wenn wir also einen Körper sehen, so lassen sich – es ist dies ganz leicht – folgende drei Dinge beobachten und auseinanderhalten. Erstlich der Gegenstand, den wir sehen, sei es ein Stein oder eine Flamme oder irgend sonst etwas, was man mit den Augen sehen kann, was natürlich schon da sein konnte, auch bevor es gesehen wurde. Ferner das Sehen, das nicht da war, bevor wir den dem Sinnesvermögen begegnenden Gegenstand wahrnahmen. Drittens jenes, was den Gesichtssinn auf dem geschauten Gegenstand, solange er gesehen wird, festhält, das ist die Ausrichtung des Geistes (intentio animi). […] [Es] ist jene Ausrichtung des Geistes, welche den Sinn an dem Gegenstand, den wir sehen, festhält und beide miteinander verbindet, durch ihre Natur nicht nur von dem sichtbaren Gegenstand verschieden – sie ist ja Geist –, sondern auch vom Sinn selbst und vom Sehen selbst. Denn die Ausrichtung ist allein dem Geist eigen.“59

Augustinus insistiert nun wiederholt mit großem Nachdruck, dass diese geistige Ausrichtung eben dadurch dem Wahrnehmungsakt Einheit verleiht, dass sie diesen an den Geist zurück bindet. Dadurch wird der Akt zu einem geistigen, aber zugleich begegnet sich der Geist darin selbst, nämlich auf sekundäre, den Sehakt begleitende Weise. Denn ohne die oblique, sekundäre Selbstrepräsentation des Geistes würde sich die sinnliche Affektion nicht in einer Wahrnehmung, z. B. einem Sehakt, vollenden. Zunächst verdeutlicht Augustinus dies an voluntativen Akten des Geistes, d. h. am Lieben und Hassen. Indem der Geist, so Augustinus, einen Gegenstand X liebt, liebt er uno actu auch sich selbst, da jedes Lieben notwendig eine Selbstaffirmation des Liebenden einschließt. Denn etwas lieben heißt, es gutzuheißen. Indem je ich X gutheiße, affirmiere ich auch meine Liebe dazu, damit aber zugleich mich selbst, zumindest mich selbst als Liebhaber von X. Aber genauso schließt jeder Akt des Hassens in zweiter Intention eine Selbstaffirmation und damit Selbstliebe ein. Denn indem je ich Y hasse, affirmiere ich meinen Hass auf Y und damit mich selbst. 60 Zu beidem ist kein zusätzlicher Akt der expliziten Selbstaffirmation erforderlich; gen wird durch den Gebrauch dieser Termini Bezug auf den korrespondierenden Substanzoder Akzidenzbegriff genommen (z. B. den Begriff des Menschen, des Grünen, des Ortes, etc.). Vgl. Avicenna, Metaphysik I 2, A 10 f. Damit gelingt es Avicenna, den Begriff der zweiten Substanzen (und Akzidenzien) zu entontologisieren und die Kategorienschrift mit der aristotelischen Metaphysik in Übereinstimmung zu bringen, in der die Unterscheidung zwischen ersten und zweiten Substanzen bekanntlich keine Rolle mehr spielt. Vgl. dazu auch Rapp 1995. Thomas vertieft diese Unterscheidung, indem er im Rahmen seiner Philosophie des Geistes die Bedingung der Möglichkeit für diese logische Differenzierung aufzeigt. 59   De Trinitate XI, S.  131 ff. Die Übersetzung wurde gegenüber derjenigen Kreuzers leicht modifiziert. Kreuzer übersetzt intentio mit ‚Aufmerksamkeit‘, was den Unterschied zwischen animalischer und humaner Wahrnehmung verwischt. Mit animus oder Geist ist hier die denkende Seele gemeint, also das, was im Englischen mind heißt, nicht der sich dem Menschen mitteilende göttliche und allgemeine Geist (spiritus, spirit). 60   Ebd., IX, S. 74/75. Dass Liebe und Hass ambivalente Mischungen eingehen können, gerade wenn sinnliches Begehren im Spiel ist, weiß niemand besser als Augustinus. Dass in solchen Fällen auch die Selbstaffirmation gebrochen ist, beschreibt er eindringlich in den Confessiones. Dennoch lassen sich solche gemischten Fälle nur ausgehend vom obigen Grundmodell beschreiben. Zur Rezeption und Weiterentwicklung der augustinischen Liebeslehre vgl. auch Osborne 2005.

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es geschieht im Akt des Liebens bzw. Hassens selbst. Anschließend zeigt Augustinus dies auch für kognitive Akte wie Wahrnehmen, Überlegen, Denken und Erkennen. 61 Ohne wissentlich an Aristoteles anzuknüpfen, verallgemeinert Augustinus so den aristotelischen Gedanken, dass humanes Wahrnehmen immer auch ein Wahrnehmen des Wahrnehmens und Denken immer auch ein Denken des Denkens ist. In geistigen Akten ist der Geist sich notwendig selbst gegeben. Geist geht notwendig mit Selbstbewusstsein einher, und dieses Selbstbewusstsein ist zugleich Bedingung der Möglichkeit expliziter, thematischer Selbstreflexion bzw. der Abkehr vom Sinnlichen und der Hinwendung zum Geistigen, die schon Augustinus mit der Hinwendung des Menschen zu Gott gleichsetzt. Diese Forderung ist, wie man sieht, keineswegs erbaulich gemeint, sondern spekulativ und philosophisch. Hier knüpft Descartes an. Auch Kant greift später in der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe auf den Gedanken der doppelten Intentionalität zurück, wobei er die intentio obliqua als transzendentale Apperzeption bezeichnet, die als zum bloßen Akt der Perzeption hinzukommende Leistung des Selbstbewusstseins objektive Erkenntnis allererst möglich mache. 62 Damit ist sie auch der Grund des Vermögens der Anschauung und damit Einheitsgrund der je individuellen menschlichen Vernunft. Explizit gemacht wird sie im Ich denke, aber dieses ist in je meinen Denk- und Vorstellungsakten solcherart präsent, dass es diese notwendig begleiten kann und nicht etwa muss. Transzendentale Apperzeption gibt dem Denken und Vorstellen auch dort Einheit, wo keine explizite Selbstzuschreibung von Gedanken und Vorstellungen stattfindet. Nur dadurch kann sie Möglichkeitsgrund expliziter Selbstreflexion sein. 63 Allerdings vermag Kant nicht von dort zur expliziten Anerkennung der selbstbewusstseinstheoretischen Leistung des Augustinus und Descartes’ vorzudringen. Auf die Erweiterungen und Vertiefungen von Kants Philosophie des Selbstbewusstseins bei Hegel und Schelling wird unten zurückzukommen sein. In der Philosophie des späten 19. und des 20. Jahrhunderts hat vor allem die Phänomenologie die Bedeutsamkeit der doppelten Intentionalität unterstrichen und gegen empiristische Reduktionsversuche verteidigt. 64 Das gilt unbeschadet  Vgl. De Trinitate X–XI.   KrV, §  16. McDowell konfundiert die transzendentale Apperzeption mit dem Vermögen, Begriffe auf wahrgenommene Gegenstände zu beziehen, welches die transzendentale Apperzeption voraussetzt, aber nicht damit identisch sein kann. Vgl. McDowell 1994, 5. Vorlesung, §  6. 63   Auch Tugendhat 1979 gelingt es nicht, sich vom empiristischen Selbstzuschreibungsmodell abzugrenzen, welches Selbstbewusstsein mit Locke nur als Akt der expliziten Selbstreflexion verstehen kann. Rödl 1998 sowie 2007 scheint mir in diesem Punkt trotz seiner ausdrücklichen Abgrenzung von Tugendhat zumindest nicht ganz klar. 64   Vgl. Brentano 1982, S.  22 ff., Husserl, Ideen I, §  37. In §  53 spricht Husserl auch von der „doppelten Einstellung” der Intentionalität. Parallelen der scholastischen und der phänomenlogischen Intentionalitätsauffassung werden exemplarisch von Anzenbacher ausgelotet; vgl. Anzenbacher 1972. Neben der phänomenologischen Schule muss auch das Denken Dieter 61

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aller sonstigen Differenzen zwischen Brentano, Husserl, Heidegger oder Sartre. In der weiteren Entwicklung der Phänomenologie wurde aber, u. a. unter dem Einfluss einer bestimmten Lesart von Sartres Unterscheidung zwischen einem präreflexiven und einem reflexiven Cogito, zunehmend aus dem Blick verloren, dass mit der intentio obliqua nicht erst der Akt der expliziten, thematischen Selbstreflexion gemeint sein kann, sondern die notwendige, sekundäre Rückbezogenheit jedes intentionalen Aktes. Damit droht die neuere Phänomenologie die Einsicht in die doppelte Intentionalität des Geistigen zu verlieren und bewusstseinstheoretisch in die Position des Empirismus zu kollabieren. Der Empirismus kennt die ursprüngliche doppelte Intentionalität des geistigen Weltbezugs nicht und kann daher Selbstbewusstsein nur als besondere Art kognitiver Akte denken, welche durch ihren Inhalt, das ‚Selbst‘, oder ggf. auch durch besondere Merkmale von anderen Akten unterschieden sind. Gerade weil auf diese Weise der selbstbewusste Charakter jedes kognitiven Akts übersehen wird, versteht der Empirismus weder die Objektivität noch die Subjektivität geistiger Akte. 65 Damit bleibt ihm die Natur des Geistes notwendig verschlossen. Erst durch die intentio secunda geistiger Akte bekommt das Cogito-Argument sicheren Grund. Denn zwar ergibt der methodische Zweifel, dass der Gegenstand eines intentionalen Aktes nicht so beschaffen sein muss, wie der Akt ihn repräsentiert, ja dass ein solcher Gegenstand nicht immer existiert, wenn das Aktsubjekt ihn für existent hält. Die mögliche Nichtexistenz des intendierten Gegenstandes kann aber weder den Akt als solchen noch die Existenz des Aktsubjekts in Frage stellen. Entscheidend ist dabei, dass das Aktsubjekt vermittels der intentio secunda von sich und der intentio prima auch dann weiß, wenn deren Gehalt den methodischen Zweifel nicht übersteht. Die sekundär selbstbezogene Form intentionaler Akte sichert die Wahrheit des Ich bin, sobald je ich einen Denkakt vollziehe. Indem je ich denke, weiß ich von mir. Nun ist Descartes’ Formulierung, der Gedanke ‚Ich bin‘ sei wahr, so oft ich ihn ausspräche oder in Gedanken fasste, etwas übervorsichtig. Denn das Cogi-

Henrichs genannt werden. Henrich geht es aber um eine Diskussion des sehr viel spezielleren Projekts einer Begründung der Metaphysik durch eine Theorie des Selbstbewusstseins und eine entsprechende Rekonstruktion des philosophischen Idealismus. Darauf muss und kann hier nicht näher eingegangen werden, zumal sich dieses Projekt mit dem der Meditationen nicht deckt, wie sich noch zeigen wird. Das liegt nicht zuletzt an den Unschärfen des von Henrich zu Grunde gelegten Verständnisses von Selbstbewusstsein, welches zugleich unmittelbar und Wissen in Form einer möglichen Selbstbeschreibung sein soll. Vgl. Henrich 1999, S.  16 ff., und 2007, S.  9. Zu Husserls Anschauungs- und Intentionalitätsverständnis vgl. Tegtmeyer 2013. 65   Noch Brentano kritisiert den Empirismus, vor allem Helmholtz, Wundt und Fechner für die Verkennung der Tatsache der doppelten Intentionalität und ihrer Bedeutung für das Geistige. Vgl. Brentano 1982, ebd.

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to-Argument lässt, anders als es der Wortlaut dieser Schlussfolgerung nahezulegen scheint, überhaupt keinen Raum mehr für ein episodisches Selbst im Sinne Parfits, also für ein mit dem Akt selbst erst zu existieren anhebendes und nach Abschluss des Aktes womöglich wieder vergehendes Aktsubjekt. Die thematische Selbstreflexion, die Descartes hier anstellt, setzt gerade die kontinuierliche Existenz der denkenden Substanz voraus. Erst dadurch wird es möglich, Denkakte in eine zeitliche Ordnung zu bringen und Akte des Denkens von ‚Ich bin‘ zu unterscheiden und zu zählen. Dazu ist Erinnerung erforderlich, und diese ist notwendig je meine Erinnerung. Um also einzusehen, dass je ich existiere, so oft ich den Gedanken fasse, dass ich existiere, muss ich auch dann existieren, wenn ich diesen Gedanken zwischenzeitlich nicht eigens fasse. Die Konklusion von Descartes’ Cogito-Argument ist also wesentlich stärker, als es dem Wortlaut nach zunächst scheinen mag. Mit der Entfaltung dieses Arguments ist zugleich das erste Desiderat der Natürlichen Theologie nach Anselm zum Teil bereits eingelöst: Der Begriff des Denkens ist jetzt erläutert als eigentümlicher Akt eines Geistwesens, der nur selbstbewusst vollzogen werden kann, d. h. in doppelter Intentionalität auf einen Bezugsgegenstand. Die Analyse ist aber noch keineswegs vollständig, weil die inhaltliche Seite des Denkens, ihr repräsentationaler Charakter hier noch nicht erläutert werden kann. Damit ist noch unklar, wodurch sich die denkende Bezugnahme auf Objekte von anderen Formen der Bezugnahme, z. B. der handelnden, unterscheidet. Klar ist aber, dass die Lösung dieser Aufgabe zugleich die Aufarbeitung des zweiten Desiderats, das Verhältnis von Denken und Sein aufzuklären, wesentlich voranbringen muss. Für die Methode des weiteren Vorgehens liefert das Cogito-Argument dabei den Maßstab: Zwar stehen die repräsentationalen Gehalte meines Denkens nach wie vor unter skeptischem Vorbehalt. Aber dennoch bin ich berechtigt, einen Gedanken dann zu affirmieren, wenn ich seine Wahrheit mit der gleichen Klarheit und Deutlichkeit eingesehen habe, mit der ich auch einsehe, dass ich als denkende Substanz existiere. Ein allgemeines, unabhängiges Kriterium hinreichender Klarheit und Deutlichkeit von Gedanken ist hier nicht erforderlich. Ein provisorisches, bloß heuristisches Kriterium könnte aber so lauten: Ein Gedanke ist dann als klar und deutlich zu affirmieren, wenn seine Negation Denkakte überhaupt unmöglich macht. Dies ist bei der Leugnung der eigenen Existenz der Fall.

3.  Formale Analogien zwischen Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis Vielen Interpreten erscheint es rätselhaft, wie Descartes für das sich anschließende theistische Argument die gleiche Evidenz beanspruchen kann wie für das Cogito-Argument, dessen Unbezweifelbarkeit mit mehr oder weniger Wider-

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IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

streben anerkannt wird. 66 Dabei wird selten gesehen, dass und inwiefern das in der dritten Meditation entwickelte theistische Argument vor allem eine Erweiterung und Vervollständigung des Cogito-Arguments darstellt. Insbesondere kann man hier dreierlei zeigen: Das Cogito-Argument führt (1) zum Argument für die Existenz Gottes und ist (2) mit diesem formgleich. (3) Erst hier wird, im Zuge der theistischen Überlegung Descartes’, die denkende Seele gültig bestimmt. Zu (2) und (3) mehr am Schluss dieses Abschnitts. (1) In einer oberflächlichen Lektüre mag es scheinen, als kämen das Cogito-Argument und das theistische Argument auf rein äußerliche Weise zusammen, ersteres als erkenntnistheoretische Sicherung der Existenz des erkennenden Subjekts, letzteres zur Wiederherstellung des durch den skeptischen Zweifel aufgelösten kognitiven Kontakts des erkennenden Subjekts mit der Welt, mit dem eigenen Körper und mit der näheren und ferneren Natur, nämlich als Leistung einer unbeschränkten und gütigen Macht. 67 Eine solche Lesart, die aus einer fest etablierten, bis zu Malebranche und Leibniz zurückreichenden Deutungstradition der ‚rationalistischen‘ Philosophie hervorgeht, verfehlt Ziel und Pointe beider Argumente gleich mehrfach. Zum einen verkennt sie, dass der skeptische Zweifel sogar die Leistungsfähigkeit des Denkens selbst in Frage stellt. Dieses Problem ist durch das Cogito-Argument allein nur teilweise gelöst, da es für sich genommen keine begründete Einschätzung unserer Erkenntnisfähigkeit zulässt. Zum anderen sieht sie nicht, dass diese Verbindung gelingen kann, wenn der Gott des theistischen Arguments dem denkenden Subjekt selbst nah bzw. ähnlich genug ist, um nicht selbst wieder durch den skeptischen Zweifel agnostisch eingeklammert zu werden. Vor dieser Möglichkeit verschließt die oberflächliche Lesart die Augen: Sie verwirft das theistische Argument ohne nähere Prüfung und unterstellt Descartes obendrein methodische Inkonsequenz, da er nun theologisch argumentiere, anstatt an der vorherigen radikalen Skepsis festzuhalten. So wandelt sich Descartes in dieser Sichtweise vom radikalen zum inkonsequenten, seiner eigenen Radikalität nicht gewachsenen Skeptiker. Doch tatsächlich ist Descartes viel radikaler und konsequenter, als es die oberflächliche Lesart zu sehen bereit ist. Er greift auf die Analogie zwischen göttlichem und menschlichem Geist zurück, die schon Augustinus und Anselm erkunden, 68 aber er tut dies in einer gründlichen Überwindung des skeptischen Zweifels, den lediglich beiseite zu legen die oberflächliche Lesart ihm vorwirft. 66   So schon das anonyme Autorenkollektiv, welches die Sechsten Einwände formuliert hat, vgl. Med., S.  364 f. Wie viele andere Kritiker glaubt auch Bloch eine „gewisse Eilfertigkeit“ konstatieren zu dürfen, mit der Descartes vom skeptischen Zweifel zum theologischen Räsonieren übergehe, und nennt diesen Zug „erstaunlich“. (LVG, S.  36) 67   Vgl. Kern 2006, S.  10 und 360. Auch Hindrichs vermag seine Descartes-Interpretation nicht ganz von dieser Lesart freizuhalten, vgl. Hindrichs 2008, §  43 f. 68   In der vierten Meditation zitiert Descartes den Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen explizit, vgl. Med. IV, S.  48.

3.  Formale Analogien zwischen Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

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Denn er gelangt über eine Reflexion der Natur des Denkens zum Gottesgedanken, und zwar auf eine Anselm folgende und, wie sich zeigen wird, vertiefende Weise. Von Descartes gilt daher mindestens in gleichem Maße das, was Joachim Ringleben von Anselms Argument sagt, nämlich dass hier das theistische Argument einer „Selbsterfahrung des Denkens als Denken“ entspringe. 69 Ausgehend vom Ergebnis der zweiten Meditation, dass je ich als denkende Substanz existiere, d. h. als eine solche Substanz, die sich vorläufig allein über eine bestimmte Gattung für sie charakteristischer Tätigkeiten und korrespondierender Vermögen, nämlich über geistige Akte (cogitationes) definieren lässt, befragt Descartes nun das Wesen dieser Akte genauer. Dabei stellt er fest, dass sich geistige Akte ihrer Form nach in zwei Arten einteilen lassen, nämlich in Akte des Intellekts und solche des Willens. Erstere sind Urteile, die sich auf Tatsachen oder Sachverhalte richten, letztere Willensakte, ihre Inhalte Zwecke. Diese Unterscheidung entspricht in etwa der traditionellen, später wieder bei Kant zu findenden Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Gedanken bzw. Urteilen. Von beiden unterscheidet Descartes die Ideen, d. h. die Gegenstände repräsentierenden Vorstellungen. Ideen sind eine von theoretischen wie praktischen Gedanken zwar distinkte, aber keineswegs disjunkte dritte Klasse geistiger Akte, da jeder Idee ein Name oder Begriff entspricht, der als Terminus in einem theoretischen oder praktischen Urteil vorkommen kann. Logisch betrachtet sind Ideen damit unvollständige geistige Akte, aber zugleich die Elemente, aus denen vollständige geistige Akte bestehen und ohne die sie nicht sein können. Termini sind dem entsprechend Teile von Gedanken bzw. Urteilen, und sie geben Gedanken und Urteilen Sinn und Bedeutung.70 Das gilt für Erkenntnis- wie für Willensakte. Fragt man nun in Fortführung der skeptischen Methode, in welchen dieser drei geistigen Akte der Sitz des Irrtums ist, dann ergibt sich, dass nur theoretische Urteile wahr oder falsch und daher im eigentlichen Sinn irrtumsanfällig sein können. Zwecke, Wünsche, Absichten und damit verwandte Willensakte können gerecht sein oder ungerecht, gut oder böse, durchdacht oder übereilt, klug oder dumm, realistisch oder weltfremd etc., aber nicht wahr oder falsch. Ideen wiederum fehlt die logische Komplexität, die das Wahr- oder Falschseinkönnen fordert. Eine Idee ist gehaltvoll oder leer, aber nicht wahr oder falsch. 71   Vgl. Ringleben 2000, S.  29.  Vgl. Med. III, S.  29 f.; zur Unterscheidung von Urteil und Idee ferner Gewirth 1998, S.  88 f. Eine Vorstellung (idea) kann in verschiedenen Medien zur Darstellung (repraesentatio) gelangen. Dazu gehört neben dem in die diversen natürlichen Sprachen übersetzbaren Begriff (conceptus) bzw. Namen (nomen) auch das Bild bzw. die bildanaloge theoretische Modellierung. Davon macht Descartes etwa in seiner späten Psychologie Gebrauch (vgl. Passions, a.  20 ff.), wohl wissend, dass die theoretische Modellierung eine Hauptfehlerquelle wissenschaftlicher Erkenntnis ist. Vgl. zur Verteidigung der cartesischen Dreiteilung geistiger Akte auch Brentano 1889, S.  15 f., sowie Anm.  22, S.  55–60. 71   Der Ursprung dieses Gedankens ist aristotelisch; vgl. De Anima Γ 6, 430 a. 69

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IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

Descartes spricht allerdings davon, dass Ideen ‚material falsch‘ sein, also ihren Gegenstand nicht akkurat genug repräsentieren können. Formal und damit im eigentlichen Sinn falsch sind aber erst die Urteile, in denen material falsche Ideen vorkommen. Nur Urteile im cartesischen Sinn, also theoretische Gedanken sind wahr oder falsch in Abhängigkeit davon, ob der Sachverhalt, von dem sie handeln, so ist, wie es der Gedanke besagt, oder ob er nicht so ist. Damit kann nur das Urteil Sitz des Irrtums sein, da nur das Urteil Sitz der Erkenntnis sein kann. Es heißt manchmal, Descartes ersetze den aristotelischen, korrespondenz­ theoretischen Wahrheitsbegriff durch einen neuen, evidenztheoretischen Wahrheitsbegriff, in dem Wahrheit letztlich mit subjektiver Gewissheit identifiziert werde.72 Eine solche Ersetzung ist allerdings nicht nur sachlich unmöglich, sondern würde auch das Beweisziel der gesamten Meditationen zerstören. Richtig ist allerdings, dass Descartes Klarheit und Deutlichkeit als verlässliche Kriterien der Wahrheitskontrolle von Gedanken und Aussagen ansieht. Dazu unten mehr. Fragt man aber weiter, worin die Quelle des Irrtums im Urteil liegt, dann wird man wiederum auf die Ideen stoßen. Ideen können selbst nicht wahr oder falsch sein, aber sofern sie in Urteilen als deren gehaltvolle Teile vorkommen, liegt es an ihnen, wenn das Gesamturteil irrig ist. Ein Irrtum ist, cartesianisch gesprochen, eine falsche, dem gedanklich intendierten Sachverhalt nicht adäquate Ideenverknüpfung. Das heißt nicht, dass ein Urteil nicht auf andere Weise fehlerhaft sein kann. So kann es syntaktisch falsch gebaut sein. Damit entzieht es sich aber der Differenz von Wahr und Falsch und ist kein Kandidat mehr für ein irrtümliches Urteil. Urteile können auch auf fehlerhafte Weise aus anderen Urteilen gefolgert werden, durch falsches Schließen. Fehlschlüsse bezeichnet man manchmal im weiten Sinn ebenfalls als Irrtümer. Das ist aber deswegen irreführend, weil ein Fehlschluss nicht notwendig zu einem Fehlurteil führt. Die Konklusion eines Fehlschlusses kann wahr sein, wenn auch nicht wahr auf Grund der Prämissen. Ein Irrtum im eigentlichen Sinn ist aber ein falsches Urteil. Wenn der Fehlerquell dafür weder syntaktisch sein kann noch logisch-inferentiell sein muss, dann kann er nur in der Verknüpfung der durch das Urteil verknüpften Begriffe liegen, denen die entsprechenden Ideen im Geist des Urteilenden zu Grunde liegen.73   Vgl. Cassirer 1939, S.  25, sowie Cassirer 1906, III 1: Descartes.  Vgl. Med. III, S.  29 f. Der Fokus wird dabei zu Recht auf Urteile gelegt, da andere der bereits genannten geistigen Akte wie Fragen, Erwägungen oder Zweifel erstens ihrerseits urteilsbezogen, d. h. auf Urteile ausgerichtet sind, zweitens nicht wahr oder falsch sein können, sondern allenfalls gerechtfertigt oder grundlos, angebracht oder deplaziert, fruchtbar oder abwegig, etc. Andere Akte, z. B. Vermutungen oder Annahmen, sind sehr wohl wahr oder falsch, was aber nur zeigt, dass es sich hier um kognitiv schwächere Modi des Urteilens und Behauptens handelt. Kenny findet es befremdlich (strange), dass Ideen im Unterschied zu Urteilen nicht wahr oder falsch sein sollen; vgl. Kenny 1998, S.  145 f. Er berücksichtigt dabei 72

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3.  Formale Analogien zwischen Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

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Die Untersuchung der möglichen Ursachen für solche falschen Ideenverknüpfungen kann Descartes erst in der vierten Meditation abschließen. Zunächst beschäftigt ihn ein anderer Wesenszug des Denkens, ohne den das Denken nicht irrtumsanfällig wäre. Denn um faktisch irrtumsanfällig zu sein, muss das Denken auf Wahrheit ausgerichtet sein. Irrtum kann nicht anders verstanden werden denn als Privation von Erkenntnis. Theoretisches Denken und Urteilen ist eine Tätigkeit, die der Norm der Wahrheit untersteht. Man kann nicht verstehen, was Denken ist, wenn man nicht einzusehen vermag, dass Erkenntnis und damit Wahrheit das Ziel dieser Tätigkeit ist.74 Wahrheit wiederum kann letztlich nicht anders denn als Übereinstimmung zwischen Gedanke und Sachverhalt verstanden werden. Deswegen kann Descartes mit vollem Recht den Irrtum im engeren Sinn wie folgt bestimmen: „Der vorzüglichste und häufigste Irrtum aber, den man in ihnen [den Urteilen; H.T.] vorfinden kann, besteht darin, dass ich urteile, die in mir vorhandenen Ideen seien gewissen außer mir befindlichen Dingen ähnlich oder entsprechend; denn wenn ich bloß die Ideen selbst als gewisse Weisen (modi) meines Bewusstseins betrachtete und sie nicht auf irgend etwas anderes bezöge, so würden sie mir gewiss kaum irgendeinen Stoff zum Irrtum geben können.“75

Man beachte, dass Descartes hier keineswegs der Selbstbeschränkung des Denkens auf eine denkimmanente Ideenbetrachtung das Wort redet, wie es ein subjektiver Idealist tun würde. Das Denken strebt nach Objektivität und wird dadurch irrtumsanfällig. Deswegen aber diesem Streben nicht nachzugeben wäre ohne Zweifel töricht und würde Idee und Sinn des Denkens selbst zerstören. Es hilft daher auch nichts, Wahrheit in etwas anderem als der Entsprechung von Gedanke und Sachverhalt zu suchen, etwa in subjektiver Zufriedenheit, gedanklicher Kohärenz, im Konsens der Sachverständigen oder im pragmatischen Erfolg der sich an dem fraglichen Gedanken orientierenden Handlungen. Solche Substitute oder Ermäßigungen der Wahrheit lösen das Problem nicht, machen aber die Wahrheit zu etwas so Unstetem wie den Automaten des Dädalus.76 Deswegen ist Descartes auch weit entfernt davon, seinerseits an dieser Stelle nicht, dass dieser Gedanke rein formal ist – Ideen sind nicht Träger von Wahrheitswerten – und sich sehr wohl mit dem Gedanken verträgt, dass Ideen anderweitig fehlerhaft und Quellen des Irrtums sein können. 74   Manche Autoren glauben in der Nachfolge von Kants so genannter Widerlegung des Idealismus (KrV, B 274–287) allein aus dieser begrifflichen Beobachtung ein Argument gegen den universalen methodischen Zweifel Descartes’ gewinnen zu können. Aber das ist ein Non sequitur: Daraus, dass Denken auf Erkenntnis aus ist, folgt nicht schon, dass es jemals zu den je gesuchten Erkenntnissen gelangen kann – und nicht lediglich zu trivialen zweitstufigen Beobachtungen wie der Prämisse dieses Einwands, dass nämlich Denken auf Erkennen zielt. Umgekehrt ist die meist realistisch genannte Kausaltheorie sprachlicher Bedeutung nicht so anti-cartesisch, wie ihre Vertreter in der Regel meinen. Vgl. dazu Evans 1973 und McDowell 1993. 75   Med. III, S.  30. 76   Menon, 97 d.

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IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

einen neuen, evidenzbasierten Wahrheitsbegriff einzuführen. Dessen Berechtigung müsste hier ja gerade gegen den skeptischen Zweifel ausgewiesen werden. Andernfalls läge hier tatsächlich eine dramatische Preisgabe der eigenen skeptischen Methode vor. Stattdessen vertieft er die Untersuchung der Ideen auf der Suche nach den Quellen des material Falschen darin. Dabei unterscheidet er drei Arten von Ideen, wobei der Einteilungsgrund, immer getreu der ursprünglichen, korrespondenztheoretischen Idee der Wahrheit, deren unterschiedliche Ursachen sind. Manche Ideen sind dem Geist gewissermaßen angeboren, d. h. sie hängen unmittelbar mit der Natur des Denkens selbst zusammen. Descartes nennt als Beispiele formale Denkkategorien wie die des Gegenstandes (res) oder trans­ zendentale Maßstäbe wie den der Wahrheit, aber eben auch den Begriff des Denkens selbst, den das Denken nicht von außen gewinnt, sondern aus sich selbst schöpft. Diese Ideen sind insofern als angeboren anzusehen, als sie in jedem möglichen Denkakt schon präsupponiert sind, weswegen ohne sie überhaupt kein Denkakt möglich wäre.77 Andere, z. B. ‚Mensch‘ oder ‚rot‘, sind anscheinend durch Objekte in der Welt verursacht, wieder andere, z. B. ‚Einhorn‘ oder ‚Sirene‘, fingiert. Dabei ist klar, dass die gesamte Einteilung vorläufig sein muss, solange nicht sicher ist, dass angeborene Ideen überhaupt gehaltvoll sein können und dass es einen realen Unterschied zwischen erworbenen und fingierten Ideen gibt, d. h. dass nicht auch die vermeintlich erworbenen Ideen in Wahrheit Fiktionen sind. Denn dass uns bewusst ist, dass Einhörner oder Sirenen fiktiv sind, während wir meinen, dass uns die Ideen des Menschen oder des Roten gewissermaßen von der Welt selbst aufgedrängt werden, reicht dem methodischen Zweifel nicht aus. Die vermeintlich erworbenen Ideen könnten ja womöglich unbewusste Fiktionen sein.78 Die bisher genannten angeborenen Ideen sind von diesem Zweifel allerdings nicht betroffen, da das Cogito-Argument zeigt, dass weder die Kategorie Gegenstand noch die Idee der Wahrheit leer ist. Denn dieses Argument liefert ein wahres Urteil über je einen bestimmten Gegenstand. Um die skeptische Erwägung des Gehalts von Ideen weiter zu führen, mustert Descartes die verschiedenen Arten von Ideen durch, um zu prüfen, woher sie ansonsten stammen könnten. Das Verfahren, welches er bei dieser Überlegung anwendet, unterliegt insofern strengen Kriterien, als die alternative Erklärung verständlich machen können muss, wie die fraglichen Ideen jeweils zu dem Gehalt kommen, den sie besitzen. Descartes formuliert das Kriterium, dem

77  Vgl. Med. III, S.  30. Nirgendwo behauptet Descartes, dass es sich bei angeborenen Ideen um biologisch vererbbare Vorstellungen handele, etwa um Hirnstrukturen, wie sie Chomskys ‚Cartesianismus‘ als Grundlage universaler grammatischer Strukturen annimmt. Vgl. Williams 1981, S.  105 f., und Engfer 1996, Kap.  3.3. 78  Vgl. Med. III, S.  31.

3.  Formale Analogien zwischen Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

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diese skeptischen Erklärungsalternativen genügen müssen, im Rückgriff auf Termini (spät-)scholastischer Intentionalitätstheorien: Die Ursache der jeweiligen Idee müsse mindestens ebensoviel formale Realität (realitas formalis) besitzen, wie die Idee selbst objektive Realität (realitas obiectiva) enthalte.79 Diese Terminologie mag heutige Leser befremden, aber die zu Grunde liegende Überlegung ist einleuchtend. Sie besagt nämlich zunächst, dass jede Idee einen intentionalen Gegenstand, ein Objekt hat, dem eine bestimmte Verfassung (realitas) eigen ist. So unterscheidet sich die Verfassung bzw. Realität einer Substanzidee grundlegend von der einer Akzidenzidee, und die Akzidenzideen unterscheiden sich untereinander wiederum grundlegend. Eine Quantitätsidee besitzt eine andere Realität als eine Qualitätsidee, und beide sind von einer Relations­ idee ebenso verschieden wie alle drei von einer Ortsidee, etc. 80 Alle diese Arten von Objektideen weisen nun unterschiedliche objektive Realität auf, und zwar auf zweifache Weise. Zum einen sind sie nicht aufeinander reduzierbar. Keine Qualitätsidee lässt sich aus einer Quantitätsidee herleiten und umgekehrt, und Gleiches gilt auch für die übrigen Kategorien. 81 Zum anderen aber besitzt eine Substanzidee insofern ‚mehr‘ objektive Realität als eine Akzidenzidee, als eine Substanz als komplexes, selbständiges und grundlegendes Seiendes gedacht (objektiviert) wird, ein Akzidenz als eher einfaches, unselbständiges und anhängendes (inhärierendes) Seiendes. Qualitäten, Quantitäten und Relationen sind Bestimmungen von etwas, nämlich von Substanzen, aber Substanzen sind nicht ihrerseits Bestimmungen von etwas, sondern sie sind das, was Eigenschaften besitzt und dem Akzidenzien zukommen. Weise zu sein ist eine Qualität des Sokrates; Mensch zu sein ist es nicht, denn das Menschsein charakterisiert die

  Med. III, S.  33. Vgl. zu den Unterschieden zur hochscholastischen Ideenlehre Alquié 1966, S.  203, sowie allgemein Chappell 1984, Perler 1996 und 2004. Die cartesische Ideenlehre knüpft an die scotistische und thomistische Spätscholastik an, vor allem an Cajetan und ­Suarez, wie Ariew nachweist; vgl. Ariew 1999, S.  41 ff. Oppy schließt mit Bernard Williams von der scholastischen Herkunft dieser Unterscheidung auf ihre Unverständlichkeit und Nutzlosigkeit für heutige Leser; vgl. Williams 1981, S.  107 ff., und Oppy 2006, S.  111. 80  Mackies ansonsten durchaus wohlwollender Rekonstruktion dieses Gedankengangs entgeht diese komplexe interne Stufung der Ideen und ihrer möglichen Ursachen. Vgl. Mackie 1985, S.  61 f. 81   Kant bezeichnet Quantitäten als extensive, Qualitäten als intensive Größen, was nahezulegen scheint, dass er von einem gemeinsamen Grund für beides ausgeht, nämlich der Größe als solcher. Vgl. KrV, B 202 und 207. Tatsächlich ist die Gemeinsamkeit bloß logisch: Qualitäten werden durch Adjektive bezeichnet, genau wie vergleichende Größenangaben. Adjektive lassen aber den Komparativ, die grammatische Steigerung zu. Dem entspricht logisch die Kennzeichnung von Quantitäten und Qualitäten als Größen. Die Extensiv-intensiv-Differenz markiert aber gerade die Irreduzibilität, an der auch Kant festhält. Vgl. zur Irrreduzibilität der Kategorien allgemein Brentano 1862, V, §§  3 –6. 79

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IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

Substanz Sokrates der nächsten Art (infima species) nach. 82 Zugleich heißt das, dass wir ohne Substanzidee auch keine Akzidenzideen hätten. 83 Nun sind diese kategorialen Unterschiede objektiver Ideen nur so erklärbar, dass auch bei ihren Ursachen eine der objektiven Realität zumindest entsprechende formale Realität angesetzt wird, d. h. wenn man unterstellt, dass die Ursache ihrem Sein nach (formaliter) 84 zumindest so verfasst ist, wie die als korrespondierend anzunehmende Idee es ihrem intentionalen Charakter nach (obiective) ist. Das ist etwa dann der Fall, wenn als Ursache einer Substanzidee, z. B. der Idee des bestimmten Menschen Peter, eben die entsprechende Substanz, d. h. Peter, angenommen wird, als Ursache einer Farbidee die korrespondierende Farbe, etc. Mit einigen Ergänzungen gilt dies auch für allgemeine Ideen wie die des Menschen, des Pferdes oder des Roten. 85 Was sich auf diese Weise genauer erläutern lässt, ist nichts anderes als die Idee von Wahrheit als Korrespondenz. Aber der radikale Zweifel stellt ja gerade in Frage, dass eine solche Korrespondenz zwischen Ideen und ihren Ursachen jemals besteht oder dass sie sich, falls sie besteht, hinreichend deutlich von Fällen, in denen sie nicht besteht, unterscheiden lässt. Dem trägt Descartes auch hier Rechnung, indem er darauf hinweist, dass Idee und Sache sich auf zweierlei Weise nicht entsprechen können. 86 Auf die erste Weise entspricht eine Idee nicht ihrer Ursache, wenn sie zwar genauso viel objektive Realität wie ihre Ursache formale Realität enthält, aber Idee und Ursache aus kontingenten Gründen nicht kongruieren, etwa 82  Vgl. Kategorien 5. Die Unterscheidung zwischen Wesen, Wesenseigenheiten (Propria) und akzidentellen Eigenschaften wird über das im vorigen Kapitel Gesagte hinausgehend erläutert in Oderberg 2007, Kap.  3. 83   Es kann keine frei schwebenden Akzidenzien geben. Bündel- oder Tropentheorien, welche Gegenstände auf Bündel oder Komplexe von individuierten Eigenschaften reduzieren wollen, müssen nolens volens ihren Eigenschaftsbegriff mit Substanzbestimmungen anreichern, indem sie z. B. Materialität, Animalität oder Personalität als Eigenschaften neben anderen auffassen. Damit ist die Möglichkeit einer zur Substanzontologie alternativen Ontologie lediglich durch logisch-ontologische Entdifferenzierung erschlichen und nicht etwa tatsächlich gezeigt. 84  Nach aristotelisch-scholastischer Terminologie ist das Sein einer Sache, ihre Washeit (quidditas) von ihrer Form her bestimmt, während die Materiebestimmung angibt, woraus die Sache ist. Der Begriff der Seinsform und der formalen Bestimmtheit gehört daher in die Ontologie, während der Begriff des objektiven Seins und der Objektivität in die Erkenntnis- und Intentionalitätstheorie gehört. Williams erläutert den Unterschied zwischen formaler und objektiver Realität etwas irreführend als Unterschied der Eigenschaften von Ideen; vgl. Williams 1981, S.  111. Anscheinend hält er die cartesische Terminologie gerade vor diesem Hintergrund für unattraktiv; vgl. ebd. 85   Descartes könnte dafür auf unproblematische Weise auf das aristotelische Prinzip der erkenntnistheoretischen Abstraktion (aphairesis) zurückgreifen, vermittels dessen man von der Erkenntnis der Formgleichheit zwischen verschiedenen Substanzen zur Erkenntnis der Form und damit der Art gelangt; vgl. Met. 1036 b. Die mögliche Fallibilität dieser Artinduktion ist dabei insofern kein Problem, als die ganze Überlegung ohnehin unter skeptischem Vorbehalt steht. 86  Vgl. Med. III, S.  32 ff.

3.  Formale Analogien zwischen Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

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wenn die Idee von Peter von dessen Zwillingsbruder Paul verursacht wird oder die Idee eines Grünen von einem blau beleuchteten Gelben. Auf diese Weise ist die Idee material falsch. 87 Auf die zweite Weise inkongruent sind Idee und Ursache dann, wenn die Idee weniger objektive Realität enthält als ihre Ursache formale Realität, d. h. wenn die Idee ihre Ursache kategorial verfehlt, indem sie sie der falschen Kategorie oder Form zuordnet. So ist es denkbar, dass eine bestimmte Substanz in einem wahrnehmenden Subjekt keine adäquate Substanz­ idee verursacht, sondern eine Akzidenzidee, in der die Substanz lediglich auf unbestimmte Weise mitgedacht wird, z. B. in der Idee von etwas Grünem. In solchen Fällen ist die Idee formal falsch oder inadäquat, und die Realität der Ursache ist gegenüber der der Wirkung eminent; sie ragt darüber hinaus. Auf gleiche Weise verhalten sich alle Fälle, in denen die Wahrnehmung eines bestimmten Seienden nur eine unbestimmte, kategorial undifferenzierte Idee verursacht. Man beachte aber, dass eine material oder formal falsche Idee nur dann zur Quelle von Irrtümern wird, wenn ihre materiale oder formale Falschheit unbemerkt bleiben. Descartes schließt nicht aus, dass die materiale oder formale Falschheit einiger unserer Ideen vielleicht unüberwindlich ist. Dennoch kann es einen irrtumsfreien Gebrauch solcher Ideen im Denken und Urteilen geben, nämlich im Bewusstsein ihrer Inadäquatheit. Dieser Grundsatz ist für die cartesische Natürliche Theologie von großer Bedeutung. Der umgekehrte Fall der formalen Falschheit einer Idee ist jedoch nicht denkbar. Eine Idee kann nicht mehr objektive Realität besitzen als ihre Ursache formale. Ideen besitzen keine eminente Realität gegenüber ihrer Quelle, da sie von dieser formal abhängig sind und bleiben. Akzidenzien können keine Substanz­ ideen verursachen, jedenfalls nicht ohne hinzukommende Ursachen. So kann eine Farbe nicht Ursache einer Dingidee sein, außer indem die von der Farbe verursachte Farbidee mit einer schon erworbenen Dingidee verknüpft wird. Auch eine Quantität oder eine Relation erzeugen für sich genommen keine Substanzidee. Dafür sind sie gewissermaßen ontologisch zu schwach. Aber auch innerhalb der Substanzen ergeben sich entsprechende Ordnungen: Bloße Ag­ gregate von Materie, z. B. Sandhaufen, Pfützen oder Wolken, können keine Idee eines Lebewesens verursachen, und wer vermittels seiner Einbildungskraft (imaginatio) in solchen Aggregaten Tiergestalten ‚sieht‘, kann dies, weil er vor dieser Wahrnehmung bereits über Tierideen verfügt. Ebenso kann ein Tier nicht die Idee eines Vernunft- oder Geistwesens verursachen. Vernunft und Geist können wohl in das Verhalten von Tieren hineinprojiziert, nicht aber abstraktiv der Beobachtung dieses Verhaltens entnommen werden. Ideen können nicht gehaltvoller sein als ihre Ursachen, d. h. die Quellen ihrer Bedeutung. 88

  Zur materialen Falschheit von Ideen vgl. Perler 1996, S.  253.  Vgl. Med. III, S.  34.

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IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

Für die Überwindung des hypertrophen skeptischen Zweifels ist damit allerdings nicht soviel gewonnen, wie man zunächst meinen könnte. Denn das Prinzip, dass Ideen nicht gehaltvoller sein können als ihre Ursachen, ist sehr viel schwächer als ein Korrespondenz- oder Adäquationsprinzip der Erkenntnis. 89 Denn es sagt zwar, dass z. B. Substanzideen nur von Substanzen herstammen können, aber nicht, dass die die Substanzideen verursachenden Substanzen so beschaffen sein müssen, wie sie durch die Idee repräsentiert werden. Wie schon betont müssen ja Ursache und intendiertes Objekt einer Idee nicht einmal identisch sein. So kann die Idee von einem Vernunft- oder Geistwesen zwar nur von einem Vernunft- oder Geistwesen stammen, aber die Ursache kann je ich sein, selbst wenn meine Idee ein von mir verschiedenes Vernunft- oder Geistwesen repräsentiert. Auch scheint es, als könne die Idee von einer körperlichen Substanz nur von einer körperlichen Substanz verursacht werden. Das heißt aber nicht, dass hier irgendeine Ähnlichkeit zwischen der Idee und ihrer Ursache bestehen muss. Das Prinzip reicht mithin nicht aus, um die skeptische epoche im Hinblick auf Urteile über körperliche Gegenstände auszusetzen. Auch ein genius malignus, welcher die Ideen von Körpern insgesamt als Halluzination in mir erzeugte, würde als eminente Ursache meiner Körperideen dem Prinzip genügen, da ihm ex hypothesi mehr formale Realität zukommt als meinen Körper­ ideen objektive. Descartes’ Kausalprinzip der Genese von Ideen ist also keineswegs ein bequemer Ausweg aus den Folgeproblemen der methodischen Skepsis. Und doch ist das Prinzip von großer positiver Bedeutung, ja es ist das erkenntnistheoretische Rückgrat des Gottesbeweises der dritten Meditation, da es zum Schlüssel der Einsicht in die Existenz Gottes wird. Denn aus ihm folgt, dass die Idee Gottes in unserem Geist nicht mehr objektive Realität besitzen kann, als ihrer Ursache formale Realität zukommt. Aber nur einer Sache kann eine formale Bestimmtheit zukommen, die von der objektiven Bestimmtheit der Gottesidee nicht übertroffen wird, und das ist Gott selbst. Also kann nur Gott selbst Ursache meiner Gottesidee sein. Die Idee Gottes ist die Idee eines maximal vollkommenen und formal maximal ‚realen‘ Wesens, das eben deswegen, wie sich schon bei Anselm gezeigt hat, ein geistiges Wesen sein muss. Es kann sich aber nicht um ein endliches Geistwesen handeln, weil kein endliches geistiges Wesen maximale Vollkommenheit besitzen kann. Deswegen kann die Gottesidee auch keine unbewusste Fiktion sein, in der je ich Wesenszüge meines Geistes von mir abtrenne und hypostasiere oder sogar personifiziere. Denn ich bin mir je meiner radikalen geistigen Unvollkommenheit ja gerade durch den skeptischen Zweifel bewusst geworden.

89   So zu Recht auch Gewirth 1998, S.  82. Diese Beobachtung motiviert ja überhaupt erst die Vermutung, Descartes wolle die korrespondenztheoretische Wahrheitsauffassung ganz überwinden.

3.  Formale Analogien zwischen Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

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„Wie sollte ich es sonst auch verstehen, dass ich zweifle, dass ich etwas wünsche, d.i. dass mir etwas mangelt und ich nicht ganz vollkommen bin, wenn gar keine Idee eines vollkommeneren Wesens in mir wäre, durch dessen Vergleichung ich meine Mangelhaftigkeit erkenne?“90

Diese geistige Unvollkommenheit ist auch kein bloß akzidenteller Zug meiner selbst als geistige Substanz, sondern sie eignet meinem Wesen und bestimmt mich damit formal. Unvollkommenheit im hier gemeinten Sinn ist ein Proprium, eine Formeigenschaft endlicher geistiger Substanzen. Es hat sich ferner gezeigt, dass Vollkommenheit nicht als bloße Abwesenheit von Unvollkommenheit verstanden werden kann, ebenso wenig wie Gesundheit als bloße Abwesenheit von Krankheit oder Wahrheit als Nichtvorhandensein von Falschheit.91 Krankheit oder Falschheit können weder sein noch begriffen werden ohne ihr Gegenteil, Gesundheit bzw. Wahrheit, deren Privationen sie sind. Man muss schon verstanden haben, was Gesundheit und was Wahrheit ist, um verstehen zu können, was Krankheit und was Falschheit ist; die Umkehrung gilt aber nicht. Ganz allgemein lässt sich die Idee der Vollkommenheit nicht als Negation von Unvollkommenheiten verstehen, da diese Negation richtungslos bleibt, wenn man sie nicht von vornherein auf ein Mehr an Vollkommenheit hin ausrichtet. Auch Sterben und Tod führen zu einer endgültigen Abwesenheit von Krankheit, aber nicht zu einem Mehr an Gesundheit und Vollkommenheit. Aus dieser Überlegung ergibt sich bereits, dass Gott als unendliches, d. h. als schlechthin vollkommenes Wesen transzendent sein, d. h. über jeder Gattung des endlichen Seienden stehen muss, da kein endliches, gattungszugehöriges Wesen schlechthin vollkommen ist, sondern allenfalls vollkommen in seiner Art. Auf anderem Weg gelangen wir so erneut zu dem Gedanken, dass von Gott jede bloß spezifische, gattungsgebundene Vollkommenheit fernzuhalten ist. So kann man Gott keine körpergebundenen Vollkommenheiten wie Gesundheit, guten Wuchs oder Wohlgestalt zuschreiben.92 Auch geistige Vollkommenheiten können Gott nur analogisch zugeschrieben werden, d. h. in Abstraktion von jeder Endlichkeit. Damit fallen nicht nur sämtliche ethischen Tugenden, mit Ausnahme der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, als mögliche Attribute   Med. III, S.  37.   Die Idee der Wahrheit kann auch nicht ‚empirisch‘ aus dem Nichtbemerken von Falschheit erklärt werden, genauso wenig wie die Idee des Geraden aus dem faktischen Nichtbemerken des Krummen. Denn wer Falsches für wahr oder Krummes für gerade hält, der setzt darin die relevante Differenz schon voraus. Diese kann aber nur vom Wahren bzw. vom Geraden her verstanden werden, als deren Privationen das Falsche bzw. das Krumme verstanden werden müssen. Das Gegenteil behauptet Mackie 1985, S.  66. 92   Vgl. zur Unendlichkeit Gottes auch Alquié 1966, Kap.  X I. Alquié bezeichnet als Hauptthema der dritten Meditation je meine Unvollkommenheit; vgl. ebd., S.  221. Diese wird durch endliche, artgebundene Vollkommenheiten nicht aufgehoben. Anders verhalten sich Vollkommenheit und Unvollkommenheit beim inkarnierten, Mensch gewordenen Gott. Aber dieser ist nicht oder nur in sehr spezieller Hinsicht ein mögliches Thema der Natürlichen Theologie. 90 91

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IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

Gottes weg, sondern auch solche dianoietischen und epistemischen Tugenden wie Gründlichkeit, Lerneifer oder Kritikfähigkeit. Derlei Tugenden kann nur ein endliches Geistwesen besitzen und ausbilden, kein unendliches. Dessen Verhältnis zu endlichen Vernunftwesen ist notwendig von der schon umrissenen Mischung aus Ähnlichkeit und Unähnlichkeit gekennzeichnet, welche Analogiebestimmungen des göttlichen und menschlichen Geistes zulässt.93 (2) Die Analogie von göttlichem und menschlichem Geist spiegelt sich bei Descartes in der Formgleichheit des theistischen Arguments mit dem Cogito-Argument. Diese formale Entsprechung wird allerdings häufig nicht gesehen. Man kann sich diesem Aspekt von der Argumentation in den Meditationen annähern, indem man nachfragt, auf welche Weise die Gottesidee nach Descartes in je meinem Geist erscheint und wie es kommt, dass man im Zuge der skeptischen Untersuchung darauf stößt. Offenkundig geht Descartes hier über Anselm hinaus, der lediglich behauptet, dass der menschliche Geist die Kennzeichnung eines Wesens als etwas, über dem nichts Größeres gedacht werden könne, zu verstehen in der Lage sei, wenn er darauf stoße oder damit konfrontiert werde, ohne aber genauer zu fragen, wie er diese Kennzeichnung finden oder entwickeln könne. Descartes geht weiter, indem er behauptet, dass die Gottesidee nichts sei, was man so entdecke wie etwa eine Pferdidee oder eine Einhornidee. Vielmehr gehöre die Gottesidee bereits zum Inventar unseres Denkens und sei schon im Spiel, wann immer wir einen Gedanken fassen. Solche Ideen nennt Descartes wie schon erwähnt ‚angeboren‘ (innatae).94 Die Gottesidee steht damit neben anderen angeborenen Ideen wie den Grundkategorien von Substanz und Akzidenz, also von Gegenstand, Eigenschaft und Relation, ferner neben den Transzendentalien des Wahren, des Guten, des Einen etc. sowie neben ‚intentionalen‘ Reflexionsbegriffen wie dem des Denkens oder des Wollens. Wie man sieht, nähert sich Descartes damit einer Position, die Thomas schon an Anselm kritisiert, nämlich der Aufnahme der Gottesidee in die Reihe der an sich bekannten Begriffe. Aber dass eine Idee angeboren ist, heißt nicht, dass jeder Mensch umstandslos darüber verfügt oder dass die Definition des die Idee ausdrückenden Begriffs sofort einleuchten muss. Jeder Mensch, der versteht, was ein Ganzes und was ein Teil ist, erkennt, dass ein Ganzes größer sein muss als jeder seiner Teile. 93   Jean-Luc Marion versucht, gegen einen breiten Strom der ‚modernistischen‘ DescartesDeutung zu zeigen, dass Descartes in seinem theologischen Denken die scholastische Figur der analogia entis wiedergewinnt, die Philosophie und Theologie seit Duns Scotus und Ockham verloren zu gehen droht. Vgl. Marion 1981, S.  14 et passim. Wie Marion schreibt auch Ariew Descartes mit Blick auf das Verhältnis von Gott und menschlichem Geist ein eher thomistisches Analogiedenken zu, während er ihn ansonsten eher dem Scotismus zurechnet. Auch das deckt sich mit Marions Descartes-Deutung. Vgl. Ariew 1999, S.  55 und Anm.  88, sowie Marion 1975. Vgl. ferner zum Problem der analogen Attribution auch Alquié 1966, S.  214. 94  Vgl. Med. III, S.  42.

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Aber nicht jeder Mensch, der mit der Gottesidee konfrontiert wird, erkennt darin ein Wesen von größtmöglicher Vollkommenheit, z. B. dann nicht, wenn er Atheist, Heide oder Anhänger der stoischen Naturphilosophie ist, die Gott für ein materielles Wesen hält. Aber, so könnte Descartes erwidern, dies ist keine Besonderheit der Gottesidee. Angeborene Ideen seien zwar an sich klar und deutlich erkennbar; das heiße aber nicht, dass faktisch jeder das könne, also die Substanzidee oder die Idee der Wahrheit zu explizieren in der Lage sei. Angeboren ist eine Idee vielmehr dann, wenn sie in einschlägigen Denkakten immer schon vorausgesetzt werden muss. Das ist vereinbar damit, dass Reflexion und Explikation später kommen und von vielen Menschen gar nicht vollzogen werden. Dass ein Mensch umgekehrt nicht anzugeben verstehe, was eine Substanz ihrem Begriff nach sei, sei demnach kein Argument dafür, dass dieser Mensch über die Idee der Substanz nicht verfüge. Im Gegenteil, er verfüge sehr wohl darüber, sofern er sich denkend auf Objekte beziehe. Dies könne er eben nicht anders, als dass er sich auf sie als Substanzen und im logischen Kontrast zu ihren Akzidenzien beziehe. Die begriffliche Reflexion sei dem Gebrauch dieser Kategorie gegenüber notwendig nachträglich und müsse später gelernt werden. Mancher gelange vielleicht gar nicht zur Fähigkeit, die von ihm längst schon gebrauchten angeborenen Ideen vernünftig zu explizieren. A fortiori gelte diese Argumentation für die Gottesidee. Denn dass viele Menschen Irrtümer oder sogar ungereimte Meinungen über das Wesen und die Existenz Gottes formten, zeigt für Descartes genauso wenig, dass die Gottes­ idee nicht zu den angestammten Ideen des Geistes gehörte. Die Unfähigkeit vieler Menschen, klare theologische Gedanken zu fassen, wäre aus seiner Sicht nichts als ein spezieller Fall der allgemein möglichen Diskrepanz zwischen Ideen­gebrauch und Ideenexplikation. Aber auf welche Weise gehört die Gottesidee zum ursprünglichen Inventar unseres Denkens? Welchen Sitz hat sie innerhalb des Ensembles der angeborenen Ideen? Die Bedeutung der Gottesidee für den menschlichen, endlichen Geist ist nicht vergleichbar mit der Bedeutung sonstiger angeborener Ideen. Einige davon, z. B. der Satz des Widerspruchs oder das mereologische Prinzip, dass das Ganze größer ist als seine Teile, geben dem Denken selbst Ordnung und Einheit.95 Andere, z. B. die Substanzidee oder Akzidenzideen, sind logische Formen, die man denkend auf Gegenstände in der Welt beziehen muss, um diese überhaupt gedanklich repräsentieren zu können – und sei es nur in Gestalt der Selbstrepräsentation als geistige Substanz und Träger geistiger Vermögen sowie als Subjekt geistiger Akte. Wieder andere, nämlich die Ideen des Wahren 95   Streng genommen handelt es sich dabei nicht um Ideen, sondern um Prinzipien der Ideenverknüpfung. Diese werden wie schon bei Aristoteles auch bei Descartes als angeboren betrachtet – unbeschadet der Tatsache, dass Aristoteles anders als Descartes den menschlichen Geist bei der Geburt für eine tabula rasa hält. Vgl. De Anima Γ 4, 430 a.

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IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

und des Guten, sind interne Normen geistiger Akte, nämlich des Urteilens resp. des Wollens. Nichts davon gilt in spezifischer Weise für die Gottesidee. Die Gottesidee berührt nämlich alle Aspekte des Denkens und des Geistigen gleichermaßen. Sie ist so etwas wie das „Ideal der reinen Vernunft“,96 der Inbegriff eines geistigen Wesens, welches als denkendes und erkennendes Wesen allwissend, als wollendes und liebendes allmächtig und zugleich vollendet gütig ist, und als Ideal ist sie in jedem beliebigen Denkakt schon gegenwärtig, als Norm, nicht notwendig aber als Inhalt der Gedanken. Die Akte Gottes müssen als den Normen des Wahren und Guten auf infallible Weise genügend gedacht werden, da er, wie schon die Erörterung der Thesen Feuerbachs gezeigt hat, als transzendenter Maßstab vernünftiger Akte bestimmt ist, als transzendentes und für endliche Geistwesen unerreichbares Exemplar (Vorbild) geistiger Tätigkeit. Als solches sind seine Akte zugleich maximal geordnet und einheitlich (kohärent), und zwar so, dass es keinerlei Diskrepanz zwischen dem Gehalt seiner Gedanken und den Gegenständen in der Welt geben kann. Bei aller Ungleichheit muss die Gottesidee doch von einer Analogie zwischen göttlichem und menschlichem Geist ausgehen, so dass der eine in Vollkommenheit bzw. auf unendliche, d. h. nicht beschränkte Weise das ist, was der andere notwendig nur auf endliche, beschränkte Weise ist. Die Gottesidee ist das gedachte Urbild und Muster des Geistes überhaupt. Inwiefern ist diese Idee nun angeboren? Sie ist es insofern, als geistiges Tätig­ sein auf größtmögliche Vollkommenheit abzielt. Ein geistiges Wesen muss daher schon durch seine spezifische Seinsweise in irgendeiner Weise über die Idee geistiger Vollkommenheit verfügen; die Vollkommenheitsidee ist ihm daher notwendig eigen und im oben erläuterten Sinn angeboren. Die einfache, nicht weiter spezifizierte Idee geistiger Vollkommenheit ist aber identisch mit der Gottes­idee. Denn Ziel des Denkens ist das Wissen, Ziel des Wollens das Gute; Inbegriff des Wissens und des guten Willens einschließlich der Macht, es zu erreichen, ist Gott. Indem der menschliche Geist sich denkend und wollend an Vollkommenheit ausrichtet – und das tut er spätestens dann, wenn er der eigenen Fallibilität und damit Unvollkommenheit inne wird –, verfügt er schon über die Gottesidee, wenn auch nicht notwendig unter diesem Titel. Damit bringt Descartes Anselms Argument gegen den Atheisten weiter, indem er dessen ersten Schritt begründet und erklärt, wie die Idee von etwas, über dem nichts Vollkommeneres gedacht werden kann, überhaupt in den menschlichen Intellekt kommt. Sie gehört zu dessen Natur, auch wenn er wie der Atheist nicht gelernt hat, diese Idee mit dem Terminus ‚Gott‘ zu verbinden. Zugleich kommt er seinem Ziel näher, sich mit dem skeptischen Agnostiker argumentativ auseinanderzusetzen. Denn sofern der Agnostiker bereit ist, die Propria seiner eigenen geistigen Natur anzuerkennen, muss er auch zugestehen, dass die Differenz   KrV, B 595.

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3.  Formale Analogien zwischen Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

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zwischen dem geistig Vollkommenen und Unvollkommenen für sein Denken konstitutiv ist. Er kann sich dann also nicht mehr auf die Unkenntnis oder das Nichtverstehen dieser Idee zurückziehen, da er sich wie verdeckt auch immer schon darauf bezieht, wenn er einen Gedanken oder Vorsatz fasst.97 Damit können Atheist und Agnostiker aber auch Descartes’ Frage nach dem Ursprung bzw. der Ursache dieser Idee nicht mehr abweisen. Bei der skeptischen Untersuchung denkbarer und möglicher Ursachen werden folgende Punkte deutlich: Erstens kommt die Idee unendlicher geistiger Vollkommenheit nicht von den Normen des Geistigen selbst her. Zwar ist ein schlechthin wahrer Gedanke ein vollkommener Gedanke, und ein schlechthin gutes Wollen ein vollkommenes Wollen. Aber Wahrheit, recht verstanden als Adäquation eines Gedankens an den Sachverhalt, von dem er handelt, reicht nicht aus, um die Idee eines vollkommenen Denkens zu erläutern. Wahrheit empfängt ein Gedanke von seinem Gegenstand. Aber dass Wahrheit Ziel des Denkens ist, liegt in der Natur des Denkens, welche von dessen Vollkommenheit her gedacht werden muss. Die Idee des (vollkommenen) Denkens führt zur Norm der Wahrheit, nicht umgekehrt. Ebenso ist ein Wollen zwar dann gut, wenn es etwas Gutes will. Aber manches Gute ist kein mögliches Objekt des Willens, z. B. die Bewegung der Erde um die Sonne. Also reicht der Begriff des Guten für sich genommen nicht aus, um vollkommenes Wollen zu begreifen, sondern es verhält sich auch hier umgekehrt: Die Idee des (vollkommenen) Wollens führt zur Idee des praktischen Guten, nicht umgekehrt.98 Zusammenfassend: Die Idee theoretischer und praktischer geistiger Vollkommenheit führt zum Wahren und Guten als den Normen theoretischer und praktischer Vernunft, nicht umgekehrt.99 Zweitens kann die Ursache dieser Idee nicht bei je mir selbst liegen, wie Des­ cartes, gewissermaßen Feuerbachs These schon vorab zurückweisend, zeigt.100 Zwar bin ich mir gewisser Fortschritte in meinem Denken bewusst, z. B. in Durchführung des methodischen Zweifels. Und jeder intellektuelle Fortschritt ist ipso facto eine Annäherung an geistige Vollkommenheit. Aber das Bewusst97   Man muss daran erinnern, dass die Gottesidee als solche noch keine bestimmte Theologie impliziert. Gott ist hier lediglich als Inbegriff von Vollkommenheit thematisch, nicht schon in seiner kosmologischen Bedeutung als Schöpfer oder Erhalter der Welt oder in seiner moralischen Bedeutung als Richter über die Guten und die Bösen. Die cartesische Gottesidee lässt sich aus noch zu nennenden Gründen zwar nur monotheistisch explizieren, nicht aber schon im Sinne einer bestimmten ‚positiven‘ Religion oder Konfession. 98   Man sollte diese These nicht mit der Auffassung Kants verwechseln, dass der Begriff des Guten nur über den Begriff des Wollens und letztlich des Sollens erklärt werden könne. Vgl. GMS, A 8. Dieser Auffassung wird hier gerade widersprochen, indem darauf beharrt wird, dass Gutes und Gesolltes nicht zusammenfallen. 99   Um Missverständnissen vorzubeugen: Das heißt nicht, dass Wahres und Gutes nicht ursprüngliche Normen geistiger Akte wären. Es heißt nur, dass diese Normen für sich nicht hinreichend sind für die Explikation geistiger Vollkommenheit. 100  Vgl. Med. III, S.  38 f. Koch bezeichnet die These der dritten Meditation durchaus passend als „externalistischen Gottesbeweis“; vgl. Koch 2004, S.  43.

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IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

sein je meiner Lernfortschritte ist notwendig zugleich ein Bewusstsein meiner Unvollkommenheit, die lediglich mit dem Vermögen einhergeht zu wissen und an Wissen reicher zu werden. Damit bin je ich womöglich die Ursache meiner Idee von geistiger Unvollkommenheit, nicht aber zugleich des Gegenteils. Und die Idee der Vollkommenheit ist vom Streben nach Wissen vorausgesetzt, nicht aber daraus ableitbar. Denn Ziel dieses Strebens ist nicht Allwissenheit – diese bleibt unerreichbar –, sondern lediglich ein Mehr an Wissen. Drittens kann die Idee geistiger Vollkommenheit aus Gründen, die z. T. schon oben angesprochen wurden, nicht in anderen Menschen liegen, die mir ggf. als endliche Vorbilder und Autoritäten zugänglich sind. Denn meine Vorbilder und die Autoritäten, die je ich anerkenne, sind geistig in besserer Verfassung als ich, nicht aber vollkommen, wie ich sehr wohl weiß. Gleiches gilt für die Gemeinschaft der Wissenschaftler oder das Volk der Gerechten. Auch Gemeinschaften sind nicht infallibel und damit nicht schlechthin vollkommen. Viertens kann die Idee geistiger Vollkommenheit auch nicht als Negation geistiger Unvollkommenheit erklärt werden, und zwar deshalb nicht, weil Unvollkommenheit nur vor dem Hintergrund einer Idee von Vollkommenheit verstanden werden kann, ein Verständnis für die eigene Unvollkommenheit daher aber schon ein Verständnis von Vollkommenheit voraussetzt. Das lässt sich auch induktiv nachvollziehen. Ein Verständnis dafür, dass ein Gedanke ein Irrtum oder eine Instanz von Unwissenheit ist, setzt ein zumindest undeutliches Verständnis von Erkenntnis und Wissen schon voraus. Ebenso kann böses und schlechtes Wollen und Handeln nur als solches verstanden werden, wenn schon verstanden ist, was gutes Wollen und Handeln ist, weil es dessen Privation ist. Also setzt das Verständnis von Irrtum, Unwissenheit und Bosheit das Verständnis von Erkenntnis und volitiver Güte voraus und kann nicht dessen Ursache sein. Aus all dem folgt, dass die Idee des schlechthin Vollkommenen nicht aus einem Unvollkommenen oder nur relativ Vollkommenen entspringen kann. Sie kann daher ihre Quelle nur in einem schlechthin Vollkommenen haben. Und das ist Gott. Nur Gott kann Ursache der Gottesidee sein, so wie nur je ich Ursache der Idee meiner selbst sein kann. In dieser Überlegung ist aber zugleich impliziert, dass Gott nur die im höchsten Maß eminente Ursache der Gottes­ idee sein kann, da der endliche Geist des Menschen keine adäquate Idee eines schlechthin Vollkommenen fassen kann.101 Auf diese Weise wird Descartes dem spannungsvollen Verhältnis von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit gerecht, auf dem der Gedanke der analogia entis beruht, und zwar auf eine bereits bei Anselm präformierte Weise. (3) So gelangt Descartes in zwei aufeinander aufbauenden Denkschritten eines einzigen komplexen Arguments zur Entdeckung zweier geistiger Sub Vgl. Med. III, S.  38.

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3.  Formale Analogien zwischen Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

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stanzen, nämlich der denkenden Seele und Gottes. Die Einsicht in die Unbezweifelbarkeit der eigenen Existenz kann dank der zwiefältigen Intentionalität des menschlichen Geistes performativ gewonnen werden, die Einsicht in die Unbezweifelbarkeit der Existenz Gottes durch den Nachweis, dass die Gottes­ idee zur Ordnung des Denkens selbst gehört, ihre Ursache aber nur in Gott haben kann. Das bedeutet zweierlei, nämlich dass Gott existiert und dass er tatsächlich vollkommen ist. Damit sind Atheismus und Agnostizismus ebenso obsolet wie der Verdacht, Gott könnte ein böser Geist oder ein gutes, aber nicht allmächtiges Wesen sein.102 Beide Einsichten werden aus reinem Denken gewonnen, d. h. in performativer Durchführung des radikalen methodischen Zweifels. Dieser enthüllt zwei notwendig gehaltvolle angeborene Ideen (von je mir selbst als endlicher und von Gott als unendlicher geistiger Substanz). Dabei bleibt festzuhalten, dass die Gottesidee nicht als bloße Negation von Endlichkeit und Unvollkommenheit begriffen werden kann. Umgekehrt gilt aber sehr wohl, dass das Wesen des menschlichen Geistes als Limitation göttlicher Vollkommenheiten begriffen werden kann, ja muss, in Übereinstimmung mit der Tradition und in radikalem Gegensatz zur These Feuerbachs. Das Wesen der menschlichen Seele zu verstehen heißt, Gott als seine Exemplarursache zu erkennen. Gegen dieses Argument kann nicht eingewendet werden, dass der Schluss von Wirkungen auf Ursachen fallibel ist. Dies gilt durchaus für effiziente Ursachen, nämlich in allen Fällen, in denen ganz verschiedene Ursachen gleiche oder zumindest ähnliche Wirkungen haben können, z. B. bei zwei Bränden, von denen der eine durch eine chemische Reaktion, der andere durch einen elektrischen Kurzschluss verursacht wird. Es gilt auch für manche Finalursachen, bei denen Gleiches oder Ähnliches um ganz verschiedener Ziele oder Zwecke willen geschieht, wenn z. B. A lügt, um B zu schützen, während C lügt, um D zu schädigen. In keinem solchen Fall wäre ein Schluss von gleichen Wirkungen auf gleiche Ursachen bzw. von verschiedenen Wirkungen auf verschiedene Ursachen legitim, und damit ist hier der Schluss von Wirkungen auf Ursachen überhaupt diskreditiert. Dennoch mag es andere Fälle effizienter oder finaler Kausalität geben, in denen solche Schlüsse sehr wohl ihre Berechtigung haben. In noch höherem Maße gilt dies für Form- und Materialursachen, bei denen recht zuverlässig von Wirkungen, nämlich Tätigkeiten oder Eigenschaften, auf Formen oder Stoffe als deren Ursachen geschlossen werden kann. Von „X denkt“ zu „X ist ein Vernunftwesen“ führt ein gültiges formkausales Schlussschema,

102  Descartes glaubt, an dieser Stelle bereits sagen zu können, dass Gott unmittelbar Schöpfer jeder Seele sei und dass durch die biologische Zeugung nur der Leib entstehe, wie es auch Augustinus lehrt. Vgl. ebd., S.  41 f. Aber diese Schlussfolgerung wird eher durch das suggestive Bild von der angeborenen Gottesidee als der Signatur des Schöpfers (S.  42) nahegelegt als durch das theistische Argument als solches.

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ebenso von „Y ist härter als Glas und brennbar“ zu „Y ist ein Diamant“ ein gültiges materialkausales. Aber der Schluss von einer Idee auf eine Exemplarursache ist ohnehin ein Kausalschluss von ganz anderem Typus als die bisher genannten. Denn hier geht es um die Erklärung des repräsentationalen Gehalts von Ideen und Begriffen. Das Argument beruht auf der Einsicht, dass hier eine gewisse Isomorphie zwischen objektiver und formaler Realität der Idee, d. h. zwischen dem Gehalt der Idee und dessen Ursache bestehen muss. Die Frage nach der causa exemplaris von Ideen geht in den vier aristotelischen Ursachen nicht völlig auf, auch nicht in der causa formalis, die ihr am nächsten steht. Exemplarursachen genügen speziellen Bedingungen, die der allgemeine Begriff der Formursache nicht enthält. Eine zu erklärende Idee ist ein ens intentionale und damit eine gedachte Form.103 Fragt man nach deren Ursache, geht es nicht um die allgemeine Aufgabe, das Sein oder die Beschaffenheit einer Sache mit Bezug auf deren Form zu erklären, im Sinne der Formursache. Es geht speziell darum, die Form einer Idee und damit eines Denkelements zu erklären, und in der Erklärung muss deshalb eine Form auf eine Form bezogen werden, nämlich die Form der Ursache auf die Form der dadurch bewirkten Idee – oder auch umgekehrt wie im Fall der künstlerischen oder schöpferischen Idee als Ursache der Form eines Objekts. Daran zeigt sich, dass die allgemeinen empiristischen Einwände gegen Schlüsse von Wirkungen auf Ursachen viel zu unspezifisch sind, als dass sie das spezielle Problem der Exemplarursachen treffen könnten. Spezifischere Einwände hat der Empirismus seit Hume nicht mehr zu formulieren vermocht, weil er seitdem nur noch über einen einzigen uniformen, aus Material- und Wirkkausalität amalgamierten Kausalitätsbegriff verfügt. Nun ist Gott aber gleich auf doppelte Weise in einem Verhältnis der Exemplarkausalität mit dem menschlichen Geist verbunden: Erstens als eminente Ursache der Gottesidee in der dargestellten Weise, zweitens – und bisher nur angedeutet – als eminente Ursache des menschlichen Geistes selbst. Das Erste glaubt Descartes hinreichend deutlich gemacht zu haben. Das Zweite fasst er naheliegender Weise als Erschaffung der Seele durch Gott. Dieser Weg liegt theolo  Vgl. zum Verhältnis von Idee und Exemplarursache bei Descartes auch Ariew 1999, S.  42 f. Exemplarkausalität lässt sich sogar allgemein als Relation zwischen Gegenständen und Repräsentationen deuten. Dies gilt auch für Artefakte sowie für den speziell schöpfungstheologischen Begriff von Gott als Exemplarursache der Dinge in der Welt. Die Kausalitätsordnung ist hier insofern umgekehrt, als hier die Ideen, die der Künstler resp. Gott von den Dingen hat, als Ursachen und nicht wie bei den Objekte in der Welt repräsentierenden Ideen endlicher Vernunftwesen als Wirkungen der Dinge gedacht werden. Dessen ungeachtet geht es immer um kausale Verhältnisse zwischen Repräsentation und Repräsentiertem. Vgl. dazu Anselm, De Veritate VII, sowie Thomas, Quaestiones I, 2. Das Problem der Exemplarursachen ist im Empirismus bei Locke und Berkeley noch präsent, wird danach aber immer mehr aus den Augen verloren und bis in die gegenwärtige erkenntnistheoretische Debatte hinein nicht wiedergefunden. 103

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gisch nahe, ist aber nicht zwingend, da die Rede von Gott wie vom Menschen als geistigen Wesen lediglich verlangt, dass zwischen beiden eine Ähnlichkeit besteht, die angesichts der offenkundigen Unähnlichkeiten verhindert, dass die Rede von Geist äquivok wird. Genau das leistet die traditionelle Rede vom Menschen als endlichem Ebenbild (imago) Gottes, eine Metapher, die eine wesentliche und nicht bloß zufällige Ähnlichkeit impliziert, nicht aber einen wirk­ ursächlichen Zusammenhang wie die Rede von Schöpfung. Die Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen würde für Descartes’ Zwecke völlig ausreichen, zumal sie ihm erlaubt zu artikulieren, was die Hauptentdeckung der dritten Meditation ist: Dass der Mensch die Gottesidee im erläuterten Sinn besitzt, zeigt, dass er Gott wesensähnlich ist. Nur ein Geistwesen ist dieser Idee fähig, aber ein Geistwesen ohne sie kann es unmöglich geben. Allerdings wird der Gedanke einer Gottesebenbildlichkeit des Menschen durch die These einer kausalen Abhängigkeit massiv gestärkt, da auf diese Weise kontingente Ähnlichkeiten ausgeschlossen werden. Die möglichen spezifischen Einwände gegen seine Ideenlehre diskutiert Descartes in Anwendung der skeptischen Methode selbst, indem er für jede Art von Idee nach möglichen alternativen Exemplarursachen als den vom Träger der Idee als existierend unterstellten fragt. Dabei kommt er wie gesehen zu dem Ergebnis, dass für alle erworbenen Ideen auch andere Exemplarursachen als die Bezugsgegenstände der Ideen möglich wären, so dass deren Wirklichkeitsbezug fallibel ist. Für die angeborenen Ideen je meiner selbst und Gottes gilt das aber nicht. Hier kann der Schluss von der Wirkung, der Idee, auf die Ursache, die Substanz, auf die sich die Idee bezieht, nicht fehlleiten, weil keine andere Ursache der Idee überhaupt möglich ist. Dass je ich über die Gottesidee verfüge, sagt mithin genauso viel über je mich als Geistwesen wie über Gott aus. Daraus ergibt sich eine interessante weitere Analogie zwischen Selbst- und Gottes­ erkenntnis: Beide sind, in der rechten Erkenntnisordnung betrachtet, immun gegen den skeptischen Zweifel. Das ist zugleich ein Hinweis auf die inhaltliche Nähe, ja wesensgemäße Zusammengehörigkeit der Idee je meiner selbst und der Idee Gottes.

4.  Gotteserkenntnis und Welterkenntnis Schon Mersenne und Arnauld haben gegen die zweite und dritte Meditation Descartes’ den Einwand erhoben, dass hier zirkulär argumentiert werde. „Da Du des Daseins Gottes noch nicht gewiss bist und dennoch sagst, dass Du nicht eher irgendeiner Sache gewiss sein, d. h. nicht eher etwas klar und distinkt erkennen könntest, als Du nicht gewiss und klar erkannt hast, dass Gott existiert, folgt, dass Du noch nicht klar und distinkt weißt, dass Du ein denkendes Ding bist, da diese Erkenntnis nach Deiner Meinung abhängt von der klaren Erkenntnis des existierenden Gottes,

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die Du an den Stellen noch nicht erwiesen hast, wo Du schließt, dass Du klar weißt, was Du bist.“ 104

Darauf erwidert Descartes, dass die Selbsterkenntnis nicht von der Gotteserkenntnis abhängig sei, weil sie unmittelbar eingesehen werde (mentis intuitus).105 Aber Mersenne bezweifelt, dass ihm diese Antwort zusteht. Denn dass Gott als ein schlechthin vollkommenes, allmächtiges und schlechthin gutes Wesen existiert, welches weder mich täuscht, wenn ich glaube, etwas klar und distinkt zu erkennen, noch einem anderen bösen Geist die Macht lässt, mich auf diese Weise zu täuschen, ist das Ergebnis der dritten Meditation, welches die zweite aber anscheinend schon in Anspruch nimmt. Denn schon je meine Existenz als denkende Substanz wird nach Descartes zwar klar und distinkt eingesehen, steht damit aber anscheinend noch immer unter dem Vorbehalt des Genius-malignus-Zweifels bzw. seiner funktionalen Äquivalente; und jeder weitere Schritt steht auf jeden Fall unter diesem Vorbehalt. Umgekehrt kann das theistische Argument nicht ohne das Cogito-Argument auskommen. Kurz gesagt: Es scheint, als wolle Descartes zunächst klar und distinkt denken, dass Gott existiert, um dann sagen zu können, dass klare und distinkte Gedanken deswegen wahr sind, weil Gott existiert. Das wäre ein Zirkel. Doch man kann Descartes gegen diese Kritik verteidigen, und zwar in drei Schritten. (1) Das Cogito-Argument ist tatsächlich nicht vom Gottesbeweis abhängig. Denn es artikuliert zwar einen klaren und distinkten Gedanken und führt zur Idee meiner selbst als denkende Seele. Aber der Gedanke je meiner Existenz ist seinerseits Voraussetzung für den Zweifel aus der Möglichkeit eines genius malignus und kann daher nicht durch diesen Zweifel in Frage gestellt werden, wie die Durchführung der zweiten Meditation ergibt. Dieser Zweifel kann also nicht die Gewissheit jeder klaren und distinkten Einsicht in Frage stellen, sondern nur derjenigen Einsichten, die weder tautologisch noch selbstreflexiv sind, also nicht vom Denkakt selbst und seinem Träger, der denkenden Substanz als denkender handeln. (2) Die Existenz Gottes wird klar und deutlich eingesehen. Auch diese Einsicht kann nicht durch die Möglichkeit eines genius malignus in Frage gestellt   Zweite Einwände, Med., S.  113. Ebenso argumentiert Arnauld in den Vierten Einwänden, S.  194. Williams verteidigt Descartes gegen den Zirkelvorwurf. Aus seiner Sicht ist nicht Zirkularität das Problem der cartesischen Wissensbegründung, sondern die Berufung auf Gott als solche; vgl. Williams 1981, Kap.  7. Voraussetzung dieser Einschätzung ist das Scheitern der theistischen Argumente, welches Williams für ausgemacht hält (vgl. ebd., S.  131). Loeb hält dieses Scheitern für so offensichtlich, dass er erwägt, ob die Meditationen insgesamt nicht ein Dokument radikaler Verstellung und Lesertäuschung durch einen eigentlich atheistischen Autor sein könnten. Vgl. Loeb 1984. Auch Seidel hält diese Vermutung zumindest für bedenkenswert; vgl. Seidel 2010, S.  87. Für diese Vermutung gibt es aber m. E. keinerlei echten Anhaltspunkt. 105   Antwort auf die Zweiten Einwände, Med., S.  127 f., sowie auf die Vierten Einwände, S.  222. 104

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werden und ist gegen den skeptischen Zweifel immun. Denn sie wird zwar erschlossen und nicht wie die eigene Existenz unmittelbar erkannt. Aber diese Erkenntnis liefert den einzig möglichen Grund dafür, dass ich mir je meiner Endlichkeit und Unvollkommenheit bewusst bin, derer ich ja performativ innewerde, durch Vollzug des methodischen Zweifels. Deswegen wäre es abwegig anzunehmen, die Gottesidee könnte selbst ein Werk des bösen Geistes sein, der mir womöglich eine Einsicht vorgaukelt, die ich gar nicht haben kann. Zudem kann die Idee eines schlechthin guten Wesens gar nicht von einem bösen Wesen verursacht werden,106 und diese Täuschung würde dem bösen Geist auch nichts nützen, da die Gottesidee mich gerade auf meine Endlichkeit hinweist, während der Zweifel davon ausgeht, dass ich gerade darüber hinweggetäuscht werden soll. Das gilt mutatis mutandis auch für die Annahme, dass anonyme Naturkräfte, z. B. eine bestimmte evolutionäre Entwicklung unserer kognitiven Fähigkeiten zu systematischen Irrtümern über uns und die uns umgebende Welt führt. Die Einsicht in die eigene Unvollkommenheit kann kein unmittelbarer Effekt und Ausdruck systematischer Verblendung sein.107 Wir haben eine klare und deutliche Idee geistiger Vollkommenheit, und diese Idee kann nur von etwas tatsächlich geistig Vollkommenem herrühren. Die so gewonnene Gottes­ idee ist mithin ebenso immun gegen den skeptischen Zweifel wie das Cogito-Argument; der skeptische Vorbehalt kann sie ebenso wenig einklammern. Das ist das durchaus überrraschende Resultat der dritten Meditation. (3) Daher ist die Rechtfertigung der Wahrheit klarer und deutlicher Gedanken unter Rekurs auf das theistische Argument nicht zirkulär. Denn so lassen sich Gedanken als wahrheitsfähig rechtfertigen, die von etwas anderem als von je mir und von Gott handeln. Diese beiden Ideen gehören eng zusammen, als Voraussetzung für Denkakte und als deren transzendentes Maß. Nur als solches wird Gott in der dritten Meditation thematisch. Descartes hat sein theistisches Argument noch nicht ins Ziel gebracht. Doch immerhin kann nun ein grundlegender Zweifel der ersten Meditation entkräftet werden: Endliche Vernunftwesen sind der Erkenntnis und des Wissens fähig; daran hindern sie weder eine stiefmütterliche Natur noch ein mächtiger und böser Geist. Dass endliches Denken fallibel ist, heißt nicht, dass ein Verharren in Skepsis und prinzipieller epoche erforderlich wäre.108 Denn der Irrtum ist ein Ergebnis ungünstiger Umstände oder eigenen kognitiven Fehl106   Der böse Geist könnte womöglich bewirken, dass mir etwas Böses als gut erscheint. Aber er kann weder die Idee des Guten noch die Idee eines schlechthin Guten verursachen, da keins von beiden im Bereich des ihm formal Möglichen läge. 107   Die Einsicht in unsere Unvollkommenheit ist eine klare und deutliche Erkenntnis. Sie kann kein Resultat übergroßer Bescheidenheit sein. Eine allzu bescheidene Person traut sich weniger zu, als sie tatsächlich leisten kann. Dabei handelt es sich aber nicht um klare und deutliche Erkenntnis. 108   Vielen Theologen gilt die Fallibilität menschlichen Denkens als eine Folge des Sündenfalls. Vgl. etwa Thomas von Aquin, STh I, q.  34 a.  3. Diese These muss uns hier nicht beschäf-

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verhaltens und damit etwas Kontingentes und nicht etwa notwendig, unvermeidlich und unüberwindlich, wie die erste Meditation zunächst nahelegt. Die vierte Meditation ist der näheren Untersuchung des Irrtums und der Erörterung einer möglichen Strategie zur Vermeidung oder Minimierung von Irrtümern gewidmet. Dabei vertieft Descartes die zuvor schon begonnene Analyse von Ideen, Urteilen und Volitionen, indem er herausarbeitet, dass ein Urteil nicht lediglich eine Verknüpfung von Ideen bzw. Begriffen darstellt – das geschieht auch in einer Erwägung oder Frage –, sondern darüber hinaus einen Akt der Bejahung, Zustimmung oder Selbstfestlegung (assensus) einschließt. Erst dadurch ist das Urteil eine Einsicht oder ein Irrtum. Die Bejahung oder Zustimmung aber ist ein Akt des Willens.109 Es ist also nicht nur so, dass der Intellekt an Willensakten beteiligt ist, indem er bestimmt, was der Fall und was gut oder schlecht, richtig oder falsch ist. Umgekehrt ist auch der Wille an Akten des Intellekts bzw. der theoretischen Vernunft beteiligt, indem er einen Denkakt zur Vollendung im Urteil führt. Nun kann dieser Akt insofern übereilt erfolgen, als der Wille manchmal eine Ideenverknüpfung auch dann bejaht oder verneint, wenn der Intellekt die Berechtigung der fraglichen Verknüpfung oder ihrer Negation nicht oder nicht hinreichend deutlich einsieht. Die Ursache dafür kann etwa in der Ungeduld des Denkenden oder auch in einer gewissen Voreingenommenheit zu Gunsten der so angenommenen Meinung zu finden sein; ihren letzten Grund hat die Möglichkeit des übereilten Urteils im potentiell ins Unendliche strebenden Erkenntniswillen des Menschen.110 Ein solcherart nicht von Einsicht geleitetes Urtigen. Wilson vermag ganz grundsätzlich keine gute Pointe in Descartes’ theologischer Widerlegung des Skeptizismus zu sehen; vgl. Wilson 1978, S.  135. 109   Vgl. zur assensus-Lehre auch Kenny 1998, S.  133 f. Sie wird bei Augustinus entwickelt und ist spätestens seit Thomas von Aquin fester Bestandteil der scholastischen Erkenntnistheorie. Ihr zu Grunde liegt die oben schon angeführte einfache Einteilung des menschlichen Geistes in intellectus, memoria und voluntas, auf die auch Descartes in den Meditationen zurückgreift. Diese Einteilung lässt sich aber ohne Schwierigkeit auf die von Aristoteles übernommene komplexere Einteilung des menschlichen Geistes bei Thomas abbilden, die sich auch bei Kant wiederfindet. Hier wird nämlich nicht allein zusätzlich zwischen intellectus und ratio unterschieden, sondern auch noch zwischen einem intellectus speculativus und einem intellectus practicus, dessen Leistungen mit denen der augustinischen voluntas aber weitgehend zusammenfallen. Der assensus wird dabei zwar als Akt des spekulativen Intellekts gedeutet, der einen Denkakt zum theoretischen Urteil vollendet, während der consensus des praktischen Intellekts Denkakte zu praktischen Urteilen über das zu Tuende vollendet. Vgl. Sth I–II, q.  15 a.  1 ad 3. Dennoch sind alle augustinisch-cartesischen Thesen über das Verhältnis von intellectus und voluntas äquivalent in dieser Terminologie formulierbar, einschließlich der cartesischen Thesen zur Neigung des menschlichen Geistes zum voreiligen Urteil ohne subjektiv zureichenden Grund. Die Behauptung Fredes und anderer, dass es im Aristotelismus kein Konzept des (freien) Willens gebe, ist daher grundlos. Vgl. Frede 2010, S.  35 f. Wenn Frede schreibt, dass sich diese Einsicht gegen Kennys Aristoteles-Interpretation durchgesetzt habe (S.  54), dann ist das kein Kompliment für die Aristoteles-Forschung. 110   Aus Descartes’ These, dass der Wille in sich unbegrenzt und potentiell unendlich ist, wenn er sich nicht an den Intellekt bindet, versucht Engfer einen Einwand gegen das theisti-

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teil kann aber aus Descartes’ Sicht nur als unfrei bzw. als nur in einem geringen Grad frei bezeichnet werden, weil das Urteilsvermögen hier nicht in rechter Weise geordnet ist, sondern sich einer fremden Ordnung unterwirft, nämlich dem Diktat der Affekte.111 Es ist leicht zu sehen, dass diese Theorie des Irrtums im Bereich theoretischer Urteile ein Pendant im Feld praktischer Urteile und darauf gegründeter Handlungen hat. Allerdings ist das Urteilen und Handeln auf Grund übereilter praktischer Urteile aus Descartes’ Sicht in solchen Fällen verzeihlich, in denen Handlungsdruck auch dann zum praktischen Urteilen nötigt, wenn sich noch nicht sicher beurteilen lässt, was zu tun gut und klug wäre.112 Für theoretische Urteile kann ein solcher Handlungs- und Urteilsdruck nicht bestehen, der eine solche Abweichung von dem Prinzip, nur klar und deutlich Durchschautes auch zu beurteilen, rechtfertigen würde. Wer dennoch davon abweicht, irrt sich formaliter, d. h. der Form seiner Denkbewegung nach, und zwar auch dann, wenn er materialiter etwas Wahres denkt oder behauptet. Die Wahrheit seines Gedankens ist in diesem Fall rein zufällig und kann ihm nicht als Einsicht zugerechnet werden, da es sich um eine bloße Meinung handelt, die er selbst nicht also solche durchschaut, sondern für Wissen hält.113 Wie man sieht, ist das keine Kritik des bloßen Meinens, sondern der Versuch, die seit Sokrates und Platon virulente Frage nach der Differenz von Meinen und Wissen einer Antwort zuzuführen. sche Argument der dritten Meditation zu gewinnen; vgl. Engfer 1984. Denn hier gestehe Des­ cartes dem denkenden Subjekt etwas zu, was er ihm zuvor verweigert habe, nämlich ein unendliches Vermögen, wenn auch bloß ein potentiell unendliches. Folglich könne die Quelle der Unendlichkeitsidee doch auch im Menschen liegen. Der Einwand übersieht aber die oben in III erläuterte Differenz zwischen quantitativer Unendlichkeit (Unbegrenztheit) und qualitativer Unendlichkeit (Vollkommenheit), auf die sich Descartes mit Anselm stützt. Erstere kommt nach Descartes dem menschlichen Willen vor allem hinsichtlich seines Erkenntnisstrebens zu, letztere Gott. 111  Vgl. Med. IV, S.  48. 112  Vgl. Discours, Kap.  3. Auf diesen Unterschied beruft er sich auch in seiner Antwort auf Mersenne, vgl. Med., S.  135. 113  Vgl. Med. IV, S.  50, als Präzisierung der oben angeführten These, dass Irrtümer falsche Urteile sind. Mersenne bringt gegen Descartes bereits den Einwand Pascals und William James‘ vor, dass wir bei so dunklen und schwer zu durchschauenden Zusammenhängen wie Fragen der Theologie sehr wohl unter Zeitdruck stünden, da unser Seelenheil davon abhänge, dass wir uns diesbezüglich zu einem Urteil durchrängen. Hier müsse daher jedes Urteil spekulativ übereilt erscheinen. Daher scheine jeder Akt der Bekehrung auf einer Sünde auf Seiten des Bekehrten zu beruhen, da er bekenne, was er doch nicht mit zureichenden Gründen einsehe. Dennoch sei eben eine solche Sünde eben das, was wir tun sollten, um die ewige Seligkeit zu erlangen. Vgl. Zweite Einwände, Med., S.  114 f. Descartes weist den Einwand zurück, indem er die Prämisse bestreitet, dass theologische Fragen dunkel und verworren seien und von uns nicht zumindest in den Grundzügen klar und deutlich erfasst werden könnten. Denn Gott sei uns zwar wegen seiner Unermesslichkeit materialiter dunkel, aber eben dieser Gedanke der Unermesslichkeit Gottes könne formaliter ebenso klar und deutlich denkend erfasst werden wie die Existenz Gottes. Vgl. Med., S.  133 f. Williams hält diese Auskunft für inkohärent; vgl. Williams 1981, S.  115.

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Im Kontrast zu solchen unfreien, nämlich übereilten, vorurteilsbestimmten oder anderweitig beeinflussten Urteilen sind solche Urteile, die einen assensus, eine Zustimmung oder Anerkennung seitens des Willens zu einem vom Intellekt klar und deutlich erfassten Sachverhalt ausdrücken, Akte geistiger Freiheit. Das mutet nur auf den ersten Blick paradox an, nämlich insofern, als sich der Wille hier gerade der Ordnung des Intellekts unterwirft und auf die freie Zustimmung oder Ablehnung zu verzichten scheint. Aber der Wille ist selbst ein geistiges Vermögen, und indem er sich in spekulativen Fragen von dem leiten lässt, was der Intellekt einsieht, aktualisiert er die Ordnung des Geistes im Denkenden. Damit ist der Geist als ganzer gleich im doppelten Sinn frei: negativ, nämlich frei von heteronomen, dem Denkprozess selbst externen Einflüssen, z. B. vorgefassten Zu- oder Abneigungen, und positiv, nämlich frei für die Erreichung des eigentlichen telos des spekulativen Denkens, die Erkenntnis der Wahrheit.114 Hier hat die Rede von Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit einen ganz präzisen Sinn. Indem je ich denkend die spekulative Notwendigkeit einsehe, einen Gedanken als richtig zu affirmieren, erfahre ich die Freiheit meines Geistes für die Wahrheit. Auflehnung gegen diese Art von Notwendigkeit wäre gerade ein Ausdruck je meiner Unfreiheit, einer Privation oder Korruption der Ordnung meiner Vernunft.115 So zeigt sich, dass der methodische Zweifel seine Bedeutung auch nach dem theistischen Argument der dritten Meditation behält. Aber er ändert seinen Charakter und kann dies tun, da nun auch inhaltlich gehaltvolle, objektive Urteile dann nicht mehr unter skeptischem Vorbehalt stehen, wenn ihre Wahrheit klar und deutlich eingesehen werden kann. Wenn je ich klar und deutlich eins  Dieser emphatische Begriff geistiger Freiheit findet sein Gegenstück in einem Begriff der Willensfreiheit, der in höchster Vollendung die Freiheit, nicht zu sündigen, einschließt. Formuliert wird dieser Begriff etwa bei Anselm, De libertate arbitrii I. Analog dazu wird geistige Freiheit im Theoretischen in Hegels Wissenschaft der Logik als Freisein für die Wahrheit expliziert, nämlich in der Rede von der „Freiheit“ als „Identität des Begriffs“, (WdL 2, S.  15) die Hegel ganz wie Descartes mit der eigentlichen Freiheit des Ich gleichsetzt, aber auch bei Heidegger, der im Freiwerden des Daseins für seine eigenen Möglichkeiten, das eben nichts anderes ist als die Einsicht in diese Möglichkeiten, die notwendige Vorbedingung für die Neuartikulation der Seinsfrage in der Fundamentalontologie sieht. 115   Kenny spricht hier etwas irreführend von einer „liberty of perversion“ (Kenny 1998, S.  156). Insgesamt scheint mir Kennys Interpretation der cartesischen Urteilslehre nicht ganz kohärent. Er sieht in Descartes’ Denken eine Entwicklung, die von der ‚thomistischen‘ These ausgehe, dass Urteilen ein Akt des Intellekts und nicht des Willens sei, und sich dann immer mehr der ‚scotistischen‘ Lehre von der Urteilsfreiheit als libertas indifferentiae annähere, also der Position, dass man auch einen klar und deutlich als wahr erkannten Gedanken verwerfen könne, und verweist dabei zustimmend auf Alquié; vgl. ebd., S.  153 f. Andererseits zitiert er auch Descartes’ Auskunft, wonach Indifferenz der niederste Grad der Urteilsfreiheit sei und Einsicht der höchste, eine Position, von der Descartes niemals abrückt. Die Einsicht in notwendige Geltung erkennt Kenny aber nicht als Freiheit an, sondern als deren Fehlen (vgl. S.  149 et passim). Es scheint, als gingen in dieser Darstellung zwei ganz verschiedene Freiheitskonzeptionen beständig durcheinander, nämlich die eigentlich cartesische und die scotistische, die auch Kenny selbst vertritt. 114

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ehe, dass p, dann weiß ich, dass p. Darin bin je ich wie Gott. In unserem Wissen, dass p, stimmen wir überein, unbeschadet des Gedankens, dass Gott anders als ich womöglich nicht nur weiß, dass q und r etc., sondern auch über den Sachverhalt p mehr weiß als ich. Gottes Allwissenheit ist demnach das klare und deutliche Bewusstsein von allem, was der Fall ist oder sein kann. Indem je ich klar und deutlich einsehe, dass p, erwerbe ich ein Fragment des göttlichen Wissens. Daher können auch sonstige klare und deutliche Gedanken nicht durch Fremdeinwirkung verursacht oder manipuliert sein und folglich auch nicht falsch. Indem je ich sie vollziehe, bin ich selbst wie Gott, der sich aber – anders als ich – niemals irren kann. Der methodische Zweifel behält aber seine Bedeutung als skeptische Warnung, (a) das deutlich Erkannte nicht mit dem bloß Plausiblen oder komparativ mehr Einleuchtenden zu verwechseln116 – dass eine zum Zeitpunkt t1 verriegelte Tür zu t 3 offensteht, ist wahrscheinlich eher dadurch verursacht, dass jemand sie zu t2 geöffnet hat, als dass sich der Riegel von selbst gelöst hat, das ist aber nicht infallibel gewiss der Fall –, (b) die inferentielle Kraft des jeweils klar und deutlich Erkannten nicht zu überschätzen, weil das zu Fehlschlüssen und übereilten Urteilen führen kann. So zeigen die Überlegungen der ersten und zweiten Meditation zusammen die Verschiedenheit der Seele vom Leib. Leib und Seele haben ganz verschiedene Eigenschaften, und des geistigen Teils seiner seelischen Eigenschaften ist sich ihr Träger auf andere, weniger vermittelte Weise bewusst als des leiblichen. Daraus aber zu schließen, dass Leib und Seele distinkte Substanzen wären und der beseelte Körper nur ein Aggregat, wäre ein klares Non sequitur.117 In der fünften Meditation entwickelt Descartes nun aus dem Prinzip, dass klar und deutlich eingesehene Gedanken wahr sein müssen, einen zweiten „Beweisgrund für das Dasein Gottes“.118 Hier findet sich dann das eigentlich von Leibniz übernommene und von Kant angegriffene ontologische Argument, 116   Auf diesen wichtigen Unterschied macht später wieder Husserl mit der Unterscheidung von Evidenz im laxen und im strengen Sinn aufmerksam; vgl. LU II, VI 5, §  38. Alle Einwände gegen Evidenz als Wahrheitskriterium und damit gegen die cartesische Epistemologie beruhen nach Husserl auf Unkenntnis des strengen Evidenzbegriffs und auf seiner irrigen Gleichsetzung mit dem laxen. Den Hauptgrund für diese fehlgeleitete Kritik sieht er in der geistigen Vorherrschaft des Empirismus. Vgl. zum cartesischen Evidenzbegriff auch Williams 1981, S.  55. 117   Das wenden unabhängig voneinander und mit ganz unterschiedlichen Zielrichtungen Caterus (Med., S.  90), Mersenne (S.  110 f.), Arnauld (S.  181 f.) und Gassendi (S.  308 ff.) gegen den Substanzdualismus als Ergebnis der cartesischen Meditationen ein. In der Tat hält sich Descartes nachweislich nicht immer an die Regel, nicht mehr zu behaupten, als klar und deutlich eingesehen worden ist. Diese methodischen Inkonsequenzen durchziehen aber vor allem die sechste Meditation, nämlich im Hinblick auf die Realdistinktion von Leib und Seele sowie auf die Gleichsetzung der Seele mit dem Geist. In meiner rekonstruktiven Rede vom ‚geistigen Teil der Seele‘ habe ich diese voreilige Gleichsetzung korrigiert. 118  Vgl. Med. V, S.  55.

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dass Gott als schlechthin vollkommenem Wesen die Existenz nicht abgehen könne, da er ansonsten nicht vollkommen sei. Doch wozu überhaupt dieser zweite Beweisversuch, wo doch die Existenz Gottes schon mit der dritten Meditation erwiesen sein soll? In der Literatur verbreitet ist die Ansicht, dass Des­ cartes der argumentativen Kraft der dritten Meditation entweder nicht recht traue oder gar deren Unzulänglichkeit einsehe und so mit einem alternativen zweiten theistischen Argument die Schwächen des ersten zu beheben oder abzumildern versuche.119 Träfe diese Lesart zu, dann wäre es um den Gedankengang der Meditationen insgesamt nicht gut bestellt, da das ‚ontologische‘ Argument als solches wie schon gezeigt Kants Kritik nicht standhält. Es kann daher auch keine grundlegende Schwäche eines anderen theistischen Arguments beheben. Das würde bedeuten, dass Descartes das Denken in eine radikale Skepsis hinein-, aber nicht mehr aus ihr herauszuführen verstünde. Aber die genannte Lesart verfehlt den tatsächlichen Gedankengang Descartes’ ganz und gar. Denn auch wenn es die zitierte Formulierung in der fünften Meditation nicht so klar zum Ausdruck bringt: Dass Gott existiert, ist für Descartes mit der dritten Meditation gesichert und bedarf keines weiteren Arguments mehr. Die fünfte Meditation leistet etwas ganz anderes. Sie zeigt in Übereinstimmung mit der gesamten Metaphysik und Theologie der Scholastik, dass Gottes Existenz nicht von seinem Wesen zu trennen ist, dass Essenz und Existenz hier zusammenfallen, anders als bei allem sonstigen Seienden.120 Das bedeutet nicht einfach, dass Gott existiert, da dies schon gesichert ist. Es bedeutet vielmehr, dass Gott aus sich heraus notwendig existiert. Damit entspricht das ontologische Argument der fünften Meditation sehr genau dem zweiten Schritt von Anselms Argument gegen den atheistischen Toren. Das ‚ontologische‘ Argument ist mitnichten alternativ zum ‚kausalen‘ der dritten Meditation. Es setzt dieses vielmehr voraus, baut darauf auf und vertieft es. Deswegen entgeht Descartes Kants Kritik ebenso wie Anselm, und auf noch profundere Weise. Denn bei ihm beginnt das ontologische Argument nicht mit einer Setzung wie bei Johannes von Damaskus und Leibniz, sondern es beruht auf einem anderen Argument, welches Kant nicht angreift. Kants Kritik sticht daher auch gegen Descartes nicht.121 119   Vgl. Röd 2009, S.  69 ff. Everitt beschränkt seine Auseinandersetzung mit Descartes wie vor ihm u. a. schon Dieter Henrich von vornherein auf das theistische Argument der fünften Meditation; vgl. Everitt 2004, S.  37 ff. 120   Dass dies in gewisser Weise auch vom denkenden Subjekt selbst gilt, hat sich wie oben ausgeführt schon in der Debatte zwischen Anselm und Gaunilo gezeigt. In Termini der Untrennbarkeit von Essenz und Existenz, Sein und Wesen wird dieser metaphysische Gedanke auf je eigene Weise von Heidegger und Sartre wieder aufgegriffen. 121  Die These, dass die dritte und fünfte Meditation Stufen eines zusammenhängenden theistischen Arguments sind, wird u. a. von Kuno Fischer vertreten, und Martial Gueroult sagt in Übereinstimmung damit, dass die fünfte Meditation nicht das Dasein, sondern die Aseität und Unabhängigkeit Gottes beweise. Vgl. Gueroult 1953, Bd.  1, S.  372. Ähnlich urteilt

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In theologischer Hinsicht stellt die fünfte Meditation insofern eine gedankliche Vertiefung der dritten dar, als die dritte Meditation – und das ist ihre Stärke – die Existenz Gottes relativ zu der des denkenden Subjekts, des Meditierenden zeigt und damit vom endlichen Geist aus.122 Das ist für die Auseinandersetzung mit dem skeptischen und agnostischen Zweifel gerade entscheidend, da auf diese Weise der kognitive Zugang zum theologischen Denken gesichert wird. Aber die Notwendigkeit der Existenz Gottes, von der hier nur die Rede sein kann, ist nur bedingte Notwendigkeit. ‚Wenn je ich existiere, dann existiert notwendig auch Gott‘, das ist das Resultat der dritten Meditation. Mit der fünften Meditation emanzipiert sich der theistische Gedanke von der komplexen Argumentation der zweiten und dritten, indem hier gezeigt wird, dass Gott notwendig und damit unabhängig von der Gottesidee existiert, also auch unabhängig von der Existenz endlicher Träger der Gottesidee. Wenn das Wesen Gottes auf diese Weise auch nicht erkannt werden kann – es kann auf keine Weise klar und deutlich erkannt werden –, so fällt durch diese Überlegung zumindest mehr Licht auf die Seinsweise Gottes. Diese kann sich nicht darin erschöpfen, transzendenter Maßstab geistiger Vollkommenheit zu sein. Er muss vor allem für sich seiende, absolute Substanz sein. Damit wird hier ein wichtiges theologisches Desiderat erfüllt.123 Welche Folgerungen sich aus diesem Gedanken ergeben, ist nun genauer zu betrachten. Descartes erläutert den unauflöslichen Zusammenhang von Essenz und Existenz, Wesen und Dasein Gottes mit Hilfe zweier Analogien: Die Existenz sei von der Essenz Gottes ebenso wenig abtrennbar wie das Tal vom Berg oder die Winkelsumme von 180° vom Dreieck.124 Diese Analogie scheint Kants Kritik, dass Sein hier als Prädikat verstanden werde, geradezu zu erzwingen. Kant ist denn auch keineswegs der erste, der diesen Einwand vorbringt. Schon ­Hobbes fordert von Descartes, zwischen dem Sein im Sinne der Kopula und dem Sein im Sinne der Existenzaussage deutlicher zu unterscheiden.125 Descartes erwidert darauf lapidar: Alquié 1966, S.  219 ff. Beide Thesen entsprechen der hier entwickelten Lesart. Henrichs Desinteresse an dieser Frage bereitet der heute vorherrschenden Tendenz den Weg, die beiden Argumente als alternative Ansätze anzusehen. Vgl. Henrich 1960, S.  20 f. Scribano bespricht die Argumente der dritten und fünften Meditation, Henrich folgend, getrennt voneinander und stellt die Diskussion der fünften Meditation sogar derjenigen der dritten voran. Vgl. Scribano 1994, Kap.  II, III und V. Auch Perler geht von der wechselseitigen Unabhängigkeit der beiden Beweise aus. Vgl. Perler 2002, S.  188. Nur deswegen kann er Hobbes’, Gassendis und Kants logischen Einwand gegen das Argument der fünften Meditation für stichhaltig erklären; vgl. ebd., S.  197 ff. Vgl. ferner Marion 1984. 122   Bloch spricht in diesem Zusammenhang daher in Anlehnung an Kuno Fischer von einem „anthropologischen Gottesbeweis“, vgl. LVG, S.  34. 123   Vgl. zur Einheit von Essenz und Existenz in Gott auch Scribano 1994, Kap.  I, sowie Dalferth 2011, S.  79. 124  Vgl. Med. V, S.  55. 125  Vgl. Med., S.  174. Konrad Cramer charakterisiert Hobbes’ und Kants logischen Ein-

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„Der Unterschied von Wesenheit und Dasein ist allgemein bekannt […].“126

Schon diese Äußerung sollte jeden Interpreten stutzen lassen, der glaubt, Des­ cartes mit Kant einen elementaren logischen Fehler nachweisen zu können. Aber auch Gassendi wirft ihm vor, er setze in der Analogie „Dasein mit Eigenschaft“ gleich. Daher sei die Analogie fehlerhaft, denn aus der Winkelsumme des Dreiecks folge ebenso wenig die notwendige Existenz von Dreiecken, wie aus der Vollkommenheit Gottes dessen notwendige Existenz folge.127 Denn ansonsten müsse er auch beim Dreieck oder bei Berg und Tal deren jeweiliges Dasein zu ihren Vollkommenheiten rechnen. In gewisser Weise wiederholt Gassendi damit Gaunilos Einwand, wie man sieht: Wenn aus der Notwendigkeit, dass die Winkelsumme im Dreieck 180° beträgt oder dass Berg und Tal zusammen vorkommen, nicht die notwendige Existenz von Dreiecken, Bergen und Tälern folgt, dann auch nicht die Notwendigkeit der Existenz aus der Vollkommenheit Gottes. Descartes’ Antwort wirkt auf den ersten Blick etwas verwirrend, weil er nun darauf zu beharren scheint, dass die Existenz sehr wohl eine Eigenschaft Gottes sei, im Widerspruch zu seiner Erwiderung auf Hobbes.128 Doch ein genauerer Blick zeigt, dass er an dieser Stelle mit einem weiten Eigenschaftsbegriff operiert, wonach die Eigenschaften einer Sache alles umfassen, was man wahrheitsgemäß von dieser Sache aussagen kann. In diesem Sinne gehören dann Existenz und sogar Notwendigkeit zu den Eigenschaften, die man sehr wohl von Gott aussagen kann, ganz wie die Größe der Winkelsumme von 180° notwendig zu den Eigenschaften des Dreiecks und die Nachbarschaft eines Tals notwendig zu den Eigenschaften eines Berges gehören. Alle drei Zusammenhänge seien beweisbar, so Descartes, aber die Existenz Gottes sei viel leichter beweisbar als die Konstanz der Größe der Winkelsumme im Dreieck. Dessen ungeachtet werde hier gerade keine Wesensentsprechung Gottes mit der Natur von Dreiecken oder Bergen behauptet, auch wenn gelte, dass existierende Dreiecke oder Berge vollkommener seien als bloß gedachte oder mögliche. Zur Idee des Dreiecks gehöre die Existenz im Sinne einer möglichen Vollkommenheit, wie zur Idee Gottes die Existenz als notwendige Vollkommenheit gehöre, nämlich indem Gott sein eigenes Sein sei.129 Der Punkt der gesamten Analogie ist es also gerade, eine wesentliche Disanalogie zwischen Gott einerseits, Bergen und Dreiecken andererseits herauszuwand gegen das ontologische Argument als von destruktiver Allgemeinheit und führt aus, dass es notwendig in einen „apriorischen Skeptizismus“ führen müsse; vgl. Cramer 1996, S.  144. Seine Untersuchung beschränkt sich allerdings auf das theistische Argument der fünften Meditation und berücksichtigt das Argument der dritten Meditation nicht. 126   Ebd., S.  175. 127   Ebd., S.  296. 128   Vgl. ebd., S.  350. 129   Vgl. ebd., S.  351, sowie Alquié 1966, S.  225 f.

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stellen. Denn während das Wesen endlicher Gegenstände, ganz gleich ob es sich um natürliche Gegenstände wie Berge oder um entia rationis wie Dreiecke handelt, lediglich gewisse Propria enthält, unter denen sich Quantitäten, Qualitäten und sogar Relationen finden mögen, schließt das Wesen Gottes sogar dessen Dasein ein. Dasein bzw. Existenz kann aber bei keinem endlichen Seienden zu den Propria gehören. Damit enthüllt die Analogie auf ihre Weise die Besonderheit und Unvergleichlichkeit Gottes.130 Gott existiert so, dass seine Existenz sein mögliches Nichtsein ausschließt, d. h. notwendig, ewig und vollkommen unabhängig von der Existenz irgendeiner anderen Sache, einschließlich der desjenigen endlichen denkenden Wesens, welches sich meditierend seiner Existenz vergewissert. Wie um Kants Einwand gegen das ontologische Argument schon vorab auszuräumen, erörtert Descartes den relevanten Punkt in der fünften Meditation: „Auch darf man hier nicht sagen, ich müsse zwar Gottes Dasein notwendig setzen, wenn ich einmal gesetzt habe, dass er alle Vollkommenheiten besitze, – da das Dasein eine von diesen ist, – aber die erste Setzung sei nicht notwendig gewesen […].“131

Dies entspricht, wie man sieht, präzise Kants Einwand gegen das ontologische Argument. Der Einwand unterstellt, dass die Bestimmung Gottes als eines schlechthin vollkommenen Wesens eine Setzung sei, die man auch unterlassen könne. Descartes vergleicht sie mit der Annahme, dass man alle vierseitigen Figuren in einen Kreis einschreiben könne, nämlich so, dass die Eckpunkte jeweils auf dem Kreisumfang lägen. Aus dieser Annahme folgt, dass das auch für Rhomben möglich sei, was offenkundig falsch ist. Damit offenbart sich, dass die erste Annahme willkürlich ist. Aber mit dem Gedanken der Vollkommenheit Gottes verhält es sich ganz anders. Dabei kann es sich nicht um eine willkürliche Annahme handeln. Denn die dritte Meditation hat bereits gezeigt, dass ein vollkommenes Wesen existiert, dass also gerade umgekehrt die Annahme seiner Nichtexistenz falsch wäre. Die Überlegung der fünften Meditation bekräftigt nun, dass die Notwendigkeit dieses Gedankens nicht die einer bloß subjektiven Denknotwendigkeit ist, bei der „mein Denken den Dingen [als solchen; H.T.] keine Notwendigkeit“ auferlegt. Vielmehr entstammt die Denknotwendigkeit umgekehrt „der Notwendigkeit der Sache selbst“.132 Deswegen steht es dem Geist nicht frei, das Gegenteil zu denken und anzunehmen, dass es Gott nicht

130   Allerdings lehrt Descartes auch, dass Dreiecke ihrerseits ewig und notwendig existieren, anders als Berge, deren Existenz kontingent sei. Dennoch sei der Existenzmodus des Dreiecks der eines abhängig Seienden, im Unterschied zum Seinsmodus Gottes. Das Autorenkollektiv aus Mathematikern und Theologen, welches die sechsten Einwände verfasst hat, hält diesen Punkt zu Recht für klärungsbedürftig. Vgl. Med., S.  361 f., sowie zur Frage nach der Schöpfung ewiger Wahrheiten Marion 1981. 131   Med. V, S.  56. 132  Ebd.

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gibt, wenn er den Gottesgedanken nur klar und deutlich fasst. Täte er dies, verriete er eben damit seine Unfreiheit. Descartes drückt den Gedanken der ontologisch notwendigen Existenz Gottes auch so aus, dass er Gott als aus sich heraus (a se) existierend bzw. als Ursache seiner selbst (causa sui) bezeichnet.133 Caterus kritisiert diesen Gedanken als doppeldeutig, da er eine positive und eine negative Lesart zulasse. Im positiven Sinn aus sich existiere ein Wesen, welches den Grund seines Seins in sich selbst trage. Im negativen Sinn aus sich existiere dagegen schon ein Wesen, welches den Grund seines Seins nicht in einem anderen habe. Auch diese Deutung lässt zwei Lesarten zu, nämlich dass es einen solchen externen Seinsgrund nicht gibt oder dass der Urteilende einen solchen Grund nicht erkennen kann. Er legt Descartes dann nahe, sich auf die negative Lesart zurückzuziehen, und zwar vorsichtshalber in der zweiten, erkenntnistheoretischen Deutung, da die von Descartes selbst zugestandene Unermesslichkeit Gottes eine stärkere These nicht zulasse.134 Arnauld verschärft diesen Einwand, indem er ihn ontologisch wendet: Nichts könne Ursache seiner selbst sein, da Ursache und Wirkung notwendig verschiedene Entitäten sein müssten, und zwar weil die Kausalbeziehung eine Relation sei; „ein Verhältnis gibt es aber nur zwischen zwei Dingen“.135 Daneben nennt er noch einen theologischen Grund dafür, dass insbesondere Gott nicht Ursache seiner selbst sein könne, und zwar weil Kausalität ein zeitliches Verhältnis sei. Aber Gott, so führt er unter Verweis auf Augustinus aus, sei ewig und überzeitlich und daher auch nicht kausal affizierbar, auch nicht durch sich selbst.136 Gegen Caterus beharrt Descartes darauf, dass das Sein aus sich im positiven Sinn verstanden werden müsse, da man gerade aus der Unermesslichkeit Gottes heraus deutlich einsehen könne, dass Gott das schlechthin Unabhängige sei.137 133   Der Terminus causa sui findet sich allerdings erst in der Erwiderung auf Caterus, Med., S.  98. Vgl. mit der hier entwickelten Interpretation die Jean-Luc Marion folgende Deutung in Scribano 1994, Kap.  III 1. 134  Vgl. Med., S.  84 f. 135  Ebd., S.  190. Relationalität ist keine Besonderheit des modernen Kausalbegriffs, wie Hennig meint; vgl. Hennig 2010. Auch der aristotelische Kausalitätsbegriff ist relational. Deswegen beharrt Aristoteles darauf, dass auch im Fall der Stoff- und der Formursache die Ursache von der Wirkung begrifflich verschieden sind, unbeschadet der Tatsache, dass es sich um Aspekte einer einheitlichen wirklichen Substanz handelt. Im Sinn der begrifflichen oder formalen Distinktion ist auch Arnaulds Einwand zu verstehen. Richtig an Hennigs These ist allerdings, dass man Relationen wie die der Kausalität nicht fregeanisch deuten kann, a fortiori nicht als geordnetes Paar von Ereignissen wie bei Davidson. 136   Vgl. ebd., S.  192. 137   Vgl. ebd., S.  99 f. Dieser Gedanke ist verträglich mit der thomistischen These, dass jede nur erdenkliche Definition Gottes nominal bleiben muss, und zwar wegen der Unergründlichkeit Gottes. In diesem Sinne muss man auch alle cartesischen Bestimmungen Gottes als (Teile von) Nominaldefinitionen sehen. Marion hält diesen Gedanken für eine zentrale Inkohärenz der cartesischen Theologie, ohne allerdings zu erwähnen, dass diese Kritik sich notwendig auch gegen die scholastische Theologie richtet.

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Arnauld gegenüber gesteht er zu, dass die kausale Redeweise Missverständnisse wie das von diesem gerügte erzeugen könnte, insistiert aber auf der theologischen Nützlichkeit einer analogisch erweiterten kausalen Terminologie. Denn eine analog zur Naturkausalität verstandene Unterscheidung zwischen Dingen, die ihr Sein von etwas anderem hätten, und dem einen Seienden, das sein Sein von sich hat, könne helfen, die fundamentale ontologische Differenz zwischen unendlichem und endlichem Seienden deutlich zu machen. Die von Caterus vorgeschlagene negative Deutung sei dafür zu schwach, da sie den Unterschied zwischen Seiendem, das aus sich ist, und Seiendem, dessen Seinsgrund wir nicht in einem anderen finden können, verwische.138 Wie man sieht, verwendet Des­ cartes die Rede von Gott als causa sui im Sinne einer speziellen Analogie und damit nicht so offenkundig paradox wie Spinoza in seiner Ethik. Sie erscheint ihm erforderlich, um die innere Seinsnotwendigkeit Gottes, den Zusammenfall von Sein und Wesen im reinen Seinsakt prägnant auszudrücken. Aus dem Gedanken, dass Gott actus purus, reine Wirklichkeit ist, gewinnt Descartes nicht allein die innere Notwendigkeit und Ewigkeit der Existenz Gottes, sondern auch seine Einheit. Das ontologische Argument der fünften Meditation ist, anders als das theistische der dritten, ein Argument für einen dezidierten Monotheismus.139 Denn das Argument, dass es ein schlechthin vollkommenes Wesen geben muss, ist womöglich kompatibel mit einem Polytheismus, der von einer Vielheit gleichermaßen vollkommener Gottheiten ausgeht.140 Erst der Gedanke eines aktual vollkommenen, notwendigen und ewigen Gottes, den die fünfte Meditation zu denken erlaubt, enthält den Monotheismus, da dieser Gedanke unverträglich mit der Vorstellung mehrerer sich gegenseitig begrenzender Götter ist. Damit ist obendrein die Vorstellung einer Sukzession verschiedener Götter ausgeschlossen, die in ihrer Epoche Macht haben, diese aber wie ein sterbender Monarch an einen jeweils nachfolgenden Gott abtreten, und damit auch der Sabellianismus.141 Für die Grundlegung der Philosophie und Wissenschaft und damit für das Ziel der Meditationen haben die beiden theistischen Argumente, die man besser als zwei Stufen eines zusammenhängenden, aber komplexen Arguments für die   Vgl. ebd., S.  213–220.  Vgl. Med. V, S.  57. 140   So argumentiert schon William von Ockham in den Quodlibeta, vgl. Quodlibet I, q.  1, S.  2. Anselms Kennzeichnung Gottes ist nach Ockham logisch vereinbar mit einer Pluralität von Göttern, da seine Konklusion lediglich zeige, dass es nichts Größeres und Besseres gebe als einen Gott. Das lasse offen, ob es genauso große und gute Entitäten gibt oder nicht. Allerdings könnte Anselm dem entgegenhalten, dass sich etwas Größeres denken lasse als eine Vielheit mächtiger Götter, nämlich ein einziger Gott, dessen Macht nicht durch die Macht anderer Götter eingeschränkt werde. 141   Allerdings behauptet der Sabellianismus die Identität von Vater, Sohn und Geist, die sich historisch auseinander entwickeln. Er kann aber nicht ausschließen, dass diese Identität bloß begrifflich ist, d. h. sich darin erschöpft, dass Vater, Sohn und Geist jeweils Gott sind. 138 139

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notwendige und ewige Existenz eines einzigen, schlechthin vollkommenen Geistwesens ansehen sollte, zuerst und vor allem negative Bedeutung. Descartes’ Theismus entzieht dem radikalen Zweifel an der Möglichkeit von Welterkenntnis den Boden. Er macht damit den Weg frei für eine methodisch kontrollierte empirische Erforschung der Wirklichkeit, wobei der skeptische Zweifel seine methodische Bedeutung als Warnung vor übereilten Urteilen behält. Die Forderung, dass Philosophie und Wissenschaft sich um klare und deutliche Gedanken bemühen sollten, darf übrigens nicht mit der Forderung nach einer Mathematisierung aller Wissenschaften verwechselt werden. Letzteres fordert Descartes in den Meditationen nicht.142 Er legt im Gegenteil großen Wert darauf zu betonen, dass die Mathematik Beispiele für klare und deutliche Gedanken liefern kann. Für eine Wissenschaft der Natur ist sie in dem Maße einschlägig, wie die Natur quantitativ verfasst und beschreibbar ist, und nicht darüber hinaus.143 Für eine Wissenschaft des Geistigen ist sie methodisch belanglos. Ferner erbringen Descartes’ Überlegungen eine metaphysische Zweiteilung des Seienden in Geister (res cogitantes) und Körper (res extensae). Denn zumindest Gott ist reiner Geist. Damit ergibt sich unabhängig von der Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele beim Menschen eine dualistische Ontologie und eine Absage an jeden materialistischen Monismus. Denn der Satz, dass alles Seiende materiell verfasst ist, ist mit dem theistischen Argument der dritten und fünften Meditation unvereinbar. Darüber hinaus aber hat die theistische Argumentation aus Descartes’ Sicht keine positive Bedeutung für die wissenschaftliche Forschung. Insbesondere können wissenschaftliche Aussagen nicht aus theologischen Sätzen deduziert werden, da gerade die Einsicht in die Unendlichkeit und Unermesslichkeit Gottes jeden Versuch einer solchen Deduktion als methodisch nicht zu rechtfertigende Übereilung erscheinen lassen muss.144 Descartes begreift die Natur sehr wohl als Gottes Werk, aber der endliche Verstand des Menschen sollte sich hüten, die Eigenschaften dieses Werks allzu unmittelbar aus Gedanken oder Absichten Gottes herzuleiten. Dessen ungeachtet bleibt die Prüfung der 142  Die Regulae, das unveröffentlichte Frühwerk Descartes’, versucht Marion als systematischen, methodisch geordneten Bruch mit der aristotelischen Wissenschaftsidee zu rekonstruieren, an deren Stelle eine durchmathematisierte neue Wissenschaft treten solle. Vgl. Marion 1975. Allerdings werden dabei die durchaus bestehenden Kontinuitäten etwas vernachlässigt oder heruntergespielt. Dagegen spricht Alan Gewirth m. E. zutreffend von der durchgehenden „non-formal orientation of Descartes’ method“; vgl. Gewirth 1998, S.  90. 143   Viele Interpreten verkennen den projektartigen und experimentellen Charakter der cartesischen mathematisierten Physik und verwechseln ihn mit einem reduktionistischen Naturverständnis. So auch Bloch; vgl. SO, S.  62. Würdigung und Kritik dieser mit der Scholastik brechenden Physik finden sich bei Schelling, GNP, S.  10. Vgl. dagegen Marion 1975, §  11. 144   Aus cartesischer Sicht sagt die Hypothese der intelligenten Planung der Natur durch den Schöpfer bestenfalls nichts Bestimmtes aus. Ansonsten handelte es sich um schlechte Theologie, ja um Häresie, da auf diese Weise zu klein vom Schöpfer gedacht würde.

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Kohärenz theologischer und naturwissenschaftlicher Aussagen eine immer wieder neu zu lösende Aufgabe.145 Daher zeugt eine polemische Bemerkung wie die Blochs, der Gedankengang der Meditationen sei „ein sehr sonderbarer Umweg über den Himmel zu unserer Erde zurück“,146 von einem oberflächlichen Verständnis dessen, was in dieser Schrift geschieht. Denn das theistische Argument hat eben keine inhaltliche Bedeutung für die empirischen Wissenschaften, außer dass es sie frei macht, ihre Erkenntnisziele autonom zu verfolgen. Empirische Naturforschung und theologisch-spekulative Gotteserkenntnis gehören zwei ganz verschiedenen Denkebenen und Denkausrichtungen an. Die Naturforschung wird in der intentio recta des objekt- und weltbezogenen Denkens durchgeführt. Die theologische Spekulation wird bei Descartes dagegen wie schon bei Augustinus und Anselm im reflexiven Modus betrieben, den die intentio obliqua des menschlichen Weltbezugs ermöglicht, also gerade in Absehung vom objektiven Gehalt weltbezogenen Denkens und Erfahrens. Die Ergebnisse beider Denkprojekte dürfen sich zwar nicht widersprechen. Aber die Begründungsleistung der Reflexion für die Empirie ist ganz indirekt und negativ-befreiend, nicht positiv, und weder leitend noch beschränkend. Diese Beobachtung wird auch für die vergleichende Konfrontation der anselmisch-cartesischen Gotteserkenntnis mit der aristotelisch-thomistischen von zentraler Bedeutung sein. Doch zuvor soll noch einmal der zwar stringente, aber komplexe Gedankengang von der ersten zur fünften Meditation durch eine Zusammenstellung der wichtigsten Ergebnisse kurz und übersichtlich resümiert werden. Ich zweifle an der Wahrheit vieler meiner Überzeugungen. Ich denke. Ich existiere als ein denkendes Wesen. Ich bin eine denkende Substanz. Ich erkenne, dass ich unvollkommen bin. Ich habe eine Idee von geistiger Vollkommenheit. Jede Idee hat eine Ursache. Die Idee geistiger Vollkommenheit kann nur von einem vollkommenen geistigen Wesen verursacht sein. (9) Die Idee geistiger Vollkommenheit kann nur von Gott verursacht worden sein. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)

145   Dennoch behauptet Descartes wiederholt, dass der Atheist kein echtes, selbstbewusstes Wissen haben kann, welches über das Wissen von der eigenen Existenz hinausginge. Das Gegenteil behauptet Kemmerling, Bezweifelbarkeit, 1996, S.  122. Beyssade sieht zumindest eine große Spannung zwischen der These von der Unfassbarkeit und Unerschöpflichkeit einerseits und der Begründungslast, die der Gottesgedanke bei Descartes trägt, andererseits. Er glaubt, dass diese Spannung nur im Rahmen einer negativen Theologie aufgelöst werden kann. Vgl. Beyssade 1992, S.  174 und 194 f. 146   LVG, S.  40.

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IV.  Selbstbewusstsein und Gotteserkenntnis

(10) Gott existiert. (11) Über das, was ich klar und deutlich als wahr oder falsch einsehe, kann ich mich nicht irren. (12) Ich kann einige meiner Überzeugungen als wahr auszeichnen, wenn ich ihren Gehalt klar und deutlich erfasse. (13) Der Gedanke, dass Gott aus sich heraus und damit notwendig existiert, ist klar und deutlich. (14) Gott existiert aus sich heraus und damit notwendig. Die Thesen (1) bis (4) ergeben sich aus der ersten und zweiten Meditation, (5) bis (10) aus der dritten. (11) und (12) fassen den Gehalt der vierten Meditation zusammen, (13) und (14) die wichtigsten theologischen Resultate der fünften Meditation. (2) bis (6) haben sich als gestufte Präsuppositionen von (1) ergeben, die durch den Vollzug dieses einen Gedankenakts performativ als wahr erwiesen werden. (7) bis (10) lassen sich aus (5) und (6) folgern, wenn man das Prinzip akzeptiert, dass es zwischen dem Gehalt und dem Bezugsgegenstand von Ideen zwar nicht notwendig eine Korrespondenz gibt, wohl aber ein gewisses Entsprechungsverhältnis geben muss: Der tatsächliche ontologische Status des Bezugsgegenstandes, seine formale Realität, muss dem gedachten ontologischen Status der darauf bezogenen, klar und deutlich erfassten Idee, ihrer objektiven Realität, kategorial mindestens entsprechen. Ersterer kann nicht kategorial unter letzterem stehen, weil andernfalls keine Idee entstehen kann. Dieses Prinzip ist wie gesehen mit dem skeptischen Zweifel vereinbar und daher gegen diesen immun. Nun ist die Idee Gottes eine Idee von unübertrefflicher objektiver Realität. Also kann nur ein Gegenstand von unübertrefflicher formaler Realität die Ursache dieser Idee sein. Also folgt (10). (11) bis (14) ergeben sich aus der Idee der Allmacht und Güte Gottes, die wiederum aus seiner geistigen Vollkommenheit folgen. Indem so die Möglichkeit von Wissen gegen die Falliblität endlichen Denkens gesichert wird, wird es auch möglich, Wissen über die das menschliche Denkvermögen übersteigende Einheit von Sein und Wesen Gottes und damit über seine Aseität und notwendige Existenz auszuzeichnen und die Möglichkeit von Wissenschaft gegen die radikale Skepsis mit Gewissheit zu behaupten. Als spekulativer Kern des gesamten Arguments erweist sich dabei der Gedanke, dass die volle Einsicht in die je eigene Existenz als geistiges Wesen zur Erkenntnis der Existenz Gottes führt. So kann man ausgehend von der Affirmation der eigenen Existenz mit Gewissheit darauf schließen, dass Gott existiert. Dieser Gedanke ist schon bei Anselm angelegt; Descartes macht ihn explizit.

V.  Naturerkenntnis und spekulative Theologie 1.  Kritik des theologischen Apriorismus Es hat sich gezeigt, dass weder Anselm noch Descartes rein a priori bzw. aus bloßen Begriffen vom Wesen Gottes auf dessen Existenz schließen, wie es der von Kant so genannte ontologische Gottesbeweis tut. Anselm begnügt sich mit dem dialektischen Aufweis der Inkohärenz des Atheismus und setzt dem eine in sich kohärente Theologie entgegen, in der die Existenz Gottes als notwendiger Gedanke exponiert wird. Descartes geht explizit von einem unbestreitbaren Faktum aus, nämlich der je eigenen Existenz des Denkenden.1 Dennoch kritisiert die aristotelisch-thomistische Philosophie die Faktenbasis bei Anselm und Descartes als zu dünn, um darauf eine Theologie zu gründen. Thomas wirft Anselm Apriorismus vor, und eine analoge Kritik ließe sich von diesem Standpunkt aus auch gegen Descartes richten. Beide ziehen diesen Vorwurf insofern auf sich, als sie sich weder auf eine breite Erfahrungsbasis noch auf eine ausgearbeitete Ontologie stützen, ja aus methodischen Gründen auf beides verzichten müssen. Thomas kritisiert nun zunächst wie später Kant den ohne stützende zusätzliche Prämissen vorgetragenen ontologischen Gottesbeweisversuch nach Johannes von Damaskus, wie er sich dann auch bei Leibniz findet und der besagt, dass in Gott als schlechthin vollkommenem Seienden Wesen und Sein zusammenfielen, woraus folge, dass Gott notwendig existiert.2 Dieser Gedanke ist nach Johannes dem Menschen von Natur aus eingegeben, so dass er ihn auch ohne Denkanstrengung (sine inquisitionis studio) zu fassen vermöge.3 Mit Au1   Oppy rechnet deswegen Descartes’ erstes, kausal-ideentheoretisches Argument sogar zu den kosmologischen Argumenten für die Existenz Gottes; vgl. Oppy 2006, Kap.  3.3. In Übereinstimmung mit dieser etwas unüblichen Klassifikation steht, dass Kants Rekonstruktion des kosmologischen Arguments gewisse Ähnlichkeiten mit Descartes’ erstem Argument aufweist. Auch Scribano charakterisiert das Argument der dritten Meditation als Beweis a posteriori; vgl. Scribano 1994, Kap.  III. Hegel bezeichnet es allgemein als „das Mangelhafte“ solcher Schlüsse von einer kontingenten Tatsachenbasis auf die Existenz eines Notwendigen und Absoluten, dass hier Endliches als Grund des Unendlichen erscheine (PhR 2, S.  168). 2   De fide orth. I 4 f. Scribano hält Duns Scotus für die Quelle der frühneuzeitlichen Versuche eines ontologischen Gottesbeweises aus reinen Begriffen; vgl. Scribano 1994, Kap.  I. Eine bestimmte Variante des ontologischen Arguments findet sich allerdings auch bei Meister Eckhart. Vgl. dazu Schönberger 2012. 3   Ebd., I 1; vgl. SG I 10 und STh I, q.  2 a.  1. Johannes lehrt allerdings auch, dass Gottes

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V.  Naturerkenntnis und spekulative Theologie

gustinus könnte der strenge theologische Apriorist noch hinzufügen, dass Gott dasjenige ist, wodurch alle geistigen Zusammenhänge begriffen würden, wie durch das Licht der Sonne alles sichtbar werde, was überhaupt sichtbar sein könne. Das, wodurch alles erkannt werde, müsse aber zuerst schon erkannt und damit bekannt sein.4 Thomas hält die genannten Thesen zwar allesamt für richtig, glaubt aber, dass sie der Theologie dann eher schaden, wenn sie als Beweise für die Existenz Gottes dienen sollen. Mit Moses Maimonides hält er nämlich das ontologische Argument für zumindest zweischneidig, im Grunde aber für ein Argument, das eher theologische Skepsis, ja sogar einen radikalen theologischen Agnostizismus fördert als den Theismus. Dabei hat er noch gar nicht solche anthropologischen Umdeutungen vor Augen, wie sie Feuerbach entwickelt. Er sieht vielmehr ein einfaches, aber grundlegendes Problem. Jeder Monotheist werde nämlich zugestehen, dass das Wesen Gottes für den endlichen Geist des Menschen unermesslich und definitorisch nicht fassbar sei. Das Wesen Gottes an sich ist für uns folglich unzugänglich und unerkennbar. Somit lässt sich aus dem ontologischen Argument im modus tollens schließen, dass auch die Existenz Gottes für uns unerkennbar sein muss.5 Thomas warnt vor einem deduktivistischen Missverständnis des augustinischen Gedankens, dass Gott erster Grund aller Erkenntnis sei. Das heiße nämlich nicht, dass man ohne Gotteserkenntnis gar nichts erkennen könne, sondern dass „durch seinen [Gottes; H.T.] Einfluss jede Erkenntnis in uns verursacht“ werde. 6 Das Gegenteil anzunehmen wäre absurd, denn es hieße, dass jemand, der nicht wüsste, dass Gott existiert, schlechthin und in jeder Beziehung unwissend wäre. Nun ist aber, so Thomas, Naturerkenntnis ohne theologische Erkenntnis möglich, ebenso mathematische Erkenntnis, die Erkenntnis des Gerechten und Ungerechten, etc. All diese Erkenntnisfelder mitsamt den darauf gerichteten Wissenschaften sind autonom mit Blick auf die Theologie. Also ist Gott nicht der Erkenntnisgrund aller Wissenschaften, sondern vielmehr der ontologische Ermöglichungsgrund dafür, dass es autonome Erkenntnis und Wissenschaft gibt. Wir sind erkenntnis- und wissenschaftsfähige Wesen, weil Gott uns so geschaffen und zum Forschen und Wissen bestimmt hat. Aus dem Faktum des Wissens darf man aber nicht zu unmittelbar auf die Existenz Gottes zurück schließen. Wie gesehen tun das weder Anselm noch Descartes. Wie sich die Autonomie der Wissenschaften von der Theologie im Licht ihres theistischen Arguments darstellt, wird aber trotzWesen für uns endliche Kreaturen nach dem Sündenfall unfassbar sei. Ferner trägt er auch ein aposteriorisches Argument für die Existenz Gottes als erster Ursache alles Kontingenten und Vergänglichen vor. Vgl. De fide orth. II ff. 4   Vgl. Augustinus, Soliloquia I 1, 3; SG I 10. 5   SG I 12. Auch bei Johannes finden sich wie gesehen beide Gedanken, aber er bringt sie nicht in die von Thomas festgestellte logische Ordnung. 6   „[…] per eius influentiam omnis causatur in nobis cognitio.“ (SG I 12)

1.  Kritik des theologischen Apriorismus

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dem noch zu diskutieren sein. Scheint es doch, als vertrete zumindest Descartes eben die These, welche Thomas für absurd hält: dass gar nichts über die Gegen‑ stände der Wissenschaften weiß, wer nicht weiß, dass Gott existiert. In der Summa Theologiae scheint Thomas auf den ersten Blick die Autonomie der nichttheologischen Wissenschaften wieder einzuschränken, wenn er lehrt, es sei Aufgabe der Theologie, die übrigen Wissenschaften zu beurteilen: Was darin unvereinbar mit der Theologie sei, müsse insgesamt als falsch verworfen werden.7 Das scheint, als solle der Theologie die Aufgabe der Kontrolle und Zensur aller sonstigen Wissenschaften zugeteilt werden, womit eine autonome wissenschaftliche Forschung gerade ausgeschlossen wäre. Aber dieser Satz stellt zunächst nur eine Anwendung des aristotelischen Prinzips dar, dass mit der Wahrheit alles übereinstimmen müsse. 8 Dieses Prinzip setzt Thomas in ganz verschiedenen Kontexten immer wieder ein, vor allem aber gegen Zwei-Wahrheiten-Lehren, z. B. im Averroismusstreit. Averroisten wie Siger von Brabant berufen sich auf die Möglichkeit von Diskrepanzen zwischen philosophisch-wissenschaftlicher und theologischer Wahrheit, um die averroistische These von der Einheit des Intellekts und der Sterblichkeit der individuellen menschlichen Seele zusammen mit der orthodoxen Lehre von der individuellen Unsterblichkeit der Seele und der Auferstehung des Leibes behaupten zu können. Sie nehmen für sich in Anspruch, das eine als Philosophen, das andere als Theologen vertreten und per Glaubensentscheid der theologischen Wahrheit den Vorrang vor der philosophischen geben zu dürfen.9 Thomas verwirft dieses Manöver als inkohärent und zerstörerisch für Theologie und Philosophie gleichermaßen.10 Er beruft sich dabei auf das angeführte aristotelische Prinzip, welches im Grunde seinerseits eine Anwendung des Satzes des Widerspruchs ist. Einander widersprechende Aussagen können nicht zusammen wahr sein. Genau dafür lässt die Lehre von den zwei Wahrheiten aber Raum. Also muss sie ihrerseits falsch sein. Nun sind die Glaubenssätze der Theologie als wahr offenbart oder aber aus offenbarten Sätzen abgeleitet und daher unmöglich falsch. Deswegen taugen sie als negative Prüfregel für beliebige andere Aussagen. Was immer ihnen widerspricht, muss falsch sein. Daran ist zweierlei zu beachten: (1) Theologische Prinzipien taugen negativ als regula falsi, als externes Prüfkriterium für wissenschaftliche Wahrheitsansprüche aller Art, nicht positiv als Grundsätze (principia) wissenschaftlicher Beweisführung (demonstratio). Das ist gemeint mit 7   „Et ideo non pertinet ad eam [ad sacram doctrinam] probare principia aliarum scientiarum, sed solum iudicare de eis: quidquid enim in aliis scientiis invenitur veritati huius scientiae repugnans, totum condemnatur ut falsum”. (STh I, q.  1 a.  6 , ad 2; Ergänzung und Hervorhebung H.T.) 8  Vgl. NE A 8, 1098 b. 9  Vgl. QTA. Die Quelle für diesen Gedankengang ist der Große Kommentar des Averroës zu De Anima; vgl. Commentarium magnum. 10  Vgl. De unitate, Prooemium, S.  22.

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V.  Naturerkenntnis und spekulative Theologie

der Aussage, sie dienten dem Beurteilen (iudicare), nicht dem Beweisen (probare). Das zeigt, dass Thomas hier gar nicht von der Position abweicht, die er in der Summa contra gentiles einnimmt und die er mit Anselm und Descartes teilt. (2) Thomas macht noch in derselben Quaestio (a.  9 f.) darauf aufmerksam, dass Glaubenssätze nicht immer leicht zu verstehen seien, da die Heilige Schrift selbst mit Metaphern und systematisch mehrdeutigen Stellen durchzogen sei und da sogar der inferentielle Gehalt des Credo selbst von Theologen häufig falsch eingeschätzt werde. Nicht immer widerspricht damit den Prinzipien des Glaubens und der Theologie, was ihnen auf den ersten Blick zu widersprechen scheint. Die Glaubenssätze sind jederzeit auslegungsbedürftig und der Auslegung zugänglich, und nur ein theologisch und wissenschaftlich geschulter Dialektiker, also ein Philosoph, kann beurteilen, ob und inwiefern eine wissenschaftliche Behauptung der Theologie widerspricht. Dass das keine Lizenz zu Willkür und Auslegungsrelativismus in der Theologie ist, versteht sich wohl dennoch fast von selbst. Eine Lehre wie der Averroismus widerspricht beispielsweise auf eklatante Weise den Prinzipien der Theologie und räumt dies auch ein. Deswegen hält sich Thomas mit dem entsprechenden Nachweis nicht auf, sondern versucht zu zeigen, dass diese Lehre weder als Aristoteles-Interpretation noch philosophisch-systematisch haltbar ist, da sie sogar die Phänomene des intellektuellen Lebens unverständlich macht.11 Dass Anselms Argument durch die Kritik am ontologischen Gottesbeweisversuch des Damaszeners nicht getroffen ist, sieht Thomas aber deutlich. Er befragt daher noch einmal eigens Anselms Grundgedanken, dass man mit dem Namen ‚Gott‘ etwas meine, über dem nichts Größeres gedacht werden könne, nach seinem Ursprung. Anselm hält die Zusammengehörigkeit von Name und Kennzeichnung wie gesehen für evident und nicht begründungsbedürftig. Thomas deutet diese Evidenzbehauptung aristotelisch als These, dass es sich beim Gottesnamen um etwas an sich bzw. von Natur aus Einleuchtendes (notum per se vel naturaliter) handele. So ist es für Aristoteles an sich einleuchtend, dass ein Gedanke nicht sowohl wahr als auch falsch sein kann oder dass ein Ganzes notwendig größer ist als jedes einzelne seiner Teile.12 Doch dies sei mit Blick auf die Bedeutung des Gottesnamens nicht richtig. Denn Anselm habe zwar Recht, dass Gott ein Wesen sei, über dem nichts Größeres gedacht werden könne. Thomas gesteht ihm sogar zu, dass dies in sich einleuchtend und erkennbar sei, aber nur nach Art der ersten Ursachen, die von uns endlichen Vernunftwesen nur mit großer Mühe und im Durchgang durch viele andere Wahrheiten erkannt werden könnten.13 Für uns sei diese Kennzeichnung daher nicht ohne Weiteres evident, was man schon daraus ersehen könne, dass viele Heiden glaubten, dass   Vgl. ebd., IV–V.  Vgl. Anal. Post. 72 b; SG I 10; STh I, q.  2 a.  1. 13   SG I 11, STh I, q.  2 a.  1, c. 11

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Gott bzw. die Götter körperliche Wesen seien oder dass Gott nichts anderes sei als der Kosmos als solcher.14 Außerdem könne es über selbstevidente Begriffe keinen Dissens geben, aber über die Bedeutung des Gottesnamens gebe es sehr wohl Streit zwischen Gläubigen, Ungläubigen und Häretikern, und daher sei es sehr wohl möglich zu denken, dass Gott nicht existiere.15 Nun gesteht ja Anselm seinerseits sehr wohl zu, dass es möglich sei zu denken, dass Gott nicht existiere, wenn man nämlich den Ausdruck Gott in einer fremden oder äußerlichen Bedeutung gebrauche. Er muss auch nicht unterstellen, dass die Kennzeichnung Gottes als desjenigen, über dem nichts Größeres gedacht werden könne, jedem unmittelbar einleuchte wie der Satz des Widerspruchs oder das Grundprinzip der Mereologie. Sein Argument ist sehr wohl mit dem Gedanken verträglich, dass die Richtigkeit dieser Kennzeichnung erst dem Weisen einleuchtet.16 Diese Beobachtungen erhellen, dass Thomas mit seiner Kritik bis hierher noch Anselms Gedanken verfehlt. Doch mit einem weiteren Schritt berührt Thomas sehr wohl dessen Kern.17 Denn nun gesteht er Anselm um des Argumentes willen zu, dass Gott als dasjenige gedacht wird, über dem man nichts Größeres denken könne. Damit habe man den Gedanken eines maximal großen Seienden gefasst. Daraus folge aber nur, dass man nichts Größeres als ein solches Seiendes denken könne, nicht aber, dass ein solches Wesen denkunabhängig existiere. Man müsse Begriff und Bezugsgegenstand auf die gleiche Weise (eodem modo) setzen, nicht aber den einen im Denken, den anderen in Wirklichkeit. Die Wirklichkeit Gottes, von der Anselm rede, sei nur von ihm gedachte Wirklichkeit, nicht aber die denkunabhängige Wirklichkeit eines tatsächlich maximal vollkommenen Wesens. Endliches Denken, so könnte er mit Descartes fortfahren, erlegt dem Sein keine Notwendigkeit auf.18 Also könne der Atheist Anselms Kennzeichnung zugestehen, ohne seine Position aufgeben oder als irrational einsehen zu müssen. Aber wie soll das möglich sein, wo Anselm doch gerade die Inkohärenz einer solchen Haltung aufgezeigt zu haben beansprucht? Anscheinend sieht auch Thomas, dass dem Atheisten zumindest der oben skizzierte agnostische Ausweg bleibt, und zwar auch dann, wenn er Anselm die Inkohärenz der streng   SG I, ebd., STh I, ebd., ad 2.   STh I, ebd., sed contra. 16   Ebd., c. Dass eine angeborene Idee wie die Gottes dennoch nur den Weisen wirklich verständlich und explizierbar sein kann, betont nicht nur Caterus (Vgl. Med., Erste Einwände, S.  87), sondern auch Descartes selbst in seiner Erwiderung auf Mersenne, vgl. ebd., S.  121. 17   So auch Müller 2001, S.  63 f. 18  Vgl. SG I 11, ad 1. In der Summa Theologiae heißt es: „Dato etiam quod quilibet intelligat hoc nomine Deus significari hoc quod dicitur, scilicet illud quo maius cogitari non potest; non tamen propter hoc sequitur quod intelligat id quod significatur per nomen, esse in rerum natura; sed in apprehensione intellectus tantum. Nec potest argui quod sit in re, nisi daretur quod sit in re aliquid quo maius cogitari non potest: quod non est datum a ponentibus Deum non esse.“ (STh I, q.  2 a.  2, ad 2) 14

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atheistischen These zugesteht, der These nämlich, dass es nichts gibt, über dem nicht etwas Größeres gedacht werden kann. Als Agnostiker kann er immer noch darauf beharren, dass aus der Undenkbarkeit der Nichtexistenz von etwas schlechthin Großem und Vollkommenem für die Ontologie nichts folgt. Denk­ unmöglichkeit und Seinsunmöglichkeit müssen aus Sicht des Agnostikers nicht zusammenfallen. Allerdings fragt sich, ob Thomas sieht, dass aus einer solchen strikten Trennung von Denk- und Seinsmodalität ein radikaler Skeptizismus folgt und von der Theologie auf nahezu alle Bereiche der theoretischen Philosophie ausstrahlt. Dieses Problem betrifft z. B. auch die Rechtfertigung des Substanz- und des Kausalitätsbegriffs in der allgemeinen Metaphysik und hat damit Bedeutung für Thomas’ eigenen Versuch, Gottes Existenz im Rückgriff auf den Begriff der Erstursache zu beweisen. Die Notwendigkeit einer ersten Ursache ist nämlich ebenfalls eine Denknotwendigkeit, falls Thomas’ an Aristoteles angelehntes Argument überhaupt stichhaltig ist. Das aber würde bedeuten, dass Thomas selbst den agnostischen Einwand auf sich zieht. Darauf wird zurückzukommen sein. Was Descartes betrifft, so hat sich oben gezeigt, dass er auch den agnostischen Zweifel an der wirklichen Existenz eines denknotwendigen Gottes aufnimmt und auszuräumen versucht, und zwar mit dem Argument, dass unsere Idee geistiger Vollkommenheit, die eine für uns in unserer Unvollkommenheit eminente Idee ist, auch eine eminente Ursache haben muss, also eine Ursache, deren formale Realität die objektive Realität unserer Vollkommenheitsidee übertrifft. Zieht auch dieser Gedanke notwendig thomistische Kritik auf sich? Nun, es gibt einen solchen Einwand, und er stammt von Caterus, der mit Thomas von Aquin gegen die These argumentiert, dass Ideen überhaupt eine Ursache bräuchten. Im Hinblick auf die Ideen äußerer, körperlicher Dinge kann man diese These wohl kaum sinnvoll bezweifeln. Sicherlich wird man, sobald der skeptische Zweifel einmal überwunden ist, überzeugt sein, dass die Idee eines Gürteltiers im menschlichen Geist eine Ursache braucht, nämlich letzten Endes in der Wahrnehmung von Gürteltieren fundiert sein muss. Wahrnehmung hat ihrem Wesen nach eine kausale Komponente. Es wäre aber nach Caterus falsch zu schließen, dass jede Idee verursacht sein muss.19 Für angeborene Ideen wie die Kategorien oder die Transzendentalien scheint das nämlich nicht evident zu sein. Es wäre denkbar, so Caterus, dass diese Begriffe einfach Teile dessen sind, was zu einem Denkvermögen dazugehört, so dass sie nur auf die Weise verursacht wären, wie es die integralen Bestandteile eines Ganzen durch das Ganze sind, das Ganze der Vernunft selbst nämlich, nicht aber jeder für sich einer eigenen Ursache bedürften. Dies würde dann a fortiori für die Dimensionen geistiger Vollkommenheit gelten, die Descartes mit Gott in Verbindung  Vgl. Med., Erste Einwände, S.  82 f.

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bringt, nämlich Wissen, Macht und Güte. Dieser Einwand ließe sich nun agnostisch zuspitzen, indem man mit Feuerbach bestritte, dass auch Gott tatsächlich eine auf der gleichen Ebene angeborene Idee ist, und Gott stattdessen als eine bloße Hypostasierung von Idealen des Geistigen auffasste. Damit bliebe zugleich offen, ob dieser hypostasierten Idee ein wirkliches Wesen korrespondierte oder nicht. Dieser agnostische Einwand, der sich nicht an die spezielle Anthropologie Feuerbachs bindet und daher nicht schon von vornherein deren Schwierigkeiten erbt, läge durchaus noch in einer Linie mit der thomistischen Kritik am theologischen Apriorismus, denn er würde die thomistische Alternative motivieren, Gott stattdessen auf umfassende Weise als erste Ursache durch seine Wirkungen zu erkennen.20 Caterus geht diesen Weg ein gutes Stück selbst, wenn er ausführt, dass die Gottesidee als ens rationis entweder unverursacht oder vom endlichen Geist selbst konstruiert sein könnte wie die mathematischen Ideen. Und zwar könne es sein, dass die Gottesidee sogar eine notwendige Konstruktion unseres endlichen Geistes sei, die es uns erlaube, unserem endlichen und begrenzten Wissen einen transzendenten Fluchtpunkt und damit Einheit und Ordnung zu verleihen.21 Damit würde die Denknotwendigkeit der Gottesidee nur die Endlichkeit unseres Intellekts beweisen, nicht aber die Seinsnotwendigkeit Gottes. Unter Verweis auf Thomas von Aquin insistiert Caterus, dass der Schluss von den gedachten Eigenschaften eines ens rationis auf wirkliche Eigenschaften und damit auf die wirkliche Existenz eines vom Verstand intendierten Wesens eine petitio principii und damit unzulässig sei.22 Für Des­ cartes wäre es aber desaströs, wenn dieser Einwand stichhaltig wäre, da so zugleich jeder Erkenntnis eines von je mir verschiedenen Seienden von vornherein der Boden entzogen würde. Descartes weist den Einwand in vollem Umfang zurück. Die Gottesidee könne unmöglich bloß Ausdruck der Endlichkeit des menschlichen Geistes sein. 23 Denn erstens sei sie die klare und deutliche Idee von einem schlechthin vollkommenen geistigen Wesen, d. h. eine Idee, deren Gehalt uns völlig transparent sei, unbeschadet dessen, dass das Wesen, auf das sich die Idee bezieht, nicht adäquat und umfassend erkannt werden kann. Denn dass diese Idee ihrem Gegen Vgl. STh I, q.  2 a.  2, c.  Vgl. Med., S.  83. 22   Vgl. ebd., S.  88 ff. 23   Mersenne wendet wie gesehen ein, dass die Gottesidee eine bloße Idealisierung menschlicher, endlicher Vollkommenheiten sein könnte. Vgl. Med., Zweite Einwände, S.  111. Dieser Einwand fällt, wie man sieht, mit dem thomistischen Einwand keineswegs zusammen. Descartes kann darauf ähnlich reagieren, wie ich es oben im Zuge der Kritik an Feuerbach skizziert habe, indem er nämlich auf die Inkommensurabilität endlicher und unendlicher Vollkommenheit hinweist. Beides voneinander unterscheiden zu können erfordert aber schon den Begriff des schlechthin Vollkommenen. Dieser kann daher nicht Resultat einer Idealisierung endlicher Vollkommenheit sein. Vgl. Med., Antwort auf die Zweiten Einwände, S.  121 und 128. 20 21

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stand nicht adäquat sein kann, entnehmen wir der Idee selbst auf ebenfalls ganz transparente Weise.24 Eine Verwechslung oder ein Irrtum über die eigentliche Referenz klarer und deutlicher Ideen sei aber nicht möglich. Überdies könne zweitens der unvollkommene menschliche Geist nicht die alleinige Ursache dieser Idee sein. Um diese These zu erläutern, bedient sich Descartes einer Analogie. Angenommen, eine Person A entwickelte in seinem Geist die klare und deutliche Idee einer komplexen und im Hinblick auf einen bestimmten Zweck vollkommenen Maschine, sagen wir einer Präzisionsuhr. Nach Descartes kann es nun drei mögliche Arten von Ursachen dieser Idee geben: Entweder A hat eine solche Uhr tatsächlich gesehen und sich ausführlich ihren Mechanismus erklären lassen, und er verfügt zudem über ein hinreichend gutes Gedächtnis, oder A ist mechanisch begabt und in der Lage, aus der Kenntnis ähnlicher oder sogar weniger vollkommener Uhren heraus die Idee einer anderen und besseren Uhr zu entwickeln, oder aber A ist mechanisch hochbegabt und kann eine solche Idee ganz ohne Vorbild entwickeln. In jedem dieser Fälle gibt es eine angebbare Ursache für A’s Uhridee, entweder eine tatsächliche Uhr in Verbindung mit A’s Auffassungsgabe und Gedächtnis oder aber A’s Einbildungskraft und Kunstfertigkeit. Unzulässig wäre aber zweierlei: Zu sagen, dass A die Uhridee ohne Ursache besitze – da sein Geist sie bilden muss –, und zu sagen, dass die Ursache der Uhridee in der Unvollkommenheit von A’s Geist liege – denn man müsse ja immer schon auf eine Vollkommenheit in A’s Geist Bezug nehmen, um zu erklären, wie er die deutliche Idee von etwas Vollkommenem besitzen könne, und keineswegs auf eine Unvollkommenheit. Man brauche in jedem Fall eine Ursache, deren formale Realität der objektiven Realität der Uhridee mindestens gleichkommt, wenn nicht diese übersteigt.25 Wenn dies, so scheint Descartes mit dieser Analogie sagen zu sollen, schon für eine so überschaubare Idee objektiver Vollkommenheit wie die einer Präzisionsuhr gilt, dann wohl erst recht für die Idee unendlicher, auf keinen Zweck beschränkter, durch nichts begrenzter, absoluter Vollkommenheit, nämlich die Idee Gottes. Deren Ursache kann aber – und das ist nicht analog zu A’s Uhridee – nicht mehr der endliche und unvollkommene Geist der Person B sein, die diese Idee fasst. Also muss diese Idee eine eminente äußere Ursache haben. Kritiker wie Caterus und Mersenne können diese Analogie nicht so einfach gegen Descartes wenden, wie es zunächst scheinen mag. Sie könnten versuchen zu argumentieren, dass Descartes selbst mit der zweiten und dritten möglichen Ursache von A’s Uhridee einräume, dass der menschliche Geist aus sich heraus die Idee von etwas Vollkommenem konstruieren könne, ohne dazu einer entsprechend vollkommenen Ursache zu bedürfen, sondern einfach im Ausgang von etwas weniger Vollkommenem. Doch Descartes kann erwidern, dass die   Vgl. ebd., S.  102.   Vgl. ebd., S.  93 f.

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vollkommene Ursache in diesen Fällen A selbst ist, da sein Geist die für die Aufgabe erforderliche Vollkommenheit besitzt. Im Fall der Gottesidee scheidet diese Möglichkeit aber aus, da kein endlicher Geist genügend Vollkommenheit besitzt, um ohne weitere Ursache die klare und deutliche Idee eines schlechthin Vollkommenen zu bilden, weil dazu unbegrenzte Vollkommenheit erforderlich wäre. Eine solche Vollkommenheit kann kein endlicher Geist besitzen, mag er auch begabt genug sein, die Gottesidee klar und deutlich zu fassen, was nicht von jedem menschlichen Geist gilt. Und doch mag es selbst theologisch gebildeten Kritikern wie Caterus und Mersenne so ergehen wie den Philosophen, Theologen und Mathematikern, die in den Sechsten Einwänden klagen: „Es besteht nämlich die Schwierigkeit, dass wir allerdings trefflich erfassen, dass 3 + 2 = 5, dass Gleiches von Gleichem [abgezogen; H.T.] Gleiches gibt; hierdurch und durch tausend anderes werden wir überzeugt wie Du. Warum gewinnen wir aber nicht in ähnlicher Weise aus Deinen oder unseren Ideen die Überzeugung, dass die Seele des Menschen vom Körper verschieden ist und dass Gott existiert? Du wirst sagen, Du kannst uns nicht von dieser Wahrheit überzeugen, wenn wir sie nicht im Verein mit Dir überdenken. Doch siebenmal haben wir Deine Schrift gelesen mit der Aufmerksamkeit von Engeln; dennoch werden wir noch nicht überzeugt. Gleichwohl glauben wir nicht, dass Du lieber sagen wirst, all unser Verstand sei durch ein dumm machendes Zaubermittel infiziert worden und ganz ungeeignet für Metaphysik, der wir uns seit dreißig Jahren widmen […].“26

Dieser Einwand wiegt durchaus schwer, da er den Evidenzcharakter des cartesischen Arguments angreift. Zugespitzt läuft er nämlich auf den thomistischen Verdacht hinaus, dass hier letztlich doch wieder nur die Notwendigkeit der Gottesidee im menschlichen Geist gezeigt werde. Mehr als das, so der Vorwurf, kann Descartes auf der methodischen Grundlage eines notwendig ‚dünnen‘, bloß intuitiven und mit Skeptizismus vereinbaren Seinsverständnisses nicht zeigen. Die Aussage, dass Gott existiert, schillert damit in ihrer Bedeutung; sie steht auf unklare Weise zwischen Anselms dialektischem Gottesgedanken und einer echten ontologischen These. Sie will mehr sein als ersteres, kann aber nur weniger sein als letzteres. Aber selbst wem es nicht so wie den Verfassern der Sechsten Einwände ergeht und wem der cartesische Gedankengang einleuchtet, dem wird es doch zumindest scheinen, als sei Descartes’ gestuftes theistisches Argument vielleicht hinreichend für seinen Zweck einer erkenntnistheoretischen Sicherung der Möglichkeit von Metaphysik und Naturwissenschaft, nicht aber hinreichend als Grundlage einer entwickelten Natürlichen Theologie. Dafür bleibt das Verhältnis des als vollkommen gedachten Gottes zum endlichen und unvollkommenen Seienden viel zu unbestimmt. Selbst wenn man Descartes zugibt, dass sein Argument den Monotheismus stützt, weil es mit dem Gedanken einer Götterviel  Med., Sechste Einwände, S.  364 f.

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heit unverträglich ist, folgt daraus nicht, dass Gott Schöpfer oder erste Ursache des endlichen Seienden ist. Descartes diskutiert diesen Zusammenhang ausschließlich am Verhältnis des unendlichen Geistes Gottes zum endlichen Geist des Menschen. Hier argumentiert er, dass Gott Ursache der Gottesidee im menschlichen Geist ist. Daraus folgt aber nicht, dass er auch Ursache der Existenz des endlichen Geistes selbst ist und diesem die Idee seiner selbst wie die Signatur eines Künstlers mitgegeben haben muss.27 Er könnte sie genauso einem von ihm nicht geschaffenen Intellekt eingegeben haben. Descartes generalisiert seine kausale Überlegung, indem er Gott dann die Rolle einer causa omnium zuschreibt. Aber erstens wird diese Rolle Gott ohne weiteres ontologisches Argument zugeschrieben und kann nicht mehr als zugeschrieben werden, da jedem tiefer gehenden ontologischen Argument an dieser Stelle noch die Basis fehlt. Und zweitens wäre Gott, wie Descartes immer wieder betont, auch dann die causa omnium, wenn er das endliche Seiende im Sein erhielte, ohne es hervorgebracht zu haben. Dass alles Seiende aus Gott hervorgeht, ist so aber nicht zu zeigen. Gott als Schöpfer kann bei Descartes nicht vorkommen, also auch nicht die Negation einer Schöpfung und eines Schöpfers. Descartes muss diesbezüglich neutral bleiben.28

2.  Ontologie als Basis der Theologie Thomas sieht den theologischen Apriorismus bei Johannes von Damaskus und bei Anselm, den Descartes dann vertiefend fortsetzt, und den jede philosophische Theologie verneinenden Fideismus etwa eines Moses Maimonides oder eines Al-Ghazali, der später auch im franziskanischen Nominalismus und im Protestantismus bis zu Kant dominant wird, als zwei Seiten derselben Medaille an. Das Unzureichende an bloß ‚ontologischen‘ und dialektischen Argumenten für die Existenz Gottes verführe aufmerksame Denker wie die genannten dazu anzunehmen, dass es für uns endliche Vernunftwesen gar kein auf Gott bezogenes Wissen geben könne und dass folglich die Wahrheit der Heiligen Schrift – welche dies auch sei – ohne weitere theoretische Rechtfertigung gläubig angenommen werden müsse.29 Dass aber die Existenz Gottes a priori weder unmit Vgl. Med. III, S.  42.   So behält auch Heidegger letztlich Recht mit seiner Kritik, dass der Gedanke des Schöpfergottes bei Descartes nicht hergeleitet, sondern vorausgesetzt werde, vgl. SuZ, §  20, S.  93. Das gilt unbeschadet der ansonsten in mehrerlei Hinsicht etwas einseitigen Auseinandersetzung mit Descartes in diesem Werk und andernorts. Denn eine solche Herleitung des Schöpfungsgedankens ist auch über den Begriff der absoluten Macht nicht durchführbar, wie sie Gunnar Hindrichs glaubt bei Descartes finden zu können; vgl. Hindrichs 2008, Kap.  3. Hindrichs übernimmt dabei die Descartes-Interpretation Dieter Henrichs; vgl. Henrich 1960, S.  15–20, sowie Cramer 1967, S.  73. 29  Vgl. DN, Tahafut, SG I 12, STh I, q.  2 a.  2. 27

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telbar aus der Erkenntnis seines Wesens noch auf dialektischem Weg eingesehen werden kann, heiße noch lange nicht, dass sie gar nicht sola ratione eingesehen werden könne. So fallen zwar auch für Thomas wie für Anselm bei Gott Sein und Wesen zusammen, und wie für Anselm und Moses Maimonides ist auch für ihn Gottes Wesen für uns unerkennbar. Der naheliegende Schluss, dass damit auch Gottes Sein für uns unerkennbar ist, sei aber dennoch ein Fehlschluss, da die Einsicht in die Existenz einer Sache nicht zwingend die Kenntnis ihres Wesens voraussetze. Vielmehr könne man die Existenz einer Sache auch über die Erkenntnis ihrer Wirkungen einsehen.30 So kehrt Thomas gegenüber rein apriorischen und dialektischen Argumenten für die Existenz Gottes die Ordnung der Untersuchung um. Leiten diese eine Existenzaussage über Gott entweder aus einer Aussage über sein Wesen oder aus der Stellung der Gottesidee in der Ordnung des Denkens her und schreiten dann zu Bestimmungen seines Verhältnisses zur Welt fort, so beginnt Thomas mit Aussagen über die Welt und die Ordnung des Seins und schließt von dort aus auf die Existenz Gottes, um erst auf dieser Grundlage Aussagen über das Wesen Gottes zu machen, nämlich insofern solche Aussagen aus der Erkenntnis der Wirkungen Gottes erhellen. Wie man sieht, schlägt er damit einen Weg ein, den bereits Anselm im Monologion zu gehen versucht und später verworfen hat. Thomas kann Anselms Scheitern darauf zurückführen, dass diesem noch keine ausgearbeitete aristotelische Metaphysik und Naturphilosophie zur Verfügung stand. Er muss also nicht annehmen, dass prinzipielle Gründe gegen dieses ‚induktive‘ Vorgehen sprechen.31 Anders als Anselm argumentiert Thomas dabei in erster Linie von der Wirklichkeit der Bewegung und schließt von dort auf die Notwendigkeit eines ersten, unbewegten Bewegenden, das er mit Gott identifiziert. In der Summa contra gentiles hat diese Argumentation die Form einer langen und ausgesprochen verwickelten Überlegung, die Argumente aus dem dritten, sechsten, siebten und achten Buch der Physik des Aristoteles miteinander verbindet.32 Thomas bemerkt, dass es gerade für einen christlichen Denker ausgesprochen reizvoll 30   SG I, ebd., STh I, ebd., c. Schon Avicenna geht diesen Weg in seiner Metaphysik (vgl. insbesondere Metaphysik VIII 3, A 341 ff.) und wird damit zu einem eminent wichtigen Referenzautor für Thomas. 31   ‚Induktion‘ ist hier nicht im empiristischen Sinn als Schluss von Einzelbeobachtungen auf allgemeine Tatsachen oder Gesetzmäßigkeiten gemeint, sondern im platonisch-aristotelischen Sinn als Schluss von Besonderem auf Allgemeines, insbesondere von Aussagen über Substanzarten auf Aussagen über Substanzgattungen oder als Schluss von Wirkungsarten auf Arten von Ursachen. Hindrichs hält es für einen Nachteil der thomistischen Theologie, dass sie von der „Zustimmung zu seiner materialen Ontologie“ abhänge; vgl. Hindrichs 2008, §  14, S.  30. Dieser Einwand verfehlt Thomas gleich in mehrfacher Hinsicht. Dazu unten mehr. Schon Cramer wendet – ohne speziell Thomas zu nennen – gegen ‚kosmologische‘, also auf Prämissen der allgemeinen Ontologie beruhende Gottesbeweise ein, dass hier das Bedingte Voraussetzung des Unbedingten sei, was er für widersinnig hält; vgl. Cramer 1967, S.  50 f. Er variiert Hegels oben (Anm.  1) erwähnten Einwand. Auch darauf wird zurückzukommen sein. 32  Vgl. SG I 13.

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sei, an die Ansätze zu einer philosophischen Theologie in der aristotelischen Physik und Metaphysik anzuknüpfen, und zwar eben weil Aristoteles anders als das christliche Denken von der Ewigkeit und folglich der Nichtentstandenheit der Welt und der Bewegung ausgeht. Wenn es Aristoteles selbst unter dieser erschwerenden Voraussetzung gelinge zu zeigen, dass es ein erstes Bewegendes geben müsse, welches ewig, unkörperlich und göttlich sei, wie viel leichter muss es da für den christlichen Aristoteles-Leser sein, ausgehend gerade von der Nichtewigkeit und Entstandenheit der Welt und der Endlichkeit der kosmischen Bewegung zu demselben Ergebnis zu gelangen?33 Allerdings ist der gesamte Gedankengang nicht allein unübersichtlich, sondern darüber hinaus an manchen Stellen auch wenig überzeugend. Eine zentrale These ist die Verneinung der Möglichkeit einer unendlichen Einzelbewegung. Damit verbunden ist die weitere These, dass Bewegungen nicht Resultat einer unendlichen Kette von Wirkursachen sein könnten.34 Diesen Zusammenhang stellt Thomas wie folgt her: Verschiedene Bewegungen, die nach Art von Wirkursache und Effekt miteinander verbunden seien, könnten als Teile einer zusammenhängenden Bewegung aufgefasst werden. Entsprechend bilde auch das durch diese Bewegungen Bewegte gewissermaßen ein Ganzes, und zwar ein körperliches Ganzes, da Körper und nur Körper beweglich seien.35 Dieses Ganze sei aber notwendig bewegt, wenn ein Teil bewegt sei. Nun sei die Bewegung eines jeden Teils endlich (finitum) und vollziehe sich in endlicher Zeit. Also sei das Ganze in endlicher Zeit bewegt. Damit könne das Ganze nicht unendlich sein, da kein Unendliches in endlicher Zeit bewegt sein könne. Aber auch im zeitlichen Nacheinander von Wirkursachen und Effekten könne es keinen infiniten Regress geben, da jede komplexe und multikausale Bewegung einer ersten Wirkursache bedürfe, ohne die die späteren und mittleren Ursachen nicht wirksam werden könnten. Aber in einer unendlichen Kette von Wirkursachen und Effekten gebe es per definitionem keine erste Wirkursache. Damit sei eine unendliche Bewegung auch in unendlicher Zeit unmöglich, weil ja Bewegung ohne erste Wirkursache nicht möglich sei.36 33   „Et ad hoc dicendum quod via efficacissima ad probandum Deum esse est es suppositionis aeternitatis mundi […].“ (Ebd., S.  54) 34   Vgl. zum Folgenden ebd., S.  46/47. Auch Oppy hält das Argument für schwach, ohne aber die Veränderungen zu diskutieren, welche mit der Neuformulierung der entsprechenden Überlegungen in der Summa Theologiae einhergehen; vgl. Oppy 2006, S.  100 f. Eine systematische Verteidigung kosmologischer Argumente in der Natürlichen Theologie trägt Craig vor; vgl. Craig 2011. 35   Thomas weist allerdings darauf hin, dass dieses Prinzip nur für den strengen aristotelischen Begriff der Bewegung gelte, nicht für den weiteren platonischen, nach dem auch geistige Prozesse Bewegungen seien. Entsprechend sei der platonische erste Beweger selbst bewegt, und zwar durch sich selbst. Wie Thomas ebenfalls unterstreicht, ist das ein Unterschied in der Terminologie, nicht in der Sache. Vgl. ebd., S.  46/47. 36   Eine Variante dieses aristotelischen Arguments figuriert bekanntlich als Thesis in Kants Dritter Antinomie der reinen Vernunft. Vgl. KrV, B 454 ff.

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Nun muss man zwar gegen alle vorschnellen Verständnisse daran erinnern, dass hier auf Basis der Annahme einer ewigen, ungeschaffenen Welt argumentiert wird. Mit der ersten Wirkursache kann also kein der Zeit nach absolut erstes Ereignis gemeint sein, sondern ein agens,37 von dem immer wieder der erste Anstoß zu immer neuen Ketten von mittleren Wirkursachen und Effekten ausgeht. Dagegen kann man also nicht einwenden, dass die Behauptung einer ersten Wirkursache das Problem eines Seinsanfangs in der Zeit mit sich bringe. Das Paradox einer „leeren Zeit“ vor Eintreten der ersten Wirkursache kann nicht aufkommen.38 Aber die Argumentation scheint dennoch trugschlüssig. Denn beide Argumente, sowohl das gegen die simultane Unendlichkeit einer kosmischen Bewegung als auch das gegen eine sukzessiv unendliche Kette von Wirkursachen, gehen von endlichen Bewegungen aus, d. h. von solchen Bewegungen, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende in der Zeit haben und daher endliche Zeit in Anspruch nehmen. Fasst man nun solche Bewegungen als Teilbewegungen des ganzen Kosmos auf, so folgt daraus nicht, dass der gesamte Kosmos an sich (simpliciter) bewegt ist, sondern nur in gewisser Hinsicht (secundum quid), nämlich hinsichtlich des bewegten Teils. Selbst wenn man nun annimmt, dass der Kosmos unendlich groß ist, folgt daraus nichts Absurdes, denn es folgt weder, dass der ganze, als unendlich gedachte Kosmos sich als solcher in endlicher Zeit bewegt, noch dass seine unendliche Bewegung in unendlicher Zeit einer ersten Ursache bedürfte. Das Argument, dass Bewegung einen Anfang und damit eine erste Wirkursache braucht, ist von endlichen Bewegungen her entwickelt und plausibel gemacht. Für diese gilt, dass sie ohne Anfang gar nicht stattfinden können. Es ist aber nicht klar, dass dieses Argument sich so generalisieren lässt, dass es die Möglichkeit unendlicher, anfangsloser Bewegungen ausschließen kann. Der Einwand, dass eine Bewegung so lange bloß möglich, potentiell ist, wie es noch keine erste aktualisierende Ursache gibt, sticht hier nicht, da hier in jeder Phase der Bewegung die erforderliche Ursache als schon aktualisiert, die Bedingung also als erfüllt angenommen wird. Für endliche Bewegungen gilt, dass sie einen wirklichen Anfang und häufig auch ein genuines Ziel benötigen, um dessentwillen sie geschehen. Unendliche Bewegungen können und müssen dagegen anscheinend keine erste Wirkursache haben, und ihr telos kann die Bewegung selbst sein. Dass eine bloße unendliche Verkettung von Wirkursachen und Effekten noch keine Ordnung und keinen kosmischen Zusammenhang absichern kann, ist allerdings ein relevanter weiterer Punkt, auf den noch zurückzukommen sein wird. Aber von der Ordnung des Seins und 37   Eine Wirkursache ist notwendig ein agens und damit etwas aktual Seiendes und Wirksames, nicht etwas bloß Potentielles. Vgl. Physik B 3, 194 b. 38  Vgl. KrV, ebd., Antithesis, B 455 ff. Dass Thomas hier wie auch in den fünf Wegen durchgehend von der Annahme einer ewigen und ungeschaffenen Welt aus argumentiert, übersieht Mackie 1985, S.  144.

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der Natur handelt die von Thomas rekonstruierte physikalische Überlegung des Aristoteles noch gar nicht. Damit ist ein zentraler Schwachpunkt der gesamten Argumentation für die Existenz Gottes in der Summa contra gentiles benannt. Allerdings enthält die Überlegung des Kapitels 13 einige andere Elemente, auf die Thomas später in der Summa Theologiae zurückgreift. Wie schon Anselm vor ihm strebt auch Thomas dabei nach einer Vereinfachung seines Arguments. Aber anders als Anselm präsentiert er in dem späteren Text kein gänzlich neues Argument, sondern die schon bekannten Überlegungen in neuer, verbesserter und übersichtlicherer Form. Er unterscheidet nämlich nun fünf Wege (quinque viae), auf denen man zur Einsicht gelangen könne, dass Gott existiert.39 Dabei soll es sich wie schon in der Summa contra gentiles um natürliche Einsicht handeln, d. h. um Einsicht aus Gründen und nicht aus Autorität oder aus übernatürlicher Offenbarung. Deswegen muss das Beweisziel sein zu zeigen, dass Gott notwendig existiert, da sich ein Existenzbeweis nur dann führen lässt, wenn die zu beweisende Entität notwendig existiert. Für die Existenz eines kontingenten Seienden kann es keinen Beweis aus Vernunftgründen geben.40 Allerdings sind die ‚fünf Wege‘, obwohl sie meist so gelesen werden, keine voneinander unabhängigen Argumente, sondern hängen, so die im Folgenden durchzuführende Interpretation, untereinander zusammen, so dass die Trennung derselben analytisch ist und der besseren Fassbarkeit dient. Der Sache nach ist die Kontinuität mit den Argumenten aus Kapitel 13 der Summa contra gentiles größer, als man der Darstellungsform zunächst ansieht. Vermieden werden allerdings deren Schwächen.41   Vgl. zum Folgenden STh I, q.  2 a.  3.  Vgl. Anal. Post., 74  b, Met. E 3, 1027  a. 41   Wenn im Folgenden eine Interpretation der fünf Wege im Sinne eines einheitlichen und durchgehenden Arguments entwickelt wird, dann geschieht dies im partiellen Gegensatz zu Standardlesarten wie der von Leo Elders, der die von Pseudo-Dionysius Areopagita eingeführte Unterscheidung einer via negationis, einer via causalitatis und einer via eminentiae zur Erkenntnis Gottes auf die fünf Wege projiziert; vgl. Elders 1990. Diese drei ‚Wege‘ bezeichnen vielmehr ein Strukturprinzip des gesamten Aufbaus der Natürlichen Theologie bei Thomas. Die fünf Wege sind, zusammen mit der später entfalteten Schöpfungslehre, eher die Teile der via causalitatis. Vgl. auch te Velde 2006, S.  76. Auch Bochen´ski hält die fünf Wege für distinkte Beweise; vgl. Bochen´ski 2003. Er erkennt nur den zweiten Weg als gültiges Argument an. Den ersten und grundlegenden Weg verwirft er, allerdings auf der Grundlage einer sehr speziellen Interpretation, nämlich im Ausgang von räumlicher Bewegung (vgl. ebd., S.  50). Auch Puntels harsches Urteil, die fünf Wege seien „oberflächlich“, „peripher“ und letztlich „völlig inadäquat“, beruht auf deren Deutung als distinkter Argumente; vgl. Puntel 2010, S.  37. Eine etwas salomonische Antwort auf die Frage, ob die fünf Wege ebenso viele Beweise für die Existenz Gottes oder vielmehr Aspekte eines einzigen Arguments sind, findet sich bei Jacques Maritain, für den zwar „das Formalprinzip der Beweisführung“ immer das gleiche sei, die fünf Wege aber wegen ihres unterschiedlichen Gehalts dennoch distinkte Beweise seien. (Maritain 1955, S.  28) Die im Folgenden entwickelte Lesart der fünf Wege ist mit der Maritains vereinbar, geht aber über sie hinaus. Sie unterscheidet sich auch von der Interpretation durch Sertillanges, die von der Reduzierbarkeit der fünf Wege auf einen einzigen 39

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Der erste Weg ist bei diesem Vorgehen der wichtigste, da er die anderen vier als Spezifikationen teils in sich enthält, gewissermaßen als Nebenstrecken zu einem Hauptweg, teils als Weiterführungen und Vervollständigungen fundiert. Ausgegangen wird abermals vom Begriff der Bewegung, aber Bewegung wird nicht hauptsächlich als Prozess aufgefasst, der einer Wirkursache bedarf, wie noch im Kernargument der Summa contra gentiles. Dies ist das aus der aristotelischen Physik aufgegriffene Bewegungsverständnis.42 Ausgangspunkt des ersten Wegs in der Summa Theologiae ist dagegen das Bewegungsverständnis der aristotelischen Metaphysik. Diese deutet Bewegung als Aktualisierung einer Möglichkeit bzw. eines Vermögens, ein solches Vermögen seinerseits aber als Prinzip von Veränderung (arché metaboles).43 Dabei betont Aristoteles, dass Verändertes und Veränderndes unterschieden werden müssten, da es sich bei Veränderung notwendig um etwas in „einem anderen oder in ein und demselben, insofern es ein anderes ist“, handele.44 Damit soll zweierlei ausgeschlossen werden: (1) eine modallogische Trivialisierung des Vermögensbegriffs, (2) die Absurdität gewisser reflexiver Verwendungen desselben. (1) Bedingung dafür, das ein zeitlicher Vorgang eine Veränderung ist, ist nicht allein seine zeitliche Ausdehnung, sondern auch dass es einen echten Kontrast, einen Gegensatz zwischen dem Vorgang und seinem Vorher gibt. Andernfalls wären auch Ruhe und Beharrung Veränderungen. Das fortwährende Liegen des Sokrates während seiner Nachtruhe ist aber in sich gar keine Veränderung, im Unterschied zum abendlichen Sich-Hinlegen und morgendlichen Aufstehen. Die von Aristoteles kritisierten Megariker45 können diesen Unterschied nicht denken, da sie den Begriff des Vermögens bzw. der Möglichkeit (dynamis) an Beweis ausgeht. Das dabei zu Grunde gelegte Schlusschema charakterisiert Sertillanges in kantischen Termini als Schluss vom Bedingten auf das Unbedingte. Vgl. Sertillanges 1954, S.  148, 166. Diese Reduktion bleibt bei Sertillanges Skizze; es scheint aber, als müsste die Beweiskraft des Arguments unter seiner Abstraktheit leiden. Zu zeigen wäre nämlich, dass Gott das Unbedingte ist und nicht etwa das Ganze der Welt. Wolfgang Kluxen sieht als einheitliche Grundidee des thomistischen Gottesbeweises einen Übergang von einer ‚physikalischen‘ zu einer metaphysischen Betrachtung erster Ursachen an und bezeichnet die fünf Wege als „,Wege‘ des einen Beweises“. Vgl. Kluxen 1992, S.  116. Von einer inneren Ordnung oder Struktur der einzelnen Wege geht er allerdings nicht aus. Vgl. zur Stellung der fünf Wege im Gesamtaufbau der Summa Theologiae auch Chenu 1939 und Metz 1998. 42   Schon in der Physik bestimmt Aristoteles Bewegung als die Wirklichkeit (entelecheia) eines Möglichen (dynamei). Vgl. Physik Γ 1, 201 a. Allerdings ist die Pointe dieser Bestimmung noch eher logisch: Keine Bewegung kann die Wirklichkeit einer Unmöglichkeit sein. Das Hauptaugenmerk der Bewegungsanalyse liegt eindeutig auf der Klassifikation von Bewegungen und ihren Ursachen. Thomas deutet diese Analyse wie gesehen in der Summa contra gentiles, indem er besonders auf die Wirkursache abhebt. 43   Met. Δ 11, 1019 a 12; Θ 1, 1046 a. Aristoteles betont, dass es auch Vermögen der Beharrung gibt, die Bewegung und Veränderung verhindern, hemmen oder beschränken. Zu denken ist dabei wohl vor allem an die Form einer Sache als Prinzip ihres Soseins. Sie ist Träger von Vermögen der Selbsterhaltung. 44   „[…] en allo e he allo“, 1019 a 12; vgl. auch Θ 1, 1046 a 10 f. 45  Vgl. Met. Θ 3.

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den des Tatsächlichen und Wirklichen (energeia) binden und nur das als möglich anerkennen, was tatsächlich der Fall ist oder tatsächlich geschieht. Aus ihrer Sicht darf nur dann etwas als möglich ausgesagt werden, wenn es als wirklich ausgesagt wird. Die Rede über Möglichkeiten kann damit innerhalb des megarischen Denkens nicht anders eingeführt werden als über die modallogische Regel p ⇒ ◊ p (lies: Wenn p, darf zu ‚möglich, dass p‘ übergegangen werden.).46 Das heißt, die Erlaubnis zur Verwendung von Aussagen über Mögliches wird an die Bedingung geknüpft, dass inhaltsgleiche Aussagen über Wirkliches verfügbar sind. Das stellt eine erhebliche Einschränkung der Rede über Möglichkeiten dar, aber es sichert im Gegenzug die für einen megarischen Denker erstrebenswerte Verzichtbarkeit modaler Rede, da diese Regel die Tilgung modalen Vokabulars, also die Ersetzung von Ausdrücken wie ◊ p durch p jederzeit zulässt.47 Der Preis für diese Einschränkung ist, dass Bewegung und Veränderung nicht mehr gedacht werden können. Denn der Megariker kann nicht zwischen Bewegung und Ruhe unterscheiden, da sein Begriff des Wirklichen nicht entsprechend in sich differenziert ist. Das wiederum ist nicht einfach ein korrigierbares Versäumnis, sondern Folge der Trivialisierung des Möglichkeitsbegriffs. Denn Bewegung und Veränderung können sowohl von Ruhe als auch von Unveränderlichkeit nur dann unterschieden werden, wenn es zulässig ist, eine reale Veränderungsmöglichkeit zu denken, die keine Wirklichkeit ist. Denn wie Aristoteles zeigt, kann nur dann, wenn das Denken unverwirklichter Möglichkeiten zulässig ist, auch gedacht werden, dass eine Möglichkeit verwirklicht wird. Ohne diesen Kontrast ist Veränderung von ihrem Gegenbegriff nicht unterscheidbar.48 (2) Wenn Aristoteles betont, dass Vermögen Prinzipien der Veränderung in einem anderen seien, dann schließt er damit aus, dass Vermögen bzw. Möglichkeiten von sich selbst ausgesagt werden. Für die Modallogik bedeutet dies, dass der Iterierbarkeit von Modaloperatoren sehr enge Grenzen gezogen werden. Metaphysisch bedeutsam ist allerdings nicht so sehr dieser technische Aspekt, sondern vielmehr der Gedanke, dass ein Vermögen etwas sein muss, was sich nicht auf sich selbst richtet, sondern auf etwas anderes. Damit ist zunächst ausgeschlossen, dass ein Vermögen von sich selbst ausgesagt werden kann. Sichtbar oder auch brennbar ist immer etwas, aber dieses etwas ist nicht seine Sichtbar46   Zu Begriff und Idee einer Regellogik vgl. Stekeler-Weithofer 2003. Mit der anachronistischen regellogischen Rekonstruktion gewisser modallogischer Überlegungen der megarischen Philosophie soll keineswegs gesagt werden, dass dieses Denken sich von einem regellogischen Logikverständnis leiten ließ oder auch nur Interesse für das Projekt einer Regellogik gehabt hätte. Die Rekonstruktion ist ganz lokal. Der Versuch, den Diskurs über Modalitäten terminologisch zu reglementieren, kennzeichnet das megarische Denken aber sehr wohl. 47   Nicht zufällig verweist auch Quine bei seiner Ablehnung der Modallogik auf die megarische Philosophie; vgl. Word and Object, §  41, S.  339. 48   Met. Θ 2, 1046 b ff. Vgl. zur Kritik an Quine, aber mit anderem Akzent auch Rödl 2005, Kap.  III 2.

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keit oder Brennbarkeit selbst. Das heißt ferner nicht nur, dass Vermögen einen Träger, eine Substanz brauchen, die sie besitzt. Es bedeutet auch, dass Vermögen als Prinzipien der Veränderung nicht etwa Prinzipien der Selbstveränderung des Vermögens sind. Die Aktualisierung eines Vermögens ist eine Veränderung, nämlich eine Veränderung entweder ihres Trägers oder der Sache, auf die der Träger im Zuge dieser Aktualisierung einwirkt. Das schließt nicht etwa eine Veränderung des Vermögens selbst ein, außer mitfolgend. Man denke an die Brennbarkeit eines Holzstücks. Wird es tatsächlich verbrannt, dann ist nach vollständigem Abschluss des Brennvorgangs nichts Brennbares mehr vorhanden. Aber das liegt nicht an einer Veränderung des Vermögens, sondern an der Veränderung des Holzstücks selbst, das nach dem Brand nicht mehr existiert. Eben das ist ja im Vermögen zu brennen eingeschlossen: dass dessen Aktualisierung seinen Träger zerstört. Nur dadurch hebt es sich selbst auf. Noch deutlicher wird dies bei solchen Vermögen, die sich nicht in ihrer Aktualisierung erschöpfen, sondern dadurch gerade erhalten, z. B. bei den kognitiven Vermögen des Sehens, des Denkens oder des Lernens. Deren Aktualisierung verändert den Sehenden, Denkenden oder Lernenden, nicht aber die dazu befähigenden Vermögen selbst. Das wird durch die Teilformel ‚insofern es ein anderes ist‘ eingefangen: Vermögen, die sich nicht auf andere Sachen richten, sondern auf ihren Träger selbst – wie das Sehen, Denken oder Lernen, deren Aktualisierung nicht die gesehene, gedachte oder gelernte Sache verändern, sondern den Se­ henden, Denken oder Lernenden – richten sich auf die Veränderung ihres Trägers als etwas Bestimmtes oder in einer bestimmten Hinsicht, nicht auf sich oder ihr Subjekt simpliciter.49 Aristoteles zeigt dann, dass jede reale Möglichkeit (possibilitas) auf ein Vermögen (potentia) zurückgeführt werden kann, wobei es sich entweder um passive Vermögen wie Brennbarkeit oder Sichtbarkeit oder um aktive Vermögen wie das Denkvermögen oder die Heilkunst handelt.50 Denn real möglich ist eine Veränderung deshalb und nur deshalb, weil das Subjekt der Veränderung – bzw. die Subjekte, falls es sich um eine Veränderung handelt, die ein Subjekt A an einem anderen Subjekt B bewirkt oder auslöst – das Vermögen dazu besitzt. Und zwar tatsächlich besitzt, da die bloße reale Möglichkeit, das fragliche Ver49   Dies gilt durchaus für die oben in IV entwickelte Analyse des Selbstbewusstseins im Sinne der intentio obliqua. Dieses ist nicht einfach auf sich selbst gerichtet, sondern auf ihre Akte, auf Bewusstsein von etwas anderem, auf gehaltvolle Wahrnehmungs-, Denk- oder Willensakte. Die kantianische Rede von einem ‚reinen Selbstbewusstsein‘ benennt kein tatsächliches Vermögen, sondern beruht auf einer Abstraktion. 50   Das Lateinische kennt hier zwei Wörter, wo Aristoteles mit dem einen, mehrdeutigen Terminus dynamis auskommen muss. Der Sache nach unterscheidet er allerdings sehr wohl zwischen possibilitas und potentia. So hält er bloß logisch-begriffliche oder allgemein rein intelligible Möglichkeiten, z. B. die Teilbarkeit der 9 durch 3 oder die des Kreises in Segmente, für unechte Modalitäten, von denen die Möglichkeit (dynamis) bloß homonym ausgesagt werde. Für die Metaphysik seien sie ohne Bedeutung. Vgl. Met. Θ 1, 1046 a.

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mögen zu besitzen, nicht ausreicht. Ein nasses Stück Holz ist ein potentiell trockenes Stück Holz. Ein trockenes Stück Holz ist brennbar. Aber darum ist ein nasses Stück Holz noch keineswegs brennbar im Sinne der nächsten Möglichkeit. Es ist brennbar im Sinne einer entfernten Möglichkeit, nicht schlechthin.51 Innerhalb der Opposition von aktiven und passiven Vermögen kommt den aktiven im Hinblick auf Aktualisierungen die leitende Rolle zu, da es ohne aktive Vermögen überhaupt keine Aktualisierung von Vermögen geben kann. Das kann man sich wie folgt klarmachen: Gegeben sei eine Veränderung, die von A ausgeht und sich an B vollzieht. Diese lässt sich ganz wie in der Physik des Aristoteles als Einwirkung von A auf B im Sinne der causa efficiens verstehen. (PA) ‚A wirkt auf B ein‘. Für eine solche Veränderung ist zweierlei erforderlich, eine aktive Wirkpotenz in A und eine passive Leidenspotenz in B, nämlich das Vermögen, die Einwirkung von A zu empfangen. Ist eines von beiden nicht gegeben, kommt es zu keiner Veränderung. Aber erst A’s Akt aktualisiert B’s passive Potenz. Bleibt A’s Aktionsvermögen bloßes Vermögen, bloß potentiell, dann geschieht gar nichts. Deswegen sagt Aristoteles, dass aktives und passives Vermögen „in gewissem Sinn eines“ sind.52 Sie sind eines als die Pole eines Veränderungsvorgangs und zugleich als das, was einander ontologisch so zugeordnet ist, dass es zusammen eine bestimmte (Art von) Veränderung ermöglicht. Das ist vereinbar mit der und erklärbar durch die Dominanz des Aktiven über das Passive. Daraus folgt, dass das Zusammentreffen zweier passiver Vermögen für sich noch keine Veränderung auslösen kann. Dazu bedarf es eines Mediums, welches seinerseits aktual sein muss. So bedürfen die Sichtbarkeit und das Sehvermögen als zwei passive Vermögen des Mediums des Lichts, damit das Sichtbare tatsächlich gesehen wird, 53 wie auch ein Hammer nur dadurch das Eindringen eines Nagels in ein Brett bewirken kann, dass er selbst von einem Akteur geschwungen wird. So bettet Aristoteles seine kausale Analyse von Bewegung und Veränderung aus der Physik in die modale Analyse dieser Phänomene in der Metaphysik ein. Auf diese Analyse greift der ‚erste Weg‘ zurück. Er geht wiederum aus vom sinnenfälligen Phänomen der Bewegung. Was Bewegung ist, wird nun im Sinne der Metaphysik erläutert: „Alles Bewegte wird von etwas bewegt. Nichts nämlich wird bewegt, es sei denn, es besitzt das Vermögen zu dem, wohin es bewegt wird: etwas bewegt sich aber aktual. Bewegung ist nämlich nichts anderes als die Überführung von etwas vom Vermögen in den Akt: vom Vermögen kann aber nichts zum Akt geführt werden außer durch ein aktual Seiendes“.54  Vgl. Met. Θ 7, 1049 a.   Met. Θ 1, 1046  a 19 f. 53  Vgl. De Anima Β 7. 54   „Omne autem quod movetur, ab alio movetur. Nihil enim movetur, nisi secundum quod 51

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Damit sichert sich Thomas zwei Prämissen: (1) Nicht alles Seiende ist aktual Seiendes; sonst gäbe es keine Bewegung. (2) Bewegung ist etwas Aktuales und muss von etwas aktual Seiendem ausgehen; sonst gäbe es keine Bewegung. Da aber nun ferner gilt, dass nichts durch sich selbst bewegt sein könne, da andernfalls ein und dasselbe in derselben Hinsicht zugleich potentiell und aktual wäre – was unmöglich ist –, gilt, dass in einer aktualen Bewegung Bewegendes und Bewegtes verschieden sein müssen, und sei es nur verschieden hinsichtlich der Quelle des Tuns und des Erleidens. So kann der heilkundige Arzt nicht nur andere heilen, sondern auch sich selbst, aber nicht sofern er nur Arzt, sondern sofern er auch krank ist.55 Das potentiell Bewegte, das Bewegliche, wird nur dann aktual bewegt, wenn das Bewegende selbst aktual ist, sei es als Wirkursache, sei es als Zielursache. Wirkursachen bringen etwas in Bewegung, indem sie einen Anstoß dazu geben, also das Bewegte motivieren; Zielursachen, indem sie das Bewegte anziehen bzw. attrahieren. Wirkursachen müssen aktual sein. Bloß potentielle Wirkursachen bringen nichts in Bewegung. In gewisser Weise gilt dies auch für Zielursachen, indem nämlich entweder eine aktuale Repräsentation des Bewegungsziels gegeben sein muss, weil nur ein aktual repräsentiertes Ziel motivierende Kraft entfalten kann, oder das Ziel die volle Aktualisierung einer Form ist, die als noch nicht entwickelte schon aktual ist. Für eine aktuale Bewegung braucht es also ein aktual Bewegendes und ein Bewegliches, welches aktual existiert, zugleich aber Träger nichtaktualisierter Vermögen ist, da ja Bewegung Aktualisierung eines Vermögens ist. Sind daher an einem Seienden alle Vermögen tatsächlich aktualisiert, dann ist es unbeweglich und unveränderlich. Eben dies ist die aristotelische Charakterisierung Gottes. Ebenso wenig aktualisiert sich aus den genannten Gründen aber eine bloße Potenz als solche. Im ganz und gar aktual Seienden kommt jede Bewegung zur Ruhe; das bloß in Potenz Seiende ist aktual nichts und bewegt sich nicht. In jeder aktualen Bewegung treffen daher Aktuales und Potentielles auf je passende Weise zusammen, nämlich gemäß der natürlichen Ordnung der Bewegung, des Bewegenden und des Beweglichen. Thomas betrachtet hier wie schon in der Summa contra gentiles diesen Ordnungszusammenhang, aber nun nicht vorrangig im Hinblick auf die Verkettung von Wirkursachen und Effekten, sondern im Hinblick auf die Fügung des Aktualen und Potentiellen. Dabei ergibt sich folgende Betrachtung: Jede wirkliche Bewegung ist nicht allein selbst aktual,56 sondern geht auch von etwas Aktualem aus. Nun ist jedes est in potentia ad illud ad quod movetur: movet autem aliquid secundum quod est actu. Movere enim nihil aliud est quam educere aliquid de potentia in actum: de potentia autem non potest aliquid reduci in actum, nisi per aliquod ens in actu”. (STh I, q.  2 a.  3, c) „Movetur” kann auch medial übersetzt werden, als „sich bewegen”. Für das Argument macht das der Sache nach keinen großen Unterschied. Vgl. aber te Velde 2006, S.  58 f. 55   Met. Δ 12, 1019 a. 56  In Met. Θ 6, 1048 b unterscheidet Aristoteles zwei Arten von Akten, kinesis und energeia. Letztere ist reiner Akt und daher zu jeder Zeit schon in sich vollendet. Als Beispiele

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aktual Seiende aber das, was es ist, und so, wie es ist, als Aktualisierung einer Potenz. Jedes aktual bewegte Seiende ist ein potentiell bewegtes Seiendes gewesen. Aktualisiert ist es durch ein weiteres aktual Seiendes. Auch für diesen Zusammenhang muss die oben angestellte Überlegung gelten, dass darin notwendig Aktualität und Potentialität zusammenkommen. Diese Überlegung führt zu zwei Extremen, die als erste Quellen und in diesem Sinne als erste Ursachen aller Bewegung angesehen werden müssen: zum einen zu einer reinen Aktualität, die als erste Quelle von Aktualisierung keinerlei bloße Potenz an sich hat, zum anderen zu einer reinen Potentialität, an der nichts Aktuales ist. Ersteres nennen wir, so Thomas, Gott, letzteres die Erstmaterie (materia prima).57 Gäbe es keine Erstmaterie, dann gäbe es keine Bewegung, weil nichts Bewegliches und Veränderliches existierte, das von etwas bewegt werden könnte. Gäbe es nicht Gott, also die reine Aktualität (actus purus), dann gäbe es keine Bewegung, weil es keine Quelle der Aktualisierung von Potenzen gäbe. Dies ist das Argument, welches Thomas als den ersten Weg zur Erkenntnis, dass Gott existiert, bezeichnet. Die übrigen vier Wege beleuchten bestimmte Aspekte dieses implikationsreichen Gedankengangs näher. Fassen wir ihn noch einmal zusammen: (1) (2) (3) (4)

Es gibt Bewegung. Jede Bewegung ist die Aktualisierung einer Potenz. Potenzen werden nur durch Aktuales aktualisiert. Gäbe es kein rein potentiell Seiendes, also keine Erstmaterie, dann gäbe es keine Bewegung. (5) Die Erstmaterie existiert. (6) Gäbe es nur die Erstmaterie, dann gäbe es keine Bewegung. (7) Es ist notwendig, dass ein rein aktual Seiendes existiert. (8) Ein rein aktual Seiendes ist notwendig immateriell. (9) Ein rein aktuales, immaterielles Seiendes nenen wir Gott. (10) Gott existiert. nennt Aristoteles das Sehen, die Überlegung und das Denken. Im Kontrast dazu ist kinesis eine Bewegung, die zu etwas Aktualem hinführt und daher nicht reiner Akt ist, sondern etwas Potentielles in sich enthält, nämlich die Vollendung bzw. den Abschluss der Bewegung. Als Beispiele führt Aristoteles das zielgerichtete Fasten, das Bauen eines Hauses und das Lernen von etwas Bestimmtem an. Diese Bewegungen haben ihr Ziel nicht in sich, sondern in einem davon Verschiedenen, und aktualisieren sich gänzlich erst im Erreichen dieses Ziels, in dem sie zugleich zur Ruhe kommen. Werden sie zuvor unterbrochen, gelangen sie nicht zur vollen Aktualität tatsächlichen Fastens, Bauens oder Lernens, sondern verbleiben in der Potentialität eines Fast-, Bau- oder Lernversuchs. Auf diesem Kontrast beruht die für die Handlungstheorie der Nikomachischen Ethik so zentrale Unterscheidung von poiesis und praxis. Diese Komplikation ist aber für den thomistischen Zugang zur Natürlichen Theologie ohne Belang. 57   Indem Thomas später zu zeigen unternimmt, dass auch die Erstmaterie von Gott geschaffen ist, reduziert er diese zwei ersten Ursachen auf eine. Vgl. STh I, q.  44 a.  2. Dieser Versuch muss uns hier noch nicht beschäftigen.

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So wird aus dem metaphysischen Begriff der Bewegung als Aktualisierung einer Potenz die Existenz sowohl der Materie als reiner Potentialität als auch Gottes als reiner Aktualität entwickelt. In (1) und (2) ist damit schon alles angelegt, was Thomas auf dem ersten Weg benötigt. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass den beiden Extremen der Potentialität und der Aktualität vollkommen konträre Bestimmungen zukommen müssen. Der Pol der Materialität muss frei von jeglicher Aktualität und jeder Form gedacht werden, da es sich um das Prinzip reiner Bestimmbarkeit, reiner Potentialität handelt. Damit dies sein kann, muss es sich um rein passive Potenzen handeln. Materie als solche kann daher kein agens sein und keine formende Kraft besitzen, da es ansonsten hinter der Materie noch ein tiefer liegendes Prinzip passiver Potentialität geben müsste, welches sich mit einem Prinzip aktiver Potentialität zu Materie vereinigte. Damit wäre aber lediglich ein unnötiger Regress etabliert, indem ein ontologisch noch basaleres passives Prinzip als die Erstmaterie etabliert wäre. Ontologisch betrachtet spricht daher alles dafür, die Erstmaterie als reine und damit passive Potentialität anzusehen. Deswegen kritisiert Thomas scharf die These des David von Dinant, der „höchst töricht“ (stultissime) 58 die Erstmaterie mit Gott identifiziert, als eine Position, die nicht bloß theologisch eine Häresie, sondern auch wegen des benannten Regressproblems philosophisch unhaltbar sei. Auf der anderen Seite muss der Pol der Aktualität frei von jeglicher Potentialität sein. Daher ist er notwendig als immateriell zu denken, da Materie ihrem Wesen nach veränderlich und damit immer potentiell etwas anderes ist als das, was sie je aktual ist. Nur als ganz und gar Immaterielles kann die reine Aktualität das sein, was sie sein muss, nämlich als reine Form. Als solche muss sie ganz und gar einfach und frei von jeglicher Zusammensetzung sein, da jegliches Zusammengesetzte teilbar und damit potentiell etwas anderes ist, als was es aktual ist.59 Daraus zu schließen, dass Gott als reine Aktualität ein bloßes ens rationis sein muss, wäre ein materialistischer Fehlschluss. Wäre der Schluss zulässig, so eine Pointe der ontologischen Argumentation, dann wäre das Phänomen der Bewegung für uns letztlich unbegreiflich. Wir könnten nämlich Bewegung nicht mehr auf ihre ersten Prinzipien zurückführen und müssten die Erklärung vorher abbrechen, und zwar bei solchen Bewegungen, bei denen Bewegliches von Bewegtem bewegt wird. Auf diese Weise bliebe jede Bewegungserklärung fragmentarisch. Allerdings ist das Argument des ersten Weges rein formalontologisch. Es erlaubt, das Sein Gottes als reiner Form vom Sein der bloßen Materie und vom Sein des aus Materie und Form bestehenden Seienden zu unterscheiden. Es erlaubt aber noch nicht, das Verhältnis dieser Seinsweisen zueinander zu bestim58   Ebd., q.  3 a.  8 , c. Für Bloch ist David von Dinant dagegen einer der Gewährsleute seines teleologischen Materialismus. Vgl. MP, S.  508 f. 59   STh I, q.  3 entfaltet in acht Einzelartikeln den Problemkomplex der Einfachheit und Unzusammengesetztheit Gottes.

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men. Ob Gott tatsächlich ein abgetrenntes Sein zukommt oder ob er bloß als für sich seiend gedacht wird, das ist an dieser Stelle noch nicht ausgemacht. Der erste Weg treibt das theologische Denken aus sich heraus weiter an. Der zweite Weg argumentiert ausgehend vom Problem der Wirkursachen und kommt damit dem Hauptstrang der Argumentation in der Summa contra gentiles am nächsten. Doch verzichtet Thomas hier auf den problematischen Zug, das Gesamt aller kosmischen Bewegungen als eine einheitliche Bewegung aufzufassen und analog zu endlichen Einzelbewegungen zu beschreiben. Stattdessen wird nun wie folgt gedacht: Jede Bewegung hat eine Wirkursache, so dass gilt, dass es ohne diese auch den Effekt, also die Bewegung, nicht gäbe. Auch kann, wie später Caterus und Descartes übereinstimmend behaupten, nichts Wirkursache seiner selbst (causa sui) sein. Bewirkendes und Bewirktes müssen also verschiedene Entitäten sein. Nun hat diese Ursache ihrerseits auf die eine oder andere Weise eine Wirkursache, für die Gleiches gilt, so dass folgt: Die erste Wirkursache (causa prima) eines bestimmten Effektes bewirkt das Eintreten eines Mittleren (medium), welches einerseits schon Wirkung (effectus), andererseits aber Wirkursache (causa media) eines Letzten (ultimum) ist. So ist der Vater als Zeugender wirkende (Mit-)Ursache seines Kindes. Dieses wiederum ist Wirkursache all dessen, was es unmittelbar handelnd und sich bewegend in der Welt bewirkt, und zwar jeweils nächste Ursache (causa pro­ xima). Aber die (Mit-)Ursache dafür, dass das Kind überhaupt die Welt wirk­ ursächlich beeinflussen kann, ist sein Vater; dieser ist damit causa media der Handlungen des Kindes. 60 Sucht man in dieser Kette nach einer Erstursache, so wäre dies – relativ dazu – der erste Mensch bzw. das erste Menschenpaar. Gäbe es die Erstursache nicht, dann ceteris paribus auch nicht die ersten, mittleren und letzten Wirkungen. Doch warum sollte das ein Argument gegen eine unendliche Kette von Wirk­ ursachen sein? Thomas scheint hier zu sagen, dass eine solche Kette deswegen unmöglich ist, weil es darin keine ersten Ursachen gäbe. Aber das scheint eine petitio principii zu sein, ebenso wie Kants Argument zur Begründung der Thesis der dritten Antinomie der reinen Vernunft, dass keine Kausalkette ohne Erstursache vollständig sein könne. 61 Warum sollte man nicht erwidern, dass eine solche unendliche Kette zur Vergangenheit hin sehr wohl als vollständig angesehen werden dürfe und lediglich zur Zukunft hin unabgeschlossen? Dazu muss man allerdings begreifen, dass Thomas mit Aristoteles quantitative Un60   Dass diese Betrachtung nur eine vereinfachte Skizze wirkursächlicher Zusammenhänge sein kann, muss vielleicht nicht eigens erwähnt werden. Je nach Ausrichtung und Feinkörnigkeit der Fragestellung kann die Angabe der causa proxima einer Veränderung variieren. Dieses Problem kann hier vernachlässigt werden. Obendrein ist die Darstellung rein ontologisch ausgerichtet; die ethische Frage, inwiefern und in welchem Umfang z. B. Eltern für die Handlungen ihrer Kinder (mit-)verantwortlich sind, ist damit noch nicht berührt. Ohne eingehende ontologische Untersuchung ist diese Frage nicht zu beantworten. 61   KrV, B 474.

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endlichkeit (nur um solche geht es ja hier) für notwendig bloß potentiell hält, ein aktual quantitativ Unendliches dagegen für unmöglich. Eine zur Vergangenheit hin unendlich offene wirkkausale Kette kann daher aus seiner Sicht nur eine potentielle Kette sein. Gibt es keine aktuale erste Ursache, dann kann demnach die ganze Kette nicht aktual sein. Das scheint auf den ersten Blick der argumentative Kern des zweiten Wegs zu sein. Will man das Argument aber nicht auf die zumindest bestreitbare These gründen, dass aktuale quantitative Unendlichkeit nicht möglich ist, 62 dann kann man dazu noch einmal auf das ehrgeizige Beweisziel der Summa contra gentiles zurückkommen, die Notwendigkeit einer Erstursache unter Voraussetzung einer ewigen Welt zu zeigen. Daraus ergibt sich eine tiefere und zugleich ontologisch robustere Lesart des zweiten Weges. Denn hier ist unterstellt, dass die Welt als solche keinen Anfang hat, also schon unendlich lang existiert. Dennoch will Thomas dort mit Aristoteles zeigen, dass Bewegung in einer solchen Welt eine schlechthin erste Ursache benötigt. Es gibt keinen Hinweis, dass Thomas selbst die Durchführbarkeit einer solchen hypothetischen Beweisführung in der Summa Theologiae in Zweifel zöge, da er im Gegenteil betont, dass die anfängliche Erschaffenheit und Nichtewigkeit der Welt als Schöpfung nicht beweisbar sei, sondern lediglich im Glauben angenommen werde. 63 Daraus ergibt sich folgende über den bloßen Wortlaut des zweiten Weges in einigen Punkten hinausgehende, aber den Zusammenhang zwischen erstem und zweitem Weg erhellende Überlegung: Wirkursächliche Zusammenhänge sind aktuale Zusammenhänge. Eine Wirkursache ist, metaphysisch betrachtet, die Aktualisierung einer Möglichkeit, 62   Nur bestreitbar und nicht etwa nachweislich falsch ist diese These, weil die Behauptungen von Mathematikern und Philosophen in der Nachfolge Cantors, sie hätten das aktual Unendliche bewiesen, bei näherer Betrachtung etwas zu vollmundig sind. Die dort tatsächlich bewiesene Unendlichkeit fällt nämlich unter die aristotelische Definition des potentiell Unendlichen; ein aktual Unendliches wird daraus erst in der spekulativen Deutung. Vgl. dazu Stekeler-Weithofer 2008, Kap.  2.3, sowie Craig 2011. 63   STh I, q.  46 a.  2, c., handelt von der Unbeweisbarkeit der Schöpfung in der Zeit: „[…] quod mundum non semper fuisse, sola fide tenetur, et demonstrative probari non potest“. Q. 46 a.  1 c. handelt davon, dass auch die Ewigkeit der Welt nicht bewiesen werden könne. Auch Aristoteles widerlege lediglich die Kosmogonien des Anaxagoras, des Empedokles und Platons, nicht aber den Schöpfungsgedanken überhaupt. Brentano schreibt schon Aristoteles die These zu, dass Gott Schöpfer der Welt sei, wenn nicht als ihr Autor, so doch wenigstens als ihr Ordner und Erhalter, ferner als Urheber zumindest der menschlichen Vernunftseele; vgl. Brentano 1911, S.  76 ff. Johnson sieht Ross als denjenigen an, dem die vollständige Wider­ legung dieser These gelungen sei; vgl. Ross 1924, S.  cxlix sowie Johnson 2005, S.  259. Zu ­Gunsten der Lesart Brentanos ließe sich aber wohl mehr anführen, als Johnson anerkennt. In jedem Fall entspricht diese Deutung ziemlich genau der Auffassung des Aquinaten: Dass Gott Schöpfer der Welt einschließlich der Erstmaterie ist, lässt sich sola ratione einsehen. Dass der Schöpfungsakt den Anfang der Zeit markiert, lässt sich nicht so zeigen und einsehen, sondern muss geglaubt werden. Ich danke Rolf Schönberger für sein Insistieren auf Präzision in diesem Punkt.

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und zwar deswegen, weil sie selbst etwas Aktuales und Tätiges ist. Nur wirkliche Hitze verursacht einen Brand, und nur durch einen tatsächlichen Zeugungsakt entsteht ein Kind. Nun ist alles bewirkte Aktuale selbst durch etwas anderes Aktuales aktualisiert, für das jeweils Gleiches gilt. Es kann aber auch keine wechselseitige Wirkkausalität geben, da Wechselursachen und Wechselwirkungen letztlich zum Problem der Selbstverursachung zurückführen. Das zeigt sich wie folgt: Seien A und B zwei in Wechselwirkung erzeugte Entitäten. A bringt demnach B ins Sein; B aktualisiert sich durch A. Nun ist aber A deswegen ein aktual Seiendes, weil es durch B aktualisiert wird. Das heißt, dass B schon aktual sein muss, bevor es durch A bewirkt wird. Das bringt nicht nur ein Problem der Zeitordnung mit sich, da Wirkungen nach oder allenfalls gleichzeitig mit ihren effizienten Ursachen eintreten können, nicht aber davor. Es bringt auch ein Modalitätsproblem mit sich. Denn indem A B aktualisiert, aber auch durch B aktualisiert wird, aktualisiert A sich selbst, nämlich mit B als causa media. Nach Voraussetzung gilt das Gleiche aber für B, für das A nun causa media der Selbstverursachung ist. Ist umgekehrt Selbstverursachung unmöglich, dann kann es auch keine wechselseitige Verursachung geben. Daran würde es auch nicht das Geringste ändern, wenn man weitere mittlere Wirkursachen C, D, etc. einführte. Eine solche Vergrößerung des Zirkels würde das Problem lediglich verbergen, nicht aber lösen. 64 Daraus folgt, dass effiziente Ursachen wirkkausal unabhängig von ihren Effekten sein müssen. Im Hinblick auf ihre Modalität heißt das, dass eine Wirkursache A nicht deswegen aktual ist, weil ihr Effekt B aktualisiert wird, sondern wirkkausal unabhängig von B. Nur so kann sie aktualisierende Ursache von B sein. Ist nun A nur deswegen aktual, weil das in potentia seiende A aktualisiert worden ist, dann bedarf es dazu einer weiteren, von A und B gleichermaßen wirkkausal unabhängigen Ursache, etc. Warum kann nun dieser Regress nicht in infinitum weiterverfolgt werden? Warum sollten effiziente Ursachen und Effekte sich nicht als Aktuales und Aktualisierendes ablösen, so dass zu jeder Zeit gelten würde, dass potentiell Seiendes durch aktual Seiendes aktualisiert würde? Immerhin geht Thomas in dieser Überlegung ja, wie wir unterstellen, von einer ‚äonischen‘, zeitlich unbegrenzten Existenz der Welt und der kosmischen

64  Vgl. SG I 13. Diese Überlegung, deren Geltung Oppy übrigens bestreitet (vgl. Oppy 2006, S.  100), ohne die aus diesem Zug folgenden ontologischen Schwierigkeiten zu würdigen, zeigt auch, warum Analysen des Organismus- und Lebensbegriffs in Termini von Wechselursachen und -wirkungen wesentlich unvollständig sein müssen. Damit die Einzelorgane als Teile eines ganzen Organismus in funktionalen Zusammenhängen stehen und einander wechselseitig erhalten können, müssen sie schon aktual existieren und sich entwickeln. Die kausalen Wechselbeziehungen zwischen den Organen allein können das nicht erklären. Dazu bedarf es einer anderen, vom Ganzen her zu denkenden Kausalität, aristotelisch gesprochen einer causa formalis.

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Bewegung aus. 65 Aber keine endliche aktuale Wirkursache ist reine Aktualität. Jedes wirkende agens ist etwas teils aktual, teils potentiell Seiendes. Es ist vergänglich, und sein Wirkakt geht notwendig damit einher, dass es andere Potenzen nicht aktualisiert. Welche Potenzen jeweils aktualisiert werden und welche nicht, hängt immer auch von aktualen Umweltbedingungen ab, die von den endlichen Wirkursachen selbst ontologisch unabhängig sind, nicht zuletzt von der kosmischen Bewegung der Himmelskörper, z. B. der Sonne und des Mondes. 66 Und zwar handelt es sich dabei um Bewegungen, die ihrerseits zu jeder Zeit aktual sind. Eben dadurch sind sie Bedingungen der Aktualisierung endlicher, potentieller Bewegungen, nämlich solcher Bewegungen, die einen Anfang und ein Ende haben. Deswegen muss man auch diese Bedingungen als permantente Mitursachen vergänglicher Wirkkausalität ansehen. Es gibt in der Welt eine andauernde, aktuale Bewegung, ohne die es die potentiellen endlichen natürlichen Bewegungen und deren Aktualisierung durch nächste Wirkursachen nicht gäbe. Dass aber die kontinuierlich aktuale Bewegung der Himmelskörper existiert, erklärt sich nicht durch sich selbst – da die Himmelskörper rein materiell verfasst und daher keine Selbstbeweger sind –, 67 sondern bedarf der Erklärung durch eine Entität, die selbst rein aktual ist. Diese kann nicht wiederum ein Himmelskörper sein, sondern muss ein immaterielles Aktualitätsprinzip sein. Ein solches Prinzip aber nennt man nach Thomas Gott. So betrachtet liefert der zweite Weg ein kosmologisches Argument für die Existenz Gottes, und zwar aus der faktischen Notwendigkeit einer faktisch unbegrenzten aktualen Bewegung als ontologischer Bedingung der Möglichkeit der effizienten Verursachung endlicher Bewegungen. Dieses Argument ist eng an die entsprechenden theistischen Argumente des Aristoteles angelehnt. 68 Es mag jedem schwach erscheinen, der von einem Gottesbeweis den Nachweis verlangt, dass Gott in allen möglichen Welten existiert, da es lediglich relativ zu den faktischen Grundbedingungen unserer Existenz und der Seinsweise der uns empirisch zugänglichen Natur argumentiert. Obendrein scheint es auf veralteten Annahmen hinsichtlich der Eigenschaften und Vermögen von Materie zu beruhen, da es z. B. nicht von der Materie selbst innewohnenden Kräften  Vgl. STh I, q.  10 a.  5 f. zum Unterschied zwischen der temporalen Unbegrenztheit der kosmischen Zeit, des Äons, und der atemporalen Ewigkeit Gottes. 66   Deswegen nennt Aristoteles an einigen Stellen die Bewegung der Sonne als Mitursache natürlicher Effekte wie der Entstehung eines Lebewesens, z. B. Met. L 5, 1071 a 15 f. Gemeint ist nicht, dass die Sonne genau wie die Eltern nächste Ursache der Entstehung eines Lebewesens wäre, sondern dass die Bewegung der Sonne und damit der Wechsel von Tag und Nacht sowie der Wechsel der Jahreszeiten eine faktische Grundbedingung der Existenz, des Entstehens und Vergehens von Leben in dieser Welt ist. 67   Selbstbeweger im erweiterten Sinn sind solche Wesen, die das Prinzip der Bewegung in sich selbst tragen, z. B. Lebewesen. Dieser Begriff ist vereinbar mit der aristotelischen These, dass nichts Seiendes im strengen Sinn Ursache seiner eigenen Bewegung ist. 68  Vgl. Physik Θ 7, Met. L 8. 65

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auszugehen scheint. 69 Aber dieser Eindruck täuscht. Der zweite Weg setzt gar nicht eine bestimmte und womöglich kontroverse oder veraltete physikalische Theorie der Materie voraus, sondern lediglich die robuste, phänomenal gesicherte Beobachtung, dass unbelebte Materie sich nicht spontan, d. h. ohne äußere Wirkursache, bewegt. Daher sollte man vorsichtig mit der Behauptung umgehen, dass die Planetenbewegung etwa durch die Keplerschen Gesetze erklärt werde, da diese Gesetze die Planetenbewegung gar nicht kausal erklären, sondern ihrer Form nach beschreiben. Daran ändert auch deren Reduktion auf allgemeine mechanische Gesetze durch Newton nichts Grundsätzliches.70 Dass es kontinuierliche und gleichförmige, gesetzmäßige aktuale kosmische Bewegungen gibt, kann Philosophen und Wissenschaftlern durchaus Anlass zum Staunen sein. Daher erscheint es auch fragwürdig, ob ein solches kosmologisches Argument tatsächlich schwächer ist als ein theistisches Argument, welches – wie das ‚ontologische‘ Argument Plantingas – über mögliche Welten quantifiziert.71 Thomas sieht das als Aristoteliker gerade umgekehrt: Ein philosophisches Argument, welches auf die richtige Weise von allgemeinen und unbestreitbaren Tatsachen ausgeht, ist in jedem Fall stärker und beweiskräftiger als ein Argument, welches allein nach logischen Gesetzen von gewissen Annahmen und ‚semantischen Intuitionen‘ ausgeht. Nicht ohne Grund fürchtet Plantinga, seine modale Rekonstruktion des ontologischen Arguments könnte als ein bloßer logischer Taschenspielertrick aufgefasst werden.72 In der hier vorgeschlagenen Rekonstruktion zeigt sich so der enge Zusammenhang des zweiten Weges mit dem ersten. Die wirkursächliche Betrachtung von Bewegung buchstabiert einen wesentlichen Aspekt des allgemeinen metaphysischen Gedankens auf dem ersten Weg näher aus. Eben deswegen bestätigt sich auch nicht der Verdacht, dass Thomas durch diese Beweisstrategie einen Hauptvorteil gegenüber einer anselmisch-cartesischen Argumentation verspiele. Der Verdacht gründet sich auf die oben gemachte Beobachtung, dass Descartes Gott nicht als Weltschöpfer ausweisen könne. Nun scheint es, als müsse Thomas mit seiner sehr viel stärker ontologisch fundierten Herangehensweise ebenfalls an dieser Aufgabe scheitern. Aber   Vgl. zur kontroversen naturphilosophischen Debatte über Naturkräfte Carrier 2009, Kap.  3. 70   Vgl. Stekeler-Weithofer 2005, S.  265 f. 71   Plantingas Argument beruht auf der Prämisse, dass maximale Vollkommenheit möglich ist; im Jargon der Lewisschen Modalsemantik: dass es eine mögliche Welt gibt, in der maximale Vollkommenheit instantiiert ist. Sie ist aber nur dann in einer möglichen Welt instantiiert, wenn sie in allen möglichen Welten instantiiert ist; ansonsten handelte es sich nicht um maximale Vollkommenheit. Daraus folgt, dass maximale Vollkommenheit notwendig instantiiert ist, da nach den Prinzipien der Lewis-Semantik notwendige Existenz als Existenz in allen möglichen Welten definiert ist. Das Resultat ist, dass mindestens ein Wesen mit maximaler Vollkommenheit notwendig existiert. Vgl. zur Kritik auch Mackie 1985, S.  97. 72   Vgl. Plantinga 2011, S.  453. 69

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dieser Eindruck täuscht. Denn auf dem Weg zu der Aussage, dass die voll ausbuchstabierte Schöpfungslehre ein bloßer Glaubensartikel sei, gelangt Thomas zu einer sehr viel umfassenderen und differenzierteren Kausalitätsauffassung, als sie Descartes auf der Stufe des methodischen Zweifels zur Verfügung stehen kann, und er kann daher die schöpferische Kausalität als creatio ex nihilo sehr viel deutlicher von anderen Kausalitätsformen unterscheiden. Schon allein deswegen hat die in sich negative Aussage von der Unbeweisbarkeit der Weltschöpfung am unvordenklichen Anfang der Zeiten einen präzise bestimmten Sinn, anders als Descartes’ etwas zu rasche Schlüsse auf den Umfang der göttlichen Kausalität. In der Zusammenfassung stellt sich der zweite Weg wie folgt dar: (1) Es gibt Bewegungen von Körpern. (2) Jede aktuale Bewegung hat eine aktuale Wirkursache. (3) Transitorische aktuale Bewegungen gehen von transitorischen Wirkursachen aus. (4) Transitorische Wirkursachen sind transitorische Bewegungen. (5) Transitorische Bewegungen sind von permanenten Bewegungen mitverursacht. (6) Permanente Körperbewegungen sind zu jeder Zeit aktual. (7) Ohne eine Erstursache gäbe es keine permanenten Bewegungen. (8) Die Erstursache ist unbewegt. (9) Die Erstursache ist immateriell. (10) Gott ist die erste Wirkursache aller vergänglichen und nicht vergänglichen Bewegungen. So gelesen erweist sich der zweite Weg als eine spekulative Induktion, die vom Gedanken der Aktualität der Wirkursachen von Bewegungen – (1) und (2) – zum Gedanken eines effizienten Kausalnexus übergeht – (3) und (4) –, es dabei aber nicht belässt, sondern auf die gestufte Zeitlichkeit wirkkausaler Zusammenhänge und die Notwendigkeit permanenter Bewegungen als notwendiger Mitursachen transitorischer Bewegungen ausgreift – (5) und (6) –, um von dort den induktiv notwendigen Schluss auf eine schlechthin erste Wirk- und Bewegungsursache zu ziehen, die sich im Lichte des ersten Weges mit Gott identifizieren lässt. Die Gelenke des Arguments sind das kosmologische Prinzip der Notwendigkeit permanenter Bewegungen für die Möglichkeit transitorischer (5) sowie das Prinzip der Notwendigkeit einer Erstursache für die Möglichkeit permanenter Bewegung (7). (5) erscheint als das prima facie am meisten angreifbare Element des zweiten Weges, da es bloß a posteriori, nämlich naturphilosophisch gerechtfertigt wird. Aber eben das ist zugleich seine große Stärke; hier zeigt sich besonders deutlich, dass die fünf Wege von der Welt und der Natur ausgehen, in der wir uns vorfinden. (7) dagegen erscheint im Lichte des ersten

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Weges gar nicht mysteriös oder petitiös, sondern ganz im Gegenteil als konsequente kausalitätstheoretische Spezifikation des Gedankens, dass jegliche Aktualität in einer ersten, reinen Aktualität gründen muss. (8) ist eine triviale Konsequenz des ersten Weges.

3.  Seinsordnung und Kontingenz Der dritte Weg beginnt mit der Feststellung der Kontingenz des Beweglichen und Veränderlichen. Was entstehen und vergehen und sich während der Dauer seiner Existenz verändern kann, dessen Existenz ist kontingent, nicht notwendig.73 Damit ist kein Indeterminismus gemeint; auch die Veränderungen in einer durchgehend determinierten Welt wären im metaphysischen Sinn kontingent. Gemeint ist vielmehr, dass kontingent Seiendem keine innere Seinsnotwendigkeit innewohnt, so dass sein Nichtsein möglich ist. Thomas folgert daraus, dass ein solches Seiendes nur von begrenzter Seinsdauer sein kann und nicht immer existiert.74 Es kann also auch nicht sein, dass kontingent Seiendes auf kontingente Weise nicht aufhört zu existieren, etwa weil seine Existenz nicht durch eine äußere Ursache beendet wird. Vielmehr hat jedes kontingente und endliche Sein die erste Ursache seines Endes in sich, nämlich im Prinzip der Zusammensetzung aus Materie und Form, wenn auch auf unbestimmte Weise. Wichtiger als die zeitliche Begrenztheit des kontingenten Seienden hinsichtlich seiner Zukunft ist für den Beweisgang des dritten Weges aber seine Begrenztheit in der Vergangenheit. Alles dasjenige Seiende, dessen Nichtsein möglich ist, hat irgendwann einmal noch nicht existiert.75 Das heißt aber, dass es eine äußere Ursache gegeben haben muss, die für seine Existenz verantwortlich ist. Diese ist nun entweder selbst etwas Kontingentes, so dass sich die gleiche kausale Frage noch einmal stellt. Oder es handelt sich dabei um etwas Nicht-Kontigentes, also etwas Notwendiges. Und zwar muss es sich dabei um etwas in sich und damit unbedingt Notwendiges handeln, weil alles bedingt Notwendige die Quelle seiner Notwendigkeit nur in etwas schlechthin Notwendigem haben kann. Dieser Gedanke führt zur Idee eines in sich und damit schlechthin bzw. absolut Notwendigen. Also muss es etwas schlechthin bzw. absolut Notwendiges geben, weil andernfalls gar nichts existierte, also auch nichts Kontigentes.76 Es ist wichtig, die Form dieses Arguments richtig aufzufassen. Eine geläufige Kritik des dritten Weges besagt, dass hier ein Fehlschluss in Gestalt einer uner Vgl. KrV, Vierte Antinomie, B 480 ff.   In Übereinstimmung mit Aristoteles, vgl. Met. I 10, 1059 a. 75   „[…] quod possibile est non esse, quandoque non est“ (STh I, q.  2 a.3). 76   Vgl. Cramer 1967, S.  15–22. 73

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laubten Quantorenverschiebung (quantifier shift fallacy) vorliege. 77 So werde aus ‚Jedes kontingent Seiende hat zu einer bestimmten Zeit noch nicht existiert‘ auf ‚Es hat eine bestimmte Zeit gegeben, zu der noch nichts existiert hat‘ geschlossen. Die gleiche Schlussform liege vor, wenn von ‚Jedes kontingent Seiende hat eine notwendige Ursache‘ auf ‚Es gibt genau eine notwendige Ursache für alles kontingent Seiende‘ geschlossen werde. Beides wären klare Fehlschlüsse; die Konklusionen folgen nicht aus den Prämissen. Allerdings sollte dem Kritiker auffallen, dass Thomas die genannten Konklusionen für sein Argument gar nicht benötigt, weder die These, dass es eine Zeit gegeben hat, zu der noch nichts Kontingentes existiert hat – da er im Gegenteil seiner Argumentation die Annahme einer ungeschaffenen Welt zu Grunde legt –, noch die These, dass es eine unmittelbare Ursache für alles Kontingente geben muss. Vielmehr ist das erste Teilargument kontrafaktisch zu lesen: Gäbe es nur Kontingentes, dann hätte es zu einer gewissen Zeit nichts gegeben, und damit könnte auch heute nichts existieren. Nun existiert heute aber Kontingentes. Also kann nicht alles Seiende kontingent sein.78 Es ist richtig, dass sich diese erste Prämisse des Arguments nicht von selbst versteht. Das kann aber auch heißen, dass der Kritiker das Argument insgesamt noch nicht verstanden hat. Hinsichtlich des zweiten Teilarguments ist zu beachten, dass Thomas keineswegs so rasch auf eine einzige notwendige Ursache von allem Kontingenten schließt, wie der Kritiker unterstellt. Er gelangt dorthin vielmehr über eine gestufte Überlegung, die schließlich zum Begriff eines einheitlichen schlechthin Notwendigen führt. Diese gilt es zunächst einmal zu rekonstruieren. Die These, dass alles Kontingente vergänglich ist und dass alles Vergängliche irgendwann einmal entstanden sein muss, ist ein ausgesprochen plausibles ontologisches Theorem. Denn dass etwas kontingent ist, heißt schon, dass es nicht notwendig ist, d. h. dass es sein, aber auch nicht sein kann. Das wiederum heißt, dass es den zureichenden Grund seiner Existenz nicht in sich selbst hat, sondern in einem ihm Äußerlichen, ganz gleich ob es sich dabei um einen einfachen Seinsgrund oder um ein Syndrom verschiedener existenzrelevanter Gegebenheiten handelt.79 Dieses Äußerliche ist ihm Seinsbedingung. Ist diese Bedingung aus irgendeinem Grund nicht mehr erfüllt, dann hört das kontingent Seiende auf zu existieren. Genau das ist aber gemeint, wenn man das Kontingente vergänglich nennt. 77   Kenny 1969, S.  343 ff.; ebenso Oppy 2006, S.  99, und Kreiner 2012, S.  343 f. Viele Kritiker meinen, dass Thomas auch auf dem zweiten Weg auf analoge Weise die Quantoren verschiebe. Bochen´ski schließt sich diesem Vorwurf nur hinsichtlich des dritten Weges an; vgl. Bochen´ski 2003, S.  63. Gegen beides argumentiert aber Mackie 1985, S.  142. In meiner Rekonstruktion des Arguments kann der Eindruck einer Quantorenverschiebung nicht entstehen. 78   So argumentiert bereits Aristoteles; vgl. Met. L 10, 1075 b 24–27. 79   Vgl. Cramer 1967, S.  47 ff. Oppy versteht die These dagegen in Termini der MöglicheWelten-Semantik; vgl. Oppy 2006, S.  104 ff.

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Nun ergeben sich zwei miteinander zusammenhängende Fragen: (1) Warum sollte alles Vergängliche auch tatsächlich irgendwann vergehen? (2) Warum sollte alles Vergängliche entstanden sein? Offenkundig ist hier keine einfache Antwort möglich, sondern man muss zwischen kontingenten Einzelnen – einem bestimmten Ahornblatt, einem bestimmten Menschen, einem bestimmten Staat – und kontingenten Allgemeinheiten – Ahornbäumen und ihren Blättern im Allgemeinen, der Menschheit als Gattung, Staatlichkeit – unterscheiden. Zu (1) ließe sich entsprechend fragen, warum es nicht möglich sein sollte, dass etwas einzelnes Vergängliches lediglich faktisch nicht aufhört zu existieren, weil seine kontingente Seinsbedingung ebenfalls nicht aufhört, erfüllt zu sein. Es scheint ja, als gelte dies etwa für die Materie und ihre Bestandteile, also etwa für die chemischen Elemente, ohne Einschränkung. Kein Teil der Materie kann ein im ontologischen Sinne notwendig Seiendes sein, und doch ist es möglich, dass Materieteile de facto nicht aufhören zu existieren, anders als die komplexen Entitäten, zu deren materiellen Bestandteilen sie gehören. Es scheint, als seien die Teile der Materie ein wenn schon nicht kontingent Unvergängliches, so doch wenigstens ein nicht vergehendes Vergängliches. Aber Thomas geht wie mehrfach betont vom manifesten Phänomen einer sich bewegenden und verändernden Welt aus. Es ist nun jedoch gerade die Tatsache, dass die Welt sich kontinuierlich bewegt und verändert, die dafür sorgt, dass das Nichtvergehen auf die Materie als solche beschränkt bleibt und sich nicht auf das Sein der materiellen, d. h. aus Materie bestehenden sonstigen Entitäten ausdehnt. 80 Denn gerade die Kontinuität und Universalität der Bewegung in der physischen Welt sorgt dafür, dass auch die Seinsbedingungen des kontingent Seienden sich beständig verändern, so dass das kontingente Nichtvergehen des kontingent Seienden eine logische, aber keine reale bzw. ontologische Möglichkeit darstellt. Spiegelbildlich dazu ergibt sich zu (2), dass es außer den Teilen der Materie kein kontigentes unentstandenes Sein geben kann, da zu den Seinsbedingungen des Kontingenten auch seine Entstehungsbedingungen gehören, die Teil der universalen kosmischen Bewegung oder zumindest, wie die Materie, darein verwickelt sind. Denn gerade die Materie selbst gehört zu den kontingenten Seins- und Entstehungsbedingungen des Kontingenten. 81

80   Ein weiteres Entstandenes, aber womöglich Unvergängliches ist die menschliche Seele. Dass diese oder zumindest der nous, der nicht an körperliche Organe gebundene intellektuelle Teil derselben, nicht vergeht, dürfen wir, so Aristoteles, glauben und hoffen. Vgl. Met. L 3, 1070 a 24–27. 81   Es bestätigt indirekt die ontologische Validität des ‚dritten Weges‘, dass der Materialismus letztlich die Materie selbst zum ersten und notwendig Seienden machen muss. Wie oben in II deutlich geworden ist, bringt das für Materialisten wie Bloch eine systematische Schwierigkeit mit sich, insofern er als Materialist den universalen Determinismus ebenso zurückweisen möchte wie den universalen Indeterminismus. Es scheint, als könne man nach der Verabsolutierung der Materie nicht mehr umhin, zwischen diesen beiden Möglichkeiten zu wählen.

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Wiederholt man beide Fragen auf der allgemeinen Ebene der Existenz von Arten und Gattungen, natürlicher wie artifizieller, dann fällt die Antwort sig­ nifikant anders aus. Denn dass natürliche Arten, obwohl sie in gewissem Sinne zum Kontingenten gehören, nicht notwendig vergehen, scheint ebenso auf der Hand zu liegen, wie dass sie nicht notwendig entstanden sind, zumindest unter der Voraussetzung eines unentstandenen Kosmos. Darin unterscheiden sich natürliche Arten von artifiziellen, deren Entstandensein und Vergänglichkeit ontologisch plausibel gemacht werden kann. 82 Aus der These, dass Ahornbäume, die Gattung Mensch und vielleicht sogar Staaten im Allgemeinen zum Kontingenten gehören, folgt nicht, dass es eine Zeit gegeben haben muss, zu der es noch keine Ahornbäume, keine Menschen und keine Staaten gegeben hat, noch dass es eine Zeit geben muss, zu der es derlei nicht mehr geben wird. In diesem Sinne äußert sich auch Thomas selbst. 83 Schon das genügt, um zu zeigen, dass ihm hier keine unerlaubte Quantorenverschiebung unterläuft. Diese Betrachtung enthüllt zugleich den eigentümlichen ontologischen Doppelcharakter kontingenter Arten und Gattungen, die wechselseitige Abhängigkeit von Art und Exemplar. Denn einerseits gäbe es Arten und Gattungen nicht ohne das einzelne, materielle, kontingente Seiende, welches ihnen zugehört, die einzelnen Ahornbäume, Menschen oder Staaten. Kontingente Arten und Gattungen müssen buchstäblich materialisiert sein, um überhaupt zu existieren und sich als Arten und Gattungen zu erhalten; und eben als Materialisierung entsteht und vergeht das vergängliche Einzelne. Andererseits aber gäbe es die Exemplare als solche, d. h. als das, was sie sind, nicht ohne ihre Form, welche zugleich ihre Art- und Gattungszugehörigkeit definiert. Arten und Gattungen sind damit, zusammen mit der Materie, selbst Seinsbedingungen des je kontingenten Einzelnen als Exemplar eines Allgemeinen. Sie sind damit selbst ein erstes Notwendiges, nämlich notwendig für das Sein des Kontingenten. Allerdings handelt es sich hier nur um ein erstes, auf das Sein des Einzelnen bezogenes und damit relational Notwendiges. Dennoch zeichnet sich bereits ab, wie das Argument des dritten Weges zu verstehen ist. Der dritte Weg argumentiert nämlich für einen gestuften Begriff ontologischer Notwendigkeit. 84 Abgehoben wird dabei nicht auf Notwendigkeiten im 82   Für die Entstehung von Staaten versucht schon Aristoteles eine genealogische Herleitung, vgl. Pol. A 1. Dass einzelne Staaten vergehen können, ist eine menschheitsgeschichtlich immer wiederkehrende Erfahrung, in deren Licht der Gedanke, dass Staatlichkeit der uns bekannten Form insgesamt vergänglich ist, zwar nicht zwingend, aber auch nicht von vornherein abwegig erscheint. 83  Vgl. STh I, q.  46 a.  2, ad 4. Doch Kreiner gründet seine Kritk der tertia via eben auf diese Lesart; vgl. Kreiner 2012, S.  344. Er greift damit eine These an, die Thomas gar nicht vertritt. 84   Weil Oppy die Tiefenstruktur des Dritten Wegs nicht versteht, kann er meinen, das Universum als solches könnte mit dem Unbedingten identifiziert werden, das Bedingung alles Kontingenten ist: „[…] even the most demanding atheist could agree that the physical universe is a necessary being that does not owe its necessity to anything else […].“ (Oppy 2006,

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V.  Naturerkenntnis und spekulative Theologie

Sinne der Wirkkausalität. Die wirkkausale Seinsbetrachtung ist Thema des zweiten Weges, und der dritte Weg ist davon logisch distinkt. Hier geht es nicht um Verursachung, sondern um Bedingtheit. Die erste Seinsnotwendigkeit ist die der Artzugehörigkeit jedes kontingent Seienden. Denn um überhaupt zu existieren, muss alles kontingent Seiende etwas Bestimmtes sein, eine bestimmte Form haben und damit einer bestimmten Art zugehören. Arten und damit auch Gattungen sind Seinsbedingungen des kontingenten Einzelnen. Damit sind sie selbst – relativ zur Existenz des kontingenten Einzelnen – nichts schlechthin Kontingentes, sondern notwendig, wenn auch nicht in einem davon unabhängigen, absoluten Sinn. 85 Damit ist eine Teilantwort auf die Frage gegeben, warum nicht alles Seiende kontingent sein kann. Um eine Teilantwort handelt es sich deshalb, weil Arten und Gattungen ihrerseits kontingent und vergänglich sind, d. h. vergehen können, wenn auch nicht müssen. Sie sind in ihrer Existenz ihrerseits von etwas anderem abhängig, von spezifischen und generischen Seinsbedingungen. Dazu gehört die Existenz anderer Arten und Gattungen, d. h. deren Koexistenz mit einer je fraglichen Art oder Gattung, z. B. in einem Biotop oder als Glieder einer Nahrungskette. Dazu gehören aber auch andere, allgemeinere Seinsbedingungen, z. B. physikalischer, chemischer oder klimatischer Art, die im Detail zu erforschen Aufgabe der Naturwissenschaften ist. Eine grundlegende generische Seinsbedingung kontingenter Arten überhaupt ist die Materie als solche, die als schlechthin allgemeine Seinsbedingung des Kontingenten eine überragende ontologische Bedeutung hat. So wird zugleich verständlich, warum der Materialismus als ontologische Position von der Antike bis zur Gegenwart attraktiv erscheinen konnte. Aber die Materie ist ihrerseits bloß potentiell etwas Bestimmtes, und deswegen kann sie nicht das einzige grundlegend Notwendige und damit auch nicht die einzige allgemeine Seinsbedingung des Kontingenten sein. Hinzu kommen muss ein Prinzip der Form, und das kann nicht wiederum die Materie sein. Gesucht ist vielmehr das, was in der Tradition die ‚Form der Formen‘ (forma formarum) genannt worden ist, eine Quelle der Formen und der formalen Notwendigkeit, die selbst nur Form sein kann. Denn nur von einer Form geht formende Kraft aus. Nur eine solche kann grundlegend und nicht bloß relativ notwendig existieren, und zwar weil ihr Sein von keinem anderen Sein mehr abhängt, nicht mehr unter einer ihr äußerlichen Seinsbedingung steht. Eine solche Form der Formen bezeichnet Thomas in Übereinstimmung mit Aristoteles als S.  106) Diese einem Atheisten womöglich willkommene Schlussfolgerung ist aber überhaupt nicht zu rechtfertigen, wenn die hier vorgestellte Rekonstruktion des dritten Wegs richtig ist. 85   An dieser Einsicht blamiert sich jeder nominalistische Konstruktivismus, der annimmt, dass Arten und Gattungen nichts anderes sind als von uns konstruierte Sammelbegriffe oder gar rein theoretische Konstrukte. Wenn einzelne Gegenstände etwas Wirkliches mit einer realen Beschaffenheit sind, dann a fortiori auch die jeweiligen natürlichen Arten und höheren Gattungen. Auch das impliziert das Argument des dritten Weges. Es schließt eine bestimmte Positionsnahme innerhalb des Universalienstreits ein.

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Gott. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Existenz Gottes hier zwar als unbedingte Notwendigkeit aufgezeigt wird, aber – im Sinne des gewählten Ausgangs von der Erfahrung – als notwendig für das aktuale Sein des Kontingenten und als erste Quelle aller bedingten Seinsnotwendigkeiten. Nicht gezeigt ist damit eine innere Seinsnotwendigkeit Gottes, wie sie der ‚ontologische‘ Gottesbeweis erstrebt, nämlich im Sinne einer inneren Unmöglichkeit der Nichtexistenz Gottes. Ob und inwiefern das eine Schwäche der gesamten aristotelischen Theologie bei Thomas ist, wird noch zu erörtern sein. Die Standardkritik am dritten Weg hat sich damit aber schon als haltlos erwiesen. In der Zusammenfassung stellt sich der dritte Weg so dar: (1) Alles bewegliche Seiende ist kontingent; seine Nichtexistenz ist möglich. (2) Die Existenz eines kontingenten Seienden ist von Bedingungen abhängig. (3) Ist die Erfüllung dieser Bedingungen kontingent, dann ist sie ihrerseits bedingt. (4) Zu den Existenzbedingungen des beweglichen Seienden gehören seine Materie sowie seine Form und Artzugehörigkeit. (5) Form und Materie sind kontingente Existenzbedingungen, d. h. abhängig von Bedingungen. (6) Die kontingenten Existenzbedingungen des beweglichen Seienden sind erfüllt. (7) Nicht alle Seinsbedingungen können kontingent sein. (8) Es gibt ein nichtkontingentes, d.  h. notwendig Seiendes, von dessen Existenz die des kontingenten Seienden ontologisch abhängt. (9) Ein notwendig Seiendes muss reiner Akt sein. (10) Das notwendig Seiende ist identisch mit Gott. Die Prämissen (1) bis (5) sind im Grunde unproblematische ontologische Thesen. Das gilt spziell auch für (4) und (5), die bei Kritikern der aristotelischen Ontologie und des ontologischen Essentialismus sicherlich die größten Bedenken wecken. Doch der Materie-Form-Gegensatz ist, wie immer man ihn auch formuliert, für keine Ontologie entbehrlich. Dazu unten mehr. Akzeptiert man aber diesen Kontrast oder auch eines seiner logischen Äquivalente, dann lässt sich der Gedanke der Kontingenz von Materie und Form kaum abweisen, und auch die moderne Naturwissenschaft geht von der Kontingenz der Materie, des materiell Seienden und der darüber waltenden Naturgesetze aus. Damit wird der Schluss auf ein nichtkontingent Seiendes aber unabweisbar. Problematisch mag die Indentifikation des notwendig Seienden mit Gott erscheinen. Zu bedenken ist hier aber, dass diese Identifikation im Lichte des ersten und zweiten Weges zu vollziehen ist. Verfügt man schon über den Begriff eines rein aktual Seienden, das erste Wirkursache alles Seienden ist, dann kann man daraus schon schließen, dass ein solches Seiendes auch das gesuchte unbedingte Bedingende

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V.  Naturerkenntnis und spekulative Theologie

alles kontingenten Seienden sein muss. Ein solches unbedingt Bedingendes kann mit der Tradition auch als Absolutes bezeichnet werden. Kein anderes Seiendes kann in gleicher Weise als unbedingte, absolute Bedingung des Kontingenten aufgefasst werden. Losgelöst von diesem Zusammenhang erschiene dieser Übergang nicht legitim. Diese Beobachtung unterstreicht noch einmal den nichtselbständigen, nachgeordneten Charakter des dritten Weges. Der vierte und fünfte Weg verfolgen den bis hierher entwickelten ontologischen Gedankengang weiter. Sie verlagern aber den Schwerpunkt der Betrachtung. Geht es im zweiten und dritten Weg um Fragen der Erstkausalität und des Verhältnisses von Kontingentem und Notwendigem, Bedingtem und Unbedingtem, so geht es nun um Fragen der Ordnung und Einheit des Seienden. Dabei ist der vierte Weg nichts anderes als das schon von Anselm im Monologion vorgetragene Argument aus der Seinsordnung als Vollkommenheitsordnung, welches zu der Konklusion führt, dass es ein höchstes Vollkommenes geben muss. Dieses müsse seinerseits auch als Grund (causa) aller geringeren Seinsvollkommenheiten begriffen werden. Anselm hat diesen Gedankengang nicht ins Ziel bringen können, weil es ihm nicht gelungen ist zu zeigen, dass das höchste Vollkommene zugleich Maßstab und Ursache des endlichen Seienden sein muss. Bei Thomas ist der gleiche Gedankengang durch seine Einbettung in das Gesamt der fünf Wege von vornherein entlastet. Es muss gar nicht gezeigt werden, dass ein transzendentes Gutes Ursache alles immanent Guten ist, da die Frage nach der Erstursächlichkeit, der reinen Aktualität und der unbedingten Notwendigkeit Gottes durch die vorangegangenen drei Argumente bereits beantwortet ist. Stattdessen kehrt Thomas gegenüber Anselm die Begründungsordnung um: Der vierte Weg soll erhellen, dass Gott als Erstursache, reine Aktualität und als schlechthin notwendiges Wesen zugleich alle Seinsvollkommenheiten in sich vereinigen, dass er also „das wahrste, beste und edelste“ Wesen sein muss.86 Diese Begründung fällt Thomas nach dem dritten Weg nicht mehr schwer: Wenn Gott als reine Form die Quelle aller immanenten Formen ist, dann muss er auch die Quelle aller immanenten Vollkommenheiten sein, weil Vollkommenheit (perfectio) nichts anderes ist als die vollständige Aktualisierung einer Form. Welche Vollkommenheiten von Gott ausgesagt werden müssen, ist damit aber auch schon ex negativo klar. Es kann sich nicht um solche Vollkommenheiten handeln, die dem materiellen Sein eigentümlich sind. In Gott ist also weder Potentielles noch Quantitatives wie Zusammensetzung, Ausdehnung oder Gewicht noch materiell Qualitatives wie Gestalt oder Farbe. Letztlich führt diese Betrachtung zu der Doktrin, dass Gott keinerlei Akzidenzien zukommen, sondern dass er alles, was er ist, substantiell ist. 87 Neben dem reinen aktualen Sein als erster und grundlegender Vollkommenheit können ihm   „Verissimum, et optimum, et nobilissimum“ ; STh I, q.  2 a.  3.  Vgl. STh I, q.  3.

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dann nur geistige Vollkommenheiten eigen sein, nämlich Wissen (Gott ist die Wahrheit und allwissend), Macht (im Unterschied zu physischer Kraft) und Güte des Willens.88 Nur so kann er das beste und edelste Seiende sein. Damit kann Thomas mit Aristoteles89 zeigen, dass die erste Ursache und das erste Bewegende alles bewegten und kontingenten Seienden nicht allein eine einzige im Sinne des Monotheismus sein muss, sondern eine schlechthin vollkommene geistige Wesenheit im Sinne des Theismus. Erst danach kann Thomas die Perspektive umkehren und argumentieren, dass alles Gute in der Welt, angefangen mit deren Existenz als solcher, sich der Macht und Güte Gottes verdankt, die sich in der Schöpfung als einem Emanationsgeschehen allem endlichen Seienden in der ihm gemäßen Proportion mitteilt.90 In den fünf Wegen wird dagegen wie schon bemerkt noch unabhängig von der vollen Schöpfungslehre argumentiert. Dennoch bleibt der Kerngedanke Anselms in modifizierter Gestalt bewahrt: In der Ordnung der Seinsvollkommenheiten kann es keinen infiniten Progress geben. Damit gelangt man zumindest zum Begriff eines schlechthin Vollkommenen; besser als schlechthin vollkommen zu sein ist logisch unmöglich. Wenn es nun ferner eine erste Ursache alles Seienden geben und wenn diese zugleich Quell alles Guten und Vollkommenen sein muss, dann muss diese selbst schlechthin vollkommen sein, und damit wäre klar, dass der Begriff eines schlechthin Vollkommenen nicht leer ist. Aus der Idee einer ontologischen Stufung von Vollkommenheiten allein ist diese Konklusion allerdings nicht zu gewinnen, wie oben ersichtlich wurde.91 Der vierte Weg lässt sich im Licht der hier entwickelten Interpretation daher so zusammenfassen:  Vgl. STh I, qq.  4 -6.  Vgl. Met. L 7 und 10. Johnson meint, dass Aristoteles hier nur die Existenz eines ersten Bewegenden zeige, nicht aber die Existenz Gottes; vgl. Johnson 2005, Kap.  9.3. Fraglich ist dann allerdings, wie Aristoteles behaupten kann, dass er auch die Einheit und Göttlichkeit des ersten Bewegenden gezeigt habe. Johnson schreibt dem gesamten theistischen Argument in Met. Λ nur geringe explanatorische Kraft zu; vgl. ebd., S.  263. 90  Vgl. STh I, q.  4 4 a.  1; q.  47 aa.  1–2; q.  49 a.  2. 91   Oben in III wurde bereits der Einwand angesprochen, dass die erste Ursache alles kontingenten Vollkommenen selbst anscheinend nicht zwingend als schlechthin vollkommen gedacht werden muss, sondern als lediglich komparativ vollkommen, nämlich vollkommener als alles Kontingente. Thomas kann darauf zweierlei erwidern: (1) Die erste Ursache alles Seienden und jeglicher Vollkommenheit kann nur etwas schlechthin Vollkommenes sein, da ein rein Aktuales etwas schlechthin Vollkommenes ist; vgl. STh I, q.  4 a.  1, c. Zum besseren Verständnis dieser These sei hinzugefügt, dass Satan kein rein aktuales Wesen ist, denn böse kann er nur dadurch sein, dass er das Vermögen, gut zu sein, besitzt. Vgl. ebd., q.  63. (2) Da Gott reine und unendliche Form ist, kann es in seinem Wesen keinerlei Grund für irgendeinen Mangel an Vollkommenheit geben, weder durch Materie, da Gott immateriell ist, noch durch einen formalen Mangel, z. B. ein intellektuelles Laster wie Hochmut (superbia) oder Neid (invidia); vgl. ebd., a.  2. Die zweite Erwiderung setzt allerdings schon eine weiter ausgearbeitete Theologie voraus und steht Thomas daher im Kontext der fünf Wege noch nicht zur Verfügung. 88 89

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(1) Alles Seiende ist mehr oder weniger vollkommen. (2) Die Seinsvollkommenheiten stehen in einer Vollkommenheitsordnung. (3) Es muss ein maximal Vollkommenes geben. (4) Das rein aktual Seiende, das erste Ursache und unbedingte Bedingung alles Seienden und seiner mehr oder weniger großen Vollkommenheit ist, ist selbst das maximal Vollkommene. (5) Gott ist das maximal Vollkommene. Der Kern des Arguments ist der schon von Anselm beanspruchte und von Thomas bestätigte Gedanke, dass Vollkommenheiten ein begriffliches Maximum kennen. Thomas schließt allerdings nicht so rasch vom Begriff eines maximal Vollkommenen auf die Notwendigkeit seiner Instantiierung. Dennoch kann er diesen Übergang an dieser Stelle vollziehen, gestützt auf die ersten drei Wege. Diese lassen den Gedanken zu, dass es etwas Vollkommeneres als ein rein aktual Seiendes, erstursächlich Wirksames und schlechthin Seinsnotwendiges nicht geben kann. Der Gedanke des schlechthin Vollkommenen lässt sich immer weiter anreichern, und Thomas tut das in seiner gestuften, zunächst negativen und dann affirmativen Theologie. Aber die Grundaussage ist schon hier möglich. Der fünfte Weg argumentiert mit der Lenkung (gubernatio) der Welt, genauer mit dem Phänomen der natürlichen Teleologie. Das Argument besagt, dass sich alle bewegten Gegenstände zielgerichtet und natürlich zweckmäßig bewegen, einschließlich solcher Wesen, die wie die Tiere nicht über Willens- und Entscheidungsfreiheit verfügen oder wie die Pflanzen jeglicher Kenntnisnahme ihrer Umwelt, etwa durch Wahrnehmung, entbehren.92 Und selbst für die unbelebten Körper gelte, dass sie „immer oder [zumindest] häufig auf eine solche Weise“ bewegt würden, „als folgten sie dem, was das Beste ist. Daraus erhellt, dass sie nicht zufällig, sondern aus Absicht ans Ziel gelangen“.93 Da sie selbst unfähig seien, eine solche Absicht zu formen, könne ihre Bewegung anscheinend nur dadurch erklärt werden, dass ihre Bewegung durch ein erkenntnisfähiges Wesen absichtlich ins Ziel gelenkt werde, „wie der Pfeil durch den Bogenschützen“.94 Da das Phänomen der teleologischen, gerichteten und zweckmäßigen Bewegung aber allgemein und allgegenwärtig ist, kann seine Ursache nichts Partikulär-Lokales sein, sondern muss selbst etwas Allgemeines, Allgegenwärtiges und Einheitliches sein, nämlich ein einheitlicher erster Beweger. 92   Vgl. aber oben, IV 2 zum Unterschied zwischen vegetabilischer Perzeption und animalischer Wahrnehmung. 93   „[…] corpora naturalia […] semper aut frequentius eodem modo operantur, ut consequantur id quod est optimum; unde patet quod non a casu, sed ex intentione perveniunt ad finem“. (STh I, q.  2 a.  3) 94   Ebd.  Vgl. dazu, insbesondere zu Missverständnissen dieser These, auch Müller 2006, Kap.  2. Ob allerdings die Unterschiede der Kinematik bei Aristoteles und Thomas hinsichtlich der Bewegung des Unbelebten tatsächlich so groß sind, wie Müller behauptet, muss hier dahingestellt bleiben.

3.  Seinsordnung und Kontingenz

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Auf den ersten Blick scheint dieses Argument insgesamt ebenso antiquiert und unattraktiv wie seine Prämisse, die einer durchgängigen Bewegungsteleologie. Scheint es doch, als werde hier natürliche Bewegung insgesamt in unpassender Weise an die Selbstbewegung des Lebendigen assimiliert, die allein teleologische Gerichtetheit aufweist.95 Daraus ergeben sich zwei für das Argument unangenehme Konsequenzen: Für die lebendige Natur scheint die Annahme einer externen Finalkausalität überflüssig, weil sich die Bewegungen eines Lebewesens, wie schon Aristoteles in De Anima zeigt, aus der Form derselben, aus der Seele und ihren Operationen erklären lassen. Für die unbelebte Natur ist eine solche Annahme dagegen anscheinend fehl am Platze. Da Thomas aber ein intimer Kenner der aristotelischen Naturphilosophie ist und wie sein Lehrer Albert sowohl die Physik als auch De Anima kommentiert hat, legt es schon das hermeneutische Wohlwollen nahe anzunehmen, dass der fünfte Weg nicht etwa einen aristotelischen Gedanken verzerrt und missbraucht, um sich daraus ein theologisches Argument zu erschleichen, sondern dass er vielmehr ein genuin aristotelisches Argument aufgreift, wenn auch in der für die fünf Wege insgesamt charakteristischen Weise eher andeutend als ausgeführt. Das heißt aber zugleich, dass der Wortlaut auch des ‚fünften Weges‘ ausgelegt werden muss. Die oben angeführte unmittelbare Lesart macht es sich zu einfach.96 Die Auslegung sollte den fünften Weg zu den übrigen vier Wegen stärker ins Verhältnis setzen. Es zeigt sich nämlich wie schon in der bisher erfolgten Rekonstruktion, dass der Zusammenhang zwischen den einzelnen Wegen viel enger ist, als der Wortlaut zunächst vermuten lässt. Die Anordnung der einzelnen Wege folgt selbst nämlich einem Ordnungsprinzip, welches jedem Weg seine Stelle im Gesamt des Gedankengangs anweist. Wenn diese Annahme richtig ist, dann muss der fünfte Weg als Weiterführung und Aspekterweiterung des vierten Weges gesehen werden. Der vierte Weg behandelt die Seinsordnung (ordo) der Welt unter dem Aspekt der Seinsvollkommenheit und ihrer verschiedenen Grade gemäß den verschiedenen Arten und Gattungen des Seienden.97 Dieselbe Seinsordnung wird nun unter dem Titel gubernatio dynamisch und relational betrachtet, nämlich hinsichtlich der Seinsverhältnisse der den Arten und Gattungen zugehörigen Substanzen zuei95   Gegen die verbreitete neuzeitliche Lesart des Aristoteles, die ihm die These zuschreibt, dass auch Materie eine Tendenz zur Selbstbewegung an ihren ‚natürlichen Ort‘ – oben oder unten – besitze, arbeitet Müller überzeugend die aristotelische Doktrin der wesentlichen Passivität der Materie heraus. Seine Schlussfolgerung, dass Aristoteles daher eine geistige oder seelische Bewegursache jeder Bewegung annehme, die er glaubt aus verschiedenen naturphilosophischen Schriften des Aristoteles interpolieren und damit exegetisch stützen zu können, erscheint mir dagegen nicht zwingend. Vgl. Müller 2006, S.  101 ff. Die Bedeutsamkeit passiver Potenzen für die Anthropologie betont Dalferth 2011. 96   Vgl. mit dem Folgenden die eher historisch ausgerichtete Interpretationsskizze des fünften Weges in Müller 2001, S.  43 ff. 97   Dieser Gedanke wird ausführlich erläutert in q.  48 a.  2.

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V.  Naturerkenntnis und spekulative Theologie

nander. Die Substanzen gehen dadurch Beziehungen mit anderen Substanzen ein, dass sie sich bewegen, wie es ihrer jeweiligen Natur entspricht. Dabei kann man zwar mit Aristoteles festhalten, dass nur lebendige Substanzen sich selbst bewegen, während unbelebte Substanzen, d. h. bloße geformte Materieportionen, bewegt werden. Unbeschadet dieser Differenz kann man aber sagen, dass die mannigfaltigen aktiven und passiven Bewegungen der diversen Substanzen sich in eine Bewegungsordnung einfügen, aneinander anschließen und sich einander zuordnen. Das heißt, die Bewegungen koexistieren nicht einfach, sondern interagieren auf eine geordnete Weise, die als regelmäßig zu beschreiben unzureichend ist. Vielmehr ist hier Zweckmäßigkeit zu konstatieren, da die diversen Bewegungen z. T. einander ermöglichen wie der Kreislauf des Wassers das Wachstum der Pflanzen, z. T. sich gegenseitig stören, aber auf eine Weise, welche die Gesamtbewegungsordnung erhält wie bei der Jagd des Löwen auf den Esel.98 Diese Gesamtordnung zeigt eine natürliche Teleologie auf, welche sich nicht in der inneren Teleologie des Lebensvollzugs der einzelnen Lebewesen erschöpft,99 sondern dieser extern und vorgängig ist. Deswegen kann externe Naturteleologie auch nicht auf die bloße Aggregation innerer Teleologien der Substanzen aus verschiedenen Spezies reduziert werden, zumal auch die unbelebte Natur insofern Teil der externen, globalen Teleologie ist, als sie die Teleologie des Lebendigen erst ermöglicht. Insofern hat Thomas ausgesprochen starke Gründe für die Aussage, dass die Teleologie der natürlichen Bewegungsordnung als ganzer nicht den teils instinktiv, teils willentlich zielgerichteten Bestrebungen ihrer lebendigen Glieder zugeschrieben werden kann, da sie diese Bestrebungen bei weitem transzendiert. Sie verweist vielmehr auf ein ihr zu Grunde liegendes geistiges Prinzip. Anders als Swinburne und lange vor diesem Francis Hutcheson muss Thomas das Argument aus der Naturteleologie nicht wahrscheinlichkeitstheoretisch formulieren.100 Bei Hutcheson und Swinburne führen die Beobachtungen natürlicher Regelmäßigkeiten – bei Hutcheson der komplexen symmetrischen Formen natürlicher Objekte, bei Swinburne der Regelmäßigkeiten natürlicher Prozesse – zu einem abduktiven Schluss auf eine einheitliche Gesamtordnung der Natur. Diese wiederum wird als ein explanandum aufgefasst, welches unter der Hypothese eines allmächtigen und weisen Urhebers dieser Seins- und Bewegungsordnung sehr viel wahrscheinlicher sei als im Rekurs auf die kontra  STh. I, q.  48 a.  3 ad 3.   In seinen Studien zur Naturteleologie beschränkt sich Michael Thompson ganz auf die interne Teleologie des Lebensvollzugs und lässt die externe Teleologie des Naturzusammenhangs unbeachtet. Vgl. Thompson 2008, Teil I. 100   Vgl. Hutcheson 1726, Section V. Ein weiterer Vorläufer Swinburnes im Hinblick auf das Projekt einer wahrscheinlichkeitstheoretischen theologischen Deutung von Naturteleologie ist Brentano 1929, S.  150–158, 210 ff. Allerdings ist Brentanos Gedankengang sehr viel deutlicher als der Swinburnes an die fünf Wege des Thomas von Aquin in ihrer Gesamtheit angelehnt. Swinburne erwähnt weder Hutcheson noch Brentano; vgl. Swinburne 1991. 98

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diktorisch gegensätzliche Hypothese, dass es keinen solchen Urheber gebe. Diese probabilistische Argumentation ist für Hutcheson und Swinburne unverzichtbar, aber zugleich die zentrale Schwachstelle dieser Spielart des von Kant so genannten physikotheologischen Gottesbeweises. Denn erstens ist unklar, wie überhaupt über das Ganze einer naturgesetztlichen Ordnung quantifiziert werden kann. Zweitens aber ist noch viel weniger klar, was genau die alternativen Möglichkeiten sind, von denen das Argument zeigen soll, dass sie sehr viel unwahrscheinlicher sind als die ausgezeichnete Möglichkeit einer durch ein geistiges Wesen geschaffenen natürlichen Ordnung. Hutcheson und Swinburne behaupten, dass die manifeste und erfahrbare Ordnung der Natur unter der Hypothese, dass es keinen geistigen Ursprung derselben gebe, sehr unwahrscheinlich sei. Aber was genau wäre unter dieser Hypothese denn wahrscheinlicher als die erfahrbare Ordnung der Natur? Dass es gar nichts gäbe? Oder dass die Natur ein chaotisches Aggregat wäre anstelle einer geordneten Mannigfaltigkeit von Phänomenen? Oder dass es zwar natürliche Regelmäßigkeiten gäbe, aber nicht in der beobachtbaren Komplexität z. B. des Lebendigen, sondern nur als einfaches Beieinander z. B. unbelebter Materie? Das wären nur drei markante, logisch distinkte mögliche Folgerungen aus einer atheistischen Hypothese. Für keine davon ist der Nachweis, dass sie bei Annahme der atheistischen Hypothese wahrscheinlicher wäre als die beobachtbare natürliche Ordnung, ganz trivial. Aber jede von ihnen verhält sich etwas anders zur theistischen Hypothese in Hutchesons und Swinburnes Sinn als die beiden anderen. Dass ohne eine geistige Erstursache gar nichts existierte, auch keine Materie, wäre sicher die den Theismus am stärksten stützende These, zugleich aber die am schwersten begründbare.101 Weniger stark im Sinne des Theismus ist die These, dass es ohne geistiges Prinzip keine gegliederte Mannigfaltigkeit der Natur gäbe. Nennen wir sie die Chaos-These. Auch diese These ist nicht leicht begründbar, und zwar auch unabhängig von modischen Chaostheorien, welche die Möglichkeit der Emergenz von Strukturen aus chaotischen Mannigfaltigkeiten aufzeigen wollen, mit all den Zügen freischwebender Spekulation, die solchen Versuchen notorisch anhaften. Dass eine solche Selbstdifferenzierung chaotischer Natur nicht möglich oder wenigstens unwahrscheinlich ist, müsste der Theist seinerseits eigens zeigen. Noch schwieriger wird dies für den Theisten im Hinblick auf die dritte Alternative. Diese besagt nämlich, positiv gelesen, dass das Sein und die Zustände der Materie, der einfachen stofflichen Elemente und ihrer   Swinburne selbst bringt diesen Einwand gegen Geachs Rekonstruktion der fünf Wege vor; vgl. Swinburne 1991, S.  128 f., genauer gegen den ‚deduktiven‘ Schluss vom Phänomen der natürlichen (Bewegungs-)Ordnung auf eine geistige erste Ursache. Er glaubt allerdings, seinerseits dem Einwand zu entgehen, und zwar weil er selbst anders als Geach nicht a priori argumentiere, sondern induktiv-probabilistisch und damit a posteriori. Dabei sieht er nicht, dass sein eigenes Argument eine Reflexion wie die Geachs auf ontologische Alternativen erforderlich macht. 101

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V.  Naturerkenntnis und spekulative Theologie

Verbindungen, ohne theistische Voraussetzungen ontologisch möglich sind. Die Schwierigkeit für den Theisten besteht nun darin, dass der Atheist seiner Kosmologie gerade diese These zu Grunde legen und dann versuchen wird zu zeigen, dass aus dem ‚Wesen‘ der Materie allein, ihrer inneren Differenzierung und Bindungsfähigkeit, unter Zuhilfenahme weniger Naturgesetze, die sich womöglich aus dem Wesen der Materie selbst herleiten lassen müssten, die Seins- und Bewegungsordnung der Natur rekonstruierbar wäre. Da Swinburne keine Ontologie zur Verfügung steht, kann er dem Versuch einer solchen materialistischen Kosmogonie wenig entgegensetzen, insbesondere keine Reduktion der zweiten oder dritten Alternative auf die für ihn günstigste erste. Damit soll im Lichte des bisher Ausgeführten keineswegs gesagt werden, dass eine solche Reduktion prinzipiell unmöglich, sondern vielmehr dass sie für Swinburne zwingend nötig wäre. Atheistische Szenarien der Kosmogonie spielt er allerdings nirgends ernsthaft durch, anders übrigens als Hutcheson, der dies wenn auch nur im Ansatz und in der Durchführung unzureichend tut.102 Solange die Alternativen aber nicht klar artikuliert und unterschieden sind, ist das gesamte probabilistisch gedeutete physikotheologische Argument nur schwer bewertbar.103 Wie man sieht, erschwert die probabilistische Rekonstruktion eher das Verständnis des physikotheologischen Arguments, als dass sie einen Beitrag dazu leistet. Denn es ließe sich durchaus mit Kant darauf beharren, dass der Grundgedanke dieses Arguments sich schon „der gemeinen Menschenvernunft“104 von sich aus aufdrängt, da die Ordnung, Regelmäßigkeit und Schönheit der Natur eine ebenso schwer bestreitbare wie unser Nachdenken herausfordernde Tatsa  Vgl. Hutcheson 1726, S.  47–60.   Man sollte ferner berücksichtigen, dass Swinburne a priori nicht die Wahrheit, sondern lediglich die Kohärenz des Theismus aufzeigen möchte und dass er Gottes Existenz für eine kontingente Tatsache hält (Swinburne 1993, Teil II), für ein „supreme brute fact“ (Swinburne 1991, S.  128, sowie Swinburne 2012, S.  332 f.). Die Existenz kontingenter Entitäten ist aber wie schon betont nicht a priori beweisbar, sondern allenfalls a posteriori. Insofern und nur insofern ist Swinburnes methodisches Vorgehen folgerichtig. Mackie drängt Swinburne dann, die Konsequenzen der theistischen und der atheistischen Hypothese systematischer miteinander zu konfrontieren, indem er ihm die These zuschreibt, dass die atheistische Hypothese am ehesten mit der Annahme einer indeterministisch-chaotischen Welt vereinbar wäre. Vgl. Mackie 1985, S.  234–238. In seiner Erwiderung auf Mackie nimmt Swinburne diese Herausforderung allerdings nicht an und verweigert erneut die systematische Auseinandersetzung mit einem hypothetischen kosmologischen Atheismus und die Festlegung auf eine bestimmte Deutung desselben. Vgl. Swinburne 1991, Appendix A, S.  299. Am nächsten kommt er einer Annahme der atheistischen Herausforderung im Appendix B ebd., wo er aus dem komplexen Phänomen des so genannten fine tuning des Universums, d. h. der Tatsache, dass die universalen Naturgesetze und Naturkonstanten gerade so zueinander passen, dass Leben möglich ist, und dass auch geringfügige Veränderungen des einen oder anderen Parameters die Möglichkeit von Leben ausschließen würden, eine weitere Komponente seines physikotheologischen Arguments zu gewinnen versucht. 104   KrV, B 651. 102 103

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che ist. Die natürliche Ordnung und Regelmäßigkeit gehört zu den Bedingungen unserer eigenen Existenz, Naturschönheit zumindest zu den nahezu allgegenwärtigen und ins Auge fallenden Eigenheiten der uns umgebenden Welt.105 Es ist daher kein Zufall, dass von diesen unleugbaren Phänomenen von jeher ein starker Impuls zu kosmologischer, ontologischer und theologischer Reflexion ausgegangen ist. Auch haben Kant, Brentano und Swinburne106 sicher Recht damit herauszustellen, dass das physikotheologische Argument dem philosophisch ungeschulten religiösen Denken sehr viel leichter zugänglich ist als etwa Anselms, Descartes’ oder Leibniz’ Argumente für die Existenz Gottes. Andererseits muss selbst ein Verfechter des physikotheologischen Arguments zugeben, dass dieses für sich genommen keine große argumentative Kraft entfaltet. Sogar Swinburne selbst sieht das durchaus so. Das ist einer der Gründe, weshalb er sich mit einem kohärentistisch-probabilistischen, überwiegend aposteriorischen Argument für die Existenz Gottes begnügen möchte. Denn es ist zwar wahr, dass materialistische Kosmologien das eigentlich Kosmische, also das Geordnete und Schöne der Natur und ihrer Teile so gut wie nicht würdigen können, sondern ganz im Gegenteil beides tendenziell wegerklären.107 Aber so lange wie es dem Physikotheologen nicht gelingt, die sachliche Unangemessenheit materialistischer Reduktionen von Schönheit auf Regelmäßigkeit, von Regelmäßigkeit auf Naturgesetzlichkeit und von Naturgesetzlichkeit auf materielle Determination zu zeigen, hat er einer solchen Reduktion nicht mehr entgegenzusetzen als den Hinweis, dass auch der Theismus kohärent vertreten werden kann. Das heißt, er kann argumentieren wie Kant, wenn er aus seiner Kritik aller Gottesbeweise aus reiner Vernunft folgert, dass weder Theismus noch Atheismus zwingend begründet werden können. Für den Physikotheologen ist das ein allzu schwaches Resultat.108 Für Thomas ist die dialektische Situation insofern völlig anders als für Hutcheson und Swinburne, als das physikotheologische Argument im Kontext der fünf Wege überhaupt keine vergleichbare Beweislast trägt. Die Überlegung 105   Zur Naturschönheit als Material für eine physikotheologische Prämisse vgl. Swinburne 1991, S.  150 f., wobei animalische und menschliche Schönheit ausgeklammert wird, wohl um den subjektiven Faktor der Freude am Nützlichen oder Angenehmen und dessen Verwechslung mit dem Schönen von vornherein auszuschließen. 106   Brentano 1929, S.  212, Swinburne 1991, S.  9 f. 107   Kaum irgendwo sonst ist diese Ambivalenz des Materialismus bezüglich der Ordnung und Schönheit der Natur so greifbar wie in Daniel Dennetts Rhetorik. Dennett schweigt durchgehend zum Thema Naturschönheit, während Kunstschönheit als Evolutionsprodukt gedeutet, aber als potentielles Hilfsmittel von Religion verdächtig wird; vgl. Dennett 2006, S.  40–44, 153 ff. 108   Auch Swinburne kommt zu dem Ergebnis, dass der religiöse Glaube (faith) letztlich auf einer freien, das heißt bei ihm: nicht auf Einsicht zurückgehenden Willensentscheidung beruhe. Vgl. Swinburne 1981, Epilog. Dabei bezieht er sich vor allem auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession im Gegensatz zu einer anderen. Aber seine Argumentation ist ganz allgemein und gilt zunächst einmal für religiöse Überzeugungen überhaupt.

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zur kosmischen Bewegungsordnung hat für sich betrachtet gar nicht die Aufgabe, Prämisse für einen abduktiven Schluss auf die Existenz Gottes zu sein. Man missversteht die Logik des fünften Weges im Grundsatz, wenn man sie probabilistisch auffasst – unbeschadet der Tatsache, dass Swinburne die Inspirationsquelle für sein induktiv-probabilistisches Argument im fünften Weg findet.109 Denn bei Thomas bildet die naturteleologische Betrachtung nur den Schlussstein und die Vollendung einer komplexen ontologischen Gesamtbetrachtung, welche in den fünf Wegen gerafft präsentiert wird. Die Architektur dieses komplexen Gedankengangs soll im nächsten Abschnitt noch einmal insgesamt betrachtet werden. Aber schon hier lässt sich sagen, dass die Funktion des fünften Weges nicht mehr ist, in der Natur irgendeinen Anhaltspunkt für die Hypothese zu gewinnen, dass es ein erstes ordnendes Prinzip derselben geben muss, welches nur ein geistiges sein kann, weil Ordnung anscheinend nur von etwas Geistigem ausgehen kann, etwa so wie die Ordnung eines großen Heeres nicht ohne den ordnenden Geist eines Feldherren oder eines vergleichbaren Oberkommandos möglich ist.110 Denn dass es ein solches Prinzip geben muss, dafür stehen schon die Überlegungen der vorangehenden vier Wege. Der fünfte Weg bestätigt lediglich das Resultat der bisherigen ontologischen Betrachtung. Die ersten drei Wege führen nämlich zu dem Gedanken, dass es ein erstes Prinzip aller natürlichen Bewegung und Veränderung geben muss und dass dieses ­Prinzip – als rein aktuales – nur ein geistiges sein kann. Schon der vierte Weg bestätigt und bekräftigt diesen Gedankengang, indem er in der Natur das wiederfindet, was zu erwarten ist, wenn man von einem geistigen Ursprung alles Natürlichen ausgeht, nämlich dass sich das Geistige in der Natur als Vollkommenheitsordnung widerspiegelt. Der fünfte Weg bekräftigt dieses Resultat und erweitert dessen Geltungsbereich, indem er eine solche geistige Ordnung nicht allein in den Stufungen der verschiedenen Seinsarten und -gattungen findet, sondern auch in den dynamischen Prozessen und Bewegungen der Natur, von den unendlichen Bewegungen der Himmelskörper bis zu den endlichen, auf die Ruhe an einem Ziel ausgerichteten Bewegungen der belebten und unbelebten Naturwesen, welche die Himmelskörper oder zumindest die Erde bevölkern. Das physikotheologische Argument führt von der Bewegungsordnung zu Gott, der fünfte Weg dagegen eher vom Gottesgedanken zur Bewegungsordnung und wieder zurück. Die Rede von Wahrscheinlichkeit hätte in einem solchen Argument gar keinen Platz, da es vielmehr darum geht, auf spekulative Weise das Resultat eines komplexen metaphysischen Gedankengangs mit Ergebnissen einer denkenden Beobachtung natürlicher Gesetzmäßigkeiten zusammenzubringen. Zugleich kann so dem von Kant unterstrichenen Impuls des natürlichen   Vgl. Swinburne 1991, S.  143 ff.   Die Analogie zwischen der Ordnung eines Heeres durch den Strategen und der Ordnung des Kosmos durch Gott stammt von Aristoteles, vgl. Met. L 10, 1075 a. 109 110

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Nachdenkens zur theologischen Spekulation angesichts der Ordnung der Natur Rechnung getragen werden, ohne vom physikotheologischen Argument mehr zu fordern, als es leisten kann. Im Lichte dieser Überlegungen lässt sich das Argument des fünften Weges so zusammenfassen: (1) Gott ist das erste, rein aktual Seiende, die erste, notwendige und absolute Ursache alles Seienden und aller Bewegung und als schlechthin Vollkommenes Ursprung aller Vollkommenheiten. (2) Alle Bewegungen sind geordnet und Teil einer kosmischen Bewegungsordnung. (3) An der Ordnung und dem Zusammenhang aller Bewegungen lässt sich das Zugrundeliegen eines göttlichen Ursprungs erkennen. In dieser Rekonstruktion werden die Abhängigkeit des fünften Weges von den vorausgehenden vier ebenso sichtbar wie der Zusammenhang ontologischer und erkenntnistheoretischer Gedanken in diesem spekulativ fruchtbaren, aber für sich genommen nicht beweiskräftigen Argument. Nun werden Materialisten wie Agnostiker gleichermaßen einwenden, dass im fünften Weg die Gesetzmäßigkeit natürlicher Bewegungen ungerechtfertigter Weise auf Zweckmäßigkeit zurückgeführt werde. Dass alle natürlichen Bewegungen gesetzmäßig verlaufen, werden sie zugestehen, aber bestreiten, dass es in der Natur zweckmäßige Bewegungen gibt, zumindest solche, die über die immanente Teleologie der Lebensvollzüge einzelner Lebewesen und der Dispositionen zu einem der Arterhaltung förderlichen Verhalten hinausgehen. Als Gegeninstanzen werden sie zudem auf die bekannten Beispiele anscheinend zweckwidriger destruktiver Bewegungen und Prozesse in der Natur verweisen, auf Naturkatastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Sturmfluten oder Dürreperioden, auf epidemische Krankheiten und das Aussterben ganzer Arten.111 Kurz, sie werden eine bestimmte Spielart des Theodizeeproblems gegen das teleologische Argument des fünften Weges vorbringen. Allerdings ist dieser Einwand nicht so neu, wie Opponenten gegen theologische Schlussfolgerungen aus naturteleologiebezogenen Prämissen häufig glauben, und Voltaire ist keineswegs der erste, der ihn formuliert. Hier soll es 111   Vgl. zum Problemkomplex Mackie 1985, Kap.  8 und 9 (a)–(b). Anders als Mackie glaubt, stellt das Vorkommen von Infektionskrankheiten, Schmerz und Leid als solches noch keinen Einwand gegen teleologische Argumente wie das des fünften Weges dar, da all diese Primafacie-Übel sehr wohl als notwendige Teile einer Teleologie des Lebendigen angesehen werden können – Infektionskrankheiten als Produkte des Zusammentreffens zweier Lebensformen, der des Erregers mit der des infizierten Organismus, Schmerzen als wichtige Anzeiger einer Störung des Lebensvollzugs etwa durch eine Krankheit, Leid als Anzeichen einer Störung höherer Ordnung, also einer Störung des psychischen oder moralischen Lebensvollzugs. Eine Herausforderung für den fünften Weg stellt erst die These dar, dass es genuin zweckwidrige Übel gibt.

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V.  Naturerkenntnis und spekulative Theologie

noch nicht um die moralische Seite des Theodizeeproblems gehen, wie sie schon im Buch Hiob eindrucksvoll thematisiert wird. Es geht im materialistischen Einwand vielmehr um naturphilosophische Gründe für den Zweifel an der Idee, dass es so etwas wie ein universales teleologisches Prinzip natürlicher Prozesse gibt. Aber auch dieser Zweifel ist Thomas sehr wohl bekannt, und er thematisiert ihn selbst gleich zu Beginn eben des Artikels, in dem er auch die fünf Wege ausarbeitet: „Es scheint, als sei kein Gott. Denn wenn das eine Glied eines konträr Gegensätzlichen unendlich ist, dann zerstört es das andere vollständig. Aber genau so wird dieser Ausdruck ‚Gott‘ verstanden, nämlich dass es sich dabei um etwas unendlich Gutes handele. Wenn demnach Gott existierte, dann wäre keinerlei Schlechtes anzutreffen. Es ist aber Schlechtes in der Welt anzutreffen. Also ist kein Gott.“112

Damit ist der atheistische Einwand, der als solcher sicher radikaler und konsequenter gedacht ist als der agnostische Zweifel an einer göttlichen Bewegungsordnung, präzise formuliert. Denn entweder Gott kann das Schlechte, gerade auch das zweckwidrige natürliche Übel, nicht verhindern; dann wäre er aber nicht allmächtig. Oder er will es nicht verhindern; dann wäre er nicht vollkommen gütig. In beiden Fällen wäre das Wesen, welches für zweckwidrige natürliche Übel verantwortlich wäre, nicht im eigentlichen Sinne Gott, d. h. ein rein aktuales, vollkommenes geistiges Prinzip.113 Es macht daher keinen Unterschied, ob man sagt, dass Gott als der erste Ursprung alles Seienden unvollkommen ist, oder ob man sagt, dass es keinen Gott, also keinen geistigen Ursprung alles Seienden gibt. Die offen atheistische Formulierung ist nur expliziter als die verdeckt atheistische. Inhaltlich sind sie äquivalent. Subjektiv mag die Differenz zwischen der atheistischen Gewissheit, dass es keinen Gott gibt, und dem religiösen Hadern mit dem Gedanken, dass Gott nicht gut ist, groß erscheinen. Objektiv steht aber immer der Gedanke der Existenz Gottes als solcher auf dem Spiel. Thomas antwortet auf diesen Einwand weder im Rekurs auf die u. a. auf Origenes zurückgehende Ansicht der traditionellen christlichen Theologie, alle natürlichen Übel seien als göttliche Strafen für zuvor begangene Sünden der Engel und Menschen anzusehen, z. B. der Sünden Luzifers und Adams.114 Noch rea  STh I, q.  2 a.  3, 1.   So schon Platon, Politeia B-Γ. Die dort vorgebrachte Religionskritik ist deswegen so kraftvoll, weil sie zeigt, dass nur der gedankenlose Umgang mit der tradierten Mythologie die griechische Religion vor der selbstzerstörerischen Einsicht bewahrt, dass die tradierten Mythen die herrschenden Götter als nicht gut und damit als nicht göttlich repräsentieren. Entweder also sind die herrschenden Mächte keine Götter, oder die Mythen lügen. 114   Diese Antwort würde aus Thomas’ Sicht stärkste Zweifel an der Gerechtigkeit Gottes wecken, da Strafe Schuld voraussetzt, natürliche Übel aber häufig teils unschuldige Menschen treffen, teils prinzipiell schuldunfähige Tiere und Pflanzen. Vgl. STh I, q.  48 a.  5, c. Aus einem anderen Grund lehnt er auch die besondere Doktrin des Origenes ab, die besagt, dass alle 112 113

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giert er wie Spinoza, der Gut und Schlecht für rein subjektiv-menschliche Wertungen ohne ontologischen Gehalt hält.115 Eine solche Reaktion wäre für den Wertrealisten Thomas, der lehrt, dass Gut und Schlecht in den Dingen selbst zu finden sind,116 philosophisch und ethisch gänzlich inakzeptabel. Stattdessen zitiert er zunächst zustimmend Augustinus117 und antwortet darauf aufbauend: „Es gehört also zur unendlichen Güte Gottes, dass er Schlechtes zulässt, um dadurch Gutes hervorzubringen.“118

Diese Antwort ist zwar erkennbar verschieden von den beiden bisher genannten Antworten auf die naturphilosophische Seite des Theodizeeproblems, aber in ihrer skizzenhaften Kürze nicht ohne weiteres verständlich. Zu klären ist dabei zum einen, in welchem Sinn Gott ‚Schlechtes zulässt‘, zum anderen, in welchem Sinn er ‚dadurch Gutes hervorbringt‘.119 Zunächst einmal ist dazu zu sagen, dass die Rede von einem Zulassen des Schlechten den Zweifel an Gottes Allmacht ausschließt. Denn ein Wesen, das etwas im engen und eigentlichen Sinn zulässt, tut dies willentlich. Das impliziert, dass es das Vermögen hat, zu verhindern oder zu unterbinden, was geschieht. Also besteht zwischen dem Gedanken der Allmacht Gottes und dem Gedanken, dass er das Schlechte zulässt, kein Widerspruch. Aber Thomas formuliert hier im Anschluss an Augustinus auch eine Bedingung, unter der das Zulassen des Schlechten nicht der Güte Gottes widerspricht: nämlich dass durch das Schlechte selbst etwas Gutes bewirkt wird, was es ohne diese Ursache nicht geben würde und was die Schlechtigkeit des je verursachenden Schlechten mehr als aufwiegt. Diese Qualifikationen sind deswegen erforderlich, weil die Antwort ansonsten allzu trivial ausfiele. Denn irgendetwas Gutes ist am Ende wohl mit jedem Schlechten verbunden, wie z. B. das Erlöschen der Steuerpflicht mit dem Ableben. Theologische Rechtfertigungen lassen sich so nicht gewinnen. Aber Schlechtes kann auf ganz verschiedene Weise Gutes bewirken. Zum einen kann dieser Zusammenhang entweder akzidentell oder wesentlich sein. Naturwesen für ihre Sünden bestrafte Engel seien. Diese Lehre ist zwar kohärenter als die unqualifizierte Lehre von den Übeln als Gottesstrafen. Aber aus ihr folgt, dass die Seins- und Schöpfungsordnung nicht in sich gut ist, wie es die Genesis sagt, sondern eine Strafordnung. Keine Strafordnung ist aber in sich gut, sondern nur relativ zu den Arten von Verschuldung, auf die sie reagiert. Vgl. STh I, q.  47 a.  2, c. 115  Vgl. Ethik I, Scholium. 116  Vgl. Quaestiones I; STh I, q.  5 a.  1. 117   „Da Gott höchst gut ist, würde er keinerlei Schlechtes in seinen Werken zulassen, wäre er nicht so allmächtig und gut, dass er sogar aus dem Schlechten etwas Gutes machte.“ (Enchirid. XXVI) 118   STh I, q.  2 a.  3, ad 1. 119   Ausführlich diskutiert werden die mit dem Problem der natürlichen Übel und des moralisch Bösen verbundenen Fragen erst im Kontext der Schöpfungslehre in STh I, q.  48 f. Hier kann es nur um eine knappe Erörterung der Grundzüge dieser Diskussion gehen.

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Zum anderen kann ‚bewirken‘ im engen Sinn kausal oder im weiten Sinn von ‚ontologisch zusammenhängen‘ gemeint sein. Ein Beispiel für den engen Sinn wäre der Ausbruch einer Kinderkrankheit (schlecht), welcher die Wirkursache dafür ist, dass die erkrankte Person später im Leben immun gegen den Erreger und damit wirksam vor sehr viel ernsteren Erkrankungen im Erwachsenenalter geschützt ist (gut). Ein Beispiel für den weiten Sinn wäre die Sterblichkeit der Angehörigen einer bestimmten Spezies des Lebendigen (schlecht),120 welche ‚bewirkt‘, dass die Art als ganze sich über das Ableben der Artangehörigen hinweg erhalten kann (gut), da dieser Zusammenhang für die Seinsweise der fraglichen Art konstitutiv ist. Wären die einzelnen Individuen unsterblich, dann würde ihre Anzahl beständig zunehmen, und sie würden sich selbst die Existenzgrundlage entziehen. Sieht man Thomas’ Ausführungen über das Schlechte genauer an, dann zeigt sich, dass er den Zusammenhang mit dem Guten auf alle vier Weisen postuliert, was seine Antwort auf die Herausforderung des natürlichen Übels ausgesprochen komplex macht. So kann es sein, dass etwas Schlechtes deswegen von Gott zugelassen wird, weil es akzidentell etwas Gutes bewirkt. Ein Beispiel für einen solchen akzidentellen Zusammenhang wäre folgende Geschichte: A stiehlt B ein Jagdmesser. Dieser Diebstahl sorgt dafür, dass B nicht seine Absicht verwirklichen kann, C zu erstechen und auszurauben. So wird A’s Diebstahl zur Ursache von C’s Lebensrettung, aber akzidentell, weil A von B’s Plänen nichts gewusst und nicht beabsichtigt hat, C das Leben zu retten. Es liegt in der Natur akzidenteller Zusammenhänge, dass es sich dabei nur um Einzelfälle handelt, die unter kein Prinzip fallen und keiner Regel folgen und daher auch kein Gegenstand der Wissenschaft sein können.121 Dass solche akzidentellen Verursachungen des Guten durch das Schlechte dennoch theologisch relevant sind, liegt an der Idee der Allwissenheit Gottes, die ein Wissen über das zukünftige Kontingente einschließen muss. Auch das Kontingente und Einzelne sind Gegenstand der göttlichen Vorsehung; andernfalls wären das Wissen oder die Güte Gottes begrenzt.122 Daher wird auch das zum Gegenstand göttlicher Vorsehung, was kein möglicher Gegenstand menschlicher Wissenschaft ist. 120   Sicherlich lässt sich argumentieren, dass der Tod ‚an sich‘ gar kein Übel ist, sondern lebens- und daseinskonstitutiv. Für das Argument reicht es aber, dass der Tod prima facie sehr wohl etwas Schlechtes bzw. ‚Abträgliches‘ (Heidegger) ist, was sich schon daran zeigt, dass bewusstseinsfähige Lebewesen den Tod fürchten und danach streben, ihr Leben zu erhalten. 121  Vgl. Met. E 2, 1027 a. 122  Vgl. STh I, q.  22 a.  3, wo Thomas ausführt, dass es der Würde Gottes keinesfalls zuwiderläuft, seine Vorsehung auch auf das Geringe und Einzelne auszudehnen und diese Aufgabe nicht niederen Geistern zu überlassen. Im folgenden Artikel zeigt er, dass der Gedanke einer Vorsehung des kontingenten Einzelnen durchaus vereinbar ist mit Kontingenz und Freiheit. Aus dem Begriff der göttlichen Vorsehung folgt keinesfalls ein theologischer Determinismus, wie insbesondere der Calvinismus glaubt. Übrigens ist es für die thomistische These nicht erforderlich anzunehmen, dass Gott einzelnes Schlechtes um je eines einzelnen Guten wegen zulässt wie im Beispiel. Es genügt oft zu sagen, dass ein einzelnes Schlechtes um eines allge-

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Wichtiger sind die wesentlichen Zusammenhänge zwischen Gutem und Schlechtem. Dabei ist schon der Gedanke paradox, dass es überhaupt eine wesentliche Gemeinschaft von Gutem und Schlechtem geben könnte. Denn wie Thomas selbst im Anschluss an Augustinus ausführt, sind Gut und Schlecht streng konträre Begriffe. Vollkommen gut in sich ist nur ein solches Gutes, an dem nichts Schlechtes zu finden ist.123 Nun ist aber die Schöpfung nach Voraussetzung vollkommen. Dennoch soll sie Schlechtes enthalten. Dieser Gedanke scheint sich also selbst aufzuheben. Doch dieser Einwand ist aus Thomas’ Sicht selbst fehlerhaft. Denn er überträgt einen Begriff spezifischer Vollkommenheit, dem gemäß eine Substanz dann vollkommen und gut ist, wenn sie ihre spezifische Form vollständig aktualisiert, auf die Seins- und Bewegungsordnung als ganze, die keine Substanz ist und keiner Spezies angehört. Der Kosmos als ganzer kann daher nicht so beurteilt werden, sondern muss als eine komplexe Ganzheit daraufhin betrachtet werden, ob und wie seine Teile, die sich ihrerseits in Genera und Spezies einteilen, zusammenstimmen und ein dauerhaftes, geordnetes und schönes Ganzes bilden. Die einschlägige Analogie ist demnach nicht die zum Verhältnis einer Substanz zu ihrer Form, sondern die zum Verhältnis einer komplexen Substanz zu ihren Teilen. Thomas vergleicht den Kosmos daher wiederholt mit Artefakten, z. B. einem Haus, oder mit Lebewesen. So seien nicht deswegen an einem Haus Fundament und Dach notwendig verschieden, weil sie aus verschiedenen Stoffen bestünden, sondern weil ihre verschiedenen Funktionen auf je ihre Weise zur Vollkommenheit des ganzen Hauses beitrügen. Daher werde der sachkundige Baumeister sie verschieden gestalten und für ihre Anfertigung unterschiedliche Materialien wählen. Es habe daher keinen Sinn, die Vollkommenheit des ganzen Hauses je isoliert nach der Güte der dafür verwendeten Teile und Stoffe zu beurteilen. Was immer sie in sich sind, sie sind dann gut gewählt und eingepasst, wenn sie das ganze Haus vollkommen, gut und schön machen.124 Analog dazu wäre die Vollkommenheit eines perfekten Tiers nicht mehr gegeben, wenn jeder Teil seines Leibes die gleiche Kostbarkeit (dignitas) hätte wie das Auge. Erst das Ganze von Augen, Rumpf, Gliedern, Klauen, Zähnen, Hörnern etc. mache zusammen ein gutes und vollkommenes Tier aus. Die Teile und Glieder eines animalischen Leibes sind nicht für sich betrachtet, simpliciter, beurteilbar, sondern dann als bestmöglich, wenn sie bestmöglich im Verhältnis zum Ganzen (optima secundum proportionem ad totum) sind. Nur

meinen Guten willen zuzulassen ist, wenn nämlich das allgemeine Gute durch die Unterbindung des kontingenten Schlechten ebenfalls verhindert würde. Dieser Gedanke ist insbesondere für den Zusammenhang zwischen menschlicher Willensfreiheit und dem moralisch Bösen wichtig. 123  Vgl. Enchirid. IV 12; STh I, q.  5 a.  3, ad 2; q.  48 a.  4. 124   STh I, q.  47 a.  2, ad 3.

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falls das nicht zutrifft, sind sie als Teile unvollkommen.125 Es ist daher keine Unvollkommenheit des menschlichen Sehvermögens, dass es im Dunkeln nicht so gut ist wie das einer Eule oder Katze, da Menschen-, Eulen- und Katzenaugen der je spezifischen Menschen-, Eulen- und Katzenlebensweise angemessen sind.126 Das Gleiche gelte nun auch für den Kosmos im Sinne der Seinsordnung als ganzer. Thomas zitiert daher zustimmend Paulus (2. Tim. 2, 20): „In einem großen Haus aber sind nicht allein goldene und silberne Gefäße, sondern auch hölzerne und irdene“.127 Für die Seinsordnung heißt das nun, dass eine geordnete Vielfalt von Arten und Gattungen des Seienden das Ganze vollkommener macht. Es ist richtig, dass natürliche Arten sich nach Seins- und Vollkommenheitsstufen ordnen, nach denen das Lebendige vollkommener ist als das Unbelebte, das Animalische höher steht als das Vegetabilische und das Geistige über dem Animalischen. Das heißt aber nicht, dass die Welt ohne Materie, Pflanzen und Tiere besser und vollkommener wäre. Im Gegenteil, eine komplexe und hierarchisch gestufte Welt ist dann besser als eine einfache und undifferenzierte, wenn sie aus sich heraus beständig ist, d. h. wenn die Seinsordnung sich selbst erhält. Dann zeigt sie in vollendeter Weise die Macht und Weisheit ihres Urhebers. Dabei gilt zunächst das Primat der formalen Differenzierung, von dem der vierte Weg handelt. Damit verbunden ist notwendig eine Ungleichheit, eine Über- und Unterordnung der Arten und Gattungen.128 Diese Betrachtung darf die Eigenständigkeit der art- und gattungszugehörigen Substanzen nicht unterschlagen. Die Analogie zwischen selbständigen Substanzen und den Gliedern eines Organismus ist nur eine Analogie, da Glieder anders als Substanzen kein eigenständiges Sein besitzen. Das heißt zugleich, dass die Vollkommenheit der Formaktualisierung für die einzelne Substanz das dominante Gütekriterium ist und bleibt, und zwar unbeschadet dessen, dass die Form selbst im ontologischen Gefüge der Formen einen höheren oder niederen Rang einnehmen kann. Beide Bewertungsweisen können nebeneinander bestehen und ergänzen einander. Damit ist das theologische Problem natürlicher Übel allerdings noch nicht geklärt. Erreicht ist nur ein negatives Zwischenergebnis: Dass es vollkommene und weniger vollkommene natürliche Arten gibt, dass Arten sich in eine Ordnung des Höheren und Niederen und damit des Besseren und Schlechteren bringen lassen, spricht nicht gegen die Vollkommenheit des Kosmos. Das heißt auch, dass selbst die Existenz bestimmter für andere Arten lästiger oder schäd  Ebd., ad 1.  Es ist ein weiteres gravierendes Defizit gegenwärtiger Enhancement-Debatten, dass über Optimierungswünsche bestimmter körperlicher oder geistiger Vermögen isoliert und in Abstraktion vom Ganzen der spezifischen Lebensvollzüge diskutiert wird. Vgl. dazu auch Brentano 1929, S.  270–299. 127   STh I, q.  23 a.  5, c. 128   Ebd., q.  47 a.  2, c. 125 126

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licher Spezies wie der Mücken oder Krokodile der Vollkommenheit der Seinsordnung nicht widerspricht, jedenfalls dann nicht, wenn diese Arten ihren Platz in der teleologischen Ordnung der Seins- und Lebensformen haben. In sich schlechte Arten kann es in einer solchen Ordnung allerdings nicht geben. Dies ist aber auch aus einem anderen Grund nicht möglich: Eine natürliche Art ist eine Gemeinschaft formgleicher Wesen. Das Schlechte ist aber eine Privation der Form.129 Schlecht ist etwas insofern, als es eine Form mangelhaft aktualisiert. Schlechtigkeit kann also nicht eine Bestimmung der Form selbst sein. Mit dem Thema der komparativ größeren oder geringeren Vollkommenheit natürlicher Arten und Seinsweisen haben wir daher das Problem des natürlichen Übels gegen den ersten Anschein noch nicht berührt, sondern nur das des vermeintlichen Übels. Darin inbegriffen sind allerdings diverse Übel im Sinne des materialistischen Einwands, z. B. Infektionskrankheiten und Phänomene interspezifischer Gewalt in zoologischen Räuber-Beute-Beziehungen. Doch zu den Graden der Vollkommenheit zählt nach Thomas auch die Möglichkeit des genuin Schlechten. Er unterscheidet zunächst zwei Hauptgattungen des Guten, das Sein (esse) und das Tun (operatio).130 Den vollkommensten Seinsgattungen ist es eigen, dass sie ihr Sein nicht verlieren können. Das gilt für die geistigen Kreaturen, vor allem die Engel, deren Existenzmodus Thomas großenteils im Anschluss an Aristoteles deutet,131 und in gewissem Sinn auch für die Seelen der Menschen, während die materiellen Substanzen – Menschen dem Leib nach, Tiere, Pflanzen und unbelebte Körper – dem Entstehen und Vergehen unterworfen sind. Doch auch hinsichtlich des Tuns sind die Möglichkeiten des Schlechten unterschiedlich verteilt. So vollkommen, dass jede Privation des Guten ausgeschlossen ist, ist nur Gott. Für die Kreaturen gilt, dass sie desto schlechter sein können, je höher in der Ordnung des Tuns und Verhaltens ihr Tun jeweils angesiedelt ist. Geistbestimmtes Tun, also Handeln, ist, wenn es sündhaft (peccatum), also nach Art des Handelns schlecht ist, schlimmer als bloßes animalisches Fehlverhalten (lapsus) im Sinne eines scheiternden, fehlgeleiteten oder ganz unterbleibenden Akts der Selbst- oder Arterhaltung. Aber auch innerhalb der Ordnung des Handelns wiegt die Sündhaftigkeit einer übergeordneten, anderes Handeln regierenden Handlung, z. B. eines Befehls, schwerer als die einer untergeordneten, und der verbrecherische Fürst ist pro tanto schlimmer als der verbrecherische Untertan. Luzifer sündigt schwerer als Adam. Ein nicht sündhaftes Fehlverhalten wiederum ist schlechter als ein bloßer natürlicher Defekt. Allgemein gilt: Je höher etwas in der Seins- oder Handlungsordnung steht, desto größer sein Abstand zum Guten, wenn es schlecht ist. Die Möglichkeit des Schlechten ist aber als solche nach Thomas in der Idee   Ebd., q.  48 a.  1.   Vgl. zum Folgenden q.  48 a.  2, c. 131   Vgl. unten, Anm.  135. 129

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einer vollkommenen Seinsordnung angelegt. Denn die Grade und gestuften Möglichkeiten des Schlechten sind als mögliche Komplemente in den Seins- und Vollkommenheitsstufen selbst verankert, so dass gilt: „Die Vollkommenheit des Universums macht es erforderlich, dass es manches gibt, was das Gute verfehlen kann; was dazu führt, dass es dieses manchmal [tatsächlich; H.T.] verfehlt.“132

Das Schlechte gründet in der Möglichkeit des Schlechten; diese wiederum macht die Seinsordnung erst vollkommen. Was aber generisch möglich ist, dass wird auch zumindest zeitweilig wirklich. Dennoch hört das Schlechte nicht auf, schlecht zu sein. Diese These ist – anders als die schlichte Straftheorie des Schlechten, aber auch als die einfältige These, dass alles Schlechte für irgendetwas anderes gut ist – weder gedankenlos noch zynisch. Aber sie ist eine anspruchsvolle und keineswegs leicht zu verstehende spekulative Behauptung über die Seinsordnung im Ganzen, da sie besagt, dass es schlechthin zweckwidrige natürliche Übel nicht gibt, da jedes natürliche Übel in der an sich vollkommenen Ordnung des Seins der Möglichkeit nach fundiert ist, auch wenn sein faktisches Eintreten kontingent sein mag. Die These ist auch insofern anspruchsvoll, als sie im Prinzip falsifizierbar ist: durch den Nachweis eines tatsächlich ordnungswidrigen natürlichen Übels. Voltaire und anderen Anklägern Gottes kann es allerdings nicht so leicht gelingen, ein solches Übel zu benennen, wie sie selbst glauben. Auf diesen Zusammenhang wird noch zurückzukommen sein.

4.  Probleme einer Theologie aus Ontologie Es ist nun angebracht, noch einmal zusammenfassend auf die fünf Wege zurückzuschauen. Für die hier vorgeschlagene Interpretation derselben als fünf Aspekten eines durchgehenden theistischen Arguments spricht erstens, dass die Kontinuität dieser Überlegung zum Argument der Summa contra gentiles gewahrt bleibt, zweitens dass die Deutung es erlaubt, das Aufbau- und Organisationsprinzip des argumentativen Fortgangs zu erläutern. Drittens spricht für – und nicht etwa gegen – die so vollziehbare durchlaufende Deutung, dass erst so die ontologische Komplexität und die systematische Wucht dieses aristotelischen Zugangs133 zur Natürlichen Theologie sichtbar werden.   „[…] perfectio universi requirit ut sint quaedam quae a bonitate deficere possint; ad quod sequitur ea interdum deficere“. (STh I, q.  48 a.  2, c) 133   Das Aristotelische an der thomistischen Philosophie ist im 20. Jahrhundert immer wieder relativiert oder nahezu gänzlich in Abrede gestellt worden, zunächst in der Nachfolge Étienne Gilsons als Verteidigung einer eigenständigen ‚christlichen‘ Philosophie, dann in der Nachfolge Werner Jaegers auch zunehmend umgekehrt als ‚Reinigung‘ der aristotelischen Lehre von angeblichen christlichen ‚Überformungen‘. Es ist an der Zeit, diese zu einem allge132

4.  Probleme einer Theologie aus Ontologie

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Was den ersten Punkt betrifft, so soll hier zum bereits Gesagten nur hinzugefügt werden, dass sich die Kerngedanken der fünf Wege allesamt bereits in dem einen fortlaufenden Gottesbeweisversuch der kleinen Summe wiederfinden lassen, wie man sich leicht überzeugen kann. Etwas ausführlicher ist daher nur der zweite Punkt zu behandeln, bevor die im dritten Punkt enthaltene These gegen einschlägige Kritik zu verteidigen sein wird. Der Grundgedanke des theistischen Arguments wird bei Thomas im ersten Weg ausgesprochen. Er geht von der allgemeinen Tatsache der Bewegung und Veränderung aus und arbeitet die dafür konstitutive Spannung zwischen dem Aktualen und dem Potentiellen heraus.134 Diese Spannung führt schon bei Aristoteles selbst nicht allein auf den seinskonstitutiven Gegensatz von Form und Materie, sondern sie drängt die Reflexion, diese Spannung auf die beiden Prinzipien eines rein Aktualen und eines rein Potentiellen zurückzuführen und damit auf den Gegensatz einer reinen subsistierenden Form, die nur eine geistige sein kann, also auf Gott als erstes Aktuales, und einer rein potentiellen, formal unbestimmten ersten Materie. Schon hier kann Thomas mit Aristoteles monotheistisch argumentieren. Denn formgleiche Substanzen sind nur dadurch als numerisch verschiedene individuierbar, dass sie materiell, also etwa leiblich verfasst sind. Eine rein aktuale Form kann aber nichts Materielles an sich haben. Zugleich kann ein erstes Aktuales nicht formal verschieden von einem anderen sein. Daraus folgt nach Aristoteles bereits die ontologische Selbstwidersprüchlichkeit des Polytheismus. Es gibt nur ein erstes Aktuales.135 Dieser Gedanke drängt von sich aus zu einer näheren kausalen Betrachtung des Verhältnisses von Akt und Potenz, wie sie der zweite Weg beinhaltet, und zwar weil schon der erste Weg vom Phänomen der Bewegung ausgeht, was unmittelbar die Frage nach einem zu Grunde liegenden kausalen Prinzip aufwirft. Demnach erscheint das rein Aktuale notwendig als erste Wirkursache und damit im aristotelischen Sinn als erstes Bewegendes, weil eine Potenz nur durch etwas Aktuales aktualisiert werden kann, etwas rein Potentielles wie die Erstmaterie nur durch etwas rein Aktuales. Dieser Gedanke bleibt ebenfalls Aristoteles treu, da er – zumindest in der Lesart, für die hier geworben werden soll – meinen Vorurteil geronnene Lehrmeinung der heutigen Aristoteles- und Thomas-Forschung als mögliche Idiosynkrasie einer Epoche gründlicher auf den Prüfstand zu stellen, als das hier geschehen kann. 134   Auf diese Weise bringt er zugleich die modalitätstheoretischen Studien aus Met. Θ mit den theologischen Überlegungen aus Met. L in den sachlichen Zusammenhang, in den sie gehören. 135  Vgl. Met. L 10. Nicht widersprüchlich ist nach Aristoteles dagegen ein solcher Polytheismus, in dem verschiedene Götter nicht nebeneinander und gegeneinander herrschen, sondern in einem hierarchischen Verhältnis der Über- und Unterordnung und Aufgabenteilung und ausgerichtet an einer obersten Gottheit. Vgl. ebd., L 8. Diese Denkfigur wird von Thomas in der Angelologie wieder aufgegriffen und ausgebaut, in der Gott als Schöpfer und Herrscher eines hierarchisch geordneten Geisterreichs, nämlich dem der Engel und der Seligen, repräsentiert wird. Vgl. bes. STh I, qq.  50–64.

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von der Voraussetzung einer ewigen Welt ausgeht, Gott also nicht als der Zeit nach erste Ursache alles aktual Seienden ansieht. Aber die Reihenfolge der Betrachtung lässt sich auch nicht umkehren, da erst die modale Betrachtung des ersten Weges der Kausaluntersuchung die Richtung gibt. Denn nicht nach der effizienten Verursachung von diesem und jenem ist hier gefragt, sondern in prinzipieller Weise danach, welche Bedingungen die erste Wirkursache der Aktualisierung eines rein Potentiellen erfüllen muss. Dient der erste Weg also zunächst einmal der begrifflichen und ontologischen Exposition der Extreme von Akt und Potenz, so setzt sie der zweite Weg ontologisch zueinander in Beziehung. Reale ontologische Beziehungen sind aber ihrem Wesen nach entweder Kausalbeziehungen, oder sie gehen aus Kausalbeziehungen hervor.136 Diese Linie verfolgt der dritte Weg weiter. Hier wird die bisherige Analyse um eine Betrachtung der zeitlichen Bedingungsverhältnisse des bewegten Seienden erweitert. Leitend ist dabei die Einsicht, dass alles kontingente Seiende dem Entstehen und Vergehen unterworfen und dass alles Vergängliche kontingent ist. Kausalitätstheoretisch führt das zum Prinzip, dass jede Veränderung eine Ursache haben muss, und damit zurück zum zweiten Weg. Hier jedoch wird das ‚muss‘ in diesem Gedanken genauer betrachtet, mithin der Gedanke, dass kontingentes Seiendes als bedingtes in seinem Sein von anderem abhängt, was für seine Existenz notwendig ist. Damit kommt man auf den Gedanken der Notwendigkeit von Formen für das aktuale Sein des Kontingenten; von Formen überhaupt für Aktualität überhaupt, von differenten Formen für artverschiedenes aktual Seiendes. Der dritte Weg knüpft an die modale Betrachtung des Seins des Seienden im ersten Weg an und resultiert erneut im Gegensatz einer ersten, rein aktualen Form und einer ersten, rein potentiellen Materie, aber nun unter dem Gesichtspunkt erster Notwendigkeiten dafür, dass es Kontingentes gibt. Zugleich erlaubt es der dritte Weg, in ontologischen Fragen nicht beim abstrakten Gegensatz des Kontingenten und des Notwendigen und damit des Vergänglichen und des Ewigen stehenzubleiben. Eingeführt wird hier stattdessen ein Begriff gestufter Notwendigkeiten, der für die Ontologie von außerordentlicher Bedeutung ist. Allerdings kann man den dritten Weg auch stärker kausalitätstheoretisch deuten als hier vorgeschlagen. In gewisser Weise fokussiert der dritte Weg nämlich auf das Verhältnis von Material- und Formursache, während der zweite die Wirkursächlichkeit ins Zentrum der Betrachtung rückt. Zugleich hat der dritte Weg damit eine Scharnierfunktion als Überleitung zu den zusammengehörigen ontologischen Betrachtungen des vierten und fünften 136   Diese These soll als ontologisch plausibles Theorem hier nicht begründet werden, zumal die Kausalitätsskepsis in weiten Teilen der Philosophie des 20. Jahrhunderts in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend an Kredit verloren hat. Der in der These ausgedrückte Gedanke verleiht Humes und Mackies Rede von Kausalität als ‚Zement des Universums‘ ihre Grundplausibilität, ungeachtet des verkürzten und humeanisch entstellten Kausalbegriffs, den Mackie darein investiert.

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Weges. Liefert er nämlich den Gedanken einer Vielfalt von Seinsformen, fügt dem der vierte Weg den Gedanken einer Ordnung der Formen und damit einer formalen Seinsordnung hinzu, die sich auch als Ordnung generischer Vollkommenheiten beschreiben lässt. Demgegenüber etabliert der fünfte Weg die Idee einer Bewegungsordnung, wodurch das natürliche, bewegte Seiende insgesamt als naturgesetzlich geordnetes Ganzes denkbar wird, unbeschadet der Tatsache, dass das natürliche Sein beständiger Veränderung unterworfen ist, das einzelne Seiende dem Entstehen und Vergehen. Das Ganze der Seins- und Bewegungsformen ist die Bedingung dafür, dass der Zusammenhang natürlicher Bewegungen, Veränderungen, Entstehens- und Vergehensprozesse sich beständig erneuern kann. So betrachtet spinnen der vierte und der fünfte Weg den Gedanken des dritten Weges weiter aus. Sie ergänzen ihn allerdings um einen zentralen Aspekt, nämlich den der Finalkausalität. Auch hier folgt Thomas der aristotelischen Lehre, wonach auch das Gute Ursache ist, nämlich als Ziel.137 Denn schon die vollständige Aktualisierung einer Form ist etwas Gutes und damit selbst Ziel bestimmter natürlicher Prozesse, nämlich der Entstehung natürlicher Substanzen. In solchen Prozessen erneuert sich die Seinsordnung immer wieder aufs Neue. Erst recht dominant ist die teleologische, finalkausale Analyse des Seienden als Bewegungsordnung im fünften Weg, die es erlaubt, die Tätigkeiten und Seinsvollzüge natürlicher Substanzen als geordneten, abgestimmten, die Seinsordnung erhaltenden Interaktionszusammenhang einander wechselseitig fordernder und ergänzender Operationen zu verstehen. Dieser Gedanke führt deswegen auf Gott, weil die Abstimmung der natürlichen Bewegungsformen aufeinander eine teleologische Ordnung aufweist, die nicht auf eine intentionale Abstimmung der natürlichen Substanzen untereinander zurückgeführt werden kann. Damit macht der fünfte Weg zugleich einen Gedanken verständlich, der im Kontext der aristotelischen Theologie etwas kryptisch bleibt, nämlich dass Gott den Kosmos als Zweck und „wie ein Geliebtes“ bewege.138 Ein Geliebtes bewegt das Liebende – anders als ein Begehrtes das Begehrende – nicht einfach attraktiv, also zu sich hinziehend, sondern indem es das Liebende motiviert, ihm zu gefallen und sich nach ihm zu richten.139 In Analogie dazu kann man sagen, dass auch Gott das bewegte Seiende bewegt, als werde er von ihm geliebt, indem es sich nämlich in die göttliche und weise gefügte Ordnung einfügt. „Von einem solchen Prinzip hängen also der Himmel und die Natur ab.“140

Die Rede von Liebe ist dabei allerdings deutlich als Metapher markiert, da buchstäblich nur Erstrebtes (orekton) und Erkanntes (noeton) geliebt werden   Met. A 2, 982 b; K 1, 1059 a 35–38.   Met. L 7, 1072 b 3–5. 139   NE I 4. 140   „ek toiautes ara arches ertetai ho ouranos kai he physis.“ (Met. Λ 7, 1072 b 14) 137

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können,141 was voraussetzt, dass das Liebende strebens- oder erkenntnisfähig ist. Die These von Gott als erstem Beweger und letztem Ziel aller Bewegung ist aber strikt universal und nicht auf das Reich des Lebendigen beschränkt. Der fünfte Weg hilft nun, den Zusammenhang ohne Rekurs auf die Liebesmetapher zu erläutern. Die Rede von Gott als einem Geliebten ist deswegen metaphorisch angemessen, weil die natürlichen Bewegungen sich in eine göttliche Ordnung einfügen, die es erlaubt, die jeweils lokalen, spezifischen oder generischen Ziele der Bewegungsarten und Bewegungsformen als tatsächlich gut anzusehen und so den begrifflichen Zusammenhang zwischen dem Begriff des Guten und dem des Ziels im Seienden wiederzufinden. Der ontologisch-theologische Gedankengang der fünf Wege führt also von der Bewegung zum reinen Gegensatz von Potenz und Akt, von dort zur Aktualität von Wirkursachen und der reinen Aktualität einer ersten Wirkursache, von dort zur Kontingenz des bewirkten Seienden und zu den gestuften Notwendigkeiten seiner aktualen Existenz. Dieser Gedanke lässt sich schließlich erweitern zur Idee einer Gesamtordnung der Seins- und Bewegungsformen. Damit schreitet Thomas den gesamten Horizont der aristotelischen Ontologie ab und investiert das gesamte Arsenal ontologischer Prinzipien, welches auch schon Aristoteles selbst sich in seiner Metaphysik erarbeitet und in seinen theologischen Reflexionen einsetzt, wenn auch nicht in der von Thomas erreichten übersichtlichen Darstellungsform. Der Grund allerdings, aus dem die fünf Wege meist nicht als Teile eines zusammenhängenden und komplexen Gedankengangs gelesen werden, sondern als je separate ‚Beweise‘ oder Argumente für die Existenz Gottes, liegt zum einen in der Herkunft dieser Argumente und der Geschichte ihrer weiteren Verwendung bis zu Kant, zum anderen in eben der Darstellungsform, die Thomas ihnen gibt. Was den historischen Punkt betrifft, so ist der erste Weg klar aristotelischer Provenienz, aber Spielarten des zweiten und fünften Weges finden sich auch in Platons Timaios und in der stoischen Ontologie, ebenso wie der dritte Weg, den Kant dann als den ‚kosmologischen Gottesbeweis‘ bezeichnet hat. Der vierte Weg trägt zwar platonische Züge, geht in der von Thomas verwendeten Form aber eindeutig auf Anselm zurück. Zweiter, dritter und fünfter Weg führen in der rationalistischen Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts dann ein Eigenleben, was rückblickend bei der Thomas-Lektüre das Vorurteil bestärkt, dass es sich schon hier um fünf je eigenständige Argumente handele. Die Darstellungsform fördert diese Interpretation, da jeder der fünf Wege mit einer Konklusionsformel wie „welches jedermann Gott nennt“ (quam omnes Deum nominant) bzw. „und das heißen wir Gott“ (et hoc dicimus Deum) endet. Machen wir also die Gegenprobe und prüfen wir, wie eigenständig die einzelnen Wege sind. Der erste Weg ist insofern eigenständig, als er die Grundfigur   Met., ebd., 1072 a 26.

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aristotelischer Theologie überhaupt enthält. Doch schon der zweite und dritte Weg werden erst dadurch zu nachvollziehbaren und nicht einfach auf dogmatisch gesetzten Annahmen beruhenden Argumenten, dass man sie auf den Gedanken des ersten Weges zurückführt. Erst dadurch werden sie systematisch stark. Erster, zweiter und dritter Weg bilden zusammen eine in sich geschlossene Einheit, die es erlaubt, Gott als ersten Beweger zu begreifen. Dem vierten und fünften Weg kommt argumentativ betrachtet keine so große Beweiskraft zu wie den ersten drei, wie spätestens die modernen Rekonstruktionen des fünften Weges in der Physikotheologie zeigen. Sie bestätigen und bestärken aber das Ergebnis der ersten drei Wege, indem sie durch eine ontologische Betrachtung der Seins- und Bewegungsformen das zeigen, was zu erwarten ist, wenn man von einem aktualen und ewigen geistigen Ursprung alles Seienden ausgeht: Ordnung, Vollkommenheit und Schönheit. Die zusammenschauende Interpretation stärkt die argumentative Kraft der fünf Wege, die fragmentierende Lesart schwächt sie, indem sie die Einheit der Überlegung aufhebt. Denn wie alle kumulativen Argumentationen gibt sie Anlass zu zwei Fragen, die sie nicht beantworten kann: (1) Warum liefert Thomas genau fünf ‚Beweise‘ und nicht mehr oder weniger? (2) Warum begnügt er sich nicht mit einem einzigen Beweis, wo doch allgemein gilt, dass ein echter Beweis genügt, die Wahrheit einer Konklusion zu sichern? Der Wortlaut der Argumentation kann die hermeneutische Frage nicht entscheiden, da die Schlussformel am Ende jedes Weges nicht als Konklusion eines Beweises gelesen werden muss, sondern ebenso als nominale Identifikation des Redegegenstandes mit Gott (im bei uns gebräuchlichen Sinn des Ausdrucks) verstanden werden kann, also im Sinne der Verbindung eines Namens mit einer argumentativ erarbeiteten Kennzeichnung.142 Das wäre vereinbar mit der Lesart, dass die fünf Wege aus fünf miteinander verbundenen ontologischen Grundprinzipien ein zusammenhängendes theologisches Argument entwickeln. Gegen die mit der zusammenhängenden Lesart der fünf Wege verbundene These, dass hier ein komplexes systematisches Argument von beträchtlichem metaphysischem Gewicht formuliert wird, lassen sich verschiedene Einwände vorbringen. Der schwächste ist sicher der, dass keiner der fünf Wege von Thomas selbst entdeckt worden ist und dass Thomas hier lediglich bekannte Argumente kompiliere. Thomas selbst beansprucht an keiner Stelle Originalität für sein Denken, wie seine beständige Auseinandersetzung mit autoritativen und anderen Quelltexten sowie mit den Werken seiner Zeitgenossen zeigt, und das gilt auch für die fünf Wege.143 Ungeachtet dieser Bescheidenheit lässt sich sehr 142   Wobei die Kennzeichnung wie oben gesehen keine ‚innere‘, sondern lediglich eine ‚relationale‘, nämlich kausale sein kann. Ähnlich wie hier vorgeschlagen deutet auch Müller 2001, S.  37, die fünf Wege, erkennt aber einen inneren argumentativen Zusammenhang explizit nur für das Verhältnis von erstem und zweitem Weg an; vgl. ebd., S.  40. 143   Vgl. te Velde 2006, S.  37.

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wohl konstatieren, dass die Durchdringung der verschiedenen hier vereinten theistischen Argumente bei Thomas ein zuvor nicht und danach nur selten erreichtes analytisches Niveau hat. Gewichtiger ist der Einwand Kants gegen den kosmologischen und den physikotheologischen Gottesbeweis, denn er betrifft erstens zwei der fünf Wege, und zweitens impliziert die zusammenhängende Lesart der fünf Wege, dass das gesamte Gefüge des Gedankengangs empfindlich gestört wird, wenn nicht gar als widerlegt gelten muss, wenn eins oder mehrere seiner Glieder sich als unbrauchbar erweisen. Kant wendet bekanntlich gegen kosmologische und physikotheologische Argumente ein, dass sie den ‚ontologischen‘ Gottesbeweis voraussetzen müssten. Träfe das zu, dann wäre das insbesondere für Thomas, der den ‚ontologischen‘, eigentlich apriorischen Gottesbeweis für unmöglich hält, eine sehr schlechte Nachricht. Oben hatte sich gezeigt, dass Kants Kritik des ontologischen Gottesbeweises weder Anselm noch Descartes trifft. Sie trifft lediglich den Beweisversuch aus dem Begriff eines schlechthin vollkommenen Wesens, dessen Geschichte sich von Johannes von Damaskus über Leibniz bis zu Gödel und Plantinga erstreckt. Aber für Thomas ist damit nichts gewonnen. Denn er hält dieses Argument für genauso wertlos wie Kant. Schlimmer noch, wenn Kant Recht hätte, dann wäre eben dieses wertlose Argument Voraussetzung für Thomas’ gesamte ontologische Überlegung und fiele mit dieser Voraussetzung.144 Kant selbst ist sich der Triftigkeit dieses Befundes bekanntlich so sicher, dass er auf eine eigenständige Diskussion des kosmologischen und des physikotheologischen Gottesbeweises weitgehend verzichtet. Betrachten wir Kants Kritik näher. Die Untersuchung wird wie auch bei seiner Kritik des ‚ontologischen‘ Arguments dadurch erschwert, dass er beide Argumente, das kosmologische wie das physikotheologische, ziemlich sorglos und nachlässig formuliert. So schreibt er mit Bezug auf den kosmologischen Beweis: „Er lautet also: Wenn etwas existiert, so muss auch ein schlechterdingsnotwendiges Wesen existieren. Nun existiere, zum mindesten, ich selbst: also existiert ein absolutnotwendiges Wesen. Der Untersatz enthält eine Erfahrung, der Obersatz die Schlussfolge aus einer Erfahrung überhaupt auf das Dasein des Notwendigen.“145

In dieser Rekonstruktion lässt sich der dritte Weg, also der „Beweis, den Leibniz auch den a contingentia mundi nannte“,146 kaum wiedererkennen. Nahezu alle ontologischen Gehalte des ursprünglichen Arguments, von der Zeitlichkeit und Endlichkeit des Kontingenten bis hin zur Idee gestufter Notwendigkeiten, 144   „Die Physikotheologen [also auch Thomas; H.T.] haben also gar nicht Ursache, gegen die transzendentale Beweisart [des ontologischen Arguments] so spröde zu tun, und auf sie mit dem Eigendünkel hellsehender Naturkenner, als auf das Spinnengewebe finsterer Grübler, herabzusehen.“ (KrV, B 657) 145   KrV, B 632 f. 146   Ebd., Kursivierung H.T.

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sind hier getilgt. Die Formulierung Kants klingt eher wie eine etwas ausgedünnte Paraphrase des theistischen Arguments der dritten Meditation, indem sie wie Descartes von je meiner Existenz auf die Existenz Gottes schließt, wenn auch ohne Rekurs auf Descartes’ Gründe für diesen Übergang. Nun trennt Kant aber den cartesischen Beweis scharf vom kosmologischen. Kant ist für seine Rekonstruktion sehr daran gelegen, den ‚empirischen‘, d. h. eigentlich den allgemein ontologischen Gehalt der Prämissen so minimal wie möglich zu halten, und dazu kommt ihm der als Erfahrungssatz gedeutete Schlusssatz des Cogito-Arguments, nämlich ‚Ich existiere‘, gerade recht.147 Die Gründe für diese Veränderung der Prämissen sind noch zu untersuchen. Aber Kant fügt dem dritten Weg zur Erkenntnis Gottes noch etwas hinzu, nämlich dass die Konklusion zu einem „schlechterdings“ bzw. „absolut“ notwendigen Wesen führe. Davon ist im dritten Weg gar nicht die Rede. Ganz im Gegenteil: Das ‚kosmologische‘ Argument kann und soll die Notwendigkeit eines nichtkontingenten und damit ewigen Seienden nur relativ zur Existenz des kontingenten, endlichen Seienden zeigen, dessen Existenz allerdings als manifeste Erfahrungstatsache in die Prämissen des Arguments aufgenommen wird. Dieser massive Eingriff in Struktur und Gehalt des kosmologischen Arguments erlaubt Kant zweierlei: zum einen den leichteren Übergang vom kosmologischen zum ontologischen Argument, zum anderen die Diagnose eines Non sequitur, da die „Schlussfolge“, d. h. Schlussregel ‚Wenn irgendetwas existiert, dann muss etwas absolut Notwendiges existieren‘ zwar eine materiale Implikation ausdrückt, nicht aber ein gültiges begrifflich-ontologisches Prinzip. Denn Vorderglied und Nachglied dieser Implikation werden hier auf rein äußerliche Weise zusammengebracht; eine echte Grund-Folge-Beziehung besteht nicht. Das Prinzip des kosmologischen Arguments lautet ganz anders, nämlich: ‚Wenn etwas Bedingtes existiert, dann existiert auch das dafür notwendige Bedingende‘. Kants kosmologisches Argument ‚vernünftelt‘, wie er richtig bemerkt (B 634); vom ursprünglichen kosmologischen Argument gilt das nicht. Damit ist Kants Kritik des kosmologischen Arguments aber noch nicht an ihrem Ziel. Denn er muss noch zeigen, dass das absolut notwendige Wesen, von dem sein kosmologisches Argument handelt, genau das ens realissimum seines ontologischen Arguments ist. Kant unterstellt dem Vertreter dieses Arguments, dass dieser die entsprechende Gleichsetzung vornehme, genauer, dass er im Begriff des allerrealsten Wesens die notwendige und hinreichende Bedingung dafür finde, diesem Wesen auch die absolut notwendige Existenz zuzuschreiben.

147   Kant deutet das gesamte Cogito-Argument durchgehend als empirisch; vgl. auch seine Widerlegung des Idealismus, in der er das ‚Ich bin‘ als „empirische Behauptung“ bezeichnet (B 274).

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V.  Naturerkenntnis und spekulative Theologie

„Nun schließt der Beweis weiter: das notwendige Wesen kann nur auf eine einzige Art […] bestimmt werden, folglich muss es durch seinen Begriff durchgängig bestimmt sein. Nun ist nur ein einziger Begriff von einem Dinge möglich, der dasselbe a priori durchgängig bestimmt, nämlich der des entis realissimi […].“148

Genau genommen verhalte es sich aber umgekehrt, so Kant: Der Begriff des absolut notwendigen Wesens setze den des ens realissimum voraus. Die Begründung, welche er dafür liefert, ist allerdings recht waghalsig: „Es ist aber klar, dass man hiebei voraussetzt, der Begriff eines Wesens von der höchsten Realität tue dem Begriffe der absoluten Notwendigkeit im Dasein völlig genug. […] Denn die absolute Notwendigkeit ist ein Dasein aus bloßen Begriffen. Sage ich nun: der Begriff des entis realissimi ist ein solcher Begriff, und zwar der einzige, der zu dem notwendigen Dasein passend und ihm adäquat ist: so muss ich auch einräumen, dass aus ihm das letztere geschlossen werden könne. Es ist also eigentlich nur der ontologische Beweis aus lauter Begriffen, der in dem sogenannten kosmologischen alle Beweiskraft enthält […].“149

Waghalsig ist diese Argumentation gleich an zwei entscheidenden Stellen. Erstens behauptet Kant, dass die Entsprechung des allerrealsten zum absolut notwendig Seienden vorausgesetzt werde. Den Nachweis für eine solche Voraussetzung im kosmologischen Argument bleibt er aber schuldig. Angenommen nun, es habe mit dieser Gleichsetzung seine Richtigkeit, so ist es gar nicht verwunderlich und kein großes Zugeständnis einzuräumen, dass aus dem Begriff des allerrealsten Wesens seine notwendige Existenz „geschlossen werden kann“. Denn wenn höchste Realität und absolute Notwendigkeit ohnehin koextensionale Begriffe sind, dann kann jederzeit vom einen auf den anderen salva veritate geschlossen werden, und umgekehrt. Die Frage darf für Kant daher gar nicht lauten, ob in dieser Richtung geschlossen werden kann, sondern ob im kosmologischen Argument in dieser Richtung geschlossen wird. Zumindest für Thomas lässt sich das klar verneinen, wie sich oben gezeigt hat. Weder schließt er offen oder verdeckt vom Begriff eines schlechthin realen, durchgängig bestimmten Wesens auf dessen notwendige Existenz, noch forscht er im Zuge dieses Arguments „unter lauter Begriffen: was […] ein absolutnotwendiges Wesen überhaupt für Eigenschaften haben müsse“ (B 634 f.). Denn Thomas bestimmt im Zuge der fünf Wege überhaupt keine Eigenschaften Gottes. Das tut er vielmehr im Zuge eines sehr komplexen theologischen Argumentationsganges, der sich im Zuge einer negativen Theologie Schritt für Schritt die Elemente einer affirmativen Theologie erarbeitet.150 Dass das kosmologische Argument das ‚ontologische‘ voraussetze, ist und bleibt also vor allem Kants Behauptung.   KrV, B 633, Kursivierungen H.T.   Ebd., B 635, Hervorhebung H.T. Vgl. auch die Erläuterung bei Cramer 1967, S.  155. 150  Vgl. STh I, qq.  3 –13 enthält Thomas’ negative Theologie; q.  13 a.  12 etabliert die Möglichkeit affirmativer theologischer Rede; qq.  14–42 entwickelt die Grundlagen affirmativer Theologie von den Gottesattributen bis zur Trinitätstheologie. 148 149

4.  Probleme einer Theologie aus Ontologie

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Ferner spielt Kant die Bedeutung der ‚empirischen‘ Prämisse des kosmologischen Arguments herunter, indem er gerade die Konklusion des Cogito-Arguments an die Stelle der eigentlich dem Argument zugehörigen Prämisse rückt, dass es kontingentes, in seinem Sein von anderem abhängiges Sein gebe (dass Kant dann auch noch den Begriff der Bedingtheit bzw. Abhängigkeit mit dem der Wirkung aus einer Ursache gleichsetzt und so den dritten Weg mit dem zweiten identifiziert, d. h. verwechselt (B 637), hat seinen Grund in einer tiefen Amphibolie des Kantschen Kausalitätsbegriffs, die hier nicht aufgeklärt werden kann). Er behauptet, diese Prämisse habe keinen anderen Zweck als den, „einen einzigen Schritt zu tun, nämlich zum Dasein eines notwendigen Wesens überhaupt“ (B 634). Damit geht aber der gesamte systematische Witz des kosmologischen Arguments verloren, das gerade von einer ganz allgemeinen und massiven, durch allgemeine Erfahrung reich bestätigten ontologischen Prämisse ausgeht.151 Dagegen stattet Kant in seiner Rekonstruktion den physikotheologischen Beweis mit der Fülle an empirischem Gehalt aus, die er dem kosmologischen entzieht. Seine Prämissen enthalten bei Kant weit mehr, als im fünften Weg angesprochen wird, nämlich „Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit“ nicht bloß natürlicher Bewegungen, sondern der „gegenwärtige[n] Welt“ (B 650) überhaupt. Kant selbst kann und will sich dem Eindruck dieser Phänomene auf das Denken keinesfalls entziehen: „Dieser Beweis verdient jederzeit mit Achtung genannt zu werden.“152

Er will auch weder das „Ansehen“ dieses Arguments zerstören noch seine „Vernunftmäßigkeit und Nützlichkeit“ (B 652) in Frage stellen. Im Gegenteil, in der Kritik der Urteilskraft vollzieht er eine weitgehende Verteidigung des physikotheologischen Arguments, indem er in der Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit der Natur einen Hinweis auf einen Schöpfer erblickt, den die reine praktische Vernunft uns zugleich als moralischen Weltenlenker und Weltenrichter anzusehen nötige.153 Was er dagegen leugnet, ist die Beweiskraft dieses Arguments im eigentlichen Sinn; für ihn führt das physikotheologische Argument zum Glauben, nicht zum Wissen, dass Gott existiert.154 Doch wir wissen schon, dass Thomas mit diesem Ziel kaum Schwierigkeiten hätte, da er selbst dem fünften Weg für sich genommen ebenfalls keine starke Beweiskraft zuschreibt.   Wie viele andere hält Ferrari dagegen Kants Rezeption des kosmologischen und des physikotheologischen Arguments für sachlich angemessen; allein gegen die Rekonstruktion des ontologischen Arguments meldet er gewisse Bedenken an. Vgl. Ferrari 1998, S.  505, 509, 513. 152   KrV, B 651. 153  Vgl. KU, §§  85–89, sowie die Schlussanmerkung, bes. B 471. 154   KrV, B 652. 151

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V.  Naturerkenntnis und spekulative Theologie

In Kants Rekonstruktion geht das physikotheologische Argument in drei Schritten vor: (1) Es wird konstatiert, dass sich in der Welt durchgängig „deutliche Zeichen einer Anordnung nach bestimmter Absicht, mit großer Weisheit ausgeführt“, finden lassen. (2) Diese Anordnung wird als den Dingen selbst „zufällig“, d. h. nicht auf ein natürliches Prinzip, sondern allein auf ein „vernünftiges Prinzip“ zurückführbar gedacht. (3) Daraus wird geschlossen, dass es eine weise Ursache gebe, die nicht allein wie die Natur, durch „Fruchtbarkeit“, sondern „als Intelligenz, durch Freiheit die Ursache der Welt sein muss“. Kant deutet diesen Schluss als Analogieschluss: Die Anordnung der Teile der Natur zu einem zweckmäßigen Ganzen werde im Verhältnis zu einem weisen Urheber gedacht, weil die Anordnung der Teile in einem Artefakt, bei „Häusern, Schiffen, Uhren“ sich ebenfalls dem Können und der ‚Weisheit‘ eines Urhebers, eines Künstlers, Konstrukteurs oder Baumeisters verdanke. Dabei werde die durchgehende Zweckmäßigkeit des Naturganzen, da sie als solche nicht beobachtbar sei, „mit Wahrscheinlichkeit“ angenommen.155 Vergleicht man diese Rekonstruktion mit Thomas’ Ausführungen zu Naturteleologie, dann fällt auf, dass Thomas sich zwar der Analogie des Naturganzen mit Artefakten bedient, dass er aber daneben stets die Analogie mit dem Ganzen eines Lebewesens stellt. Das zeigt, dass ihn, anders als Kant, der eigentlich demiurgologische Gedanke eines die Welt konstruierenden Gottes nicht beschäftigt. Auch ist ihm die Nebeneinanderstellung natürlicher und übernatürlicher Ursachen, von der Kants Rekonstruktion lebt, ganz fremd. Kant identifiziert hier wie auch sonst natürliche Ursachen mit Wirkursachen. Daher kann er Ziel­ ursachen nicht anders denn als hinzukommende übernatürliche Ursachen denken. Das gilt selbst noch für die Kritik der Urteilskraft, die Urteile über Naturzwecke ausschließlich im Modus der uneigentlichen, vorläufigen, heuristischen Zwecken dienenden Rede zulassen will.156 Im Gegensatz dazu fragt der fünfte Weg nach den Ursachen und Prinzipien natürlicher Ordnung und Gesetzmäßigkeit selbst, statt einen Gegensatz und ein ungeklärtes Nebeneinander natürlicher und übernatürlicher Ursachen zu konstruieren. Doch damit ist Kants logische Analyse des physikotheologischen Arguments noch nicht abgeschlossen. Für ihn ist der entscheidende Schritt (2), nämlich der Übergang vom Gedanken der Zufälligkeit natürlicher Zweckmäßigkeit im Sinne des Prinzips der Wirkkausalität zum Prinzip der vernünftigen Urheberschaft. Denn darin verbirgt sich nach Kant ein unvermerkter Übergang zum kosmologischen Argument, welches ja seinerseits auf das ontologische reduzierbar sei. „Also blieb der physischtheologische Beweis in seiner Unternehmung stecken, sprang in dieser Verlegenheit plötzlich zu dem kosmologischen Beweise über, und da dieser nur ein   KrV, B 653 f.  Vgl. KU, §§  70 ff.

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4.  Probleme einer Theologie aus Ontologie

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versteckter ontologischer Beweis ist, so vollführte er seine Absicht wirklich bloß durch reine Vernunft, ob er gleich anfänglich alle Verwandtschaft mit dieser abgeleugnet und alles auf einleuchtende Beweise aus Erfahrung ausgesetzt hatte.“157

Aber den Nachweis, dass der kosmologische Beweis nur ein versteckter ontologischer ist, bleibt Kant uns wie oben gesehen schuldig. Zudem hat er nicht Recht zu sagen, dass das eigentliche Gewicht des Arguments auf dem Begriff der Zufälligkeit beruhe. Jedenfalls gilt das nicht für den fünften Weg. Kosmologischer und physikotheologischer Beweis gehen von klar unterschiedlichen Beweisgründen aus, was Kant kaum würdigt. Auch scheint es in der Gesamtschau wenig fair, die erfahrungsbezogenen Prämissen des kosmologischen Arguments so auszudünnen, wie Kant es tut, und sie gerade zum schwächsten der drei Argumente hin zu verschieben. Es scheint fast, als sollten die Beweise so eigens für ihre ‚Widerlegung‘ zurechtgestutzt werden. Obendrein ist Kants Verständnis von Naturteleologie nur noch so gering ausgebildet, dass ihm wichtige Voraussetzungen für ein angemessenes Verständnis des physikotheologischen Arguments fehlen. Jenseits der im Detail ausgesprochen fragwürdigen Kritik Kants am kosmologischen und physikotheologischen Argument bringt er allein seinen ganz allgemeinen Einwand gegen jegliche ‚unkritische‘ Metaphysik vor, nämlich gegen den „spekulativen Vernunftgebrauch“, der zu Aussagen „von einem Gegenstande geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann“.158 Dass aber Vernunft nicht über das Feld möglicher Erfahrung hinaus denkend zu Erkenntnissen gelangen kann, obwohl es ein „Bedürfnis der Vernunft“159 ist, das zu tun, das zeigt Kant nicht, sondern es ist die nicht mehr begründete durchgängige Voraussetzung seiner Kritik. Es ist, mit Wolfgang Cramer gesprochen, der Grund für Kants „transzendentalen Dogmatismus“.160 Nach dieser Diagnose ist man versucht, Kants Charakterisierung des Grundgedankens der Natürlichen Theologie auf seine eigene Kritik zu beziehen und zu sagen: „Gleichwohl bleibt diesem Argumente […] ein Ansehen, das ihm, wegen dieser objektiven Unzulänglichkeit, noch nicht sofort genommen werden kann.“161

Mehr noch, Kants Versuch einer Widerlegung aller Gottesbeweise in der Theoretischen Philosophie erfreut sich ungeachtet der Kritik Hegels und Schellings bis heute eines so großen Ansehens in der Philosophie, dass auf ihre Prüfung oft genug ganz verzichtet wird. Aber so hält es selbst ein philosophisches oder wissenschaftliches Publikum nur allzu häufig mit Argumentationen, deren Resul-

  KrV, B 657.   Ebd., B 662 f. 159   Ebd., B 611. 160   Cramer 1967, S.  120. 161   KrV, B 616 f. 157

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V.  Naturerkenntnis und spekulative Theologie

tat es schon vorher und unabhängig von den vorgebrachten Argumenten für richtig hält. Ein weiterer Einwand gegen den Ansatz der thomistischen Ontologie stammt von Gunnar Hindrichs und besagt, dass hier eine materiale Ontologie zur Voraussetzung der Theologie werde.162 Hindrichs betrachtet also als Schwäche, was oben gerade als Stärke des thomistischen Gedankengangs behauptet worden ist. Der Verdacht, der diesen Einwand speist, ist der, dass eine auf anderen Prinzipien beruhende Ontologie auch theologisch zu anderen Ergebnissen führen könnte. Eine Prozessontologie im Sinne Whiteheads, so die Vermutung, würde wohl ebenso sicher zu einer Prozesstheologie führen, wie die aristotelische Substanzontologie zu einer Substanztheologie führt. Nun ist die Rede von ontologischer Relativität spätestens seit Quines gleichnamigem Aufsatz sehr verbreitet.163 In dieser Perspektive scheint es, als sei die Pluralität möglicher Ontologien und die Relativität der sich auf bestimmte Ontologien stützenden theologischen und sonstigen wissenschaftlichen Aussagen ein unhintergehbares Datum der Natürlichen Theologie. Allerdings muss man dabei zunächst beachten, dass Quine selbst eine Ontologie lediglich als semantische Interpretation eines formalen Aussagen- und Prädikatenkalküls ansieht, und zwar relativ zu Zielen und Funktionen der jeweiligen Theorie.164 An eine philosophische Erhellung des Seins des Seienden ist dabei nicht gedacht; jede solche Frage ist jenseits des Horizonts Quineschen Denkens. Quines Ontologiebegriff und derjenige der Tradition sind schlicht äquivok. Lässt man Quine hinter sich, dann ist die Auffassung, dass es irreduzibel verschiedene konkurrierende Ontologien geben könnte, schlechthin unvereinbar mit dem Begriff der Ontologie, für den nicht nur Thomas steht, sondern die gesamte Tradition. Eine ausgearbeitete allgemeine Ontologie wird nicht ‚gewählt‘, noch beruht sie auf ‚Entscheidungen‘ oder ‚Annahmen‘. Sie wird vielmehr, so das traditionelle Verständnis, durch das Studium der Phänomene entdeckt, und es kann ihrem Begriff nach nur eine einzige geben. Unvereinbare ontologische Thesen sollten daher grundsätzlich immer als konkurrierende Hypothesen angesehen werden, von denen folglich höchstens eine wahr sein kann. Hier ist nicht genügend Raum, um über die schon vorgebrachten Ausführungen hinaus zu erläutern, wie genau Thomas im Anschluss an Aristoteles diese Ontologie erkenntnistheoretisch und naturphilosophisch rechtfertigt und aufbaut. Doch sollte für den Rahmen der hier relevanten Überlegungen der Hinweis genügen, dass in die Prämissen der fünf Wege keine Prämissen eingehen, die eine besondere und sinnvoll bestreitbare ontologische Theorie

  Vgl. Hindrichs 2008, S.  30.   Vgl. Quine 2003. 164   Vgl. ebd., S.  67. 162

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4.  Probleme einer Theologie aus Ontologie

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voraus­setzen. Sie zu bestreiten hieße bloß, robuste Phänomene der allgemeinen Erfahrung zu bestreiten. Man kann darauf auch nicht erwidern, dass das moderne wissenschaftliche Weltbild auf einer anderen Ontologie beruhe oder wenigstens eine solche nahelege. Es ist wahr, dass die neuzeitliche Physik und Chemie die Strukturen der Materie gründlich erforscht und dem Begriff der nichtintentionalen Wirkursache große Aufmerksamkeit schenkt. Aber eine Fokusverschiebung ist kein Wandel der Ontologie, und eine Nichtbeachtung von Formal- und Finalkausalität sollte nicht für eine Widerlegung dieser Kausalkategorien gehalten werden. Die Unvereinbarkeit klassischer Ontologie und moderner Naturwissenschaft ist eine rein philosophische, aber schlecht begründete Behauptung. Mit diesen Hinweisen, die eine ausgearbeitete allgemeine Ontologie allerdings untermauern müsste, soll die Diskussion an dieser Stelle abgebrochen werden.165 Einen verwandten Einwand bringt Wolfgang Cramer vor. Er kritisiert an kosmologischen Argumenten wie den fünf Wegen, dass hier das Bedingte – die bewegte Welt – zur Bedingung des Unbedingten – Gottes – gemacht werde, was er für widersinnig hält. In der Tat nehmen solche Argumente ja Tatsachenaussagen über die beobachtbare Welt in ihre Prämissen auf, und da diese die eigentliche Begründungslast tragen, sind sie auch nicht eliminierbar. Doch was an diesem Verfahren Cramer widersinnig erscheint, gehört eben zum Kern des aristotelischen Philosophie- und Wissenschaftsverständnis, nämlich die Gegenläufigkeit von ratio essendi und ratio cognoscendi, der Seins- und der Erkenntnisordnung. An sich bzw. in der Seinsordnung gründet die Wirkung in der Ursache, die erste Wirkung in der ersten Ursache, die zweite Wirkung in der zweiten Ursache, die ihrerseits Wirkung der ersten Ursache ist, etc. Aber uns als endlichen denkenden Wesen sind in der Erkenntnisordnung die Wirkungen bekannter und zugänglicher als die Ursachen, die nächsten Ursachen ihrerseits näher und bekannter als die ersten, etc. Die Erkenntnis des an sich Bekannten, der ersten Ursachen, ist uns nicht so gegeben wie die Phänomene, sondern muss erst erarbeitet werden. Methodisch ergibt sich damit aus aristotelischer Sicht eine klare Zurückweisung jeder dogmatischen, deduktiv von Aussagen über 165   Den ambitionierten Versuch einer von Aristoteles inspirierten ausgearbeiteten Ontologie, deren Beziehungen zur Theoriebildung moderner Naturwissenschaften erläutert werden, unternimmt Oderberg 2007. Ein weiteres Problem mag man in der grundsätzlichen Erfahrungsoffenheit jeder recht verstandenen Ontologie sehen, die eine gewisse Falsifizierbarkeit und damit Revidierbarkeit ihrer Aussagen einschließen muss. Das betrifft allerdings insbesondere die speziellen Aussagen zu besonderen Gegenstandsbereichen, nicht so sehr die allgemeinen Aussagen und erst recht nicht die Prinzipien, wenn diese einmal richtig bestimmt sind. Die fünf Wege enthalten aber keine besonderen, gegenstandsbereichsspezifischen Prämissen, sondern nur robuste und allgemeine ontologische Aussagen, deren Geltung durch Revisionen der Theorie nicht betroffen sein kann. Allerdings gilt es bei solchen Versuchen stets, die von Thomas zitierte aristotelische Warnung zu bedenken, dass in der Ontologie wie in der Philosophie überhaupt kleine Fehler am Anfang große Probleme in der Durchführung verursachen können (DEE, S.  15).

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V.  Naturerkenntnis und spekulative Theologie

erste Ursachen zu Aussagen über Wirkungen und Phänomene fortschreitenden Metaphysik, wie etwa Spinoza oder Leibniz sie versuchen, als methodisch in­ adäquat. Dieser allgemeinen methodischen Forderung muss auch die Natürliche Theologie genügen. Sie kann daher nicht anders vorgehen, als das uns weniger bekannte Unbedingte über das Studium des uns bekannteren Bedingten zu erschließen. Ein eigentlicher Fehler würde aus diesem vermeintlichen Widersinn erst dann, wenn Differenz und Gegenläufigkeit von Seins- und Erkenntnisordnung nicht gesehen oder geleugnet würden.166 Verwandt mit beiden Einwänden, aber doch von beiden verschieden ist der u. a. von Dieter Henrich vorgebrachte Einwand, dass auf aristotelisch-thomistische, genuin ontologische Weise die Existenz Gottes nur relativ zur Existenz der Welt und damit gewissermaßen hypothetisch gezeigt werde, nicht als innere Notwendigkeit.167 Damit werde nicht das gezeigt, was gezeigt werden solle. Auf diesen Einwand könnte Thomas erwidern, dass hier Unmögliches gefordert werde. Denn wenn uns der Weg Anselms verstellt sei, dann bleibe nur der Weg, Gott durch seine Schöpfung hindurch zu erkennen und damit unvermeidlich relativ dazu. Gottes Wesen sei uns eben kognitiv unzugänglich, und deswegen sei eine Forderung wie die Henrichs unerfüllbar und nichtig. Durch analoge Wesensbestimmungen sei es obendrein möglich, mehr über das Wesen Gottes zu erfahren, als der ungeduldige Einwand zugestehen mag. Doch Cramers und Henrichs Bedenken lassen sich zu einem handfesten Einwand ausbauen, wenn man sie im Sinne von Descartes’ Zurückweisung der thomistischen Theologie auffasst. Denn Descartes weist ja wie gesehen in seiner Antwort auf Caterus darauf hin, dass der Weg von der Natur- und Seinserkenntnis zur Gotteserkenntnis nur dann gangbar ist, wenn die Möglichkeit von Natur- und Seinserkenntnis theologieunabhängig gerechtfertigt werden kann. Der radikale erkenntnistheoretische Zweifel lässt eben das unmöglich erscheinen. Er entzieht Thomas den Boden, den er für seine Argumentation braucht. Ohne vorgängige Erkenntnis der Existenz und zumindest einiger Eigenschaften Gottes ist nach Descartes keine Naturerkenntnis möglich. Folglich scheint es, als könne es keinen Weg von der Natur- und Seinserkenntnis zur Gotteserkenntnis geben. Dieser Zug führt die gesamte bisherige Untersuchung in eine grundlegende Aporie.

166  In diesem Sinne charakterisiert auch te Velde die thomistische Theologie, wenn er schreibt: „In thise sense, the ‚concept‘ of God is, in truth, the concept of the relationship between God and world, conceived as an ordered plurality of diverse beings, each of which receives its being from the divine source of being. For Thomas there is no way of thinking of God concretely outside this relationship.“ (Te Velde 2006, S.  85) 167   Vgl. Henrich 1960, S.  174 f.

VI.  Geist, Vernunft, Natur 1.  Eine Aporie Der cartesische Zweifel bringt die thomistische, aposteriorische Theologie in eine fundamentale Schwierigkeit. Die Basis dieser Theologie, so hatten wir gesehen, soll die allgemeine Ontologie sein, die ihrerseits im erläuterten Sinn induktiv aus Beobachtung und Erfahrung gewonnen wird. Nun muss man kein radikaler Wahrnehmungs- und Erfahrungsskeptiker sein, um hier einen Einwand anbringen zu können. Denn Beobachtungen und Erfahrungen müssen artikulierbar sein. Als Gedanken nehmen sie eine bestimmte logische Form an. Diese fordert es, dass der Gehalt von Beobachtungen und Erfahrungen unter logische Kategorien gebracht wird. Substanzen müssen von Akzidenzien unterschieden werden, etc. Woher nimmt Thomas die Gewissheit, dass die Kategorien den Gegenständen der Beobachtung und Erfahrung überhaupt angemessen sind? Kann diese Angemessenheit bei Thomas überhaupt anders begründet werden als theologisch? Sollte das aber der Fall sein, dann gerät die thomistische Theologie anscheinend in einen Begründungszirkel.1 Denn die theologische Begründung der Adäquatheit der Denk- und Urteilsformen in Bezug auf die Sachen, auf die sich Gedanken und Urteile beziehen, muss lauten, dass Gott uns als seine endlichen Ebenbilder mit denjenigen kognitiven Vermögen ausgestattet hat, die zu Wissen und Welterkenntnis erforderlich sind, und dazu gehören neben einer hinreichend leistungsfähigen Sinnlichkeit vor allem Denkvermögen, also das Vermögen, Begriffe zu bilden, zu urteilen und zu schließen. Diese Vermögen müssen als Mittel zur Erkenntnis des Wahren und Falschen verstanden werden, nicht etwa als Hindernisse oder Trübungen des Seins- und Wirklichkeitsbezugs. Das muss dann aber auch für die Denkkategorien gelten, die wir zwar nicht umstandslos mit Seinskategorien gleichsetzen dürfen, die wir aber dennoch als formal geeignet ansehen müssen, Seinsformen denkend in unseren Geist aufzunehmen. Aber die Voraussetzung dieses Arguments, nämlich Gott und seine Attribute einschließlich bestimmter Vermögen und gewisser Absichten, soll durch die erfahrungsgestützte Ontologie erst bewiesen werden. Also begründet der Gottesgedanke die Möglichkeit von Seinserkenntnis, die dann ihrerseits zur Gotteserkenntnis führen soll. Eine   Vgl. zu diesem Problem der aristotelischen Metaphysik auch Balmès 2010.

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VI.  Geist, Vernunft, Natur

Ontologie, die ihre Voraussetzungen erst im Nachhinein rechtfertigen kann, ist zirkulär begründet, was soviel heißt wie: nicht begründet. Das Problem ließe sich cartesisch lösen, durch eine direkte Theologie ohne Durchgang durch die allgemeine Ontologie, d. h. in Umkehrung der aristotelischen Begründungsordnung. Aber einem solchen Verfahren erteilt wiederum Thomas eine deutliche Absage. Denn er misstraut wie gesehen dem apriorischen Schluss von Denknotwendigkeiten auf Seinsnotwendigkeiten. Dass Gott das größte Denkbare sei, ist ein Gedanke, von dem er es für möglich hält, dass er durch bloß kontingente Tradition auf uns gekommen ist.2 Descartes hält diesem Einwand zwar mit Anselm entgegen, dass die faktische Genese dieses Gedankens in unserem Geist für das Argument nicht relevant ist, da wir die Existenz eines solchen Wesens einsehen müssen, wenn wir den Gehalt des Gedankens erfasst haben. Aber Thomas kann dagegenhalten, dass eine Denknotwendigkeit als solche dennoch keine ontologischen Schlüsse zulasse. Denn vielleicht ist die Gottesidee einfach nur als Grenzbestimmung unseres endlichen Denkens denknotwendig, als Inbegriff dessen, was unser Geist wäre, wenn alle mit der Endlichkeit einhergehenden Beschränkungen von ihm genommen wären. Ontologische Aussagen benötigen nach Thomas über die Strenge des methodischen Denkens hinaus noch einen Rückhalt in der Erfahrung und damit eine denkunabhängige Beglaubigung durch die Wirklichkeit. Nun lässt sich durchaus fragen, ob dieser Zweifel an der ontologischen Leistungsfähigkeit reinen Denkens nicht letztlich das thomistische Projekt selbst zerstört. Denn die ersten Seinsursachen sind ihrerseits, wie Thomas immer wieder einschärft, keine Gegenstände der Erfahrung. Das bedeutet, dass das ontologische Denken das Erfahrbare ohnehin transzendieren muss, um zu ihnen zu gelangen. Das kann aber nur durch reines Denken geschehen. An irgendeiner Stelle seines Voranschreitens muss das thomistische Denken also den unmittelbaren Erfahrungsbezug aufgeben und sich auf die Kraft induktiven Schlussfolgerns allein verlassen. Das schließt aber ein, dass es sich auf Denk­not­ wendigkeiten verlassen muss, da der Induktion andernfalls die Richtung fehlen würde. Wenn nun Denknotwendigkeiten noch keine Seinsnotwendigkeiten etablieren, warum sollen es dann diejenigen Notwendigkeiten tun, auf welche das thomistische Denken der ersten Ursachen stößt? Es scheint Thomas kaum zu helfen, dass er auf den indirekten Erfahrungsbezug seiner Theologie verweisen kann, nämlich darauf, dass seine denknotwendigen Ursachen zugleich das erklären, was phänomenal in der Erfahrung gegeben ist, nämlich die bewegliche und in sich veränderliche Wirklichkeit. Denn eine denknotwendige Entität, die obendrein noch etwas Erfahrbares erklären hilft, scheint letztlich nicht besser ontologisch bestätigt zu sein als eine bloß denknotwendige Entität. Sie kann

 Vgl. SG I 11, S.  34/35.

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1.  Eine Aporie

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nämlich nicht gegen jeden Zweifel als tatsächliche Ursache des Erfahrbaren ausgewiesen werden. Vielleicht ist ja die tatsächliche Erstursache schlechthin nicht intelligibel. Dass wir diese Möglichkeit nicht denken können, ist nach Thomas’ eigenen Voraussetzungen anscheinend nicht hinreichend zu zeigen, dass sie nicht besteht. Obendrein scheint es, als zersetze die Kritik des Denknotwendigen sogar noch den thomistischen Erfahrungsbegriff selbst, da weder die aristotelischen Kategorien noch die sonstigen für die fünf Wege relevanten ontologischen Begriffe, die vier Ursachen oder die Modalbegriffe, über ihre wenn auch erfahrungs- und wahrnehmungsbezogene Denknotwendigkeit gerechtfertigt werden, nämlich darüber, dass sie notwendig sind, um das Wahrgenommene überhaupt zu denken und zu artikulieren. Thomas lehrt zwar mit Aristoteles, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit selbst uns diese allgemeinsten Begriffe aufnötigt, aber sie tut dies nur, weil wir denkende Wesen sind. Auf der anderen Seite ist die thomistische Skepsis gegen apriorische Theologie im Stile Anselms oder Descartes’ geeignet, Misstrauen gegen ontologisch nicht hinreichend abgesicherte theologische und sonstige spezielle metaphysische Aussagen zu nähren. Scheint es doch methodisch etwas sonderbar, wie Descartes auf der einen Seite einen so grundsätzlichen Zweifel an den selbstverständlichen Gegebenheiten der alltäglichen Erfahrung zu wecken, um sich dann auf der anderen Seite in so wenig selbstverständliche und erfahrungsferne apriorische Spekulationen zu vergraben, ohne dafür noch irgendeinen Rückhalt in der allgemeinen, auf Gegenstände der Erfahrung bezogenen Ontologie zu suchen, wie man an Anselms Denkweg ersehen kann. Man muss kein radikaler Denkskeptiker sein, um zu befürchten, dass sich das endliche Denken hier selbst womöglich überfordert. So gerät die Natürliche Theologie in eine unbehagliche Lage. Scheint es doch, als destruierten sich die beiden ehrgeizigsten und gründlichsten Projekte der philosophischen Theologie wechselseitig. Apriorische theologische Spekulation erscheint in diesem Licht als wenn nicht haltlos, so doch nicht hinreichend methodisch abgesichert und vieldeutig im Hinblick auf ihre Resultate, während aposteriorisches, erfahrungsgestütztes philosophisch-theologisches Denken erstens vor dem Problem einer zirkulären Begründung steht, sich zweitens stärker auf reines Denken und damit auf apriorische Elemente stützen muss, als ihm lieb sein kann. Beide Ansätze können sich also mit Gründen gegenseitig einen Mangel an theoretischer Fundierung vorwerfen. Sollten die beiden Ansätze letztlich aneinander zu Grunde gehen? Das wäre paradox genug. Wie sollte das möglich sein, wo doch beide, wenn auch auf gegensätzlichen Wegen, zum gleichen Resultat gelangen? Könnten sie sich da nicht ebenso gut gegenseitig stützen, wie sie sich gegenseitig zu zerstören scheinen? Der anselmisch-cartesische Ansatz etwa, indem er dem aristotelisch-thomistischen nicht die mangelnde Fundierung des Anfangs in der Erfah-

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VI.  Geist, Vernunft, Natur

rung vorhält, sondern diesen Anfang reflexiv absichert? Der thomistische Ansatz, indem er Anselm und Descartes nicht etwa den Zugang zum Sein über reines Denken vorwirft, sondern diesen Ansatz durch eine sorgfältige und empirisch gesättigte allgemeine Ontologie bestätigt und vertieft? Dazu wäre es allerdings erforderlich, die beiden Projekte einer apriorisch und einer stärker aposteriorisch argumentierenden Theologie nicht wie ihre Protagonisten als konkurrierende, aber auch nicht wie Kant als aufeinander stillschweigend aufbauende, sondern als komplementäre Ansätze der Natürlichen Theologie zu verstehen. Für eine solche Lesart wird hier Raum gelassen, indem Descartes’ Meditationen nicht so sehr wie sonst verbreitet als Aufbau einer allgemeinen ‚materialen‘ Ontologie auf Grundlage der speziellen gedeutet werden, sondern als reflexive Rechtfertigung der Möglichkeit, überhaupt Ontologie zu betreiben, wie es von Anfang an im Duktus der cartesischen Überlegung angelegt ist. In dieser Lesart konkurriert sein Projekt – wenn auch entgegen manchen Aspekten im subjektiven Selbstverständnis des Autors – nicht mehr mit dem aristotelischen. Es kann mit Aristoteles nicht konkurrieren, da durch das cartesische Verfahren keine allgemeine Ontologie zu gewinnen ist, was wiederum bedeutet, dass auch die Aussagen seiner speziellen Ontologie einen provisorischen Charakter haben müssen, so lange ihnen nämlich die Einbettung in die allgemeine Ontologie fehlt. Man stärkt daher das cartesische Projekt, wenn man es auf einer anderen theoretischen Ebene ansiedelt als das aristotelisch-thomistische. Auch Anselm wäre darin gut aufgehoben. Umgekehrt hilft man dem aristotelischen Projekt auf, wenn man es nicht begründungstheoretisch überlastet, indem man dem Ansatz bei den Phänomenen der Erfahrung eine höhere theoretische Sicherheit zuschreibt, als ihm eigentlich zukommt. Der moderne Empirismus ist notorisch an dem Versuch gescheitert, in der Erfahrung selbst eine infallible Basis jeglichen Wissens zu finden. Das aristotelische Projekt muss auf die Infallibilität der Basis verzichten und setzt sich damit unweigerlich skeptischen Einwänden aus. Hier würde aber in der komplementären Deutung wiederum der cartesische Gedanke helfen, indem er die Skepsis daran hindert, ihre destruktive Kraft zu entfalten. Insgesamt, so der optimistische Gedanke, wäre es denkbar, dass beide Ansätze wechselseitig ihre Schwächen kompensieren. Allerdings erinnert diese Art wechselseitiger Unterstützung ein wenig an die prekäre Balance, die in Anselms Monologion zwischen dem Gedanken von Gott als Quelle und dem von Gott als Maßstab alles Guten besteht (vgl. oben, III 2). Es bedarf eines gewissen Aufwandes an rekonstruktiver theoretischer Arbeit zu zeigen, dass sie nicht genauso trügerisch und brüchig ist. Für eine echte Komplementarität der Projekte wäre nichts gewonnen, wenn in der Begründung der Natürlichen Theologie lediglich ein großer Zirkel abgeschritten würde. Diesen Verdacht legt die Rede von wechselseitiger Absicherung unweigerlich nahe. Dann wäre die scheinbar konstruktive Deutung des Verhältnisses

2.  Glauben, Wissen, Spekulation

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von apriorisch und aposteriorisch begründeter Natürlicher Theologie aber um nichts besser als die oben skizzierte destruktive. Das wiederum zeigt die ganze Tiefe der Aporie, in welche sich die Natürliche Theologie unweigerlich zu verstricken scheint. Und so mag mancher glauben, dass sich Kants Bedenken gegen dieses Projekt der Speziellen Metaphysik im Nachhinein doch noch als berechtigt erweisen.

2.  Glauben, Wissen, Spekulation Historisch betrachtet befinden wir uns damit an einem Punkt, an dem Schellings reifes theologisches Denken einsetzt. Zugleich schließt sich damit der Bogen der hier vorgetragenen Überlegung zum Anfang hin, denn aus der energischen Absage an die Theologie Schellings als die am höchsten entwickelte theoretische Gestalt der philosophischen Theologie hat Feuerbach einen Großteil der Motivation zu seiner anthropologischen Umdeutung der Theologie bezogen. Die Einsicht in die Unhaltbarkeit dieser Umdeutung legt es gerade nahe, Schellings Theologie erneut zu prüfen, was Feuerbach selbst an keiner Stelle ernsthaft tut. Tatsächlich zeigt sich bei genauerer Prüfung, dass Schelling auf eigentümliche Weise an einer Integration apriorischer und aposteriorischer Ansätze in der Theologie arbeitet. Insofern legt sich die Hinwendung zu Schelling gerade hier inhaltlich nahe. Dessen Ehrgeiz reicht allerdings wesentlich weiter als der Fragehorizont der vorliegenden Arbeit. Nichts Geringeres wird hier versucht als eine Synthese nicht nur der Hauptprojekte Natürlicher Theologie, sondern auch mit offenbarungstheologischen Gedanken, wie man sie in der patristischen und scholastischen Literatur, insbesondere aber bei Augustinus, Anselm, Thomas oder Bonaventura findet. So beansprucht Schelling, mit einer Philosophie der Offenbarung sowohl die Natürliche Theologie als auch eine nicht mehr rein philosophisch abgesicherte reine Offenbarungstheologie zu vereinen. Dabei soll das relative Recht dieser Unternehmungen aber anerkannt werden. Natürliche Theologie und Offenbarungstheologie sollen in einer umfassenden Philosophie der Offenbarung aufgehoben, nicht durch diese ersetzt werden.3 Nichtsdestoweniger soll es sich bei diesem Unternehmen um ein genuin philo3  Vgl. PO, S.  11 ff. Alle Stellenangaben aus der Philosophie der Offenbarung beziehen sich auf das von Walter Ehrhardt herausgegebene ursprüngliche Manuskript zu der von Schelling erstmals 1831/32 unter diesem Titel in München gehaltenen Vorlesung. Zur Editionsgeschichte und zu den Differenzen zwischen dem Manuskript und der von Schellings Sohn Karl Friedrich August herausgegebenen Fassung, aber auch der von dem evangelischen Theologen und Schelling-Gegner Heinrich Paulus veröffentlichten Berliner Vorlesungsmitschrift von 1841/42 vgl. das Nachwort Ehrhardts, ebd., S.  729 ff. Vgl. mit der hier vorgelegten Interpretation auch die Deutung Koslowskis in Koslowski 2001.

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sophisches Projekt handeln, ja um die Vollendung der Philosophie.4 Obendrein soll in dieser Philosophie das Verhältnis des – christlichen – Offenbarungsglaubens nicht nur zu den monotheistischen Religionen des Judentums und des Islam, sondern auch und vor allem zur polytheistischen Mythologie geklärt werden, die Schelling durchaus unkonventionell als „natürliche Religion“ bezeichnet.5 Insofern ist eine entsprechende Philosophie der Mythologie als notwendige Vorstufe Teil des Gesamtprojekts der Philosophie der Offenbarung, 6 und ihre wichtigsten Resultate werden im Vorlesungsmanuskript zur Philosophie der Offenbarung ausführlich referiert.7 Dass er damit versucht, dem landläufigen Verständnis nach Unvereinbares zu vereinen, weiß er sehr wohl: „Wer zuerst den Ausdruck ‚Philosophie der Offenbarung‘ hört, dem wäre es nach dem allgemein angenommenen und beglaubigten Begriff von Philosophie gar nicht zu verübeln, wenn er diesem Begriff gemäß, nach welchem die Philosophie das Wissen ist, welches die Vernunft rein aus sich selbst hervorbringt, unter Philosophie der Offenbarung einen Versuch verstünde, die Ideen der geoffenbarten Religion als notwendige oder als reine Vernunftwahrheiten darzustellen. […] [Wo]zu [aber], so könnte man fragen, gäbe es eine Offenbarung, wenn man doch nichts erführe, als was man auch ohne sie wüsste oder wissen könnte?“8

Dass Schelling ein so deutliches Bewusstsein von der Heterogenität der verschiedenen Theoriestränge artikuliert, die in seine synthetische Offenbarungsphilosophie eingehen, rechtfertigt es methodisch, einzelne Stränge seines theologi­schen Denkens analytisch herauszupräpaprieren und für sich zu diskutieren, ohne damit einer Gesamtbeurteilung des Projekts einer Offenbarungsphilosophie vorzugreifen. Im Folgenden soll allein der Theoriestrang der Natürlichen Theologie interessieren, der von Schelling in dieses Projekt eingearbeitet wird. Dieses Verfahren erlaubt es, seine Stellung in der Natürlichen Theologie klarer zu sehen, als es eine bloß holistische Gesamtbetrachtung der manchmal als ‚spekulativer Empirismus‘ bezeichneten Spätphilosophie Schellings leisten kann. Doch bevor wir die Natürliche Theologie Schellings betrachten können, ist es nötig, ein gewisses Vorverständnis des Offenbarungsgedankens und seiner Stellung in einer philosophischen Theorie zu erarbeiten. Schelling selbst affirmiert das Verständnis der Philosophie an sich als reiner Vernunftwissenschaft durchaus, wenn er die Philosophie „als die schlechthin von vorn anfangende   Vgl. ebd., S.  402.   Ebd., S.  12. 6   Ebd., S.  6. 7   Ebd., 33.–48. Vorlesung. 8   Ebd., S.  402. Auf S.  18 kritisiert er Kants Religionsschrift als den Versuch, „bloß das Moralische aus dem Christentum“ zu nehmen und „nur dieses unter das Volk zu bringen“. Schellings eigener Versuch einer integrativen Offenbarungsphilosophie tritt auf eine interessante Weise in Konkurrenz zum Projekt der Summa Theologiae, die sich ja ebenfalls eine Synthese von Natürlicher und offenbarter Theologie präsentiert. 4 5

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Wissenschaft“ bezeichnet, d. h. eine Wissenschaft, die durch reines Denken Prinzipien findet und aus diesen Schlussfolgerungen zieht.9 Aus eben diesem Grund muss aber jeder Versuch der Philosophie, Offenbarungswissen auf reines Vernunftwissen zu reduzieren, scheitern. Reines Vernunftwissen bezieht sich auf reine Vernunftwahrheiten. Diese sind a priori einsehbar, weil es sich um notwendige Wahrheiten handelt. Die Selbstoffenbarung Gottes, die Thema dieser philosophischen Disziplin sein soll, ist aber ein freier Akt. Als solcher entzieht er sich jeder Einsehbarkeit a priori, d. h. aus reiner Vernunft. Der Gehalt der Offenbarung ist folglich nur durch Offenbarung einsehbar und verständlich und nicht aus Vernunftgründen deduzierbar. Darin gleicht er menschlichen Handlungen, die als je einzelne, nicht aus Prinzipien deduzierbare Akte nach Aristoteles in den Bereich des Kontingenten fallen und kein Gegenstand der Wissenschaft sind.10 Daher wendet sich Schelling energisch gegen entsprechende Reduktionsversuche, wie er sie in der Kantschen und nachkantischen Philosophie vorfindet, da hier der Offenbarungsgedanke nicht ernst genug genommen werde. Offenbarungstheologie kann auch und gerade nach Schelling kein Teil der Natürlichen Theologie sein. Der Eindruck einer unauflöslichen Spannung zwischen den Begriffen Philosophie und Offenbarung, die jeden Versuch einer Offenbarungsphilosophie zu einem in sich widersprüchlichen Unternehmen machen würde, ist aber nach Schelling dennoch grundfalsch, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen ist Offenbarung ein genuin kognitiver Begriff; jedes Offenbarte muss ein Erkanntes sein. Wenn es Offenbarung überhaupt gibt, dann muss es sich dabei um einen Modus der Erfahrung handeln – „es ist vieles, was wir a posteriori nicht aber a priori wissen“.11 Über Wissen aus Erfahrung kann aber nur ein vernünftiges Wesen verfügen, da Vernunft erforderlich ist, um von Wahrnehmungen zu Erfahrungserkenntnissen fortzuschreiten, „wie jedem einleuchtet, der die Kantische Theorie der Erkenntnis innehat“.12 Wenn das so ist, dann kann Offenbarung, wenn es sie gibt, nicht außerhalb der thematischen Zuständigkeit der als Vernunftwissenschaft verstandenen Philosophie liegen. Vielmehr muss der Gehalt der Offenbarung verständlich sein bzw. verständlich gemacht werden, und das heißt: in einen theoretischen Zusammenhang mit unserem sonstigen Wissen 9   Ebd., S.  19. Wortgleich findet sich diese Definition der Philosophie auch in den Münchener Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie, vgl. GNP, S.  9. 10  Vgl. NE A 1, 1094 b. In diesem Zusammenhang ist auch die Kritik des Duns Scotus an Thomas von Aquin zu lokalisieren, dem er vorwirft, die Schöpfung aus dem Wesen Gottes herzuleiten und so ihren eigentlichen Charakter einer freien, auf Liebe gegründeten Handlung zu verkennen. Vgl. Reportatio, dd. 39–40, S.  71 ff., d. 41, S.  120 ff. Die Berechtigung dieser Kritik kann hier nicht diskutiert werden. 11   PO, S.  404; Kursivierung H.T. 12   Ebd., S.  23. Der Kontext an dieser Stelle bezieht sich allerdings eher auf die Notwendigkeit einer formalen Entsprechung zwischen Erkennendem und Erkanntem; ein Zusammenhang, der unten wichtig wird.

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und Denken gebracht werden. Dies kann allemal nur eine Leistung der Vernunft und letzten Endes der Philosophie sein. Zum anderen ist die Bestimmung der Philosophie als von vorn anfangender Wissenschaft doppeldeutig; sie lässt eine subjektive und eine objektive Lesart zu. Gemäß der subjektiven Lesart wäre Philosophie Propädeutik, die an die subjektiven Vormeinungen und Vorurteile ihrer Adressaten anknüpfte und diese durch einfache Fragen und Überlegungen nach und nach berichtigte, wie dies etwa in den Frühdialogen Platons geschieht. In diesem Sinne kann die Bestimmung aber nicht gemeint sein, da sie nichts der Philosophie Eigentümliches benennt, sondern vielmehr das allen Propädeutiken in jeder erdenklichen Disziplin des Wissens Gemeinsame. Somit muss die Bestimmung im objektiven Sinn verstanden werden. „[Die Philosophie] kündigt sich nicht als eine Wissenschaft an, die mit der Notwendigkeit anfängt, sich allem zu unterwerfen, was bei einer gewissen Art der Gedankenverbindung zum Vorschein kommt; sie kündigt sich vielmehr als Wissenschaft an, die einen bestimmten Zweck hat […]. Die Philosophie macht daher zuvörderst unverhohlen eine Forderung an sich selbst: sie verlangt, dass sie etwas Gewisses mit Bewusstsein erreiche.“13

Von vorn anfangen heißt in der objektiven Lesart demnach zweierlei: es heißt anfangen, wo die Sache selbst anfängt, um die es geht, nämlich bei ihrem Prinzip. Und es heißt, nicht mit einer willkürlichen, blinden Setzung anzufangen. Die Idee eines philosophischen Prinzips ist mit dem Gedanken einer bloßen Setzung unvereinbar, da aus Setzungen nur hypothetische Folgerungen möglich sind, nicht aber ‚kategorische‘, von der bedachten Sache geltende. Das Prinzip muss daher einsichtig sein oder einsichtig gemacht werden, also ‚mit Bewusstsein erreicht‘ werden können. Philosophie kann daher nicht anders, als von der Erfahrung selbst zurückzugehen zu deren Prinzipien, und zwar sowohl zu den subjektiven – dies geschieht in der Philosophie des Geistes – als auch zu den objektiven – dies geschieht in der Philosophie der Natur. Eine besondere Stellung nimmt dabei die historische Erfahrung ein, da zu ihren Prinzipien sowohl subjektive als auch objektive Prinzipien gehören, so dass sich die Historie der einfachen Opposition von Geist- und Naturphilosophie entzieht. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Wenn man von dieser Komplikation einmal absieht, so findet man hier ein überraschend klares Bekenntnis zur strengen Methode der Wissenschaft, wie man sie sowohl bei Aristoteles und Thomas als auch bei Descartes findet: Der methodisch gesicherte Gang des Denkens geht von einem zuverlässigen Anfangspunkt hinreichend sicheren Wissens aus und schreitet der ausgewiesenen Methode gemäß fort. Welche Methode Schelling selbst wählt, wird im Einzelnen zu betrachten sein.

  Ebd., S.  19.

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Allerdings klingt es bei Schelling in der vierten Vorlesung der Philosophie der Offenbarung dann doch so, als wolle er doch mit einer Setzung beginnen, nämlich unter der Voraussetzung der Freiheit, denn Philosophie sei „keineswegs gesonnen“, „das für wahr zu nehmen, was dem entschiedenen Wollen widerspricht“.14 In diesem Zusammenhang zitiert er sogar zustimmend das scheinbar zutiefst dezisionistische Diktum Fichtes über den Zusammenhang zwischen Philosophie und Charakter: „Es ist ein richtiger Satz: Wie der Mensch, so seine Philosophie – oder wie die Philosophie des Menschen, so er selbst.“15

Doch aus dem Zusammenhang wird deutlich, dass Schelling jeglicher Dezisionismus letztlich ebenso fern liegt wie schon Fichte. Freiheit kann nach Schelling vielmehr deshalb Prinzip der Philosophie sein, weil sie eine sehr robuste und durch breite Erfahrung gesicherte Tatsache ist. Denn das ‚entschiedene Wollen‘, von dem Schelling als von einer allgemeinen, grundlegenden Selbsterfahrung spricht, ist eben Ausdruck der Freiheit und ohne tatsächliche Freiheit nicht verständlich, so Schelling. Eine Philosophie, welche Freiheit für inexistent oder gar unmöglich erklärt, blamiert sich daher an unserer Erfahrung und kann ohne weitere Untersuchung als falsch verworfen werden.16 Dieser Ausgangspunkt enthält ein genuin cartesisches Motiv: den Ansatz bei der Selbstreflexion, mit einer objektiv schlechthin nicht bestreitbaren subjektiven Evidenz, aber nicht in der theoretischen Sphäre des eigenen Denkvollzugs, sondern in der praktischen Sphäre des eigenen Wollens. Ausgeräumt wird der Gedanke, dass die Freiheit des je eigenen Willens illusionär sein könnte. Dieser Gedanke ähnelt dem Gedanken Descartes’ aus der zweiten Meditation verblüffend. Die Parallele besteht darin, dass die Leugnung der menschlichen Willensfreiheit ebenso selbstwidersprüchlich ist wie die Leugnung oder auch nur der Zweifel an der eigenen Existenz: Das Fassen und Artukulieren des Gedankens, dass ich unfrei bin und über keinen selbstbestimmten Willen verfüge, ist selbst ein Akt der Freiheit und des selbstbestimmten Willens: Akt und Inhalt dieses Gedankens sind unvereinbar miteinander. Wie vor ihm Anselm und Descartes geht Schelling von einer Bewusstseinstatsache aus, von einer Erfahrung des Denkens mit sich selbst. Die Erfahrung der eigenen Existenz als frei wollendes und handelndes geistiges Wesen ist eine der fundamentalen Gewissheiten, von denen die Philosophie Schellings ausgehen kann. Sie integriert den anselmisch-cartesischen Grundgedanken – die Einsicht in die Unbezweifelbarkeit  Ebd.   Ebd., S.  21. Es versteht sich, dass dieser Satz nur dann mit dem Freiheitsgedanken verträglich verstanden werden kann, wenn er als Beschreibung der Struktur einer sich selbst wahrmachenden Aussage gedeutet wird, wie es die zweite Formulierung nach dem Gedankenstrich klar artikuliert. Genauso erläutert ihn bekanntlich schon Fichte. 16   Ebd., S.  20. Diesen Aspekt von Schellings theistischem Denken betont auch Hutter; vgl. Hutter 2012. 14

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der eigenen Freiheit schließt die Einsicht die Unbezweifelbarkeit der eigenen Existenz ein –, geht aber über ihn hinaus auf eine umfassendere Sicht der Seinsweise eines endlichen Vernunftwesens. Das gilt für Schellings gesamte Denk­ entwicklung, nicht erst für seine Spätphilosophie. Allerdings ist vielleicht nicht unmittelbar einleuchtend, welcher Weg von der praktischen Gewissheit der eigenen und damit der menschlichen Willensfreiheit in die Natürliche Theologie und darüber hinaus zur Offenbarungstheologie führen kann. Immerhin soll Letztere ja eine auf Erfahrung gegründete philosophische Theologie sein. Aber gegründet auf welche Erfahrung? Offenbar keiner Erfahrung des reinen Denkens mehr. Ein ebenso gearteter Übergang wie von der Evidenz der eigenen Existenz als unvollkommenes Geistwesen zur Evidenz der Verwiesenheit auf ein schlechthin vollkommenes Geistwesen wie bei Des­ cartes scheint sich aus der Evidenz der eigenen Existenz als freies wollendes Wesen nicht zu ergeben. Von hier aus wäre vielleicht ein mystischer Aufstieg zu Gott als der Quelle menschlicher Freiheit vorstellbar, aber dieser Weg ist für Schelling verschlossen, weil er nicht mehr auf dem Boden der Philosophie verlaufen würde. Bei der fraglichen Erfahrung kann es sich also nicht um irgendeine besondere, nur wenigen zugängliche Gattung der Empirie handeln. Dass keine Erfahrung ohne Vernunft möglich ist, macht nicht schon aus jeglicher Art von Erfahrung ein Thema der Philosophie; sonst wäre jede empirische Wissenschaft ipso facto Philosophie. Selbst wenn sich also Offenbarung als Erfahrungsmodus erweisen lässt, folgt allein daraus noch nicht die Möglichkeit einer Philosophie der Offenbarung, geschweige denn dass es sich dabei um ein in­ teressantes und wichtiges Projekt handeln muss. Vielmehr muss es sich um eine entweder sehr allgemeine oder sehr wichtige Erfahrung handeln, sei es hinsichtlich des Inhalts oder des Modus derselben. Nun legt die Rede von Offenbarung besonders Letzteres nahe. Es scheint, als bezeichne die Rede von Offenbarung gerade einen ausgezeichneten Modus der Erfahrung, etwa im Sinne einer außerordentlichen Erfahrung. Doch bezeichnenderweise legt Schelling keinerlei Gewicht auf Erfahrungsmodi. Er ist mitnichten ein Theoretiker religiöser Erfahrung im Sinne der heutigen Religionsphilosophie. Auch erteilt er der religiösen Mystik als Grundlage einer Philosophie der Offenbarung eine unmissverständliche Absage: „Alles, was von der Öffentlichkeit und allgemeinen Gültigkeit abzieht, ist Häresis, und so gibt es auch einen häretischen Mystizismus, der nur von dem innern Prozesse, nichts aber von dem Äußern der Kirche und der ganzen Anstalt hören will.“17

In der Durchführung seiner Offenbarungsphilosophie handelt er dann durchaus von den Visionen, der Prophetie und den Wundern, von denen in Altem und 17   PO, S.  710; Hervorhebung i. Orig. Entscheidend an diesem Gedanken ist, dass mystische Erfahrung nicht zur Grundlage einer Philosophie der Offenbarung werden kann, geschweige denn einer Philosophie überhaupt. Vgl. besonders zur Kritik an Jakob Böhme S.  464.

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Neuem Testament die Rede ist. Aber er behandelt sie durchgehend als das, was der Offenbarung selbst entweder voraus- oder mir ihr einhergeht, ohne aber ihr Wesen auszumachen. Die Offenbarung als solche ist nichts anderes als Jesus Christus selbst, sein Leben und seine Lehre,18 und nach ihm ist die Zeit der Prophetie und der Wunder vorbei. Als Ende und Abschluss der Offenbarung markiert Jesus zugleich das Ende einer Entwicklung, zu deren Stufen Visionen, Prophezeiungen und Wunder gehören.19 Wie immer auch dieser Gedanke genauer zu verstehen ist, klar ist, dass das Interesse der Philosophie an Offenbarung sich nicht auf deren Modus, sondern auf ihren Inhalt bezieht. Aber dennoch darf man Schellings Offenbarungsphilosophie auch nicht mit dem Projekt einer christlichen Philosophie verwechseln. Dem Anspruch nach hat die Offenbarungsphilosophie nämlich nichts mit Versuchen zu tun, eine Philosophie zu artikulieren, die zu den vorab für gültig erklärten Glaubensartikeln der christlichen Religion passt. Keines der bisher erörterten Projekte der Natürlichen Theologie lässt sich unter den so gedeuteten Begriff einer christlichen Philosophie bringen. Eine solche Philosophie bleibt ihrer Form nach notwendig fideistisch, d. h. auf einen unbegründeten Glauben gegründet, und steht damit aus Schellings Sicht im Widerspruch zum Wesen der Philosophie. Echte Philosophie darf ihre Prinzipien – seien sie nun christlich, polytheistisch, materialistisch oder idealistisch – nicht einfach annehmen und damit ‚intuitiv‘ vor­ aussetzen, sondern muss sie begründen. Denn Philosophie fordert ja, wie gesehen, „etwas Gewisses mit Bewusstsein“ zu erreichen. Das schließt jede bloß subjektive Gewissheit aus. Davon sind notwendig auch die Glaubensartikel der christlichen Religion betroffen. Das bedeutet aber auch, dass der Satz ‚Jesus Christus ist der Inhalt der Offenbarung‘ nicht vorausgesetzt, sondern als gültig ausgewiesen werden muss. Allerdings mag es manchmal scheinen, als gelinge es Schelling letztlich doch nicht, seine Offenbarungsphilosophie von fideistischen Elementen oder gar Prinzipien freizuhalten, so wenn er den Glauben als den Anfang,20 den Übergang des Denkens vom Wissen zum Glauben aber als höchstes Ziel der Offenbarungsphilosophie darstellt.21 Am Anfang der Offenbarungsphilosophie, so könnte ein unaufmerksamer Leser meinen, steht der Glaube im Sinne eines Entschlusses, die christliche Religion für wahr zu halten. An ihrem Ende stünde dann trivialerweise ebenfalls der Glaube, nämlich weil er als unbegründete Vor­ aussetzung schon in den Prämissen der gesamten Unternehmung enthalten ist. 18   Vgl. ebd., 73. Vorlesung. Schon in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums sieht Schelling in der Christologie die Grenze der reinen Philosophie und den Berührungspunkt von Philosophie und offenbarungsgestützter Theologie. Darauf macht Ehrhardt mit Nachdruck aufmerksam; vgl. Schelling 1803, 8.–9. Vorlesung, sowie Ehrhardt 2012, S.  57. 19   Vgl. ebd., 51. und 80. Vorlesung. Eine Referenzstelle für diese Aussage ist 1. Kor. 13,8. 20   Ebd., S.  414 f. 21   Ebd., S.  412.

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Diese zirkuläre Denkbewegung wird, so mag es scheinen, auch noch aus einem Bedürfnis des Geistes, also psychologisch erklärt: „Mit Freude nimmt der Geist die Mühe des Denkens auf sich – aber er verlangt ein Ziel des Denkens, wo das Denken zur Ruhe kommt, wie überhaupt die Idee eines unendlichen Prozesses, eines unendlichen Fortschreitens zugleich der trostloseste und leerste aller Gedanken ist.“22

Alles Wissen soll mit dem Glauben beginnen und enden, und zwar weil es ein Bedürfnis nach ruhigem Glauben gibt – dieser gesamte Gedankengang sieht aus wie die Apologie eines christlichen Fideismus. Schelling vollzöge nach dieser Lesart in der Offenbarungsphiloophie eine Denkbewegung, wie sie schon Anselm in der Lesart Karl Barths und Ernst Blochs vollzogen haben soll. Schon im Hinblick auf Anselm beruht diese Lesart wie gesehen auf einem Missverständnis. Und so ist es auch bei Schelling. Ein näherer Blick auf die fragliche Passage in der 51. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung erweist den Fideismusverdacht nämlich als grundlos. Denn in der These, dass der Glaube der Anfang der Unternehmung sei, kann man, betrachtet man Schellings Erläuterung derselben, unschwer den augustinisch-anselmischen Gedanken der fides quaerens intellectum, des nach Erkenntnis strebenden Glaubens wiedererkennen. „[D]ieser Glaube, den ich schon am Anfang der Wissenschaft haben muss, zeigt sich in der Wissenschaft selbst, indem ich mich nicht mit der Wissenschaft bemühen würde, wenn ich nicht diesen Glauben voraus hätte.“23

Es handelt sich bei dem anfänglichen Glauben also um nichts anderes als die Zuversicht, dass die wissenschaftliche Unternehmung zur Einsicht in den jeweils interessierenden Sachverhalt führen wird. Das ist, wie sich oben bereits gezeigt hat, ein ganz allgemeines subjektives Prinzip wissenschaftlichen Forschens, welches hier lediglich auf die Offenbarungsphilosophie angewendet wird. Dialektisch gewendet schließt es wie schon ausgeführt die Präsumption ein, dass an den Meinungen, die andere, als klug bewährte Personen über den fraglichen Sachverhalt geäußert haben, etwas Wahres ist, was zugleich impliziert, dass es möglich ist, darüber etwas zu sagen, was nicht völlig abwegig ist. Auch das ist eine subjektive Bedingung jeglichen wissenschaftlichen Forschens, keineswegs aber ein fideistisches Prinzip. Aber auch der Glaube, der am Ende der Unternehmung stehen soll, darf nicht fideistisch missdeutet werden. Denn immerhin soll er aus Wissen hervorgehen; „darum ist der Glaube keine unbegründete Erkenntnis […]. Der Glaube darf nicht als unbegründetes Wissen betrachtet werden“.24 Stattdessen verwendet   Ebd., S.  411.   Ebd., S.  414. 24   Ebd., S.  412 f. 22 23

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Schelling den Terminus ‚Glaube‘ hier in einem speziellen Sinn und fasst ihn terminologisch als Abschluss des Wissens und Denkens. „Aller Zweifel hört […] nur bei dem auf, was bloß ist. Will man eine solche, allen Zweifel und alles Wissen aufhebende, Gewissheit Glauben nennen, so ist nichts dagegen einzuwenden, denn das letzte Ziel des menschlichen Wissens ist Nichtwissen, Ruhe des Wissens = Glaube. Nur muss man sich vor Missverständnissen hüten. […] Der Sinn ist […] dieser, dass jenes Letzte nicht selbst wieder zum Grunde von etwas anderem und dadurch relativ zu etwas werden kann.“25

Doch was soll es heißen, dass Nichtwissen das Ziel allen Wissens sei? Um diesen Satz zu verstehen, muss man die Doppelseitigkeit allen Wissens bedenken. Zum einen ist Wissen nämlich Ziel und mögliches Resultat des Denkens. Im Wissen kommt Denken zur Ruhe, aber nur vorläufig. Denn Erkenntnis und Wissen ist zwar das, worauf Denken aus ist. Aber jede Erkenntnis kann zugleich möglicher Ausgangspunkt für weiteres Denken sein und damit „Grund von etwas anderem“, nämlich neuen Denkens und Forschens. In genau diesem Sinn bestimmt schon Aristoteles das Wissen als erste, das Denken aber als zweite Entelechie.26 Kein so verstandenes Wissen ist daher als solches Ziel und Ruhepunkt des Denkens schlechthin. Wenn das Denken nun auf einen solchen absoluten Ruhepunkt aus ist, dann kann dieser daher kein Wissen sein; es handelt sich vielmehr um Nicht-Wissen. Dieses Nichtwissen ist aber – das macht Schelling hinreichend deutlich – das konträre Gegenteil von Unwissenheit. Unwissenheit nämlich motiviert, wenn sie dem Denkenden zu Bewusstsein kommt, zum Denken und Forschen; sie ist ein Prinzip der geistigen Unruhe. Nichtwissen im hier gemeinten Sinn bringt das Denken dagegen gerade zur Ruhe, wenn es dem Denkenden zu Bewusstsein kommt. Anders als Unwissenheit (ignorantia) ist es nicht weniger als Wissen (scientia), sondern mehr als Wissen. Eine positive Bezeichnung für dieses von Schelling gemeinte Nichtwissen wäre Weisheit (sapientia). Ganz analog unterscheidet schon Aristoteles zwischen dem Wissen, welches Ausgangspunkt des Denkens ist (episteme), und der Weisheit als Kenntnis der Prinzipien, in denen das Denken zur Ruhe kommt, weil sie letzter Grund allen Wissens sind (sophia). Es geht also in Schellings Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen um nichts anderes als den Unterschied zwischen episteme und sophia bzw. zwischen scientia und sapientia. An welcher Stelle diese Unterscheidung im semantischen Feld rund um den Weisheitsbegriff einzuordnen ist, muss allerdings noch genauer untersucht werden. Das Denken kommt zur Ruhe, wenn es auf Prinzipien stößt. In gewissem Sinn gilt dies schon für das Wissen; etwas wissen heißt, das Prinzip einer Sache zu kennen. Aber hinter die je gefundenen Prinzipien lässt sich weiter zurückfragen, was die Möglichkeit des Zweifels einschließt, dass es sich überhaupt jeweils   Ebd., S.  412; Hervorhebung i. Orig.  Vgl. De Anima B 1, 412 a.

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um ein Prinzip handelt. So wird, was Ende und Ziel eines Denkakts war, wiederum zum (Frage-)Grund und Anfang eines weiteren und erweist sich damit als relativ: als Prinzip und Begründendes relativ zu seinen Konsequenzen, als Konsequenz und zu Begründendes relativ zu einem noch tiefer liegenden Prinzip. Die Gefahr eines infiniten Regresses liegt auf der Hand. Wäre es möglich, hinter jedem Prinzip noch ein tieferes Prinzip zu finden, dann müsste der Geist jede Hoffnung auf gesichertes Wissen fahren lassen, weil jede für Wissen gehaltene Überzeugung diesen Titel nur unter Voraussetzung uns notwendig unbekannter Gründe erhielte. Letztlich wäre dadurch jegliches Wissen aufgehoben, wie die pyrrhonische Skepsis zu Recht behauptet. Anders sähe es aus, wenn ein erstes Prinzip gefunden wäre, welches Konsequenzen, aber kein Antezedenz mehr hätte. Darin käme das Denken an ein Ende, weil ein solches Prinzip zugleich jede Frage nach einem weiteren Grund und jeden Zweifel an seiner Geltung ausschlösse. Ein erstes Prinzip wäre, wenn es existierte, Gegenstand und Ziel der Weisheit. Hier ist also nicht von einem empirisch-psychologischen Gesetz die Rede, wenn es heißt, dass der Geist ein Ziel des Denkens verlange, sondern von einem internen telos des Denkens überhaupt. Denken ist seiner Natur nach intentional und damit teleologisch, zielgerichtet und kommt wie jede intentionale Tätigkeit und wie jede teleologische Bewegung in seinem Ziel zur Ruhe. Allerdings handelt es sich bei der Teleologie des Denkens um eine sehr spezifisch logische, die Denkbewegungen ihr eigentümliches Gepräge gibt und sie von jeder anderen Art der Bewegung unterscheidet. Offenkundig gilt es hier ferner, Etappenziele und Endziele zu unterscheiden. Etappenziele des Denkens sind Erkenntnisse über regionale Seinsprinzipien und Seinsursachen; Endziel kann aber nur die Erkenntnis der ersten Seinsprinzipien und Seinsursachen sein. Ein solches erstes Prinzip, eine erste Ursache im Sinne des Aristoteles, soll letztlich auch und gerade die Offenbarungsphilosophie finden. Um zu verstehen, wie der Gedanke eines solchen schlechthin ersten Prinzips zu verstehen ist, müssen zunächst zwei mögliche Missverständnisse ausgeschlossen werden: Erstens darf ein schlechthin erstes Prinzip nicht logisch oder methodologisch missdeutet werden, nämlich im Sinne eines Axioms. Als ein solches Axiom benennt Aristoteles z. B. den Satz des Widerspruchs als nicht weiter zu hinterfragende formale Regel allen Behauptens, Begründens und Beweisens.27 Der Satz des Widerspruchs ähnelt eben darin einem ersten Prinzip im hier relevanten Sinn; er ist autark und zugleich für jeden Denkakt elementar. Aber er ist nur negative Regel (regula falsi) allen Wissens; ein in sich widersprüchlicher Gedanke kann kein Wissen artikulieren. Er ist nicht zugleich eine Quelle positiven Wissens, da er keine inhaltlichen Konsequenzen hat. Allge Vgl. Met. Γ 4, 1006 a.

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mein gilt: Axiome stehen in der Ordnung des Denkens am Anfang, sei es als explizit formulierte oder als stillschweigend unterstellte Denk- und Verfahrensregeln. Erste Prinzipien stehen dagegen am Ende; sie werden entdeckt und nicht vorausgesetzt. Für das philosophische und wissenschaftliche Denken sind sie Resultat, nicht Ausgangspunkt. Das heißt, dass kein im relevanten Sinne erstes Prinzip eine bloße Denkregel sein kann. Aber erste Prinzipien bringen das Denken auch nicht in einem zeitlichen Sinn an sein Ende, auch wenn sie in einem erläuterungsbedürftigen Sinn ‚zuletzt‘ entdeckt werden. Das Denken hört nicht auf, wenn es auf erste Prinzipien stößt, weder beim einzelnen Denker noch in der Gemeinschaft der Philosophen und Wissenschaftler. Schelling selbst betont, dass die Rede von einem Ziel hier „objektiv genommen“ werde, 28 nicht im subjektiven Sinn. Der einzelne Denker und die Denkergemeinschaft muss ein erstes Prinzip nicht allein finden, sondern auch begreifen, d. h. seinen Gehalt durchdringen, seine Bedeutung ermessen, wahre von falschen Verständnissen und Folgerungen unterscheiden lernen, etc. Damit ist durchaus vereinbar, dass ein je gesuchtes erstes Prinzip der Zeit nach schon früh gefunden wird. So bescheinigt Aristoteles schon dem Anaxagoras, mit dem göttlichen nous das erste und höchste Seinsprinzip überhaupt entdeckt zu haben.29 „Als nun jemand erklärte, dass Vernunft (nous) wie in den lebenden Wesen so auch in der Natur die Ursache aller Schönheit und aller Ordnung sei, da erschien er gegen die Früheren wie ein Nüchterner gegen Irreredende.“30

Doch die Theologie des Anaxagoras sei naturgemäß noch kaum entwickelt und widerspreche der Tendenz nach anderen Teilen seiner Philosophie, vor allem seiner Auffassung von der Materie und den nächsten Ursachen. Selbst Aristoteles kommt hier bei aller Sorgfalt nur wenige Schritte weiter, wie er selbst durchaus einräumt, wenn er zentrale theologische Fragen zu denjenigen Fragen rechnet, die in die Zuständigkeit der Dialektik fallen, weil hier unvereinbare Antworten mit Gründen vertreten werden können, was zeige, dass es schwer sei, hier vom Meinen zum Wissen vorzudringen.31 Es gilt, was Aristoteles überhaupt über letzte und höchste Ziele von Bewegungen oder Tätigkeiten sagt, dass sie nämlich nicht der Zeit nach das Letzte sein müssen; sonst wäre der Tod das letzte und höchste Ziel des Lebens.32 Das Höchste wird vielmehr insofern ‚zuletzt‘ gefunden, als es die Bewegung des Suchens an ihr Ziel und Ende bringt. Bezogen auf das Denken heißt das, dass es im Auffinden eines ersten Prinzips seine Vollendung findet, indem es auf einen Gedanken stößt, der zugleich letz  PO, S.  415.   Aristoteles vermutet aber, dass Anaxagoras diese These von Hermotimos übernommen hat; vgl. Met. A 3, 984 b. 30  Ebd. 31  Vgl. Met. B 1, 995 a. 32   NE A 11, 1100 a. 28 29

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ter Halt und erster Grund allen Wissens ist. Und zwar wäre es Ersteres, weil es Letzteres wäre. Doch warum bezeichnet Schelling diese Vollendung des Denkens und der Philosophie als Glauben, wenn er doch das Missverständliche dieses Ausdrucks sehr wohl bemerkt und, wie oben gesehen, auch einräumt? Denn ‚Glauben‘ wird, wie Schelling sehr wohl zugibt, im landläufigen Sinn als Überzeugung aufgefasst, die den Gewissheitsgrad echten Wissens nicht erreicht, mit Kant gesprochen: als „subjektiv zureichendes Führ-wahr-Halten ohne objektiv zureichenden Grund“.33 Kurz, Glauben ist dem üblichen Sprachgebrauch nach weniger als Wissen, soll hier aber eine Überzeugung bezeichnen, die mehr als Wissen ist. Zunächst spiegelt sich in der Wahl dieses Ausdrucks eine sprachliche Schwierigkeit, denn für den Akt der Weisheit gibt es kein eigenes Verb, weder im Griechischen und Lateinischen noch in den modernen indoeuropäischen Sprachen. Noein, intellegere, einsehen sind allesamt generische Ausdrücke, unter die verschiedene kognitive Modi fallen, und für eidenai, scire oder wissen gilt das Gleiche. Doch ‚Wissen‘ oder ‚Erkennen‘ hält Schelling auch aus dem oben genannten Grund für ungeeignet, das auszudrücken, was der Terminus ‚Glauben‘ hier ausdrücken soll, denn er soll das sein, worin „aller Zweifel, und daher auch alles Wissen, aufhört“.34 An den häufig im Sinne von Prinzipienerkenntnis gebrauchten Verben theorein, intueri oder schauen ist misslich, dass es sich um Metaphern handelt, um Übertragungen aus dem semantischen Feld der optischen Wahrnehmung in den Bereich rein geistiger Akte, um den es hier nur gehen kann. Aber das Verb ‚glauben‘ ist an dieser Stelle kein bloßes Verlegenheitswort, sondern bringt einen Bedeutungsaspekt ins Spiel, der nicht oder nicht offensichtlich zum semantischen Spektrum der bisher genannten Verben für kognitive Akte gehört. Denn zwar bezeichnet ‚Glauben‘ genau wie ‚Erkennen‘, ‚Einsehen‘, ‚Wissen‘ oder ‚Schauen‘ und anders als ‚Zweifeln‘, ‚Erwägen‘, ‚Fragen‘ oder ‚Nachdenken‘, anders aber auch als die Verben ‚urteilen‘ und ‚schließen‘ einen perfektiven kognitiven Akt, einen Akt, in dem das Denken an sein Ziel kommt. Aber anders als alle der genannten Verben enthält das Verb ‚glauben‘ auch den Bedeutungsaspekt der Selbstfestlegung oder Selbstausrichtung, der Orientierung am Geglaubten, wofür das Deutsche in manchen Kontexten das ‚Glauben an‘ als Äquivalent zum ‚Glauben, dass‘ zulässt. Dennoch wäre es ganz verkehrt, hier Ausdrücke wie ‚vertrauen‘ oder ‚hoffen‘ zu verwenden, da sie zwar den Aspekt der Selbstbindung bezeichnen, nicht aber die kognitive Bedeutungskomponente, die für ‚Glauben‘ gerade zentral und grundlegend ist.35 Denn   KrV, B 850.   PO, S.  415. 35   Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass nicht nur der Glaube, sondern auch Hoffnungen einen propositionalen Gehalt besitzen; vgl. oben, II 1. Eine Gleichsetzung zumindest des 33

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anders als Vertrauen und Hoffen ist das Glauben kein primär praktischer, sondern ein genuin theoretischer Akt, wenn auch mit praktischen Konsequenzen, auf die noch einzugehen sein wird. Glauben im hier gemeinten Sinn impliziert Hoffnung und Vertrauen, ohne damit begrifflich zusammenzufallen. Eine Philosophie der Offenbarung kann daher aus begrifflichen Gründen nicht auf Hoffnung und Vertrauen gegründet sein; keine Philosophie kann das. Deswegen erscheint das Verb ‚glauben‘ gerade besonders geeignet, um damit den Akt der Weisheit zu bezeichnen. Denn erste Prinzipien sind der Sache nach etwas Frühes, ‚für uns‘ aber etwas Spätes und schwer Erreichbares, wie Aristoteles immer wieder betont. Als wollte er diesen Gedanken weiterverfolgen, schreibt Schelling: „[D]as Subjekt des Wissens […] kann zweifelhaft sein, weil es die Wissenschaft nicht durchdrungen hat, weil es nicht zu dem Ende gelangt ist, wo aller Zweifel, und damit alles Wissen, aufhört. Aber wenn selbst ein Individuum bis zu jenem Punkte geführt worden ist, so wird die Frage sein, ob das Individuum jenen zu ergreifen im Stande ist, ob es ein Herz dazu fasst; denn ein Herz gehört dazu, eben wegen der Überschwänglichkeit dieses Letzten. […] Nun ist es aber eben möglich, dass ein solches Überschwängliches deshalb, weil es ein solches ist, nicht ergriffen wird, dass der Mensch kein Vertrauen zu ihm fassen kann. […] Die Zweifelhaftigkeit entsteht aus der Überschwänglichkeit der Sache selbst […].“36

Jede Erkenntnis und jede Einsicht schließt einen Akt der Anerkennung ein; das ist es, was Schelling mit den Ausdrücken ‚ergreifen‘ und ‚ein Herz fassen‘ meint. Man wird hierin unschwer die oben bereits angesprochene augustinisch-thomistische, von Descartes aufgegriffene assensus-Lehre wiedererkennen. Der Anerkennungsaspekt perfektiver kognitiver Akte tritt besonders deutlich dort hervor, wo der fragliche Sachverhalt nicht so evident und, wie man sagt, ‚unbestreitbar‘ ist, dass eine Verweigerung der Anerkennung nicht mehr rational möglich zu sein scheint, z. B. angesichts eines lückenlosen Beweises für ein mathematisches Theorem. Man ist, wie es heißt, ‚nicht mehr frei‘, die Geltung eines mathematischen Satzes nicht anzuerkennen, wenn ein fehlerfreier und lückenloser Beweis dafür vorliegt. Eben deswegen kann die Tatsache übersehen werden, dass, wer einen Satz im Lichte eines Beweises als wahr einsieht, eben damit einen Akt der Anerkennung dieses Satzes vollzieht, und zwar, wie Descartes so eindringlich betont, desto freier, je deutlicher ihm die Wahrheit desselben wird. Anders verhält es sich mit Sätzen oder Gedanken, deren Begründung nicht so ‚zwingend‘ ist, dass Zweifel von vornherein irrational erscheinen. Dies kann schon bei komplexen und unübersichtlichen Beweisversuchen oder bei solchen Argumenten der Fall sein, die ihre Konklusion nicht beweisen, sondern lediglich plausibler oder glaubwürdiger erscheinen lassen als deren Negation oder religiösen Glaubens mit Hoffnung und Vertrauen schlagen Kambartel und Schneider vor; vgl. Kambartel 1989 und Schneider 2008, S.  173 f. Vgl. dagegen auch Tegtmeyer 2000 und 2012. 36   PO, S.  415.

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deren Prämissen wir nicht hinreichend auf ihre Geltung hin zu untersuchen vermögen. Erst recht gilt das aber für solche Sätze, deren weitreichende Konsequenzen die Frage nach ihren Geltungsgründen für unser Denken höchst bedeutsam machen, wie im Fall erster Prinzipien. Sogar an unmittelbar wahrgenommenen Sachverhalten zweifeln wir manchmal, etwa wenn ein für uns unerwarteter glücklicher Umstand eintritt, der, wie man sagt, ‚zu schön ist, um wahr zu sein‘. Auf solche Fälle verweist Schelling und schreibt dazu: „Das angeführte Beispiel zeigt, dass Zweifel möglich ist an Dingen, die man nicht sieht und auch an Dingen, die man sieht.“37

Damit macht er darauf aufmerksam, dass Glauben oder Zweifeln sehr viel weniger mit Wahrnehmung oder deren Ausbleiben zu tun hat, als oft angenommen wird. Es ist nicht der Fall, dass an unmittelbar wahrgenommenen Sachverhalten kein Zweifel möglich ist, und es ist auch nicht der Fall, dass Nichtwahrnehmbares uns jederzeit zweifelhafter erscheint als Wahrnehmbares. Der subjektive Grund für den Zweifel, d. h. hier die ausbleibende Anerkennung von Tatsachen, kann vielmehr daran liegen, dass der anzuerkennende Gedanke oder Sachverhalt unvereinbar mit bestimmten festen Vormeinungen oder Vorannahmen des Subjekts ist, worauf auch Descartes bereits aufmerksam macht. Das Subjekt ist in solchen Fällen nicht frei oder, wie man sagt, ‚nicht bereit‘, einen Gedanken zu fassen, dessen Wahrheit sich ihm doch aufdrängt. Es enthält ihm den assensus, die Anerkennung, vor, ohne sich deswegen offensichtlich irrational zu verhalten. Unvernünftig kann eine solche Anerkennungsverweigerung dennoch sein. Allerdings muss man, wenn man vom Glauben als Akt der Weisheit spricht, stets beachten, dass damit ein Erkenntnismodus gemeint ist, der über den des Wissens hinausgeht, statt dahinter zurückzubleiben. Nur so kann er die Vollendung des Wissens sein, indem er es zu seinem letzten Grund führt. Daher grenzt sich Schelling mit Recht in aller Schärfe von der scheinbar ganz gleichlautenden These Jacobis ab, dass der Glaube Grundlage allen Wissens sei.38 Denn Jacobi assoziiert den Glauben mit dem Gefühl, das er über die Vernunft stellt, wobei man ihm zu Gute halten muss, dass er wie nach ihm Schleiermacher an ein spezifisch menschliches Gefühl denkt.39 Nichts könnte dennoch weiter entfernt von Schellings eigener Position sein, der im Glauben gerade den höchsten Akt der Vernunft erblickt, der Affekte auslösen mag, nicht aber von Affekten verursacht sein kann, wie es Jacobi und Schleiermacher nahelegen.40 Die systema Ebd.   Vgl. Jacobi 1787. 39   Vgl. Schleiermacher 1799. 40   Schelling kritisiert Jacobi aber auch für die von ihm erzeugte terminologische Konfusion, die sich daraus ergibt, dass Jacobi dieses höhere Gefühl mit der Vernunft gleichsetzt. Schelling beurteilt im Rückblick sowohl die Verortung des Glaubens im Gefühl als auch dieses terminologische Manöver als Ausdruck einer opportunistischen Anpassung an den Zeitgeist und Jacobi insgesamt als „schwankendes Rohr“, das „jedem äußern Zuge sich hingab“ 37

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tische Betrachtung des Verhältnisses von Glauben und Wissen wird erst im folgenden Kapitel vertieft werden können. Im Hinblick auf das Ziel der Offenbarungsphilosophie ergibt sich somit, dass deren formales Ziel es ist, Abschluss und Vollendung der Philosophie im Akt der Weisheit zu finden, den Schelling als Glauben bezeichnet. Dazu gehört eine philosophisch-theologische Durchdringung der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus. Inwiefern hier eine Offenbarungsphilosophie anderes leisten kann als eine konfessionell gebundene Offenbarungstheologie, wäre in einer Gesamtdeutung der Offenbarungsphilosophie zu betrachten, ist für den Zweck der vorliegenden Untersuchung aber ohne Belang. Was hier stattdessen interessiert, ist der Zusammenhang zwischen einer philosophischen Deutung der Selbst­offenbarung Gottes, der den Kern des jüdischen und christlichen Glaubens ausmacht, mit den sonstigen Aufgaben und Themen der Philosophie. Einen solchen Zusammenhang kann nur die Natürliche Theologie bereitstellen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Natürliche Theologie auch bei Schelling Grundlage der Offenbarungsphilosophie ist, wenn auch nicht unter dieser Bezeichnung, da Schelling Ausdrücke wie ‚natürliche Religion‘ und damit zusammenhängende Termini anders verwendet. Doch hält Schelling daran fest, dass es keinen unmittelbaren philosophischen Zugang zur Selbstoffenbarung Gottes gibt, dass es vielmehr philosophischer Voraussetzungen und Vorbereitungen bedarf, um den Zugang zum Offenbarungsdenken zu finden. Eine dieser Voraussetzungen wurde oben bereits benannt, nämlich die Evidenz der je eigenen Willensfreiheit. Deren genaue Stellung im Voraussetzungsgefüge der Offenbarungsphilosophie ist bisher unbestimmt geblieben. Aus dem bisher Gesagten lässt sich aber schon entnehmen, dass die Freiheitsvoraussetzung, so evident sie auch sein mag, für sich genommen zu schmal ist und für die Fundierung der Offenbarungsphilosophie nicht ausreicht. Benötigt wird ein breiteres metaphysisches Fundament. Schellings Zugang zur Offenbarung kann nur über die Allgemeine Metaphysik und von dort zur Speziellen Metaphysik der Natürlichen Theologie gelingen. Und an diesem Punkt kommt er nicht umhin, zur apriorischen und aposteriorischen Tradition der Natürlichen Theologie Stellung zu nehmen. Dass der Ausgangspunkt ontologisch sein muss, scheint klar zu sein. Oben wurde bereits ausgesprochen, dass das gesuchte erste Prinzip nur ein Seinsprinzip sein kann. Ein Seinsprinzip kann aber selbst nur etwas Seiendes sein oder, wie Schelling sagt, „etwas, was bloß ist“.41 Die Suche nach schlechthin ersten Prinzipien führt ihrer Natur nach ins Feld der Ontologie. Aber vielleicht leuchtet das nicht jedem ohne weiteres ein. Denn zwar legt die Rede davon, dass erste und „sich dem Zeitalter zurechtzumachen suchte“. (PO, S.  11) Vgl. zur Kontroverse zwischen Schelling und Jacobi auch Georg Essen, Der Theismusstreit (1811/12). Die Kontroverse zwischen Jacobi und Schelling über die ‚Göttlichen Dinge‘, in Essen/Danz 2012, S.  215–257. 41   Ebd., S.  412.

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VI.  Geist, Vernunft, Natur

Prinzipien ‚gefunden‘ bzw. ‚entdeckt‘ würden, bereits nahe, dass es sich um ontologische Prinzipien handeln muss. Aber könnte es nicht sein, so ließe sich fragen, dass die Wortwahl tendenziös ist? Ließe sich nicht mit gleichem Recht sagen, dass erste Prinzipien ‚angenommen‘, ‚gesetzt‘, ‚erfunden‘ bzw. ‚konstruiert‘ würden? Wäre das aber der Fall, dann wäre es nicht so klar, dass die Suche nach schlechthin ersten Prinzipien ein ontologisches Projekt ist und nicht etwa eines der Logik, der Sprachphilosophie oder der Philosophie des Geistes. Nun wurde oben bereits der Gedanke zurückgewiesen, dass formale Denkregeln wie der Satz des Widerspruchs erste Prinzipien im hier relevanten Sinn sein könnten. Diese Zurückweisung wurde damit begründet, dass Denkregeln Ausgangs- und nicht Endpunkte einer Suche nach Prinzipien sind. Doch anscheinend muss man diesen Grund nicht für zwingend halten. Kann doch auch der Satz des Widerspruchs erst dadurch zu einem formalen Axiom des Denkens werden, dass er seinerseits reflexiv gewonnen und explizit gemacht wird, also keineswegs unmittelbar und ohne theoretische Zurüstungen. Allgemein scheint es, als seien Denkregeln bloß relativ Erste, relativ nämlich zu den Untersuchungen, die sich auf sie gründen. Dessen ungeachtet, so scheint es, haben auch sie eine Entdeckungs- oder vielleicht Erfindungsgeschichte hinter sich. Das scheint die klare Entgegensetzung von Ausgangs- und Zielpunkten des Denkens in Frage zu stellen, von der das Argument ausgeht. Doch gegen die Parallelisierung oder gar Identifikation von Denkregeln und ersten Prinzipien spricht eben auch, dass ersten Prinzipien eine explanative Kraft zukommt, die Denkregeln fehlt. Denn Denkregeln trennen als negative Regeln nur das Sinnvolle vom Unsinnigen; sie legen aber nicht fest, was aus dem Bereich des sinnvoll Denk- und Sagbaren wahr ist. Sie sind daher auch ungeeignet zu erklären, wie das Denken gehaltvoll wird und auf welcher Grundlage es sich auf manche Gedanken festlegt und andere verwirft. Ist eine solche Festlegung erfolgt, dann ist durch die Denkregel bestimmt, welche weiteren Festlegungen ausgeschlossen, nicht unbedingt aber, welche erforderlich oder rational geboten sind. Dass Denkregeln diese negative Funktion überhaupt haben können, ist schon für sich genommen nur schwer vereinbar mit dem Gedanken, dass es sich dabei bloß um Annahmen, Setzungen oder Konstruktionen handeln könnte. Es ist nicht vernünftig, das eigene Denken durch bloße Annahmen, Setzungen oder Konstruktionen einzuschränken, mögen sich diese in anderen Denkkonstellationen auch als zweckmäßig erweisen. Vernünftig ist es vielmehr, beim neuen Fall zu prüfen, ob sich die Einschränkung auch hier als zweckmäßig bewährt. Den Satz des Widerspruchs immer neu auf seine Zweckmäßigkeit zu prüfen wäre aber offensichtlich alles andere als vernünftig. Eine konstruktivistische Deutung des theoretischen Status erster Prinzipien müsste also eine sehr viel weiter reichende These vertreten, nämlich die, dass erste Prinzipien ihrem materialen Gehalt nach, der über den formalen Charakter bloßer Denkregeln weit hinausgehen muss, nicht gefunden, sondern erfun-

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den oder gesetzt werden, dass sie, m.a.W., rein theoretische Konstruktionen sind. Handeln solche Prinzipien von bestimmten Entitäten, wäre die Seinsweise dieser Entitäten folglich rein theorieimmanent zu deuten. Aber eben dadurch wird rätselhaft, wie derartigen Konstruktionen explanative Kraft zukommen kann, wenn sie einmal als solche durchschaut sind. Denn durch die Erklärung soll die Konstruktion ja zu einem außertheoretischen Phänomen in Beziehung gesetzt werden, nämlich so, dass jene dieses erklärt. Wie aber soll eine rein theo­ rieinterne Größe etwas Außertheoretisches überhaupt erklären können, wenn man nicht zumindest annehmen oder vermuten darf, dass der Konstruktion etwas wirklich, d. h. ebenso außertheoretisch Seiendes entspricht? Doch der Konstruktivismus verlangt eben das, indem er die Prinzipienforschung in die Logik, Sprachphilosophie oder die Philosophie des Geistes verlegt, nämlich den Verzicht auf jeden Gedanken an eine Korrespondenz zwischen theoretischen Gründen und Seinsursachen. Er fordert damit zur theoretischen Unvernunft auf. Soll man eine Erklärung akzeptieren, dann muss man zumindest glauben können, dass sie wahr ist. Dazu ist aber erforderlich, dass nicht bloß das explanandum, das zu erklärende Phänomen, tatsächlich besteht, sondern auch das explanans, die für das Phänomen verantwortliche Ursache oder das entsprechende allgemeine Prinzip. Verum convertitur cum ente. Das gilt a fortiori für erste Prinzipien. Schelling geht daher mit gutem Grund davon aus, dass das schlechthin erste Prinzip, in dem das Denken zur Ruhe kommt, nur etwas Seiendes sein kann. Und da es erster Seinsgrund sein soll, kann es sich eben nur um etwas „bloß“, d. h. ohne jede Einschränkung Seiendes handeln. So kann er auch sagen: „Man kann die Philosophie auch so unterscheiden: Die andern Wissenschaften bekümmern sich nur um das so oder so Sein der Dinge: die Philosophie aber nur um das Seiende selbst – sie ist he episteme tou ontos.“42

In diesem Gedanken artikuliert sich ein ausgesprochen aristotelisches Philosophieverständnis. Bis hierher scheint Schellings Vorhaben damit auf eine Wiederaufnahme des thomistischen Projekts hinauszulaufen. Dieser Eindruck ist durchaus nicht falsch, und er verstärkt sich noch, wenn man beachtet, dass Schellings Naturphilosophie integraler Bestandteil seiner Theologie ist. Er bezeichnet die von Gott geschaffene Natur als erste und älteste Offenbarung Gottes, 43 die Inkarnation Christi dagegen als seine zweite und spätere Offenbarung. Schelling schreibt:

42   Ebd., S.  47. Der Anklang an die aristotelische Definition der Ersten Philosophie ist wohl kaum zu überhören. 43   Ebd., S.  404. Vgl. auch GNP, S.  108 ff., wo Gott als metaphysischer Ursprung und erkenntnistheoretisches Resultat der Naturphilosophie bestimmt wird.

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VI.  Geist, Vernunft, Natur

„[S]chon damals [in der Ära Kants und Fichtes und zur Zeit der Erstveröffentlichung der Naturphilosophie; H.T.], als von allem Wirklichen nur die Natur in die Philosophie aufgenommen wurde, sah ein Teil der Zeit die Folgen instinktmäßig voraus, da die Naturphilosophie angefeindet wurde als notwendig zurückführend auf die Religion, und zwar auf die christliche Religion […].“44

In der Tat ist der Übergang von der Naturphilosophie zur Theologie ein wichtiger Zug in Schellings Offenbarungsdenken, das eben zu einem großen Teil Nachdenken über die Ordnung der Natur ist. Darin steckt ein thomistischer Zug, der im Folgenden noch genauer untersucht werden muss. Das zeigt uns, dass in dem, was Schelling selbst als Offenbarungsphilosophie bezeichnet, Elemente der Naturphilosophie und damit, traditionell gesprochen, der Physik und Ontologie enthalten sind. Denn in gewissem Sinne versteht er jede welterschließende, Philosophie ermöglichende Erfahrung als Offenbarung. Von dieser Offenbarung im weiten Sinn ist die Offenbarung im engen, christologischen Sinn zu unterscheiden. Aber Schellings spekulative Theologie ist noch komplexer angelegt und hat verschiedene Stränge, die in analytischer Absicht deutlich unterschieden werden können, auch wenn Schelling sie in seiner Darstellung in synthetischer Absicht harmonisch ineinander arbeitet.45 Die Grundfigur dieser philosophischen Theologie ist wie ausgeführt die einer vernünftigen Interpretation der Offenbarung Gottes. Diese ist aus noch nachzuvollziehenden Gründen als freier Akt konzipiert, was wie gesehen ein rein apriorisches Vorgehen aus reiner Vernunft ausschließt. Von der Selbstoffenbarung Gottes kann man, so die Folgerung, nur aus Erfahrung wissen. Dennoch ist die Offenbarungsphilosophie kein Stück empirischer Forschung, sondern ein spekulatives Unternehmen mit starker apriorischer Komponente. Aus Schellings Sicht ist das keineswegs methodisch inkohärent. Er selbst charakterisiert sein Vorgehen vielmehr wie folgt: „In jenem höhern Gebiete, wo erst vom Wollen, vom Entschlusse Gottes die Rede ist, da müssen wir gestehen, dass wir nur ex posteriori, durch die Tat selbst, Gewissheit erlan-

  PO, S.  417.   Dass Schellings Theologie insgesamt auf der Naturphilosophie und der Philosophie der Mythologie aufbaut, übersehen Henrich und Hindrichs vollständig, trotz der deutlichen Hinweise Schellings auf die aposteriorische Methode seiner Untersuchung. Beide beschränken sich auf sehr lokale Betrachtungen der Ausführungen Schellings zum Sein Gottes als reinem Sein. Deswegen können sie darin auch nichts anderes sehen als eine bloße Variation des ‚ontologischen‘ Arguments. Vgl. Henrich 1960, S.  232–237, Hindrichs 2006, §  118 f. Henrich weist selbst auf Schellings Anspielungen auf die aristotelische Metaphysik hin, (S.  230) ohne daraus aber Schlüsse auf inhaltliche Entsprechungen zu ziehen. Die Selbstauskünfte Schellings über seine Methode verwirft er dagegen als mit dem „Anfang der positiven Philosophie […] nicht in Einklang zu bringen“. (S.  235) Insgesamt gelangt er so zu dem Schluss, dass Schellings Theologie hinter der Hegels zurückbleibe, so dass uns in Fragen der philosophischen Theologie nur die Wahl zwischen Kant und Hegel bleibe. (S.  237) Dieses Urteil wird durch die hier zu entwickelnde Interpretation nicht gestützt. 44 45

3.  Sein und Geist

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gen. Sind aber einmal die Prinzipien erkannt, so können wir von voraus, a priori, einsehen, dass dieser Prozess gewisse Momente durchlaufe.“46

Im Anschluss daran führt er aus, dass damit der kosmogonische Prozess gemeint sei und dass diese apriorische Rekonstruktion dort enden muss, wo das freie Handeln des Menschen ins Spiel kommt, von dem wir ebenfalls nur ‚ex posteriori‘ wissen können. Hier beginnt die Ordnung der Geschichte als zweite Erfahrungsquelle, neben der Ordnung der Natur, aus der die Philosophie der Offenbarung schöpfen kann. Wie man sieht, erweitert Schelling hier gegenüber der thomistischen Philosophie die empirische Grundlage der spekulativen Gotteserkenntnis. Diese beiden Stränge müssen im Folgenden sorgfältig unterschieden werden. Der geschichtsphilosophische Teil der Philosophie der Offenbarung, ihr eigentlicher Kern, ist dabei wie gesehen dem Wesen und Anspruch nach eine Christologie in der Tradition Anselms und damit gerade der Teil von Schellings Philosophie, der über die bloß Natürliche Theologie hinausgeht. Er soll im Folgenden wie schon betont nicht genauer betrachtet werden. 47 Was Schelling als Kosmogonie bezeichnet, ist dagegen thematisch für unsere Betrachtung unmittelbar einschlägig und zugleich komplex genug, um eine eingehende Diskussion zu rechtfertigen.48 Löst man aber Schellings Maxime, dass es möglich sei, apriorische Einsicht über die ersten Ursache unseres Wissens ex posteriori zu gewinnen, aus dem Kontext des bloß offenbarungsphilosophischen Denkens, dann beschreibt es recht gut die Methode metaphysischer Induktion und Spekulation, wie man sie auch bei Aristoteles und Thomas findet.

3.  Sein und Geist Eine der Quellen für Schellings Theologie ist wie gesehen die philosophische Betrachtung der Natur, in der es darum geht, die Ordnung der Natur durch eine Unterscheidung verschiedener Seinsstufen zu erfassen. Der Aufbau dieses Teils der Philosophie, den Schelling im Detail immer wieder umgebaut hat, kann hier nur sehr knapp und der Grundidee nach skizziert werden. Die Stufen des natürlichen Seins werden als aufsteigend von einfachen zu komplexen Oppositionen gedacht, wobei die jeweils niedere Stufe zugleich Seinsvoraussetzung der nächsthöheren ist. So ist ganz basal zwischen Materie und Licht als zwei   PO, S.  404; Kursivierungen H.T.   Vgl. zu Schellings Christologie Danz 1996. 48   Eine solche partielle Betrachtung mag gerade bei Schelling misslich erscheinen, der den holistischen und teleologischen Charakter der Philosophie, die sich erst am Ende als wahr erweise, wiederholt mit Nachdruck betont. Darauf wird zurückzukommen sein. Buchheim bezeichnet Schellings Methode in der PO denn auch zugespitzt als „rein hypothetisch“ und angewiesen auf eine Bestätigung durch eine „recht umfassende“, „alle empirische Erkenntnis unserer Wissenschaften“ einbegreifende „Erfahrung“. Vgl. Buchheim 2012, S.  142 f. 46 47

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VI.  Geist, Vernunft, Natur

aufeinander nicht reduziblen natürlichen Seienden zu unterscheiden.49 Materie ist dabei das grundlegend natürlich Seiende als solches, als Grund alles natürlich Seienden, Licht dagegen die Naturkraft bzw. das Medium, in dem dieses Seiende erscheint.50 Dabei wird der Materie die Schwerkraft als grundlegende Potenz zugeschrieben, dem Licht die der Schwerkraft entgegengesetzte Expansivkraft. Darauf bauen, was die Materie betrifft, stoffliche Differenzierungen wie die zwischen verschiedenen Aggregatzuständen, auf der Ebene der Elemente die zwischen dem Metallischen und dem Mineralischen sowie, noch komplexer, zwischen dem Organischen und dem Anorganischen auf. Auf den Stufen des Materiellen fußt die Differenz zwischen Substanzen, also stofflich und formal individuierten materiellen Objekten einerseits und bloßen Materiemassen andererseits. Substanzen teilen sich in Lebewesen und Dinge. Letztere gliedern sich in Naturdinge und Artefakte, die Lebewesen dagegen in Pflanzen und Tiere. Unter den Tieren dagegen unterscheiden sich die vernünftigen Lebewesen von allen übrigen. Diesen Stufungen des Materiellen sind immer spezifischere polare Kräfte der Attraktion und Repulsion eigen, vom Magnetismus und der Elektrizität bis hin zu den Formen der Sensitivität und Irritabilität der Lebewesen.51 All diese polaren Kräfte lassen sich aber naturphilosophisch als Spezifikationen des Kräftegegensatzes von Schwere und Licht bzw. von Kontraktion und Expansion deuten. Dieser philosophische Durchgang durch die anorganischen und organischen Stufen der Formen der Natur entspricht methodisch ziemlich genau dem aristotelischen Aufstieg von der Physik zur Metaphysik. Ontologisch betrachtet stehen Vernunft und damit Freiheit an der Spitze alles natürlich Seienden. Als endliche Vernunft und Freiheit haben sie alle Seinsstufen des Natürlichen zur Seinsvoraussetzung. Endliche Vernunftwesen sind die höchsten Spezifikationen der natürlichen Substanzen und Vermögen, die Schelling auch als Potenzen bezeichnet. Die Naturphilosophie findet ihre Beglaubigung daher nicht zuletzt in der philosophischen Reflexion der eigenen Existenz und ihrer Bedingungen, die Schelling ja wie gesehen als erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt seiner wie jeder wahren Philosophie ansieht. Somit wird das 49  Vgl. Einleitung, S.  318. Moderne Versuche, Energie als ein erstes, einfaches Seiendes vor jeder Differenzierung auszuweisen, (vgl. etwa Prauss 1993, S.  246 et passim) sind Schelling nicht ganz fremd, wie sich noch zeigen wird. Letztlich verwirft er aber eine solcherart monistische Ontologie, und zwar weil Energie – ganz gleich ob man sie physikalisch oder im allgemeinen, aristotelischen Sinn von energeia deutet – nur ein Seinsmodus sein kann und keinesfalls das grundlegend Seiende. Auf den Energiebegriff lässt sich wohl der Begriff des Lichts im allgemeinen Sinne eines Mediums der Wahrnehmung und Interaktion zurückführen, nicht aber der Begriff der Materie. Die Bedeutung der Naturphilosophie insbesondere für Schellings Christologie arbeitet Christian Danz heraus; vgl. Danz 2012, S.  49 ff. 50   In den Ideen (S.  345 ff.) finden sich Ansätze zu einer Reduktion des Lichts auf den Kraftbegriff, während es in der Schrift über die Weltseele spezifischer zur Wärme ins Verhältnis gesetzt wird. 51   Vgl. dazu insbesondere die Aufbauidee in der Weltseele-Schrift.

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Faktum der Freiheit zur wichtigsten Voraussetzung der Offenbarungsphilosophie, nämlich des apriorischen Teils derselben, die ihrerseits der methodische Ausgangspunkt des erfahrungsbezogenen, historischen Teils sein soll. Damit verbindet sich aber ein methodisches Problem. Einerseits soll die Philosophie hier streng a priori, ‚von vorn‘, anfangen; andererseits wird eine Voraussetzung gemacht, nämlich die der Freiheit. Manchmal spricht Schelling sogar davon, dass die Philosophie ein „sittliches Wollen“ sei und eine „Forderung“ ans Denken stelle, nämlich ‚dass Freiheit sei‘.52 Das klingt, als wolle Schelling hier auf die Postulatenlehre aus Kants praktischer Philosophie zurückgreifen, diese aber vollkommen methodenwidrig und gegen Kants Prinzipien zur Grundlage der theoretischen Philosophie machen, damit sogar noch Fichte überbietend, dem es gerade nicht um eine Begründung der Ontologie zu tun war. Vor allem aber wäre eine solche Voraussetzung, so scheint es, ein eklatanter Verstoß gegen das methodische Ziel, voraussetzungslos zu beginnen.53 Doch der Schein eines Widerspruchs verflüchtigt sich, wenn man den Status der Freiheitsforderung in Schellings Erster Philosophie genauer betrachtet. Denn Freiheit ist wie gesehen gar kein bloßes Postulat, sondern ein Faktum, von dem vernünftiges Denken ausgehen muss. Es ist in der robusten allgemeinen Erfahrung begründet, dass wir Menschen frei sind, uns von unserem auf vernünftige Überlegung gestützten Willen leiten zu lassen, und dieser richtet sich in theoretischer Hinsicht auf Seinserkenntnis, in praktischer Hinsicht auf Herbeiführen oder Bewahren des Guten. Voraussetzung der Ontologie ist diese Erfahrung nur in einem sehr speziellen Sinn, nämlich als deren Adäquatheitskriterium: Keine ontologische Theorie kann Wahrheit für sich beanspruchen, welche die Möglichkeit von Freiheit leugnet oder zur Illusion erklärt. Freiheit ist damit in einem ganz besonderen Sinn Voraussetzung der Naturphilosophie und Theologie: als Explanandum. Für eine aristotelisch vorgehende Metaphysik ergibt sich nämlich die Notwendigkeit, das durch eine cartesische Reflexion gesicherte Faktum der Freiheit anzuerkennen und die Seinsweise freier Wesen in die allgemeine Ontologie als Wissenschaft vom Sein des Seienden aufzunehmen und dort ontologisch aufzuklären. Allerdings ist Schelling zu Recht überzeugt, dass diese Bedingung nicht leicht von ansonsten beliebig unterschiedlichen ontologischen Theorien erfüllt werden kann. Deswegen ist das Freiheitskriterium zwar keine hinreichende Adäquatheitsbedingung zur Auffindung der wahren Ontologie, wohl aber  Vgl. PO, S.  20–23.   Hutter sieht Schellings Spätphilosophie überhaupt als historisierende Vollendung der Vernunftkritik Kants. (Vgl. Hutter 1996) In Spannung zu dieser Lesart steht die immer vehementer werdende Kant-Kritik Schellings, die seine Würdigung der historischen Bedeutsamkeit des Kantschen Projekts stets begleitet, insbesondere die Kritik an einer ‚bloß negativen‘ Verstandesphilosophie, als deren Vollender er Hegel sieht. Vgl. das einschlägige Kapitel in GNP. 52 53

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VI.  Geist, Vernunft, Natur

kraftvoll genug, um eine ganze Reihe von falschen Theorietypen auszuschließen. So kann die Ontologie nicht materialistisch sein, wenn materialistisch meint, dass die Materie hier zum ersten und einzigen Seinsprinzip gemacht wird. Das gilt sowohl für deterministische als auch für indeterministische Spielarten des Materialismus. Denn der Determinismus der Seinsprinzipien schließt jede Freiheit aus, die nicht bloß illusionär ist. Deswegen ist der die Möglichkeit von Freiheit gänzlich bestreitende Inkompatibilismus konsequenter als ein letztlich rhetorisch bleibender Kompatibilismus, etwa in der Nachfolge Harry Frankfurts.54 Die ontologische Möglichkeit von Freiheit kann man weder mit Parmenides55 noch mit Spinoza 56 denken, mit ersterem nicht, weil er jegliches Werden überhaupt ausschließt, mit letzterem nicht, weil er jegliches Werden für naturgesetzlich determiniert hält. Aber ein indeterministischer Materialismus wäre noch fataler als sein deterministisches Gegenstück, weil er jegliche Ordnung natürlicher Bewegungen aufheben würde, so dass menschliche Willensfreiheit im oben erläuterten Sinn, also als Erkenntnis- und Handlungsfreiheit, keinerlei Anknüpfungspunkt im Seienden finden könnte. Doch auch ein reiner ontologischer Idealismus, der die Existenz von Materie ganz leugnete, taugt nicht zum Denken von Freiheit, und zwar aus einem ähnlichen Grund: Freiheit findet in beiden Modi am materiellen Sein ihren ersten Gegenstand, nämlich theoretisch als Erkenntnisobjekt, praktisch als Materie der Formung und Umgestaltung. Sie zeigt sich erst an einem „Widerstand“, was „ganz synonym“ ist „mit Gegenstand, d. i., das Reelle unserer Erkenntnis“.57 Einen solchen Widerstand findet menschliches Denken und Wollen zuerst und am meisten an der Materie bzw. am materiell Verfassten. Wer demnach die Materie zur Illusion macht, hebt reelle Denk- und Handlungsfreiheit auf. Somit kann nur eine dualistische Ontologie wahr sein, d. h. eine Ontologie, die die Materie zu einem Seinsprinzip, aber nicht zum alleinigen macht. Die Ontologie muss ein materielles und ein – hier noch nicht näher spezifiziertes – immaterielles Prinzip kennen, weil Vernunft, theoretische wie praktische, nicht auf ein materielles, sondern nur auf ein immaterielles Prinzip zurückgeführt werden kann. Aber nicht einmal jede dualistische Ontologie besteht die Prüfung an Hand des Freiheitskriteriums. Scheitern muss daran ein Zwei-Welten-Dualismus, der das materielle und das immaterielle Prinzip in zwei ontologisch separate Sphären verlegt wie in manchen Spielarten gnostischen Denkens, und wie es selbst Kants Rede von einem mundus sensibilis und einem davon ganz verschiedenen

  Vgl. Frankfurt 1971.  Vgl. PO, S.  51. 56   Vgl. ebd., S.  33 f. Schelling bezeichnet das Sein im Sinne des spinozistischen Seinsverständnisses auch als das „blinde Sein“, vgl. ebd. 57   Ebd., S.  25. 54 55

3.  Sein und Geist

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mundus intelligibilis nahezulegen scheint.58 Denn wenn die intelligible Welt die sensible, wenn also das Reich der Freiheit das Reich der Notwendigkeit gar nicht berühren kann, dann verliert die Freiheit auch hier ihren Widerstand und ihren Anknüpfungspunkt. Es kann dann, mit Kant zu reden, keine Kausalität aus Freiheit geben.59 Dazu muss, wieder mit Kant gesprochen, die Möglichkeit einer Wechselwirkung zwischen dem Natürlichen und dem Vernünftigen bzw. zwischen Materie und Geist bestehen. Andernfalls könnte Vernunft nicht allein ‚nicht praktisch werden‘, wie Kant sagt. Sie könnte auch keinen objektiven Gedanken im Feld des Theoretischen fassen; es sei denn, man machte willkürliche Zusatzannahmen wie die einer prästabilierten Harmonie zwischen natürlichem Sein und Denken. Die dualistische Ontologie muss daher eine starke monistische Komponente in sich aufnehmen. Darin sieht Schelling bei aller Kritik die relative Wahrheit der Ontologie Spinozas. 60 Diesen durchaus in Spannung zueinander stehenden Anforderungen kann, so Schellings These, letztlich nur eine ontologische Theorie gerecht werden, die das Sein als Prozess denkt, als ‚Seinsgeschehen‘ (Heidegger). 61 Dieser Prozess muss aber ein Prinzip haben, das selbst nur ein Sein bzw. etwas Seiendes sein kann. Für den weiteren Gang von Schellings ontologischem Denken, das im Folgenden in etwas vereinfachter Darstellung rekonstruiert werden soll, ist die Frage nach der Beschaffenheit dieses ersten Seienden von alles entscheidender Bedeutung, da sich daran der Gesamtcharakter eines prozessualen Seinsverständnisses zeigen muss. Setzt man ein ‚blindes‘ Sein an den Anfang, dann sind Freiheit und Vernunft insgesamt ausgeschlossen. Setzt man dagegen ein rein aktuales, in sich abgeschlossenes Seiendes, dann sind Werden und Vergehen insgesamt ausgeschlossen wie im eleatischen Denken. 58  Vgl. De mundi sensibilis, bes. §§  13–25. Einerseits scheint eine solche Weltentrennung überhaupt nicht Kants Absicht zu sein; andererseits haben seine Thesen genau diese Konsequenz, da die sensible und die intelligible Welt nicht allein begrifflich distinkt sind, sondern auch von inkommensurablen Prinzipien regiert werden. Das Problem führt bis in Kants Diskussion der dritten Antinomie der reinen Vernunft und zu seiner Auflösung derselben; vgl. KrV, B 566–586. 59   Die Aporien einer Zwei-Welten-Lehre haben die so genannte aspektdualistische Lesart der Freiheitsantinomie und der damit zusammenhängenden Theoriestücke Kants, wie sie zuerst von Lewis White Beck entwickelt wurde, überhaupt attraktiv gemacht. 60   In der Einleitung zum Systementwurf einer Naturphilosophie von 1799 spricht er gar von einem „Spinozismus der Physik“ (Einleitung, S.  273), der Hauptkennzeichen der Naturphilosophie als „spekulativer Physik“ (ebd., §§  3 –4) sein müsse. Deutlich von Spinoza inspiriert ist auch der Gedanke der Natur als Subjekt des Naturgeschehens (vgl. ebd., S.  285). Spätestens seit der Freiheitsschrift ist sein Urteil über Spinoza weniger enthusiastisch. Vgl. aber auch die kritisch-wohlwollende Darstellung Spinozas in GNP. 61   Die große Bedeutung der Materie, der Gedanke eines Natursubjekts, der Gedanke der Natur als Prozess und schließlich die fundamentale Bedeutung des „noch nicht Seienden“ für die Ontologie (PO, 5. Vorlesung) sind die Punkte, an die Blochs dynamischer Materialismus explizit anknüpft. Man könnte Blochs Denken daher ohne allzu große Übertreibung als ‚materialistischen Schellingianismus‘ bezeichnen. Vgl. auch Habermas 1981.

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VI.  Geist, Vernunft, Natur

Schelling versucht diese Aufgabe durch eine apriorische Reflexion des Seinsbegriffs als solchen zu lösen. In diesem müssen zumindest zwei Unterscheidungen gesetzt werden, nämlich ein Aktualitätsprinzip, das er als „rein Seiendes“ oder auch als „actus purus“62 bzw. als „actus purissimus“63 bezeichnet, sowie ein Potentialitätsprinzip, das er „sein Könnendes“ oder auch „potentia pura“ nennt. 64 Diese Unterscheidung lässt sich durch eine im Prinzip sehr einfache Überlegung gewinnen. Versucht man, das Sein zu begreifen oder, wie Schelling sagt, „hinter das Sein [zu] kommen“, 65 klammert man es gedanklich ein und behandelt es als noch nicht Sein. Das ‚noch‘ drückt dabei aus, dass es sich nicht um eine einfache Negation handelt, sondern um eine temporale Negation: das Sein wird als Zukünftiges gedacht, d. h. als nicht Gegenwärtiges; sein „Wesen ist Zukunft“. (S.  26). Darin ist aber das sein Können schon enthalten, da zukünftig nur sein kann, was überhaupt sein kann. Zukünftiges Sein ist gegenwärtig potentielles Sein. Damit dieses aber werden, also aktual werden kann, muss es etwas in irgendeiner Hinsicht schon aktual Seiendes geben. 66 Das rein potentiell Seiende ist das ‚Negative‘, d. h. das noch nicht Seiende. Dieses kann es nicht geben ohne aktuales Sein als Träger der Potentialität. Entweder also ist die Unterscheidung zwischen aktualem und potentiellem Sein rein begrifflich wie im megarischen Denken, so dass nur der Begriff des aktual Seienden real wäre. Oder es liegt eine reale Differenz vor. Da aber vom Freiheitsgedanken ausgegangen wird, Freiheit aber die Möglichkeit von Bewegung und Veränderung voraussetzt, ist klar, dass es eine Realdifferenz zwischen aktualem und potentiellem Sein geben muss. Wie man sieht, stößt Schelling hier – bei aller verbalen Distanzierung vom scholastischen Denken67 – auf die gleichen zwei Seinsprinzipien wie Thomas von Aquin im ersten und zweiten der ‚fünf Wege‘, wenn auch ohne sich explizit auf die aristotelische Tradition dieses Gedankengangs zu beziehen. Systematisch gesehen ist die Notwendigkeit dieser polaren Seinsprinzipien einleuchtend: Ohne ein Prinzip des ‚sein Könnens‘, der Potentialität, wären Bewegung und Werden ausgeschlossen; wir hätten das „tote Prinzip“ des parmenideischen   PO, S.  34.   Ebd., S.  70. Der Superlativ soll die Transzendenz der reinen Aktualität dieses ersten Seienden andeuten. An anderen Stellen bezeichnet Schelling dieses erste Seiende in Anlehnung an neuplatonische Redeweisen auch als „das Überseiende“; ebd.  S.  47. 64   Ebd., S.  34. 65   Ebd., S.  23. 66   Diese Forderung erfüllt auch noch Bloch, indem er das Noch-nicht-Sein nicht etwa hypostasiert, sondern als Potentialität der Materie als einem schon aktual Seienden zuschreibt. 67   Diese Distanzierung gründet sich zum einen auf den eher äußerlichen Grund, dass die Termini des scholastischen Denkens „längst nicht mehr der Philosophie unseres Jahrhunderts angehören“ (S.  429), zum anderen auf den Vorwurf des ungeschichtlichen Denkens, welches erst durch die Reformation überwunden worden sei. Allerdings wirft Schelling im Gegenzug dem protestantischen Historismus vor, eine „bloß äußerliche[…] geschichtliche[…] Behandlung, ohne wissenschaftlichen Geist“ betrieben zu haben (S.  430). 62

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Seins. 68 Werden und Bewegung gehören aber nicht nur zu den Bedingungen realer Freiheit, sondern auch zu den manifesten Tatsachen als den aposteriorischen Gegebenheiten, die in die methodischen Voraussetzungen der Offenbarungsphilosophie eingehen. „In letzter Instanz ist also die Voraussetzung der Philosophie nicht eine abstrakte, sondern eine wirkliche.“69

Aber eben weil es gilt, das Wirkliche vorauszusetzen, kann das Potentialitätsprinzip nicht das einzige Seinsprinzip sein. Ansonsten wäre das noch nicht Seiende schlicht identisch mit dem Nichtseienden. Dann aber wäre die Rede von einem Zukünftigen hier ganz leer. Um die Möglichkeit zu verwirklichen, den Seinsakt zu vollziehen, ist das noch nicht Seiende auf einen Seinsgrund als Grund der Wirklichkeit angewiesen, und das kann nur etwas Wirkliches, aktual Seiendes sein. Deswegen erweisen sich Potenz und Akt als zwei gleichursprüngliche Seinsprinzipien. Deren Verhältnis darf nun nicht zu einfach gedacht werden. Einerseits darf man das Potentialitätsprinzip nicht als bloße Seinsdisposition, als „unmittelbar   Ebd., S.  51.   Ebd., S.  65. Es ist nicht zuletzt das Verdienst Thomas Buchheims, diesen realistischen Grundzug in Schellings Philosophie, insbesondere aber in seiner Spätphilosophie deutlich herausgearbeitet zu haben, einschließlich seiner Kritik der Hybris eines allzu überschießenden Idealismus. Buchheim deutet die Schellingsche Spätphilosophie daher durchgehend als Selbstbescheidung des Denkens; vgl. Buchheim 1992. Schelling gibt das Projekt eines ganz und gar voraussetzungslosen Anfangs der Philosophie auf, welches der Deutsche Idealismus in Auseinandersetzung mit Kants Transzendentalphilosophie ansonsten durchgehend verfolgt. Und zwar tun dies in unterschiedlichen Spielarten Reinhold und Fichte, Hegel in der Wissenschaft der Logik, aber auch Schelling selbst im System des transzendentalen Idealismus und noch in seiner so genannten Identitätsphilosophie. Um Schellings spätes Selbstverständnis zu charakterisieren, ist der Ausdruck Selbstbescheidung aber auch partiell irreführend, da Schelling gerade umgekehrt in der Forderung der strikten Voraussetzungslosigkeit eine gravierende und zugleich unnötige Selbstbeschränkung des Denkens sieht, durch deren Setzung die Philosophie sich selbst dazu verurteile, bloß ‚negativ‘, d. h. im Feld des bloßen Denkens, zu bleiben und nicht ‚positiv‘ zu werden, d. h. vom Sein und von der Wirklichkeit zu handeln. Denn zwar gebe es sowohl bei Kant und Fichte als auch bei Hegel eine Realphilosophie; der eigentliche Prüfstein des Wirklichkeitsbezugs jeder Philosophie sei aber die Naturphilosophie, und die fehle bei Fichte ganz und sei bei Hegel kaum ausgebildet und obendrein durchweg hypothetisch. Vgl. GNP, S.  82 f., S.  132 f. Erst indem diese methodische Selbstbegrenzung preisgegeben werde, könne die Philosophie wieder mehr sein als „eine Vorrede, zu der das Buch noch mangelt“ (PO, S.  3). Durch die Anerkennung der Wirklichkeit als Voraussetzung des Denkens werde die Philosophie wieder frei, über das bloß reflektierende Denken hinauszugreifen und wahrhaft transzendent zu sein. Man kann hier also mit gleichem Recht von einer Entgrenzung des Denkens sprechen, zu der dieses durch den besagten Anerkennungsakt frei wird. Obendrein muss beachtet werden, dass Schelling wie gesehen trotz seiner Kritik mit Fichte und Hegel an der Bestimmung der Philosophie als der von vorn anfangenden Wissenschaft festhält. Deswegen geht Markus Gabriels These, dass nach Schelling alle Notwendigkeit nichts anderes sei als „verdrängte Kontingenz“ (Gabriel 2011, S.  186), nicht allein weit über Buchheims Schelling-Deutung hinaus, sondern an Schellings philosophischem Anliegen vorbei. 68 69

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sein Könnendes“ (S.  27) verstehen, weil eine solche Potenz immer schon aktualisiert wäre. Damit hätte man ein ‚blindes‘, unfreies, bloß notwendiges Sein konstruiert. Zugleich wäre dies ein Rückfall aus der Positivität der Seinserfassung in die Negativität des bloßen Denkens. Andererseits dürfen Akt und Potenz auch nicht schlechthin getrennten Seinsbereichen zugeordnet werden. Das Nochnicht-Sein des potentiell Seienden ist selber eine Seinsweise, also etwas Aktuales, oder es ist nichts. Das gilt auch dann, wenn man die Potentialität aristotelisch der Materie zuordnet. Indem die Materie etwas Bestimmtes noch nicht ist, ist sie doch (etwas anderes). Kurz, die Schwierigkeit besteht darin, das Akt- und das Potenzprinzip als so beieinander seiend zu denken, dass sie nicht ineinander kollabieren oder sich wechselseitig aufheben. Das prinzipielle, erste, ursprüngliche oder, wie Schelling sich in Anlehnung an Jakob Böhme ausdrückt, „urständliche“ Sein (S.  35) vor aller Differenzierung in Gegenstände und Eigenschaften muss aktual und potentiell zugleich sein. Es kann dies aber – anders als Bloch meint – nicht nach Art und Weise der Materie sein, da eine unbewegte Materie überhaupt keine Potenzen aktualisieren würde, während eine immer schon bewegte Materie ihre Potenz ‚blind‘, d. h. determiniert aktualisieren würde. Einen ersten Hinweis zu Schellings Lösung dieses Problems gibt die Be­ obachtung, dass er dem ersten Sein ein „Wollen“ zuschreibt: „Das ursprüngliche Sein ist nur möglich durch Wollen. […] Es ist unmöglich, ein Sein zu denken, ohne einen wirklichen Willen, ohne Wollen. Das Sein irgendeines Dinges erkenne ich nur dadurch, dass es sich behauptet, dass es etwas anderes – das Eindringen eines fremdartigen Gegenstandes – ausschließt. Wo wir auf keinen Widerstand stoßen, da sagen wir: Da ist nichts; denn Widerstand ist ganz synonym mit Gegenstand, d.  i das Reelle unserer Erkenntnis.“ „[…] Wille ist in allen Stufen der Natur.“ 70

Auf den ersten Blick erinnert dieser analogisch erweiterte und so zur allgemeinen Seinsbestimmung ausgedehnte Begriff des Willens stark an Schopenhauers Bild des Willens als eines ersten kosmischen Prinzips. Geht es doch bei Schopenhauer wie auch hier bei Schelling darum, ein ganz allgemeines ontologisches Prinzip der Selbstbehauptung zu formulieren, das es möglich machen soll, so etwas wie Beharrlichkeit des Seienden zu denken. Alle bestimmten, bereichsspezifischen Prinzipien wie z. B. das der Trägheit als Bewegungsgesetz, alle Bestimmungen natürlicher Kräfte von Schwerkraft über die Elektrizität bis hin zum principium individuationis (Schopenhauer) als Prinzip der Selbsterhaltung des einzelnen natürlich Seienden, des Lebenswillens und der Sorge beim Menschen sollen dann als Spezifikationen dieses Grundprinzips gelten können.71 70   PO, S.  24 f. und 27. Um diesen Gedanken zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass die Widerständigkeit des Seins als Wollen als Potenz zu deuten ist. Sein als Wollen ist also nicht erst da gegeben, wo aktualer Widerstand gegen anderes Sein aufgeboten wird. Andernfalls wäre der Begriff eines ersten Seienden in sich widersprüchlich. 71   Schopenhauers vehemente Ablehnung des Schellingschen Denkens sollte aber in jedem

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Die Ähnlichkeit mit der Schopenhauerschen Metaphysik erweist sich aber bei näherem Hinsehen als oberflächlich. Denn Schelling sieht klar, dass ein so wie bei Schopenhauer verstandener Wille nur eines erklären kann, nämlich dass ein sein Könnendes aktual ist, „denn das Sein besteht eben im Wollen“. (S.  26) Damit geht im analogisch erweiterten Willensbegriff aber gerade das verloren, was den ursprünglichen Begriff des Willens charakterisiert, nämlich Freiheit und ‚Besonnenheit‘ (S.  29). Schopenhauer bestimmt denn auch den verallgemeinerten Willen als Prinzip und ersten Grund eines universalen Determinismus, der das freie Wollen als bloß subjektive Illusion, als „Gewebe der Maja“ erzeugt.72 Schopenhauers Denken ergeht es damit wie „so viele[n] philosophische[n] Systeme[n] des Pantheismus“, die „im blinden Sein steckengeblieben sind“. (S.  32) Soll daher das erste Sein als frei gedacht werden, dann darf ihm nicht allein sein Können und sein Wollen zugeschrieben werden, sondern auch ein Nichtwollen (S.  36) und damit die Möglichkeit der Wahl (S.  34). Damit sind aber hinsichtlich des ersten Seienden auch schon normative Unterscheidungen zu treffen, die Schelling terminologisch in der Differenz zwischen dem sein Sollenden und dem nicht sein Sollenden fasst. (S.  56) Diese zunächst noch ganz formale, nicht schon ethisch gemeinte Opposition soll lediglich markieren, dass es für das rein Seiende als Willen hier einen relevanten Unterschied geben muss, wenn das erste Sein überhaupt als frei und nicht als determiniert gedacht werden soll. In erster inhaltlicher Reflexion ist das nicht sein Sollende naheliegender Weise das Determinierte und Unfreie. Dass dieses nicht sein soll, heißt nach Schelling aber nicht, dass es gar kein determiniertes Sein geben kann. Im Gegenteil, so Schelling, „[d]as nicht sein Sollende ist das nicht Abweisliche“.73 Denn wie schon gesehen kann das natürliche Seiende nicht ohne determinierendes Prinzip gedacht werden, auch wenn der Gedanke der Determination geeignet ist, „eine Art von panischem Schrecken“ (S.  32) auszulösen, so lange es nämlich nicht gelingt, „uns mit diesem nicht sein Sollenden zu versöhnen“, (S.  31) d. h. den Gedanken der Determination mit dem der Freiheit zu versöhnen. Dies kann aber keine kompatibilistische Theorie der Willensfreiheit im üblichen Sinn sein, da im Kompatibilisimus gerade der Determinismus als erstes Prinzip angenommen wird und Freiheit lediglich als spezielles und ontologisch nachgeordnetes.74 Dieser Ansatz ist aber zum Misslingen verurteilt, d. h. zum Kollaps in die

Fall zu denken geben. Da diese sich u. a. auf die Lektüre der Freiheitsschrift stützt, in der Schelling schon Gebrauch von dem verallgemeinerten Begriff des Willens macht, ist gerade umgekehrt ein verdrängter Einfluss Schellings auf Schopenhauer nicht auszuschließen, auch wenn oder gerade weil der sich zum ‚Selbstdenker‘ stilisierende Schopenhauer jeden derartigen Einfluss abstreitet. Vgl. auch Buchheim, Einleitung zur Freiheitsschrift, S.  X XXIV, Anm.  70. 72  Vgl. WWV I, §  15, S.  49 et passim. 73   PO, S.  31. 74   Vgl. zur Freiheitsproblematik auch Buchheim 2006.

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Schopenhauersche Theorie einer bloß illusionären Freiheit. Wie Schelling diese Versöhnung stattdessen denkt, muss später betrachtet werden.75 Bis hierher lässt sich diese apriorische Reflexion von Akt und Potenz als Seins­prinzipien aristotelisch deuten. Doch im nächsten Schritt verlässt Schelling den Boden, auf dem der Aristotelismus steht, denn nun vereint er die beiden Prinzipien in einem gemeinsamen Seinsgrund. Akt und Potenz sind demnach nicht zwei separate Prinzipien, sondern Aspekte eines davon verschiedenen Dritten. Sie bilden somit nicht „eine Zweiheit“, sondern „eine Doppelheit“. (S.  57) Das können sie aber nur sein, wenn sie zu Bestimmungen werden, „von denen keines […] um seiner selbst willen, und eines nur wegen des anderen da“ ist, (S.  58) und das heißt, zu Bestimmungen eines davon verschiedenen Subjekts, einer Substanz oder eines „Wesens“ (S.  60). Dieser Substanz oder diesem Wesen kommen Akt und Potenz zu, und nur so können sie ursprünglich beieinander sein, ohne sich gegenseitig aufzuheben, oder, wie Schelling sich ausdrückt, „sie treten jetzt […] zurück“ (S.  64) in dieses Wesen. Dass in Substanzen Akt und Potenz zusammen vorkommen, ist aber ein Gedanke, der noch zu allgemein ist, als dass er Schellings besonderen Gedanken über das erste Seinsprinzip treffen könnte. Er gilt schlechthin für jede Substanz. Ein Stück Holz ist etwas aktual Seiendes, zugleich aber auch brennbar, d. h. potentiell brennend. Wird es von Feuer oder hinreichend großer Hitze erfasst, dann wird diese Potenz aktualisiert. Denkt man sich die Doppelheit von Akt und Potenz so, dann fällt man zurück in das blinde, determinierte Sein, welches Schelling als das Sein der Materie ansieht. Will man sich das erste Sein, welches sich nun als erste Substanz oder als erstes Wesen erweist, zugleich als frei denken, dann kann dies nur so geschehen, dass eine engere Einheit von Substanz, Akt und Potenz gedacht wird, die dafür sorgt, dass Akt und Potenz nicht einfach nebeneinander bestehen wie das Sein des Holzstücks und seine Brennbarkeit, sondern dass sie wesentlich zusammengehören und sich aufeinander beziehen.76 Die Potenz muss untrennbar mit dem Seinsakt verbunden sein und beides 75   Historisch gesehen reflektiert sich in Schellings Versuch, das erste Seinsprinzip als frei zu denken, die scotistische Sorge vor dem Gedanken einer Unfreiheit Gottes. Duns Scotus denkt Gottes Willen als radikal frei, allerdings um den Preis, dass außer Gottes Willen eigentlich nichts mehr wirklich frei ist, da dieser freie und zugleich allmächtige Wille alles innerweltliche Sein und Geschehen determiniert. Vgl. Reportatio, dd. 38–42. Diesen Weg zu gehen und eine deterministische Prädestinationslehre zu vertreten wie nach Duns Scotus wieder Calvin hält Schelling zu Recht für eine Preisgabe des Gedankens menschlicher Willensfreiheit. Eine Alternative dazu entwickelt er bereits in der Freiheitsschrift. Vgl. dazu auch die Einleitung von Thomas Buchheim, v. a. S.  X XIX ff. 76  Die scholastischen Wurzeln von Schellings Aktverständnis – wie übrigens auch von Fichtes Begriff der Tathandlung – werden in der Literatur häufig nicht bemerkt oder nicht hinreichend berücksichtigt. Vgl. Fichte 1794. So schließt etwa Sturma aus Schellings Rede von einem ‚Akt des Selbstbewusstseins‘, dass das Ich bei Schelling seinem Wesen nach Aktivität sei, und setzt so Akt mit Aktivität bzw. Tätigkeit gleich. Vgl. Sturma 2004, S.  62. Auch Hutter schließt m. E. etwas zu schnell von Schellings Ausdruck ‚Aktus der Persönlichkeit‘ auf die

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mit dem Wesen selbst, oder kurz und scholastisch gesagt: Sein und Wesen müssen im ersten Sein zusammenfallen. Doch wie können sie das? Die einzige Möglichkeit einer solchen untrennbaren Einheit von Substanz, Akt und Potenz scheint zu sein, dass der Seinsakt mit der Substanz selbst unauflöslich verbunden ist und die Potenz sich auf den Seinsakt richtet und nicht auf etwas davon Verschiedenes. Andernfalls wäre sie vom Seinsakt ablösbar, ohne dass die Substanz aufhörte zu sein. Das Holzstück kann seine Brennbarkeit verlieren, etwa wenn es sehr nass wird, ohne dass es dadurch aufhörte, ein Holzstück zu sein. Die Brennbarkeit ist also von seinem Seinsakt ablösbar; sie ist eher die Grenze seiner Seinsweise als deren innere Bestimmung. Anders stünde es mit einer Substanz, der eine Potenz eignete, die unmittelbar mit dem Seinsakt einherginge, und zwar so, dass sie ihn erst ermöglichte. Wir hatten gesehen, dass Schelling den Seinsakt des ersten Seins als Willen kennzeichnet, und zwar als bewussten Willen einer, wie sich nun gezeigt hat, ersten Substanz. Nun unterscheidet sich ein bewusster Wille aber von einem ‚blinden‘, d. h. einem bloßen Begehren, dadurch, dass er in sich reflektiert bzw. dem Wollenden selbst bewusst ist.77 Das heißt aber nichts anderes, als dass Selbstbewusstsein eine notwendige Bedingung bewussten Wollens ist. Dennoch ist Selbstbewusstsein etwas vom Wollen selbst real Verschiedenes; es verhält sich zum Wollen als Potenz zum Akt, wenn auch als eine Potenz, die mit jedem Wollensakt schon immer mit aktualisiert ist. Das Selbstbewusstsein ist, wie Schelling sich ausdrückt, für sich genommen „unselbstisch“ (S.  45); es ist Bewusstsein des Wollens, aber nicht selbst Wille.78 Dennoch geht es mit dem Wollen als bewusstem Wollen notwendig einher, da es das Bewusstsein der wollenden Substanz von sich selbst ist. Durch diesen dritten Schritt werden Substanz, Akt und Potenz zu einer untrennbaren Einheit verbunden, nämlich so, dass diese untrennbare Einheit zugleich für die wollende Substanz selbst beGeschichtlichkeit der Person, weil ja eine Tätigkeit nur in der Zeit stattfinden kann. Vgl. Hutter 2004, Abschnitt 5. Gemeint ist aber mit Akt in beiden Fällen nicht Tätigkeit, sondern Wirklichkeit. Der Gedanke eines Vorrangs der Tätigkeit oder allgemeiner des Prozesses vor dem Akteur oder allgemeiner der Substanz wird von Schelling aber an keiner Stelle vertreten. Die Versuchung zu dieser Art von Missverständnis ist deswegen so groß, weil ‚Prozess‘ und ‚Tätigkeit‘ tatsächlich Kernbegriffe Schellingscher Philosophie sind. Dass damit ein von Tätigkeit und Prozess verschiedenes Wesen bzw. eine Substanz als Subjekt der Tätigkeit immer schon vorausgesetzt und mitgedacht ist, macht Schelling nicht allein deutlich, es ist auch eine der Pointen seines Prozessdenkens. 77   Später kann Schelling das Wollen mit dem Können und dem Wissen in Gott identifizieren (vgl. PO, S.  133). Da diese Potenzen nur in Gott zusammenfallen, die Identifikation den Begriff des vollkommenen Geistes also schon voraussetzt, ist ein solcher Zug hier noch nicht möglich. 78  Auf diese Weise vermeidet Schelling den drohenden infiniten Regress, den Selbstbewusstseinstheorien mit sich bringen, die Selbstbewusstsein als ein ‚Bewusstsein des Bewusstseins‘, ein ‚Erkennen des Erkennens‘ oder ein ‚Wollen des Wollens‘ bestimmen. Diese Gefahr wird durch Theorien des Selbstbewusstseins als doppelter Intentionalität, wie sie auch Schelling vertritt, vermieden.

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steht. Als selbstbewusst wollende ist die erste Substanz zugleich einheitlich und frei. Selbstbewusst kann sie aber nur als Geist sein. So gelangt Schelling zu dem Resultat, dass die erste Substanz Geist ist. Eben in dieser Einheit von Akt und Potenz im selbstbewussten Wollen erweist sich die erste Substanz – thomistisch gesprochen – als Einheit von Sein und Wesen oder – cartesisch-spinozistisch gesprochen – als causa sui, Ursache und Grund ihrer selbst. Schelling drückt das auch in der ihm so geläufigen Terminologie Fichtes aus, wenn er schreibt, dass die erste Substanz ihrem Sein als Wollen nach Subjekt ist, im Bewusstsein ihrer selbst aber sich selbst zum Objekt wird – zum Gegenstand ihres Bewusstseins nämlich – und schließlich, da sie selbst es ja ist, dessen sie bewusst ist, zum Subjekt-Objekt und damit personal.79 In einer ebenfalls von Fichte stammenden, aber genauso für Hegel charakteristischen Redeweise beschreibt er die spezifische Seinsweise des Geistes aber auch als (1) den an sich seienden Geist als reines Sein oder reines Wollen, (2) den für sich seienden Geist als Selbstbewusstsein, (3) den im an sich Sein für sich seienden Geist, den er auch den bei sich seienden Geist nennt. 80 In dieser wesentlichen Dreieinigkeit erweist sich der Geist als vollkommen, da sich das Sein als Geist darin vollendet. (S.  87) Anders steht es beim Menschen, der immer auch noch anderes als Geistwesen ist und der als selbstbewusstes Wesen daher dennoch nie eine schlechthin vollkommene Einheit bildet. Der Substanz nach ist der Mensch auch anderes als Geist, und seine Akte sind daher nicht durchgehend selbstbewusst. Umgekehrt vermag das Selbstbewusstsein beim Menschen wohl eine Einheit als Person zu sichern, aber weder vollkommene Objektivität hinsichtlich des eigenen geistigen Seins noch die Einheit als Substanz insgesamt. Das Prinzip der Einheit menschlichen Seins ist die Seele, und die ist nicht rein geistig. Daher ist der Mensch kein vollkommener Geist. In der Seinsordnung betrachtet ist er nicht erste Substanz, sondern eher letzte Substanz, Abschluss und Vollendung des Seienden im Bereich der natürlichen Substanzen. Ein vollkommener Geist, der zugleich erste Substanz und erster oder letzter Grund allen Seins ist, wird traditionell Gott genannt. (S.  88) So kommt Schellings Natürliche Theologie an ihr Ziel: Ihre Grundlage ist eine Philosophie der Natur, deren Aufgabe es ist, menschliche Willensfreiheit zu erklären. Der Durchgang durch die Phänomene am Leitfaden des Freiheitsgedankens führt dann zur Notwendigkeit, die erste Ursache alles natürlich Seienden ebenfalls als frei zu denken, und zwar als vollkommen frei. Das kann aber nur geschehen, wenn man die erste Ursache als geistig, als selbstbewusst denkt. Es ist für Schelling wichtig zu betonen, dass die drei Bestimmungen, die zusammen das Sein des ersten Seienden kennzeichnen, eine gewisse ontologische Eigenständigkeit aufweisen, so dass es keine bloße Abstraktion darstellt, wenn  Vgl. PO, S.  61, sowie Danz 2004.  Vgl. PO, S.  77.

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man sie jeweils für sich betrachtet. Der Seinsakt des Geistes als bewusstes Wollen ist die grundlegende Bestimmung des vollkommenen Geistes. Aber im Selbstbewusstsein objektiviert der Geist sich selbst. Darin steckt, metaphorisch gesprochen, die Möglichkeit der Selbstdistanzierung, und damit auch der Selbstbeurteilung, die beim Menschen nur unvollkommen gegeben ist, dem vollkommenen Geist aber notwendig in vollkommener Weise. Dazu muss dem für sich seienden Geist, d. h. dem sich selbst objektivierenden Geist aber zumindest eine gewisse ontologische Autonomie eigen sein, bzw. das Gesetz seines Seins kann nicht das gleiche sein wie das des an sich seienden Geistes. (Die Rede von einem Seinsgesetz muss hier allerdings metaphorisch gedeutet werden, da dieses erste Sein insgesamt ja Quelle aller Seinsgesetze sein muss.) Das Gleiche gilt dann aber auch für den bei sich seienden Geist. Als tatsächliche, die Selbstbewusstseinsstruktur überhaupt erst ermöglichende Verbindung und damit als Prinzip der Einheit von Seinsakt und Selbstbewusstseinspotenz muss der bei sich seiende Geist selbst etwas Reales sein. Die genannten Strukturmomente des ersten, geistigen Seins sind insgesamt real Seiende und, wie Schelling mit Nachdruck betont, keine „bloße[n] Kategorien“ im Sinne Kants (S.  67), also keine entia rationis oder bloße Denkbestimmungen. Nur so kann der Geist insgesamt als „Allheit in der Einheit“ (S.  81) oder kurz als „Alleinigkeit (S.  87) verstanden werden. Als freier Geist ist er zugleich selbstbestimmt und kann von sich sagen: „Ich bin, der ich sein werde“. (Exod. 3, 14) Es ist nicht zu übersehen, dass Schelling hier zugleich die Trinitätslehre rekonstruiert zu haben beansprucht. Denn die Struktur des Selbstbewusstseins ist notwendig trinitarisch. Demnach ist der an sich seiende Geist als Aktualitätsprinzip der Vater (principium), der für sich seiende Geist als Selbstbewusstseins- und Reflexionsprinzip der Sohn (logos, verbum) und der bei sich seiende Geist das beide Verbindende, was kurz Geist oder auch Heiliger Geist genannt wird (amor). 81 Zugleich vertritt er die These, dass nur ein trinitarisches Gottesverständnis wahrhaft monotheistisch genannt werden kann, da das Trinitätsdenken die angemessene Explikation des Gedankens ist, dass Gott Geist ist und dass er als solcher erste Ursache allen Seins ist. Gott als erste Ursache allen Seins zu verstehen reicht nicht aus, da eine erste Ursache als solche auch als ungeistig und damit ungöttlich gedacht werden könnte. 82 Aber auch Gott als Geist zu fassen reicht nicht aus, weil das Raum für den Gedanken lässt, dass Gott gar nicht oder zumindest nicht die einzige Ursache allen Seins ist. So denkt die Gnosis sich gerade Satan als Demiurgen, als erste Ursache der Welt, Gott aber als verborgen und nicht kausal wirksam. Und der manichäische Dualismus geht 81   Principium, verbum, amor sind in patristischer und scholastischer Tradition die begrifflichen Kennzeichnungen der drei göttlichen Personen in ihrer jeweiligen Besonderheit. Vgl. De Trinitate III sowie STh I qq.  27–28. 82  Vgl. PO, S.  104.

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im Kontrast dazu von zwei gegenläufigen Prinzipien der Schöpfung aus. 83 Deswegen kann der Monotheist nicht einmal zulassen, dass Gott die Welt aus der ersten Materie geschaffen hat, sondern muss behaupten, dass auch die erste Materie von Gott geschaffen wurde. 84 Eine Schwächung des Monotheismus wäre auch die Lehre einer insgesamt ewigen, ungeschaffenen Welt, wie sie Aristoteles in seiner Physik zu vertreten scheint. Denn sie wäre zwar logisch vereinbar mit dem Gedanken eines einzigen Gottes als einheitlichen Ordnungsprinzips des Seienden. Aber sie wäre eben nicht zwingend, da eine solche Lehre auch einen simultanen oder sukzessiven Polytheismus zulässt. Ist Gott dagegen als Geist zugleich Schöpfer und erste Ursache alles Seienden, dann kann es tatsächlich nur einen Gott geben. Eben deswegen, so Schelling, lasse sich der Monotheismus nur dadurch explizieren, dass man Trinitäts- und Schöpfungslehre zusammen entwickelt. 85 Die Lehre des Monotheismus muss daher sein, dass alles Sein aus Gott hervorgeht und dass Gott als Geist dreifaltig sein muss; sonst wäre er nicht Geist. 86 Darin eingeschlossen ist aber zugleich eine gewisse Pluralität, die traditionell in der Lehre von den drei Personen Gottes als Momenten der einen Substanz ausgedrückt wird. Vom trinitarischen Gott gilt also ohne Zweifel das, was Hegel über den Geist überhaupt sagt, nämlich es sei „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“. 87 Man könnte hinzufügen: Er ist ein Ich nur durch sein Wir und umgekehrt. Seinen vollen Sinn hat dieser Satz aber nur in einem theologischen Kontext, weil die Strukturen des Selbstbewusstseins des endlichen, menschlichen Geistes nicht sinnvoll als Hypostasen oder Personen gedacht werden können. In der Dreiheit der göttlichen Personen sieht Schelling auch einen Aspekt der relativen Wahrheit des Polytheismus. Dennoch sei der Polytheismus-Vorwurf des Islam gegen das Christentum unbegründet, da gerade das Christentum im Trinitätsgedanken den Monotheismus in seiner strengsten Form denke. Auch weist Schelling an Hand zahlreicher Stellen aus dem Alten Testament nach, dass der Trinitätsgedanke dem Judentum keineswegs fremd ist. 88

  Vgl. ebd., S.  107 ff.   Vgl. ebd., S.  105, sowie die Erörterung in STh I, q.  4 4 a.  2, als deren Ergebnis Thomas die von Aristoteles nahegelegte Lehre von der Ungeschaffenheit der Erstmaterie verwirft, dabei aber (ad 1) darauf beharrt, dass Aristoteles diese Lehre gar nicht vertreten habe. Vgl. Physik Θ. 85  Vgl. PO, S.  148. Im Lichte dieser Überlegungen reicht es nicht aus, mit Dalferth bei der Behauptung stehen zu bleiben, dass das Verhältnis Gottes zur Welt im antiken und im christlichen Monotheismus verschieden ‚konzeptualisiert‘ werde; vgl. Dalferth 2008, S.  214. Denn so kann Schellings Frage, ob und inwiefern die eine ‚Konzeptualisierung‘ von sich aus zur anderen hindrängt, nicht in den Blick kommen. Vgl. auch ebd., S.  544, Anm.  19. 86   Das ist das Ergebnis der ausführlichen Erörterung des Begriffs des Monotheismus in der 16.–20. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung. 87   PhG, S.  108. 88   Vgl. z. B. PO, S.  122 f. 83

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Auf diese Weise lässt sich die Natürliche Theologie Schellings, die am Anfang seiner Offenbarungsphilosophie steht, schon einmal vorgreifend zur anselmisch-cartesischen und zur aristotelisch-thomistischen ins Verhältnis setzen. Schelling beginnt wie der Thomismus mit einer aposteriorischen Betrachtung des natürlichen Seienden in seinem Sein bzw. als Seiendes. Wir hatten gesehen, dass auch Anselm und Descartes nicht ganz ohne ontologische Voraussetzung beginnen, da bei ihnen zumindest das Sein des denkenden Subjekts als Voraussetzung des gesamten theologischen Gedankengangs anerkannt ist. Doch die thomistische Basis ist sehr viel breiter und umfasst die gesamte phänomenale, erfahrbare natürliche Welt, und so verhält es sich auch bei Schelling. Dass dieser obendrein auch die Geschichte als Erfahrungsbasis heranzieht, braucht uns hier nicht zu kümmern, da dieser Punkt nicht den Argumentationsstrang der Natürlichen Theologie berührt. Wie bei Thomas führt die spekulative Naturbetrachtung, die nach einer ersten Ursache fragt, zu den ersten Prinzipien von Akt und Potenz. Diese werden zurückgeführt auf ein rein Aktuales (actus purus), welches eben als solches nur Geist sein kann, d. h. auf Gott. Doch Schelling stellt an die allgemeine Ontologie, die Basis der Natürlichen Theologie ist, noch eine speziellere Frage als Aristoteles und Thomas, nämlich wie Freiheit ontologisch möglich ist. Diese Frage orientiert die gesamte Naturphilosophie und die darauf beruhende Metaphysik der Natur und des Seins überhaupt, indem Freiheit als zu erklärendes Faktum vorausgesetzt wird. Diese Voraussetzung wird ihrerseits durch eine anselmisch-cartesische Reflexion des eigenen Denkens und Wollens als berechtigt, weil immer schon erfüllt ausgewiesen. Die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit lautet, dass Freiheit nur als selbstbewusstes Sein möglich ist und dass es selbstbewusstes Sein überhaupt nur geben kann, wenn das erste Prinzip des Seins selbstbewusst, wenn es also Geist ist. Das wird weder von Aristoteles noch von Thomas bestritten, die im Gegenteil beide die Geistigkeit Gottes und die Willensfreiheit des Menschen lehren. Doch Schelling greift in einer apriorischen Analyse der Struktur des göttlichen Geistes nun auf die von Augustinus ausgehende und von Anselm und Descartes weiterentwickelte Tradition der Theologie als Philosophie des Geistes zurück. Diese erlaubt es, ausgehend von einer Strukturanalyse menschlichen Selbstbewusstseins die Struktur von Geistigkeit überhaupt als selbstbewusst und personal auszuweisen, in einer Extrapolation der Seinsverfassung von Geistigkeit überhaupt, d. h. in Abstraktion von ihrer Endlichkeit beim Menschen. Die ontologische Verankerung dieser Analyse in einer Metaphysik des Seienden als solchen schützt diese Betrachtung wiederum vor Missdeutungen in der Nachfolge Feuerbachs: Wenn das erste Sein als geistig und selbstbewusst gedacht werden muss, dann kann es sich dabei unmöglich um eine bloß anthropomorphe Projektion handeln. Auf diese Weise wird aber auch ein aristotelischer Gedanke gerechtfertigt, der bei Aristoteles selbst nur als dialektische Wahrscheinlichkeit artikuliert werden kann: dass Gott nämlich als

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sich selbst erkennender Intellekt gedacht werden muss. 89 Diese Analyse erlaubt es Schelling ferner, mit Anselm darauf zu beharren, dass die Trinität Gottes aus reiner Vernunft, d. h. im Rahmen der Natürlichen Theologie allein eingesehen werden kann. Sie erlaubt ihm zudem, mit Anselm zu sagen, dass Gott tatsächlich dasjenige Seiende ist, über dem nichts Größeres und Besseres gedacht werden kann, weil nichts Größeres und Besseres gedacht werden kann als der vollkommene Geist. Erst in dieser Verbindung aristotelischer und anselmisch-cartesischer Momente wird hier also ein Argument entwickelt, welches den Namen ‚ontologisch‘ ebenso verdient wie die fünf Wege bei Thomas von Aquin. Man könnte sogar versucht sein, von einem ‚ontologischen Gottesbeweis‘ zu sprechen. Schelling selbst weist diese Kennzeichnung aber zurück. Er ist sich der methodischen Eigenheiten seines Verfahrens sehr bewusst und betont, dass sein Argument kein Beweis nach dem Muster der Mathematik oder der deduktiven Logik ist. Denn mathematikanaloge Beweise kann es nur von Denknotwendigem geben, d. h. von solchem, das auf axiomatischer Basis zwingend hergeleitet werden kann. Schellings Argument geht dagegen auf paradoxe Weise gerade vom nicht Notwendigen aus, dem Sein der Natur und der eigenen Existenz, und führt zu einem Ersten, welches nur relativ zum Kontingenten notwendig ist, in sich aber eine Tatsache, die sich auf keinen weiteren Vernunftgrund mehr zurückführen lässt und deswegen auch nicht als schlechthin denknotwendig bezeichnet werden kann. Das ist deswegen nicht möglich, weil im Gegenteil die Vernunft und ihre Notwendigkeiten auf dieses Eine und Erste zurückgeführt werden müssen. Man kann das als Erläuterung des Gedankengangs der dritten Meditation Descartes’ verstehen. Gott „ist, weil er ist […], er hat kein Prius, sondern ist selbst das absolute Prius“. (S.  71) Gottes Sein kann einsichtig gemacht werden, aber es ist nicht schlechthin vernunftnotwendig; es ist vielmehr – ebenso paradox – mehr als das, nämlich die höchste Tatsache.90 Tatsachen können aber nicht im üblichen Sinn bewiesen, sondern nur aufgezeigt und anerkannt werden. In diesem Sinne bezeichnet Schelling sein Argument, ja sogar „die ganze Philosophie“ als „Erweis“ (ebd.) der Existenz Gottes und spricht mit der aristotelischen Tradition auch von einem Gottesbeweis a posteriori.91 89   Met. Λ 9, 1074 b. Dass darin der Sache, wenn auch nicht dem Wort nach die Personalität Gottes schon enthalten ist, liegt auf der Hand. 90   Man beachte die erstaunliche Nähe dieses Gedankens zu einer Grundaussage von Swinburnes Natürlicher Theologie. 91   In diesem Zusammenhang spricht Kreiml auch von einer ‚Umkehrung‘ des traditionellen ontologischen Arguments. Versuche dieses, aus Gottes Notwendigkeit dessen Existenz herzuleiten, so gehe es Schelling darum, die Existenz Gottes einsichtig zu machen, um daraus seine Seinsnotwendigkeit abzuleiten. Vgl. Kreiml 1989, Kap.  3. Er spricht in diesem Zusammenhang auch mit W. Janke von einem „ontokosmologischen“ Argument Schellings; vgl. ebd., S.  87. Hindrichs sieht ebenfalls deutlich die Bedeutung von Schellings Betonung des Tatsächlichen, weniger deutlich dagegen die Verbindung von Vernunft und Geist, an der Schel-

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Dennoch lässt sich mit dieser scheinbar theoretisch schwachen, weil aposteriorischen Methode dem Atheisten ein Widerspruch nachweisen, denn die Leugnung der Existenz Gottes hebt zugleich die Vernunft auf. Dies gilt unbeschadet der Einsicht, dass ein rein apriorischer Beweis der Existenz Gottes nicht geführt werden kann, die sich, wie man sieht, auch bei Schelling findet. „Nicht die Vernunft ist die Ursache des vollkommenen Geistes, sondern der Geist ist die Ursache der Vernunft. Dadurch ist allem philosophischen Rationalismus das Fundament zerstört. Die Vernunft ist nicht das an sich Notwendige – nur weil ein vollkommener Geist ist, ist Vernunft.“92

Nun ist aber Vernunft, d. h. die Existenz vernünftiger Wesen, eine Tatsache, die in die Voraussetzungen dieser wie jeder philosophischen oder wissenschaftlichen Untersuchung eingeht, ihrerseits aber – so die bekannte cartesische These – nicht verstehbar und nicht möglich ohne ein erstes geistiges Prinzip, d. h. ohne Gott. Daher ist die Idee eines aposteriorischen Arguments für die Existenz Gottes nicht widersinnig, wie es ein beweistheoretischer Einwand zunächst nahezulegen scheint. Denn hier wird zwar anscheinend eine starke Konklusion aus schwächeren Prämissen gezogen, aber dieses Verfahren entspricht ganz dem erkenntnistheoretisch ordnungsgemäßen Aufbau der Ontologie und ist daher auch in der Natürlichen Theologie kein Fehler. Es hat sich zudem gezeigt, dass beide Hauptvarianten Natürlicher Theologie, Anselm und Descartes genauso wie Aristoteles und Thomas, Spielarten dieser Methode ausarbeiten. Dieses Verfahren ist für die allgemeine wie die spezielle Metaphysik alternativlos, hat man einmal eingesehen, dass die Existenz Gottes nicht unmittelbar ‚aus reinen Begriffen‘ eingesehen werden kann. Umgekehrt muss die Offenbarungsphilosophie auch das Sein der natürlichen Welt in einem gewissen Sinn a priori aus Gottes Sein heraus entwickeln können, zumindest in begrifflichen Umrissen. Erst dadurch wird der Gang dieses philosophischen Projekts vollendet, nachdem die Analyse zunächst a posteriori vom Sein und Sosein der Natur, die als Selbstoffenbarung Gottes verstanden wird, zum Sein Gottes selbst geführt hat. Erst dadurch kann Gott als erster Grund alles Seienden verstanden werden. In der folgenden Betrachtung soll es dabei aber wiederum nur um das Verhältnis Gottes zur physis, der Natur und ihrer Ordnung gehen, d. h. unter Absehung von der Menschheitsgeschichte, die von Schelling als gewissermaßen zweite Schöpfung gedeutet wird, die mit dem Sün-

ling bei aller Kritik mit Descartes und auch Hegel festhält. Denn das „unvordenkliche Sein“, auf welches die metaphysische Reflexion stößt, ist nicht, wie Hindrichs suggeriert, das „blinde Sein“ der Materie, sondern das unvordenklich freie Sein Gottes. Allerdings legt Hindrichs seiner Interpretation die spätere Fassung der Philosophie der Offenbarung zu Grunde. Vgl. Hindrichs 2008, §§  115–119, v. a. S.  143 f. 92   PO, S.  71. Über das Verhältnis von Schellings Kritik und seiner positiven Anknüpfung an die rationalistische Denktradition seit Descartes wird unten noch zu handeln sein.

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denfall des Menschen einsetzt. Auch kann selbst diese erste Schöpfungstheologie nur in groben Umrissen betrachtet werden. Schelling grenzt sich zunächst sehr deutlich vom Neuplatonismus ab, mit dem insbesondere seine Naturphilosophie schon ebenso früh in Verbindung gebracht worden ist wie mit der monistischen Ontologie Spinozas. In der Tat lehrt Schelling ja wie der Neuplatonismus den Hervorgang alles Seienden aus einem ersten und höchsten Prinzip, und wie Spinoza behauptet er gegen jede ZweiWelten-Lehre die Einheit der Welt. Doch anders als bei Spinoza ist Schellings erstes Prinzip nicht allein Substanz, sondern Subjekt, und Geist ist nicht bloßes Attribut dieses ersten Prinzips, sondern – anders als Ausdehnung und Körperlichkeit – dessen Wesen. Aber auch zum Neuplatonismus wahrt er Distanz, und zwar in folgender Hinsicht: Indem der Neuplatonismus die Schöpfung als Emanation aus dem höchsten, göttlichen Prinzip deute, müsse er zwangsläufig eine Hierarchie von Emanationsstufen annehmen, von denen die höchste das Prinzip selbst wäre, die zweite die Emanationsbeziehung, die von einigen Neuplatonikern, z. B. Plotin, und in der frühen christlichen Literatur als der Sohn bezeichnet wird, die dritte und niedrigste aber die geschaffene Welt, der Kosmos, der in diesen Texten auch Sohn des Sohnes genannt werde.93 Auch wenn der Neuplatonismus im natürlichen Sein weitere Rangstufen annimmt, ändere das doch nichts daran, dass damit die Natur als ganze abgewertet werde. „Hier geht die Genealogie, statt aufwärts, abwärts in die Welt hinein.“94

Daher sei der Neuplatonismus nur mit einer „schlecht verstandenen christlichen Lehre“ (S.  151) vereinbar. Die monotheistische Schöpfungslehre muss dagegen vielmehr die Vollkommenheit der Schöpfung als Selbstoffenbarung Gottes zeigen, die Schelling durchaus im strengen Sinne als Selbstverwirklichung Gottes auffasst (vgl. S.  171). Sie kann daher nicht die Niedrigkeit, sondern muss gerade die Erhabenheit und Schönheit der Natur behaupten.95 Schelling versucht dieser Forderung gerecht zu werden, indem er die Schöpfung mit der Zeugung (genesis, generatio) des Sohnes gleichsetzt.96 Traditionell wird in der Theologie scharf zwischen dem Hervorgang (processio) der göttlichen Personen aus dem Prinzip, insbesondere dem Hervorgang des Sohnes im   Ebd., S.  151.  Ebd. 95   Mit analogen Argumenten weist auch Thomas die Auffassung zurück, dass die Natur unvollkommen sei, insbesondere aber den Gedanken, die körperliche Natur sei nicht von Gott geschaffen, da sie ja nicht ganz vollkommen sei. Der Wortlaut der Genesis besagt, dass die Schöpfung gut, also höchst vollkommen sei. Vgl. STh I, q.  65 a.  1, ad 2. Der neuplatonische und gnostische Zweifel an der Vollkommenheit der Natur wird also auch von Thomas als unchristlich angesehen. Dagegen liest Bickmann Schellings Philosophie des Absoluten noch dominant (neu-)platonisch; vgl. Bickmann 2012. 96   Etymologisch spricht es für Schelling, dass das griechische Wort genesis in der Septuaginta sowohl Zeugung als auch Schöpfung bedeuten kann. Allzu starkes Gewicht kann dieser Beobachtung gegen die noch zu nennenden Schwierigkeiten aber wohl nicht zukommen. 93

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Sinne von Zeugung, und der Schöpfung (creatio) unterschieden,97 um die Häresie des Arianismus zu vermeiden, der den Sohn als höchstes Geschöpf Gottes ansieht.98 Doch gerade indem man so unterscheidet, läuft man nach Schelling Gefahr, zu niedrig von der Schöpfung zu denken. Denn indem man die Schöpfung zum bloß reinen Gegenteil des Göttlichen, also zum radikal Endlichen macht, so seine Befürchtung, ist man genötigt, ihr auch das Gegenteil der göttlichen Freiheit beizulegen, nämlich durchgängige Determiniertheit und Unfreiheit. Erst indem man Zeugung und Schöpfung zusammen denke, so die Alternative, könne man natürliche Determination als untergeordnetes Moment eines im Ganzen freien Weltprozesses auffassen.99 Man kann das zugestehen und dennoch den Gedanken einer Gleichsetzung des Sohnes mit der Schöpfung insgesamt schwierig finden, und zwar ontologisch wie theologisch. Ontologisch schwierig scheint an diesem Gedanken zu sein, dass hier zwei Sphären vermischt zu werden scheinen, die in der Tradition zu Recht terminologisch getrennt gehalten wurden. Denn zwar hat der Begriff der Zeugung gerade in der Ordnung des Lebendigen seinen Platz als Grundbegriff für das Verständnis des Lebendigen, während sein theologischer Gebrauch zunächst uneigentlich zu sein scheint. Aber gerade indem der Begriff der Schöpfung daneben gestellt wird, um die Entstehung der Seinsordnung als ganzer zu bezeichnen, einschließlich der Ordnung des Lebendigen, wird ausgeschlossen, dass die Entstehung der Natur selbst wiederum als natürlicher Vorgang aufgefasst werden kann. Denn Schöpfung (creatio) bezeichnet einen absichtsvollen und damit willentlichen Vorgang, ein Handeln und nicht einfach einen Naturprozess wie das Entstehen eines natürlich Seienden. Wäre das nicht so, dann droht ein infiniter Regress der Entstehung von Natur aus Natur etc. Theologisch schwierig, und zwar gerade auch im Sinne von Schellings eigener Theologie, scheint zu sein, dass die Zeugung des Sohnes (generatio filii) gerade ein Wesensmoment Gottes als Geist sein soll und damit etwas vom Sein der Natur radikal Verschiedenes sein muss, weil der Sohn als das Selbstbewusstsein Gottes integraler Teil des Göttlichen ist. Die Vater-Sohn-Beziehung muss daher schon ‚vor der Zeit‘ bestanden haben und in der Zeit weiter bestehen, wie auch  Vgl. STh I, q.  27 a.  2, q.  45.  Vgl. PO, S.  168 ff. sowie S.  179, wo auch das relative Recht des Arianismus herausgestellt wird, da ja der Christus tatsächlich als das erste der Geschöpfe angesehen werden müsse, allerdings nur während seiner irdischen Existenz. 99   Dieser Gedanke markiert nicht erst die Problemstellung der Freiheitsschrift, sondern bereits das der Frühschriften, wie Buchheim in seiner Einleitung zu diesem Werk betont. Buchheim geht, gestützt auf die oft überscharfe Selbstkritik Schellings, von einem scharfen Bruch mit der zwischen den Frühschriften und der Freiheitsschrift liegenden so genannten ‚Identitätsphilosophie‘ aus. Vgl. Buchheim, Einleitung zur Freiheitsschrift, I 2. Doch es zeigt sich auch Kontinuität der Fragestellung nach dem Grund und der Intelligibilität der Natur für Schellings Denken, auch wenn sich Fokussierung und Terminologie in den mehr als vier Jahrzehnten ihrer Behandlung immer wieder verschieben. 97

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Schelling betont.100 Daher scheint der Gedanke, dass die Zeugung des Sohnes dasselbe wie der Akt der Schöpfung sei, die Einheit und damit das Wesen Gottes, also Gott selbst, aufzuheben. Es scheint also nicht bloß die Gefahr des Arianismus zu sein, die theologisch gegen eine Gleichsetzung von Zeugung und Schöpfung spricht. Schellings Rechtfertigungsstrategie angesichts dieser doppelten Schwierigkeit ist ebenfalls zweifach. Zum einen versucht er, die Möglichkeit der Gleichsetzung von göttlicher Zeugung und Schöpfung systematisch aufzuzeigen, zum anderen nachzuweisen, dass seine Lehre nicht allein dem Wortlaut des Alten und Neuen Testaments nicht widerspricht, sondern sich auch mit der patristischen Schöpfungslehre trifft, z. B. mit Basilius, der die Schöpfung als Formgebung mit der Person des Sohnes assoziiert.101 Obendrein reklamiert er für seine Doktrin nicht allein theologische Kohärenz überhaupt, sondern größere Kohärenz, als die herkömmlichen Schöpfungslehren für sich beanspruchen können, da nur mit seiner Lehre gewisse immer für dunkel gehaltene Schriftstellen interpretierbar würden, z. B. „Der Sohn wird das Reich dem Vater übergeben“ (1. Kor. 15, 24; vgl. 27.–28. Vorlesung). Die Nichtbeachtung dieser Mög­ lichkeit habe dann die gesamte Schöpfungslehre erschwert und verdunkelt. „In gewöhnlichen Vorträgen werden diese Momente nicht unterschieden, und daher kommt die Unverständlichkeit.“102

Der erste Schritt der systematischen Rechtfertigung besteht in einer Unterscheidung des ewigen Seins Gottes und seiner zeitlichen Gestalten. „Das Band, das ursprünglich Vater und Sohn verknüpft, ist ein wesentliches, ewiges und insofern auch unauflösliches.“103

Dessen ungeachtet könne Gott als Vater die Potenz des Sohnes auch aus sich heraussetzen, und eben dies sei mit dem Ausdruck Zeugung gemeint. Damit trete Gott zugleich in die Ordnung der Zeit ein, da Zeitlichkeit Bedingung von Zeugung sei.104 Da die Zeugung aber mit der Schöpfung zusammenfällt und die  Vgl. PO, S.  168 f. Auf S.  203 formuliert er selbst den hier einschlägigen Einwand.   Vgl. ebd., S.  206. Er hätte auch Thomas nennen können, der den Vater als Seinsgrund, den Sohn als Formgrund und den Heiligen Geist als Ordnungs- und Einheitsgrund nennt, allerdings bei strikter Unterscheidung von Zeugung und Schöpfung. Vgl. STh I, q.  45 a.  7, c. Überhaupt ist der Gedanke, dass der Sohn der eigentliche Demiurg, der dator formarum, der Formgeber des Seins ist, Gemeingut der traditionellen theologischen Schöpfungslehre. Noch bei John Milton ist sie selbstverständliches Element der mythischen Darstellung des Schöpfungsgeschehens; vgl. Paradise Lost VII. 102   PO, S.  194. 103   Ebd., S.  204. 104   Ebd., S.  163. Der enge Zusammenhang von (endlichem) Sein und Zeit in Schellings Ontologie und Theologie, vor allem aber der Nachdruck, mit dem er darauf beharrt, dass zur Zeitlichkeit wesentlich nicht so sehr das Nacheinander der Zeitfolge, sondern mehr noch das Auseinander der drei Zeitekstasen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gehört, sind wohl ein wichtiger Grund für Heideggers Interesse an Schelling. Vgl. Heidegger 1995. 100 101

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Schöpfung nach Schelling identisch ist mit dem Entwicklungsprozess der Natur, dauert für Schelling auch die Zeugung im Sinne einer creatio continua an bis zur Auferstehung des Christus, des Mensch gewordenen und gestorbenen Sohnes. Daher heiße es an der einschlägigen Stelle der Apostelgeschichte: „Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt“, (Apg. 13, 33, nach Ps. 2,7) weil durch das Perfekt der Abschluss des kosmogonischen Prozesses ausgesagt werde. Diesen bezeichnet Schelling konsequent auch als theogonischen Prozess, nämlich einen Prozess, indem sich Gott offenbart und dadurch selbst vollendet. Den Seinsprozess als Schöpfungsprozess nennt er dann in traditioneller theologischer Terminologie auch die „göttliche Ökonomie“, in der Gott auch in ein äußeres Verhältnis zu sich selbst eintritt. (S.  203) Mit diesem Zug ist allerdings nur die theologische Schwierigkeit berührt, nicht die ontologische. Es geht darum zu vermeiden, dass die Zeugung zu einem Naturvorgang wird. Zugleich aber geht es darum zu klären, wie sich der Schöpfungsprozess in der Zeit verorten lässt, eine Frage, die auch die populäre Form annimmt: Was hat Gott vor der Schöpfung getan?105 Schelling beharrt gegen die neuere Theologie, insbesondere aber gegen Jacobi darauf, dass die Schöpfung ein zeitlicher Vorgang sein müsse, da ein überzeitlicher Schöpfungsakt nur im Wesen Gottes gründen könne, wodurch die Schöpfung aber zu einem notwendigen Akt werde, nicht zu einer Äußerung des freien göttlichen Willens.106 Andererseits gilt es, das Problem zu vermeiden, welches Kant in der ersten Antinomie der reinen Vernunft aufgreift, nämlich das Problem einer leeren Zeit vor Entstehung der Welt.107 Deswegen verbietet es sich auch, den Beginn der Schöpfung zu datieren, wie es die Vertreter einer ‚wörtlichen‘ Schriftauslegung tun. Der erste Schöpfungstag kann nur als ihr Prinzip gewissermaßen Anfang der Zeit sein, nicht ein echter Teil der Zeit. Schelling löst dieses Problem auf eine möglicherweise von Augustinus inspirierte Weise,108 indem er den Beginn der Zeit als Einsetzung der Zeitordnung als ganzer interpretiert. Diese ist aber nicht zu verstehen als bloßes Nacheinander verschiedener Zeitpunkte – in Schellings Formalisierung: nicht als A + A + A –, sondern als Ordnungsgefüge der drei Zeitekstasen Vergangenheit, Gegenwart   Rentsch weist die Frage als angeblich falsch gestellt zurück; vgl. Rentsch 2000, S.  186 f.; ders. 2005, S.  18. Ontologisch betrachtet hat sie aber einen präzise angebbaren Sinn. Allenfalls ihre Formulierung mag man grobschlächtig finden. 106  Vgl. PO, S.  137. 107   KrV, B 455 f. sowie Cramer 1967, S.  124 ff., zur Frage, inwiefern Kant im Rahmen der Transzendentalphilosophie das Problem der ersten Antinomie überhaupt formulieren kann. 108  Vgl. Confess. XI 10–13. Augustinus weist, anders als Rentsch meint, die Frage nach den Taten Gottes vor der Schöpfung keineswegs so zurück wie Luther. Denn zwar zitiert er die Antwort derjenigen, die sagen, vor der Schöpfung habe Gott die Orte der Hölle geschaffen, an denen alle gequält werden, die so fragen. Luther variiert das, indem er Gott vor der Schöpfung an der Elbe Züchtigungsruten schneiden lässt. Vgl. Rentsch, a.a.O. Aber Augustinus betont, dass das nicht seine eigene Antwort sei. 105

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VI.  Geist, Vernunft, Natur

und Zukunft – in Schellings Formel A + B + C, wobei „A […] durch B zur Vergangenheit“ wird.109 Schelling erläutert diesen Gedanken auch so, dass die drei Zeitekstasen „zugleich – in Einem Aktus“ (S.  163; Hervorhebung i. Orig.) gesetzt würden, wobei als Vergangenheit das nicht mehr sein Sollende, als Gegenwart das durch den Akt Geschehende und als Zukunft das Gewollte oder Gesollte zu verstehen seien. So kann er das Problem einer leeren Zeit vermeiden, ohne einen vergangenheitslosen ersten Tag postulieren zu müssen. Wie aber kann man die Deutung von Zeugung als Naturvorgang vermeiden? Immerhin scheint es doch gerade eine Pointe der Gleichsetzung von göttlicher Zeugung und Schöpfung zu sein, den Schöpfungsakt so an Naturvorgänge zu assimilieren, dass er als Ursprung des natürlichen Seins überhaupt verständlich wird. Aber gerade dies scheint in die bereits angesprochene Regressproblematik hineinzuführen. Ist es nicht ein Regress, wenn man den Ursprung der Natur in etwas Natürliches setzt? Schelling verneint, dass dies notwendig so sein muss. Eine analoge Beobachtung zeigt, dass er das zu Recht tut. Es droht nämlich auch kein Regress, wenn man als erste Ursache allen Seins ein Sein angibt. Das zu tun ist nicht nur kein Fehler, sondern das einzig Mögliche, da die erste Ursache allen Seins, wenn es eine solche überhaupt gibt, nur etwas Seiendes sein kann. Damit kein Regress entsteht, müssen aber gewisse theoretische Vorkehrungen getroffen werden. So muss das erste Seiende überhaupt Seinsursprung sein können, d. h. nicht selbst einer Ursache bedürfen. Diese Überlegung führt auf den Begriff des actus purus, des rein aktual Seienden, welches im Unterschied zu allem teils aktual, teils potentiell Seienden keiner äußeren Ursache bedarf, um in das je aktuale Sein überzugehen. Kein Werden ohne Sein – dieser Gedanke führt zurück auf den Gedanken, dass es ein rein Seiendes geben muss, und kommt dort zur Ruhe. Jeder weitere Regress ist ausgeschlossen.110 Nun lässt sich der Begriff der Zeugung im kosmologischen Zusammenhang ähnlich verwenden, wie Schelling zeigen möchte. Dabei beharrt er darauf, dass der Begriff hier nicht uneigentlich, also metaphorisch verwendet werde, sondern buchstäblich:

  PO, S.  138.   Der Verweis auf ein rein Seiendes als erstes Seinsprinzip ist nämlich logisch gänzlich verschieden von ‚naiven‘ Nennungen z. B. der Sonne, des Wassers oder auch des Urknalls als Kandidaten für ein erstes Prinzip. Derartige Kandidaten sind, wie man leicht sieht, ontologisch nicht hinreichend verschieden von demjenigen, dessen Sein die Frage nach seiner Ursache überhaupt erst angezogen hatte, und ziehen die Frage erneut auf sich. Der vorgebliche Mythos, dass die gesamte Welt auf vier Elefanten ruhe, die ihrerseits auf einer Schildkröte stünden, ist eine durchaus treffende Parodie dieser Art von ontologischer ‚Problemlösung‘. Die Differenz zu philosophisch reflektierten Angaben von Seinsprinzipien werden in der atheistischen Literatur gerade der Gegenwart notorisch übersehen, z. B. in Bagginis sehr kurzer Kritik des kosmologischen Arguments; vgl. Baggini 2003, S.  94 f. 109 110

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„Dies ist ein wahrer Ausdruck, nicht ein uneigentlicher.“ (S.  157) „Es scheint freilich, als ob der Begriff ‚Zeugung‘ nur uneigentlich auf die Gottheit übertragen werden könne. Allein eben das ‚Übertragen‘ ist ein unrichtiger, unnatürlicher Ausdruck. Man kann nicht sagen, dass etwas vom Natürlichen aufs Übernatürliche übertragen werde. […] Man kann sagen, die ganze Natur sei eine Metapher, eine Übertragung der intelligibeln Welt, und so ist auch allerdings die Natur eine wahre Metapher.“ (S.  164 f.)

Wäre der Ausdruck Zeugung hier nämlich bloß metaphorisch, dann wäre durch die Gleichsetzung von Zeugung und Schöpfung gar nichts gewonnen, da sie bloß rhetorisch wäre. Es muss sich also um einen „wahren“, buchstäblichen Ausdruck handeln. Keineswegs soll hier also eine Äquivokation vorliegen wie bei einer Metapher, doch auch keine Univokation. Univok wird der Ausdruck ‚zeugen‘ in den Sätzen ‚Pferde zeugen Pferde‘ und ‚Menschen zeugen Menschen‘ verwendet, da es sich in beiden Fällen um animalische Zeugung handelt. In ‚Gott zeugt den Sohn‘ kann ‚zeugen‘ nicht univok mit solchen Verwendungen sein. Die göttliche Zeugung kann unmöglich das Gleiche sein wie eine physische Zeugung; vielmehr muss es sich um geistige, „intelligible“ Zeugung handeln. Das Zitat bringt nun zweierlei zur Lösung dieser begrifflichen Schwierigkeit vor: (1) Der Begriff Zeugung wird analog verwendet; er bezeichnet einen Prozess, der seinen Namen „von den analogen Vorgängen in der Natur“ (S.  164) hat. Es handelt sich also um eine besondere Facette der analogia entis zwischen göttlichem und endlichem Sein. (2) Der Begriff der intelligiblen Zeugung ist an sich der ursprüngliche und eigentliche Begriff der Zeugung; die physische Zeugung ist lediglich das phänomenal und damit für uns Bekanntere.111 Denn seiner eigentlichen Bedeutung nach meine genesis, Zeugung – anders als poiesis, Herstellung – den Akt, durch den ein Wesen ein von ihm verschiedenes sich selbst verwirklichendes Wesen hervorbringe bzw. außer sich setze.112 Dieser Begriff komme aber der geistigen Zeugung im höchsten Maße zu, da dadurch etwas wahrhaft Selbständiges und sich selbst Verwirklichendes entstehe, während durch physische Zeugung kein völlig autarkes, selbständiges Wesen entstehe, 111  Vgl. PO, S.  165. Schelling argumentiert nach einem von Thomas entwickelten Muster, der ausführt, dass Prädikate wie ‚weise‘ oder ‚gütig‘ von Gott und den Geschöpfen analog ausgesagt würden, wobei die genannten Prädikate und alle weiteren göttlichen ‚Namen‘ in ihrer strengen, vorzüglichsten und ursprünglichen Bedeutung nur Gott zukämen und den Geschöpfen nur in analoger Erweiterung, auch wenn es sich uns in der Ordnung des Verstehens gerade umgekehrt darstellt. Zugleich weist Thomas damit die These zurück, dass die Rede über Gott insgesamt metaphorisch zu deuten sei. Vgl. STh I, q.  13 a.  5; zur metaphorischen Rede über Gott a.  3. Eine ausführliche Erläuterung liefert te Velde, vgl. te Velde 2006, S.  104–107 sowie allgemein zur Analogie S.  109–115. 112  Vgl. PO, S.  165. Dass Schelling die Bestimmung ‚gleichartig‘ weglässt, ist weder idiosynkratisch noch ein bloß logischer Trick, etwa um nicht merken zu lassen, dass durch die Schöpfung ja gerade nichts Gott Gleichartiges entsteht. Vielmehr kennt die gesamte aristotelische Tradition den Begriff der generatio aequivoca, die allerdings besser generatio analogica hieße, d. h. die Zeugung aus Artverschiedenem.

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VI.  Geist, Vernunft, Natur

und auch kein Wesen, das sich selbst ganz verwirklichen, also reiner Akt werden könne. Doch damit ist die ontologische Schwierigkeit nicht ausgeräumt. Es bleibt das Problem der noch immer unendlich groß scheinenden Kluft zwischen dem Göttlichen, rein Geistigen einerseits und dem Natürlichen, Körperlichen andererseits, das gegen den Gedanken der Schöpfung als göttlicher Zeugung spricht. Schelling scheint das Prinzip, dass kein Körper – und damit auch kein Ensemble von Körpern – Gott sein kann, zu verletzen, ein Prinzip, welches doch gerade aus seinem recht verstandenen Monotheismus folgt. Doch auch wer eine von der göttlichen Zeugungslehre distinkte Schöpfungslehre vertritt, muss diese Kluft für durch Gott überwindbar halten.113 Er kann aber Schöpfung nicht nach dem Muster der kunstvollen Herstellung von Artefakten verstehen, da jedes Herstellen das Formen einer schon vorhandenen Materie mit einem bestimmten Ziel oder Zweck ist, Schöpfung aber auch die Materie selbst hervorbringt, ex nihilo, aus nichts – andernfalls drohten hier entweder ein Regress oder eine Verdoppelung der ersten Ursache. Zur creatio ex nihilo gibt es keine Parallele im natürlichen oder künstlichen Werden und Vergehen.114 Aber Schöpfung soll doch Ursache und Bedingung der Möglichkeit eben des natürlichen und des künstlichen Werdens und Vergehens sein. Daher scheint es Schelling gerade günstig, den Schöpfungsakt in Analogie zu natürlichen Zeugungsakten zu verstehen, wenn auch im Sinne des Höheren und Vollkommenen, der in der analogia entis das Göttliche durchgehend vor dem Natürlichen auszeichnet.115 Denn die Schöpfung weist als geistige Zeugung an wesentlichen Stellen Ähnlichkeiten zum natürlichen Entstehen des Lebendigen auf, wenn sie diese Merkmale auch in reinerer Form als in einzelnen Naturprozessen zeigt, und diese Ähnlichkeiten werden durch die explizite Formulierung der Analogie erst sichtbar. Die erste Entsprechung liegt darin, dass in natürlichen Zeugungsakten zunächst etwas entsteht, was noch weit von dem entfernt ist, was eigentlich entstehen soll und am richtigen Ende, am Ziel (telos, finis) des Werdensvorgangs auch tatsächlich entsteht. Was entstehen soll und schließlich auch entsteht, wenn nichts dazwischen kommt, ist ein (nach Maßgabe der Form) großes, selbständiges, sich selbst bewegendes und sich selbst kontrollierendes, seiner Form entsprechend tätiges Wesen. Doch was zunächst entsteht, ist ein (nach Maßgabe der Form) kleines, unselbständiges, häufig kaum zur Selbstbewegung fähiges,   Diese Anforderung an Schöpfungslehren betont auch te Velde 2006, S.  114. Vgl. auch ebd., S.  110 zur scholastischen Unterscheidung von univoker und analoger Kausalität. 114  Vgl. Confess. XI 1–9. Oder mit Schellings Worten: „Das schlechthin Unterscheidende Gottes ist, die Stoff-hervorbringende Macht zu sein, ist diese nicht in ihm nachzuweisen oder begreiflich zu machen, so ist Gott noch immer nicht als Gott gesetzt.“ (GNP, S.  62; Hervorhebung i. Orig.) 115   Vgl. te Velde 2006, S.  103 f. 113

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sich selbst nicht kontrollierendes, überwiegend passiv bewegtes Wesen. Es ­besitzt kaum Eigenschaften, die nicht geradezu konträr den Eigenschaften entgegengesetzt wären, die das Wesen seiner Form nach eigentlich haben soll. Dennoch wäre es absurd, einem solchen anfangenden Lebewesen die Form und damit die Artzugehörigkeit abzusprechen, da die anfängliche natürliche Unvollkommenheit gerade Bedingung der Entwicklung der konträren natürlichen Vollkommenheit im Sinne der Ausbildung formzugehöriger, also wesentlicher Eigenschaften ist.116 Kurz und etwas grob gesagt: Damit in der Natur etwas Bestimmtes, sein Sollendes entstehen kann, muss typischerweise zunächst etwas dem genau Entgegengesetztes entstehen. Gleiches gilt aus Schellings Sicht für die Natur im Ganzen. Was sein soll, sind Leben und natürliche und damit bestimmte, endliche Vernunft und Freiheit. Vernunft und Freiheit sind nichts zum Leben ‚von außen‘ Hinzukommendes, sondern selbst höchste Formen oder Weisen zu leben. Unendliche Vernunft und Freiheit, Geist und damit unendliches Leben kommt allein Gott zu (S.  173), aber in der Natur kann es endliches vernünftiges und freies Leben geben. Schelling selbst geht an der angegebenen Stelle so weit, auch den Menschen als genaues Abbild Gottes für des göttlichen Lebens fähig und bestimmt zu halten und die menschliche Endlichkeit auf den Sündenfall zurückzuführen, aber dieser erlösungstheoretische Gedanke soll hier nicht weiter verfolgt werden. Damit nun aber werden kann, was am Ende der Naturentwicklung sein soll, muss zunächst die Materie entstehen, das Prinzip des unbelebten, unfreien, vollständig determinierten Seins. Das bloß materielle Sein ist das gerade Gegenteil des lebendigen und freien Seins, und doch ist es dessen notwendige Voraussetzung. Deswegen soll auch Materie sein, nicht an sich, sondern um des Lebens willen.117 Ihre Eigenschaften sollen sein, aber nicht an sich, da Unfreiheit und Determiniertheit nicht an sich gut sind, sondern schlecht, und deswegen an sich gerade nicht sein sollen. Schelling drückt das auch aus, indem er die Materie als Prinzip blinder Potentialität als das von Gott Gewollte kennzeichnet, aber nicht als Objekt seines Willens, sondern als Objekt seines „Unwillens“.118 Die Materie muss das erste und unmittelbar gezeugte Seiende, der Anfang der Zeugung des Sohnes sein, als das erste aus Gott herausgesetzte, bloß potentielle Seiende.119 Als solches ist sie Voraussetzung und Anfang des gesamten Naturprozesses, 116   Dass diese Einsicht bestimmte Argumente in der gegenwärtigen bioethischen Debatte, vor allem was den rechten Umgang mit menschlichen und tierischen Embryonen betrifft, grundlos erscheinen lässt, dürfte auf der Hand liegen. 117   Sinn und Rolle teleologischer Argumente in der natürlichen Theologie entgehen Baggini anscheinend vollständig. Er zeichnet an der einschlägigen Stelle seines Buches das mechanistische Zerrbild einer teleologisch verfassten Natur als großer Maschine, ein Bild, das er selbst zu Recht als „grässlich“ (terrible) bezeichnet. Vgl. Baggini 2003, S.  96. 118   PO, S.  128 und allgemeiner 183. 119   Ein scholastisches Gegenstück zur Schellingschen Auffassung der göttlichen Zeugung der Materie findet sich bei Thomas, dem zu Folge Gott die Erstmaterie schafft, aber nicht als

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VI.  Geist, Vernunft, Natur

verstanden als Differenzierung und Entwicklung diverser und zunehmend komplexer Seins- und dann auch Lebensformen. Schelling entwickelt keine Evolutionstheorie der Natur im traditionellen oder im heutigen Sinn, also weder eine Lehre der allmählichen, determinierten Entfaltung in den Naturanfängen bereits enthaltener Anlagen120 noch eine Lehre des ungerichteten Übergangs von Lebensformen zu neuen Lebensformen unter wechselnden Umweltbedingungen und natürlichem Anpassungs- und Selektionsdruck. Stattdessen steckt er einen theologischen Rahmen ab, innerhalb dessen Naturevolution als geordneter, gesetzmäßiger und gerichteter Prozess denkbar wird, wenn auch auf eine Weise, die vom denkenden Menschen nur a posteriori erfasst und begriffen werden kann.121 Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Ziele dieses Prozesses der göttlichen Selbstoffenbarung typischerweise durch ihr Gegenteil erreicht werden bzw. dadurch, dass etwas schon Erreichtes sich in der zeitlichen Folge in sein Gegenteil verkehrt. Ein zentrales Beispiel dafür ist die Materie, die an sich Prinzip der natürlichen Determiniertheit ist, zugleich aber gerade deshalb zum Grund der natürlichen Freiheit wird. Schelling nennt diesen durchgehenden besonderen Zug göttlicher Teleologie die Ironie Gottes.122 Auf diese Weise versteht er Schöpfung als Zeugung, als ‚Heraussetzung der göttlichen Potenz‘ ins natürliche Sein, im scharfen Gegensatz zu jeder Art von neuplatonisch inspirierter theologischer Emanationslehre.123 Ziel dieses Prozesses ist die vollständige Verwirklichung göttlicher Vollkommenheit in der Natur, und zwar im Menschen als göttlichem Naturwesen.

Erstmaterie, sondern durch die Schöpfung der Elemente und des daraus zusammengesetzten materiellen Seienden. Vgl. STh I, q.  4 4 a.  2, ad 3. 120   In diesem Sinn spricht etwa Kant von Evolution, vgl. KU, B 376. 121   So wird auch deutlich, was genau an Schellings Denken bei Bloch aufgenommen wird: Es ist gerade der Gedanke der Evolution der Natur aus Materie. Bloch übernimmt sogar Schellings Terminus „Natursubjekt“. Vgl. zu diesem Begriff Schelling, Einleitung, S.  285. Den theologischen Gesamtrahmen dieser Naturphilosophie als Theorie des Naturprozesses übernimmt er gerade nicht, sondern hält ihn mit Jacobi und Heine für eine spätere, von außen kommende Ergänzung. Vgl. auch Buchheim, Einleitung zur Freiheitsschrift. Dass die Naturphilosophie auf Theologie hinausläuft, dürfte Schelling selbst hingegen von Beginn an klar gewesen sein. 122   PO, S.  135. Ironie wird dabei im Wortsinn als Verstellung verstanden. Diese kehrt dann in der Christologie wieder, und zwar in den bekannten Paradoxien, dass der Herr der Welt als Knecht und Bettler, als Armer, Leidender und Sterbender auftritt, ehe er sich vollends offenbart. Sie kennzeichnet auch die Äußerungen Christi, etwa dass die Letzten die Ersten sein werden, etc. 123   Prototypisch sei hier noch einmal auf die Schöpfungslehre des Origenes verwiesen, der zu Folge nach dem Hervorgang der göttlichen Hypostasen zunächst die Engel geschaffen wurden, dann der Mensch, danach die Tiere, etc. Eine solche Schöpfungsordnung ist ontologisch unmöglich.

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„Zu zeigen, wie jeder folgende Prozess dem Wesen der Natur näher tritt, bis in der höchsten Scheidung der Kräfte das allerinnerste Centrum aufgeht, ist die Aufgabe einer vollständigen Naturphilosophie.“124

Der evolutive Naturprozess, der sich dann im humanen Geschichtsprozess fortsetzt, wird so deutbar als Offenbarungsgeschehen bzw. als dessen erster und fundamentaler Teil. Klar ist damit aber auch, dass der Ausdruck Zeugung mit Blick auf geistige Zeugung, Schöpfung, und mit Blick auf physische Zeugung analog verwendet wird. Denn physische Zeugung vollzieht sich an bereits existierender Materie, die durch den Zeugungsprozess sukzessive transformiert wird. Schöpfung bringt Materie erst ins Sein. Zugleich wird in diesen Überlegungen eine Besonderheit von Schellings rhetorischer Strategie deutlich, die von seinen Kritikern nicht immer genügend bemerkt und gewürdigt wird: Er versucht niemals, das Paradoxe, Anstößige oder anderweitig Problematische seiner Lehre zu verbergen oder kleinzureden, sondern stellt es im Gegenteil in schroffer Deutlichkeit heraus, um dann zu zeigen, dass gerade der paradoxe, anstößige oder problematische Zug unentbehrlich für das Verständnis des jeweiligen Gegenstandes oder Zusammenhangs ist und daher auch vom Kritiker anerkannt werden muss. Zumindest ist dies methodischer Anspruch und Sinn der von Schelling entwickelten Darstellungstechnik. Damit stellt er hohe, vielleicht zu hohe Ansprüche an die Geduld und Selbstbeherrschung des Lesers und unterschätzt möglicherweise dessen Vorurteilsbeladenheit und Empörungsbereitschaft. Empörung und Ablehnung, verbunden mit oberflächlicher Lektüre und eilfertiger Subsumierung einer philosophischen Lehre unter ein Schlagwort oder einen Ismus, der die Aburteilung leichter macht, begleiten nicht von ungefähr nahezu sein gesamtes Leben hindurch und weit darüber hinaus seine Publikationstätigkeit, wie Schelling selbst auch immer wieder beklagt.125

4.  Identität von Geist und Natur? Schellings Denken ist eine große spekulative Synthese des reflexiven, selbstbewusstseinstheoretischen und des ontologischen, häufig kosmologisch genannten Ansatzes in der Natürlichen Theologie, einschließlich seiner physikotheologisch genannten Spezifikation. Es ist allerdings zu untersuchen, ob diese Synthese echt und haltbar ist. Bevor das geschehen kann, stellt sich die Frage nach der inneren Kohärenz und Folgerichtigkeit des Schellingschen Verfahrens, ins  Freiheitsschrift, S.  34.   So notiert er in der Freiheitsschrift: „Es ist unleugbar eine vortreffliche Erfindung um solche allgemeine Namen, womit ganze Ansichten auf einmal bezeichnet werden. Hat man einmal zu einem System den rechten Namen gefunden, so ergibt sich das übrige von selbst […]. Auch der Unwissende kann […] mit deren Hilfe über das Gedachteste aburteilen.“ (S.  11) 124

125

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VI.  Geist, Vernunft, Natur

besondere im Hinblick auf das Verhältnis von Methodenbeschreibung und tatsächlicher Durchführung der Offenbarungsphilosophie, soweit sie hier betrachtet werden kann.126 Denn einerseits verspricht Schelling einen Anfang von vorn, mit ersten Seinsprinzipien, die aus einer vorurteilslosen Betrachtung der Natur und unserer eigenen Existenz gewonnen werden sollen. Andererseits soll die Gewinnung dieser Prinzipien a posteriori vor sich gehen, die Analyse der Struktur dieser Prinzipien und ihrer Kausalität dagegen a priori, durch eine reine, nicht auf Erfahrung gestützte ontologische Reflexion, welche gleichwohl auf Analogien mit Gegenständen der Erfahrung zurückgreifen darf und muss. Damit soll zugleich eine positive Philosophie vollendet werden, die sich von der bloß negativen Philosophie Kants, Fichtes und Hegels im Grundsatz unterscheidet. Negative Philosophie handelt vom Denken und entwickelt Seinsbestimmungen aus Denkbestimmungen – wie etwa Kant Kategorien aus logischen Urteilsformen gewinnt, Fichte die Grundbegriffe seiner Wissenschaftslehre aus einer transzendentalen Reflexion der Subjektivität und Hegel die Seinskategorien rein immanent aus der Selbstbewegung des reinen Denkens in der Wissenschaft der Logik. Positive Philosophie handelt vom Sein und entwickelt die grundlegenden Seinsbestimmungen aus der Betrachtung der Sachen, auf die sie sich richtet. Sie ist ihrer Intention nach objektiv und nicht primär reflexiv. Man kann gegen die Idee einer positiven Philosophie nicht einwenden, dass es sich dabei um eine Idee handelt, dass also Seinsdenken auch Denken ist und daher gut daran täte, diese Tatsache zu reflektieren. Damit sagt man Schelling nichts Neues. Auch ist durch diese Einsicht der Gegensatz zwischen diesen zwei methodischen Grundausrichtungen der Philosophie keineswegs eingeebnet. Denn es ist ein Unterschied ums Ganze, worauf eine Philosophie sich letztlich richtet, was ihr äußerstes Ziel ist, ob Erkenntnis des Seins oder Erkenntnis des Denkens. Für eine im Sinne Schellings negative Philosophie ist Seinserkenntnis wenn nicht akzidentelles Zwischenresultat, so doch durch reflexiv erhellte Denkstrukturen limitiertes Nebenziel der eigentlich auf das Denken gerichteten philosophischen Bemühung, getreu Kants hybrider Maxime, dass die Gegenstände der Erfahrung sich nach den subjektiven Bedingungen von Erkenntnis zu richten hätten.127 Für eine in Schellings Sinn positive Philosophie ist 126   Auf die Schwierigkeit einer solchen Teiluntersuchung angesichts des erklärtermaßen ‚holistischen‘ Charakters des Gesamtprojekts wurde oben schon hingewiesen. Ich halte diese Schwierigkeit aber für überwindbar. Die architektonischen Teile eines theoretischen Systems müssen sich sehr wohl auch auf ihre innere Stimmigkeit, Wahrheit und Richtigkeit hin beurteilen lassen. Andernfalls könnten sie zur Wahrheit des gesamten Systems nichts beitragen. Deswegen kann sich ein Verteidiger Schellings an dieser Stelle auch nicht darauf berufen, dass erst die Betrachtung der vollendeten Offenbarungsphilosophie einschließlich der Christologie die Behandlung methodischer und sachlicher Einwände zulasse. Wäre nämlich die Natürliche Theologie am Anfang der Offenbarungsphilosophie nicht in sich stimmig, dann könnte keine Christologie sie retten. 127   KrV, B XVI.

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dagegen Erkenntnis des Denkens bestimmt und limitiert durch die Gegenstände, auf die es sich richtet, getreu der von Kant verworfenen Maxime, dass sich Erkenntnis nach ihren Gegenständen zu richten habe. Damit scheint sich Schellings Projekt dem Einwand Descartes’ gegen die Methode der aristotelischen, aposteriorischen, auf Erfahrung gestützten Ontologie auszusetzen. Denn wenn die letzte Basis der Ontologie die Erfahrung ist, Erfahrungswissen sich aber nicht gegen radikale Skepsis schützen kann, dann ist die Basis der positiven Philosophie methodisch nicht hinreichend, um darauf Ontologie und Natürliche Theologie zu gründen. Es scheint, als müsse man, um wie Schelling vorzugehen, zunächst wie Descartes selbst versuchen, rein reflexiv zur Erkenntnis der Existenz Gottes zu gelangen. Damit stießen wir erneut an das eine Horn des oben beschriebenen Dilemmas der Natürlichen Theologie, statt ihm zu entrinnen. Obendrein scheint die Abgrenzung der positiven Philosophie von der negativen, primär reflexiven nicht so scharf zu sein, wie Schelling zunächst suggeriert. Denn nicht allein dass auch die Offenbarungsphilosophie ihren apriorischen Teil hat wie die Reflexionsphilosophie, sie macht obendrein auch Annahmen und stellt Forderungen an ihren Gegenstand wie ihr vermeintlicher philosophischer Kontrahent, sei deren Berechtigung auch reflexiv begründet. Oder was unterscheidet die Forderung, dass Freiheit sei, von der Losung, dass sich die Gegenstände der Erfahrung nach deren Formen zu richten hätten, oder vom Gottespostulat der reinen praktischen Vernunft? Indem Schelling es nicht dabei belässt, sondern seinem Freiheitspostulat eine ontologische Grundlage und damit eine nachträgliche sachliche Rechtfertigung zu geben versucht, scheint es, als stürze er seine Offenbarungsphilosophie obendrein in das, was sie am wenigsten sein soll: eine bloße Glaubensphilosophie, die kaum berechtigter erscheint als Jacobis Berufung auf die Wahrheit des Glaubens als Gefühl. Wenn es also, so mag man meinen, einen Unterschied zwischen negativer Reflexionsphilosophie und positivem Seinsdenken nach Schelling gibt, dann zum Nachteil der positiven Philosophie. Oben wurde das Freiheitspostulat Schellings bereits methodisch gegen näher liegende Einwände verteidigt. Der cartesische Einwand wird durch diese Verteidigung aber nicht entkräftet, da er mit jeder anderen Erfahrung auch die Freiheitserfahrung skeptisch in Frage stellen muss. Zwar lässt sich der freie Willensakt als innerer Akt sehr wohl mit dem Cogito-Argument rechtfertigen, da auch Willensakte ihrem Wesen nach cogitationes sind, so dass gilt ‚Wenn ich etwas will, dann weiß ich, dass ich es will‘, und umgekehrt.128 D. h., für das Wollen gilt 128   Die Umkehrung, also ‚Wenn ich weiß, dass ich etwas will, dann will ich es‘, gilt nicht schon deswegen, weil ‚wissen‘ ein faktiver Terminus ist, also nicht nach dem Prinzip ‚Ich weiß, dass p → p‘. Die Faktivität von ‚wissen‘ wird durch den skeptischen Zweifel eingeklammert, da dieser vom Wissen nur den falliblen Wissensanspruch übrig lässt. Da artikulierte Wissensansprüche die gleiche logische Form haben wie artikuliertes Wissen, also ‚Ich weiß,

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das Gleiche wie für das Denken: die nähere Bestimmung des Wollens mag dem Wollenden selbst nicht ganz durchsichtig sein. Er mag z. B. nicht fähig sein, zwischen Wollen im engeren Sinn, Wünschen und Begehren zu unterscheiden. Aber das Bewusstsein der generischen Bestimmung eines volitiven Aktes als Wollen geht davon unbeschadet mit dem Akt selbst notwendig einher. Hier hat Irrtum keinen Platz. Doch diese Überlegung reicht nicht bis zum äußeren Willensakt, der Handlung. Hier greift Descartes’ skeptisches Traumargument, indem es die Verbindung zwischen Wollen und Tun einklammert. Es klammert aber auch die Verbindung zwischen dem Wollensakt als praktischem Denkakt und dem Wollensinhalt, dem Gewollten, in einer bestimmten Hinsicht ein, und zwar ganz analog zum Inhalt theoretischer Denkakte, dem Gedachten. Das liegt daran, dass das Wollen z. T. externe Quellen hat, zu denen auch leibliche Begierden gehören. Will ein Akteur A tun, dann kann er darüber nicht im Zweifel sein. Er kann aber sehr wohl im Zweifel darüber sein, was er will, indem er A tun will, welche Motive sein Wollen beeinflussen, etc. Wird nun der eigene Leib als Konsequenz aus dem Traumargument skeptisch eingeklammert, betrifft dies auch eine wesentliche Quelle der Motivation. Eine andere Motivationsquelle menschlichen Wollens sind die durch Erfahrung gewonnenen allgemeinen Kenntnisse davon, was in der Welt gut und was schlecht, was erstrebenswert und was zu meiden ist. Damit bleibt für die auf dieser Stufe mögliche Analyse des Wollens alles opak, was nicht zur inneren Natur des praktischen Denkens gehört. Subjektiv gehaltvolle praktische Erfahrung kann daher anscheinend nicht als Datum gründlicher Philosophie angesehen werden. Aber die oben gewonnene Einsicht in die wesentliche kritisch-reflexive Bedeutsamkeit der cartesischen Theologie, die aus sich heraus nicht zur Grundlage von Ontologie werden kann, liefert die Lösung dieses Knotens. Denn wenn kein Weg von der cartesischen Selbst- und Gotteserkenntnis zur allgemeinen Seinserkenntnis führt, dann bleibt als Weg zur Ontologie ohnehin nur das im weiten Sinne aristotelische, auf Erfahrung gegründete Verfahren, das auch Schelling anwendet. Auch Descartes selbst kann in der Entwicklung seiner Ontologie nicht anders verfahren.129 Es ist folglich methodisch nicht erforderlich, dass p‘ oder auch ‚p‘, liefert der Verweis auf die Faktivität von ‚wissen‘ noch kein antiskeptisches Argument. Vielmehr gilt die Umkehrung deswegen, weil genuines Wollen als selbstbewusster Akt seiner Natur nach artikuliert ist, also die Form hat ‚Ich will A tun‘. Wissen von selbstbewussten Akten geht notwendig mit den Akten selbst einher, wie Descartes zeigen kann, weswegen die Implikation in beiden Richtungen unproblematisch ist. Wie aus Obigem ersichtlich wird, heißt das aber keineswegs, dass auch das Handeln notwendig selbstbewusst wäre. Es heißt wie gesehen nicht einmal, dass einem Akteur die eigenen Gründe und Ziele völlig transparent wären. Auch Descartes nimmt hier wie schon gesehen keineswegs soviel Selbsttransparenz an, wie ihm häufig unterstellt wird. 129   Vgl. zu den aristotelischen Elementen in Descartes’ Ontologie und Wissenschaftstheorie, aber auch zu den funktionalen Äquivalenten aristotelischer Prinzipien in der cartesischen Methodologie insgesamt Marion 1975.

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den Aufstieg von der verallgemeinerten Betrachtung der erfahrbaren Natur und der humanen Welt zu den Prinzipien und ersten Ursachen des Seins mit einer cartesischen Reflexion und damit letztlich theologisch zu beginnen, weil ein solcher Anfang ontologisch unfruchtbar bleiben muss. Zudem wäre es für die Ontologie wie für die Natürliche Theologie gleichermaßen fatal, wenn es sich anders verhielte, da beide so entweder in eine triviale Verdoppelung ihrer Ergebnisse oder in einen schlechten Zirkel gerieten, der als Resultat nur das liefert, was schon als Voraussetzung in die Untersuchung eingeht. Auch hatte sich gezeigt, dass die beiden Ansätze der Natürlichen Theologie nicht identische Ergebnisse haben. Damit ist das cartesische Verfahren auch nicht als Abkürzung zur Gotteserkenntnis im Sinne eines direkten Weges zur Theologie ohne Umweg über die Ontologie geeignet. Vielmehr kann der skeptische Zweifel auf jeder Stufe der ontologischen und theologischen Untersuchung in der aristotelischen Tradition angreifen. Ihm zu begegnen ist der Zweck der cartesischen Reflexion. Schelling macht daher seinerseits keinen Fehler, wenn er nicht wie Descartes beginnt bzw. die cartesische Selbstreflexion in weniger radikal skeptischen Kontexten geltend macht. Doch auch die tatsächlichen Übereinstimmungen zwischen Schellings Denken und der von ihm kritisierten negativen Philosophie kann man ihm nicht als Inkonsequenz vorhalten. Die Lehre von der Selbstbewusstseinsstruktur des Geistes als Grundlage der Trinitätslehre wird für das neuzeitliche Denken von Descartes und Kant vorbereitet und von Fichte ausformuliert, bevor sie von Hegel und Schelling selbst für die Theologie fruchtbar gemacht wird. Hinsichtlich dieser Analyse als solcher gibt es von Schellings Seite an der ‚negativen‘ Philosophie nichts zu kritisieren oder zu korrigieren. Er teilt Fichtes und Hegels Kritik an Kants Deduktion der Kategorien aus Urteilsformen als in sich unzureichend und dem Zweck unangemessen, eine vollständige Übersicht über die Grundformen objektiver Erkenntnis zu bekommen.130 Aber anders als diese glaubt er nicht, dass die Kategoriendeduktion aus Begriff und Wesen von Subjektivität durch Verbesserungen ins Ziel gebracht werden kann. Schon früh tritt an die Stelle der Idee einer subjektiven Rechtfertigung der Kategorien als reiner Denkbestimmungen – als „Erkennen des Erkennens“131 – die Idee einer objektiven Rechtfertigung reiner Denkbestimmungen durch den Nachweis ihres objektiven Gehalts und ihres Weltbezugs. Dieser kann dann aber nicht mehr auf Erscheinungen im Sinne Kants beschränkt sein, sondern muss sich auf Dinge an sich beziehen. Damit kann diese Rechtfertigung aber nicht mehr transzendentalphilosophisch sein, d. h. sich auf eine Reflexion der subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis beschränken, sondern muss objektiv oder besser noch realphilosophisch sein. So lässt sich nachvollziehen, warum Schelling   Vgl. etwa GNP, S.  74 und 77 f., Anm.  1.   GNP, S.  71.

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aus einer Kritik an Fichte heraus von transzendentalphilosophischen Ansätzen zu einer Naturphilosophie übergeht, die dazu beitragen soll zu zeigen, dass es „einen unabhängig von uns in den Dingen selbst gegenwärtigen Verstand“ gibt, der Ursache ihrer Intelligibilität für uns ist und im Unterschied zu Kant und Fichte tatsächlich erklärt, wie objektive Erkenntnis möglich ist.132 Damit wird die Idee einer Untersuchung von Kategorien des reinen Denkens als solche zwar nicht obsolet, aber sie hat bei weitem nicht mehr den methodischen Stellenwert, den sie in der negativen Philosophie haben muss. Die gesamte Idee einer ‚trans­ zendentalen‘ Logik mit Kategorien als Grund- und Stammbegriffen, Grundsätzen als subjektiven Regeln ihrer Verknüpfung, einem transzendentalen Schematismus ihrer Anwendung auf angeschaute Objekte und als Basis gültiger und gehaltvoller Schlüsse verliert ihren Sinn. Die Logik als Lehre von Begriffen, die sich Kategorien zuordnen lassen, sowie von Urteils- und Schlussformen gewinnt den Sinn zurück, den sie von Aristoteles bis zur Logik von Port Royal gehabt hat, nämlich Organon des wahrheitssuchenden, welterkundenden Denkens zu sein. Wenn man will, kann man auch hierin eine Rückkehr Schellings sowohl zu Aristoteles und Thomas als auch zu Descartes sehen. Vielleicht hat Schelling aus diesem Grund keinen eigenen Traktat über Logik verfasst, anders als Kant, Fichte und Hegel und obgleich logische Untersuchungen sein Werk ebenso durchziehen wie das seiner idealistischen Weggefährten und Kontrahenten. Dieser Weg fort von der Transzendentalphilosophie und hin zu einer realistischen, ontologisch orientierten Philosophie führt Schelling schließlich zu einer Wiederaneignung der klassischen Natürlichen Theologie mit erweiterten Mitteln, die ihm die Synthese von apriorischem und aposteriorischem Verfahren gestatten.133 Seine Natürliche Theologie beginnt wie gesehen nicht anselmisch oder cartesisch, sondern aristotelisch-thomistisch. Am Anfang steht aber ein cartesisch legitimiertes Postulat, nämlich Freiheit als wirklich nachzuweisen, dessen methodischer Status als Adäquatheitskriterium der zu entwickelnden theologischen Theorie bereits erörtert worden ist. Derartige Postulate sind 132   Ebd., S.  74; Hervorhebungen i. Orig. Es ist leicht zu sehen, dass der Gedanke von einem Verstand in den Dingen das meint, was Schelling sonst auch als die Identität von Geist und Natur bezeichnet. Diese erklärt und rechtfertigt eine weitere, abgeleitete ‚Identität‘ von Natur und Geist, nämlich die Korrespondenz von Wissen und Sein und damit die Möglichkeit einer wahren denkenden Erfassung des Wirklichen durch uns endliche Vernunftwesen. Hegel bezeichnet dieses Identitätsprinzip als „absolutes Prinzip des ganzen Schelling’schen Systems“. (Differenzschrift, S.  63) 133   Schelling selbst hat die Bezeichnung Realismus nicht zur Kennzeichnung seines eigenen Denkens verwendet, denn ‚realistisch‘ nennt er in der Regel in Übereinstimmung mit Fichte einen dogmatischen Materialismus, der den idealen Gehalt und die geistige Form des Wirklichen nicht anerkennt. Deswegen bezeichnet er, durchaus im Bewusstsein der Missverständlichkeit dieser Termini, sein Denken als idealistisch, wobei dem absoluten Idealismus, der Gott als wirkliche Idee begreift, ein objektiver Idealismus der Seinserkenntnis als intelligibler entspricht. Vgl. aber PO, S.  698.

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dem aristotelischen Realismus keineswegs so fremd, wie oft behauptet wird. Denn auch Aristoteles selbst stellt ein Postulat an den Anfang seiner Ersten Philosophie, dass sie nämlich die Phänomene retten müsse und nicht wegerklären dürfe.134 Damit ist der Ersten Philosophie ein Ziel gegeben und ein gewichtiges Adäquatheitskriterium bestimmt: Sie kann nicht richtig durchgeführt sein, wenn sie nicht zum Ergebnis hat, dass die Dinge grosso modo so sind, wie sie uns erscheinen oder zum Phänomen werden.135 Eine metaphysische Theorie, die nur dadurch kohärent wird, dass sie die Behauptung impliziert, dass den Phänomenen unserer Erfahrung entweder gar nichts entspricht oder dass unsere Wirklichkeitssauffassung extremen Verzerrungen ausgesetzt ist, muss an diesem Kriterium gemessen falsch sein. Dieses Postulat leidet nicht darunter, dass es selbst der nachträglichen Rechtfertigung durch die metaphysische Theorie bedarf. Durch eine solche Rechtfertigung verliert es den bloßen Postulatstatus und wird zum aus der Sache begründeten methodischen Prinzip. Hier liegt weder ein schlechter Zirkel vor, noch ist die explizite Formulierung eines Postulats am Anfang einer Theorieentwicklung eine bloße petitio principii. Im Gegenteil, das Postulat der Phänomenrettung formuliert ein der Theorie selbst externes Adäquatheitskriterium. Es besagt mithin, dass von der Theorie mehr verlangt ist als bloße Kohärenz. Insofern ist es ganz gegen den hier erörterten Verdacht ein Ausweis methodischer Strenge. Schellings Freiheitspostulat sollte nun als Spezifikation des aristotelischen Postulats der Phänomenrettung verstanden werden. Denn was hier durch Natürliche Theologie gerettet werden soll, ist Freiheit nicht als Wunsch oder gefühltes Bedürfnis, sondern als Phänomen, einschließlich der Freiheit, zu denken und philosophisch nach dem Grund des Seins und dem Ursprung der Freiheit zu fragen, die Voraussetzung des gesamten Projekts der Philosophie und Wissenschaft ist. Damit ist sie Phänomen im eminenten Sinn und gehört zu den vorrangigen Explananda der Ontologie. Indem Schelling die Auffassung vertritt, dass eine solche das Phänomen der Freiheit rettende Erklärung desselben nur theologisch geleistet werden kann, verknüpft er Ontologie und Natürliche Theologie und stellt sich in die thomistische Tradition. Das gilt unbeschadet der Tatsache, dass Thomas selbst wie Aristoteles noch mit größerer Selbstverständlichkeit von der Freiheit des menschlichen Willens ausgeht und deswegen den Freiheitsgedanken nicht mit der gleichen Emphase wie Schelling zum Basisphänomen ernennt, von dem die Natürliche Theologie ausgehen soll. Am carte-

 Vgl. Met. A 5, 986 b.   Grosso modo deswegen, weil auch theoretische Paradigmenwechsel wie der Übergang von einem geozentrischen zu einem heliozentrischen Bild des Kosmos gegen den ersten Anschein nicht als Verstoß gegen das aristotelische Prinzip, sondern gerade umgekehrt als Rettung der Phänomene, nämlich der beobachtbaren Bewegung der Himmelskörper, verstanden werden müssen. 134 135

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sischen und nachcartesischen Denken lässt sich der Wandel in der Auffassung der Freiheitsproblematik nachvollziehen. Deswegen ist der Weg bis zum Gedanken eines ersten, ursprünglichen Seienden als Quelle allen Seins durchaus thomistisch angelegt, wenn auch im weiten Sinne. Doch Schelling ist sich nicht so sicher wie Aristoteles und Thomas, dass dieses erste Seiende als rein aktual Seiendes zu kennzeichnen schon ausreicht, um es als Gott bezeichnen, um ‚Gott als Gott setzen‘ zu können. Aristoteles tut dies wie gesehen nicht in vollem Umfang, da er Gott nicht als Seinsquelle, als Schöpfer im umfassenden Sinne ansieht, auch wenn er ihn in anderem Sinne durchaus als erste Ursache alles aktual Seienden und Quell aller Bewegung bestimmt. Schellings Verdacht gegen den actus-purus-Gedanken scheint aber zu sein, dass er letztlich bloß negativ bestimmt ist, als Abwesenheit von Potentialität. Gott muss aber auch positiv bestimmt werden, nicht bloß als reines Sein, sondern auch als reiner Geist. Das tut Aristoteles auch, indem er Gott Geist, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis zuschreibt. Dennoch scheint der aristotelische negative Weg zum Gedanken der Geistigkeit Gottes misslich, dass nämlich Gott als rein Aktuales und wirklich Seiendes frei von jeder Materie sein müsse, was nur den Schluss zuzulassen scheint, dass er reine geistige Form ist. Denn hier wird anscheinend eine positive Bestimmung Gottes, nämlich Geist zu sein, allein aus einer negativen Bestimmung, nämlich der Unkörperlichkeit oder Immaterialität, erschlossen.136 Aber dieser Schluss erscheint als solcher noch nicht alternativlos. Ein Agnostiker wie Hobbes könnte den Schluss von der Bewegung auf ein erstes, rein aktuales Bewegendes durchaus anerkennen, ohne zugleich zugestehen zu müssen, dass dieses erste Bewegende geistig sein muss. Denn er kann sich – wie Hobbes das auch tut – auf den Standpunkt zurückziehen, dass die Natur und eigentümliche Beschaffenheit eines rein aktual Seienden für uns unerforschlich und eine Sache des bloßen Glaubens sei.137 Diesem Zug ließe sich mit einer stärker ausgearbeiteten Schöpfungslehre begegnen, die über die Spuren des Geistigen im natürlichen Seienden, wozu nicht zuletzt die Geistigkeit des Menschen gehört, zu einer genuin geistigen Quelle führen könnte. Das ist wie gezeigt der Weg, den Thomas tatsächlich geht. Doch Thomas lehrt, dass die Geschaffenheit der Welt der Zeit nach ein Glaubensartikel und damit Thema der Offenbarungstheologie ist, nicht der Natürlichen 136   Vgl. die 17.–20. Vorlesung der Philosophie der Mythologie, in der Schelling den nousBegriff in der Metaphysik und in De Anima als äußerste Grenze des aristotelischen Denkens überhaupt interpretiert, was daran erkennbar sei, dass Aristoteles in keiner Weise erklären könne, wie sich der nous als übernatürliches Vermögen mit der menschlichen Seele vereinige, aber dennoch standhaft behaupte, dass es sich so verhalten müsse, weil der nous kein natürliches, organisches Vermögen sei. 137   Das legt jedenfalls sein paralleler Einwand gegen die dritte Meditation Descartes’ nahe, also gegen den Schluss von der Gottesidee auf deren Ursache, wobei Hobbes bestreitet, dass wir überhaupt eine Idee Gottes haben können. Vgl. ders., Fünfter Einwand, in: Med., S.  162 ff.

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Theologie. Denn die Natürliche Theologie könne wie alle Philosophie nur das Allgemeine und Notwendige behandeln; die Schöpfung sei aber ein einzelner Akt, der aus dem freien Willen Gottes hervorgehe. Deswegen sei die Geschaffenheit der Welt ebenso wenig beweisbar wie die Trinität.138 Wie gesehen ist Schelling in beiden Punkten anderer Ansicht. Indem er sowohl Schöpfung als auch Trinität als Themen der Natürlichen Theologie zurückzugewinnen versucht, nähert er sich, ohne dies eigens zu betonen, Anselms Position an, der wegen dieser Position ja bei den meisten hoch- und spätscholastischen Denkern in die Kritik geraten ist.139 Was speziell die Geschaffenheit der Welt angeht, so akzeptiert er die Prämisse, weist aber die Konklusion zurück. Auch aus Schellings Sicht ist die Schöpfung ein freier, willentlicher, nicht notwendiger Akt Gottes. Dennoch können wir ihn als Ursache aus seinen erfahrbaren Wirkungen erschließen, also a posteriori. Bis hierher stimmt er also mit Thomas durchaus überein. Doch zu diesen Wirkungen muss nun auch die menschliche Freiheit gehören, die aus dem Wesen der Materie heraus nicht sein und begriffen werden kann. Daher muss, so scheint es, zumindest der menschliche Geist eine nichtmaterielle erste Ursache haben. Das gilt aber nicht nur für den menschlichen Geist, sondern für das Phänomen des Lebens überhaupt. Auch Leben lässt sich nicht auf Materie reduzieren, wie Aristoteles, Thomas und Schelling übereinstimmend lehren. Eine Schöpfungslehre im oben skizzierten Sinn stellt die Einheit des Seins her, indem sie Geist, Leben und Materie aus einer einzigen geistigen Quelle hervorgehen lässt. Die aristotelische Lehre von der Ewigkeit der Welt und der Ungeschaffenheit der Materie scheint dagegen die Einheit und Kohärenz des Seienden tendenziell in Frage zu stellen, indem sie Gott zur Quelle nur der Formen und des Geistigen macht. Und Thomas muss aus dieser Sicht etwas inkonsequent erscheinen, wenn er zwar eine Schöpfungslehre formuliert, diese aber zur Glaubensfrage ernennt, und zwar im Kontrast zur Lehre, dass Gott existiert und erster, unbewegter Beweger ist. Wird doch aus Schellings Sicht die Lehre von Gott als erstem Beweger erst im Schöpfungsgedanken zu Ende geführt. Thomas’ Haltung ist aber in dieser Frage insofern komplex, als er gleichfalls lehrt, dass geoffenbarte Wahrheiten gleichwohl der rationalen, d. h. philosophischen Explikation bedürfen.140

  STh I, q.  46 a.  2, c; zur Unbeweisbarkeit der Trinität q.  32 a.  1.   Mit Schelling kann man Anselm gegen den Vorwurf verteidigen, dass er Schöpfung und Menschwerdung Gottes dadurch, dass er sie sola ratione behandele, zu Notwendigkeiten machen und Gottes Freiheit leugnen müsse. Mit einem differenzierteren Verständnis davon, was es heißt, eine Sache sola ratione zu untersuchen, wie es Schelling entwickelt, lässt sich dieser Vorwurf als voreilig zurückweisen. 140   „Respondeo quod creationem esse non tantum fides tenet, sed etiam ratio demonstrat“. (In II Sent., d. 1 q.  2; zitiert nach te Velde 2006, S.  142, Anm.  5) Demonstrabel ist die Schöpfung, wie Thomas dort ausführt, im Sinne der ersten Ursache, also im Sinne der fünf Wege und damit nur in gewisser Hinsicht. 138 139

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Was den Trinitätsgedanken angeht, so stellt Thomas selbst heraus, dass sich Spuren davon bereits in der heidnischen Philosophie finden, namentlich bei Platon und Aristoteles, der mit der noesis noeseos bereits die relevante Grundfigur der dann von Augustinus weitergeführten philosophischen Deutung der Trinitätslehre nennt.141 Dennoch weist er den Gedanken zurück, dass hier schon eine Einsicht oder zumindest eine Ahnung der göttlichen Trinität vorliege, und zwar zum einen auf Grund der Autorität des Paulus, der den weltlich Denkenden, womit nach einer Glosse die Philosophen gemeint seien, das Vermögen, die Trinität zu erfassen, abspricht, (1. Kor. 2, 6) zum anderen weil die relevanten Textstellen insbesondere keine Einsicht in die dritte Person, den Heiligen Geist, zeigten.142 Beide Argumente müssen aus Schellingscher Perspektive schwach erscheinen, da, selbst wenn man die Autorität des Apostels anerkennt, der Wortlaut des ersten Korintherbriefs nicht primär auf die Philosophen als Philosophen, sondern eher als heidnische Agnostiker zu verweisen scheint und da eine Glosse nach Thomas’ eigenen Standards nicht die gleiche Autorität beanspruchen kann wie der Wortlaut der Schrift selbst (vgl. STh I, q.  1 a.  8, ad 2). Und dass die antiken Philosophen die Dreiheit und Einheit des Göttlichen ganz, d. h. im Sinne des Credo, erfasst hätten, muss gar nicht behaupten, wer meint, dass der Trinitätsgedanke in der antiken Philosophie präformiert wird. Daraus folgt aber, dass man mit dieser Meinung auch nicht notwendig im Widerspruch zum von Thomas angeführten Apostelwort steht. Aus Schellings Sicht sind im Gegenteil gerade die heidnischen Hinweise auf einen dreifachen Charakter des Göttlichen starke Bestätigungen der Trinitätstheologie.143 Den Polytheismus deutet er insgesamt als entstellte, aus der durch den Sündenfall verursachten Gottferne geborene Ahnung der Dreifaltigkeit, für die dem heidnischen Glauben und Denken noch die Begriffe fehlen. Die deutlicheren Hinweise auf eine trinitarische Struktur des ersten Prinzips insbesondere bei Platon und Aristoteles sind daher aus Schellings Sicht als Vorboten der vollkommenen Selbstoffenbarung Gottes in der Menschwerdung des Sohnes deutbar, wie überhaupt die Philosophie als Teil der Vorbereitung auf die Offenbarung verstanden wird. Diese Deutung des Polytheismus und der sich davon zunehmend abgrenzenden Philosophie ist allerdings nicht allein Quintessenz seiner Philosophie der Mythologie, sondern, wie diese insgesamt, wesentliches Element seiner Christologie, die hier aus der Betrachtung ausgeklammert bleiben soll. Schelling zieht aus dieser Kritik der aristotelischen Theologie den Schluss, dass gerade die Schöpfungslehre in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tri141  Vgl. STh I, q.  32 a.  1, 1. Thomas verweist dort allerdings nicht auf Met. L, sondern auf eine Stelle in De caelo (268a 13), in der die Drei als heilige bzw. kultische Zahl bezeichnet wird. Vgl. aber zu Thomas’ Selbstpositionierung gegenüber der antiken Philosophie hinsichtlich des Schöpfungsproblems auch te Velde 2006, S.  124 und S.  142, Anm.  4. 142   Vgl. ebd., ad 1. 143   Vgl. etwa PO, S.  613 ff.

4.  Identität von Geist und Natur?

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nitätslehre zu entwickeln ist, dass also der Aufbau der Theologie von der Tradition abweichen sollte, die zunächst die Frage, ob Gott existiert, beantwortet, also das Sein Gottes (esse Dei) nachzuweisen sucht, dann die Frage, was Gott ist, behandelt, also das Wesen Gottes (essentia Dei) untersucht, schließlich Gott im Hinblick auf die Struktur der Trinität (trinitas personarum) betrachtet und erst danach die Schöpfungslehre formuliert. Der erste Schritt führt zu den Gottesbeweisen bzw. zu ihrer Zurückweisung, der zweite zur Lehre von der Unerforschlichkeit des göttlichen Wesens und zur Betrachtung der göttlichen Namen (nomina Dei) in affirmativer, negativer oder analoger Deutung, der dritte zur Lehre von den drei Hypostasen oder konsubstantialen Personen, der vierte schließlich zur Betrachtung des Hervorgangs (processio) der Geschöpfe aus Gott. Der von Kant so genannte ontologische Gottesbeweis versucht, den ersten Schritt aus dem zweiten zu entwickeln, d. h. aus einer Betrachtung des Wesens Gottes seine Existenz zu folgern. Dieser Weg wird von Thomas abgelehnt, und weder Anselm noch Descartes oder Schelling gehen ihn. Insofern liegt Schellings methodische Innovation nicht hier. Sie liegt vielmehr in einer gewissen Verzahnung oder Kontraktion dieser traditionell systematisch getrennten Schritte. Es heißt jedoch nicht, dass die Schritte ineinander kollabieren, da sie auch aus Schellings Sicht Antworten auf distinkte Fragen liefern. Wie schon gesehen impliziert eine zusammenhängende Behandlung von Trinitäts- und Schöpfungstheologie nicht, dass das Verhältnis der göttlichen Personen zueinander identisch wäre mit dem Verhältnis Gottes zur Schöpfung. Im Gegenteil, gerade indem man die ontologische Differenz der Relationen in Gott zur Schöpfer-Geschöpf-Relation anerkennt, kann man die beiden Relationsgefüge sachlich genauer aufeinander beziehen. Schellings Methode läuft insgesamt darauf hinaus, die einzelnen Schritte der Entwicklung der um Trinität und Schöpfung erweiterten Natürlichen Theologie so anzulegen, dass im jeweiligen Schritt bereits der nächste der Möglichkeit nach angelegt ist. Im Einzelnen heißt das, dass aus der Betrachtung der Seinsweise Gottes als reiner Geist die Trinitätslehre entwickelt wird, und zwar als Erläuterung der inneren Einheit Gottes, während in der Trinitätslehre die Schöpfungslehre enthalten ist. Das bedeutet, dass die Lehre von den göttlichen Namen, d. h. den Gottesattributen gegenüber der traditionellen Theologie an Bedeutung verliert. Allein Einheit (unitas) und Leben (vita) werden zu Grundlagen der weiteren Gedankenführung. Andere Attribute wie Wissen, Willen bzw. Liebe oder Güte hängen zwar auch für Schelling mit der Geistigkeit Gottes zusammen, müssen aber nicht eigens hervorgehoben werden, da sich alle Gottes­attribute auch im Zuge der Trinitätslehre entwickeln lassen. Das Sein Gottes ergibt sich wie gesehen aus der Reflexion des Seins überhaupt, wie in dem genuin ontologischen Argument für die Existenz Gottes, das Thomas in den fünf Wegen entfaltet. Dass das erste Prinzip alles Seienden

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VI.  Geist, Vernunft, Natur

geistig sein muss, ist Resultat der Einbeziehung des Freiheitspostulats in den Gang der ontologischen Reflexion. Die erste Ursache muss selbst frei sein und kann daher nur geistig sein. An dieser Stelle knüpft Schelling nun an die von Augustinus initiierte und von Descartes und Fichte fortgeführte Tradition der Selbstbewusstseinsanalyse an. Die Frucht dieser Unternehmung ist, dass Trinität als Struktur des Selbstbezugs begriffen und verständlich gemacht werden kann. Denn zwar erläutert auch Thomas die Relationen der drei göttlichen Personen als Selbstbezüglichkeitsrelationen in der göttlichen Einheit und lehrt, dass diese Relationalität zum Wesen Gottes gehöre.144 Aber er führt den Gedanken der Dreiheit als Einheit nicht auf den Begriff des Geistes selbst zurück. Daher kann er Schellings Pointe, dass nur ein dreifaltiger Gott seiner Substanz nach einer sein kann, nicht mitvollziehen. Dies ist der Grund dafür, dass Thomas die Geistigkeit Gottes im Rahmen der Natürlichen Theologie abhandelt, die Trinität aber als lediglich offenbart ansieht. Schelling kann dagegen mit Augustinus und Anselm argumentieren, dass Gott als Geist notwendig selbstbewusst ist und nur als selbstbewusstes ein wissendes und wollendes Wesen sein kann. Selbstbewusstsein ist aber ein trinitarischer Begriff, den Schelling in die Fichtesche Formel des Subjekt-Objekts fasst. Mit dieser augustinisch-cartesischen Reflexion im Herzen der ontologischen Betrachtung Gottes als erster Ursache ist die Trinitätstheologie allerdings noch nicht vollendet. Denn Gott als Geist, als Bewusstsein seiner selbst und als Einheit von Sein und Bewusstsein, in der sich das Selbstbewusstsein erst vollendet, ist zunächst nur die Einheit einer Substanz und ihrer Vermögen. Wir haben eine Einheit von Potenzen in einem aktual Seienden, nicht eine Einheit von Personen. Hier gibt sich Schelling nicht mit der traditionellen Erklärung zufrieden, dass alle Attribute und sonstige Bestimmungen von Gott substantialiter ausgesagt werden müssten, da es an Gott nichts Akzidentelles geben könne. Traditionell werden damit trinitarische Aussagen wie „Gott ist der Vater“ oder „Gott ist Geist“ logisch an Aussagen wie „Gott ist die Wahrheit“ oder „Gott ist das Leben“ assimiliert. Dass diese Parallelisierung attributiver und trinitarischer Rede über Gott nicht ausreicht, zeigt sich aber spätestens an den Disanalogien. So werden Wahrheit oder Leben zwar substantialiter von Gott ausgesagt, aber nicht personaliter. Das heißt, weder lassen sich die Gottesattribute den göttlichen Personen zuordnen,145 noch werden die Attribute selbst dadurch personifiziert, dass sie von Gott der Substanz nach ausgesagt werden. Die Wahrheit und die Güte sind keine göttlichen Personen; der Vater, der Sohn und der Geist sollen es sehr wohl sein. Diese Schwierigkeit löst sich für Schelling erst in der Schöpfungslehre. Denn hier, in der Ökonomie der Schöpfung, treten die drei Momente Gottes ausei  STh I, q.  28 a.  2.  Vgl. De Trinitate V.

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4.  Identität von Geist und Natur?

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nander. Der Sohn tritt in das außergöttliche Sein der Natur ein und trennt sich von seinem Prinzip, während der Geist gleichwohl das Band zwischen dem natürlichen Sein und dessen Ursprung bleibt oder, traditionell gesprochen: die Liebe. Dadurch zeigt sich durch den Schöpfungsakt, dass die drei Momente oder Potenzen auch vor ihrem Auseinandertreten schon selbständig gewesen sind, d. h. sie sind nicht bloß Potenzen, sondern Personen. Darin enthalten ist, dass sie ihrerseits selbstbewusst sind oder, traditionell gesprochen, dass auch der Vater weiß und erkennt, dass auch der Sohn liebt und dass auch der Geist schöpferisch ist, etc.146 Darin, dass die göttlichen Potenzen auseinander treten, zeigt sich, dass sie selbständig sind, also auseinander sein können. Deswegen ist die Bezeichnung Person für jede der Potenzen passend, da ein selbständiges Wesen in einer geistigen Gemeinschaft Person genannt wird. Dennoch ist der Terminus ‚Person‘ hier eindeutig analog gebraucht und nicht etwa univok mit dem Terminus ‚Person‘, der von Menschen aussagbar ist.147 Auf diese Weise führt Schelling ein Stück Geistmetaphysik mitten in die ontologische Untersuchung der ersten Seinsursache ein, und darin besteht die zweite Stufe seiner Synthese der beiden großen Traditionen der Natürlichen Theologie. So macht er zugleich die Selbstbewusstseinsanalysen des Augustinus, Descartes’ und Fichtes theologisch fruchtbar, ohne den realistischen Gesamtzug der thomistischen Theologie, die auf die gründliche Betrachtung dessen dringt, was ist, preiszugeben. Wo aber bleibt bei Schelling der dialektisch-skeptische Zug, der doch gerade das anselmische und cartesische Verfahren in der Theologie kennzeichnet und der überhaupt erst den in die Aporie führenden Eindruck erweckt hat, dass diese beiden Traditionen nicht allein unvereinbar sind, sondern sich auch wechselseitig zerstören? Die bisherigen Betrachtungen haben gezeigt, dass es keine einfache Kombination des ontologischen und des dialektisch-skeptischen Verfahrens in der Natürlichen Theologie geben kann. Weder kann man Anselms oder Descartes’ Gedankengang der ontologischen Untersuchung propädeutisch vorschalten, noch lässt er sich darein integrieren, Anselm nicht, weil er dazu nichts beiträgt, Descartes nicht, weil seine Problemstellung der Ontologie den Boden entzieht, wenn auch nur anfänglich. Man muss dieses Verhältnis aber nicht notwendig als Wechseldestruktion deuten, jedenfalls dann nicht, wenn man sieht, dass hier auf ganz verschiedenen Ebenen argumentiert wird. Was bedeutet das aber für Schellings Synthese? Es bedeutet jedenfalls, dass es sich dabei nicht um eine Synthese der Methoden handelt. Schellings Vorgehensweise ist insgesamt ontologisch und damit weder dialektisch noch skeptisch. Dennoch ist der skeptische Zug bei ihm nicht 146   Vgl. ebd.  A n dieser Stelle endet aus Sicht des Augustinus die Analogie zwischen göttlichem Geist und menschlichem Selbstbewusstsein, eben weil das menschliche Selbstbewusstsein keine Mehrheit von Personen konstituiert. 147   Vgl. dazu auch Spaemann 1996.

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VI.  Geist, Vernunft, Natur

verloren. Man kann Schelling nicht als Vertreter einer bloß dogmatischen, die Skepsis bloß verbal abweisenden Metaphysik abtun. Doch er versteht Skepsis anders, nicht wie üblich als eine spezielle philosophisch-intellektuelle Haltung und schon gar nicht nur als eine bestimmte philosophische Richtung oder Schule, sondern ganz im Gegenteil zum Wesen der Philosophie gehörig, im Unterschied zum bloßen Skeptizismus. Skeptisch ist die Haltung des Philosophen überhaupt deswegen, weil er Meinungen, auch wahre, nicht hinnimmt, sondern nach Gründen fragt und sucht, um sich das Wahre als Wissen anzueignen, nicht um es wie im Skeptizismus zurückzuweisen. In diesem Sinne bestimmt Schelling die Philosophie als „Überwindung des Irrtums“ (PO, S.  7) und kontrastiert sie mit der bloß unmittelbaren, noch ungeprüften Erkenntnis, die noch kein Wissen im höheren Sinn oder noch nicht philosophisch ist. Die Wahrheit müsse „auf die Probe gestellt“ werden (ebd.), um sie vom Irrtum zu unterscheiden, und eben dies ist der skeptische Grundzug der Philosophie und ihr Vorrecht. „Wenn Sie diesen Unterschied festhalten, so werden Sie einsehen, wie in der menschlichen Erkenntnis der Irrtum die Voraussetzung der Wahrheit ist. Es gibt nur eine Wahrheit, nämlich jene, welche gegen den Irrtum den Sieg errungen hat. […W]ie Christus sagt – über den Bußfertigen wird im Himmel mehr Freude sein, als über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“148

Auf diese Weise ist Philosophie insgesamt skeptisch, d. h. fragend und untersuchend, wahrheitssuchend statt Wahrheit bloß behauptend. Eben deswegen bedarf es aus Schellings Sicht aber keiner besonderen skeptischen Methode zur Grundlegung des Philosophierens. Das entwertet nicht Descartes’ Anstrengung, eine fundamentale Wissensskepsis als grundlos zu erweisen. Im Gegenteil, seine Meditationen verweisen uns auf die möglichen Motive für eine solche Skepsis und benennen die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Überwindung. Aber sie ist bloß eine extreme Ausprägung des insgesamt skeptischen Charakters philosophischen Denkens, und da Descartes das Problem des radikalen Skeptizismus gelöst hat, gibt es keinen Grund, immer wieder neu damit zu beginnen. Was Schelling wie schon Fichte an Descartes interessiert, ist nicht so sehr dessen methodische Radikalisierung der Wissensskepsis, sondern die inhaltlichen Analysen, die helfen, diese zu überwinden, die aber wie jedes philosophisch haltbare Ergebnis ihren Wert auch außerhalb des Kontextes ihrer Entdeckung behaupten. Deshalb ist Schelling seinerseits berechtigt, das Resultat dieser und verwandter Analysebemühungen in einem ganz anderen Methodenkontext zur Geltung zu bringen. Dies gilt insbesondere für die cartesische Selbstbewusstseinsanalyse, die zum Muster und Ausgangspunkt von Schellings Trinitätstheologie wird. Insofern steht tatsächlich cartesische Methodik am Anfang auch von Schellings Theologie. Es handelt sich aber nicht um die methodische Skepsis, sondern um methodische Intentionalitätsanalyse.   PO, S.  7.

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VII.  Probleme der Natürlichen Theologie 1.  Theodizee als Problem der Natürlichen Theologie Der bisherige Gang der Untersuchung hat auf zwei Wegen zum Gedanken eines notwendigen ersten Seinsprinzips geführt. Es hat sich ferner gezeigt, dass diese zwei Wege zu einem einheitlichen Denkweg zusammengeführt werden können. Dieser Gedankengang ist dem Ergebnis nach rein metaphysisch; offenbarungstheologische oder anderweitig konfessionell gestützte Annahmen gehen nicht in ihn ein. Diese Bedingung muss erfüllt sein, um sagen zu können, dass die hier nachgezeichneten Wege zur Einsicht in die Existenz einer ersten, geistigen Seins­ursache ins Gebiet der Natürlichen Theologie und damit der Philosophie gehören und nicht etwa in eine ‚übernatürliche‘, d. h. konfessionell gebundene Theologie. Gleichzeitig kann so der effektive Nachweis erbracht werden, dass Natürliche Theologie möglich ist, dass Philosophie in diesem Themenbereich mehr sein kann als Religionsphilosophie. Damit stellt sich aber die Frage, wie Natürliche Theologie zu Religionsphilosophie einerseits, zur konfessionell gebundenen Theologie andererseits steht und wie sie sich zur Vielfalt religiöser Bekenntnisse und Orientierungen verhält. Bevor komplexe Fragen wie diese besprochen werden können, ist allerdings noch ein grundlegendes internes Problem der Natürlichen Theologie zu erörtern, welches bisher nur mitlaufend berücksichtigt werden konnte, nämlich das der Theodizee. Viele Autoren halten diese Problematik für den eigentlichen Prüfstein der Natürlichen Theologie überhaupt.1 Man kann den Theodizee-Einwand in Form eines einfachen Syllogismus im modus tollens repräsentieren: (i) Wenn Gott existierte, dann gäbe es nichts Schlechtes in der Welt. (ii) Es gibt Schlechtes in der Welt. (iii) Gott existiert nicht. Dies ist eben die Form, in der Thomas von Aquin das Argument vorstellt.2 Seine Kraft bezieht es daher, dass die Natürliche Theologie die beiden Prämissen nicht abweisen kann. Denn der Terminus ‚Gott‘ wird hier in eben der Weise   Vgl. Weidemann 2007.   STh I, q.  2 a.  3, 1.

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VII.  Probleme der Natürlichen Theologie

verwendet, wie sie ihn auffasst, nämlich als allwissendes, unbeschränkt mächtiges und vollendet gutes Wesen.3 In dieser Bedeutung geht der Ausdruck ins Antezedens von (i) ein. Nun kann einem schlechthin allwissenden Wesen nichts Schlechtes verborgen bleiben. Und ein vollendet gutes Wesen wird nichts Schlechtes dulden, wenn es die Macht hat, es zu bessern oder zu beseitigen.4 Dass Gott eben diese Macht besitzen muss, ist im Allmachtsattribut logisch enthalten. Das aber heißt, dass das Konsequens vom Antezedens streng impliziert wird. (ii) benennt nun eine allgemeine Tatsache, die eine Natürliche Theologie nicht bestreiten sollte. Dass zumindest manches von dem, was uns in der Welt schlecht erscheint, auch tatsächlich schlecht, ein physisches Übel oder moralisch verwerflich ist, sollte nicht geleugnet oder schöngeredet werden.5 Denn wer das tut, entzieht in der Konsequenz jeglichem moralischen oder überhaupt evaluativen Urteil den Boden. Das heißt aber, dass (ii) logisch unvereinbar mit (i) ist. Da sich die Wahrheit von (ii) aber nicht sinnvoll bestreiten lässt, scheint der Natürlichen Theologie kein anderer Weg zu bleiben, als das Antezedens von (i) zu negieren, und eben dies ergibt die Konklusion des Arguments. Damit scheint die Natürliche Theologie aber nur aus einem Satz zu bestehen, nämlich dass Gott nicht existiert. Sie könnte demnach nicht mehr tun, als die allgemeinen metaphysischen Folgen aus diesem Satz zu entwickeln. Sie wäre damit in einem platten Sinn negative Theologie. Für die Natürliche Theologie wäre wenig damit gewonnen, dass sie das Konsequens von (i) modifiziert. Sagte sie z. B., dass die Vollkommenheiten Gottes sehr wohl damit vereinbar sein könnten, dass es Schlechtes in der Welt gebe, nämlich dann, wenn dieses Schlechte entweder sehr geringfügig oder notwendige Bedingung eines das Schlechte mehr als aufwiegenden Guten wäre – das theologische Standardbeispiel ist der Verrat des Judas als Bedingung für den Opfertod Jesu – , und dass alles Schlechte in der Welt von einer dieser beiden Arten sei, dann kann man dem wohl entgegenhalten, dass ein wahrhaft allmächtiges Wesen doch das Vermögen besitzen müsste, die fraglichen Güter 3   Gegen Dalferth 2008, S.  11, der einwendet, Gott müsse nicht als ens perfectissimum aufgefasst werden. Dass er faktisch nicht in allen monotheistischen Traditionen so aufgefasst wird, zählt nicht im Kontext der Natürlichen Theologie, wo es vielmehr um die Frage geht, wie Gott vernünftigerweise aufgefasst werden muss. 4   Viele Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von der moralischen Vollkommenheit Gottes, so auch Weidemann 2007, S.  172. Gemeint ist damit, dass Gott als Akteur verstanden wird, dessen Handeln den höchsten moralischen Standards der Handlungsbeurteilung notwendig genügt. So verstanden wird hier ein Kernprinzip Natürlicher Theologie artikuliert. Die Rede von der moralischen Güte Gottes ist dennoch zumindest insofern unglücklich, als Gott in der Natürlichen Theologie gerade nicht als moralischer Akteur aufgefasst werden kann, d. h. als Akteur, dessen Handeln sich an allgemeinen Standards des Richtigen und Guten orientiert, sondern ganz umgekehrt gerade als erste Quelle solcher Standards gedacht werden muss. 5   Weidemanns Polemik gegen solche Versuche verdient daher volle Zustimmung; vgl. Weidemann 2007, S.  368 ff.

1.  Theodizee als Problem der Natürlichen Theologie

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auch ohne Übel herbeizuführen und selbst geringfügige Übel ganz zu vermeiden. 6 Angesichts dieser Überlegung scheint die Affirmation von (iii) rational geboten zu sein.7 Im Lichte der hier angestellten Untersuchung muss diese Konklusion aber zumindest übereilt erscheinen. Denn die untersuchten Argumente für die Existenz Gottes besitzen ihrerseits einiges theoretisches Gewicht und können in der Theodizee-Debatte nicht einfach ignoriert werden. Dabei geht es nicht allein um die Einsicht in die tatsächliche Begrenztheit der Kritik Kants an theo­ retischen Argumenten für die Existenz Gottes, sondern auch um die Würdigung der Tatsache, dass der Atheismus gravierende Konsequenzen für die allgemeine Ontologie und die Erkenntnistheorie und damit für die Grundlagen der Wissenschaft hat. 8 Dass die Theodizee-Problematik uns rational nötigt, diesen Preis zu zahlen, ist keineswegs evident. Denn zunächst einmal ist das Schlechte eine komplexe Herausforderung für die Philosophie überhaupt, insbesondere aber für die allgemeine Ontologie. Deshalb ist größte theoretische Umsicht beim Herangehen an die Problematik gefordert. Diese muss schon damit beginnen, dass sorgfältig zwischen dem Schlechten und dem bloß Unvollkommenen unterschieden wird, ferner zwischen dem inhärent und dem in einer gewissen Hinsicht Schlechten, schließlich zwischen dem physisch oder natürlich Schlechten, dem Üblen, und dem moralisch Schlechten, dem Bösen. Oben in V 3 wurde Thomas von Aquins Behandlung der Theodizee des natürlich Unvollkommenen und des Üblen als Muster einer umsichtigen Erörterung dieses Teils des Problems vorgestellt. Damit sollte nicht suggeriert werden, dass das Problem natürlicher Übel hier schon gelöst wäre. Es ging eher darum, eine vorbildliche Untersuchungsstrategie aufzuzeigen, mit der die mannigfaltigen Gestalten des Schlechten, Mangelhaften oder Privativen zunächst einmal in den Rahmen einer allgemeinen Ontologie eingeordnet werden können. Das ist eine notwendige Voraussetzung dafür, sie überhaupt auf methodisch geordnete Weise als Gesichtspunkte in der Theodizee-Debatte geltend machen zu können. Wer daher meint, er könne allein auf eine intuitive Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Schlechten gestützt und ohne eine hinreichend ausdifferenzierte Ontologie des Schlechten diese Debatte führen, begeht einen durchaus schwerwiegenden methodischen 6   Vgl. ebd., Kap.  3, für eine ausführliche und komplexe Entfaltung der Dialektik des Theodizee-Arguments. 7   Everitt hält daher die Existenz eines allwissenden, allmächtigen und vollkommen guten Wesens für in sich widersprüchlich und damit für streng unmöglich. Vgl. Everitt 2004, S.  303. 8   Darin scheint mir auch eine schwerwiegende systematische Schwäche der Arbeit Weidemanns zu liegen. Dieser geht mit einem kursorischen Hinweis auf Hume und Kant über das Problem der Gottesbeweise hinweg, ohne dann diesen Hauptteil der Natürlichen Theologie noch genauer zu betrachten; vgl. ebd., S.  45. Systematische Gleichgültigkeit gegenüber ontologischen Fragen durchzieht dann auch die gesamte Theodizee-Diskussion im Zentrum seiner Arbeit.

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VII.  Probleme der Natürlichen Theologie

Fehler. Darin liegt das zumindest relative Recht von Spinozas Zurückweisung der Theodizee-Debatte.9 Dabei scheint es auf den ersten Blick, als sei es leichter, die Möglichkeit des Bösen mit den göttlichen Vollkommenheiten zu vereinbaren als die Möglichkeit des Üblen. Denn wenn man zugesteht, dass die geistige Freiheit des Menschen, welche die Freiheit des Willens begrifflich einschließen muss, ihrerseits ein hohes Gut ist, dann lässt sich sehr wohl mit Leibniz argumentieren, dass die Ermöglichung dieses Guten viel Schlechtes aufwiegt, welches damit untrennbar verbunden ist. Aber die Möglichkeit des Bösen ist untrennbar mit endlicher geistiger Freiheit verbunden, da Willensfreiheit die Möglichkeit zu implizieren scheint, böse zu handeln. Also ist es, so scheint zu folgen, mit der Allwissenheit, Allmacht und Güte Gottes vereinbar, dass er das Böse zulässt, um Raum für menschliche praktische Selbstbestimmung zu lassen. Genauso beweist ein weiser Regent seine Macht häufig gerade dadurch am überzeugendsten, dass er auf die strikte Durchsetzung seines Willens verzichtet und um der Freiheitlichkeit der Gesamtordnung willen Verhaltensweisen duldet, die ihm persönlich zuwider sind. Viel schwerer einsehbar scheint dagegen zu sein, dass Übel wie Krankheiten oder Naturkatastrophen in einer auf einen vollkommenen Schöpfer zurückgehenden Naturordnung einen Platz haben können. Scheint es doch, als müsse ein solcher Schöpfer genauso gut eine von natürlichen Übeln freie Natur schaffen können, zumal er als nicht neidisch begriffen werden muss, d. h. als ein Wesen, das anderen alles erdenklich Gute gönnt.10 Man muss diesen Gedanken nicht bis zu der von Brentano ironisch kommentierten Behauptung Johann Gustav Vogts übersteigern, dass die menschliche Physiologie so mangelhaft sei, dass man die Leistung ihres Herstellers reklamieren müsste, wenn es einen gäbe.11 Denn auch wer die natürliche Zweckmäßigkeit der mannigfaltigen Formen des Lebendigen und ihrer physiologischen Organisation anerkennt und bewundert, scheint dadurch noch nicht gezwungen zu sein, die Anfälligkeit von Lebewesen für Privationen ihres Lebensvollzugs als unvermeidlich zu akzeptieren,12 von katastrophalen Ereignissen wie Seuchen, Erdbeben oder Sturmfluten ganz zu schwei Vgl. Ethik I, Scholium.   Vgl. die Diskussion dieser Frage in STh I, q.  25 a.  6 , zur Neidfreiheit Gottes bes. 2, unter Berufung auf Augustinus. 11   Vgl. Brentano 1929, S.  283. 12   Es ist übrigens ganz abwegig, den Begriff der Privation mit Dalferth letztlich als bloßen Ausdruck „unserer Einstellung zur Welt“ bzw. zu bestimmten innerweltlichen Phänomenen zu deuten und nicht als robusten ontologischen Begriff; vgl. Dalferth 2008, S.  127. Eine solche Deutung läuft auf eine Abkehr vom traditionellen Privationsgedanken hinaus und nicht auf dessen reflektierte Aneignung. Sie ist auch nicht durch die Einsicht in die logische Differenz von Privation und Negation geboten, auf die Dalferth zu Recht hinweist. Es verhält sich hiermit gerade umgekehrt: Negation ist primär ein Denkakt; Privation findet sich primär im Seienden. In letzter Konsequenz läuft die Einstellungstheorie der Privation auf eine Trivialisierung des Theodizee-Problems hinaus. 9

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gen, durch die ganze Populationen und manchmal wohl auch ganze Spezies ausgerottet werden. Sofern auch Menschen als Naturwesen von Übeln betroffen sind, ergibt sich ein weiterer Aspekt der Theodizee-Problematik daraus, dass diese nicht sinnvoll als göttliche Strafen für begangenes Unrecht gedeutet werden können, da sie auch Gerechte treffen können, wie schon das Buch Hiob vorführt. Andererseits ist der Gedanke, dass Gott ebenso gut eine Welt ohne natürliche Übel hätte schaffen können, schon immer als Hybris empfunden worden, und diese Empfindung motiviert auch Brentanos Erwiderung auf Vogt. Diese Empfindung lässt sich mit Thomas durchaus vernünftig begründen. Denn es scheint tatsächlich methodisch verfrüht und nicht gerechtfertigt, mit einer solchen Behauptung aufzuwarten, ohne bereits die Ordnung des Seins und der Natur im Zuge eines gründlichen ontologischen Studiums erforscht und die damit verbundenen natürlichen Notwendigkeiten eingehend betrachtet zu haben. Bloße Denkbarkeiten sind hier wie überall in der Ontologie trügerische Ratgeber, auch dann, wenn sie sich auf raffiniert konstruierte Gedankenexperimente stützen. Wer ohne naturontologische Grundlage behauptet, dass die natürliche Welt besser geordnet sein könnte, als sie es ist, redet letztlich bloß anmaßend. Das gilt umgekehrt allerdings auch für den, der ohne vorausgehende ontologische Forschung erwidert, dass die vorfindliche Seinsordnung die beste aller möglichen und denkbaren sei. Als bloße Annahme oder Setzung hat eine solche Aussage keinerlei argumentativen Wert. Damit ist das Problem der natürlichen Übel zwar nicht einmal im Ansatz gelöst; es ist aber zumindest angedeutet, auf welchem Weg es einer Lösung zugeführt werden kann. Eine gründliche Naturontologie müsste diese Frage gewissermaßen mitlaufend klären, indem sie den Ort und die Möglichkeit natürlicher Übel im Seienden bestimmt, statt sie in übereilter Rechtfertigung Gottes bloß wegzuerklären. Eine Theodizee der Übel ist nicht allein mit Mitteln der Natürlichen Theologie zu leisten, aber auch keine Sonderaufgabe der allgemeinen Metaphysik, sondern kann sich nur aus ihrer ontologischen Erklärung selbst ergeben. Für die Natürliche Theologie bedeutet das zunächst einmal weniger, als man zunächst glauben mag. Allerdings ist es auch hier erforderlich, zwischen dem Begriff der Allmacht und bloß subjektiven Vorstellungen von Allmacht zu unterscheiden. Leibniz13 und nach ihm Swinburne14 weisen zu Recht darauf hin, dass Gottes Allmacht und Freiheit nicht dadurch beschränkt wird, dass er unmöglich unlogisch agieren kann, dass er z. B. Geschehenes nicht ungeschehen machen kann. Die Logik kann Freiheit und Macht nicht beschränken; sie beschreibt vielmehr die Sphäre, in der sich beides aktualisiert. Doch möglicherweise gilt etwas Analoges für ontologische Notwendigkeiten wie für  Vgl. Theodizee, Einleitung, S.  35.   Vgl. Swinburne 1993, S.  153–166.

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VII.  Probleme der Natürlichen Theologie

logische. Dass nicht Beliebiges auf beliebige Weise geschaffen werden kann, stellt womöglich keine Einschränkung der Macht des Schaffenden dar. Zur Ordnung des Natürlichen gehören die Möglichkeiten der Privation seiner Formen und Funktionen erkennbar dazu, da sie in dieser Ordnung selbst angelegt sind. Und es gehört, wie schon Thomas argumentiert, zur Ontologie des Möglichen, dass es zumindest hin und wieder aktualisiert wird. Diesen Zusammenhang zu begreifen muss eine Kernaufgabe der allgemeinen Ontologie sein und bleiben. Eine Theodizee des Bösen ist auf den zweiten Blick ebenfalls nicht so leicht durchführbar, wie es auf den ersten Blick scheint.15 Das liegt nicht so sehr an der faktischen Quantität böser Taten und auch nicht primär an der horrenden Dimension mancher Großverbrechen aus der Geschichte der Menschheit. Es liegt vielmehr an der Unverständlichkeit des Bösen selbst. Denn es ist eine Sache einzusehen, dass Willensfreiheit die Möglichkeit des bösen Handelns einschließt, und eine ganz andere Sache zu erklären, warum tatsächlich böse gehandelt wird.16 Diese Problematik sieht bereits Platon, wenn er lehrt, dass niemand wissentlich und damit willentlich das Schlechte tut.17 Das heißt, niemand tut etwas, was er für schlecht oder böse hält, es sei denn, er meint, keine bessere Alternative zu haben. Das heißt im Umkehrschluss, dass eine schlecht handelnde Person nur deswegen so handelt, wie sie es tut, weil sie ihr Handeln für gut oder zumindest für das bestmögliche hält. Das scheint aber zu implizieren, dass es böses Handeln gar nicht geben kann, sondern nur subjektiv für gut und richtig gehaltenes schlechtes. Theologisch reflektiert sich dieser Gedankenzusammenhang in dem Satz, dass Gott unfähig zu schlechtem Handeln ist, da ein Handeln aus Unwissenheit bei ihm ausgeschlossen werden kann.18 Nun hat Aristoteles gegen Platon die Möglichkeit der akrasia, der Unbeherrschtheit oder Willensschwäche nachgewiesen.19 Auch geht er durchaus davon aus, dass es nicht allein unbeherrschtes Handeln, sondern auch Handeln aus Bosheit oder Verdorbenheit gibt. Aber dessen Möglichkeit bleibt auch bei Aristoteles unaufgeklärt, da er nicht erläutert, wie der Mensch als ein von Natur aus nach dem Guten strebendes Wesen sich daran gewöhnen kann, schlecht bzw. gleichgültig gegen die Differenz von Gut und Schlecht zu handeln. Damit gelangt er in der hier entscheidenden Frage nicht über Platon hinaus, sondern hält gerade an dem platonischen Paradox fest, dass niemand willentlich Schlechtes tut, dass es böses Handeln aber dennoch gibt.

15   Vgl. auch Dalferth 2008, S.  236 f. Leider verfolgt die dort vorgetragene Erörterung im Folgenden den zunächst entwickelten systematischen Punkt nicht weiter. 16   Vgl. auch Heidegger 1995, S.  144 f. 17  Vgl. Protagoras 345, Menon 77. 18  Vgl. Proslogion VII. 19  Vgl. NE Θ.

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Man kann das platonische Prinzip als ein grundlegendes praktisches Vernunftprinzip interpretieren: Das Schlechte kann nicht auf vernünftige Weise als schlecht erstrebt oder vollzogen werden. Dann verschiebt sich die Frage nach dem Bösen hin zur Frage nach einer bestimmten Gattung des praktisch Unvernünftigen. Dabei muss es sich um einen Defekt in der endlichen praktischen Vernunft selbst handeln; die Sinnlichkeit als solche kann nicht erste Ursache des Bösen sein, wie auch Kant in partieller Revision früherer Ansichten in seiner Religionsschrift einräumt.20 Die Möglichkeit einer Privation der Vernunft muss im Wesen der endlichen praktischen Vernunft selbst angelegt sein. In der biblischen und der von der Bibel ausgehenden Mythologie wird dieser Gedanke in der Geschichte von einem gefallenen Engel als Ursprung alles Bösen widergespiegelt: Ein defizitäres geistiges Wesen ist erste Ursache alles Bösen, und seine Bosheit besteht ursprünglich in einem rein geistigen Laster, nämlich Hochmut und Neid, die beide unabhängig sind von sinnlichen Begierden.21 Weil und nur weil es sich dabei um genuin geistige Laster handelt, ist auch der Mensch im Stand der Unschuld anfällig dafür, so die traditionelle Auskunft. Aber es ist nicht leicht zu verstehen, auf welche Weise solche Laster der Möglichkeit nach in der praktischen Vernunft selbst angelegt sein sollen, und zwar so, dass sie auf ihre Aktualisierung drängen, auf hochmütiges und neidisches Denken und Handeln. Die Schwierigkeit besteht darin zu verstehen, um was für eine Art von Privation des Geistes oder der Vernunft es sich bei einem geistigen Laster handelt. Offenbar geht es nicht bloß um eine Privation im allgemeinen Sinn eines Mangels. Ein solcher Mangel an praktischer Vernunft liegt vor, wenn ein Mensch praktisch dumm oder unklug ist, wenn sein praktisches Denken und sein Handeln von einem Mangel an Urteilskraft zeugt. Aber Hochmut oder Neid sind von praktischer Dummheit grundverschieden, auch wenn die Urteile und Handlungen dummer und hochmütiger oder neidischer Personen häufig ähnlich ausfallen mögen. Dummheit ist eine mögliche Ursache für praktische Unwissenheit im platonischen Sinn. Sie ist eine geistige Beschränktheit, die nicht eigentlich böse ist, obwohl sie wegen der ähnlichen Konsequenzen oft ebenfalls als Bosheit bezeichnet wird. Genuine Bosheit scheint dagegen keine einfache geistige Einschränkung zu sein, sondern eine der Vernunft zuwiderlaufende eigene geistige Kraft, kein Mangel an Vernunft, sondern eine Verkehrung der Vernunft, scholastisch gesprochen nicht so sehr privatio als vielmehr perversio vernünftigen Wollens.22 Als Widervernunft ist sie dennoch etwas Unvernünftiges, aber nicht als Mangel, sondern als Verkehrtheit. Man kann das Böse daher

 Vgl. RGV A 18–24.  Vgl. STh I, q.  63 a.  2. 22   Vgl. Dalferth 2008, S.  216. 20 21

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VII.  Probleme der Natürlichen Theologie

nicht einfach unter den allgemeinen Begriff des Privativen subsumieren und die Theodizee des Üblen auf das Böse übertragen. Aber die begrifflichen Verhältnisse sind kompliziert. Denn Verkehrtheit ist zwar kein einfacher Mangel, hat aber mit einem Mangel zu tun, nämlich einem Mangel an Ordnung. Das ist nicht nichts, sondern etwas Bestimmtes: An die Stelle der rechten Ordnung tritt nicht Chaos, sondern eine verkehrte Ordnung, in der zum Prinzip wird, was seiner Natur nach nur nachgeordnet sein kann. Gerade an den Lastern des Hochmuts und des Neides lässt sich das verdeutlichen. Hochmut ist die Überschätzung der eigenen Person und ihrer Fähigkeiten und Vorzüge, Neid die Missgunst auf die verdienten Güter und den berechtigten Erfolg anderer. Zu beiden ist nur ein geistiges Wesen fähig. Hochmut ist Tieren unmöglich, und sozial lebende Tiere entwickeln allenfalls Eifersucht, aber keinen Neid. Zu beidem ist nämlich die Fähigkeit erforderlich, eigene und fremde Fähigkeiten, Güter und Erfolge zu vergleichen und auf ihre Verhältnismäßigkeit abzuschätzen, und das ist eine vernünftige Fähigkeit. Praktische Selbst- und Fremdbeurteilung erfordert Vernunft, denn sie misst eigene und fremde Handlungen, Fähigkeiten, Erfolge und Misserfolge an einem normativen Maßstab, und das ist eine Leistung der Vernunft. Wer hier richtig urteilt, der kennt das richtige Maß; d. h. er verfügt über die Tugend der Gerechtigkeit. Beim Stolzen (megalopsychos) geht dieses Vermögen so weit, dass er in der Lage ist, sich selbst auch unabhängig vom Urteil seiner Mitmenschen richtig zu beurteilen, aber diese Tugend ist unter Menschen nur sehr selten anzutreffen, wie Aristoteles lehrt, und dann nimmt sie meist gerade die Gestalt der Bescheidenheit an, da gerade der Stolze weiß, wie viel er anderen verdankt. 23 Auch können wir uns Selbstvorwürfe machen, aber uns nicht selbst vergeben; Selbstvergebung ist schon ein Akt des Hochmuts. Der Hochmütige hält seine Kompetenzen und Befugnisse für seinen Fähigkeiten nicht angemessen; er schätzt fremde Leistungen geringer und eigene höher ein, als sie jeweils sind. Anders als der Eitle will er darum nicht gefallen und nicht geliebt, sondern bewundert und gefürchtet werden, da er seine Mitwelt nicht liebt, sondern verachtet. Daraus entspringt der Neid als den Hochmut begleitendes Laster, da der Hochmütige fremden Erfolg tendenziell nicht akzeptiert. Nun scheint es, als sei diese Art von Laster doch eine Art von praktischer Dummheit insofern, als sein Träger unfähig zu einer vernünftigen und richtigen Selbst- und Fremdbeurteilung ist. Doch dieser Einwand verkennt, dass das Laster des Hochmuts selbst habituell ist, im Unterschied zu allgemeiner praktischer Urteilsschwäche, also Irrtumsanfälligkeit in Fragen der Selbst- und Fremdbeurteilung. Die praktisch urteilsschwache Person beurteilt andere wohl auch einmal richtig, wenn auch akzidentell, so wie praktisch urteilsfähige Men Vgl. NE Δ 8, 1124 b f.

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schen, also Personen mit hinreichender Menschenkenntnis, sich auch einmal in anderen irren können. Der Hochmütige und Neidische dagegen beurteilt sich und andere gewohnheits- und neigungsgemäß verkehrt und damit aus einem gänzlich anderen Grund. Eine solche Neigung zum falschen Urteil ist schwer zu begreifen; sie wäre aber ganz unbegreiflich, wenn sie nicht einen Seinsgrund in der Vernunft hätte. Einen solchen Grund kann sie aber nur dadurch haben, dass sie der Vernunft entspringt.24 Der Hochmütige und Neidische aktualisiert in seinem hochmütigen und neidischen Denken und Handeln seine Vernunft. Der relevante Zug daran ist aber nicht, dass er überhaupt urteilt; das tut auch der Urteilsschwache. Relevant am hochmütigen und neidischen Denken und Handeln ist vielmehr, dass ihm ein Urteil zu Grunde liegt, in dem der Urteilsmaßstab selbst mitgesetzt wird. Der Hochmütige und Neidische urteilt nach seinem eigenen Maßstab, da er einen anderen nicht akzeptiert. Die vernünftige Wurzel dieser Haltung liegt darin, dass das Urteilen seiner Natur nach ein eigenständiger und eigenverantwortlicher Akt ist, dass man also nur nach den Maßstäben urteilen kann, die man selbst für richtig hält. Angesichts dieser Tatsache ist es für ein endliches denkendes Wesen ein Gebot der Gründlichkeit, sich Maßstäbe des vermeintlich richtigen Urteilens nicht unüberprüft vorgeben zu lassen und sich unkritisch anzueignen. Insofern tut der Hochmütige und Neidische etwas Vernünftiges, wenn er nach eigenen Maßstäben urteilt. Er denkt und urteilt aber unvernünftig, wenn er meint, diese Maßstäbe selbst setzen und in letzter Instanz als gültig beurteilen zu können. Genau dieser Zug ist widervernünftig, da der Vernünftige einsieht, dass der Maßstab seines Denkens und Handeln subjekttranszendent und damit für ihn selbst unverfügbar ist. In der theologischen Mythologie wird die Sünde Satans genauso beschrieben: Er ist der Engel Luzifer, der sein will wie Gott, d. h. das für sich beansprucht, was allein Gott zusteht, nämlich zu bestimmen, was das Gute und was das Schlechte ist, und nicht bloß Gutes von Schlechtem zu unterscheiden, was Engel und Menschen ihrer Natur nach können. Genau mit dem gleichen Versprechen, nämlich zu werden wie Gott und erkennen, d. h. bestimmen zu können, was das Gute und was das Böse oder Schlechte ist, verführt er dann auch den Menschen. (Gen. 3, 4) Dass der Mensch für diese Verführung anfällig ist,

24   Dies ist das Problemniveau, bis zu dem Augustinus, Anselm in Cur Deus homo, Thomas von Aquin in der Summa Theologiae, Kant in seiner Religionsschrift und Schelling in der Freiheitsschrift die Frage nach dem Bösen vorantreiben. Eine philosophiehistorische Studie wie die Susan Neimans muss diese Frage von Anfang an verfehlen, indem sie bloß nach von Philosophen artikulierten Haltungen zum innerweltlich Bösen fragt und nicht danach, was das Böse ist. Es spricht für sich, dass die Autorin auf eine Auseinandersetzung mit Schelling von vornherein verzichtet, so dass von den genannten Denkern allein Kant in das Blickfeld ihrer Studie kommt, und zwar vor allem als Vertreter einer insgesamt optimistischen Geschichtsphilosophie und nicht so sehr als Theoretiker der Aporien des Bösen. Vgl. Neiman 2002, Einleitung.

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liegt in seiner Vernunftnatur und dem darin gegründeten Streben nach Selbständigkeit und eigenem Urteil oder, wenn man so will, nach Autonomie. Die schillernde Semantik des Autonomiebegriffs wirft zusätzlich Licht auf die Problematik des Bösen. Denn Autonomie, also Selbstgesetzgebung, kann zum einen heißen, dass man einem Gesetz folgt, weil man es als gültig anerkennt, und nicht aus bloßem Zwang, also heteronom. Dies ist grosso modo Kants Autonomiebegriff. Autonomie kann aber auch Selbstgesetzgebung in einem sehr viel stärkeren Sinn meinen, nämlich im Sinne der willentlichen und eigenständigen Setzung eines Gesetzes. Viele Denker, die sich auf Kants Autonomiebegriff berufen, denken sich die Etablierung moralischer Prinzipien nach dem Muster positiven Rechts. Demnach wäre ein Akteur oder auch eine Handlungs- und Lebensgemeinschaft moralisch autonom in dem Sinne, dass sie sich ihre moralischen Prinzipien selbst gibt, so wie sich eine politische Gemeinschaft im Zuge von Rechtssetzungsprozeduren ihre Gesetze gibt. Dabei wird die fundamentale Disanalogie zwischen Moral und gesetztem Recht übersehen: Rechtsgesetze müssen, moralische Prinzipien können dagegen nicht prozedural festgelegt und in Kraft gesetzt werden. Wer das nicht sieht, hat bereits ein ‚böses‘ Moralverständnis, sofern er die Moral für ein bloßes „Machwerk“ des Menschen hält.25 Das Luzifer-Gleichnis sagt auch, dass Hochmut und daraus resultierender Neid Gefährdungen eines Wesens sind, das zum Herrschen fähig und bestimmt ist und nicht zur Unterwerfung. Es handelt sich um herrscherliche Laster, anders als der schlichte Neid des subalternen Geistes, der sich nur auf den Nächsthöheren oder Nächstbesseren richtet und nicht auf den Höchsten und Besten. Herrschaftliche Demut als Herrschertugend zeigt sich im Kontrast dazu gerade im freiwilligen Verzicht auf Machtausübung, in der Selbstbeschränkung der Machtmittel und in der Selbstunterwerfung unter eine höhere Ordnung. 26 Deswegen gelten auch Milde und Nachsicht zu Recht als Herrschertugenden. Zum Herrschen bestimmt kann aber nur ein solches Vernunftwesen sein, dessen Vernunftbegabung hinreichend stark ist. Deswegen kann Hochmut aus begriff-

  PO, S.  417. Dies ist der systematische Grund dafür, dass Schelling Kants Moralphilosophie als in letzter Konsequenz böse ansieht, auch wenn die zu Grunde gelegte Lesart nicht ganz fair sein mag. In jedem Fall wird so aber ein interessantes Licht auf das Projekt der Diskursethik geworfen. Deren ausdrückliches Ziel ist es ja, Diskursregeln zu beschreiben, deren Einhaltung den Ergebnissen einer diskursiven Aushandlung moralischer Normen Geltung und Verbindlichkeit verschafft. Dass moralische Normen ein Gegenstand prozeduraler Aushandlung und Festsetzung sind, gehört zu den Grundvoraussetzungen dieser Theorie. Sie ist damit von Schellings Kritik direkt betroffen. 26  Dass eine solche demütige Selbstunterwerfung lediglich simuliert oder – schlimmer noch – in radikaler Selbsttäuschung sogar autosuggestiv geglaubt werden kann wie im berüchtigten Fall von Hitlers Selbstbeurteilung als Agent der Vorsehung, steht auf einem anderen Blatt. Vorgetäuschte Selbstunterwerfung ist hier gerade die Vollendung der Hybris. 25

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lichen Gründen nicht als eine Spielart praktischer Dummheit angesehen werden. Ob Hochmut, Hybris, tatsächlich als erstes Laster und als Ursprung aller Laster und alles Bösen angesehen werden kann, d. h. als erster Grund des moralisch Schlechten, wie nicht erst die christliche Tradition überzeugt war, muss einer allgemeinen Ontologie des Schlechten und Bösen zu untersuchen überlassen bleiben. In diesem Sinne käme Hochmut insofern vor dem Fall, als der hochmütige Akt selbst identisch mit dem Fall, d. h. mit dem Eintritt in Laster und Sünde wäre. Eine solche Ontologie des Un- und Widermoralischen kann hier nicht geleistet werden. Allgemein lässt sich aber konstatieren, dass das Böse, wenn der Hochmut zumindest als Paradigma des Bösen angesehen werden darf, der Tat nach einen Exzess der Autonomie generiert, dem Grund nach aber auf einer Perversion, einer verkehrten Ordnung des Denkens beruht, indem er das, was ein formales Prinzip des rechten Urteilens ist – die Selbständigkeit –, zum materialen Grund des Urteilsgehalts macht. Aus ‚Ich urteile (nach bestem Wissen und Gewissen), dass p‘, wird im hochmütigen Urteil ‚Ich setze fest, dass p‘. Eine solche Perversion des Urteils ist kein Ausdruck einer einfachen Privation der Vernunft. Sie ist ein besonderer Mangel, nämlich ein Mangel an ‚gerader‘, richtiger Vernunft. Insofern gleicht das Böse einer Erkrankung, die – anders als ein bloßer körperlicher Defekt – nicht einfach die Abwesenheit von etwas ist, das anwesend sein sollte, sondern die Abwesenheit der richtigen Ordnung durch die Anwesenheit oder zumindest Dominanz von etwas, das nicht anwesend oder nicht dominant sein sollte.27 Die Perversion erweist sich damit als eine komplexe Spezifikation des Privativen, als ein Fehler, dem eine gewisse eigene Bestimmtheit zukommt. Das Böse ist nicht nur die Abwesenheit des Guten und damit ein Fehlen der Form, sondern die Anwesenheit von etwas das Gute Ausschließendem und damit etwas Formwidriges. Die Schwierigkeit besteht darin zu begreifen, wie es aus freien Stücken, aus dem eigenen Willen heraus ergriffen wird, ohne dabei entweder in einen haltlosen Manichäismus oder in einen die Vernunft aufhebenden Determinismus zu verfallen. Denn das Böse ist ein Signum der Freiheit. Das folgt bereits aus der Bestimmung der in der Vernunft gründenden Vermögen bei Aristoteles, der lehrt, dass diese immer auf Gegensätzliches gehen, wenn auch nicht auf die gleiche Weise.28 Das impliziert bereits, dass der Wille (boulesis) sich auf Gutes und Böses richten kann, wenn auch nicht in der gleichen Weise. Das ist eine ebenso platonische wie anti-manichäische Formel, aber es ist nicht ganz leicht, sie im Hinblick auf die freie Wahl des Bösen zu interpretieren. Denn damit die Wahl nicht einfach ak27   Schelling benutzt in der Freiheitsschrift (S.  19) die traditionelle Analogie zwischen dem Bösen und der Krankheit, um auf diese Entsprechung hinzuweisen, worauf auch Heidegger in seinem Kommentar aufmerksam macht; vgl. Heidegger 1995, S.  143, aber auch Oesterreich 2004. 28   Met. H 6, 1046 b 5.

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zidentell ist wie im Fall einer Handlung auf Grund eines praktischen Irrtums, muss sie in gewisser Weise auf das Schlechte als Schlechtes gehen, und eben dies ist die von Platon als unverständlich ausgeschlossene manichäische Position. Um diese Aporie zu vermeiden, muss das Böse dem menschlichen Willen als Versuchung entgegentreten, d. h. als eine attraktive Möglichkeit, der er aber widerstehen kann. Das verlangt, dass das Böse irgendetwas Gutes an sich hat, einen nachgeordneten Aspekt, der sich dem böse Handelnden aber als dominant aufdrängt. Nur so ist die Wahl des Bösen als frei denkbar, ohne dass die manichäische These folgte, dass es als Böses gewählt wird. Genau in diesem Sinne arbeitet Thomas von Aquin die aristotelische Handlungstheorie aus, ohne dabei das platonische Prinzip preiszugeben, dass das Schlechte im schlechten Handeln nicht als Schlechtes gewählt werden kann.29 Diesem Gedanken trägt auch die obige exemplarische Explikation des Hochmuts Rechnung, die darauf hinaus­läuft, dass das Denken des Hochmütigen aus der Struktur der Vernunft heraus explizierbar wird, ohne doch als vernünftig und damit gerechtfertigt zu erscheinen. Alles Böse hat seine Wurzel in etwas Vernünftigem, wie alles Schlechte seine Wurzel in etwas Gutem hat. Dennoch ist das Böse ein Böses und nicht gut, das Schlechte ein Schlechtes und nicht gut. Doch damit sind noch längst nicht alle Schwierigkeiten gelöst. Denn wenn das Böse dem Menschen als Versuchung entgegentreten kann, dann erhellt das noch nicht, warum manche Menschen ihr erliegen und andere nicht. Dass sie ihr erliegen können, liegt in der Natur der praktischen Vernunft als dem Grund der Freiheit; dass das manchmal tatsächlich geschieht, ist darin aber nicht anders enthalten als der Möglichkeit nach. Die Wirklichkeit des bösen Handelns, die Sünde gehört anscheinend zu den hinzunehmenden Schwächen der menschlichen Natur und überhaupt der endlichen Vernunft. Das gilt anscheinend ebenso für die Tatsache, dass verschieden geartete Menschen für unterschiedliche Versuchungen mehr oder weniger anfällig sind. Hier liegen die Hauptschwierigkeiten für jedes philosophische Verständnis der Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen. Es handelt sich um Probleme der Ontologie des Geistes. Wir sind damit an einen Punkt gelangt, der streng analog zum Problem der natürlichen Übel im Kontext der Theodizee-Problematik ist. Auch hier gilt: Ohne eine gründliche ontologische Klärung des (Un-)Wesens des Bösen lässt sich die Theodizee-Debatte über das Böse als Teil der Schöpfung nicht sinnvoll führen. Jede vorgreifende Theodizee-Debatte kommt hier zu früh. Mancher Ankläger des Schöpfers macht es sich auch in diesem Zusammenhang zu leicht, wenn er glaubt, ohne eine solche Klärung auskom-

 Vgl. STh I, q.  82 a.  2, ad 1.

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men zu können. Er will einen Sachverhalt beurteilen, noch bevor er ihn versteht.30 Allgemein lässt sich sagen, dass Ontologie im aristotelischen Sinn als ein offenes Forschungsprogramm aufgefasst werden sollte, welches aufruht auf einem breiten Fundament gemeinschaftlich akkumulierter Erfahrung. Aristoteles selbst legt seine Erste Philosophie so an, wenn er von der Kenntnis der Phänomene ebenso ausgeht wie von den Ansichten seiner großen Vorgänger, namentlich dem vorsokratischen Denken und von Platon. Jeder voreilige Apriorismus ist hier ebenso zu vermeiden wie ein forscher Skeptizismus, der die Aufgabe schon vor der Prüfung für undurchführbar erklärt. Allein die geduldige ontologische Forschung selbst kann hier über den Erfolg entscheiden. Genau diese Lehre sollte aus den erkenntnistheoretischen Überlegungen Descartes’ ebenso gezogen werden wie aus der ontologischen Anstrengung des Thomas von Aquin. Aber wird damit nicht auch die Natürliche Theologie unter Vorbehalt gestellt? Denn immerhin soll sie ja der Abschluss der Ontologie sein. Damit scheint sie aber insgesamt ebenso verfrüht zu kommen wie die Theodizee-Debatte. Denn könnte nicht die philosophische Forschung ergeben, dass zumindest der ontologische Schluss auf die Existenz eines rein aktualen ersten Prinzips bei Aristoteles und Thomas übereilt und im Lichte einer gründlicheren ontologischen Induktion zu revidieren ist? Dass das nicht möglich ist, zeigt eine erneute Besinnung auf die Ergebnisse der Natürlichen Theologie. Dabei ist nicht so entscheidend, dass durch eine solche vermeintliche Entdeckung das cartesische theistische Argument noch immer unangefochten bliebe, da es auf einem ebenso sparsamen wie evidenten ontologischen Prinzip beruht, nämlich dem der je eigenen Existenz als Denker. Viel wichtiger ist, dass die ontologische Reflexion des Verhältnisses von Aktualität und Potentialität, auf dem die Theologie des Aristoteles und des Thomas von Aquin beruht, so allgemein ist, dass sie robust gegenüber untergeordneten Umstellungen innerhalb der allgemeinen Ontologie bleibt. Das ist selbst ein Ergebnis der ontologischen Studien des Aristoteles: Mit den Begriffen von Akt und Potenz wird vor allem ein begrifflicher Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich jede überhaupt gehaltvolle allgemeine Ontologie bewegen muss. Einzig formale bzw. mathematische Theorien können auf einen dieser beiden Begriffe und Prinzipien verzichten bzw. davon abstrahieren und damit neutral gegenüber dem Kontrast bleiben.31 Sie abstrahieren vom Sein des Seienden, indem sie 30   Einer der Gründerväter ontologisch oberflächlicher Theodizee-Debatten ist ohne Zweifel David Hume mit den Dialogues, Teil 10 und 11. 31   Das gilt selbst für eine formale Semantik möglicher Welten, die Möglichkeiten als alternative, je aktuale Welten oder Weltzustände repräsentiert. Der relevante Kontrast wird hier in der Darstellung unsichtbar. Deswegen ist eine Theorie möglicher Welten keine Ontologie. Vgl. Oderberg 2007, Kap.  1.1.

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ihren Gegenstand unter einem anderen Aspekt betrachten, z. B. dem des Quantitativen.32 Damit verlassen sie aber das Gebiet der Ontologie.33 Jede Theorie, die für sich allgemeine ontologische Geltung beansprucht, muss dagegen Raum für den Akt-Potenz-Kontrast lassen; sonst handelt sie nicht vom Sein, sondern von etwas bloß Gedachtem oder Angenommenem. Wenn das aber stimmt, dann ist der Gedankengang, der zum Gedanken eines aktualen ersten Prinzips führt, unabweisbar. Selbst eine so gravierende alternative ontologische Theorie, wie sie der Nominalismus in seinen gemäßigten und radikalen Spielarten darstellt, also eine Theorie, welche Allgemeinbegriffen wie Gattung und selbst Art keinerlei Fundament im Sein zugesteht, muss eine Variante des Akt-Potenz-Gegensatzes ausbilden. Der gemäßigte Nominalismus lässt den Artbegriff als ontologisch signifikante formale Kategorie zu, der radikale nur den der einzelnen Substanz. Vom in sich inkohärenten modernen Hypernominalismus in der Nachfolge Goodmans oder Sellars’, der selbst der Kategorie der Einzelsubstanz oder des Individuums bloß logische, nicht aber ontologische Bedeutung zugesteht, soll hier nicht die Rede sein. Duns Scotus, immerhin einer der wichtigen Vorläufer des modernen nominalistischen Denkens, gelangt folgerichtig zur Anerkennung der Gültigkeit des Schlusses auf ein erstes, rein aktuales Bewegendes. Unter Druck gerät diese Anerkennung allerdings dadurch, dass Duns Scotus zugleich einen streng univoken Seinsbegriff fordert, unter den Gott und die Geschöpfe gleichermaßen fallen.34 Diese Forderung verschärfend folgert Ockham als radikaler Nominalist seinerseits konsequent, dass Gottes Existenz weder aus der Einheit der Welt noch aus der Tatsache der Bewegung gefolgert werden kann; dass sich damit die Ontologie als ganze zersetzt, ist bei Ockham ebenfalls mehr als deutlich.35 Dennoch streitet auch Ockham nicht ab, dass es

  Vgl. Balmès 2010.   Das gilt auch für das weite Feld der von Husserl so genannten regionalen Ontologien, z. B. des Lebendigen, des Politischen oder der Kunst; vgl. Ideen I, §  9. Auch hier ist sorgfältig zwischen eigentlich ontologischen Theorien und solchen zu unterscheiden, die vom Sein ihrer Gegenstände ausdrücklich abstrahieren und ihre theoretische Modellbildung auf Spezialaspekte abstellen, z. B. in den politischen Wissenschaften die Systemtheorie oder in den Kunst-, Sprach- und Kulturwissenschaften der Strukturalismus. Die Systemtheorie abstrahiert von den Akteuren und von der gesamten conditio humana, der Strukturalismus von Genese, Bedeutung, Weltbezug und anthropologischer Bedeutsamkeit der Zeichen und Objekte, die er modelliert. Beide betrachten bloße Strukturen; der Möglichkeitsbegriff Luhmanns und des Strukturalismus muss daher formal-logisch bleiben. Eine regionale Ontologie des Politischen oder der Zeichen kann auf diesem Weg unmöglich erreicht werden. Gerade Husserl selbst hält die Beachtung dieser Differenz für ein dringendes Erfordernis methodischer Strenge. 34  Vgl. Ordinatio I, d. 2 q.  1; zum Univozitätsprinzip ebd., d. 3 q.  1. 35  Vgl. Quodlibeta 1. In aller Deutlichkeit zeigt sich diese Zersetzung in Quines rein (prädikaten-)logischer Deutung von Existenz. Vgl. dazu Balmès 2010. Vor diesem Hintergrund muss es befremden, wenn Oppy sich – nach eigenem Eingeständnis ohne Argument – zu Quines These, dass ‚existieren‘ univok ist, bekennt. Immerhin scheint es doch, als könnte er sich dann eine ausführliche Diskussion der theologischen Positionen Descartes’ und des 32 33

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irgendein rein Aktuales geben muss, wenn es Bewegung und damit Potentialität gibt. A fortiori gilt das Gesagte für so genannte alternative Ontologien wie die Prozessontologie nach Bergson oder Whitehead. Ohne Rückgriff auf den Gegensatz von Akt und Potenz lässt sich schlicht nicht begreifen, was eine Bewegung oder ein Prozess ist, wie Aristoteles in der Metaphysik zeigen kann.36 Auch moderne Versuche, den Kausalbegriff zu vereinfachen, indem man auf die Erklärung mit Hilfe von Finalursachen verzichtet, über Formalursachen nicht mehr spricht und sich allein auf materiale und effiziente Ursachen beruft, können diesem Rahmen nichts anhaben. Ein univoker Kausalbegriff bringt viele Probleme innerhalb der allgemeinen Ontologie mit sich, vor allem in Hinblick auf das Verständnis von Handlungen und anderen Lebensprozessen, aber den Akt-Potenz-Kontrast kann das nicht affizieren, sondern er kehrt als Kontrast zwischen Wirkungen und Dispositionen wieder. Die Versuche im Umfeld des Wiener Kreises und der frühen Analytischen Philosophie, den Begriff der Disposition aus der philosophischen Terminologie zu eliminieren, haben sich als undurchführbar erwiesen. Was eine Wirkung ist, lässt sich ohne Rekurs auf modale Begriffe wie den der Disposition nicht erläutern, wie umgekehrt der Begriff der Disposition nicht ohne die Hinordnung auf Wirkungen (Akte) verständlich gemacht werden kann. Wenn das aber so ist, dann kann das alternative ontologische Denken allenfalls die Reflexion abbrechen, bevor es zur aristotelischen bzw. thomistischen Theologie gelangt. Es kann ihr aber nicht den Boden entziehen. Erst recht gilt dies für Ergebnisse und Thesen der naturwissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung. Diese kann ohne die Akt-Potenz-Unterscheidung in der einen oder anderen Abwandlung gar nicht auskommen, und auch andere Elemente der aristotelischen Ontologie wie die Unterscheidung von Seinsbereichen und von Arten und Gattungen des Seienden sind für naturwissenschaftliches Denken konstitutiv. Wo wissenschaftliche Hypothesenbildung ohne diese Begriffe auskommen zu können meint, muss sie sich rasch in Ambiguitäten oder Inkohärenzen verstricken. Insofern kann man Anthony Kenny und Anneliese Maier nicht zustimmen, wenn sie behaupten, dass die Natürliche Theologie bei Aristoteles und Thomas ihrem Wesen nach auf einer antiken und mittelalterlichen, mittlerweile aber obsoleten Naturauffassung beruhe.37 Die Akt-Potenz-Differenz ist naturwissenschaftlich robust. Für die allgemeine Ontologie lässt sich daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass Grundprobleme wie das oben angesprochene vielfältige Problem des Aquinaten sparen, da es keine gemeinsame logisch-ontologische Basis für eine solche Auseinandersetzung gibt. Vgl. Oppy 2006, S.  67. 36   Met. Θ 6–10. 37   Vgl. Maier 1960, S.  70, Kenny 1969, sowie dazu Elders 1990, S.  93 und 127, und te Velde 2006, S.  58.

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Schlechten nicht so sehr die ontologischen Prinzipien betreffen als vielmehr das diesen Prinzipien zugleich Unterstehende und ihnen potentiell Widerstreitende. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass die moderne naturwissenschaftliche Forschung, allen voran die physikalische, vom Problem eines adäquaten Verständnisses von Materie angetrieben wird, dem am meisten opaken Prinzip der aristotelischen Ontologie, opak aus Gründen, die Aristoteles selbst schon benennt. Analoges gilt in der Ontologie, der Biologie und der Erkenntnistheorie und Ethik für die Phänomene des Privativen und Perversen, für Defekte, Störungen, Krankheit, Verkehrtheit, Bosheit und Irrtum. Derartige Zusammenhänge zwischen der Materialität und der Privationsanfälligkeit des Natürlichen zu erforschen hat übrigens nichts mit einer ‚Verteufelung der Materie‘ (Bloch) zu tun. Und daraus ein skeptisches Argument gegen die Bekanntheit der Seinsprinzipien insgesamt ableiten zu wollen würde die methodische Ordnung auf den Kopf stellen, da diese privativen Phänomene nur im Licht der ontologischen Prinzipien überhaupt identifizierbar sind.

2.  Religionsphilosophie und Natürliche Theologie Durch die Restitution der Natürlichen Theologie als Teil der Speziellen Metaphysik wird der Religionsphilosophie in ihrer herkömmlichen, d. h. nachkantischen Gestalt die Geschäftsgrundlage entzogen. Denn diese ist – vielleicht allein mit Ausnahme von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion – als Substitut für die als obsolet angesehene Natürliche oder Rationale Theologie angelegt, indem sie diejenigen Teile derselben in sich aufnimmt, die von Kants Kritik nicht betroffen sind. Versteht man nämlich Religion als Beziehung des Menschen zu seinem Seinsgrund oder zum Transzendenten bzw. – in der formalen Redeweise Kants – des Bedingten zum Unbedingten als seiner Bedingung, dann scheint es im Lichte der Kantschen Kritik, als verbiete sich jede behauptende Rede über das Unbedingte als solches. Natürliche Theologie deutet nun Gott als den Seinsgrund, das Transzendente, das Unbedingte und Absolute und damit als den einen und invarianten Pol dieser Beziehung. Wenn Kant Recht hätte, dann verböte sich aber jede behauptende Rede über Gott, die im Zentrum der Natürlichen Theologie, einschließlich der Negativen Theologie, stehen muss. Vom anderen Pol her, dem der subjektiven Beziehung zu Gott als dem Absoluten, lässt Kant die Religion jedoch ausdrücklich intakt, ja er beansprucht für sich, durch seine Vernunftkritik und die Beschränkung von Wissens­ansprüchen Platz für den Glauben geschaffen zu haben.38 Damit ist der Weg für die Religionsphilosophie als Reflexion religiöser Subjektivität vorgezeichnet. Sie ist ihrer ganzen Anlage nach Beziehungsphilosophie und damit   KrV, B XXX.

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relational. Ihre Schwierigkeit besteht darin, dass sie gerade das invariante Relationsglied der religiösen Beziehung nicht bestimmen darf, eine Relation aber mindestens zwei Relata fordert. Mit dem Redeverbot über ein Relationsglied wird so die gesamte Rede über die jeweilige Relation instabil. Diese Instabilität der modernen Religionsphilosophie wurde schon in der Einleitung nachgewiesen. Die Geschichte der Religionsphilosophie kennt daher auch Versuche, an die Stelle Gottes oder des Absoluten etwas anderes zu setzen und die religiöse Relation so zu vervollständigen. Die systematisch interessantesten sind die Feuerbachs und Blochs. Feuerbach deutet die religiöse Beziehung wie gesehen als Verhältnis des Menschen zu seinem eigenen Wesen, Bloch als Verhältnis des Menschen zur Gattung und ihren Möglichkeiten. Beide Ansätze explizieren aber nicht, sondern zerstören die religiöse Beziehung, indem sie sie zu einer besonderen Form von Selbstbeziehung machen. Zwar ist richtig, dass religiöse Verhältnisse immer auch Selbstverhältnisse sind, und die Einsicht in den selbstbezüglichen, ‚anthropologischen‘ Charakter der Religion macht die Theoriebildungen Feuerbachs und Blochs interessant und wichtig. Aber der Versuch, Religion darauf zu reduzieren, führt notwendig zu ihrer Aufhebung. Man kann sich das am Beispiel der religiösen Demut als Haltung des Menschen zu Gott oder zum Transzendenten deutlich machen. Demut ist – als Mitte zwischen den Extremen des Hochmuts und der Selbstverachtung – die aus der Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit und die Geringfügigkeit eigener Leistungen und Verdienste gewonnene Haltung der Selbstunterordnung unter Gott und der Bejahung seines Willens. Ersetzt man nun in der religiösen Beziehung Gott durch das Wesen des Menschen oder die Entwicklung der Menschheit, dann wird Demut unmöglich, da Selbstunterordnung und Bejahung ihren vernünftigen Sinn verlieren. Denn sich unterordnen kann eine Person nur unter eine von ihr verschiedene Instanz, und das kann ihr eigenes Wesen nicht sein, weil das Wesen einer Sache gerade das ist, was ihr Was- und Sosein ausmacht. Auch kann das Wesen des Menschen keinen Willen besitzen, der verschieden vom je persönlichen Willen eines jeden Menschen wäre, so dass die Rede von einer Bejahung eines solchen Willens ohne Bezug ist. Ersetzt man das Wesen des Menschen mit Bloch durch die erstrebte und zu erkämpfende zukünftige Entwicklung der Menschheit, dann ergibt sich ein etwas anderer, aber ebenso ernüchternder Befund: Es ist nicht begrifflich unmöglich, sich selbst und sein Leben ‚in den Dienst‘ der Menschheitsentwicklung zu stellen, aber ein solcher ‚Humanismus‘ hat, anders als der Dienst an einem bestimmten Guten wie der Schaffung, Pflege oder Erhaltung eines Menschen, einer Gemeinschaft oder einer Institution, das konkrete Engagement für eine bestimmte Sache oder ein bestimmtes Projekt, in seiner pathetischen Abstraktheit einen starken Anstrich von Hybris, die mit Demut unvereinbar ist. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der unvermeidlichen Richtungslosigkeit und letztlich bloßen Subjektivität eines solchen ‚humanis-

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tischen‘ Dienstes an der Menschheit. Beides zeigt sich schon daran, dass eine bejahende Haltung zur Menschheitsentwicklung eigentlich keinen Sinn hat, da das zu Bejahende entweder der antizipierte Strebens- und Wunschinhalt selbst ist – was auf eine Tautologie hinausläuft – oder die tatsächliche Entwicklung der Menschheit, wie immer sie ausfällt, und das wäre eine fragwürdige Haltung, die auch dem Wunsch- und Hoffnungsdenken widerspräche. Das heißt, dass Blochs Hoffnungsdenken streng genommen keinen Raum für Demut lässt. Andere Autoren schlagen andere Surrogate für Gott vor, um so die religiöse Beziehung auf ‚säkularisierte‘ Weise zu vervollständigen, z. B. die Welt, die Natur oder auch ‚das Ganze der menschlichen Situation‘ (H.J. Schneider). Allen diesen Vorschlägen ist gemeinsam, dass sie die religiöse Beziehung tendenziell unterminieren oder allenfalls durch eine Ersatzhaltung wie etwa die der Gelassenheit verdrängen. Denn die Welt oder die Natur als solche oder auch die menschliche Lebenssituation können weder zum Gegenstand von Tugenden wie Glaube, Liebe oder Hoffnung noch zum Gegenüber einer Haltung wie Demut werden. Genauer, sie könnten dies nur unter der Bedingung werden, dass man sie selbst theologisch auflädt. Aber genau das soll durch die ‚Säkularisierung‘ der Religion ja unterbunden werden. Eine besondere Stellung im Ensemble der gegenwärtigen Religionsphilosophie nimmt Ernst Tugendhat ein.39 Er verzichtet von vornherein auf eine Neubestimmung des religiösen Verhältnisses durch das Einfügen neuer Beziehungsglieder, da er es im Gegenteil für ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit hält, den Glauben an die Existenz Gottes zu verabschieden, da ein solcher Glaube keine Gründe für sich habe.40 Religion sieht er vor allem in dem menschlichen Bedürfnis verwurzelt, mit der Kontingenz des eigenen Lebens, seinen Erfolgen und Misserfolgen und schließlich mit der Sterblichkeit zurechtzukommen, und zwar so, dass Kontingenz und Endlichkeit letztlich geleugnet würden, nämlich durch die Konstruktion eines göttlichen Willens und einer unsterblichen Seele. So verschwinde die Kontingenz der eigenen Existenz, Erfolge würden zu etwas, wofür man zu danken habe, Misserfolg etwas, was man durch Bitten unter Umständen abwenden könne, und beides, Danksagung und Bitte, werde im Gebet geäußert.41 Die eigene Endlichkeit schließlich könne der Gläubige wenn nicht ignorieren, so doch in der Zuversicht, dass es ein unbegrenztes Leben ‚danach‘ geben werde, verharmlosen. Das philosophische Fragen nach Gründen entziehe dem Glauben aber die Sachgrundlage und erweise Religion als obsolet. Als Ersatz für Religion im eigentlichen Sinn empfiehlt Tugendhat eine mystische Haltung der Gelassenheit und Selbstdistanz oder Selbstrelativierung, 39  Vgl. zum Folgenden Tugendhat 2003 sowie ders., „Anthropologie als ‚erste Philosophie‘“, in Tugendhat 2007, S.  34–54, und „Über Religion“, ebd., S.  191–204. 40   Vgl. ders., „Retraktationen zur intellektuellen Redlichkeit“, in: Tugendhat 2007, S.  85– 113, 111. 41   Dies ist schon die These in Tugendhat 2003. Vgl. auch „Über Religion“, S.  194 f.

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und zwar als Korrektiv zur in der Natur des Menschen angelegten Egozentrizität als Quelle der Todesfurcht und der menschlichen Neigung zur übergroßen Selbstbezogenheit, als deren höchsten Ausdruck Tugendhat die Religion ansieht.42 Als anthropologische Konstante sei die Egozentrizität zwar nicht vollständig zu überwinden, wohl aber zu relativieren und dadurch zu lindern. Dabei gibt er zu, dass Mystik historisch gesehen aus religiösen Traditionen erwachsen sei. Systematisch aber schätzt er mystische Strömungen als tendenziell un- oder sogar antireligiös ein. Parallel zum religiösen Bedürfnis als anthropologischer Konstante geht Tugendhat auch von einem metaphysischen Bedürfnis als ursprünglichem Impuls zur Philosophie aus. Aber er glaubt, dass sich dieses metaphysische Bedürfnis auf das Bedürfnis nach menschlicher Selbstverständigung reduzieren lasse, zugespitzt artikuliert auf die Frage: „Worin besteht die Struktur des menschlichen Verstehens?“43 Daneben stellt er die sokratische Frage, wie man leben solle.44 Beide zusammen verweisen nach Tugendhat nicht nur allgemein auf den Primat des Praktischen vor dem Theoretischen, sondern speziell auf das ethische Grundinteresse an philosophischer Selbstaufklärung. Im Anschluss an Kant, aber ohne dessen transzendentalen Vernunftbegriff zu übernehmen, glaubt er, alle philosophischen Fragen, einschließlich der nach dem Sein des Seienden, auf die Doppelfrage nach der Struktur des menschlichen Verstehens und nach dem guten und richtigen Leben zurückführen zu können. Alle philosophischen Fragen sind, so die Pointe von Tugendhats Überlegung, letztlich anthropologisch. Deswegen kann die Anthropologie aus seiner Sicht die obsolet gewordene Metaphysik als neue ‚erste Philosophie‘ ersetzen, und zwar weil der eigentlich legitime Kern der Metaphysik immer schon anthropologisch und auch ethisch gewesen sei und daher den Verlust transzendenter Fragestellungen und Zielsetzungen, die man traditionell mit dem Terminus Metaphysik verbinde, verkrafte.45 Tugendhats Menschenbild ist dabei durchweg naturalistisch; er sieht den Menschen evolutionär als ein Tier, das vermittels der Sprache sowohl Zeit- als auch Selbstbewusstsein entwickelt habe, wenn auch „auf eine mir [Tugendhat] nicht ganz durchsichtige Art“.46 Dass der Naturalismus selbst eine metaphysische Position ist, sieht Tugendhat nicht.

  Vgl. Tugendhat 2003, Kap.  6 , sowie ders., „Über Mystik“, in: Tugendhat 2007, S.  176–

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190.

  „Anthropologie als ‚erste Philosophie‘“, S.  40.  Ebd. 45   Dass Aristoteles ein dezidiert anderes Verständnis von den Fragen und der Aufgabe der Ersten Philosophie hatte, gesteht Tugendhat zu, erklärt aber Platons Verständnis kurzer Hand für „einleuchtender“ (ebd., S.  41) und bestreitet obendrein ohne weiteren Nachweis, dass Aristoteles die Erste Philosophie als Grundlage und Ziel aller Philosophie ansehe (S.  35). Dass Aristoteles explizit das Gegenteil behauptet (vgl. Met. A 1–2), ignoriert Tugendhat. 46   „Über Religion“, S.  194. 43

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VII.  Probleme der Natürlichen Theologie

Religion ist für Tugendhat eine Form von Wunschdenken, das mit intellektueller Redlichkeit unvereinbar sei. Dabei stellt er sich in scharfen Gegensatz zu Pascal, der bekanntlich meint, dass es vernünftig sei, sich eine bestimmte Überzeugung zu eigen zu machen, wenn nicht zwingende Gründe diese Überzeugung ausschlössen und wenn ihre Übernahme wichtig und gut für das Subjekt sei, und der damit eine bestimmte Spielart eines doxastischen Voluntarismus vertritt.47 Tugendhat vertritt eine zu Pascal diametral gegensätzliche Position: Wenn für die Übernahme einer bestimmten Überzeugung p ein starker subjektiver Wunsch spreche, sonst aber keine von diesem Wunsch unabhängigen Gründe, dann wäre die Übernahme der Überzeugung bloßes Wunschdenken, „und deswegen muss ich für die andere Meinung optieren [d. h. für non-p; H.T.].“48 Nun mag man die Bedenken gegen den doxastischen Voluntarismus Pascals durchaus teilen und dessen Gleichgültigkeit gegenüber dem Problem der Selbsttäuschung kritisieren. Daraus folgt aber nicht, dass man sich die konträre Maxime Tugendhatscher intellektueller Redlichkeit zu eigen machen und unbedingt das Gegenteil von dem zu glauben hat, wovon man wünscht, es möge der Fall sein.49 Eine solche Maxime wäre tatsächlich weder vernünftig noch intellektuell redlich, sondern grundlos pessimistisch. Man denke an das Beispiel einer Ehefrau, welche die Überzeugung ausbildet, dass ihr Mann untreu sein müsse, und zwar einzig deshalb, weil sie wünscht, er möge ihr treu sein, und in Ermangelung unabhängiger Evidenzen. Ihr intellektuelle Redlichkeit zu attestieren wäre so abwegig, wie es abwegig wäre, ihr intellektuelle Unredlichkeit für den konträren Fall zu attestieren, dass sie in Übereinstimmung mit ihrem Wunsch an die Treue ihres Mannes glaubt. In vielen Fällen ist es sehr wohl ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit, eine vorsichtig agnostische Haltung gegenüber den bloß wunschinduzierten eigenen Meinungen einzunehmen; in Fragen des zwischenmenschlichen Vertrauens gilt nicht einmal das. Doch Tugendhat braucht die unvernünftige starke Maxime, da er dem religiösen Glauben eine Absage erteilen möchte, ohne sich auf die dazu eigentlich erforderliche metaphysische Debatte einzulassen. Im Lichte der hier angestellten Überlegungen zur Natürlichen Theologie – die nichts mit der von Tugendhat rekonstruierten und kritisierten so genannten 47   Es ist nur konsequent, wenn sich William James in The Will to Believe vorsichtig zustimmend auf Pascal bezieht. Vgl. James 1897, VIII, aber auch die ausführliche Darstellung von Pascals Wette bei Weidemann 2007, Kap.  4.1. 48  „Retraktationen zur intellektuellen Redlichkeit“, S.   113, Anm.   12; Hervorhebung i. Orig. Tugendhat räumt dort auch ein, dass Pascals Rat nicht irrational sei, wenn man den rationalen Primat praktischer Interessen vor theoretischen vertrete, wie er selbst das ja ebenfalls tut. Er wirft Pascal daher intellektuelle Unredlichkeit vor, nicht aber Irrationalismus. 49   In „Über Religion“ wiederholt Tugendhat seine Maxime noch einmal mit explizitem Bezug auf religiösen Glauben: „[D]eswegen ist, da es in diesem Fall keine unabhängigen Evidenzen gibt, das Bedürfnis zu glauben der entscheidende Gegengrund für den Glauben“ (S.  193).

2.  Religionsphilosophie und Natürliche Theologie

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natürlichen Religion zu tun hat – erscheinen dessen Aussagen zum Thema ohnehin übereilt und mit den Maximen einer recht verstandenen intellektuellen Redlichkeit unvereinbar. Denn Tugendhat bezieht sich dabei auf die von Bernard Williams beschriebene Tugend der accuracy, der Gründlichkeit und Sorgfalt, mit der man Ansichten überprüfen sollte, die man vertritt. Diese Tugend sei das Grundelement intellektueller Redlichkeit; diese gehe aber über Gründlichkeit und Sorgfalt hinaus.50 Die Einzelheiten des Verhältnisses von Williamsscher Sorgfalt und Tugendhatscher intellektueller Redlichkeit müssen hier nicht interessieren. Es genügt festzustellen, dass Tugendhats Umgang mit Religion und ihren Gründen nicht sorgfältig in Williams’ Sinn sind. Damit entspricht er auch nicht den von Tugendhat selbst vertretenen Standards. Doch auch andere Spielarten einer ‚nachmetaphysischen‘ Religionsphilosophie werden durch die Möglichkeit einer Natürlichen Theologie vor ein Problem gestellt, ganz gleich ob sie eine Religion ohne Bezug auf Transzendentes modellieren oder die religiöse Beziehung unbestimmt lassen wollen. Wenn die von Kant gezogene Grenze zwischen Glauben und Wissen nicht so gezogen werden kann, wie Kant es tut, weil Wissen nicht auf das Feld möglicher Erfahrung beschränkt ist, dann scheint nicht mehr klar zu sein, was die Religionsphilosophie zum Gegenstand hat, wenn ihr Gegenstand der religiöse Glaube ist.51 In gewisser Weise wird nämlich das Verhältnis von Glauben und Wissen sehr viel komplizierter, als es in Kants Modell einer grundlegenden Sphärentrennung der Fall ist. Nun scheint es, als könnten sich Glauben und Wissen auf dasselbe richten, und zwar in derselben Hinsicht. Dagegen spricht allerdings, dass Wissen als der vollkommene Modus den bloßen Glauben zu verdrängen scheint. Wissen, episteme, tritt anscheinend notwendig an die Stelle der doxa und lässt dafür keinen Raum. Allerdings hatten wir oben an Schellings Diskussion des Verhältnisses von Glauben und Wissen gesehen, dass es neben dem Glauben im Sinne der bloßen doxa noch einen anderen Sinn oder besser einen anderen Aspekt des Glaubens gibt, den Glauben an etwas im Sinne einer Selbstfestlegung und Selbstbindung an ein jeweils für wahr Gehaltenes. Dieser besondere Akt der Zustimmung, Anerkennung oder Annahme der jeweiligen Überzeugung (assensus) vollendet jeden doxastischen und epistemischen Akt. Im Fall überprüfbaren Wissens spricht man diesbezüglich von Einsicht; für den Akt der Annahme einer Überzeugung im Sinne der doxa fehlt ein eigener Terminus. Am ehesten trifft die Partizipialkonstruktion ‚überzeugt sein‘ das, was hier gemeint ist. Für den Akt 50  Vgl. Williams 2002 und „Retraktationen zur intellektuellen Redlichkeit“, S.  97 f. Tugendhat glaubt, dass eine Bereitschaft, selbst nach Gründen zu suchen, die gegen die eigenen Überzeugungen sprechen, von der intellektuellen Redlichkeit gefordert, in der von Williams beschriebenen Sorgfalt aber noch nicht enthalten ist. 51   Das ist bereits die Pointe der von Hegel in Glauben und Wissen vorgetragenen Polemik gegen Kant, vgl. GW, Abschnitt A.

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VII.  Probleme der Natürlichen Theologie

der Weisheit, der wie gesehen als Vollendung des Wissens verstanden werden muss, spricht man von ‚glauben an‘; auch das Adjektiv ‚gläubig‘ hat hier seinen ursprünglichen Sitz. Dass Einsicht ein eigener Akt der Zustimmung ist, wird, wie auch Schelling in den oben zitierten Passagen unterstreicht, deswegen übersehen, weil deren Verweigerung bei demonstrablen oder unmittelbar evidenten Sachverhalten irrational zu sein scheint, so dass das Fassen und Verstehen des je sachangemessenen Gedankens und seine Annahme zusammenzufallen scheinen. Dass es sich realiter dennoch um zwei Akte handelt, zeigen aber nicht zuletzt solche Fälle, in denen wir zunächst geneigt sind, die Anerkennung von Evidenzen zu verweigern, weil sie uns unwillkommen sind, etwa weil sie uns nötigen, eine Überzeugung aufzugeben, für die wir bisher eingestanden haben. Der assensus wird in jedem Fall eigens vollzogen oder verweigert, auch wenn Verstehen und Einsicht aktual häufig ungetrennt sind. Darin aktualisiert sich eine eigene intellektuelle Tugend, von denen Gründlichkeit (Williams) und Redlichkeit (Tugendhat) nur Aspekte benennen, und das im Falle Tugendhats auch noch in verzerrter Weise. Es geht um die Tugend der Wahrhaftigkeit, die Aufrichtigkeit, Gründlichkeit und Redlichkeit umfasst, ohne sich darin zu erschöpfen.52 Wahrhaftigkeit ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als geistige Offenheit für Wahrheit. Sie schließt die Bereitschaft zu dem ein, was in der Antike Skepsis genannt wurde, zur Selbstkritik und zur Preisgabe unhaltbarer Vormeinungen. Gerade daran fehlt es aber dem Skeptizismus, der jede beliebige Meinung und jedes beliebige Urteil preiszugeben bereit ist. Umso deutlicher tritt der relevante Kontrast im Akt der Weisheit hervor. Hier übersteigt der Glaubensgehalt, das Geglaubte, zu großen Teilen menschliche Einsichtsfähigkeit, und zwar notwendig. Darin stimmen wie gesehen Aristoteles, Anselm, Thomas, Descartes und Schelling überein. Und zwar liegt das an gewissen Grenzen der Verstehbarkeit erster Ursachen für die endliche Vernunft. Dabei tritt eine interessante Spannung zwischen Wissen und Verstehen auf, die der Speziellen Metaphysik insgesamt eigentümlich ist, z. B. auch der der metaphysischen Seelenlehre. Denn dass es eine erste Ursache geben muss und dass es sich dabei um etwas rein Aktuales und damit um eine reine Form handeln muss, das kann man wissen, und in diesem Sinne ist die Natürliche Theologie Wissenschaft. Doch unser Verstehen hält mit diesem Wissen nicht Schritt. Gott als erste Ursache ist uns weder Erfahrungsgegenstand – außer in seinen Wirkungen (Thomas) –, noch können wir uns seine Seinsweise in Analogie zu uns bekannteren Seinsformen erschließen, sieht man einmal von der schwachen Analogie 52   Deswegen hat Williams Recht, die beiden wahrheitsbezogenen Tugenden der Aufrichtigkeit und Gründlichkeit unter dem gemeinsamen Titel Wahrhaftigkeit (truthfulness) zu diskutieren. Allerdings analysiert er diesen umfassenden Begriff nicht eigens, weswegen seine Abhandlung systematisch unvollständig bleibt.

2.  Religionsphilosophie und Natürliche Theologie

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zwischen göttlichem und menschlichem Geist ab (Augustinus, Descartes, Schelling). Kein anderes Seiendes außer Gott ist reiner Akt. Aber gerade wegen der radikalen Transzendenz Gottes für das menschliche Verstehen ist es möglich und nicht offenkundig unvernünftig, die Erkenntnis, zu der die Natürliche Theologie führt, zurückzuweisen und den Gedanken, dass Gott existiert, zu negieren oder ihm zumindest agnostisch die Anerkennung vorzuenthalten. Denn zwar ist die These der Natürlichen Theologie, anders als Kant meint, nicht bloß begründbar, sondern tatsächlich begründet, anders als deren Negation, die nicht begründet ist, wie auch Kant betont. Aber da das Verständnis hier an so offensichtliche Grenzen stößt, bleibt immer Raum für den Verdacht, es könnte bei den Argumenten des Theismus nicht mit rechten Dingen zugehen, selbst wenn sich keine Fehlerstelle ausmachen lässt. A fortiori gilt das für die Sätze der Offenbarungstheologie, die hier aber nicht erörtert werden sollen. Und deswegen kann Glauben eine Tugend sein, sei es als Bereitschaft, Wissen anzuerkennen und gelten zu lassen wie im Feld der Natürlichen Theologie, sei es als Bereitschaft zur Anerkennung einer höchsten Autorität wie in der Offenbarungstheologie. Der Glaubensakt ist Akt der Weisheit deswegen, weil sich darin das Wissen vollendet, nämlich als Ursachenwissen, das hier bis zur ersten Ursache und damit an sein Ende stößt. Ein Ende ist etwas anderes als eine Grenze. Das Erreichen einer Grenze ist ein Hindernis des Fortschreitens; das Erreichen eines Endes bringt es ins Ziel. Glauben und Wissen markieren damit zugleich den Rang des Menschen in der Seinsordnung, seine ontologische Würde. Vom Glauben als Akt der Weisheit ist noch einmal derjenige religiöse Glaube zu unterscheiden, der den Gehalt der Sätze der Natürlichen Theologie ohne Wissen annimmt, der also zu dem gehört, was man missverständlich Laienglauben nennt.53 Auch diese Haltung kann vernünftig im Sinne der intellektuellen Arbeitsteilung sein. Sie unterscheidet sich nicht von einer vernünftigen pragmatischen Haltung zu subjektiv nicht überprüfbaren Behauptungen, die auch Des­ cartes für seine provisorische Moral empfiehlt, nämlich den anerkannten Autoritäten zu folgen.54 Ihren besonderen religiösen Charakter bekommt dieser Glaube durch die umfassende und existenzielle Bedeutung seines Gehalts für Weltauffassung und Lebensführung.55 Darin gleicht er dem Akt der Weisheit, unbeschadet der kognitiven Differenzen zwischen diesen Glaubensformen. 53   Missverständlich deswegen, weil die relevante Differenz keine des Status der gläubigen Person (Laie oder Kleriker) ist, sondern eine kognitive. Es handelt sich eben um den Unterschied zwischen einem wissensgestützten Glauben und einem, für den das nicht gilt. 54  Vgl. Discours III. 55  Vgl. SG I 4. Thomas diskutiert hier die Frage, ob nicht eine philosophische Theologie den Glauben überflüssig macht und so dem verdienstlichen Charakter des Glaubens als Aktualisierung einer Tugend abträglich ist. Er verneint dies zum einen mit dem Hinweis, dass nicht alle Sätze der Theologie durch Vernunft allein begründet werden können, also mit Hinweis auf den Unterschied zwischen Natürlicher und offenbarter Theologie, zum anderen mit

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VII.  Probleme der Natürlichen Theologie

Beide bestimmen eine humane Lebensform im Ganzen. Doch um zu verstehen, warum das so ist, muss noch mehr gesagt werden. Glaube, ganz gleich ob als Akt der Weisheit oder als Akt des religiösen Überzeugtseins, aktualisiert eine Tugend und damit eine Haltung. Diese bleibt aber unvollkommen, solange nicht eine über die Anerkennung hinausgehende Haltung hinzukommt, sich existenziell an das begriffene oder geglaubte Sein und seine Ursache zu binden. Man hat diese Tugend traditionell Liebe genannt und damit unter anderem betont, dass existenzielle Bindung für ein endliches, leibliches Vernunftwesen notwendig auch eine affektive Komponente hat. Liebe muss deswegen den Glauben ergänzen, weil dieser als solcher auch verträglich ist mit einer Ablehnung des Seins und seiner Ursache, und zwar einer volitiven Ablehnung, die mit der kognitiven Nichtanerkennung nicht verwechselt werden darf. Ein solcher Akt der Ablehnung aktualisiert eine Haltung, die der Liebe konträr gegenüber steht, den Hass. Hass auf Gott ist einem Theisten sehr wohl möglich, während ein Atheist dafür keinen Ansatzpunkt finden kann. Allerdings muss ein echter Gottes- und Seinshass auch Selbsthass einschließen, da der Gotteshasser glauben muss, dass Gott auch die erste Ursache seiner eigenen Existenz ist. Nun ist Selbsthass zwar logisch nicht kohärent, aber existenziell sehr wohl möglich. Inkohärent ist er insofern, als er dem praktischen Denken und Handeln jede Orientierung raubt. Ein sich selbst Hassender kann streng genommen nichts Bestimmtes wollen, wünschen oder begehren, ohne dadurch mit sich selbst in Widerspruch zu geraten; das gilt selbst noch für den Wunsch nach Selbsttötung. Existenziell möglich, wenn auch instabil ist eine solche Haltung aber insofern, als der Ausweg aus unauflöslichen Widersprüchen in Gestalt willkürlicher Selbstfestlegungen dem Selbsthasser immer offensteht. Im Kontrast dazu beginnt Seins- und Gottesliebe notwendig mit recht verstandener Selbstliebe, einer volitiven Selbstbejahung, die Selbstachtung einschließt. Doch sie geht darüber hinaus. Als Liebe zur Schöpfung schließt sie Liebe zu anderen Menschen, Nächstenliebe, ebenso ein wie Liebe zur Natur. Als Hinneigung zum Guten ist sie auch Hingabe und kann bis zur Selbstaufopferung führen, die mit der Selbstaufgabe des Selbsthassers nicht verwechselt werden darf. Selbstaufgabe ist letzter Ausdruck von Selbsthass; Selbstaufopferung höchster Ausdruck von Selbstliebe und Selbstbejahung. Vollkommene Liebe ist unter Menschen aber offenkundig ebenso selten anzutreffen wie vollendete Weisheit. Glaube und Liebe zusammen fordern eine weitere Tugend, nämlich die Hoffnung. Diese ist nicht schon in der Liebe inbegriffen, weil es sehr wohl möglich ist, dass man ohne Hoffnung liebt. Was man liebt, um das sorgt man sich. Das Verweis auf den arbeitsteiligen Charakter aller entwickelten menschlichen Praxis, einschließlich der Wissenschaft.

2.  Religionsphilosophie und Natürliche Theologie

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heißt, man wünscht ihm Gutes und fürchtet das Schlechte, das ihm widerfahren könnte. Fehlt nun Hoffnung, also die feste, aber der Enttäuschbarkeit bewusste Erwartung, dass es dem Geliebten alles in allem gut ergehen wird, ist man also hoffnungslos, dann aktualisiert sich das Gegenteil einer hoffenden Haltung, nämlich Verzweiflung. Glaube und Liebe sind mit Verzweiflung vereinbar, also mit dem Fehlen der Hoffnung, dass es um das Seiende, einschließlich der eigenen Existenz und der der Nächsten, alles in allem gut bestellt ist, dass das Seiende auf gutem Weg bzw. dass die Seinsordnung, theologisch gesprochen, zugleich eine Heilsordnung ist.56 Hoffnung ist demgegenüber die fallibilitätsbewusste Erwartung, dass eben das der Fall ist, was maßgeblich auch die Hoffnung einschließt, dass man selbst noch an Einsicht und Liebe gewinnen kann und vielleicht wird. Grundlage dieser Dreiheit von Glaube, Liebe und Hoffnung ist der Glaube, weil er das Denken und Wollen über das Liebenswürdige und zu Hoffende informiert. Genauer, die Vernunft unterscheidet zwischen dem Liebenswürdigen und Hassenswerten, dem Guten und Schlechten, während der Glaube die Vernunft als Akt der Weisheit vollendet, indem er sie mit der ersten Seinsursache verbindet. Deswegen werden diese drei Tugenden zusammenfassend auch als Glaubenstugenden bezeichnet. Hoffnung vollendet diese Tugenden in zeitlicher Hinsicht. Denn der menschliche Geist ist notwendig zeitbewusst, d. h. er ist sich in der Gegenwart erinnernd und gedenkend der Vergangenheit bewusst und transzendiert die Gegenwart antizipativ zur Zukunft hin. Jedenfalls ist Zukunft die primäre Dimension des Hoffens.57 Umgekehrt ist Hoffnung die der Zukunft gegenüber angemessene Haltung, zumindest unter Voraussetzung des Glaubens. Die Liebe als mittlere der drei Glaubenstugenden stiftet zugleich das Prinzip ihrer Einheit, indem sie das Wollen an die Erkenntnis des Guten bindet und der Hoffnung Gehalt und Gegenstand gibt. Deswegen wird die Liebe schon bei Paulus als Vollendung des Glaubens angesehen.58  Vgl. STh II–II, q.  20.   Primär deswegen, weil man sich hoffend auch auf gegenwärtige und selbst auf vergangene Ereignisse und Prozesse richten kann, sofern ihr Ausgang nämlich dem Hoffenden unbekannt ist. Entsprechend kann man hoffen, dass etwas gerade jetzt geschehen oder dass etwas der Fall gewesen sein möge. Darin unterscheidet sich das Hoffen vom bloßen optativischen Wünschen, dass etwas am besten so und so geschähe oder geschehen wäre. Solche Wünsche sind logisch vereinbar mit dem Wissen, dass es gerade anders kommt oder anders gekommen ist als gewünscht. Das ist beim Hoffen auf Gegenwärtiges oder Vergangenes nicht der Fall. Auch daran ist ablesbar, dass diese Hoffnungsmodi vom Hoffen auf die Zukunft als primärem Modus abgeleitet sind. 58   1. Kor. 13. Man sieht hier übrigens, dass auch Blochs Hoffnungsanalyse nicht umhin kann, das gesamte Ensemble der Glaubenstugenden zu übernehmen. Neben der Hoffnung auf ultimative Erlösung der Menschheit kennt seine Hoffnungsphilosophie den Glauben, dass die Zukunft offen ist und dass nicht alle ontologischen Möglichkeiten schon verwirklicht sind, sowie die Liebe zum Guten und Humanen als ‚Wärmestrom‘ des Marxismus. Aber auch Heideggers Daseinsanalyse in Sein und Zeit rekonstruiert in der Entfaltung der Sorgestruktur (SuZ, §  4 4) alle drei Glaubenstugenden, wenn auch in der für diese Analyse 56 57

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VII.  Probleme der Natürlichen Theologie

Durch das Ensemble der drei Glaubenstugenden wird nun tatsächlich eine geistige Lebensform im Ganzen bestimmt. Durch die Liebe steht der endliche Geist in der geistigen Gemeinschaft mit anderen endlichen Geistwesen, durch den Glauben in gewissem Sinn aber auch in Gemeinschaft mit dem Seienden überhaupt, und in der Hoffnung transzendiert er die Gegenwart hin zur Zukunft. Ein anderer Aspekt ist die existenzielle Bedeutung der Glaubenstugenden. Im Glauben zeigt sich die vernünftige und damit geistige Natur des Menschen; ohne ihn ist die menschliche Lebensform nicht ganz und gar human. Auch deswegen suchen ‚säkularisierte‘ Theorien des Religiösen nach Ersatzgegenständen des Glaubens, da nämlich eine geistige Lebensform ohne Glauben Fragment bleibt. Durch die Liebe bekommt der Glaube seinen existenziellen Ernst, indem er die Lebensführung im Ganzen bestimmt und nicht bloß deren intellektuelle Seite, so wichtig und zentral diese für ein geistiges Wesen auch ist. Hoffnung wiederum ist die existenzielle Antwort auf die praktische Einsicht in den Ernst der Lebensführung, die ihren natürlichen Ausdruck in der Stimmung der Angst findet. Glaube, Liebe und Hoffnung bestimmen eine geistige Lebensform, die man traditionell Religion genannt hat. Religion ist sehr viel mehr als die Einheit von Dogma und Ritus, von dem in der Religionswissenschaft meist ausgegangen wird. Diese Einheit bleibt ohnehin unverständlich und bloß aggregativ, solange nicht erläutert wird, in welchem Zusammenhang mit der humanen Lebensform Dogma und Ritus oder allgemeiner Kultus stehen sollen. In der Betrachtung einer durch Glaubenstugenden bestimmten geistigen Lebensform wird dagegen sichtbar, warum diese Elemente Grundzüge der äußeren religiösen Praxis sind und sein müssen. Das Dogma ist die Artikulation und öffentliche Bekundung des Glaubens, der Ritus als gemeinschaftliche Feier ein äußerer und formeller gemeinschaftlicher Akt der Liebe, indem die Hoffnung zugleich artikuliert und gestärkt wird. Dass diese äußere Seite jeweils geformt ist, macht eine Ästhetik religiöser Phänomene möglich und erforderlich. Religion ist aber auch viel mehr, als heute allgemein und außerhalb wissenschaftlicher Spezialdiskurse darunter verstanden wird. Sie ist nicht bloß eine eigentümlichen invertierten Form, wie ein genauerer Blick zeigt. In der Mitte steht dabei die Sorge als Pendant der Liebe; entsprechend entfaltet sie sich zur Fürsorge für andere und zur Sorge um sich (nach Heidegger ein Pleonasmus). Doch auch das Streben nach Wahrheit und Erkenntnis rechnet Heidegger der Sorge zu, da es etwas ist, worum es dem Menschen in seinem Sein geht. Das entspricht der Tugend des Glaubens. Ihren Abschluss und äußersten Ausdruck findet die Sorge in der Stimmung der Angst und den davon abgeleiteten Modi der Furcht. Angst und Furcht sind gewissermaßen die natürlichen Modi endlichen Zukunftsbewusstseins. Indem Hoffnung die Angst überwindet und die Furcht erträgt, setzt sie die Angst voraus und erweist damit Heideggers Analyse innerhalb ihrer Grenzen als richtig. Von Bloch ist überliefert, dass er Heidegger gern als ‚Professor für Angst und Sorge‘ bezeichnete. Darin steckt auch das Eingeständnis einer größeren Nähe zwischen Heideggers und seinem eigenen Denken, als gemeinhin gesehen und anerkannt wird.

2.  Religionsphilosophie und Natürliche Theologie

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Haltung zum Transzendenten, sondern eine Haltung zum Seienden insgesamt. Deswegen schließt sie etwa für Thomas von Aquin wesentlich die Achtung und Liebe für die eigene Herkunft, die Ahnen und die eigene Familie sowie die tradierten Sitten ein.59 Ohne Transzendenzbezug bleibt diese umfassende Haltung der Religion aber grund- und richtungslos. Von Religion als Haltung ist dann Religion als Institution, sei es informell als Bewegung Gleichgesinnter, sei es formell als verfasste Kirche, zu unterscheiden. Dabei kann Religion als Gemeinschaft oder Kirche nur von Religion im ersten Sinn, also als komplexe, aus Glaube, Liebe und Hoffnung bestehende Tugend, getragen werden. Ohne entsprechende Tugend verliert die Institution ihren ‚Geist‘ oder ihre ‚Seele‘ und damit ihren institutionellen Sinn. Das gilt nicht für die Institution Religion allein, sondern für jegliche Institution. Das bedeutet freilich nicht, dass Institutionen gewisse Sinnkrisen in ihrer Geschichte nicht überstehen und daraus sogar im Sinne einer Renaissance gestärkt hervorgehen können. Es bedeutet aber sehr wohl, dass nur der Geist oder die Tugend die Institution erzeugt und dauerhaft erhält, nicht umgekehrt. Im Licht der Überlegungen zu Religion als Tugend und als Institution spricht nichts gegen und alles für eine erneuerte und vor allem neu zu begründende Religionsphilosophie, verstanden nicht mehr als Ersatz für die Natürliche Theo­logie, sondern als deren Ergänzung. Eine solche, auf Natürlicher Theologie beruhende Religionsphilosophie müsste zunächst einmal umsichtige Religionsphänomenologie sein, wie jede methodisch geordnete Phänomenologie einsetzend mit einer Reflexion der empirisch erfahrbaren mannigfaltigen äußeren und institutionellen Formen von Religion als Ritus und Kultur. Dass es sich eine so verstandene Religionsphilosophie mit ihrem Gegenstand methodisch schwer machen muss, liegt eigentlich auf der Hand, da es verwickelte Methodenprobleme zu lösen gilt. Anders als eine bloß empirisch sozialwissenschaftliche Religionswissenschaft hätte die Phänomenologie des Religiösen dabei immer die philosophische Leitfrage im Blick zu behalten, inwiefern die entsprechende Praxis Ausdruck der Religion als Tugend und damit von Glaube, Liebe und Hoffnung ist. Deswegen fragt eine solche Religionsphilosophie notwendig nach dem Geist der institutionalisierten Praxis. In der Geschichte der Religionsphilosophie hat mit Ausnahme Hegels kaum jemand Religionsphilosophie in diesem Sinn betrieben; Ansätze dazu finden sich auch in der punktuell tiefen, aber nicht so breit angelegten dialogischen Religionsphilosophie Martin Bubers. In einer so ansetzenden Religionsphilosophie wird der Begriff der religiösen Erfahrung, wie man sieht, eine womöglich noch wichtigere Rolle spielen als in der gegenwärtigen. Es wird dabei aber weniger um Sondererfahrungen gehen, wie sie etwa William James als Psychologen beschäftigen, und auch nicht so sehr um Erfahrungen mit der Religion im Sinne der Teilnahme an einer formalisier Vgl. STh II–II, q.  81.

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VII.  Probleme der Natürlichen Theologie

ten Praxis; das ist eher ein Thema für die empirische, vor allem die psychologische und soziologische Forschung. Religiöse Erfahrung im religionsphilosophisch vor allem relevanten Sinn ist vielmehr religiös gedeutete allgemeine Erfahrung im Sinne von Selbst- und Welterfahrung. Denn wenn es stimmt, dass der Glaube als Akt der Weisheit das Wissen im endlichen Dasein vollendet, dann wird sich eine gläubig gedeutete Erfahrung signifikant von einer nicht so gedeuteten Erfahrung unterscheiden, und zwar vor allem für das Erfahrungssubjekt selbst. Eine kontrastive phänomenologische Erforschung solcher differierender Erfahrungsmodi jenseits bloßer Klischees steht noch weitgehend aus.

3.  Die Vielfalt der Religionen Es scheint, als sei das Hauptthema der Religionsphilosophie mit dem bisher Gesagten noch gar nicht berührt. Denn Religion scheint doch vor allem etwas zu sein, was es im Plural gibt, als Vielfalt der Religionen und Bekenntnisse in all ihren Formen, Unterformen und Sonderformen. Natürliche Theologie kann von der religiösen Diversität abstrahieren; Religionsphilosophie kann das nicht. Diese Diskrepanz stellt aber auch eine Schwierigkeit der Natürlichen Theologie dar. Mit welchem Recht abstrahiert sie von dieser Vielfalt und ihrer komplexen und verschlungenen Geschichte? Und könnte diese Abstraktion nicht genauso gut bloße Verschleierung einer umso hartnäckigeren, weil unthematischen Bindung an eine bestimmte Religion bzw. Tradition sein? Der Verdacht läuft auf die Vermutung hinaus, dass das Projekt der Natürlichen Theologie das Christentum und seine Theologie voraussetzt, also integraler Bestandteil einer genuin christlichen Philosophie ist und nicht davon getrennt werden kann. 60 Dem entsprechend wäre auch die hier durchgehaltene Trennung von Natürlicher Theologie und Offenbarungstheologie künstlich, weil erstere dann eigentlich nur im Sinne einer theologischen Apologetik und damit als hingeordnet auf ein theologisches Gesamtprojekt verstanden werden könnte. Sie diente dann nämlich nur der argumentativ-theoretischen und in diesem Sinne ‚philosophischen‘ Aufrüstung einer letztlich doch bloß auf Glaubensannahmen beruhenden christlichen Theologie. Diese allzu holistische Sicht auf das Verhältnis Natürlicher, also philosophischer und konfessioneller Theologie übersieht dreierlei: Erstens ist sie historisch falsch, da die Natürliche Theologie der griechischen Philosophie entstammt und älter ist als das Christentum. Die Ursprünge derselben finden sich bei Xenophanes61 und Anaxagoras, und eine schon voll entwickelte Natürliche Theolo60   Die Idee einer christlichen Philosophie wird pointiert von Étienne Gilson und Romano Guardini vertreten und in neuerer Zeit von Theo Kobusch expliziert; vgl. Kobusch 2006. 61   Vgl. zur Theologie des Xenophanes Halfwassen 2008.

3.  Die Vielfalt der Religionen

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gie findet sich bei Platon – negativ religionskritisch in der Politeia, affirmativ im Timaios und in den Nomoi – und bei Aristoteles in der Physik und der Metaphysik. Dass diese Lehren im christlichen Denkrahmen zum Teil überformt wurden und ihre Stellung geändert haben, z. B. hinsichtlich der Schöpfungslehre, ändert nichts am konfessionsübergreifenden Kern dieses Projekts, und dieser Kern lässt sich auch bei bekennenden Christen unter den Natürlichen Theologen jederzeit isolieren. Zweitens ist auch historisch falsch, dass Natürliche Theologie im christlichen Denken fest beheimatet ist. Vielmehr haben sich christliche Theologen dem Projekt der Natürlichen Theologie gegenüber notorisch skeptisch bis ablehnend geäußert, und zwar nicht erst mit Aufkommen des Protestantismus, der die Natürliche Theologie unter dem Eindruck der Invektiven Luthers und dann der Metaphysikkritik Kants nach und nach ganz aufgibt. 62 Eine parallele Entwicklung lässt sich bei Calvin in seiner nominalistisch geprägten Abwendung von der Natürlichen Theologie nachzeichnen. Doch schon zuvor stößt dieses Projekt auf massiven theologischen Widerstand, etwa bei Bernhard von Clairvaux, in Bonaventuras zumindest zwiespältiger Haltung zu Anselms Argument, vor allem aber in seiner vehementen Ablehnung des Gedankens, dass christliche Theologie von heidnischer Philosophie profitieren könnte, 63 schließlich in der Forderung des Duns Scotus, dass die Rede über Gott und die über das Seiende allgemein univok zu sein habe, womit der Natürlichen Theologie zumindest in ihrem affirmativen Teil der Boden entzogen wird. 64 Eine parallele, aber sehr viel wirkmächtigere Ablehnungsfront baut sich im islamischen Denken auf, und zwar schon im Widerstand gegen Al-Farabis Aristoteles-Rezeption, 65 erst recht aber in Al-Ghazalis Angriff auf Avicenna und den arabischen Aristotelismus. 66 Al-Ghazali bedient sich dabei durchaus philosophischer, insbesondere auch metaphysischer Argumente, um den Schaden der Philosophie für die Religion aufzuzeigen; darin ähnelt er Bonaventura. Das zeigt umgekehrt, dass die arabische Aristoteles-Rezeption ebenfalls Ansätze zu einer Natürlichen Theologie ganz unabhängig vom christlichen Denken hervorgebracht hat, wenn auch nicht unter diesem Titel, da die islamische Wissenschaftskultur weder Theologie noch Metaphysik kennt. 67 Auch die jüdische Platon- und Aristoteles-Rezeption von Philon von Alexandria über Ibn Gabirol (Avicebron) und Moses Mai62   Vgl. aber noch den Versuch Melanchthons, Luthers Theologie in scholastischen Termini zu artikulieren in Melanchthon 1521. 63   Vgl. dazu Müller 2010, S.  627 f. Bonaventura baut Anselms Argument in seine Darstellung des geistigen Aufstiegs zu Gott ein, den er im Itinerarium schildert, stellt es dort aber nicht als philosophisches Argument, sondern als eine durch göttliche Gnade dem menschlichen Geist zuteil werdende Offenbarung dar; vgl. Itinerarium V. 64  Vgl. Ordinatio I, d. 3 q.  1. 65  Vgl. DS. 66  Vgl. Tahafut. 67   Vgl. Franz Schupp, Einleitung, in: DS.

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VII.  Probleme der Natürlichen Theologie

monides bis zu Baruch Spinoza enthält ganz parallele Ansätze und stößt auf ähnliche Widerstände. In allen drei großen monotheistischen Religionen zeigen sich mithin unter dem Einfluss platonischen und aristotelischen Denkens starke Ansätze zu Natürlicher Theologie, und sie erzeugen in allen drei Kontexten vergleichbare Widerstände, wenn auch unter den je spezifischen historischen und institutionellen Bedingungen des jeweiligen Überlieferungszusammenhangs. Daran zeigt sich drittens, dass mit dem Verdacht, die Natürliche Theologie könnte ein genuin christliches Projekt sein, auch systematisch etwas nicht stimmt. Denn man kann die Prinzipien und Argumente der Natürlichen Theologie allesamt artikulieren und verständlich machen, ohne Bezug auf eine dezidiert christliche Dogmatik zu nehmen. Das gilt in Teilen sogar für die Trinitätstheologie, wie schon Schelling auch historisch nachweist. 68 Dass das Projekt der Natürlichen Theologie im christlichen Überlieferungszusammenhang auf besonders fruchtbaren Boden gefallen ist und hier besonders reich und kontrovers entwickelt und debattiert wurde, hängt wesentlich mit der Stellung der Philosophie und der auf Philosophie gegründeten Wissenschaft in der christlichen Kultur zusammen. Es liegt dabei an Binnendifferenzen zwischen Ost- und Westkirche, dass die Idee der Universität als philosophischer, universaler Forschungs- und Bildungsinstitution zunächst in Westeuropa entwickelt und nach der Reformation auch in den protestantischen Ländern weitergeführt wird, wenn auch unter einer zunehmend pragmatischen Zwecksetzung. Auf Details der Institutionengeschichte kann hier jedoch nicht weiter eingegangen werden. Angesichts der zu keiner Zeit theologisch unangefochtenen Stellung der Natürlichen Theologie als des philosophischen Teils der Theologie muss man aber festhalten: Dass die großen Namen der Natürlichen Theologie zu einem großen Teil von Christen getragen wurden, ist nicht die theoretische Voraussetzung ihrer theologischen Theoriebildung gewesen. Gerade umgekehrt bestimmt ihre Natürliche Theologie ihre Auffassung von Sinn und Gehalt der christlichen Dogmatik und Asketik maßgeblich. Das gilt selbst für Thomas von Aquin und Schelling, die beide – jeder auf seine Weise – versuchen, einen möglichst engen Zusammenhang zwischen Natürlicher und Geoffenbarter Theologie herzustellen. Das Christentum hat die Natürliche Theologie über lange Zeiträume hinweg mehr oder weniger gastfreundlich beherbergt, aber es hat sie nicht erzeugt. Wer sich angesichts dieses Befunds dennoch weigert, die Autonomie der Natürlichen Theologie von der dogmatisch gebundenen Offenbarungstheologie anzuerkennen, zeigt womöglich seinen Unwillen, sich auf die darin vorkommenden Argumente überhaupt einzulassen, sei es aus fideistischer Scheu vor 68   Vgl. z. B. PO, Vorlesung 42–44. Darin geht es insbesondere um den Nachweis trinitarisch-monotheistischer Strukturen im griechischen Polytheismus. Ausführlicher und historisch-kulturell breiter angelegt ist diesbezüglich die Philosophie der Mythologie.

3.  Die Vielfalt der Religionen

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Rationalität in theologicis, sei es aus allgemeiner Abneigung gegen die Spezielle Metaphysik oder gegen diesen Teil derselben. Andererseits scheint es doch, als sei Natürliche Theologie zumindest nicht mit beliebigen religiösen Überlieferungen vereinbar, sondern allein mit monotheistischen. Darin ist sehr viel Richtiges. Denn schon seit ihren Anfängen bei Xenophanes und Anaxagoras ist die Natürliche Theologie polytheismuskritisch, und der Nachweis der inneren Inkohärenz eines echt polytheistischen Glaubens führt zusammen mit der Einsicht, dass eben aus dieser inneren Widersprüchlichkeit das Schreckliche und Grauen Erregende echter polytheistischer Religiosität erwächst, zu seiner Überwindung in einem philosophischen Monotheismus. Parallel dazu sind auch die großen monotheistischen Religionen aus religiösen Kritiken polytheistischer Vorgängerreligionen hervorgegangen. 69 Das gilt schon für den kurzlebigen Monotheismus Echnatons; es gilt aber auch für den mosaischen Glauben und den Islam. Das Besondere des Christentums besteht darin, dass es als gedachte Vollendung und Überwindung des jüdischen Glaubens sowohl zum bereits bestehenden jüdischen Monotheismus als auch zum ‚heidnischen‘ Polytheismus in Opposition steht und so „den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“ wird.70 Dass die Versuche des Paulus, sich in dieser Lage mit der Philosophie zu verbinden, namentlich mit Stoikern und Epikureern, zunächst gescheitert sind, erfahren wir aus der Apostelgeschichte.71 Christentum und Islam sind dezidiert universalistische, lokale Traditionen transzendierende Religionen, wie auch bereits das Judentum zur Zeit der Propheten immer stärker zum Universalismus tendiert. Auch diesbezüglich zeigt sich eine starke Nähe zu Philosophie und Wissenschaft. Doch die Entwicklung einer eigentlichen Natürlichen, d. h. philosophischen Theologie und die Entwicklung der monotheistischen Religionen verlaufen dennoch als zum großen Teil voneinander unabhängige, wenn auch konvergente Prozesse. Da jeder Monotheismus religionskritische Elemente enthält, ist er unter Umständen der nächste nichtphilosophische Dialogpartner für die Natürliche Theo­logie. Monotheistischer Glaube kann somit ein günstiger Nährboden für Natürliche Theologie sein, doch er ist ihr keine Entstehungsbedingung. Wie steht es aber mit einer religiösen Bewegung wie dem Buddhismus? Der Buddhismus wird von vielen heutigen Autoren als Paradebeispiel für eine atheistische Religion, eine Religion ohne Gott angeführt.72 Und zweifellos ist der 69   Vgl. Rentsch 2001, auch wenn seine These, dass es einen durchgehenden speziell metaphysikkritischen Zug authentischer Religion gebe, sehr speziell und keineswegs unproblematisch ist. 70   1. Kor. 1,23. Die Situation Mohammeds ist nur auf den ersten Blick mit der religionspolitischen Problemlage des frühen Christentums vergleichbar. Denn anders als die jüdische Überlieferung durch Jesus von Nazareth wird die christliche Dogmatik von Mohammed nicht aufgenommen, sondern im Gegenteil in allen wesentlichen Punkten verworfen. 71  Vgl. Apg. 17. 72   Vgl. etwa Tugendhat 2003, S.  131, zum Daoismus S.  132 ff. Auf S.  135 resümiert er, dass

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Buddhismus polytheismuskritisch, nämlich als Opposition gegen den Hindu-Polytheismus. Aber für Natürliche Theologie lässt er ganz offensichtlich keinen Platz, wohl deswegen, weil er, wie diese Autoren vermuten, als Atheismus keinen Raum für welche Theologie auch immer lasse. Damit stellt er, so wird es meist gesehen, die Natürliche Theologie vor eine große Herausforderung. Es fragt sich allerdings, ob der Buddhismus tatsächlich eine eigenständige Religion ist und nicht vielmehr nur der Entwurf einer als gut empfohlenen Lebensweise, einschließlich einer bestimmten Asketik und Diätetik, der mit Fragmenten einer nicht explizierten, sondern insgesamt vorausgesetzten Metaphysik begründet wird. Nach den bisher formulierten Kriterien wäre der Buddhismus jedenfalls klarerweise keine Religion, weil der Glaubensgehalt, der im Licht der bisherigen Überlegungen als grundlegend für die Religion als Tugend ist, nur angedeutet wird. Doch um hier nicht mit einer petitio principii zu argumentieren, kann man auf die Tatsache hinweisen, dass der Buddhismus von Haus aus synkretistische Verbindungen mit den je lokalen religiösen Traditionen eingeht, um die dogmatischen Leerstellen der eigenen Überlieferung zu füllen. Somit scheint es zumindest mehr als irreführend, ihn als atheistisch zu bezeichnen, da er sich sowohl mit polytheistischen als auch mit monotheistischen Überlieferungen zwanglos verbindet. Das heißt im Umkehrschluss, dass er selbst zur Frage nach der Existenz von Gott oder Göttern keine klare Position entwickelt. Nun kann man durchaus sagen, dass insbesondere in der Tradition des im Okzident besonders aufmerksam rezipierten Zen-Buddhismus Ansätze zu einer eigenständigen mystisch-negativen Metaphysik entwickelt worden sind, die eine atheistische Interpretation nahezulegen scheinen. Doch auch hier sind die Erscheinungen möglicherweise trügerisch. Denn ein explizites Verbot, spekulativen Fragen nach ersten Ursachen und letzten Seinsgründen nachzugehen, ist etwas ganz anderes als die These, dass es so etwas wie transzendente erste Ursachen und letzte Gründe nicht gibt. Die Furcht vor unkontrollierten und das Denken beherrschenden Anthropomorphismen ist hier stärker als das weisheitliche Streben nach Erkenntnis, so dass die Weisheit eher darin gesehen wird, auf solche Fragen zu verzichten. Es ist ernst zu nehmen, wenn es heißt, dass Zen die Attraktivität des Daoismus vor allem darin liege, dass er anders als die europäische mystische und theologische Tradition nicht „mit ontologischen Strukturen“ verbunden sei und deshalb „unmittelbarer zu uns sprechen“ könne. Vgl. auch Schneider 2008, S.  99, der den Buddhismus als „nicht-theistische Religion“ ansieht und auf S.  126–136 die buddhistische Metaphysik als entbehrliche façon de parler darstellt. Schneider legt ferner nahe, dass auch das Christentum nichtmetaphysisch deutbar sein könnte. Die These von der Vereinbarkeit von Buddhismus und Christentum findet sich schon bei Schopenhauer, der seine eigene Philosophie als zugleich buddhistisch und als ‚recht verstandenes Christentum‘ bezeichnet, wenn auch ohne Tugendhats und Schneiders Aversion gegen Metaphysik. Vgl. WWV II, Buch IV 41, S.  6 44 ff.

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keine Lehre, sondern bloße Praxis sei. Darin zeigt sich eine bis ins Paradoxe gesteigerte Zuspitzung von Lehren, wie man sie aus dem Daoismus und noch mehr aus dem Konfuzianismus kennt, nämlich die Abkehr von spekulativen Fragen und die Forderung, dem Praktischen und Naheliegenden den Primat zu geben. Hier spricht sich eine pragmatische, jeder Spekulation gegenüber kritische Haltung aus, nicht aber eine echt atheistische oder auch nur agnostische Dogmatik. Weder Buddhismus noch Konfuzianismus und Daoismus sind daher als Religionen im vollen Sinn anzusehen, auch wenn der Daoismus und die davon beeinflussten Strömungen des Buddhismus gewisse theistische Tendenzen zeigen, die sie in die Nähe von Religionen im vollen Sinn rücken. Kant sagt zugespitzt, dass es nur eine Religion geben könne. 73 Aus seiner Sicht ist diese extreme These deswegen richtig, weil er meint, dass der Weg zur Religion als reinem Vernunftglauben ausschließlich über die praktische Vernunft führt und damit über die Einsicht in die unbedingte Geltung des Sittengesetzes. Da dieses nur eines für alle endlichen Vernunftwesen und damit im Hinblick auf die Menschheit universal sei, könne es auch nur eine recht verstandene universale Religion geben. Jede Absonderung innerhalb dieses universalen Ganzen sieht Kant als bloße Sekte an. Damit wird er auch zum Vordenker des Projekts Weltethos, welches sich die Suche nach ethischen Gemeinsamkeiten in den diversen religiösen Überlieferungen und Lebenszusammenhängen zur Aufgabe macht, um auf diese Weise globale und universal anerkennungsfähige Maßstäbe des Gerechten und Guten zu finden.74 Anders als bei Kant aber wird hier der Grund für die Hoffnung, dass sich echte Gemeinsamkeiten zwischen den anscheinend so disparaten Traditionen in hinreichendem Umfang finden lassen, nicht expliziert; man begnügt sich mit dem Hinweis, dass sich ethische Minimalstandards wie die Goldene Regel oder das Verbot willkürlicher Schädigungen anderer Personen im Sinne einer empirisch überprüfbaren Tatsache in allen bekannten religiösen Traditionen wiederfinden lassen. Wie echt diese Gemeinsamkeiten allerdings sind, lässt sich so lange nicht bestimmt sagen, wie nicht geklärt ist, auf welche Weise die fraglichen Standards und Normen in den jeweiligen Überlieferungszusammenhängen interpretiert werden. Ferner abstrahiert das Projekt Weltethos von den je besonderen Gründen, auf denen ethische Normen und Standards nach Auffassung der Anhänger der verschiedenen Religionen beruhen. Das ist deswegen ein Problem, weil im Zuge der je spezifischen Moralbegründungen auch vorentschieden wird, welcher moralischen Norm im Fall einer Prima-facie-Normenkollision der Vorrang eingeräumt werden muss. Dieses Problem besteht auch dann, wenn die Norminterpretation nicht strittig ist und kein bloßer Formelkonsens auf der Basis äquivoker Normformulierungen vorliegt. Man denke zur Illustration etwa an das Verhältnis des  Vgl. RGV, A 146.   Vgl. Küng 1992 und Frühbauer 2010.

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Prinzips der Gerechtigkeit zum Prinzip der Vermeidung von Schmerz. Wo Letzteres als oberste Norm angesehen wird, ergibt sich notwendig nicht bloß ein bis in die Diätetik hinein anderes Ethos, sondern eine fundamental andere Rechtsordnung als dort, wo die Erhaltung oder Wiederherstellung von Gerechtigkeit höher bewertet wird. Ein auf Moraldiskurse beschränktes Projekt Welt­ ethos kann solche Differenzen nur konstatieren. Eine rationale Auflösung oder Entscheidung transkultureller Normkonflikte liegt jenseits seiner Möglichkeiten, weil es sich letztlich um metaphysische Differenzen handelt, die auch nur in einem metaphysischen Diskurs aufgeklärt werden können. Im Licht einer restituierten Natürlichen Theologie lässt sich Kants Diktum von der Einheit der Religion ein anderer und sehr viel umfassenderer Sinn geben als der eines bloß moralischen gleichen Kerns aller religiösen Bekenntnisse. Denn in einem umfassenden Sinn muss Religion als Ausrichtung des Menschen an einer von einem transzendenten Prinzip ausgehenden Seinsordnung verstanden werden. Natürliche Theologie beruht nun auf dem Versprechen, dass dieses Prinzip der Vernunft zugänglich ist und damit zumindest in einem gewissen Umfang mit theoretischen Mitteln erkannt werden kann. Nur wenn das wahr ist, hat es Sinn zu sagen, dass alle Religionen das Gleiche intendieren und somit ‚eins‘ sind. Doch wenn es wahr ist, dann öffnet sich auch Raum für Diskurs und wechselseitige Kritik anstelle eines bloßen Nebeneinander oder gar eines gewaltsamen Gegeneinander. Toleranz ist und bleibt eine politische Grundtugend nicht nur bei religiösen Differenzen. Aber Toleranz allein löst die entsprechenden Konflikte nicht. Natürliche Theologie erweist sich damit auch als der einzige Weg, auf dem ein interreligiöser Dialog, der den Namen verdient, überhaupt möglich ist. Ansonsten bleibt die Auseinandersetzung dazu verurteilt, im noch günstigsten Fall bei bloß politischen Konsensformeln stehen zu bleiben. Für politisch-pragmatische Kompromisse auf Zeit mag das genügen. Wenn es aber um eine echte geistige Auseinandersetzung gehen soll, dann braucht der Dialog eine gemeinsame tische Basis, auf der die bestehenden Differenzen überhaupt erst zu theore­ Argumen­ ten werden können. Diese Basis ist die Natürliche Theologie als Hauptdisziplin der Speziellen Metaphysik. Die Hauptprobleme der interreli­ giösen Verständigung sind letztendlich philosophisch und daher auch nur durch Philosophie aufzuklären. Illusionär muss dagegen die Vorstellung erscheinen, dass im Zuge eines interreligiösen Dialogs alle Religionen oder zumindest alle universalistischen Religionen zu einer neuen Universalreligion verschmelzen könnten, ganz gleich ob man sich diese als Vernunftreligion wie im 18. Jahrhundert vorstellt oder als globale und synkretistische Einheitsreligion, wie sie von manchen Theoretikern der so genannten Globalisierung befürwortet wird. Denn es ist nicht zu sehen, wie eine solche neu zu begründende Weltreligion mehr sein könnte als der Ausdruck der jeweiligen kontingenten Stimmungen eines globalen Zeitgeistes.

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Denn Religionen können ihre Identität nur aus den Traditionen beziehen, in denen sie stehen. Eine Einheitsreligion stünde aber in keiner bestimmten Tradition. Natürliche Theologie hat mit solchen Vorstellungen nichts gemein. Das hier skizzierte Verständnis der Bedeutung von Philosophie für den interreligiösen Diskurs unterscheidet sich daher grundlegend von dem Bild, welches Jürgen Habermas in den vergangenen Jahren vom Diskurs zwischen Religion und ‚säkularer‘ Gesellschaft gezeichnet hat, auch wenn es auf den ersten Blick gewisse Gemeinsamkeiten zu geben scheint.75 Für Habermas spielt die Philosophie im öffentlichen Diskurs mit religiösen Traditionen deswegen eine bedeutende Rolle, weil diese Traditionen zwar normativ signifikante Aspekte eines humanen, nicht reduktionistischen Menschen- und Weltbildes in den Diskurs einbringen, dies aber in einer Sprache tun, die außerhalb ihres je eigenen Überlieferungszusammenhangs unverständlich ist. Er schreibt der Philosophie hier die Aufgabe eines Dolmetschers, eine „mäeutische Rolle“ (S.  249) zu, die darin bestehen soll, die „verkapselten […] semantischen Potentiale“ religiöser Sprache zu erschließen, indem sie die relevanten Teile des religiösen Sprachspiels – und nur diese – so in ein zeitgemäßes, ‚säkularisiertes‘ Idiom übersetzt, dass die moderne, ‚säkulare‘ Gesellschaft sie verstehen und als bedeutsam anerkennen kann. Dass er dabei nicht an die Natürliche Theologie denkt, liegt auf der Hand. Denn diese hält er mit Kant und ohne sie eigens zu diskutieren ganz offenkundig für erledigt.76 Philosophie im Sinne von Habermas spricht in diesem Zusammenhang gar keine eigene Sprache; sie hat keinen Gegenstand und keine eigene Methode, abgesehen von der Kompetenz, das kognitiv und normativ Signifikante aus dem religiösen Sprachspiel zu extrahieren, eine Kompetenz, deren Quelle bei Habermas unerklärt bleibt. Das ist durchaus ein Problem. Denn wenn es sich bei den relevanten Gehalten nur um das handelt, was postmetaphysische Philosophie77 75   Vgl. Habermas 2005, darin v. a. „Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie“, S.  216–257. 76   In diesem Zusammenhang begnügt er sich mit einem sehr kurzen zustimmenden Referat von Kants allgemeiner Metaphysikkritik; vgl. ebd., S.  217. Natürliche Theologie als genuin philosophische Disziplin wird dabei gar nicht thematisch – oder aber sie wird mit rein politischen Begriffen als antimodernes Denken denunziert, als Versuch, „die Wunden, die die Moderne geschlagen hat“, mit metaphysischen Mitteln zu heilen, oft mit „entsprechenden politischen Absichten“ (S.  253). Die bloße Nennung der Namen Leo Strauss und Carl Schmitt genügt ihm, um anzudeuten, um welche Art von politischen Absichten es sich dabei handeln soll. Die gesamte weitere Diskussion beschränkt sich auf die Betrachtung des Verhältnisses von Philosophie und Offenbarungstheologie. Nur so kann das Verhältnis von Wissen und Glauben als Spannung zwischen Vernunft und einem Glauben an „die retroaktive Macht eines Erlösergottes“ (S.  221) stilisiert werden, die für die Philosophie eine „kognitiv unannehmbare Zumutung“ bleiben müsse (S.  252). Hegels Kritik an Kants Religionsphilosophie kritisiert Habermas mit Marx als Rückfall in die von Kant überwundene Metaphysik; vgl. ebd., S.  239. 77  Habermas verbindet mit dem Terminus postmetaphysische Philosophie bekanntlich eine philosophiegeschichtliche These, nach der Philosophie unter Bedingungen der Moderne

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aus sich heraus ebenfalls hervorbringen kann, dann sind ihre Dienste als Dolmetscher offenkundig entbehrlich bzw. bloße Freundlichkeit gegenüber den religiös Gläubigen. Wenn es sich aber so verhält, dass postmetaphysische Philosophie ihre eigenen kognitiv und normativ signifikanten Geltungsansprüche nicht mehr fundieren kann, dann wäre sie nicht mehr bloß neutraler Übersetzer, sondern angewiesen auf religiöses Denken. Diese Möglichkeit müsste Habermas also ausschließen können.78 Habermas’ offizielles Bild ist klar genug. Er geht von strikt getrennten Sphären aus. Philosophie maße sich nicht an, „selber zu entscheiden, was wahr oder unwahr ist an der Religion“.79 Sie beschränke sich auf diejenigen Seiten des religiösen Sprachspiels, die kognitiv signifikant sind (weil und sofern sie das Menschenbild betreffen) oder als normativ bedeutsam geltend gemacht werden können (weil und sofern sie moralische oder rechtliche Folgerungen betreffen, die sich aus diesem Menschenbild ergeben). Philosophie soll dabei bloßes Sprach­ rohr sein und nicht Partei ergreifen. Als kognitiv und normativ signifikant soll dabei nur das zählen, was sich in einen „vom Sperrklinkeneffekt der Offenbarungswahrheiten entriegelten Diskurs übersetzen [lässt; H.T.]. In diesem Diskurs zählen nur ‚öffentliche‘ Gründe, also Gründe, die auch jenseits einer partikularen Glaubensgemeinschaft überzeugen können.“80

Man beachte, dass der Terminus ‚öffentlich‘ hier in einer speziellen Weise verwendet wird. Es soll nämlich für die ‚Öffentlichkeit‘ eines Grundes nicht ausreichen, dass er öffentlich artikuliert und verteidigt wird, anstatt bloß privat denk- und handlungsleitend zu sein. Er muss dazu nach Habermas’ Auffassung für die säkulare Diskursgemeinschaft auch verständlich und obendrein akzeptabel sein, er muss ‚überzeugen können‘. Wie ‚entriegelt‘ ein solcher auf faktische Akzeptanz ausgerichteter Diskurs aber sein kann, ist gar nicht klar. Das Bild wäre so lange zumindest nachvollziehbar, wie sein Zweck darin bestünde, bloß faktische Genesen eines allgemeinen oder verbreiteten Für-wahr-Haltens, eines Mehrheits- oder Expertenkonsenses zu beschreiben. Aber es soll – wie Habermas unmissverständlich klar macht – normativ richtig sein. Das heißt aber, dass kognitiv und normativ signifikant, also überhaupt nur ein Kandidat notwendig auf den metaphysischen Teil ihrer Ambitionen verzichtet bzw. diesen ‚säkular‘ transformiert. Ansonsten bleibt Philosophie ‚vormodern‘, was kritisch gemeint ist. Vgl. Habermas 1988. Ich verwende den besagten Terminus hier, ohne mir Habermas’ Bild der (Philosophie-)Geschichte zu eigen zu machen, als Bezeichnung für ein bestimmtes philosophisches Projekt, für das nicht zuletzt Habermas selbst steht. 78   Dass eine postmetaphysisch sein wollende Philosophie im Dialog mit Religion vor genau diesem Dilemma in ihrem Selbstverständnis steht, entspricht der Diagnose Joseph Ratzingers; vgl. Habermas/Ratzinger 2005. 79   Ebd., S.  255. 80  Ebd.

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für Wahrheit und Richtigkeit, nur solche Gründe sein sollen, die überhaupt eine Chance haben, von der säkularen Öffentlichkeit verstanden und akzeptiert zu werden. Die stillschweigende Unterstellung eines Konsensbegriffs der Wahrheit liegt dieser Darstellung der intellektuellen Arbeitsteilung von Religion, Philosophie und ‚öffentlichem‘, d. h. säkularem Diskurs unübersehbar zu Grunde, trotz aller verbalen Selbstdistanzierungen von Konsenstheorien der Wahrheit. 81 Ein stärkerer Riegel gegen diskursive Offenheit lässt sich in einem vorgeblich offenen Diskurs wohl kaum installieren. Für die Wahrheitsansprüche der Religion in der säkularen Öffentlichkeit bedeutet dies nämlich, dass sie prima facie überhaupt nicht zählen, ausgenommen diejenigen Teile davon, für die sich ein ‚philosophischer Übersetzer‘ findet. Das Dilemma im Selbstverständnis einer in Habermas’ Sinne postmetaphysischen Philosophie bleibt aber bestehen. Wie macht sie innerhalb des religiösen Sprachspiels die kognitiv und normativ signifikanten Elemente ausfindig? Und was genau heißt es, sie in ein ‚säkulares‘ und damit (?) allgemeinverständliches Idiom zu übersetzen? Heißt das nicht bloß, dass bestimmte Elemente der Geltungsansprüche religiöser Sprachspiele zwar aufgenommen, deren sprachspielinterne Begründungen aber als unverständlich und damit öffentlich nicht bewertbar weggelassen werden? Wäre das tatsächlich ein Beitrag zur Erschließung semantischer Potentiale religiöser Sprachspiele für den öffentlichen Diskurs? Zumal dann, wenn postmetaphysische Philosophie an Stelle der nicht übernommenen Gründe für bestimmte kognitiv und normativ signifikante Aussagen keine eigenen Gründe benennen kann, und zwar weil sie selbst metaphysisch abstinent bleibt? Man muss Habermas zugestehen, dass jede Berufung auf Offenbarung nur dann autoritative Kraft entfalten kann, wenn die Offenbarung als authentisch anerkannt und entsprechend respektiert wird, und dass diese Bedingung de facto weder in mehrheitlich säkularen noch in religiös pluralen Gesellschaften erfüllt ist. Aber die in einer solchen Situation herrschende Sprachlosigkeit zwischen den Angehörigen verschiedener religiöser Gemeinschaften sowie zwischen Gläubigen verschiedener Konfessionen einerseits, Atheisten, Agnostikern und Indifferentisten andererseits kann durch eine metaphysisch abstinente Philosophie nicht überwunden werden. Denn eine solche Philosophie kann vielleicht aus religiösen Überzeugungen gespeiste moralische oder allgemein das Menschenbild betreffende Prinzipien reformulieren. Zu den Quellen dieser Prinzipien im religiösen Glauben fehlt ihr aber nach Habermas der Zugang. Was sie daher bestenfalls tun kann, ist, die Sprachlosigkeit in offenen, aporetischen Dissens zu überführen. Damit würde sie tatsächlich einen ganz eigenen Beitrag zu einer ‚entgleisenden Moderne‘ (Habermas) leisten.

  Vgl. Habermas 1999.

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Auf die von Habermas dargestellte Weise kann Philosophie den religiösen Traditionen nicht von Nutzen sein. Denn postmetaphysische Philosophie ist dazu verurteilt, in der Religion ‚alles zu lassen, wie es ist‘ (Wittgenstein). Das bedeutet, dass sie hier nicht zu Gründen vorstößt und sich mit bloßer Hermeneutik begnügt oder besser begnügen muss, da es nicht um Religionskritik geht. Eben deswegen bleibt aber auch der Übersetzungsdienst, den Philosophie leisten soll, für die Religion ohne Bedeutung oder Nutzen. Natürliche Theologie kommt bei Habermas nicht vor. Käme sie vor, dann würde das das gesamte Bild ändern, zumal wenn man, anders als dieser, konsensualistische Vorabannahmen darüber weglässt, was eine moderne, säkulare Öffentlichkeit verstehen kann und was nicht. Solche Annahmen wären nicht mehr nötig, da Natürliche Theologie – anders als postmetaphysische Philosophie nach Habermas – sehr wohl über eine eigene Sprache, eigene Methoden und eigene Ziele verfügt. Sie kann und darf sich daher weder an bereits existierenden Konsensen orientieren, noch muss sie an den religiösen Traditionen, mit denen sie ins Gespräch kommt, alles lassen, wie es ist. Im Gegenteil, als Teildisziplin der Metaphysik sucht sie ihrerseits nach den Gründen für die kognitiv und normativ signifikanten Geltungsansprüche, die innerhalb der verschiedenen religiösen Traditionen erhoben werden. Habermas hat Recht, dass es hier auch hermeneutische Probleme zu lösen gibt, da religiöse Überlieferungen typischerweise nicht in terminologisch reglementierter Weise artikuliert werden, sondern in eher poetischer Form, z. B. lyrisch oder parabolisch. Hier ist Auslegungskunst gefordert, ebenso wie der Dialog mit Angehörigen der jeweiligen Konfession über die je einheimischen Auslegungstraditionen und ihre Geschichte. Dieses hermeneutische Problem stellt sich auch und gerade im Umgang mit den großen Universalkonfessionen, einschließlich der monotheistischen ‚Buchreligionen‘ Judentum, Christentum und Islam. Es stellt sich hier in besonderer Weise, da sich innerhalb dieser Konfessionen zum Teil sehr verschiedene lokale Auslegungspraktiken etabliert haben. Das hermeneutische Problem ist zwar nicht das größte und nicht das entscheidende. Es bleibt aber unlösbar, wenn nicht eine theologische Basis gefunden wird, die der religiösen Hermeneutik als Anknüpfungs- und Orientierungspunkt dienen kann. Bloße religiöse Hermeneutik ohne systematischen, vom Gegenstand her gewonnenen Leitfaden ist undurchführbar, und der Versuch muss notwendig in subjektiven Auslegungen stecken bleiben. Systematische Fragen müssen den Vorrang haben. Nur Natürliche Theologie kann der religiösen Überlieferung auf einer ihr gemäßen Redeebene begegnen. Postmetaphysische Philosophie ist dazu nach Habermas’ eigener Erklärung nicht willens oder in der Lage. Natürliche Theologie redet dagegen von dem, wovon auch in der religiösen Tradition die Rede ist, oder von dessen Ursachen und Prinzipien. Für alle traditionellen religiösen Bekenntnisse bringt das die Zumutung theoretischer Reflexion und metaphy-

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sischer Spekulation mit sich, für die viele von ihnen nicht ohne weiteres offen sind. Aber eine Zumutung besonderer Art stellt die Natürliche Theologie auch für die ‚säkulare‘, religiös häufig indifferente moderne Gesellschaft dar – denn zweifellos ist die säkulare Öffentlichkeit keine bloße Habermassche Konstruktion, sondern zumindest in weiten Teilen Europas ein echtes Phänomen. 82 Hier wird sie nun konfrontiert mit der nach verbreiteter Meinung als abenteuerlich geltenden These, dass es theoretisch nachvollziehbare und kraftvolle Argumente für die Existenz Gottes gibt und dass religiöse Überzeugungen folglich weder von Grund auf abwegig noch eine Sache bloßen Meinens oder Fühlens sind. Dieser Gedanke geht völlig gegen den Strich des modernen Denkens, und zwar nicht deswegen, weil es von den Naturwissenschaften geprägt wäre, wie es oft heißt. Das ist deswegen hier nicht relevant, weil die Naturwissenschaften zu den hier relevanten Fragen so gut wie nichts beitragen können, weder zur Klärung der Fragestellung noch zu ihrer Beantwortung. Es liegt vielmehr daran, dass das moderne Denken den Kontakt zu metaphysischen Fragestellungen teils verloren hat, teils sich mit willkürlichen Antworten in Gestalt bloßer metaphysischer Konstruktionen abspeisen lässt. Und dieser Selbstabschluss vor der Meta­physik imprägniert auch die moderne Naturwissenschaft und prägt sie sowohl dort, wo sie vor der Spekulation ausweicht, als auch dort, wo sie selbst mit metaphysischen Konstruktionen hantiert. Dass bloß innertheoretische Kohä­ renz noch kein Ausweis gelingender metaphysischer Spekulation ist, daran muss die Natürliche Theologie das moderne Denken erst wieder erinnern, indem es ihm die Anstrengung der Spekulation zumutet.

4.  Natürliche Theologie zwischen Philosophie und Offenbarungstheologie Doch auch für die zwar konfessionell gebundene, sich aber zugleich als Wissenschaft verstehende Theologie des Offenbarungsglaubens ist die Natürliche Theo­logie nicht frei von Zumutungen, und daran hat sich seit Anselm von Canterbury bis heute kaum etwas geändert. Dabei kommt es immer wieder zu schiefen Frontstellungen. Ein nach wie vor lehrreiches Beispiel dafür ist noch immer der so genannte Fragmenten- bzw. Reimarus-Streit zwischen Gotthold Ephraim Lessing und dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze. Wenn Lessing dabei die Offenbarungstheologie kritisiert, dann spricht daraus nicht so sehr die Stimme der Aufklärung und Vernunft gegen den Aberglauben, wie eine bestimmte Rezeptionslinie bis heute meint. Denn Offenbarungstheo82   Vgl. aber die soziologische Kritik an Habermas’ damit verbundener geschichtsphilosophischer These von einer unabwendbaren Säkularisierung moderner Gesellschaften in Joas 2004, S.  122–128.

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logie versteht sich selbst ebenfalls als ein vernünftiges Unternehmen, und das betont gerade Goeze immer wieder mit Nachdruck. Nur soll es sich um ein Unternehmen handeln, bei dem sich menschliche Vernunft aus freier Einsicht der höheren Autorität des göttlichen Geistes unterwirft, der aus der Heiligen Schrift zu ihr spricht. Allerdings lässt Goezes Theologieverständnis keinen Raum für Natürliche Theologie, da er als strenger Lutheraner glaubt, dass die Theologie als ganze sola scriptura argumentieren könne und müsse und damit mit Offenbarungstheologie zusammenfalle. Entsprechend schließt er unter Berufung auf Luther jegliche Textkritik am Wortlaut der Heiligen Schrift von vornherein aus. 83 Genau dagegen richtet sich nun Lessings polemische Kritik, die er in Verteidigung der religionskritischen Thesen des Hermann Samuel Reimarus gegen eine reine Offenbarungstheologie entwickelt. Das heißt, es geht ihm um eine Verteidigung Natürlicher Theologie gegen eine rein autoritär argumentierende Offenbarungstheologie. Damit verteidigt Lessing zugleich – und durchaus im Kontrast zu Reimarus – das Recht der Philosophie auf metaphysische Spekulation. Insofern kann er sich für missverstanden erklären, wenn Goeze diese Publikationen als „feindselige Angriffe auf unsere allerheiligste Religion“ einschätzt. 84 Allerdings wird das im Verlauf der Polemik nicht immer deutlich, und das ist wohl der Grund dafür, dass die Positionen in dem sehr heftig geführten Streit immer wieder ihre Konturen ändern oder sie ganz zu verlieren drohen. 85 Das liegt nicht zuletzt daran, dass Lessings eigene Position keinesfalls identisch mit der von Reimarus ist. Er ediert Auszüge aus dessen unveröffentlichter Schrift zur Verteidigung des Deismus, ohne selbst eine dezidiert deistische These vertreten zu wollen. Er teilt auch nicht Reimarus’ Impetus, die jüdische und christliche Tradition des Offenbarungsglaubens insgesamt zu zerstören. Diese Pointe entgeht Goeze allerdings weitgehend. Dabei muss man diesem zugutehalten, dass nicht unbedingt auf der Hand liegt, was Lessing mit der Serie von Reimarus-Publikationen eigentlich bezweckt. Nicht zuletzt droht seine Tätigkeit zur posthumen Rufschädigung des zuvor als Verteidiger der christlichen Religion hochgeschätzten Hamburger Gelehrten zu führen. Lessing versucht das zu vermeiden, indem er den Namen des Autors verschweigt und die Herkunft des Manuskripts verschleiert, indem er vortäuscht, es in der Wolfenbütteler Bibliothek aufgefunden zu haben. 86 Dabei muss er aber zugleich den Verdacht zer  Goeze, Vorläufiges, 1778, S.  167.   Ebd., S.  21. 85   So klagen beide Kontrahenten wiederholt darüber, dass der Streit vom Gegner sonderbar geführt werde, und insbesondere Goeze wirft Lessing vor, den Streit nicht argumentativ, sondern rhetorisch zu führen, im Rückgriff auf „unerwartete Bilder und Anspielungen“ und mit „Sophismen, Equivocen und Fallacien“. (Ebd., S.  169) Dass diese Klage nicht ganz grundlos ist, wird die weitere Erörterung bestätigen. 86   Vgl. die Einleitung zum ersten Reimarus-Fragment, Lessing 1774, S.  313 f. 83

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streuen, er selbst könnte Autor dieser Texte sein, weswegen er später dazu übergeht, doch Andeutungen über die Identität des Verfassers der Fragmente fallen zu lassen, die den Verdacht der Autorschaft von ihm selbst ablenken. 87 Später geht er zu der zusätzlichen Behauptung über, dass die Fragmente längst im Geheimen zirkuliert wären und „darum keinen geringern Eindruck mache[n], weil der Eindruck nicht in die Augen falle“, 88 ein Vorgang, den er nur durch Publikation habe abstellen können. Die rechtfertigende Kraft, die dieses Argument haben soll, schwächt er selbst aber gleich im Anschluss, wenn er ausführt, dass er am liebsten jedes unveröffentlichte Manuskript publizieren würde. 89 Es ist daher wohl nicht erstaunlich, dass Goeze die Glaubwürdigkeit solcher Auskünfte für gering hält. Wohl weil Moses Mendelssohn all diese Schwierigkeiten von Anfang an voraussieht, rät er Lessing schon früh unverhohlen von der Veröffentlichung der Fragmente ab.90 Diese Komplikationen muss man mitbedenken, wenn man versucht, die heftigen Reaktionen auf diese Publikation zu verstehen. Dann wird auch besser nachvollziehbar, warum Goeze die Selbstdistanzierung Lessings vom Autor der Fragmente entweder nicht bemerkt oder für vorgetäuscht hält. Das erste der von Lessing veröffentlichten Reimarus-Fragmente91 ist ganz der Toleranz-Problematik gewidmet und fordert die gleiche Duldung (Toleranz), die Protestanten für sich einforderten und sich auch untereinander zu gewähren bereit seien, ja die sie sogar auf Juden und Muslime auszudehnen anfingen, auch für Richtungen der philosophischen Theologie wie den Deismus ein. Hier ist die Stoßrichtung klar politisch und noch nicht spekulativ. Und im zweiten Fragment wird zunächst die ganz allgemeine Notwendigkeit des Vernunftgebrauchs auch in Offenbarungsfragen herausgestellt,92 um dann einen gewissen Gegensatz zwischen dem zu konstruieren, was durch Offenbarung bekannt werden kann, und dem, was bloß natürliche Vernunft von sich aus einzusehen vermag.93 Ziel ist es zu zeigen, dass Offenbarungsglauben ohne Vernunft nicht

87   Vgl. etwa Lessing, Duplik, 1778, S.  32. Goeze bemerkt diese Unstimmigkeit und bezichtigt Lessing deswegen der Lesertäuschung. Vgl. Goeze, Vorläufiges, 1778, S.  183. 88   Lessing, Anti-Goeze, 1778, S.  238 f. 89   Ebd., S.  239. 90   Vgl. Mendelssohns Brief vom 29. 11. 1770, a.a.O., S.  879. Immerhin gelingt es Lessing, die Identität des Fragmentenautors geheim zu halten. Dass Reimarus der Autor ist, wird erst 1813 bekannt, als seine Familie den Nachlass publik macht. 91   Vgl. Lessing 1774. 92   Vgl. Lessing, Mehreres, 1777, S.  332–344. 93   Vgl. ebd., S.  344–388. Eine genauere Untersuchung der antijudaischen und explizit antijüdischen Tendenzen insbesondere im dritten und vierten Reimarus-Fragment kann hier nicht vorgenommen werden, auch wenn sie schon bei flüchtiger Lektüre in die Augen fallen. Diese Seite an Reimarus versucht Lessing dann in seiner Gegenrede zu korrigieren, wenn er in dem darin eingearbeiteten Fragment aus der Erziehung des Menschengeschlechts die Juden als „Erzieher des Menschengeschlechts“ bezeichnet: vgl. ebd., §  18, S.  479.

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mehr sein kann als ein bloßer „Köhler-Glauben“.94 Daraus folgert Reimarus im Umkehrschluss die Entbehrlichkeit des Offenbarungsglaubens, was ein klares Non sequitur ist. Diese Entgegensetzung ist obendrein ungeschickt, da sie nur die Grenzziehung wiederholt, die auch der fideistische Gegner dieser Position zwischen Glauben und Wissen vornimmt, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Für die Kritik eines reinen Offenbarungsglaubens lässt sich so nicht allzu viel gewinnen. Immerhin kann Reimarus gegen diesen Gegner einwenden, dass sich echte Offenbarung als glaubwürdig ausweisen können muss, um sich von bloß angemaßter oder vorgetäuschter abzuheben. Das Glaubwürdigkeitskriterium von Offenbarung kann nun aber nicht wieder dem Glauben selbst entnommen sein, weil das als bloße petitio principii auf eine Selbstimmunisierung des Offenbarungsglaubens hinausliefe.95 Daneben enthalten die Reimarus-Fragmente noch eine andere, wenn auch nicht voll entfaltete Tendenz, nämlich die, das wahre geoffenbarte Christentum mit der ‚natürlichen Religion‘ gleichzusetzen und alle darüber hinausgehenden Dogmen für spätere Verfälschungen zu halten. Natürliche Religion soll aber nichts anderes sein als die Kombination eines Schöpferglaubens mit einer auf Gottes- und Nächstenliebe gegründeten Vernunftmoral.96 Diese Tendenz, Jesus von Nazareth zum Propheten einer so verstandenen ‚natürlichen‘ Religion anzusehen, findet sich später bei Kant und in Teilen der protestantischen Theologie, aber auch bei Tolstoi.97 Der dritte Abschnitt des zweiten Fragments behauptet die Unmöglichkeit der im Alten Testament erzählten Wunder, exemplarisch entfaltet an der Erzählung von der Durchquerung des Roten Meers durch das Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten. Der vierte Abschnitt ist dem Nachweis gewidmet, dass der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele dem Judentum ursprünglich fremd war.98 Reimarus zieht daraus allerdings den nicht begründeten Schluss, dass das Judentum ursprünglich gar keine Religion gewesen sei, weil er einfach voraussetzt, dass die Lehre vom Heil der unsterblichen Seele nicht allein das vornehmste, sondern auch ein notwendiges Stück jeder Religion sei.99 Im Denkstil zeigt Reimarus hier eine ähnliche Spekulationsfeindlichkeit, wie insbesondere Lessing sie dann seinen lutheranischen Kritikern vorwirft, etwa wenn er den Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen nicht nach seiner mög  Ebd., S.  387.   Vgl. ebd., S.  349 f., 381. 96   Vgl. ebd., S.  372. Das soll auch eine gründliche Textkritik der biblischen Schriften einschließen; vgl. S.  378. 97   Vgl. Tolstoi 1892. 98   Ebd., S.  398–426. Genauer geht es um den Nachweis, dass der insbesondere pharisäische und essenische Unsterblichkeitsglaube im Judentum persische und griechische Quellen hat und dass auch der Materialismus der Sadduzäer mehr auf Epikur zurückgeht als auf das Alte Testament, auch wenn sich die Sadduzäer auf den Pentateuch berufen können. 99   Vgl. ebd., S.  398. 94 95

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lichen metaphysischen Bedeutung befragt, sondern allein danach, was der ursprüngliche Autor der Genesis darunter wohl verstanden hat.100 Der fünfte Abschnitt ist dagegen ein Stück philologischer Analyse der Widersprüche zwischen den Evangelienberichten über die Auferstehung Christi.101 Hier geht der Verfasser von der offenbarungstheologischen Prämisse aus, dass die Evangelisten beim Verfassen ihrer Texte vom Heiligen Geist inspiriert gewesen seien, woraus er folgert, dass sie sich dann nicht widersprechen dürften. Da sie es aber tun, so folgert er im Modus tollens, kann die Prämisse nicht stimmen.102 Doch den Gipfel der Provokation stellt ohne Zweifel die Publikation des dritten Reimarus-Fragments Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger dar,103 in dem Reimarus zweierlei zu zeigen versucht: (1) dass Jesus nach nichts anderem strebte als nach der weltlichen Herrschaft in Israel, und zwar als Messias, wobei der Messias bei Reimarus als Begründer einer theokratischen Monarchie interpretiert wird. In Übereinstimmung mit diesem Ziel glaubt Reimarus ein entsprechendes Komplott zwischen Jesus von Nazareth und seinem Verwandten Johannes dem Täufer im Evangelientext nachweisen zu können. Daraus folgt, dass das eigentliche Ziel des Jesus von Nazareth nicht religiös wäre, sondern rein politisch. (2) Reimarus will ferner zeigen, dass die christliche Dogmatik eine sukzessive Erfindung der Apostel und der frühen christlichen Gemeinden gewesen ist, wobei er als Motiv die durch den Kreuzestod Jesu bewirkte Enttäuschung über das Ausbleiben der messianischen Revolution und die Unerreichbarkeit von Machtpositionen im dann zu errichtenden Gottesreich, d. h. Gottesstaat unterstellt. In Radikalisierung seiner Thesen aus dem zweiten Fragment behauptet er hier nun, dass die Auferstehungsgeschichte auf Betrug durch die Jünger zurückgegangen sei, die den Leichnam Jesu aus dem Grab gestohlen und dann für auferstanden ausgegeben hätten. Das Pfingstwunder interpretiert er mit den jüdischen und heidnischen Spöttern aus der Apostelgeschichte als Ergebnis von allseitiger Trunkenheit unter den angeblich als sinnenfroh bekannten Jüngern Christi, die Lehre von der Wiederkehr Christi am Jüngsten Tag als dauernde Verlegenheit der christlichen Dogmatik. Die These von der Gottessohnschaft Jesu hält er für eine rein paulinische Erfindung, in Fehlinterpretation oder bewusster Missdeutung des biblischen Ausdrucks ‚Sohn Gottes‘ oder

100   Vgl. ebd., S.  410 f. Immerhin betont Reimarus in diesem Zusammenhang durchaus in Übereinstimmung mit der herkömmlichen Bibelexegese, dass der Mensch durch die Vernunft gottähnlich und von allen Tieren verschieden, eben dadurch aber zum Herrscher über sie bestimmt sei. 101   Vgl. ebd., S.  426–457. 102   Reimarus macht diese Argumentationsstrategie selbst auf S.  450 explizit. 103  Lessing, Zwecke, 1778. Johann Albert Heinrich Reimarus, der Sohn des Verfassers, bezeichnet dieses Fragment denn auch in einem Brief an Lessing vom 15. und 16. Juni 1778 als „sehr arg“ (Lessing, Werke VIII, S.  610).

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‚des Menschen Sohn‘.104 Die Pointe dieses Angriffs auf die christliche Überlieferung ist klar: Was an der Lehre Jesu wahrhaft religiös ist, das ist nach Reimarus auch schon in den Grundsätzen der natürlichen Religion, vor allem im Deismus, enthalten. Alles Übrige, spezifisch Christliche daran ist eine betrügerische Erfindung der Apostel und Kirchenväter, so der Tenor seiner antichristlichen, aber auch antijüdischen Verdachtshermeneutik. Lessing fügt dem zweiten Reimarus-Fragment Gegen-Sätze des Herausgebers an, in denen er versucht, Reimarus’ Offenbarungskritik die Spitze zu nehmen, indem er dessen Schlussfolgerungen insbesondere aus den philologischen und historisch-kritischen Beobachtungen angreift und durch schwächere ersetzt, wobei er probeweise auch selbst die Position eines orthodoxen Verteidigers der Offenbarungsreligion einnimmt, etwa wenn er darauf hinweist, dass die Durchquerung des Roten Meeres im Exodus ja ausdrücklich als Wunder bezeichnet wird, so dass der Einwand, dass ein solches Ereignis hochgradig unwahrscheinlich sei, nichtig werde.105 Die These der Areligiosität des ursprünglichen mosaischen Judentums weist er ebenso zurück106 wie den Schluss von der Widersprüchlichkeit der biblischen Berichte von der Auferstehung Christi auf die Nichtinspiriertheit ihrer Autoren. Leitend ist für Lessing dabei die paulinische Unterscheidung zwischen Buchstabe und Geist der Schrift. Doch es ist dann gerade diese Unterscheidung, die Goeze zur Grundlage der Kritik an Lessing macht.107 Lessing selbst lässt sich von folgendem Prinzip leiten: „Die geoffenbarte Religion setzt im geringsten nicht eine vernünftige Religion voraus: sondern schließt sie in sich ein.“108

Das heißt, Lessing bestreitet nicht bloß den von Reimarus behaupteten Gegensatz von natürlicher (vernünftiger) und offenbarungsgestützter Religion, sondern er geht darüber hinaus, indem er die Identität oder zumindest die wesentliche Zusammengehörigkeit von beidem behauptet. Was Ersteres betrifft, so würde es Reimarus den Boden unter den Füßen wegziehen, wenn es gelänge zu 104   Eine durchaus an Reimarus erinnernde, aber wohlwollende Deutung des Lebens Jesu liefert Marcello Craveri, der Jesus von Nazareth als eschatologischen Sozialrevolutionär ohne eigentlich religiöse Absichten präsentiert. Wie vor ihm Reimarus hält er die Lehre von der Menschwerdung Gottes für eine theologische Verfälschung und Verharmlosung der eigentlich revolutionären Botschaft Jesu. Parallelen zu Bloch und der Befreiungstheologie sind nicht zu übersehen. Vgl. Craveri 1979. 105   Vgl. Lessing, Mehreres, 1777, S.  472. 106   Ebd., S.  472 ff. 107   Genauer betrachtet wirft er Lessing Missbrauch der paulinischen Unterscheidung vor, da dieser auf den Wortlaut der Schrift anwende, was bei Paulus nur auf das mosaische Gesetz bezogen sei; vgl. Goeze 1778, S.  23 f. Goezes Kritik hat aber auch eine politische Spitze, die sich unmittelbar gegen Lessing richtet. Er hält diesem nämlich gerade den leichten, populären Ton vor, in dem er schwierige theologische Probleme darstellt. Damit öffne er diese Debatten für ein breites Publikum, das durch solche Lästerungen verwirrt und zum Aufruhr auch gegen die politische Obrigkeit aufgestachelt werden könne; vgl. ebd., S.  115 f. 108   Lessing, Mehreres, 1777, S.  464.

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zeigen, dass keine Konkurrenz zwischen beiden Auffassungen von Religion und Theologie besteht. Das wäre allerdings schon der Fall, wenn die eine Voraussetzung der anderen wäre. Dass die Natürliche Theologie Voraussetzung der geoffenbarten ist, ist eine durchaus traditionelle Auffassung, keineswegs eine Besonderheit bei Reimarus; und für natürliche Religion mag das in irgendeinem Sinn ebenfalls gelten. Insofern ist Lessings Dementi gerade dieser Möglichkeit etwas rätselhaft und sieht zunächst wie ein bloß taktisches Zugeständnis an seine fideistischen Gegner aus. Gemeint ist aber wohl Folgendes: Lessing schreibt Reimarus eine bestimmte Spielart der These zu, dass vernünftige Religion und Natürliche Theologie Vor­ aussetzung der Offenbarungsreligion und -theologie sind, nämlich eine normative. Natürliche, vernunftgeleitete Theologie soll die Beurteilungskriterien der Aussagen der Offenbarungsreligion bereitstellen. Sie soll Prüfinstanz der Aussagen offenbarungsgestützter Theologie sein. Auf solche Weise wäre die Natürliche Theologie normative Voraussetzung der Offenbarungstheologie, auch wenn sie es faktisch oft nicht ist. Nur in dieser Deutung wird aber auch verständlich, wie überhaupt faktische Differenzen und Dissense zwischen beiden möglich sind. Indem Lessing nun diese Auffassung bestreitet, ohne an der Berechtigung von Natürlicher Theologie oder Offenbarungstheologie zu zweifeln, muss er die normative Identität dieser beiden Teile der Theologie behaupten, ausgehend von einer angenommenen Analogie der religiösen Entwicklung der Menschheit mit dem Prozess der Erziehung eines Einzelnen. Gott erziehe die Menschheit durch Offenbarung nach und nach, wie ein Lehrer seinen Schüler nach und nach in dem unterweise, was dieser auch durch eigene Denkanstrengung heraus­ finden könne; das planvoll geleitete Lernen gehe aber rascher und zielstrebiger vor sich. Der Analogie gemäß behauptet er, dass der Unterschied zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion rein zeitlich sei: „Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.“109

In diesem Sinne kann man tatsächlich von einer Identität von Offenbarungs­ theo­logie und Natürlicher Theologie sprechen: Erstere soll die unvollkommene Vorstufe der letzteren sein und schließlich vollständig darin aufgehen. Religiöse Einsicht artikuliert sich zunächst mythisch-narrativ, bevor sie in begrifflicher Deutlichkeit und damit theoretisch artikulieren kann. Zugleich bahnt die mythische Artikulation der theoretisch artikulierten Einsicht den Weg und beschleunigt so die geistige Entwicklung der Menschheit, ihre Erziehung durch   Ebd., §  4, S.  477.

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Gott. Man sieht übrigens deutlich, wie stark Hegels philosophische Interpretation des Christentums zeitlebens unter dem Einfluss Lessings geblieben ist. Denn wie später Hegel behauptet schon Lessing, dass sich die Gehalte der Offenbarungsreligion vollständig in als philosophisch notwendig ausweisbare Sätze überführen lassen. Das macht die Offenbarung zu einem historisch im Grunde überflüssigen Geschehen, wie Schelling gegen Lessing und Hegel einwendet.110 Denn ganz gleich ob man die Menschwerdung Gottes, seine Auferstehung und Himmelfahrt nach dem Kreuzestod rein allegorisch deutet, buchstäblich also leugnet, oder ob man sie als notwendige Verwirklichung von Vernunft in der Zeit versteht: was a priori erkannt werden kann, das braucht keine Offenbarung, also Enthüllung als zeitliches Ereignis. Was umgekehrt nur dadurch gewusst werden kann, dass es sich historisch und damit in der Zeit ereignet, das kann keine reine Vernunftwahrheit sein. Lessings Identifikation von Natürlicher und Offenbarungstheologie hebt tendenziell letztere auf, wie ­Goeze deutlich sieht. Dieser hält Lessing entgegen, dass man in der Frage des Offenbarungsglaubens – wie in allen epistemischen Fragen, wie er hinzufügen könnte – die Frage nach dem Grund der Wahrheit von der Frage nach dem Grund des Glaubens an die Wahrheit unterscheiden müsse.111 Der Grund der Offenbarungswahrheit, also das, was die Offenbarung zur Offenbarung macht, sind die Eigenschaften und der Wille Gottes. Der Glauben an die Offenbarungswahrheit kann aber nicht ebenfalls darauf beruhen, weil Eigenschaften und Wille Gottes uns nicht ohne Zeugnis zugänglich sind. Wenn das so ist, dann kann Offenbarung nicht durch eigene Forschung und Erkenntnis vollständig ersetzt werden, wie Lessing glaubt. Der Unterschied zwischen Offenbarungsglauben und Vernunftglauben kann also kein rein zeitlicher sein, sondern ist ein Unterschied des Prinzips. Der eigentlich christliche Glaube muss folglich seinem Wesen nach ganz auf dem Vertrauen auf das Zeugnis der Offenbarung beruhen, und das sind die Evangelien. Lessing entstellt diesen Einwand mutwillig oder aus Unverständnis, wenn er Goeze an dieser Stelle einen Selbstwiderspruch nachsagt. Denn nach seiner Lesart behauptet Goeze gerade, dass die Wahrheit der christlichen Religion selbst teils auf den Eigenschaften Gottes, teils auf dem Text der Schrift beruhe. Aus diesem angeblichen Widerspruch Goezes leitet er dann ad hominem seine Unterscheidung zwischen Natürlicher und Offenbarungstheologie her, die Goeze an dieser Stelle gar nicht angegriffen hat und die Lessing selbst ja zur Natürlichen Theologie hin auflösen möchte.112 Goeze behauptet vielmehr, dass die Glaubensgründe in Offenbarungsfragen nicht wie bei empirischen Sachverhal110  Vgl. PO, S.  403, wo Schelling Lessings Deutung der Notwenigkeit von Offenbarung als rein didaktisch kennzeichnet. 111   Vgl. Goeze, Vorläufiges, 1778, S.  26. 112   Vgl. Lessing, Axiomata, 1778, S.  141.

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ten und vielleicht auch nicht wie in Fragen der Natürlichen Theologie in der Sache selbst liegen können, auf die sich der Glaube bezieht, weil diese Sache die menschliche Fassungskraft übersteigt, so dass selbst das gläubige Vertrauen auf die Wahrheit der Schriftzeugnisse noch ein Akt der Tugend ist. Dass „die innere Wahrheit irgend eines Satzes von dem Ansehen des Buches [abhänge], in dem sie vorgetragen worden“,113 sagt Goeze weder, noch setzt er es voraus. Dessen eigentlicher Einwand kommt in Lessings Erwiderung gar nicht vor. Stattdessen wiederholt Lessing seine in den Gegen-Sätzen gemachte Versicherung, dass die christliche Lehre auch ohne das Zeugnis der Evangelien auf uns gekommen sein könnte.114 Das setzt voraus, was erst zu beweisen ist, dass nämlich der Kern der christlichen Religion bereits vollständig in der natürlichen Religion enthalten ist und von der Natürlichen Theologie ausgesprochen wird. Um seinen Gedanken zu unterstreichen, analogisiert Goeze Gott als Wahrheitsgrund der Offenbarung mit einem gerechten Gesetzgeber. Zwar ist dessen Gerechtigkeit der Seinsgrund der Gerechtigkeit des von ihm gesetzten Rechts. Doch dass er gerecht ist, erkennen wir an seinen Gesetzen.115 Obwohl die Analogie klar genug zu sein scheint, wird sie von Lessing abermals entstellt, indem er anders als Goeze Seins- und Erkenntnisgrund nicht unterscheidet und auf Grundlage dieser Nichtunterscheidung Goezes Erläuterung „unglücklich“ nennt.116 Doch auch Goezes Fairness lässt im Verlaufe der Auseinandersetzung nach, wenn er eine Passage aus Lessings Über den Beweis des Geistes und der Kraft ungenau zitiert und so den Eindruck erweckt, als behaupte Lessing, dass der Glaube an die Gottessohnschaft Christi unvernünftig sei, während Lessing bloß sagt, dass sie mit Vernunft nur schwer zu fassen ist, was im Grunde genau der orthodoxen christlichen Dogmatik gemäß ist.117 Demgegenüber beharrt Goeze auf der Übervernünftigkeit des Offenbarungsglaubens, die aber keine Widervernünftigkeit sei. Der Glaube sei frei und nicht demonstrabel; eine Position, die von der Lessings eigentlich nicht sehr weit entfernt ist.118

113   Ebd.  Lessing wiederholt diesen Vorwurf noch mehrmals; vgl. etwa S.  150. Dass er dann neben der Schrift auch die mündliche Überlieferung und die Tradition als Glaubensquellen benennt (S.  151), geht gegen die Sola-scriptura-Lehre Luthers, trägt in der Sache aber nichts aus. 114  Ebd. 115   Vgl. Goeze, Vorläufiges, 1778, S.  29. 116   Vgl. Lessing, Axiomata, 1778, S.  154 f. 117   Vgl. Goeze, Vorläufiges, 1778, S.  168, sowie Lessing, Beweis, 1777, S.  12 f. Auf S.  177 zitiert Goeze die ganze Passage, aber erneut entstellt. Wo Lessing schreibt „wogegen sich meine Vernunft sträubet“, wird in Goezes Zitation „wogegen sich meine ganze Vernunft sträubet“ (Hervorhebung H.T.). Möglicherweise zeigt diese Wiedergabe einfach nur, wie Goeze die Passage versteht, aber es ist eben nicht der tatsächliche Wortlaut. Später gibt Goeze die Stelle übrigens korrekt wieder; vgl. etwa Goeze, Schwächen, 1778, S.  320. 118   Vgl. Goeze, Vorläufiges, 1778, S.  169.

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Der Streit wird in der Folge zunehmend polemisch geführt, und der Anteil persönlicher Angriffe, Diffamierungen und Herabsetzungen des Gegners in Verbindung mit unverhohlenem Selbstlob nimmt auf beiden Seiten zu, wobei auch die Sprache zunehmend drastisch und gewaltsam wird, vor allem auf Seiten Lessings.119 Der eigentliche sachliche Dissenspunkt jenseits dieser gegenseitigen Verunglimpfungen und Ehrabschneidungsversuche wird an keiner Stelle explizit gemacht und tritt dann immer mehr in den Hintergrund. Gestritten wird darüber, ob Lessings Publikation der Fragmente einen Angriff auf die Religion darstellt, ob Lessing berechtigt zu der Publikation war oder ob eine solche Kontroverse öffentlich geführt werden sollte. Gestritten wird am Ende so gut wie nicht mehr über das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung. Nur an einer Stelle kehrt die eigentliche Sachthematik in der späteren Phase des Fragmentenstreits noch einmal in den Vordergrund zurück, und der Impuls dazu geht von Goeze aus. Dieser fordert Lessing wiederholt auf zu bekennen, worin für ihn der christliche Glaube bestehe, wenn für ihn der Glaube an die Glaubwürdigkeit der Evangelien nicht dazu gehöre. Denn er verdächtigt Lessing ja nicht zu Unrecht, ein ‚Naturalist‘ zu sein, d. h. Anhänger einer ‚natürlichen Religion‘ ohne Offenbarungsglauben.120 Doch Lessing weicht dieser Herausforderung aus, indem er behauptet, dass das Wesen des christlichen Glaubens vor allem in den Lehren der Kirchenväter des ersten und zweiten Jahrhunderts und im Athanasischen Glaubensbekenntnis enthalten sei und damit in dem, was die Tradition spätestens seit Augustinus als die regula fidei bezeichnet habe.121 Diese und nicht in erster Linie der Evangelientext sei für ihn die authentische Quelle des christlichen Glaubens. Damit zieht er sich auf den Standpunkt der katholischen Theologie zurück, dass neben dem Bibeltext auch die Tradition als zumindest gleichrangige Glaubensquelle anzusehen sei. In einer späteren Verteidigungsschrift, die sich an ein österreichisches und damit mutmaßlich dominant katholisches Publikum richtet, bezeichnet er seine Position daher auch als „zu gut Katholisch“ und deutet an, dass Goeze ihn vor allem deswegen angegriffen habe.122 119   So wirft Goeze Lessing wiederholt vor, gemäß einer „Theaterlogik“, d. h. auf den bloßen rhetorischen Effekt hin zu argumentieren, und appelliert fast ebenso häufig an dessen christliches Gewissen, in den wichtigsten und heiligsten Fragen nicht so fahrlässig zu agieren. Lessing wiederum verspricht, Goeze als einem „intoleranten Heuchler“ „die Larve vom Gesicht“ zu reißen, „sollte auch die ganze Haut daran hängen bleiben“. (Lessing, Anti-Goeze, 1778, S.  219) 120   Vgl. Goeze, Schwächen, 1778, S.  271, 290. 121   Vgl. Lessing, Antwort, 1778, S.  310. 122   Vgl. Lessing 1779, S.  344. Hintergrund dieser Schrift ist der öffentlich gemachte Verdacht, Lessing habe von der jüdischen Gemeinde in Amsterdam 1000 Dukaten Belohnung für die Publikation der Reimarus-Fragmente erhalten. Der Urheber dieser Verdächtigung hat offenkundig zwar den christentums-, nicht aber den judentumskritischen Aspekt der Fragmente bemerkt.

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Damit kommt die Debatte in der Sache aber nicht voran. Denn zwar stellt die Berufung auf die Tradition als zumindest zweite Glaubensquelle einen Angriff auf die Sola-scriptura-Lehre Luthers dar. Aber nun setzt Lessing sich selbst dem Einwand aus, sich auf eine bloße petitio principii zurückzuziehen, den Reimarus gegen die orthodoxe protestantische Theologie richtet. Denn muss die Rechtmäßigkeit der Autorität der Kirchenväter und der Tradition nicht ihrerseits begründet werden, zumal da, wo keine vollständige Einigkeit zwischen ihnen herrscht? Lässt sich das Verfahren von Reimarus nicht genauso effektiv auf die Äußerungen der Kirchenväter und der auf sie gegründeten Tradition anwenden?123 Lessing vertauscht hier nur einen historischen Standpunkt, den des Primats der Evangelien, gegen einen anderen, den des Primats der regula fidei. Damit vermeidet er zwar das Risiko, Goezes Naturalismusvorwurf weitere Nahrung zu geben, aber die Position, die er bezieht, ist rein defensiv und wirft theologisch betrachtet mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Goeze bezeichnet die Auskunft Lessings denn auch kurzer Hand als „Geschwätz“.124 Ich hatte oben behauptet, dass es Lessing um eine Verteidigung der Rechte der philosophischen Spekulation in theologischen Fragen geht. Allerdings geht diese Absicht aus seinen Veröffentlichungen für Reimarus und gegen Goeze nicht hervor. Sie erhellt erst aus der endgültigen Fassung der Erziehung des Menschengeschlechts, wovon Lessing einige Teile bereits seinen Gegen-Sätzen beigefügt hatte, und sie erhellt auch dort mehr aus Andeutungen denn aus expliziten Thesen. §  78 des vollendeten Textes lautet: „Es ist nicht wahr, dass Spekulationen über diese Dinge [d. h. den wahren Gehalt des christlichen Glaubens; H.T.] jemals Unheil gestiftet, und der bürgerlichen Gesellschaft nachteilig geworden. – Nicht den Spekulationen: dem Unsinne, der Tyrannei, diesen Spekulationen zu steuern; Menschen, die ihre eigenen hatten, nicht ihre eigenen zu gönnen, ist dieser Vorwurf zu machen“.125

Hier wird aus dem jedem Lutheraner vertrauten Gedanken, dass der Glaube frei ist und dass niemand zum Glauben gezwungen werden kann, die These abgeleitet, dass zur Glaubensfreiheit Denkfreiheit gehört und damit die Freiheit, den Glaubensgehalt denkend, also ‚spekulativ‘ zu durchdringen. Leider gelingt es Lessing im Folgenden nicht, genauer zu erläutern, was philosophische Spekulation ist und was es bedeutet, religiösen Glauben spekulativ zu durchdringen, abgesehen von einer noch zu erwähnenden Ausnahme.126 Deswegen stößt er auch an keiner Stelle zu einer genuinen Verteidigung Natürlicher Theologie vor, ebenso wenig wie Reimarus vor ihm. Es bleibt bei einer exemplarischen ‚spekulativen‘, geschichtsphilosophischen Darstellung der Geschichte des Judentums   Genau das wendet Goeze umgehend ein; vgl. Goeze, Schwächen, 1778, S.  323.   Ebd., S.  333. 125   Vgl. Lessing 1780, S.  507. 126   Vgl. Anm.  128. 123 124

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und des Christentums als Stationen einer göttlichen Erziehung der Menschheit, an deren Ende als Pendant zum Gottesreich eine diesseitige Erlösung und ein „neues ewiges Evangelium“ (§  86) der endlich vom Bösen befreiten, rein moralischen Menschengemeinschaft stehen soll.127 Der christliche Jenseitsglauben wird in einen moralischen Zukunftsglauben transformiert, wie man ihn später auch bei Feuerbach und Bloch findet. So ist der Streit zwischen Lessing und Goeze vor allem das Dokument einer verpassten Gelegenheit, das Verhältnis von Natürlicher und offenbarungsgebundener Theologie in einem lutheranischen Kontext zu diskutieren und zu problematisieren. Denn die Diskutanten streiten, wenn sie überhaupt über Sachfragen streiten, mit Reimarus nahezu ausschließlich über Fragen der historischen Glaubwürdigkeit der Evangelien. Keiner der Einwände, die Reimarus gegen die Evangelien vorbringt, entstammt der Natürlichen Theologie. So wichtig, ja grundlegend diese Fragen für eine Offenbarungstheologie auch sind, so wenig können sie den Bereich dessen ausschöpfen, was hier im Verhältnis zur Natürlichen Theologie zu diskutieren ist. Um nur einen Aspekt aus der Kontroverse aufzugreifen: Es leuchtet zwar ein, mit Reimarus zu insistieren, dass die Glaubwürdigkeit einer behaupteten Offenbarung vernünftig beurteilt werden muss und nicht einfach vorausgesetzt werden kann. Solange aber nicht bestimmt wird, was es heißt, hier vernünftig zu urteilen, ist das nur eine aufklärerische Redensart. Ex negativo lässt sich sehr wohl sagen, dass eine vorgebliche Offenbarung Gottes, die als Forderung nach der Preisgabe der Vernunft oder der Hintansetzung der Moral daherkäme, kaum Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen könnte. Aber als Begründung einer solchen Aussage reicht weder die Berufung auf die menschliche Erfahrung noch die auf den gesunden Menschenverstand aus, auch wenn diese in anderen Fragen gute Ratgeber sind. Die Begründung muss vielmehr theologisch sein, und da sie nicht offenbarungstheologisch sein darf – andernfalls handelte es sich um eine petitio –, kann sie nur in den Aufgabenbereich der Natürlichen Theologie fallen. Noch deutlicher wird die Schwierigkeit bei den Kerngehalten des christlichen Offenbarungsglaubens, vor allem bei der Frage der Menschwerdung. Was soll es hier heißen, den Gedanken, dass der Gottessohn Mensch geworden sei, vernünftig zu beurteilen? Mit Lessing zu sagen, dass sich die Vernunft gegen diesen Gedanken sträube – ein Zugeständnis an die jüdische und islamische Christentumskritik – ist keineswegs dasselbe wie zu sagen, dass der Gedanke undenkbar sei.128 Denn undenkbar ist er anscheinend nicht, auch wenn er gewisse Zumutungen an das Verstehen mit sich bringt. Natürliche Theologie kann hier ganz 127   Hier drängen sich die Parallelen zu Kants späterer Erläuterung der Idee der Kirche als Gemeinschaft der Heiligen auf; vgl. RGV, Viertes Stück. 128   In der Trinitätstheologie greift schon Lessing wie später Hegel und Schelling auf den augustinischen Gedanken zurück, dass die Dreifaltigkeit Gottes selbstbewusstseinstheoretisch erläuterbar sei, und gibt diesem Ansatz in der Durchführung wie die Theologie des

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unterschiedliche Wege gehen. Ein Weg ist die Strategie einer vernünftigen Interpretation der als historische Tatsache angesehenen Selbstoffenbarung Gottes, den Anselm, Thomas und Schelling gehen. Ein anderer wäre der Versuch einer Reduktion des Offenbarungsgedankens auf die These einer Selbstoffenbarung des Geistes und der Vernunft und damit der Weg Lessings und Hegels. Erst der dritte Weg wäre eine vollständige Absage an die Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung. Dies ist der deistische Weg, für den Reimarus steht. Es stimmt also nicht, dass Natürliche Theologie ihrer Form nach und damit notwendig mit der These von der Entbehrlichkeit der Offenbarungstheologie einhergeht. Das dies so sei, ist Reimarus’ oben benannter Fehlschluss. Ironischerweise bestimmt aber Reimarus die weitere Entwicklung der protestantischen Theologie maßgeblich. Der von Goeze vertretene Standpunkt eines orthodoxen Lutheranismus gilt schon wenige Jahrzehnte später als vollkommen obsolet, auch wenn Fideismus und Schriftglaube als Rückzugspositionen dem Protestantismus weiterhin stets offen stehen. Aber Reimarus und sein Advokat Lessing begründen eine Forschungsrichtung, die vom 19. Jahrhundert bis heute die evangelische Theologie bestimmt. Im Selbstverständnis insbesondere der lutherischen Theologie erscheinen beide als wichtige Stichwortgeber der historischen und quellenkritischen Leben-Jesu-Forschung wie überhaupt einer Neudeutung der Theologie als rein historisch-hermeneutischer Textwissenschaft und damit als Teil der Philologie. Dies gilt umso mehr, nachdem David Friedrich Strauß Reimarus’ Thesen für die nachidealistische Debatte aufbereitet hat. Die historisch-philologische Methode ist aber eben die Gestalt, welche eine skeptisch gewordene Offenbarungstheologie im 19. Jahrhundert immer mehr annimmt, nicht zuletzt unter dem Einfluss Schleiermachers.129 Wenn dieser die Theologie nämlich in philosophische, historische und praktische Theologie einteilt, dann ist neben der praktischen Theologie als christlicher Sittenlehre die historische Theologie eine transformierte Offenbarungstheologie, die sich zum die Offenbarung ausdrückenden Text als historisch-philologische Wissenschaft verhält. Was hier philosophische Theologie heißt, ist aber mitnichten Natürliche Theologie, sondern Schleiermachers Religionsphilosophie als philosophische Reflexion religiöser Subjektivität im in der Einleitung zu dieser Schrift erläuterten Sinn. Die gläubige Annahme des Offenbarungsgehalts und das damit einhergehende religiöse Gefühl bleiben hier der individuellen Subjektivität überlassen. Dies ist für Schleiermacher und in seiner Nachfolge zur allgemeinen und unhintergehbaren Voraussetzung der gesamten Theologie geworden und wird innerhalb der Theologie nicht mehr begründet, gerechtfertigt oder kritisiert. Reimarus’ und Lessings Verteidigung der Natürlichen Theologie tragen Deutschen Idealismus eine spinozistische Wendung, wenn er insistiert, dass im Selbstbewusstsein Gottes alle Dinge enthalten sein müssten. Vgl. Lessing 1780, §  73. 129   Vgl. Schleiermacher 1830–31.

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so historisch betrachtet zu ihrer nachhaltigen Abschaffung in der protestantischen Theologie bei. Auch spätere philosophisch aufgeschlossene Theologen wie Karl Barth mit seiner dialektischen Theologie, Rudolf Bultmann als Existenzialtheologe oder Paul Tillich ändern an dieser grundlegenden Weichenstellung nichts mehr. Die Natürliche Theologie wird in der protestantischen Theoriebildung nicht mehr erörtert, nachdem sie trotz der Bemühungen Hegels und Schellings in der Philosophie heimatlos geworden ist.130 In der katholischen Theologie ist die Lage insofern anders, als hier die Natürliche Theologie bis ins 20. Jahrhundert hinein als integraler Bestandteil der theologischen Dogmatik galt, wenn auch nicht unumstritten. Pascals Diktum, dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nicht der Gott der Philosophen und Gelehrten sei, dessen Wurzeln bis in den Fideismus Bernhards von Clairvaux und Bonaventuras zurückreichen, ist hier schon immer auf große Resonanz gestoßen, und zwar bei weitem nicht nur in dem jansenistischen Milieu, in dem Pascal diesen Gedanken entwickelt hat.131 Gerade der Neuthomismus des 19. und 20. Jahrhunderts setzt aber auf einen durch Natürliche Theologie vermittelten Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem Wissen und offenbarungsgestützter Theologie und damit auf einen explizierbaren Zusammenhalt von Glauben und Wissen. Insbesondere im deutschen Sprachraum sucht der Neuthomismus später jedoch den Anschluss an die neukantianische Philosophie und damit auch an die Metaphysikkritik Kants. Dafür steht exemplarisch Karl Rahners Theologie und die seiner Schüler, etwa die Karl Lehmanns. Dabei tritt die Natürliche Theologie zwangsläufig in den Hintergrund. Sie wird weitgehend durch eine theologische Anthropologie ersetzt, in deren Zentrum die Betrachtung des Gott suchenden Tuns des Menschen steht, ausgehend von einem Begriff transzendentaler Erfahrung, von dem aus auch eine transzendentale Offenheit für Transzendenz denkbar sein soll.132 Damit steht Rahners anthropologische Grundlegung der Theologie in verblüffender struktureller Analogie zu Schleiermachers ‚philosophischer Theologie‘. Überraschenderweise 130   Insbesondere Barths rigorose Ablehnung der Natürlichen Theologie, namentlich auch der aristotelisch-scholastischen Analogielehre ist bekannt, die er als „Lehre des Antichrist“ verurteilt. (Pannenberg 2007, S.  6) 131   Vgl. das so genannte Mémorial in Pensées 500, S.  212. Robert Spaemann weist Pascals These denn auch geradezu zurück und behauptet die Identität des biblischen Gottes des Alten und des Neuen Testaments mit dem ‚Gott der Philosophen‘; vgl. Spaemann, Gerücht, 2007, S.  10. 132  Wie unsicher die vom Neuthomismus ausgehende theologische Anthropologie über ihre ontologischen Grundlagen geworden ist, lässt sich exemplarisch an der These Schockenhoffs ablesen, dass die Einsicht in die wesentliche Zweigeschlechtlichkeit des Menschen ein genuin biblisches Erbe sei; vgl. Schockenhoff 1996, S.  240 ff. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass die biblischen Schriften selbst einen reichen Schatz an Theoremen der Natürlichen oder philosophischen Theologie enthalten, allen voran die Genesis. Auf die Breite und die Bedeutung ontologischen und naturgeschichtlichen Denkens für die Theologie insbesondere des Alten Testaments hat mich Manfred Oeming hingewiesen.

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findet eine analoge Ersetzung auch bei einem anderen prominenten von Rahner beeinflussten Theologen statt, nämlich bei Joseph Ratzinger. Dieser bestimmt den christlichen Glauben als verschieden vom Wissen, mit Wissen inkommensurabel und als menschlich-existentielle Grundhaltung.133 Damit wird ein Gegensatz zwischen Glauben und Wissen aufgebaut, der den Gedanken einer Natürlichen Theologie strukturell ausschließt. In seiner Regensburger Vorlesung betont Ratzinger dagegen ausdrücklich die wesentliche Zusammengehörigkeit von Glaube und Wissen, von Religion und Wissenschaft, und bestimmt die Theologie als wesentliche und einheitsstiftende Disziplin der europäischen Universität. Beides, griechisch-hellenistische Philosophie und christlicher Glauben hätten zusammen die Idee der Universität als Einheit des Wissens und der Wissenschaften hervorgebracht, und die Universität sei die gelungene Synthese aus beidem. Diese Einheit sieht er durch den spätmittelalterlichen Nominalismus, durch Reformation und Aufklärung zunehmend gefährdet, wobei er namentlich auch Kant als Vernunftskeptiker ­anführt.134 Diese Thesen klingen durchaus nach einem Abrücken von neukantianischen Positionen wie derjenigen Rahners. Allerdings ist nicht ganz deutlich, ob Ratzinger die Natürliche Theologie der griechischen Philosophie in die Synthese von antiker Philosophie und christlicher Religion einbeziehen will, ja ob er diese überhaupt als ein mögliches Bindeglied zwischen diesen Traditionen sieht. Vielmehr lässt der Text der Vorlesung auch die Deutung zu, dass die Anknüpfung an die antike Philosophie in sehr viel allgemeinerer Weise an den Logosbegriff und damit an den Gedanken anschließen soll, dass die Welt eine ‚logische‘, mit Mitteln der Vernunft beschreibbare und methodisch analysierbare Struktur aufweist. Dieser ganz allgemeine Anschluss an den Grundgedanken von Philosophie überhaupt impliziert per se noch keineswegs eine besondere Anknüpfung an den Schöpfungsmythos im Timaios oder an die aristotelische Lehre von Gott als erster Ursache und erstem Beweger. Selbst eine solche Verknüpfung von Religion und Philosophie wird in der Nachfolge Adolf von Harnacks und Karl Barths häufig als ‚Helle­ nisierung‘ des Christentums kritisiert, vor allem von protestantischen Theo­ logen.135 Aber sie wäre noch immer denkbar locker, da sie Zusammenhänge 133   Vgl. Ratzinger 1968, S.  36 und 41 ff. Unterstellt wird dabei allerdings ein ‚neuzeitliches‘, nämlich Baconsches Wissensverständnis, das Wissen mit Ursachenwissen und dieses mit technischer Beherrschbarkeit gleichsetzt. Das so entworfene Bild der modernen Wissenschaft übernimmt Ratzinger von Heidegger; vgl. ebd., S.  38. Der dem Wissen entgegengesetzte Glauben wird demgegenüber als inhaltliche Bestimmung von Heideggers Idee einer ‚Eigentlichkeit‘ der Existenz entworfen; vgl. ebd., S.  179. 134   Vgl. Ratzinger 2006, S.  23 f. 135   Dementsprechend beschreibt Ratzinger drei Phasen der „Enthellenisierung“ der christlichen Tradition, nämlich (1) die Reformation, (2) die aus der Aufklärung hervorgehende liberale Theologie des 19. Jahrhunderts und (3) die im heutigen theologischen Diskurs übliche analytische Trennung von biblischem Ursprung und hellenistischer Überformung, aus der in

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VII.  Probleme der Natürlichen Theologie

zwischen Ansätzen zu einer monotheistischen Theologie in der griechischen Philosophie einerseits und der jüdischen und christlichen Gottes- und Schöpfungslehre andererseits bestreiten könnte. Die Seinsordnung zu erkennen und zu beschreiben wäre hier Aufgabe der Philosophie und Wissenschaft, ihre Erklärung durch Rückführung auf einen transzendenten Seinsgrund bliebe dagegen der offenbarungsgeleiteten Theologie vorbehalten. Es fällt auf, dass sich eine solche Verhältnisbestimmung weitgehend mit Pascals Verständnis des Verhältnisses von Glauben und Wissen, Religion und Wissenschaft decken würde. Das Vorlesungsmanuskript legt eine solche Deutung nicht unbedingt nahe. Für sie spricht aber, dass eine solche Position in Kontinuität zu der früher von Ratzinger in dieser Frage eingenommenen Haltung stehen würde.136 Denn zuvor hat er die Auffassung vertreten, dass der Übergang von einem philosophischen Monotheismus wie bei Platon und Aristoteles zu einem personalen und als Du adressierbaren Gott im jüdischen und christlichen Glauben so groß sei, dass man kaum von einem Zusammenhang sprechen könne. Insbesondere das scholastische, aber zum Teil schon das patristische Denken wird dafür kritisiert, dass es diese Differenz unterschätzt und unkritisch Lehrstücke der antiken Theologie übernommen habe. Ratzinger nennt keine Namen, aber es liegt nahe, hier zum einen an christliche Ausdeutungen der neuplatonischen Geistmetaphysik, zum anderen etwa an Thomas von Aquins Rückgriff auf den aristotelischen Gottesbeweis zu denken.137 Sollte diese Lesart nicht intendiert sein, dann wäre ein Bruch in Ratzingers Denken zu konstatieren, für den es in seinen Schriften nach meiner Kenntnis aber keine echten Anhaltspunkte gibt. Im Gegenteil. Zwar findet er in seiner Einführung in das Christentum freundliche Worte für die Rezeption der antiken philosophischen Theologie in der Patristik und Scholastik. In diesem Zusammenhang betont er die Parallelität zwischen der Mythenkritik der griechischen Philosophie von Xenophanes bis Aristoteles und der Traditionskritik der jüdischen Propheten und warnt vor einer Trennung von Glaube und Vernunft in der Nachfolge Schleiermachers oder Barths.138 Angesichts der philosophischen Kritik habe sich die antike Religion zunehmend außer Stande gesehen, normativer Hinsicht die Nichtangewiesenheit des Christentums auf die griechisch geprägte Philosophie gefolgert werde. Vgl. Ratzinger 2006, S.  23–29. 136   Vgl. Ratzinger 1968. In die dort einschlägigen Überlegungen gehen Auffassungen ein, die auf einen 1959 gehaltenen Vortrag über das Verhältnis philosophischer und offenbarungsgestützter Theologie zurückgehen. 137   Die Enzyklika Fides et ratio bemüht sich erkennbar um eine präzisere Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie und nennt neben Anselm von Canterbury vor allem Thomas von Aquin als vorbildliche philosophische Theologen. Möglichkeit und Grenzen einer genuin philosophischen Theologie bleiben aber auch hier letztlich unbestimmt. Obendrein wird bei Anselm insbesondere dessen Beitrag zur negativen Theologie hervorgehoben, bei Thomas vor allem die Unterordnung der Philosophie unter die Theologie. Vgl. Fides et ratio, bes. S.  19, 46 ff. 138   Vgl. Ratzinger 1968, S.  92.

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Wahrheit für sich zu reklamieren, und sei an ihrem Rückzug auf ein rein traditionalistisches und konventionalistisches Selbstverständnis zu Grunde gegangen.139 Es wird sehr deutlich, dass damit die christliche Kirche implizit gewarnt wird, einen ähnlichen Weg zu gehen. Die philosophische Kritik wiederum habe Religion nicht zerstören, sondern reinigen wollen und sei deshalb von sich aus fähig zu einem Bündnis mit neuen, streng monotheistischen Religionen wie dem christlichen Glauben gewesen. Aber erneut spricht er davon, dass durch die Adaption philosophischer Theologie im Christentum eine grundlegende „Verwandlung“ des Gottesverständnisses stattfinde, durch die der den Menschen zugewandte, liebende und sorgende Gott entdeckt werde, während der gerechte Gott des Alten Testaments zumindest gewisse Entsprechungen im platonischen Gottesverständnis habe.140 In diesem Zusammenhang gibt er mit Romano Guardini Pascal Recht.141 Auch im ersten Band seiner Studie über Jesus von Nazareth kritisiert er zwar die Verabsolutierung einer historisch-kritischen Auseinandersetzung mit den Evangelien, sieht die historische Methode aber als letztlich alternativlosen Weg zum Verständnis des Offenbarungsgeschehens, ohne dabei aber auf das Verhältnis einer geschichtlich fundierten Offenbarungstheologie zu einer sie womöglich fundierenden Natürlichen Theologie einzugehen.142 Es bedarf wohl keiner langen Überlegung, um einzusehen, dass eine Vermeidung oder Einklammerung Natürlicher Theologie die gesamte Dogmatik der katholischen Theologie dramatisch verändert. Denn wenn Offenbarungstheologie nicht mehr als Vollendung und Abschluss einer unabhängig von Offenbarung formulierbaren Natürlichen Theologie angesehen werden kann, dann gibt es doch einen Bruch zwischen Wissen und wissenschaftlichem Denken einerseits, religiösem Glauben und theologischem Forschen andererseits. Zu sagen, dass sie sich nicht notwendig widersprechen, führt aus dem Problem nicht heraus, denn das täten sie auch dann nicht, wenn sie einfach beziehungslos nebeneinander stünden. Damit entfiele aber auch das gesamte Projekt einer scholastischen Apologetik, die mit den Mitteln des philosophischen Arguments bis an die Grenzen des Offenbarungsglaubens heranführen will. Dies ist bei einem unvermittelten Nebeneinander von Philosophie und Offenbarungstheologie nicht mehr möglich.   Ebd., S.  92 f.   Vgl. ebd., S.  94–98. 141   Ebd., S.  95. In einem anderen Zusammenhang, nämlich der Frage nach der Intelligibilität der Trinitätstheologie, bezieht sich Ratzinger ferner affirmativ auf Pascals Wette als möglichen subjektiven Zugang; vgl. ebd., S.  121. 142   Vgl. Ratzinger 2007, Vorwort, sowie Ratzinger 2011, Vorwort. Inhaltlich werden hier erneut vor allem die Differenzen zwischen heidnisch-philosophischer und christlich-theologischer Weltauffassung betont, vor allem was die Stellung des Christentums zum Neuplatonismus angeht; vgl. Ratzinger 2011, S.  72 ff. Die sachliche Richtigkeit dieses Hinweises sollte dabei außer Frage stehen. Ihre Einseitigkeit fällt dennoch auf. 139 140

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Denn selbst wenn man unterstellt, dass Offenbarungstheologie die Grenzen der Natürlichen Theologie überschreitet und diese gerade dadurch vollendet, so ist dieser Schritt nicht möglich, ohne Natürliche Theologie in Anspruch zu nehmen. Denn Offenbarung wird als ein außerordentliches, aber historisches Geschehen angesehen. Fürsprecher der Offenbarungstheologie argumentieren mit dieser Prämisse zu Recht, dass der Glaube an Offenbarungswahrheit wie jede historische Überzeugung einen Akt des Vertrauens fordert, nämlich des Vertrauens auf die Glaubwürdigkeit der historischen Quelle, aus der die Information über den entsprechenden Sachverhalt stammt. Historische Überzeugungen sind nicht aus allgemeinen Prinzipien allein deduzierbar, da sie von kontingenten und nicht von notwendigen Geschehnissen handeln. A fortiori soll das für das Ereignis der Selbstoffenbarung Gottes gelten. Und deswegen, so die Auskunft, ist Offenbarungstheologie nicht auf Natürliche Theologie reduzierbar, da sie von einer einzelnen Tatsachenwahrheit handelt, nicht von einer allgemeinen Vernunftwahrheit, auch wenn die Konsequenzen durchaus allgemein sind. Doch die Offenbarung ist eben, wenn es sie denn gegeben hat, nicht allein ein historisches, sondern auch ein außerordentliches, die historische Ordnung sprengendes Ereignis. Soll daher der vertrauensvolle Glauben an die Wahrheit der Offenbarungszeugnisse nicht auf einem reinen sacrificium intellectus beruhen, dann muss sich zumindest die Möglichkeit einer Selbstoffenbarung Gottes durch Menschwerdung und Kreuzestod einsichtig machen lassen. Und dies kann nur die Natürliche Theologie leisten. Jeder entsprechende Versuch der Offenbarungstheologie selbst muss auf eine petitio principii hinauslaufen; sie kann die Möglichkeit der Offenbarung nicht zeigen, sondern muss sie voraussetzen. Außer Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin hat kaum ein Philosoph oder Theologe die Notwendigkeit einer solchen vernunfttheologischen Rechtfertigung der Offenbarungstheologie so deutlich gesehen wie Schelling.143 Ohne einen solchen Versuch ist auch nicht zu sehen, wie die christliche Theologie einen fruchtbaren interreligiösen Dialog mit Judentum und Islam über die Grundlagen ihres Glaubens führen können soll, der über das ohnehin schon durch den geteilten Überlieferungszusammenhang Anerkannte, also das so genannte abrahamitische Erbe hinausginge. Denn jüdische und muslimische Gelehrte bestreiten gerade die Möglichkeit und Verständlichkeit der Inkarnationslehre. Angesichts dieser durchaus nachvollziehbaren Kritik scheint die Standardauskunft christlicher Theologen, dass die Menschwerdung Gottes eben ein rational nicht aufzuklärendes Geheimnis des christlichen Glaubens sei, ziem143   Daher stellt Anselms Cur Deus homo auch weniger den aussichtslosen Versuch einer Demonstration der Menschwerdung sola ratione dar als vielmehr den Versuch, die Möglichkeit der Menschwerdung argumentierend einsichtig zu machen. Analog geht Thomas in der Summa contra gentiles vor (vgl. die Christologie in SG IV), und auch Schellings Christologie in der Philosophie der Offenbarung setzt diese Tradition fort.

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lich schwach. Obendrein ist sie zweideutig. Denn die These vom Geheimnischarakter der Menschwerdung wird zum einen gegen diejenigen Theologen ins Feld geführt, welche die Inkarnation als notwendige Folge des Sündenfalls deuten und ihr so den Charakter einer freien, einzig auf die Liebe Gottes zur Menschheit zurückgehenden Handlung nehmen. Darauf ist Natürliche Theologie aber gar nicht festgelegt. Zum anderen richtet sie sich aber gegen Versuche, die Inkarnation denkend verstehen zu wollen. Doch solche Versuche sind mit einer Anerkennung der Menschwerdung als eines freien Aktes göttlicher Liebe durchaus vereinbar. Obendrein ist der Verweis auf den Geheimnischarakter der Offenbarung tendenziell selbstwidersprüchlich, wie Schelling bemerkt.144 Denn Offenbarung muss dem Begriff nach gerade das sein, was ein Geheimnis lüftet, also etwas Verborgenes ans Licht bringt. Eine Offenbarung beendet einen Zustand des Nichtwissens und löst ein Rätsel. Sie kann daher nicht selbst ein Geheimnis sein, außer in einem abweichenden Sinn. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich die Unverzichtbarkeit Natürlicher Theologie.

  PO, S.  501.

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Personenregister Albertus Magnus  49, 217 Al-Farabi  67, 143, 335 Al-Ghazali  67, 190, 335 Alquié, Ferdinand  125, 153, 157, 158, 173, 174 Anaxagoras  203, 259, 334, 337 Angelus Silesius  65 Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret  13, 37 Anselm von Canterbury  12, 13, 14, 15, 16, 18, 19, 20, 21, 22, 25, 26, 27, 34, 37, 38, 41, 77, 80–85, 87, 88, 90–104, 106–114, 117–121, 123–127, 147, 148, 149, 158, 160, 162, 164, 170, 172, 177, 179, 180, 181 f., 184, 185, 190, 191, 194, 206, 213, 215, 221, 234, 236, 244, 247 ff., 253, 256, 267, 281, 282, 283, 301, 303, 305, 315, 328, 335, 345, 357, 362 Anzenbacher, Arno  145 Ariew, Roger  128, 136, 137, 153, 158, 164 Aristoteles  VII, 7, 14, 17, 19, 21, 23, 25, 26, 27, 33, 43, 48, 49, 54, 56, 57, 58, 59, 63, 73, 74, 80, 88, 95, 97, 103, 114, 115, 116, 123, 128, 131, 132, 136, 142, 143, 149, 154, 159, 164, 168, 179, 181, 183, 184, 186, 191, 192, 193, 194, 195–198, 199 f., 202–205, 206, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 215, 216, 217, 222, 226, 229, 230, 233, 234 f., 242, 247 f., 251, 252, 257, 258, 259, 265, 266, 267, 268, 269, 272, 276, 280, 281, 283, 295, 296, 298, 299, 300, 301, 302, 312, 314, 317, 318, 319, 321, 322, 325, 328, 334 ff., 358, 359, 360 Arnauld, Antoine  94, 136, 165 f., 171, 176, 177 Augustinus  19, 34, 37, 40, 42, 73, 85, 109 f., 117, 143 ff., 148, 163, 168, 179, 181 f., 225, 227, 249, 279, 281, 287, 290, 302, 304, 305, 315, 329, 354, 356 Austin, John Langshaw  133 Averroës  20, 56, 67, 182, 184 Avicebron  66, 335 f. Avicenna  56, 67, 143 f., 191, 335 Babin, François  137

Baggini, Julian  23, 288, 291 Balmès, Marc  33, 245, 320 Barnes, Jonathan  97 Barth, Karl  66, 97, 99, 120, 256, 358, 359, 360 Basilius von Caesarea  286 Beck, Lewis White  271 Beier, Kathi  133 Bergson, Henri  56, 105, 321 Berkeley, George  164 Bernhard von Clairvaux  335, 358 Beyssade, Jean-Marie  134, 179 Bickmann, Claudia  284 Bidese, Ermenegildo  124 Bloch, Ernst  21, 22, 23, 53–75, 79, 80, 81, 93, 104, 105, 109, 120, 148, 173, 178, 179, 201, 210, 256, 271, 292, 322, 323, 324, 331 f., 356 Bochen´ski, Joseph M.  14, 194, 209 Böhme, Jakob  254, 274 Boff, Leonardo  68 Bonaventura  99, 249, 335, 358 Brandom, Robert B.  142 Brentano, Franz  79, 84, 88, 101, 102, 114, 116, 137, 145 f., 149, 153, 203, 218, 221, 228, 310, 311 Bromand, Joachim  26, 101 Bruno, Giordano  56, 57, 59, 60 Buber, Martin  333 Buchheim, Thomas  267, 273, 275, 276, 285, 292 Bultmann, Rudolf  66, 68, 358 Cajetan, Thomas  153 Calvin, Johannes  276, 335 Calvino, Italo  98 Cantor, Georg  203 Capek, Karel  105 Carrier, Martin  206 Cassirer, Ernst  128, 150 Castañeda, Héctor-Neri  134 Caterus (Johan de Kater)  19, 81, 124, 171, 176, 177, 185, 186, 187, 188, 189, 202, 244 Chappell, Vere  153

382

Personenregister

Chenu, Marie-Dominique  195 Chomsky, Noam  152 Craig, William L.  192 Cramer, Konrad  173 f. Cramer, Wolfgang  14, 190, 191, 208, 209, 238, 241, 243 f., 287 Craveri, Marcello  350 Dalferth, Ingolf U.  2, 6, 7, 173, 217, 280, 308, 310, 312, 313 Danz, Christian  263, 267, 268, 278 David von Dinant  201 Davidson, Donald  176 Dawkins, Richard  23 Demokrit  57, 104, 106 Dennett, Daniel C.  23, 221 Descartes, René  VII, 12, 13, 14, 17, 18, 19, 20, 25, 27, 73, 77, 80, 81, 82, 83, 84, 94, 102, 103, 107, 117, 118, 119, 124, 125, 127–139, 141, 145, 147–156, 158–166, 168–182, 184, 185, 186–190, 202, 206, 221, 236, 237, 244, 245–248, 252, 253, 254, 261, 262, 269, 281, 282, 283, 295, 296, 297, 298, 300, 303, 304, 305, 306, 319, 320 f., 328, 329 Dionysius Areopagita, Pseudo-Dionysius 194 Duns Scotus, Johannes  85, 109, 119 f., 158, 170, 181, 251, 276, 320, 335 Ehrhardt, Walter E.  249, 255 Elders, Leo  194, 321 Enders, Markus  91 Engels, Friedrich  22 Engfer, Hans-Jürgen  27, 136, 152, 168 f. Epikur  57, 104, 348 Essen, Georg  263 Evans, Gareth  151 Everitt, Nicholas  25, 81, 82, 100, 172, 309 Fechner, Gustav Theodor  146 Ferrari, Jean  239 Feuerbach, Ludwig  3, 4, 21, 22, 23, 29–32, 34–42, 44–50, 51, 52, 60, 61, 64, 67, 71, 72, 72, 73, 79, 80, 81, 161, 182, 187, 249, 281, 323, 356 Fichte, Johann Gottlieb  42, 51, 79, 133, 134, 253, 266, 269, 273, 276, 278, 294, 297, 298, 304, 305 Fidora, Alexander  124 Fischer, Kuno  172, 173 Frankfurt, Harry G.  270 Frede, Dorothea  168 Frege, Gottlob  83, 134, 142, 176 Freud, Sigmund  4 Frühbauer, Johannes J.  339

Gabriel, Markus  128, 273 Gassendi, Pierre  77, 136, 137, 171, 173, 174 Gaunilo von Marmoutier 20, 77, 85, 86, 88, 97–100, 103, 106, 125 f., 172 Geach, Peter  88, 90, 219 Gesang, Bernward  94 Gewirth, Alan  149, 156, 178 Gilson, Étienne  11, 128, 230, 334 Gödel, Kurt  26, 83, 101, 102, 236 Goeze, Johann Melchior  345 ff., 350, 352–357 Goodman, Nelson  320 Gordon, Peter E.  4 Griffiths, Bede  4, 6 Guardini, Romano  11, 334, 361 Gueroult, Martial  172 Habermas, Jürgen  64, 271, 341–345 Halfwassen, Jens  334 Hamsun, Knut  4 Harnack, Adolf von  359 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  3, 10, 15, 16, 18, 21, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 38, 47, 53, 56, 60, 69, 73, 83, 117, 118, 119, 145, 170, 181, 191, 241, 266, 273, 278, 283, 294, 298, 322, 327, 333, 341, 352, 356, 357, 358 Heidegger, Martin  17, 27, 142, 145 f., 172, 190, 226, 271, 286, 312, 317, 331 f., 359 Heine, Heinrich  292 Heisenberg, Werner  57 Helmholtz, Hermann von  147 Hennig, Boris  134, 139, 176 Henrich, Dieter  12, 13, 82, 108, 125, 145 f., 172, 173, 190, 244, 266 Heraklit  56, 105 Hermanni, Friedrich  12 f. Hermotimos 259 Hiltscher, Reinhard  81 Hindrichs, Gunnar  81, 88, 90, 97, 98, 148, 190, 191, 242, 266, 282 f. Hintikka, Jaakko  133 Hitchens, Christopher  23 Hitler, Adolf  316 Hobbes, Thomas  40, 66, 115, 135, 173, 174, 300 Hoffmann, Thomas Sören  54 D’Holbach, Paul Henri Thiry  56 Hume, David  25, 82, 123 f., 128, 131, 135, 164, 232, 309, 319 Husserl, Edmund  27, 142, 145 f., 171, 320 Hutcheson, Francis  218–221 Hutter, Axel  253, 269, 276 f. Jacobi, Friedrich Heinrich  79, 112, 262 f., 287, 292, 295

Personenregister Jaeger, Werner  230 f. James, William  2, 3, 10, 25, 169, 326, 333 f. Janke, Wolfgang  282 Joas, Hans  4 f., 345 Johannes  70, 111 Johannes von Damaskus  102, 172, 181 f., 184, 190, 236 Johannes Paul II.  360 Johnson, Monte Ransom  203, 215 Jonas, Hans  72 Kambartel, Friedrich  120, 260 f. Kannetzky, Frank  51, 56 Kant, Immanuel  1, 2, 6, 7, 8, 12, 14, 15, 16, 17, 18, 20, 21, 25, 42, 50, 51, 56, 75, 77, 82, 83, 85, 86, 87, 101, 102, 103, 106, 107, 117, 119, 121, 123, 131, 133 f., 142, 145, 151, 153, 160, 161, 171–175, 181, 190, 192, 193, 203, 208, 219, 220, 221, 222, 234, 236–241, 248 f., 250, 251, 266, 269, 270 f., 279, 287, 292, 294, 295, 297, 303, 309, 313, 315, 316, 322, 325, 327, 329, 335, 339 f., 341, 348, 356, 358, 359 Keller, Gottfried  65 Kemmerling, Andreas  132, 133, 138, 179 Kenny, Anthony  150 f., 168, 170, 209, 321 Kepler, Johannes  206 Kern, Andrea  128, 148 Kluxen, Wolfgang  195 Knell, Sebastian  94, 105 Kobusch, Theo  143, 334 Koch, Anton Friedrich   13, 131, 133, 161 Korsgaard, Christine M.  90 Koslowski, Peter  249 Koziel, Bernd Elmar  46 Kreiml, Josef  282 Kreiner, Armin  209, 211 Kreis, Guido  26, 101 Kreuzer, Johann  144 Küng, Hans  339 Kutschera, Ulrich  23 La Mettrie, Julien Offray de  56 Lehmann, Karl  358 Leibniz, Gottfried Wilhelm  VII, 12, 13, 36, 42, 56, 81, 83, 84, 85, 99, 101, 102, 107, 109, 112, 117, 148, 171 f., 181, 221, 236, 244, 310, 311 Lessing, Gotthold Ephraim  31, 345–357 Levinas, Emmanuel  112 Lewis, David  83, 87, 101, 206 Locke, John  164 Loeb, Louis E.  166 Löffler, Winfried  124 Longuenesse, Béatrice  134

383

Lübbe, Hermann  8, 10 Luhmann, Niklas  320 Luther, Martin  66, 287, 335 Mackie, John L.  25 f., 87, 97, 98, 103, 153, 157, 193, 206, 209, 220, 223, 232 Maier, Anneliese  321 Malcolm, Norman  26 Malebranche, Nicolas  148 Marion, Jean-Luc  17, 81, 112, 158, 173, 175, 176, 178, 296 Maritain, Jacques  14, 17, 194 Markie, Peter  133, 136 Marx, Karl  22, 31, 53, 56, 57, 60, 61, 64, 65, 66, 72, 341 McDowell, John  103, 145, 151 Meier, Georg Friedrich  101 Meister Eckhart  181 Melanchthon, Philipp  335 Mendelssohn, Moses  347 Mersenne, Marin  77, 125, 136, 137, 165 f., 169, 171, 185, 187, 188, 189 Metz, Wilhelm  195 Milton, John  286 Mohammed 337 Monod, Jacques  57 Moore, George Edward  90 Moses Maimonides  66, 182, 190, 191, 335 f. Müller, Klaus  97, 120, 185, 217, 235, 335 Müller, Sven  216, 217 Münzer, Thomas  66 Nagel, Thomas  103 Neiman, Susan  315 Neuhaus, Fabian  84 Newton, Isaac  206 Nietzsche, Friedrich  31, 40, 62 Nikolaus von Kues  56, 84, 112 Noë, Alva  141 Nussbaum, Martha C.  49 Oderberg, David S.  111, 140, 154, 243, 319 Oeming, Manfred  358 Oesterreich, Peter L.  317 Oppy, Graham  81, 97, 100, 153, 181, 192, 204, 209, 211, 320 f. Origenes  224 f., 292 Osborne, Thomas M. Jr.  144 Otto, Rudolf  66 Pannenberg, Wolfhart  84, 114, 116, 117, 358 Parfit, Derek  135 Parmenides  56, 270 Pascal, Blaise  25, 169, 326, 358, 360, 361 Paulus  228, 255, 286, 302, 331, 337, 350 Paulus, Heinrich  249 Peirce, Charles Sanders  79

384

Personenregister

Perler, Dominik  132, 153, 155, 173 Philon von Alexandria  335 f. Plantinga, Alvin  5, 14, 26, 83, 88, 100, 101, 102, 206, 236 Platon  56, 74, 89, 114, 116 f., 143, 151, 191, 192, 224, 234, 252, 302, 312, 313, 317 f., 319, 325, 334 ff., 359, 360 Prauss, Gerold  268 Puntel, Lorenz B.  194 Pyrrhon  128, 258 Quine, Willard Van Orman  196, 242, 320 Rahner, Karl  358, 359 Rawls, John  49 Ratzinger, Joseph  342, 358–361 Raz, Joseph  90 Régis, Pierre-Sylvain  137 Reimarus, Hermann Samuel  31, 345–351, 356, 357 Reimarus, Johann Albert Heinrich  349 Reinhold, Carl Leonhard  273 Renner, Paul  124 Rentsch, Thomas  4, 46, 111 f., 287, 337 Ringleben, Joachim  149 Röd, Wolfgang  91, 97 f., 136, 172 Rödl, Sebastian  134, 139, 145, 196 Rorty, Richard  79 Ross, William David  203 Sartre, Jean-Paul  145 f., 172 Savigny, Eike von  142 Scheler, Max  142 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  1, 3, 18, 19, 21, 27, 32, 33, 38, 73, 83, 117, 118, 119, 133, 137, 139, 145, 178, 241, 249 ff., 253–257, 259–263, 265–295, 297–306, 315, 316, 317, 327, 328, 329, 336, 352, 356, 357, 358, 362, 363 Schelling, Karl Friedrich August  249 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst  3, 7, 262, 357, 358 ff. Schmitt, Carl  66, 341 Schmitt, Franciscus Salesius  91, 97 Schneider, Hans Julius  4, 8 ff., 113, 260 f., 324, 338 Schockenhoff, Eberhard  358 Schönberger, Rolf  181, 203 Schopenhauer, Arthur  66, 274 f., 338 Schupp, Franz  335 Schwambach, Claus  68 Scribano, Emanuela  173, 181 Seel, Martin  49 Seidel, Helmut  166 Sellars, Wilfrid  320 Sertillanges, Antonin-Gilbert  194 f.

Sextus Empiricus  128 Shoemaker, Sidney  134 Siebers, Johan  64 Siger von Brabant  183 Sokrates 325 Spaemann, Robert  10, 96, 131 f., 305, 358 Spinoza, Baruch  15, 56, 57, 59, 60, 81, 83, 106, 109, 177, 225, 244, 270, 271, 284, 310, 335 f., 356 f. Steinacker, Peter  64 Stekeler-Weithofer, Pirmin  27, 114, 196, 203, 206 Strasser, Peter  85, 93, 97 Strauß, David Friedrich  357 Strauss, Leo  341 Sturma, Dieter  276 Suarez, Francisco  153 Swift, Jonathan  105 Swinburne, Richard  14, 26, 27, 218–222, 282, 311 Taylor, Charles  4 Te Velde, Rudi  194, 199, 235, 244, 289, 290, 301, 302, 321 Thomas von Aquin  14, 17, 18, 19, 20, 21, 23, 25, 27, 37, 80, 81, 83, 85, 88, 95, 98, 107, 114, 117, 119, 124, 143, 158, 164, 167, 168, 170, 176, 179, 181–187, 190–195, 198–206, 208–218, 221 f., 224–227, 229 ff., 233–236, 238–244, 245–248, 249, 250, 251, 252, 267, 272, 279, 280, 281, 282, 283, 284, 286, 289, 291 f., 298, 299, 300, 301 f., 303, 307, 309, 310, 311, 312, 313, 315, 318, 319, 321, 328, 329, 331, 333, 336, 357, 360, 362 Thompson, Michael  218 Tillich, Paul  358 Tolstoi, Lew  348 Tomasello, Michael  142 Tugendhat, Ernst  134, 138, 145, 324–328, 337 f. Turner, Denys  113 Van Inwagen, Peter  81 Vogt, Johann Gustav  310, 311 Weber, Marcel  94, 105 Weidemann, Christian  23, 307, 308, 309, 326 Whitehead, Alfred North  105, 242, 321 William von Ockham  119 f., 177, 320 Williams, Bernard  133, 135, 136, 152, 153, 154, 166, 169, 171, 327 f. Williams, Michael  128 Wilson, Margaret D.  168 Wittgenstein, Ludwig  8, 103, 106 Wolff, Christian  VII, 1, 11, 101

Personenregister Wolff, Michael  112 Wundt, Wilhelm  146 Xenophanes  334, 337, 360

Zenon von Elea  56 Zoroaster 67

385

Sachregister Abduktion, abduktives Argument  26, 218, 222 Absolute, das  1, 181, 211, 213, 214, 284, 322 f. Abstraktion  131, 154 Actus purus, reine Aktualität  37, 177, 200, 213, 214, 215, 222, 223, 231, 234, 272, 281, 288, 300 Affekt  43, 168, 262, 330 Agnostizismus  9, 18, 103, 124, 160, 161, 163, 173, 182, 185 ff., 223, 224, 329, 343 Akrasie, Willensschwäche  312 Akt, Aktualität  37, 50, 57, 137, 139, 146, 147, 149, 159, 160, 170, 193, 195 f., 197, 199 ff., 203 ff., 208, 213, 214, 215, 222, 223, 231, 232, 235, 260, 263, 266, 272, 273, 274, 276–279, 281, 286, 295, 315, 319 ff., 328, 329, 334 Akzidenz  33, 112, 144, 154, 214, 245, 304 Allmacht  32, 40, 75, 77, 85, 107 f., 180, 215, 225, 307 f., 309, 311 Allwissenheit  32, 40, 77, 85, 108, 111, 171, 307 f., 309 Analogie  87, 90, 114–119, 148, 158, 162, 289 f., 358 Analytische Philosophie  321 Angelologie  229, 231 Angst  5, 332 Annäherung, unendliche  79 Anschauung  4, 17, 133, 142 Anthropologie  29 ff., 36, 42, 44, 48, 52, 60, 61 Anthropomorphismus  77, 338 Apriorismus  181–190, 319 Arianismus  284 f. Aristotelismus  56, 61, 67, 276, 335 Art, Spezies  33, 91, 95, 111, 191, 211 f., 222, 228 f., 289, 311, 320, 321 Aseität  59, 172, 176, 180 Assensus  168, 170, 261, 262, 327 f. Atheismus  9, 11, 14, 15, 18, 21, 23, 31, 38, 66, 67, 73, 96, 97–101, 103, 112, 120 f., 124,

160, 161, 163, 172, 179, 181, 185, 220, 224, 283, 288, 309, 330, 337 f., 343 Atomismus  104, 106 Attribut  73 f., 107, 108, 113, 238, 245, 284, 289, 303, 308 Aufklärung  31, 359 Aufmerksamkeit 141 Autorität der ersten Person  138 Autoritätsargument  27, 60, 194, 235, 329, 343 Axiom  258 f. Barmherzigkeit 108 Befreiungstheologie  46, 68, 350 Betrugstheorie  31, 69 Bewegung  14, 53, 54, 57, 58, 191 f., 195, 198, 199, 201, 205, 207, 208, 213, 215, 217, 220, 222, 223, 231, 233, 234, 235, 259, 270, 272, 273, 288, 290 f., 320 f., 359 Billigkeit 108 Bosheit, das Böse  109 f., 162, 215, 225, 227, 310, 312–319, 322 Buddhismus  66, 337 ff. Calvinismus 226 Causa sui  94, 176, 278 Christentum  32, 41, 43, 46, 53, 66, 68, 71, 73, 255, 263, 280, 317, 334–338, 344, 346, 348, 350, 353, 354 ff., 359–362 Cogito-Argument  125, 133, 134, 135, 136 f., 138, 139, 141, 146 ff., 152, 158, 165 ff., 237, 239, 295 Deduktion  26, 178, 282 Definition  48 f., 85, 176 Deismus  346 f., 350 Demut  323 f. Denken  4, 16, 40, 45, 46, 74, 99, 102, 104, 106, 113, 120, 121, 124, 127 f., 132, 137, 145, 147, 149, 150 f., 158, 159, 160, 179 ff., 185, 186, 191, 197, 245–248, 250–253, 255–259, 264, 265, 269, 271, 273, 274, 294, 295 f., 298, 330, 331, 355 Denknotwendigkeit  16 f., 42, 44 f., 175, 185 f., 246 f.

Sachregister Determinismus  53, 54, 55, 93, 208, 210, 226, 270, 275, 285, 291, 292, 317 Dialektik  97, 99, 102, 121, 123, 181, 191, 259, 305 Ding an sich  123, 297 Disposition 321 Diskursethik 316 Doxastischer Voluntarismus  326 Dualismus  171, 178, 270 Eigenschaft, Qualität  15, 32, 36, 37, 38, 41, 43, 44, 48, 49, 57, 82, 84 ff., 88, 92, 99, 102, 104, 110, 111, 112, 113, 114, 153, 154, 174, 214, 238, 274, 291, 352 Einsicht 327 Emanzipation 66 Empirismus  35, 141, 145, 146, 164, 171, 191, 248, 250 Endlichkeit  49, 52, 75, 109, 126, 157, 159, 162, 175, 184, 189, 192, 285, 324 Energie 268 Enhancement  93 f., 228 Ens necessarium  12, 238 Ens rationis  14, 16, 131, 175, 187 Ens realissimum, ens perfectissimum  12, 15, 16, 29, 101, 102, 237 f., 308 Entelechie 39 Entfremdung  29, 31, 36, 65, 66, 71 Epistemologie  55, 81, 123, 164 f., 171, 189, 283, 309, 322 Erfahrung  88, 179, 245–248, 251, 254, 266, 267, 269, 294, 295, 296, 301, 328 f., 358 Erfahrung, religiöse  4–7, 24, 25, 254, 333 f. Erlösung  53, 54, 71, 73, 356 Erscheinung  123, 297 Eschatologie  21, 46, 52, 53, 54, 67 Essentialismus  60, 61, 65, 213 Evidenz  132, 147, 151 f., 163, 171, 189, 254, 263 Evolution  292 f. Evolutionstheorie  292, 325 Ewigkeit 32 Fideismus  10, 11, 79, 87, 103, 109, 190, 255, 256, 348, 357 Form  22, 59, 64, 154, 164, 195, 199, 201, 204, 212, 213, 215, 217, 227, 229, 231, 232, 233, 290, 292, 328 Fortschritt  52, 105 Freiheit  57, 62, 63, 109 f., 168 ff., 226 f., 253 f., 263, 266, 267, 268, 269, 270–273, 275 f., 278, 281, 287, 291, 292, 295, 298, 299 f., 301, 303 f., 310, 311, 312, 317, 318, 355

387

Gattung, Genus  33, 51, 52, 61, 62, 91, 111, 157, 191, 211 f., 222, 228, 320, 321, 323 Gefühl  4, 262, 295 Geist  35 ff., 45, 56, 131, 137, 144, 145, 149, 158, 159, 160, 162, 164, 165, 170, 171, 178, 187, 188, 189, 215, 229, 252, 254, 256, 271, 278, 279, 281, 282 f., 284, 290, 297, 298, 300, 301, 303, 304, 305, 313, 318, 329, 331, 332, 346, 357, 360 Genius malignus  131 f., 138, 156, 163, 166 Geometrie 129 Gerechtigkeit  90, 92, 108, 182, 314, 339 f. Geschichtsphilosophie  51 f. Glaube  5, 21, 32, 36, 71, 120, 184, 203, 207, 221, 255 ff., 260–263, 265, 295, 301, 324, 326, 327, 329, 330–334, 338, 341, 343, 346 f., 352, 354, 355, 358, 359–362 Gnosis 73 Gott  1, 2, 3, 9, 10, 11, 13, 15, 16, 22, 24, 29 f., 32, 34, 36, 37, 38, 40, 41, 42, 43, 44, 46–49, 57, 59, 66, 73, 80, 82, 86, 87, 95, 97, 98, 107, 109–114, 117, 118, 119, 120, 121, 124, 125, 126, 127, 132, 145, 148, 156, 157, 160, 162 f., 164, 165, 166, 169, 171, 172, 173, 176, 177, 179–187, 189, 190, 194, 199, 200 f., 202, 203, 205, 207, 213, 214, 215, 220, 222, 223, 224, 225, 226, 231 ff., 235, 237, 240, 244 , 245, 251, 263, 266, 276, 277, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 286 f., 289, 290, 292, 295, 300, 301, 302, 303, 304, 307, 308, 309, 311, 315, 322 f., 324, 328, 329, 330, 345, 346, 351, 352, 356, 357, 358, 359 f., 362 f. Gottesbeweis, dialektischer  13 Gottesbeweis, kosmologischer  12, 14, 24, 181, 191, 192, 205 f., 234, 236–239, 240 f., 243, 293 Gottesbeweis, ontologischer (ontologisches Argument)  12, 14, 15, 16, 24, 27, 77, 81–87, 101, 102, 121, 123, 125, 137, 172, 173 f., 175, 181–185, 213, 236, 240 f., 282, 303 Gottesbeweis, physikotheologischer  12, 24, 219, 220, 221, 235, 236, 239 ff., 293 Gottesbeweis, praktischer  25 Gottesbeweis, selbstbewusstseinstheoretischer  13, 17 f., 80, 124, 134, 147 f., 156, 163, 166, 237 Grund  33, 142 f., 194, 214, 265, 275, 283, 299, 322, 338, 360 Gut, Güte  2, 32, 39, 40, 43, 73, 75, 77, 78, 85, 88, 90, 91 ff., 94, 96, 104, 105, 106, 107, 108, 142 f., 158, 160, 161, 167, 180, 187,

388

Sachregister

214 f., 225 ff., 234, 269, 303, 307 f., 309, 312, 317, 318, 330 f., 339 Habitus 85 Handeln, Handlung  37, 54, 64, 90, 162, 169, 229, 267, 296, 308, 312, 314, 318, 330 Hass 330 Hinduismus  337 f. Hochmut, Hybris  110, 215, 313–318, 323 Hoffen, Hoffnung  21, 53, 54, 55, 56, 64, 65, 72, 73, 74, 260 f., 324, 330–333 Homonymie 116 Homousie 68 Hypostasierung  9, 30, 35, 36, 40, 42, 71, 76, 90, 187 Idealismus  56, 57, 60, 270, 273 Idee  16, 22, 30, 37, 38, 41, 48, 57, 75 ff., 90, 121, 149, 150–156, 158, 159, 160, 162, 163, 164, 165, 167, 168, 180, 185, 186, 187 f., 189 Imago Dei  118 f., 148, 165, 245, 291 Imitatio Christi 44 Immanenz  8, 66 Immaterialität 300 Indeterminismus  57, 208, 210, 220, 270 Indifferenz 170 Induktion  26, 27, 154, 191, 207, 219, 245 ff., 319 Inkompatibilismus 270 Inkompatibilität 101 Intentionalität  39, 139–147, 153, 197, 277, 306 Introspektion 138 Ironie 292 Irrtum  132, 150 f., 180, 314 f., 317 f., 322 Irrtumstheorie  31, 36 Islam  46, 53, 66 f., 250, 335, 337, 344, 347, 356, 362 Judentum  45, 46, 53, 66, 68, 70 f., 250. 263, 280, 337, 344, 346 ff., 350, 354, 355 f., 359 f., 362 Kategorie  90, 186, 245, 247, 294, 297 f. Kausalität  22, 58, 88, 92 ff., 96, 102, 106, 107, 152, 154, 156, 161, 163 ff., 176, 177, 179, 181, 184, 186, 188, 191, 192, 193, 195, 202–208, 209, 212, 214 f., 217, 226, 231 ff., 235, 239, 243, 259, 271, 288, 301, 321, 328 ff., 338, 344, 359 Kennzeichnung  82, 83, 87, 88, 96, 98, 158, 177, 184, 185, 235 Körper  104, 132, 135, 136, 156, 171, 183, 192, 215, 229, 284, 290 Kognitivismus  6, 251 f. Kompatibilismus  270, 275 Konfuzianismus  66, 339

Konstruktivismus  212, 264 f. Kontingenz  15, 49, 63, 107, 168, 181, 208, 209, 210, 211, 213, 215, 220, 226 f., 232, 324 Korrespondenz  154, 156, 161, 180, 245, 298 Kosmologie  21, 80, 95, 161, 193, 202, 210 f., 220, 221, 222, 227 f., 267, 274, 284, 288, 293 Laster  215, 313, 317 Latenz  54, 55 Leben  47, 90, 204, 205, 215, 217, 218, 220, 223, 226, 228, 234, 268, 285, 292, 301, 303, 310, 324, 325, 332 Leib, Leiblichkeit  49, 183, 296, 330 Liebe  5, 39, 40, 47, 144 f., 233 f., 303, 324, 330–333, 363 Manichäismus  67, 69, 317 f. Marxismus  4, 52, 53, 65, 69, 71 Materialismus  9, 21, 22, 35, 53, 55, 57, 59, 63, 201, 210, 212, 221, 223, 270, 298, 348 Materie  22, 57, 58, 59, 60, 61, 64, 74, 154, 200 f., 205, 206, 210, 212, 213, 217, 220, 231, 232, 259, 267 f., 270 ff., 274, 276 f., 283, 290, 291, 292, 301, 322 Mathematik  130 ff., 178, 182, 282, 319 Megarische Philosophie  195 f., 272 Mengentheorie, Mengenlehre  84 Metapher  103, 113 f., 165, 184, 233, 288 f. Metaphysik  VII, 1, 2, 4, 11, 21–25, 30, 31, 53, 74, 80, 128, 146, 186, 189, 191 f., 195, 234, 241, 249, 263, 265, 269, 281, 283, 299, 305, 306 ff., 311, 319, 321, 322, 325, 328, 335, 336 ff., 340, 342, 343, 344 ff., 360 Methodischer Zweifel  124 f., 128, 129 ff., 132 f., 137, 141, 148, 149, 151 f., 156, 161, 165, 167, 170, 171, 180, 186, 207, 244, 297, 305, 306 Möglichkeit  42, 51, 54, 55, 56, 58, 62, 74, 85, 101, 170, 195–198, 203 f., 210, 219, 312 Monotheismus  47 f., 161, 177, 182, 189, 215, 231, 250, 279 f., 284, 336 f., 359 f. Mystik  67, 99, 131 f., 254, 324 f. Natur  2, 21, 23, 45, 58, 61, 63, 75, 80, 95, 106, 107, 178, 182, 206, 207, 215, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 239 f., 244, 267, 268, 271, 281, 282, 283, 284, 285, 287, 288, 290, 291, 292, 293, 294, 296 ff., 305, 311, 312, 314, 321, 322, 330, 358 Naturalismus  22, 325, 355 Naturphilosophie  24, 58, 95, 217, 252, 265, 266, 268, 278, 281, 284, 292, 297 f., 321 Naturreligion  45, 47 f., 66 Naturschönheit  5, 41, 90, 220, 221, 235, 239, 284

Sachregister Neid  215, 313–316 Neuplatonismus  34, 43, 272, 284, 361 Neuthomismus 358 Nominalismus  64, 72, 190, 212, 320, 359 Normbewusstsein 139 Objektivität  6, 141, 151, 154 Offenbarung  250, 252, 254 f., 263, 265, 266, 283, 284, 292, 293, 301, 302, 335, 343, 346 ff., 350, 352 ff., 357, 361 ff. Offenbarungsphilosophie  19, 249, 254, 255, 256, 263, 266, 267 ff., 281, 283, 294, 295, 356 Offenbarungstheologie  1, 7, 18, 24, 183, 194, 249, 251, 254, 263, 300 f., 307, 329, 334, 336, 341, 345 f., 349, 351, 352, 356, 357, 361 f. Ontologie  1, 11, 14, 17 f., 19, 21, 22, 24, 54, 56, 57, 60, 62, 80, 88, 91, 92, 94, 99, 101, 121, 131, 132, 154, 177, 178, 180, 181, 185, 187, 201, 202, 204, 205, 210 f., 214 f., 221, 222, 225, 226, 231, 232, 234, 235, 242 ff., 245–248, 263, 266, 268, 269 ff., 278 f., 281, 283, 284, 285, 286, 287, 293, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 304, 309, 311, 312, 317, 318, 319–322, 329, 358 Ontotheologie 13 Paronymie  116, 118 f. Pascals Wette  25, 326, 361 Person, Personalität  32, 40, 87, 279 f., 304 f., 313, 323 Perversion  313 f., 317, 322 Physik  178, 189, 191 ff., 206, 217, 243, 266, 280, 322 Platonismus  56, 60 f., 90, 132 Polytheismus  48, 231, 250, 280, 302, 336 f., 338 Potenz, Vermögen  37, 38, 39, 40, 44, 50, 56, 59, 104, 107, 135 f., 180, 193, 195, 196 ff., 199 ff., 205, 214, 215, 225, 228, 231, 232, 235, 245, 268, 272, 273 f., 276 ff., 281, 286, 291, 300, 304, 319 ff. Privation  101, 151, 170, 215, 229, 309, 310, 312, 313, 317, 322 Pragmatismus  8 ff., 142 Probabilismus  26, 218–222 Projekt Weltethos  339 f. Projektionstheorie 42 Proprium  112, 154, 160 f. Protestantismus  46, 190, 272, 335, 348, 355 Prozess  21, 22, 37, 58, 80, 104, 105, 195, 222, 271, 277, 285, 293, 321, 331 Prozessontologie  105, 242, 321 Psychoanalyse 4

389

Pyrrhonismus  129, 131, 258 Quantität  82, 84, 153, 169, 203, 214, 319 f. Quantorenverschiebung  208 ff. Realismus  17, 225, 273, 298, 305 Realität  153, 188 Regellogik 196 Relationalität  176, 322 f. Religion  8 f., 21, 22, 29 ff., 35, 38, 44, 47, 48, 52, 61, 65, 66, 67, 71, 221, 224, 255, 307, 322–327, 332, 333, 334, 336, 339–344, 350 ff., 359 ff. Religionsphilosophie  1 f., 5–11, 20, 22, 24 f., 36, 46, 307, 322 ff., 327, 333 f., 357 Religionswissenschaft 332 Rettung der Phänomene  299 Sabellianismus 177 Satz des Widerspruchs  97, 127, 159, 185, 258, 264 Schöpfung  41, 77, 107, 109, 161, 163, 164, 165, 175, 178, 190, 203, 207, 225, 227, 231, 239, 244, 280, 284, 285–290, 292, 293, 300, 300 f., 303 ff., 310, 318, 335, 348, 359 f. Seele  32, 35, 90, 136, 162 f., 164, 166, 171, 183, 210, 229, 278, 300, 324, 328 Sein  16, 19, 38, 51, 57, 72, 75, 82, 90, 92, 95, 98, 99, 101, 117, 124, 127 f., 154, 164, 172, 180, 181, 185, 191, 193, 201, 202, 228 ff., 233, 234, 235, 244, 245, 263 ff., 267 ff., 271, 272, 273, 274 ff., 279, 281, 283, 286, 288, 292, 294, 296 f., 299, 300, 301, 303, 307, 311, 319 f., 322, 328, 329, 330, 332 f., 340, 360 Seinsnotwendigkeit  16 f., 49, 57, 124, 125 f., 170, 172, 173, 174, 176, 177, 180, 181, 186, 207, 208, 209, 211 ff., 214, 232, 234, 235 ff., 244, 246, 271, 273, 282, 307 Selbstbewusstsein  19, 21, 41, 61, 62, 143, 145 f., 147, 179, 197, 277, 278, 279, 280, 281, 285, 293, 297, 300, 302, 304, 305, 306, 325, 356 Selbsterkenntnis  46, 134, 165 f., 300 Selbstreflexion  134, 135, 253 Selbsttäuschung  133, 316, 326 Skeptizismus  16, 79, 97, 103, 123 f., 128, 129, 131, 148, 160, 172, 173, 186, 189, 245, 247, 258, 306, 319, 322, 328 Spekulation  21, 36, 38, 46, 53, 180, 207, 222 f., 250, 266, 267, 281, 344 ff., 355 Spekulativer Satz  32–37 Sterblichkeit  52, 63, 183, 324 Strukturalismus 320 Substanz  32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 58, 87, 106, 107, 110, 111, 112, 135, 136, 143, 144,

390

Sachregister

147, 155, 156, 157, 159, 162 f., 171, 173, 176, 179, 191, 197, 218, 227, 228, 229, 233, 245, 268, 276, 277 f., 284, 304, 320 Substantialistischer Fehlschluss  135 Substanzontologie  35, 154, 242 Sünde  109 f., 167, 169, 182, 224 f., 229, 291, 315, 318, 323, 363 Synonymie  116, 119 Systemtheorie 320 Szientismus 9 Taoismus, Daoismus  66, 337 ff. Teleologie  14, 22, 24, 53, 54, 57, 61, 64, 200, 215, 217, 218, 223, 233, 240, 241, 258, 291 Tendenz  22, 54, 55, 57, 64, 65 Theismus  9 f., 18, 21, 48, 80, 178, 179, 182, 219, 220, 221, 235 f., 329, 330 Theodizee  23 f., 85, 93, 108 ff., 223–230, 307, 309–319 Theologie  1, 3, 22, 23, 29–32, 35, 36, 45, 69, 73, 79, 101, 119, 120, 124 f., 158, 161, 169, 173, 176, 178, 181, 182, 183, 184, 202, 213, 215, 221, 223, 224, 226, 233, 234 f., 238, 242, 245, 259, 265, 266, 280, 284 ff., 292, 296, 297, 302 f., 312, 321, 336, 350 f., 357, 358, 359 ff. Theologie, Natürliche  1, 2, 11, 12, 14, 16, 17 f., 19, 20, 21–24, 27, 74, 79, 80, 120, 147, 155, 157, 189, 192, 200, 230, 241, 244, 247 ff., 250 f., 254, 255, 263, 266, 267, 278, 281, 282, 283, 291, 293, 294, 295, 297, 298, 299, 300 f., 303, 304, 305, 307, 308, 309, 311, 319, 321, 322, 326–329, 333, 334–338, 340 f., 344–347, 351, 352 f., 355, 357, 358, 359, 360, 361 ff. Theologie, Negative  81, 112, 119, 179, 238, 308, 322, 360 Toleranz  340, 347 Transzendental  90, 158, 186, 325 Transzendentale Apperzeption  145 Transzendenz  4, 6, 7, 8, 24, 73, 74, 75, 77, 78, 87, 91, 107, 113, 117, 132, 157, 187, 214, 272, 322, 323, 327, 329, 332 f., 338, 340, 358, 360 Traumargument  130, 137, 296 Trinität  32, 40, 238, 278, 279 f., 282, 297, 301–304, 306, 356, 361 Tugend  43, 157 f., 307, 314, 316, 324, 327, 329–333, 338, 353 Übel  24, 39, 108 ff., 224 ff., 228 ff., 308–311, 314, 331 Unendlichkeit  75, 169, 192, 193, 203 Univozität  320 f. Unsterblichkeit  32, 72, 104 f., 136, 183

Unvollkommenheit  47, 157, 161, 162, 167, 179, 189, 228, 284, 291, 309 Urteil  131, 150, 168, 169, 183 f., 315 Utopie  21, 51, 52, 53, 55, 61, 70 ff., 93 Vergänglichkeit  104, 209 f. Vernunft, Intellekt  16, 18, 39, 41, 49, 65, 76, 85, 109, 120, 123, 149, 160, 167, 168, 170, 183, 184, 186, 187, 190, 210, 215, 239, 241, 251, 252, 254, 262, 266, 268, 270, 281 f., 283, 291, 300, 313, 315, 317, 318, 325, 328, 329 f., 339, 340, 341, 346, 347, 349, 354, 356, 357, 359, 360 Verstehen  328 f. Versuchung 318 Verzweiflung 331 Vollkommenheit  15, 17, 24, 39, 40, 43, 44, 47, 52, 56, 65, 71 f., 74, 75 f., 84, 88, 90, 91, 92, 93, 95, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 105, 106 ff., 111, 117, 123, 143, 156, 157, 159, 160, 161, 167, 169, 172, 173, 174, 175, 178, 179, 180, 186, 187, 188, 189, 206, 214, 215, 223, 228 ff., 233, 235, 284, 291, 292, 308, 310 Wahrhaftigkeit 328 Wahrheit  9, 34, 38, 41, 45, 78, 79, 90, 142 f., 150 f., 156, 157, 158, 160, 161, 167, 169, 170, 179, 180, 183, 184, 190, 220, 261, 264, 265, 269, 294, 301, 306, 328, 332, 342 f., 352, 353, 360 ff. Wahrnehmung  90, 129 ff., 140 ff., 144, 145, 197, 251, 262 Weisheit  73, 111, 257 f., 260–263, 327–330, 334 Welt   105 ff., 191 ff., 203, 207, 208, 209, 210, 220, 221, 231 f., 239, 240, 244, 270 f., 284, 285, 301, 307, 308 Wesen  29 ff., 35, 37, 38, 39, 42, 46–49, 61, 63, 64, 65, 72, 73, 75, 86, 87, 107, 112, 113, 114, 118, 123, 124, 126, 134 f., 154, 157, 165, 166, 172, 175, 179–182, 187, 191, 214, 215, 229, 244, 276 f., 287, 290 f., 303, 304, 309, 316, 323, 332 Wiener Kreis  321 Wille  39, 40, 63, 109 f., 149, 158, 160, 161, 162, 168, 170, 197, 215, 221, 227, 253, 254, 263, 269, 270, 274–279, 287, 291, 295 f., 301, 303, 304, 310, 312, 317, 318, 323, 324, 331, 352 Wissen  38, 43, 76, 78, 79, 85, 120, 124, 129 ff., 151, 156, 160, 162, 171, 179, 180, 182, 187, 215, 251, 252, 256–260, 262 f., 277, 295 f., 303, 304, 306, 327 ff., 331, 334, 341, 348, 358, 359 ff.

Sachregister Wissenschaft  18, 75, 124, 178, 180, 182, 183, 243, 250 ff., 269, 273, 309, 328, 329 f., 345, 359 ff.

391

Zeit  192, 193, 195, 203, 208, 209, 232, 259, 276 f., 286 ff., 331 Zeugung 284–293