Vernunft und das Andere der Vernunft 9783495997444, 3495478906, 9783495478905


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Einleitung
1. Vernunftkritik
2. Der Begriffswandel von Vernunft zu Rationalität
3. Von der Einheit zur Pluralität
4. Begründung als Grundmuster der abendländischen Rationalität
5. Die Grundbedeutung von Vernunft: das Vermögen zur Strukturierung und seine möglichen Auslegungen
Erster Teil: Rationalitätstypen
1. Kapitel: Die Listenmethode
1. Bestandsaufnahme
2. Charakteristik der Strukturierungsprinzipien
3. Kritik
4. Bacons Listenmethode
2. Kapitel: Der dihairetische Rationalitätstypus
1. Abgrenzung: philosophisch-mathematische Rationalität
2. Charakterisierung des philosophisch-dihairetischen Rationalitätstypus
3. Komplikationen
4. Das Problem der Relativität der Realität und seine Lösung durch den Duhem-Quineschen Holismus
5. Das Einteilungsproblem und der Wandel der Einteilungsprinzipien
6. Systemtranszendenz oder Systemimmanenz des Systemgrundes?
7. Urteil und Schluß auf der Basis des dihairetischen Rationalitätskonzepts
8. Der mathematische Rationalitätstypus
3. Kapitel: Der dialektische Rationalitätstypus
1. Grundstruktur
2. Zeitlicher Kreislauf
3. Platons Dialektiktypus
4. Hegels Dialektiktypus
5. Fichtes Dialektiktypus
4. Kapitel: Der metaparadoxale Rationalitätstypus
1. Paradoxie - ein eigener Vernunfttypus oder die Grundstruktur der Dialektik?
2. Kurzheschreihung der Paradoxien
3. Struktur und Mechanismus der Paradoxien
4. Lösung der Paradoxien?
5. Negative Dialektik als Metaparadoxie
6. Fichtes Spätphilosophie als Beispiel für negative Dialektik
5. Kapitel: Der analogische Rationalitätstypus
1. Analogiedenken - Rationalität oder Irrationalität?
2. Arcimholdos »Jahreszeiten«-Zyklus und seine diversen Auslegungen
3. Morphologischer Raster des Analogiedenkens
4. Analogieformen
5. Die Logik des Analogiedenkens
6. Die semantischen (ikonographischen) Analogien in den Bildern Arcimholdos
7. Tropen als linguistische Analogien
8. Verkehrung und Verschiehung als psychologische Analogien
9. Selhstähnlichkeit als Analogieform in der fraktalen Geometrie
6. Kapitel: Überlegungen zum Zusammenhang der Rationalitätstypen
1. Empirischer oder apriorischer Status der Rationalitätstypen?
2. Vermittlungsvorschläge
3. Kriterien für einen paradigmatischen Status der Rationalitätstypen
Zweiter Teil: Das Andere der Vernunft
1. Kapitel: Das Andere als Sub-, Hyper- und Transrationales
2. Kapitel: Der negative Zugang zum Anderen der Vernunft: die via negativa, demonstriert an Derridas differance-Begriff
1. Vorgeschichte
2. Derridas Begriff der differance
3. Schwierigkeiten
3. Kapitel: Der positive Zugang zum Anderen der Vernunft: Nietzsches vitalistische Ansicht
1. Kritik am traditionellen dihairetischen Vernunftkonzept
2. Der Wille zur Macht
3. Schwierigkeiten
4. Kapitel: Der metaphorische Zugang zum Anderen der Vernunft
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
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Vernunft und das Andere der Vernunft
 9783495997444, 3495478906, 9783495478905

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A

Karen Gloy

Vernunft und das Andere der Vernunft

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997444

.

B

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997444 .

Zu diesem Buch: Seit mehr als 2000 Jahren hat sich die Philosophie und Geistesgeschichte in Absetzung von dem teils unzugänglichen Übersinnlichen, teils indifferenten, diffusen Sinnlichen, Triebhaften, Natürlichen dem Programm einer Einheit der Vernunft verschrieben. Damit hat sie den bogozentrismus des Abendlandes begründet, der in der Vernunft ein begründendes Denken sieht, das im Klassifikations­ system der Wissenschaften gipfelt. Erst die Postmoderne hat an die Stelle der einen Vernunft eine Pluralität von Vernunfttypen gesetzt, ohne diese jedoch zu definieren. Das Buch analysiert erstmals in der Geschichte verschiedene Denkformen, die zu unterschiedlichen Welt­ bildern führen: neben dem klassifikatorischen Typ, der für das mathe­ matisch-naturwissenschaftliche Denken charakteristisch ist, die sume­ rische Listenmethode, das dialektische Denken und das analogische, das das neue Paradigma der Welterklärung zu werden verspricht. About this book: Eor more than 2000 years, philosophy and the history of thought have been committed to a program for the um'ty of reason as opposed to the inaccessible realm of the super-rational on the one hand and the undifferentiated, diffuse matter of sensations, drives, and nature on the other. With this program, the logocentrism of the West was founded, which sees reason as explanatoiy thought culminating in the classificatory systems ofthevarious sciences.lt was Postmodernism which first set a plurality of types of reason in the place of the one reason, without, however, having defined them. The book analyzes, for the first time, various forms of thought leading to different views of the world: apart from the classificatory type, which is characteristic for the mathematical thought of the natural sciences, the Sumerian method of lists, dialectical thinking, and analogical thinking, which appears promising as a new paradigm. Die Autorin: Dr. phil. Karen Gloy, geb. 1941, ist ordentliche Professorin für Philosophie und Geistesgeschichte an der Universität Luzern. Gast­ professuren u. a. in China, Taiwan und Kolumbien. Dauptarbeitsgebiete: Deutscher Idealismus, Rationalität, Naturphilosophie. Veröffentlichun­ gen beiAlber: Bewußtseinstheorien (2. Aufl. 2000); Ratlonah'tätstypen (1999, Dg.); Das Analogiedenken (2000, Dg. zusammen mit Manuel Bachmann).

https://doi.org/10.5771/9783495997444 .

Karen Gloy Vernunft und das Andere der Vernunft

https://doi.org/10.5771/9783495997444 .

Alber-Re/he Philosophie

https://doi.org/10.5771/9783495997444 .

Karen Gloy

Vernunft und das Andere der Vernunft

Verlag Karl Alber Freiburg/München

https://doi.org/10.5771/9783495997444 .

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Vernunft und das Andere der Vernunft / Karen Gloy Freiburg (Breisgau); München : Alber, 2001 (Alber-Reihe Philosophie) ISBN 3-495-47890-6 Texterfassung: Autorin Registerbearbeitung: Angelika Kuhlmann Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte Vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 2001 Einbandgestaltung: Eberle & Kaiser, Freiburg Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Föhren Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2001 ISBN 3-495-47890-6

https://doi.org/10.5771/9783495997444 .

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

..................................................................................

1. Vernunftkritik

10

.....................................................................

10

2. Der Begriffswandel von Vernunft zuRationalität..............

21

3. Von der Einheit zur Pluralität.............................................

25

4. Begründung als Grundmuster der abendländischen Ratio­ nalität .....................................................................................

31

5. Die Grundbedeutung von Vernunft: das Vermögen zur Strukturierung und seine möglichenAuslegungen ....

36

Erster Teil: Rationalitätstypen 1. Kapitel: Die Listenmethode 1. 2. 3. 4.

...............................................

44

Bestandsaufnahme ..................................................... Charakteristik der Strukturierungsprinzipien .... Kritik ........................................................................... Bacons Listenmethode ..................................................

44 49 57 60

2. Kapitel: Der dihairetische Rationalitätstypus 1. 2. 3. 4. 5.

...................

Abgrenzung: philosophisch-mathematische Rationali­ tät .................................................................................. Charakterisierung des philosophisch-dihairetischen Rationalitätstypus ......................................................... Komplikationen............................................................ Das Problem der Relativität der Realität und seine Lösung durch den Duhem-Quineschen Holismus . . Das Einteilungsproblem und der Wandel der Eintei­ lungsprinzipien ............................................................

67 67 69 81 89 94 7

Vernunft und das Andere der Vernunft https://doi.org/10.5771/9783495997444 .

Inhaltsverzeichnis

6.

7. 8.

Systemtranszendenz oder Systemimmanenz des Systemgrundes?............................................................ Urteil und Schluß auf der Basis des dihairetischen Rationalitätskonzepts.................................................. Der mathematische Rationalitätstypus......................

3. Kapitel: Der dialektische Rationalitätstypus...................... 1. 2. 3. 4. 5.

105 110 115

Grundstruktur............................................................... Zeitlicher Kreislauf ..................................................... Platons Dialektiktypus ............................................... Hegels Dialektiktypus.................................................. Fichtes Dialektiktypus..................................................

115 120 132 143 158

4. Kapitel: Der metaparadoxale Rationalitätstypus................

170

1.

Paradoxie - ein eigener Vernunfttypus oder die Grundstruktur der Dialektik?...................................... Kurzheschreihung der Paradoxien............................... Struktur und Mechanismus der Paradoxien................ Lösung der Paradoxien?............................................... Negative Dialektik als Metaparadoxie ...................... Fichtes Spätphilosophie als Beispiel für negative Dia­ lektik ..............................................................................

200

5. Kapitel: Der analogische Rationalitätstypus ......................

207

2. 3. 4. 5. 6.

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

8

102

Analogiedenken - Rationalität oder Irrationalität? . . Arcimholdos »Jahreszeiten«-Zyklus und seine diver­ sen Auslegungen ........................................................ Morphologischer Raster des Analogiedenkens . . . . Analogieformen ............................................................ Die Logik des Analogiedenkens ................................... Die semantischen (ikonographischen) Analogien in den Bildern Arcimholdos ............................................ Tropen als linguistische Analogien ............................ Verkehrung und Verschiehung als psychologische Analogien ..................................................................... Selhstähnlichkeit als Analogieform in der fraktalen Geometrie .....................................................................

ALBER PHILOSOPHIE

170 172 181 195 197

207 208 213 224 229 236 241 248 264

Karen Gloy https://doi.org/10.5771/9783495997444 .

Inhaltsverzeichnis

6. Kapitel: Überlegungen zum Zusammenhang der Rationali­

tätstypen ............................................................................... 1. 2. 3.

277

Empirischer oder apriorischer Status derRationalitäts­ typen? 277 Vermittlungsvorschläge.................................. 281 Kriterien für einen paradigmatischen Status der Ratio­ nalitätstypen 288

Zweiter Teil: Das Andere der Vernunft 1. Kapitel: Das Andere alsSub-, Hyper- und Transrationales . 2. Kapitel: Der negative Zugang zum Anderen der Vernunft: die via negativa, demonstriert an Derridas differance-Begriff ........................................................................................ 1. 2. 3.

Vorgeschichte ............................................................... Derridas Begriff der differance ................................... Schwierigkeiten.............................................. 310

3. Kapitel: Der positive Zugang zum Anderen der Vernunft: Nietzsches vitalistische Ansicht ......................................... 1.

294

299 299 303

312

Kritik am traditionellen dihairetischenVernunftkon­ zept Der Wille zur Macht .................................................. Schwierigkeiten ............................................................

312 315 319

4. Kapitel: Der metaphorische Zugang zum Anderen der Ver­ nunft .....................................................................................

324

Literaturverzeichnis .................................................................. Personenverzeichnis .................................................................. Sachverzeichnis...........................................................................

329 341 344

2. 3.

9

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Einleitung

1. Vernunftkritik »Verachte nur Vernunft und Wissenschaft Des Menschen allerhöchste Kraft« Goethe: Faust I, Vers 1851 f.

Seit nun schon mehr als einer Philosophengeneration gehört die Ver­ nunftschelte zum Standardrepertoire der Gegenwartsphilosophie. Seitdem in den sechziger Jahren in Frankreich die postmoderne Avantgarde, gestützt auf Vorläufer wie Nietzsche, Heidegger und Bataille, ihren Generalangriff auf die Aufklärung und die mit ihr eingeleitete Moderne startete, die das menschliche Subjekt und mit ihm die Vernunft ins Zentrum gerückt hatte gegenüber dem auf die Polis abgestellten antiken Denken und dem am hierarchischen Kos­ mos mit Gott an der Spitze orientierten christlich-mittelalterlichen Denken, ist die Kritik an Rolle und Funktion der Vernunft nicht wie­ der verstummt. Es gehört heute geradezu zur Mode, Vernunftschelte zu betreiben, während Plädoyers für die Vernunft nicht nur selten geworden sind, sondern auch für obsolet gehalten werden. Dabei geht es zumeist nicht nur um eine legitime, moderate Vernunftkritik, die die hypertrophen Ansprüche der Vernunft, ihre möglichen Fehler und Irritationen, sei es auf dem Gebiet des Den­ kens, Handelns oder Evaluierens, aufdeckt und zurückweist, sondern um eine radikale Vernunftkritik, die die klassische anthropozentri­ sche Bestimmung des Menschen als ^mov Xäyov e/ov oder animal rationale und die mit ihr zusammenhängende sozio-kulturelle Vor­ herrschaft des Logos in Frage stellt und im Namen des traditionell unterdrückten, verdrängten oder gar ignorierten Anderen der Ver­ nunft bestreitet, das unter Namen wie äußere und innere Natur, Leiblichkeit, Trieb- und Affektsphäre, Gefühl, Emotionalität, Sinn­ lichkeit, Phantasie, Traum, Wahnsinn u. ä. auftritt. Der »Logozentrismus«1 des Abendlandes, die dogmatische Verabsolutierung der J. Derrida: Grammatologie (Titel der Originalausgabe: De la grammatologie, Paris 10

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Einleitung

Vernunft wird als Vernunftmythologie hzw. Vernunftideologie decouvriert. Es ist der die abendländische Geschichte beherrschende Vernunftmonismus, der hier attackiert wird. Dieser absoluten Ver­ nunftherrschaft wird als Konsequenz angelastet, was immer es an Fehlleistungen in Wissenschaft und Technik, Zivilisation und Kultur im privaten wie öffentlichen Leben gibt oder gegeben hat, angefan­ gen von der Rationalisierung der Wissenschaft, der Uniformierung und Globalisierung der Technik, der Bürokratisierung der Verwal­ tung bis hin zur Verstaatlichung der Gesellschaft und Moralisierung der Lebenswelt. Um die Vernunft möglichst effektiv bekämpfen zu können, baut man einen Popanz auf, den es so historisch nie gegeben hat. Unter Einebnung aller Differenzen und übertriebener Simplifizierung wird die Vernunft uniformiert und universalisiert, zum monolithischen Singular hochstilisiert und die These vertreten, die gesamte abend­ ländische Philosophie von Parmenides bis Hegel sei nichts anderes als Einheitsphilosophie gewesen, die das Viele, Heterogene, Relative nicht ernst nehme und zu eliminieren trachte. Der Aufstand des un­ terdrückten, geknechteten, geknebelten Anderen der Vernunft ist dann unausweichlich. Er setzt an die Stelle der ordnenden, Regeln und Standards installierenden Macht der Vernunft die Ungeordnetheit der sinnlichen Daten und faktischen Geschehnisse, die Anarchie der Regellosigkeit. Ein illustratives Beispiel hierfür ist Paul Feyerabend, der mit seinen propagandistischen und schockierenden Schriften, angefangen von Wider den Methodenzwang*2 bis zu Irr­ wege der Vernunft3, als Vernunft-Schreck in die Geschichte einge­ gangen ist. Aus der Wissenschaftstheorie kommend - einem Gebiet, das sich üblicherweise der Rationalität verpflichtet weiß -, versucht er anhand einer Analyse der historischen Wissenschaftsentwicklung und des tatsächlichen Vorgehens der Wissenschaftler aufzuzeigen, daß nicht nur der angebliche Wissensfortschritt, sondern auch der vermeintliche Fortschritt der Wissenschaften regellos und irrational

1967), aus dem Französischen von H.-J. Rheinberger und H. Zischler, Frankfurt a.M. 1974, S. 11. 2 P. Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Skizze zu einer anarchistischen Erkennt­ nistheorie (Titel der Originalausgabe: Against Method. Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge, 1975), übersetzt von H. Vetter, Frankfurt a.M. 1976. 3 P. Feyerabend: Irrwege der Vernunft (Titel der Originalausgabe: FareweH to reason, 1986), aus dem Amerikanischen von J. Blasius, Frankfurt a.M. 1989. ^ 11

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Einleitung

sei, und dies nicht nur im Sinne Kuhns, der bezüglich der Paradigmensuhstitution von Rationalitätslücken spricht, sondern im Sinne einer verabsolutierten Regellosigkeit und Unherechenharkeit. Feyerahends epistemologischer Anarchismus leugnet das Bestehen von normen-, regel- und standardwissenschaftlicher Rationalität über­ haupt gemäß dem Motto »anything goes«. Allerdings hat Feyerahend später diese Behauptung zurückgenommen und dahingehend ahgemildert, daß auch Regellosigkeit die Geltung von Regeln vor­ aussetze.4 Da mit der Entmachtung und Dezentrierung der Vernunft einer der Grundwerte der europäischen Zivilisation auf dem Spiele steht, wenn nicht gar der Grundwert überhaupt, wird hier einem Irratio­ nalismus Tür und Tor geöffnet, was sich im Auflehen des Mystizis­ mus, Mythologismus, der Esoterik u. ä. dokumentiert, denen man in der New-Age-Bewegung hegegnet. Der Aufgang der Königin der Nacht anstelle des Rationalisten Sarastro - um Bilder aus Mozarts Zauberflöte zu gehrauchen - ist angesagt. Für die Antirationalisten geht es um eine grundsätzliche Neuhestimmung der Anthropologie unter Berücksichtigung der hisher vernachlässigten und ignorierten Sphären, zumal das Vernünftige nur einen kleinen Teil des mensch­ lichen Suhjekts ausmacht, sogar den kleinsten. Anstelle der verahschiedeten oder zumindest in ihre Schranken verwiesenen Vernunft wird die Herrschaft - entweder die Allein- oder die Mitherrschaft des Irrationalen gefordert, das logisch als das Alogische, ontologisch als das Irreale und moralisch als das Unschickliche auftritt.5 Die Rationalitätsphilosophie der Vergangenheit soll durch eine »neue Philosophie der Natur, des Leihes und der Phantasie«6 üherwunden werden. So vehement die Kritik an der Vernunft von seiten der Antira­ tionalisten und Irrationalisten, der Gegenaufklärer, ist, so vehement ist auch ihre Verteidigung. Sie reicht von Hahermas' rationalisti­ schem Projekt der unvollendeten, also erst in Zukunft zu vollenden-

4 Vgl. P. Feyerahend: Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt a.M. 1979, S. 87, 17. 5 L. Ferry und A. Renaut: Antihumanistisches Denken. Gegen die französischen Mei­ sterphilosophen (Titel der Originalausgahe: La Pensee 68. Essai sur anti-humanisme contemporain, Paris 1985), aus dem Französischen von U. Bokelmann, München, Wien 1987, S. 16, sprechen von einem Phallogozentrismus anstelle des Logozentrismus. 6 H. Böhme und G. Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationali­ tätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a.M. 1985, S. 24. 12

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den Moderne7 bis zu Schnädelbachs Restitution der anthropologi­ schen Definition des Menschen als animal rationale8. Nun sind freilich Vernunftkritik und Kritik an der Vernunftkri­ tik nicht erst ein Resultat der Gegenwartsphilosophie, initiiert vom französischen Dekonstruktivismus. Sie setzen vielmehr einen älteren Streit um die Vernunft in den dreißiger und vierziger Jahren fort, in dem Adorno und Horkheimer unter dem Titel »Dialektik der Auf­ klärung« eine Vernunftkritik im Sinne einer Aufklärung der Aufklä­ rung übten, welche offensichtlich bis dahin über sich selbst unaufge­ klärt war. Anhand einer Analyse des homerischen Epos der Odyssee wiesen sie die Ambivalenz der Vernunft, die Gegenläufigkeit ihrer Machtstruktur, den Umschlag von der Beherrschung des Anderen in die Knechtung ihrer selbst auf. Die Emanzipation des Ich von der Natur ist gepaart mit gleichzeitiger Unterdrückung der eigenen Na­ tur. Selbstbehauptung ist immer auch Selbstunterdrückung. Was als Befreiung des Ich aus den Zwängen der Natur erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als Knechtung des eigenen Selbst. Odysseus in seiner Begegnung mit den Sirenen und der Zauberin Circe ist für Adorno und Horkheimer die älteste mythische Figur der Ambivalenz von angestrengter rationaler Selbstbehauptung und versuchender emotionaler Selbstauflösung, wobei der letzteren nur mit Gewalt, nämlich durch die Selbstankettung des Odysseus, begegnet werden kann. Wenn der neuzeitlichen Aufklärung das Verdienst zukommt, der Vernunft und mit ihr der Freiheit zur Herrschaft verholfen zu haben, so birgt sie andererseits gerade Gewalt, Unterdrückung und Hegemonie in sich, insofern sie genötigt ist, gegen das vorzugehen und das zu verdrängen, was sie von innen her aufzulösen droht. Während die Vernunftkritik der Gegenwart Vernunftdestruk­ tion von außen ist, sei es von seiten der Leiblichkeit, der Sinnlichkeit oder der Phantasie, und somit Metakritik, wohingegen die Vernunft­ kritik der Frankfurter Schule aufgrund ihrer Selbstkritik Aufweis der internen Dialektik und Widersprüchlichkeit der Vernunft war, reicht die Vernunftkritik als solche bis in die Anfänge der Moderne zurück. Sie ist in das Projekt der Moderne selbst eingelassen, zeigt doch schon der Titel von Kants philosophischem Hauptwerk Kritik der 7 J. Habermas: Der philosophische Diskurs derModerne. ZwölfVorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, 4. Aufl. 1988. 8 H. Schnädelbach: Zur Rehabilitierung des animal rationale. Vorträge und Abhand­ lungen 2, Frankfurt a.M. 1992, vgl. S. 13ff. ^ 13

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Einleitung

reinen Vernunft, daß es hier um eine kritische Selhstreflexion der Vernunft geht. Kant, der sich als Vollender der Aufklärung verstand, sieht die Legitimation dieser in der Selhstaufklärung der Vernunft. Und auch für die nachkantischen idealistischen Philosophen ist das permanente Ringen um eine Selhstaufklärung der Vernunft hinsicht­ lich ihrer Möglichkeit, ihres Umfangs und ihrer Grenzen charakteri­ stisch. Dies schließt die Frage nach der Fundiertheit oder Nichtfundiertheit im Anderen ein. Selhst in Hegels universalistischem Rationalitätskonzept, demzufolge Vernunft und Wirklichkeit zusam­ menfallen und nur das wirklich ist, was auch vernünftig ist, und um­ gekehrt, und auch nur das erkannt wird, was als vernünftig erkannt werden kann, geht es um den Status und das Selhstverständnis der Vernunft, ganz zu schweigen von Schellings Projekt einer Fundie­ rung der Vernunft im Anderen, sei es in der Natur oder in einem unvordenklichen Grund, sowie von Fichtes in den späten Wissen­ schaftslehren thematisierter Grenzüherschreitung des Wissens, der Transzendierung der Vernunft in Richtung auf ein unvordenkliches Sein und ihrer Fundierung in diesem. Die Geschichte der Vernunftkritik, sofern darunter die kritische Selhstdurchleuchtung und -verständigung der Vernunft verstanden wird, die immer auch eine Ahsetzung von Andersartigem einschließt, läßt sich sogar his auf die Ursprünge der ahendländischen Philosophie zurückverfolgen. Sie ist so alt wie die europäische Philosophie selhst, die sich seit ihrem Beginn in der Antike als Logos-Philosophie ver­ steht und gegen andersartige Zugangsweisen zum Seienden, wie sie in Mythos, Religion und Kunst vorliegen, ahgrenzt. Die griechische Philosophie, die für sich reklamiert, den Weg vom Mythos zum Logos zurückgelegt und mit dem Logos auch die Kriterien für Wahrheit, Gutheit und Schönheit erstellt zu hahen, ist gleichwohl gegen Attakken gegen ihr Konzept nicht gefeit gewesen. Sie mußte stets Gegen­ kritik aushalten, wovon die Werke Platons und Aristoteles', aher auch die der Sophisten Zeugnis ahlegen. Retrospektiv läßt sich eine zwei­ fache Vernunftkritik konstatieren, von denen die eine interner, die andere externer Art ist, die erstere von einer prinzipiellen Akzeptanz des Vernunftkonzepts ausgeht, die letztere dieses gerade hestreitet. Die interne Vernunftkritik hat ihr Vorhild im Kantischen Modell einer selhstreferentiellen Vernunft, der gleicherweise die Funktion eines genitivus obiectivus wie eines genitivus subiectivus zukommt, die also gleicherweise Gegenstand der Kritik wie kritisie­ rendes Suhjekt ist. Die Vernunft hildet hier die Basis der Kritik und 14

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Einleitung

stellt zugleich das methodische Instrumentarium der Kritik parat. Angesichts eines solchen Konzepts kann die Aufgabe nur darin be­ stehen, illegitime Ansprüche der Vernunft von legitimen zu sondern, im Bereich des Denkens Fehlschlüsse und -argumentationen auf­ zudecken, im Bereich des Erkennens Scheinerkenntnisse von wahr­ haften Erkenntnissen zu unterscheiden, im Bereich des Handelns Gutes von Bösem zu trennen, die auf Freiheit und Vernunft beruhen­ den Willensentscheidungen von Triebmotivationen zu abstrahieren, ganz so, wie es der ursprüngliche Sinn des griechischen Wortes xqlvelv = »sondern«, »scheiden« besagt, der die Spreu vom Weizen, das Unwesentliche vom Wesentlichen, das Unberechtigte vom Be­ rechtigten abtrennen will. Bei einem Universalitäts- und Totalitätsanspruch der Vernunft, der mit der Selbstreferenz einhergeht, resultiert allerdings das Pro­ blem, wie die Vernunft von einem rein internen Standpunkt aus Möglichkeit, Umfang und Grenzen ihrer selbst bestimmen könne. Wenn sie schlechthin alles umfaßt, auch noch das Gegenteil ihrer selbst, wenn sie das Andere der Vernunft als Implikat enthält, verfällt eine solche Selbstaufklärung dem Immanentismus. Der angebliche Transzensus über die Vernunft hinaus, der für die Grenzziehung er­ forderlich wäre, erweist sich als Schein. Die externe Vernunftkritik erfolgt von außen, von der Position des Anderen, mag dieses wie im hierarchischen System als Sub- oder Suprarationales auftreten (als Sinnlichkeit, Triebhaftigkeit, Affekti­ vität einerseits, als unvordenklicher Grund, Göttliches andererseits) oder wie im stufennivellierten Modell als gleichwertiges Pendant. Besagte Kritik reicht von der Entthronung und Dezentrierung der Vernunft bei gleichzeitiger Aufwertung des Anderen bis zur Substi­ tution der Vernunft durch das Andere und Glorifizierung desselben. Die erstere Tendenz ist in fast allen nachidealistischen Philosophien beobachtbar, beispielsweise in der Willensphilosophie Schopenhauers und Nietzsches, der Lebensphilosophie Diltheys, der Existenzphi­ losophie Heideggers, Sartres und Jaspers, im Naturalismus und Soziologismus in allen seinen Varianten. Diese Philosophien leugnen die Vernunft nicht schlechthin, sondern drängen sie lediglich ins zweite Glied zurück und betrachten sie als Funktion, Symptom oder Epiphänomen natürlicher Lebensäußerungen und -vorgänge.9 Die 9 Vgl. hierzu H. Schnädelbach: Zur Rehabilitierung des animal rationale, a. a. O., S. 43, ebenso S. 24 ff. ^ 15

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Einleitung

zweite Tendenz ist symptomatisch für die Metaphysik des Irrationa­ len, des Chaotischen, des Regellosen. Nicht selten geht damit die Verherrlichung von Gewalt, die heimliche oder offene Bewunderung des Abnormen, Anomalen, Exzentrischen einher, die sich gleicher­ weise auf den ästhetischen Bereich, auf das an keine Regeln gebun­ dene Genie, erstreckt wie auf den politischen und sozialen, auf den »Übermenschen« Nietzschescher Provenienz, auf die faschistischen Führer dieses Jahrhunderts, auf Revolutionäre, Aufrührer und Chao­ ten.10 11 Die Attacken gegen die Vorherrschaft der Vernunft in Denken, Erkennen, Handeln und Evaluieren seitens des Anderen der Vernunft zerfallen gemäß dessen Situierung im hierarchischen System in drei Gruppen, in die seitens des Subrationalen, des Suprarationalen und des Transrationalen. (1.) Zum einen meldet sich Kritik an der Vernunftzentrierung seitens des unmittelbaren Lebensvollzugs, nicht nur des macht- und kraftvollen, leidenschaftlichen11, sondern auch des ganz natürlichen. Mit der Aufwertung der von der klassischen Philosophie als subratio­ nal degradierten, als sogenanntes »unteres«, »niederes« oder gar »inferiorisches« Vermögen verteufelten Sinnlichkeit - dasselbe gilt für Gefühl, Stimmung, Befindlichkeit, Affekt- und Triebleben, Sexuali­ tät, Leiblichkeit, Natur überhaupt - und ihrer Akzeptanz als gleich­ wertiges oder sogar übergeordnetes Vermögen, tritt ein neuer Um­ gang mit der Vernunft auf den Plan, der sich bewußt ist, daß die Vernunft nicht allein existiert, sondern nur einen kleinen Teil der gesamten Lebenskräfte ausmacht, neben dem die anderen gleiches Recht haben. Die zwingende Konsequenz dieser Konzeption ist eine »neue Kultur«12. Dies ist der Titel für das von den Brüdern Hartmut und Gernot Böhme in ihrem Buch Das Andere der Vernunft vor­ gestellte Projekt, das sie seither in zahlreichen Aufsätzen weiterver­ folgt haben. »Gegen die Herrschaft der Vernunftsphilosophie, der wissenschaftlichen Ra­ tionalität und der technisierten Lebensform muß diese Kultur durch eine neue Philosophie der Natur, des Leibes und der Phantasie vorbereitet werden,

10 Vgl. J. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 249. 11 Vgl. A. Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung oder F. Nietzsches Wille zur Macht. 12 H. Böhme und G. Böhme: Das Andere der Vernunft, a. a. O, S. 24. 16

ALBER PHILOSOPHIE

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Einleitung

eine Philosophie, die vernunftkritisch nicht mehr der Vereinnahmung oder Ausgrenzug des Anderen der Vernunft dient.«13

»Aufstand des Gefühls, des Leibes, der Sexualität«, ein freierer, angst­ enthobener Umgang mit den bisher verdrängten und verteufelten Vermögen oder, um aktuelle Termini zu benutzen, »Feminismus ver­ sus Patriarchalismus« ist das Programm dieser Philosophie, zumal die klassische Rationalitätsphilosophie mit ihrem Dominanzanspruch Verdrängungsmechanismen und -strategien in dieser Hinsicht aus­ gebildet hat und stark narzißtische Züge trägt. Eine längere Stelle aus dem oben genannten Buch sei hier angeführt: »[...] im Dienst störungsfreier Rationalitätsmaximierung, die die Stimmen des Schmerzes zu übertönen hatte, [wurde] ein optimistisches Gemälde hi­ storisch sich vollendender Aufklärung stilisiert. Vernunft versperrte sich zu­ nehmend gegen jede Reflexion auf die psycho- und soziogenetischen Bedin­ gungen ihrer Herkunft: diese Absperrung erzeugte den Wahn der Vernunft. Die Hypostase des logoserzeugten Subjekts verdunkelte in der Angst vor je­ dem >Draußen< und in der Anstrengung, alles seiner abstrakten Identität zu subsumieren, vollends dessen Zusammenhang mit dem, was tatsächlich >draußen< blieb. Im wahnhaften Bemühen, sich von den Abhängigkeiten durchs Draußen - von der Mutternatur, vom Leib, von der Phantasie (selbst diese ist >draußenunsere besondere Weltdie Welt unserer Erfahrungswirklichkeit Mm- Da Mm alle Mengen enthält, muß sie auch P (Mm) und alle Elemente davon enthalten, also gilt auch P (Mm) < Mm im Widerspruch zu P (Mm) > Mm. Russells berühmte Formulierung der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, hat die Form MR G MR ^ MR ^ Mr. Ist R die Menge aller jener Mengen, die nicht Element ihrer selbst sind, so gilt, was immer X sein mag: »X ist ein R« verhält sich äquivalent zu »X ist nicht ein X«. Gibt man X den Wert R, so gilt »R ist ein R« ist äquivalent mit »R ist nicht ein R«. - Dasselbe läßt sich auch für Kar­ dinal-, Ordinalzahlen und abstrakte Begriffe formulieren: Bilde die Menge aller Kardinalzahlen MK (Ordinalzahlen, abstrakten Begrif­ fe), dann gibt es eine Kardinalzahl (Ordinalzahl, einen abstrakten Begriff), die größer ist als alle Kardinalzahlen (Ordinalzahlen, ab­ strakten Begriffe), also als sie selbst. Diese ist dann sowohl Kardinal­ zahl wie auch nicht Kardinalzahl (Gleiches gilt für die Ordinalzahl und den abstrakten Begriff), was ein Widerspruch ist. Eine populäre Einkleidung der Russellschen Paradoxie stellt der Dorfbarbier dar, der alle Männer des Dorfes rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Rasiert er sich selbst oder nicht? Auch der sogenannte Russellsche Katalog, der alle Kataloge verzeichnet, die sich nicht selbst verzeichnen, gehört hierher. Verzeichnet er sich nun selbst oder nicht? Zählen die vorgenannten Paradoxien zum Bereich der Logik und Mathematik, so werden neuerdings in der Biologie und Soziologie im Rahmen der Systemtheorie rekursive Vorgänge, sogenannte Schlei­ fen, wie Selbstproduktion, Selbsterhaltung, Selbstregeneration, Selbstorganisation (Autopoiesis) als Vorgänge von paradoxaler Struktur erörtert. Es handelt sich um Vorgänge der Selbstbeziehung, selbst wenn sie temporal oder evolutionär sind. Paradoxien ergeben sich aufgrund der Überlegung, daß das selbstreferentielle System auf der Relation »System - Umwelt« basiert. So kann beispielsweise die Entstehung und Erhaltung einer Zelle als Ergebnis des Zellstoffwech­ sels angesehen werden, der seinerseits nur möglich ist, wenn die Zel­ le eine Einheit bildet und eine Grenze gegenüber der Umwelt hat und so überhaupt erst die Voraussetzung für den Stoffwechsel schafft. Anders gesagt, die Zellmembran muß gleicherweise trennend wie durchlässig sein, trennend, wenn sie durchlässig für Nahrung, Mate­ rie-, Energieaustausch, Information sein soll, durchlässig, wenn sie ihre Abgrenzung als geschlossenes System beibehalten will. ^ 179

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Dasselbe läßt sich deutlicher noch über die Selbstbezüglichkeit artikulieren, für die das Selbstbewußtsein innerhalb der Bewußt­ seinstheorie das Paradigma bildet. Selbstbewußtsein ist die Bezie­ hung des Bewußtseins auf ein Objekt, welches in diesem signifikan­ ten Fall das Bewußtsein selbst ist, so daß die Selbstbeziehung die Objekt- oder Fremdbeziehung einschließt. Selbstbeziehung ist Selbstbeziehung und Fremdbeziehung in einem. Wenn immer dieses Selbstbewußtsein sich selbst thematisieren will, muß es einen Stand­ punkt außerhalb seiner einnehmen, zwischen dem und dem thema­ tisierten Objekt sich eine Objekt- oder Fremdbeziehung herstellt, die in die Selbstbeziehung eingeholt werden muß im Widerspruch zu sich, und so in einem infiniten Regreß, genauer einem externen in­ finiten Regreß. Außer der Gedankenfigur der Einheit von Selbst- und Fremdbe­ ziehung bedient sich die Beschreibung des Selbstbewußtseins der Konstruktion einer Identität aus Identität und Differenz. Die Um­ kehrung dieser Hegelschen Formel zu der von Differenz aus Identität und Differenz hat Luhmann17 in der Systemtheorie vorgenommen, indem er die Differenzstruktur »System - Umwelt« auf das System selbst anwendet und dieses zur Umwelt erklärt, bezüglich deren sich wieder ein System konstituiert. Auf diese Weise gelangt er zu einem internen Regreß, bei dem das Paradox ein inhärentes Moment der Systemtheorie ist. Die Beispiele für Paradoxien lassen sich vermehren.18 Während 17 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt

a.M. 1987, 2. Aufl. 1988, bes. S. 593 ff.; ders.: Paradigmenwechsel in derSystemtheorie. Ein Paradigma für Fortschritt?, in: R. Herzog und R. Koselleck (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (Poetik und Hermeneutik, Bd. 12), München 1987, S. 305-322. 18 Außer den bisher genannten Paradoxien werden häufig Phänomene aufgeführt, die teils demWahrnehmungsbereich, teils dem religiösen, teils dem rhetorisch-stilistischen angehören. Obwohl auch sie oft als Paradoxe angesprochen werden: als Wahrnehmungs­ paradoxe, religiöse, stilistische Paradoxe und mit Widerspruchsstrukturen operieren, stellen sie doch nur uneigentliche Paradoxe dar, da sie bei genauerer Untersuchung nicht die typischen Merkmale echter Paradoxien aufweisen wie z.B. Selbstbezüglichkeit. Oft enthalten sie nur eine äußerliche Zusammenstellung von Widersprüchlichem wie das Oxymoron »bitter-süße Liebe« oder überraschende Pointierungen wie Schillers Worte des Konfuzius: »Nur Beharrung führt zum Ziel, Nur die Fülle führt zur Klarheit Und im Abgrund wohnt die Wahrheit« (F. Schiller: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert in Verbindung mit H. Stubenrauch, 5 Bde., München 1958-1959, Bd. 1, 180

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es sich hei den bisher aufgeführten Fällen teils um solche handelt, die zwischen Anschauung und Verstand spielen, teils um rationale mit den Untergruppen der logisch-mathematischen hzw. mengentheore­ tischen und der semantischen Paradoxien, gibt es noch eine dritte Gruppe, die sich jedoch erst später hei der Selhstanwendung der Pa­ radoxien erklären und beschreiben läßt, die der Metaparadoxien, die die Beziehung zwischen Verstand und unvordenklichem Grund hetreffen. Das Einteilungsprinzip für diese drei Gruppen ergibt sich hei allen aus der spannungsreichen Beziehung zwischen begrenzender Ratio (Verstand) und unbegrenztem Untergrund, mag er sinnlich als Anschauung oder übersinnlich als unvordenklicher Grund auftreten. Die Grenze zwischen Vernunft und dem Anderen der Vernunft wird hier in die Operation einbezogen.

3. Struktur und Mechanismus der Paradoxien So umfangreich und vielfältig die Forschungsliteratur zum Parado­ xienproblem in diesem Jahrhundert aufgrund der Grundlagenkrise der Logik und Mathematik auch sein mag, so muß doch registriert werden, daß die meisten Untersuchungen der Sammlung und Sich­ tung der Paradoxien auf den verschiedensten Gebieten sowie dem Versuch ihrer »Lösung« dienen, nicht jedoch der Analyse ihrer Struktur und der Erörterung des Mechanismus ihres Zustandekom­ mens, obwohl man meinen sollte, daß dies die Voraussetzung zur Lösung sei.19 Die Freilegung von Struktur und Mechanismus der Pa­ S. 227), oder sie bilden die anschaulich-emotionale Grundlage für Widerspruch wie doppeldeuti­ ge Phänomene, Kippfiguren, Vexierspiele, religiöse Phänomene. Hier können sie außer acht bleiben. Zum Teil finden sie ihre Erörterung unter dem analogischen Rationalitäts­ typus, vgl. S. 229 f. dieser Arbeit. Eine Übersicht über die eigentlichen Paradoxien liefert M. Pirie: The Book of Fallacy: A Training Manual for InteHectual Subversives, London 1985; G. Vollmer: Paradoxien und Antinomien. Stolpersteine auf dem Weg zur Wahr­ heit, in: P. Geyer und R. Hagenbüchle (Hrsg.): Das Paradox, a.a.O., S. 159-189, bes. S. 173ff.; R. Hagenbüchle: Was heißt »paradox«? Eine Standortbestimmung, in: P. Gey­ er und R. Hagenbüchle (Hrsg.): Das Paradox, a. a. O., S. 27-43. 19 Ausnahmen stellen die Arbeit von R. Heiß über den Mechanismus der Paradoxien­ bildung (Der Mechanismus der Paradoxien und das Gesetz der Paradoxienbildung, in: Philosophischer Anzeiger, Bd. 2 [1927/28], S. 403-433) und die Arbeiten von D. Hen­ rich über die Negation der Negation bei Hegel dar: Formen der Negation in Hegels ^ 181

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radoxienbildung muß daher vordringliche Aufgabe sein, wenn die Frage entschieden werden soll, ob Paradoxien vermeidbar oder un­ vermeidbar seien und ob sie die Grundoperation von Dialektik über­ haupt bilden. (1.) Die Paradoxie bezieht sich stets auf ein Totalitätsphänomen und kommt zustande, wenn eine Ganzheitsaussage bezüglich eines bestimmten Bereichs artikuliert wird. Dies gilt gleicherweise für den anschaulichen wie für den begrifflichen Bereich, unangesehen, wie groß derselbe ist. Als Paradigmen gelten daher vorzüglich die quantitativen Paradoxien von der Art der mengentheoretischen oder der Größenaussagen, die entweder in rein arithmetischer oder geo­ metrischer Form als Allaussagen vorkommen und eine Aussage über den gewählten Gesamtbereich machen. Auch wenn Paradoxien nicht rein mathematisch formuliert werden, sondern in anderer Gestalt auftreten, bedienen sie sich oft der Allaussage und lassen bereits durch die Formulierung ihren Anspruch auf den Gesamtbereich er­ kennen, wie z.B. der Allsatz »alle Kreter lügen«. Dabei ist es gleichgültig, ob der Totalitätsanspruch durch ein Allurteil oder durch ein singuläres Urteil ausgedrückt wird. Entwe­ der füllen alle Aussagensubjekte zusammen die Sphäre (Menge, Klasse) oder bereits ein einziges.20 Daher wird das Lügner-Paradox einfachheitshalber oft formuliert: »ich lüge« oder »dieser Satz ist falsch (nicht wahr)«, »der Satz auf der Rückseite qualifiziert den Satz auf der Vorderseite als falsch, dieser qualifiziert jenen als richtig«. Hier erfolgt die Formulierung mittels eines Personalpronomens der ersten Person singularis oder eines Demonstrativpronomens (»die­ ser«) oder einer spezifizierenden Angabe (»der Satz auf der Rückseite - der Satz auf der Vorderseite«), die als indexikalische Wörter ein Logik, in: Hegel-Jahrbuch 1974, S. 245-256 (Nachdruck in: R.-P. Horstmann [Hrsg.]: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1989, S. 213­ 229); ders.: Substantivierte und doppelte Negation, in: H. Weinrich (Hrsg.): Positionen der Negativität (Poetik und Hermeneutik, Bd. 6), München 1975, S. 481-487; ders.: Hegels Grundoperation. Eine Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik, in: Der Idea­ lismus und seine Gegenwart. Festschrift für W. Marx, Hamburg 1976, S. 208-230. Bei­ de sind jedoch unzureichend, indem Heiß nur Paradoxientypen behandelt, die auf Ne­ gation basieren, und Henrich mit der doppelten absoluten Negation nur bei Aussagen auf aussagenlogischer Ebene bleibt. Eine exzellente, hochsubtile Arbeit über das Paradox hat M. Bachmann: Die Antinomie logischer Grundsätze. Ein Beitrag zum Verhältnis von Axiomatik und Dialektik, Bonn 1998, vorgelegt. 20 Wenn Kant transzendentalphilosophisch zwischen iudicium universale und iudicium singulare unterscheidet, so fallen doch formallogisch beide zusammen. 182

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ganz bestimmtes Subjekt bezeichnen, das die intendierte Gesamt­ sphäre ausmacht. Außer den expliziten Totalitätsaussagen mittels All- oder Ein­ zelurteilen begegnen implizite Totalitätsaussagen, bei denen gleich­ wohl der Totalitätscharakter durchscheint, sei es über eine Bedin­ gung, einen Vertrag, eine Abmachung oder Absprache, die den Rahmen abstecken. Im Falle von Euathlus ist es der Vertrag, der für alle stattfindenden Gerichtsverhandlungen einschließlich der zwi­ schen Euathlus und dem Sophisten gilt, im Falle des Krokodils ist es die Forderung nach allen richtigen Prognosen, im Falle des Gefange­ nenparadoxes die Absprache des Staatsanwaltes, die alle möglichen Alternativen umfaßt. Selbst wenn eine solche rahmenabsteckende Bedingung nicht expressis verbis formuliert ist wie bei qualitativen, epistemologischen, bewußtseinstheoretischen und anderen Paradoxien, ist sie la­ tent vorhanden und kann leicht ins Bewußtsein gehoben werden. Die Grellingsche Paradoxie des Heterologischen meint die Gesamtsphäre des Heterologischen, die durch den Begriff benannt wird, die Parado­ xie des Wissens des Nichtwissens bezeichnet den gesamten Bereich des Wißbaren, der in Abgrenzung vom Nichtwißbaren die Grenze zu diesem bereits überstiegen hat und insofern auch dieses einschließt. (2.) Die dem Paradox zugrundeliegende explizite oder implizite Totalitätsaussage ist mit einem Selbstbezug verbunden, sei es in Form einer Selbstimplikation, Selbstprädikation, Selbstaussage, eines Selbstbewußtseins u. ä. Wenn alle möglichen Fälle einer Sphäre an­ gesprochen sind, so daß nichts ausgeschlossen bleibt, zu dem noch eine Beziehung hergestellt werden könnte, stellt sich notwendig ein Selbstbezug ein. Wenn die Aussage ausnahmslos für alle Subjekte der Sphäre gilt bzw. für das eine einzige, das die Gesamtsphäre kon­ stituiert, so bezieht sich die Aussage auf sich selbst. Mengentheore­ tisch läßt sich der Sachverhalt so ausdrücken, daß die Allmenge Ele­ ment ihrer selbst ist, sich selbst mit einschließt. Analog gilt für die anderen in Allsatzform formulierten Paradoxien wie »alle Kreter lügen«, daß die Aussage der Lüge auch auf den Aussagenden selbst zutrifft und diesen mit umfaßt. Bei der Größenparadoxie bezeichnet das, was größer ist als alles Große, nicht nur das Ganze, sondern schließt sich selbst als Teil ein. Kann wie bei singulären Aussagen nicht mit der Struktur »Menge/Element«, »Klasse/Einzelfall«, »Ganzes/Teil« operiert wer­ den, so muß der Unterschied an der singulären Aussage selbst fest­ ^ 183

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gemacht werden, sei es als Unterschied zwischen Aussageform und Aussageinhalt, Subjekt und Prädikat, Selhsthezug und Fremdhezug oder ähnlichem. So resultiert die Paradoxie des Heterologischen dar­ aus, daß das Heterologisch-Sein nicht nur von allen konkreten Ein­ zelfällen, die unter diesen Begriff fallen, gilt, sondern vom Begriff »heterologisch« selbst: Das Heterologische selbst ist heterologisch. Dadurch daß seine Bedeutung auf es selbst zutrifft, ist es ein Fall seiner selbst: Es ist das, was es ausdrückt. Wie im Hegelschen speku­ lativen Satz fungiert hier das Prädikat als Subjekt und das Subjekt als Prädikat, indem beide ihre Stellen vertauschen. Und in dem Paradox »dieser Satz ist falsch« ist es das qualifizierende Satzprädikat »ist falsch«, das auf das Satzsubjekt »dieser (falsche) Satz« appliziert wird und es zum Anwendungsfall seiner selbst macht. (3.) Die Tatsache, daß Allaussagen bzw ihre Synonyme (Einzel­ aussagen, Ganzheitsaussagen) stets Indiz von Selbstbezüglichkeit sind und umgekehrt Selbstbezüglichkeit Indiz von Allaussagen ist, beide sich also wechselseitig implizieren, weist sie als konstitutive Momente der Paradoxie aus. Sie sind aber nicht die einzigen; zu ihnen gehören weitere an der Wechselimplikation beteiligte äquiva­ lente Ausdrücke wie Einheit, Identität, Gleichheit mit sich, Ruhe, auf bewußtseinstheoretischer Ebene Selbstbewußtsein usw.; denn das Ganze ist stets auch eines (Alleinheit), sich selbst gleich, mit sich identisch, in sich ruhend, sich seiner selbst bewußt usw. So kann die Allbewegung selbst nicht bewegt sein, sondern muß in sich verhar­ ren, also ruhen, oder absolute Vielheit muß als Totalität stets auch eines sein. Es gibt eine unbestimmte Anzahl positiver Begriffe, die aufgrund ihrer Wechselimplikation explizit oder implizit an der Pa­ radoxienbildung beteiligt sind und an die Reihe positiver Ideen in Platons O'up.nkox'q xmv yevmv oder an das jeweils erste Triadenglied in Hegels spekulativer Dialektik erinnern und damit zugleich einen Hinweis auf die Nähe der Paradoxien zur Dialektik geben. (4.) Auffallend an den Paradoxiebeispielen ist neben der Ver­ wendung positiver Momente die Formulierung mit Negationen wie Lüge, Unwahrheit - auch Wahn, Halluzination, Einbildung, Traum usw. gehören hierher -, »ist falsch«, »ist nicht wahr« usw. Dies hat nicht selten zu der Meinung geführt, daß Allform bzw. Selbstbezüglichkeit und Negation die konstitutiven Momente der Paradoxiebil­ dung seien.21 Dies ist jedoch nur bedingt richtig. Sieht man genauer 21 Vgl. R. Heiß: Der Mechanismus der Paradoxien und das Gesetz der Paradoxienbil184

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hin, so gelten Negationen (Verneinungen) in sensu stricto nur von aussagenlogisch formulierten Paradoxien wie »ich weiß, daß ich nichts weiß«, »ich weiß, daß ich wahnsinnig hin (nicht normal hin)«, »alle Kreter lügen (sagen nicht die Wahrheit)«, »dieser Satz ist falsch (ist nicht wahr)«. Auf hegriffslogischer Ehene entsprechen der Negation (dem ne­ gativen Satz) negationshaltige Ausdrücke, genauer Differenzhegrif­ fe. Verständlich machen läßt sich dies anhand der mengentheoreti­ schen Paradoxien, die mit »sich selhst nicht enthaltend« formuliert werden, oder anhand der Paradoxien mit der Formulierung »auf sich selhst nicht anwendhar« = »imprädikahel« oder anhand der Parado­ xie des Heterologischen, die das ausdrückt, was »mit sich selhst nicht zusammenstimmt«. Diese negativen Konstruktionen lassen sich auch mit »auf anderes hezüglich«, »fremdhezüglich« wiedergehen, denen die Vorstellung einer Relation mit zwei differenten Relata zu­ grunde liegt. Das, was nicht sich selhst enthält, was nicht auf sich selhst anwendhar ist, was nicht mit sich selhst zusammenstimmt, enthält anderes, ist auf anderes applikahel, stimmt mit anderem zu­ sammen, kurzum, ihm liegt die Beziehung auf anderes zugrunde, die vom Differenzhegriff Gehrauch macht. Was der Differenzhegriff und seine Synonyme: Andersheit, Verschiedenheit für den qualitativen Bereich hedeuten, hedeutet Vielheit für den quantitativen, Bewe­ gung, Veränderung für den relationalen, Nichtwissen für den hewußtseinstheoretischen usw. Mit dieser Austauschharkeit und Wech­ selimplikation operiert z. B. die Paradoxie der Allhewegung und Allveränderung, deren »Immer-in-anderem-Sein« und insofern »Immer-Anderssein«, d. h. »sich im Ühergang von einem zum ande­ ren Befinden«, Vielheit voraussetzt. Der Reihe positiver Begriffe steht eine ehensolche negativer gegenüher: Vielheit im quantitativen Bereich, Verschiedenheit (Andersheit) im qualitativen, Bewegung, Veränderung, Fremdheziehung im relationalen, Nichthewußtsein im hewußtseinstheoretischen und Negation im aussagenlogischen - was wiederum auf die Reihe analo­ ger, austauschharer antithetischer Begriffe in Platons und Hegels Dialektik deutet. (5.) Konstitutiv für Paradoxien ist der Gegensatz: auf aussagen­

düng, a.a.O., S. 410, 412, 416f.; G. Vollmer: Paradoxien undAntinomien, a.a.O., S. 171. ^ 185

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theoretischer Ebene von positiven und negativen Sätzen, auf he­ griffstheoretischer von positiven und negativen Begriffen. Das Entscheidende ist jedoch nicht die Gegensätzlichkeit als sol­ che; denn diese führt auch zur Logik des Entweder-oder, wie sie in der klassischen, auf den Prinzipien der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten basierenden dihairetischen Logik vorliegt. Da sich die Gegensatzglieder A und B das Ganze teilen, gilt dort: wenn A, dann nicht B, wenn B, dann nicht A. Im Falle der Paradoxien tritt jedoch eine Verschärfung des Gegen­ satzes zum Widerspruch ein. Dadurch daß jedes der beiden Gegen­ satzglieder Anspruch auf das Ganze erhebt, das Ganze sowohl A wie B ( non A) ist, kommt es zu einem manifesten Widerspruch, der eine Logik des Sowohl-als-auch begründet. Während in der klassischen Logik jeder Satz mit dem Wahrheitswert 0 oder 1 (richtig oder falsch) versehen werden kann, was eine zweiwertige Logik zur Folge hat, die ein Drittes ausschließt, läßt sich in der paradoxalen Logik jede Be­ stimmung, jeder Satz zugleich als wahr wie als falsch qualifizieren. Das Resultat ist eine dreiwertige Logik. (6.) Die Explikation des Selhstwiderspruchs, der in der Gleich­ ursprünglichkeit inkompatibler Bestimmungen besteht, läßt sich auf zweierlei Weise denken, entweder von einem externen oder einem internen Standpunkt aus, was eine Assoziation an Hegels Unter­ scheidung von äußerer und innerer Reflexion nahelegt. Im ersten Fall erfolgt die Explikation in Form eines alternieren­ den Perspektivenwechsels, indem jedes der beiden Glieder nachein­ ander auf seine Geltung hin überprüft wird. Paradoxien wie das »Krokodil«, der »Drache« oder das »Gefangenen-Dilemma« legen die Alternation nahe, indem sie erörtern, was folgt, wenn z.B. die Mutter die richtige Prognose macht, und was, wenn sie die falsche macht, oder was geschieht, wenn der eine Gefangene spricht, und was, wenn beide sprechen oder beide schweigen. Die alternative Behandlung sei am Beispiel des Lügners exem­ plifiziert. Der Satz »alle Kreter lügen« besteht aus dem positiven Element der Satzform, gleich welchen Inhalt diese hat, und dem ne­ gativen des Satzinhalts, der Lüge: - Ist der Satzinhalt, daß alle lügen, wahr, so ist die Satzform als sol­ che falsch. - Ist der Satzinhalt, daß alle lügen, falsch, so ist die Satzform als solche wahr. - Ist die Satzform als solche wahr, so ist der Inhalt, die Lüge, falsch. 186

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- Ist die Satzform als solche falsch, so ist der Inhalt, die Lüge, wahr. Satzinhalt wie Satzform sind gleicherweise wahr wie falsch. Oder nehmen wir das mengentheoretische Paradox, das sich aus der positiven Allmenge und der negativen Prädikation »sich selbst nicht enthaltend« zusammensetzt: - Ist das Prädikat »sich selbst nicht enthaltend« wahr und damit die Verifikation einer Menge, die sich selbst nicht enthält, gegeben, so ist die Behauptung der Allmenge falsch. - Ist das Prädikat »sich selbst nicht enthaltend« falsch, d.h. besteht eine solche Menge nicht, so ist die Behauptung der Allmenge wahr. - Ist die Behauptung der Allmenge wahr, so ist das Prädikat »sich selbst nicht enthaltend« falsch. - Ist die Behauptung der Allmenge falsch, so ist das Prädikat »sich selbst nicht enthaltend« wahr. Auch hier sind Prädikat wie Allmenge gleicherweise wahr wie falsch. Ebenso läßt sich die Heterologie-Paradoxie konstruieren, die aus dem positiven Element, dem Subjekt »heterologisch«, besteht, das als solches, d. h. als noch nicht qualifiziertes autologisch ist, desgleichen aus dem negativen Element, dem Prädikat »heterologisch«: - Ist das Prädikat »heterologisch«, ausgesagt vom an sich autologi­ schen Subjekt, wahr, dann ist das Subjekt falsch. - Ist das Prädikat »heterologisch«, ausgesagt vom an sich autologi­ schen Subjekt, falsch, dann ist das Subjekt wahr. - Ist das an sich autologische Subjekt in bezug auf das Prädikat »he­ terologisch« wahr, dann ist das Prädikat falsch. - Ist das an sich autologische Subjekt in bezug auf das Prädikat »he­ terologisch« falsch, dann ist das Prädikat wahr. Auch hier gelten Wahrheit und Falschheit sowohl in bezug auf Prä­ dikat wie Subjekt. Die gleichzeitige Qualifikation von wahr wie falsch läßt sich nur verstehen, wenn man berücksichtigt, daß beide das Ganze konstitu­ ierenden Gegensatzglieder das jeweilige Pendant implizieren: A ist dann sowohl A wie non A = B und B sowohl B wie non B = A; jedes Moment stellt selbst die ganze Totalität dar. Da jedes der beiden Mo­ mente wahr wie falsch ist, gilt dies auch vom Ganzen. Die Unausgezeichnetheit beider Seiten ermöglicht den alternativen Perspektiven­ wechsel bei der Explikation. (7.) Eine besondere Faszination übt nicht so sehr die äußere Pa­ radoxienexplikation aus als vielmehr der innere Automatismus, der zu einer Selbstabspulung der Paradoxien führt. Als Triebfeder der ^ 187

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Dynamik gilt die Negation, die im Rahmen der Selhsthezüglichkeit als selhsthezügliche Negation auftritt. Erinnert sei an Hegels Aus­ spruch von der »ungeheuren Macht des Negativen«22 in hezug auf die Dialektik. Bezieht sich die einfache Negation auf einen positiven Satz, so bezieht sich die doppelte selbstbezügliche Negation auf den vorange­ henden negativen Satz als auf den selbsteigenen. Indem die Negation sich, die Negation, negiert, d. h. eliminiert, führt sie zum Positiven zurück, so daß sich die Schrittfolge ergibt: Position, einfache Nega­ tion, Negation der Negation, Position. Damit schließt sich der Kreis, der Prozeß kann erneut beginnen. Die neue Abfolge läßt sich dann entweder als Zirkel oder als Spirale in progressiver oder regressiver Form lesen, die, auf der vorausgehenden Gedankenkonstruktion ba­ sierend, diese impliziert und weiterbestimmt. Im Unterschied zur Zickzackbewegung der äußeren Reflexion führt die innere Motorik zu einem einsinnig gerichteten redundanten Prozeß, der beliebig in derselben Richtung iteriert werden kann. Das schließt nicht aus, daß er nach zwei Seiten hin lesbar ist, sowohl vorwärts als Progreß wie rückwärts als Regreß. Für die Konstruktion der aus der selbstbezüg­ lichen Negation hervorgehenden Position pflegt man, wie schon er­ wähnt23, die grammatikalische Regel duplex negatio est affirmatio heranzuziehen. Der Hinweis auf die bloße Grammatik genügt jedoch nicht, da doppelte Negation in manchen Sprachen auch nur verstär­ kend wirkt. Hinzukommen muß eine bestimmte Ontologie, die von der Geschlossenheit des Seienden ausgeht, welche hier durch die Selbstbezüglichkeit garantiert ist, und bei Explikation zum In-sichKreisen führt. Angewandt auf das Lügnerparadox »ich lüge«, nimmt dies fol­ gende Gestalt an: Im fraglichen Satz ist bereits eine positive Aussage »ich sage die Wahrheit« in den negativen Satz »ich sage nicht die Wahrheit« = »ich lüge« verkehrt. Da sich der Aussageinhalt auch auf die Aussageform bezieht, die Lüge sich selbst lügen straft oder, anders ausgedrückt, die Negation auf sich selbst zutrifft, bedeutet der Satz »ich sage nicht nicht die Wahrheit« die Aufhebung der Nega­ tion, die zum positiven Satz zurückführt »ich sage die Wahrheit«. 22 G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: Werke in 20 Bden. und 1 Reg.-Bd. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion E. Mol­ denhauer und K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1986, Bd. 3, S. 36. 23 Vgl. S. 149f. dieser Arbeit. 188

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Die Operation der selbstbezüglichen Negation ist freilich nicht, wie man bisher einhellig gemeint hat24, der einzige und ausschließ­ liche Mechanismus für die Paradoxienbildung. Sie beschränkt sich auf den aussagenlogischen Bereich, während im begriffslogischen Kon­ struktionen wie Andersheit der Andersheit, Verschiedenheit der Ver­ schiedenheit, Differenz der Differenz (Differenz zur Differenz), Wandel des Wandels, Vermittlung der Vermittlung, Gegenteil zum Gegenteil, Fremdbezug zum Fremdbezug usw. diese Rolle überneh­ men, die zu Selbigkeit, Gleichheit mit sich, Identität, Unveränderung, Unmittelbarkeit, Selbstbezug usw. zurückführen. Auf beiden Ebenen geht es um ein Abstandnehmen von sich selbst, von einem »sich«, das selbst schon Abstandnahme ist, mag dies Selbstspaltung, Selbsttei­ lung, Selbstdifferenzierung, Selbstdistanzierung oder, hegelisch, Ab­ stoßen von sich genannt werden. Deutlich wird dies am Beispiel des Heterologischen: Das zu sich selbst Heterologische ist das Autologi­ sche. Oder am Beispiel der sich selbst nicht enthaltenden (= fremd­ bezüglichen) Allmenge: Die Fremdbezüglichkeit zur Fremdbezüglichkeit dieser Menge ergibt die Selbstbezüglichkeit der Menge. (8.) Aufgrund der bisher genannten Bildungsgesetze, die in der selbstbezüglichen Negation kulminieren, könnte sich nun die Mei­ nung nahelegen, als gäbe es nur negativ formulierte Paradoxien und nicht auch positive; denn ein dem Lügnerparadox analog formulier­ ter positiver Satz wie »alles, was ich sage, ist wahr«, der wie die ne­ gative Version das Moment der Allheit bzw. des Selbstbezugs impli­ ziert, im Unterschied dazu aber das Moment der Position, führt nur zu einer iterierten Selbstbestätigung, indem das Prädikat »ist wahr« den Aussageinhalt »alles, was ich sage« bestätigt. Der Inhalt wieder­ um bestätigt das Prädikat, dieses den Inhalt usw., ohne daß eine Pa­ radoxiebildung ersichtlich ist. Genauer besehen aber setzt die Selbst­ bestätigung eine Relation zweier differenter Relata, des Prädikats und des Aussageinhalts, voraus, die nicht nur verschieden, sondern auch inkompatibel sind und sich wechselseitig ausschließen. Denn qualifiziert das Prädikat den gesamten Inhalt als wahr, sich selbst eingeschlossen, so ist es als qualifizierendes Prädikat selbst von der Qualifikation »wahr« ausgenommen, kann also selbst nicht als wahr bezeichnet werden. Und ist es selbst nicht wahr, schließt es sich selbst 24 Vgl. R. Heiß: Der Mechanismus der Paradoxien und das Gesetz der Paradoxienbil­

dung, a.a.O., S. 411, 416f. D. Henrich: Formen der Negation in Hegels Logik, a.a.O., S. 248, 251, 254f.; G. Vollmer: Paradoxien und Antinomien, a.a.O., S. 171. ^ 189

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also nicht ein, so qualifiziert es auch nicht den gesamten Inhalt, stellt also keine Allaussage dar, wie dies die Voraussetzung verlangte. Die Aussage ist also zugleich wahr wie nicht wahr (falsch). Zwar mag alles Ausgesagte und Auszusagende wahr sein, oh aber diese Aussage wahr ist, hleiht offen genau wie im Falle der Lüge, wo die Aussage »alles, was ich sage, ist gelogen« offen läßt, oh die Aussage selbst auch gelogen oder wahr ist. Wir haben es hier mit einer verdeckten Paradoxie im Unter­ schied zur offenen, negationstheoretisch formulierten zu tun, die aher genau wie diese auf gegensätzlichen, letztlich widersprüchlichen Momenten basiert: der Allaussage hzw. der Selhsthezüglichkeit und ihrer Synonyme einerseits, der Differenz- und Negationshegriffe an­ dererseits. Verdeutlichen wir uns dies anhand weiterer Beispiele: an der sich enthaltenden Allmenge, die der sich nicht enthaltenden invers ist. Von der Menge aller Mengen, die sich selhst enthalten, gilt, daß sie sich nicht selhst enthält. Denn impliziert sie sich selhst, so ist sie keine umfassende, keine Allmenge mehr. Indem sie sich also impli­ ziert, impliziert sie sich auch nicht. Und impliziert sie sich nicht, ist sie also eine wirklich umfassende Allmenge, dann impliziert sie sich, anders gesagt, indem sie sich nicht impliziert, impliziert sie sich. Noch deutlicher läßt sich die paradoxale Struktur am Selhsthewußtsein helegen, das geradezu als Paradigma der positiven Para­ doxien gewertet werden kann. Selhsthewußtsein ist Bewußtsein von etwas, von einem Objekt, das hier jedoch mit dem Subjekt zusam­ menfällt. Das Objekt- oder Fremdbewußtsein ist in diesem signifi­ kanten Fall zugleich Ich- oder Selbstbewußtsein. Da Selbst- und Fremdbewußtsein (Ich- und Objektbewußtsein) inkompatible Be­ stimmungen sind, gilt hier die paradoxale Konstruktion, daß Selbst­ bewußtsein Fremdbewußtsein impliziert und nur auf seiner Basis möglich ist. Ebenso gilt vom totalen Fremdbewußtsein, welches nichts außer sich hat, zu dem es noch in Beziehung treten und von dem es ein Bewußtsein herstellen könnte, daß es mit dem Selbst­ bewußtsein zusammenfällt. Kurzum, Selbstbewußtsein ist Fremdbe­ wußtsein und Fremdbewußtsein Selbstbewußtsein. Analog laufen die positiven Paradoxien von Einheit, Identität, Ruhe, Selbstbezug usw. Die These von der Einheit (vom Einen) be­ sagt, daß alles Eines ist, nicht nur alles Konkrete, sondern auch alles Begriffliche einschließlich des Begriffs »Einheit (Eines)«, so daß die­ ser zum Fall seiner selbst wird. Mit der Selbstprädikation, der Aus­ 190

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sage des Einsseins vom Einen, ist schon nicht mehr nur Eines ange­ nommen, sondern sind mindestens zwei Instanzen unterstellt, so daß gilt: Eines ist auch nicht Eines, sondern Vieles. Umgekehrt ist das Viele in seiner Totalität als All Eines und somit auch nicht Vieles. Ebenso wird Identität nicht nur von allem anderen ausgesagt, sondern auch von sich selbst. Indem das Prädikat »identisch« auf Identität selbst applikabel ist, setzt es Differenz voraus. Selbstidenti­ fikation ist ohne Differenz nicht denkbar im Widerspruch zu sich. Umgekehrt ist totaler Differenzbezug, bei dem nichts Differentes mehr ausgeschlossen bleibt, nichts anderes als Gleichheit mit sich, ebenfalls im Widerspruch zu sich selbst. Wie Identität als Gleichheit mit sich auf der Differenz der sich gleichen Relata basiert oder, besser, diese impliziert, so impliziert der Differenzbegriff den Identitäts­ begriff, indem die Beziehung auf anderes in seiner Gesamtheit Be­ ziehung auf sich, Gleichheit mit sich, ist. (9.) Wie im Falle der negativen Konstruktion läßt sich auch bezüglich der positiven sowohl ein externer wie ein interner Stand­ punkt beziehen. Ersterer beruht auf einem Perspektivenwechsel und führt zu einer Zickzackbewegung von der Art: Eines, von sich prädiziert, ist nicht Eines, sondern Vieles - Vie­ les, in seiner Totalität genommen, ist Eines, oder umgekehrt.25 Der interne Standpunkt hingegen hat einen einsinnig gerichte­ ten Zirkel oder, bei Annahme von Stufen, eine einsinnig gerichtete Spirale zur Folge, die mit den Termini von Grund und Folge, Voraus­ setzung und Setzung u. ä. operiert: Eines, von sich prädiziert, ergibt Vieles; Vieles, bestehend aus Einem und Vielem, ergibt zusammengenommen in seiner Totalität Eines; Eines als Einheit von Einem und Vielem, welches letztere aus Einem und Vielem zusammengesetzt ist, wiederum von sich prädiziert, ergibt Vieles; Vieles, bestehend aus Einem und Vielem, deren Teile beide mehrfach gefüllt sind, ergibt zusammengenommen wie­ der Eines usw. Auch diese Konstruktion läßt sich sowohl im Ausgang vom po­ sitiven wie vom negativen Moment in gegensätzlichen Richtungen durchführen. Bezüglich des Selbstbewußtseins ist diese Operation schon des 25 Vgl. Platons Parmenides. Dort begegnet auch eine Variante dieses Konstruktions­

gesetzes mit ev-ov statt mit ev-ev. ^ 191

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öfteren in der Literatur aufgewiesen worden.26 Sie macht von dem Argument Gebrauch, daß das Ich qua Subjekt (Selbstbezug) sich mit sich qua Objekt (Fremdbezug) nur dann identifizieren kann, wenn es entweder im Subjekt die ganze Relationseinheit aus Subjekt und Ob­ jekt (Selbstbezug und Fremdbezug) voraussetzt, die durch den Selbstbezug doch erst zustandekommen soll, von dem sich aber zeigt, daß derselbe nur möglich ist unter der Voraussetzung der gesamten Subjekt-Objekt-Einheit usw. Oder das Subjekt muß im Objekt die ganze Relationseinheit aus Subjekt und Objekt (Selbst- und Fremd­ bezug) vorfinden, die durch den Reflexionsbezug eigentlich erst er­ klärt werden soll. So stellt sich entweder auf seiten des Subjekts oder auf seiten des Objekts eine Iteration der Argumentation ein, die als Reflexionseinschachtelung oder Reflexionsaufstockung gelesen wer­ den kann. Beruhte die Zickzackbewegung des externen Explikationsstand­ punktes auf dem willkürlichen Akt des Perspektivenwechsels, so ist angesichts des internen Standpunktes nach der Notwendigkeit der einsinnig gerichteten Dynamik zu fragen, die ja nicht wie im Falle der negativen Konstruktion in einer selbstbezüglichen Negation bzw. Andersheit bestehen kann, d. h. im Gesetz des Abstoßens von sich, sondern umgekehrt im Gesetz des Zusammengehens mit sich, der Affirmation bzw. der ausdrücklichen positiven Bestimmung. Wenn in dem Beispiel »alles, was ich sage, ist wahr« das »ist wahr« den Satzinhalt »alles, was ich sage« qualifiziert, so liegt hier eine Affirmation, genauer, eine Selbstaffirmation vor; denn alles Ausgesagte ist als solches immer schon wahrhaft Behauptetes. Aller­ dings handelt es sich hier nicht um eine »überflüssige« Redundanz, sondern um eine für die Paradoxienbildung notwendige, da sie Diffe­ renz und Negation zur Voraussetzung hat. Wie von der Bestimmung eines Etwas als Etwas der Ausschluß des Anderen, die Unterschei­ dung von ihm, gilt, so gilt auch von der Affirmation, daß mit ihr die Negation des Anderen verbunden ist. Im Falle der Selbstbestimmung 26 Vgl. D. Henrich: Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, in: R. Bubner, K. Cramer und R. Wiehl (Hrsg.): Hermeneutik und Dialektik. Aufsätze I. Methode und Wissenschaft, Lebenswelt und Geschichte. Festschrift für H.-G. Gadamer zum 70. Geburtstag, Tübingen 1970, S. 257-284, bes. S. 266ff.; U. Pothast: Über einige Fra­ gen der Selbstbeziehung, Frankfurt a.M. 1971, S. 36f.; K. Gloy: Studien zur theoreti­ schen Philosophie Kants, Würzburg 1990, S. 154ff.; dies.: Bewußtseinstheorien. Zur Problematik und Problemgeschichte des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, Freiburg, München 1998, S. 204ff. 192

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und Selbstaffirmation werden diese zum Selbstausschluß und zur Selbstnegation, mithin zur Selbstunterscheidung. Die Aufhebung der Negation in der Affirmation aber ist das Wiederzusammengehen der Differenten mit sich. Hier hat auch die Theorie des performativen Widerspruchs ihren systematischen Ort. Denn sie macht deut­ lich, daß die Notwendigkeit der Affirmation sich aus dem praktischen Vorhandensein eines Widerspruchs ergibt. Läßt sich die Operation auf aussagenlogischer Ebene mit Hilfe der Termini »Affirmation«, »Negation«, »Widerspruch« durch­ führen, so korrespondiert ihr auf begriffslogischer eine, die sich der Terminologie von Bestimmung, Ausschluß, Ausgrenzung usw. be­ dient. Zur Demonstration sei auf die Autologie-Paradoxie verwiesen: - Ausgehend von »autologisch«, wird die Selbstbestimmung, näm­ lich das Autologisch-Sein des Autologischen, zu heterologisch. - Von heterologisch »autologisch« prädiziert, führt zu hetero­ logisch. - Von heterologisch »heterologisch« ausgesagt, führt zu autologisch zurück. Spätestens hier wird deutlich, daß sich positive und negative Paradoxien nicht essentiell, nur in der Schrittfolge unterscheiden. Denn geht man in diesem Beispiel umgekehrt vom Heterologischen der negativen Formulierung aus, so ergeben sich folgende Schritte: - Heterologisch in der Selbstanwendung als heterologisch bestimmt, ergibt autologisch. - Von autologisch »heterologisch« prädiziert, führt zu hetero­ logisch. - Von heterologisch »heterologisch« prädiziert, führt zu auto­ logisch. - Autologisch, in der Selbstanwendung als »autologisch« bestimmt, wird zu heterologisch usw. Die Argumentationsketten greifen ineinander, so daß der Aus­ gang schließlich gleichgültig ist. In der Konsequenz liegt auch, daß die Aussagen »alles, was ich sage, ist gelogen (nicht wahr)« und »alles, was ich sage, ist wahr« äquivalent sind, ebenso wie die Menge aller Mengen, die sich selbst nicht enthalten und die sich selbst enthalten. Nach diesen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, daß die Paradoxie die Grundstruktur von Dialektik überhaupt ist und die verschiedenen Dialektikarten ermöglicht. Paradoxien treten auf aus­ sagen- wie begriffslogischer Ebene auf, und zwar sowohl in negativer wie positiver Formulierung, als offenkundige wie als verdeckte Para­ ^ 193

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doxien, wobei ihre Konstruktion beide Male sowohl von einem exter­ nen wie internen Explikationsstandpunkt aus erfolgen kann. Hat die äußere Explikation einen willkürlichen Perspektivenwechsel zur Fol­ ge, so ist die innere Explikation mit einer einsinnigen Dynamik ver­ bunden, die sich im Falle der negativen Fassung aus dem Konstrukti­ onsgesetz der selbstbezüglichen Negation bzw. Andersheit ergibt, im Falle der positiven Fassung aus dem Konstruktionsgesetz der fremd­ bezüglichen Affirmation bzw. Determination. Negative wie positive Fassung greifen ineinander aufgrund der Verschränktheit der wider­ sprüchlichen Bestimmungen. Mittels dieser Konstruktionsgesetze lassen sich die diversen For­ men von Dialektik erzeugen, und es fällt nicht schwer, sie historisch wiederzuerkennen. So gehört Platons Dialektiktypus grundsätzlich der äußeren Re­ flexion an. Er ist mit einem willkürlichen Perspektivenwechsel be­ züglich der xmv yevmv verbunden, indem er ebenso vom Einen ausgehen und zum Vielen übergehen kann wie umgekehrt vom Vielen und zum Einen gehen kann oder mit Identität beginnen und zu Differenz fortschreiten wie umgekehrt mit Differenz begin­ nen und zu Identität weitergehen, und so beliebig bei allen anderen generischen Bestimmungen. Im zweiten Teil des Parmenides-Dialogs hat Platon aufgrund des Ausgangs vom Einen ein Beispiel für eine positive Paradoxienkonstruktion geliefert. Unterdessen begegnet in Hegels Dialektiktypus der Standpunkt der inneren Reflexion oder Reflexion-in-sich mit dem Automatis­ mus der Paradoxienbildung aufgrund des Konstruktionsgesetzes: Po­ sition - Negation - Negation der Negation - Position usw. Hieraus resultiert ein einsinniger Kreisgang, den Hegel in den drei, die Wis­ senschaft der Logik ausmachenden Logiken, der Seins-, der Reflexi­ ons- und der Begriffslogik, wie auch in deren internen Triaden den diversen Ebenen anzupassen und zu modifizieren versucht hat. So läßt sich weder durchgängig die aussagenlogische Konstruktion auf der Basis selbstbezüglicher Negation noch ausschließlich die begriffs­ logische auf der Basis selbstbezüglicher Andersheit konstatieren, sondern jeweils modifizierte Formen. Während Hegel faktisch in der Wissenschaft der Logik aufgrund des Ausgangs von einer positi­ ven Bestimmung, dem Sein, und des Übergangs zu einer negativen, dem Nichts, den Prozeß in einer bestimmten Richtung demonstriert, ließe sich ebensowohl die Konstruktion des Prozesses in der ent­ gegengesetzten Richtung denken, indem wie in den östlichen Phi­ 194

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losophien vom Nichts ausgegangen und zum Sein, zur Schöpfung, ühergegangen würde. Angesichts dieser Konstruktionsmöglichkeiten ist die von Hegel beanspruchte Notwendigkeit und Stringenz des Ex­ plikationsganges zu relativieren. Da Paradoxien strengen Gesetzmäßigkeiten folgen, sind sie alles andere als Konfusionen, was ihnen häufig nachgesagt wird. Auch wenn aus dem Widerspruch Beliebiges folgt gemäß dem logischen Gesetz ex contradictione quodlibet sequitur, so geschieht dies doch stets aufgrund der Unterscheidung von Perspektiven.

4. Lösung der Paradoxien? Paradoxien haben zu allen Zeiten das Denken beunruhigt und nach Lösungen gerufen. Zwar gibt es Denker und Epochen, die sich mit Vorliebe der Paradoxien als Denkfiguren bedienen. Gleichwohl wer­ den sie als Gefahr empfunden, da sie die Grundlagen der formalen axiomatischen Logik mit ihrem Entweder-oder aus den Angeln zu heben drohen, indem sie gerade das dort ausgeschlossene Dritte, das Sowohl-als-auch, zulassen. Damit droht die Eindeutigkeit der Be­ stimmung, die Exaktheit der Grenzziehung, die Ordnung und Sicher­ heit, die die klassische Logik auszeichnet, verlorenzugehen. So alt daher die Bekanntschaft mit Paradoxien ist, so alt ist auch der Ruf nach ihrer Behebung. Zwei Lösungsstrategien sind ins Auge gefaßt worden, die zu­ sammengehören und einander komplettieren: erstens eine negative, bestehend im Verbot der Paradoxienbildung sowie der Anwendung ihres Bildungsgesetzes, der Selbstbezüglichkeit, und zweitens eine positive, bestehend in der Differenzierung von Reflexionsstufen. Beide Strategien sind von Russell und Tarski vorgeschlagen worden, vom einen im Kontext mengentheoretischer Paradoxien, vom ande­ ren im Kontext semantischer. Die übrigen Lösungsvorschläge sind Varianten dieser Grundmodelle. (1.) Aufgrund der Einsicht in die Selbstreferentialität paradoxa­ ler Konstruktionen gelangt Russell zu der prophylaktischen Maß­ nahme des Verbots der Selbstanwendung und zum Postulat einer Hierarchie von Stufen oder Typen, so daß allenfalls eine Anwendung der höheren Stufe auf die niedere erlaubt ist, nicht aber eine Anwen­ dung derselben Stufe auf sich. Russells Typentheorie unterscheidet Typus 0, bestehend aus Individuen, Typus 1, bestehend aus der Klasse ^ 195

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der Individuen, und Typus m + 1, bestehend aus allen Klassen (der Klassen der Klassen ... von Individuen) vom Typus m. Für Russell resultieren Paradoxien aus vitiosen, imprädikativen Definitionen. Unter solchen versteht er Definitionen, bei denen ein Terminus nur durch die Gesamtheit, zu der er gehört, definierbar ist. »Hat eine gewisse Gesamtheit ein Ganzes (eine Totalität) nur unter der Bedingung, daß einige seiner Elemente einzig in Termini dieses Ganzen definierbar sind, dann hat die besagte Gesamtheit kein Gan­ zes.«27 Russell auferlegt daher Formeln von der Art x(m) G y(n) eine Be­ deutungsbedingung: x(m) G y(n) ist bedeutungsvoll dann und nur dann, wenn für die Typen von x(m) und y(n) gilt: n = m + 1. Dies läßt sich auch so ausdrücken, daß eine Menge oder Klasse nicht Element ihrer selbst sein darf, sondern nur das einer höheren Menge oder Klasse. (2.) Die zweite Möglichkeit wird von Tarski mittels seiner Wahr­ heitskonvention ins Auge gefaßt. Auch Tarski glaubt an eine Auf­ lösung der Paradoxien durch Ebenendifferenzierung innerhalb einer generativen Grammatik, eine Differenzierung nach Objekt, Meta-, Meta-Meta-Ebene usw. Damit ist der Unterschied zwischen Voll­ zugs- und Reflexionsebene, thematisierter und thematisierender Ebene angesprochen, deren erstere nur auf der nachfolgenden, höherstufigen Ebene thematisiert werden kann usw. Konkret versteht Tars­ ki unter der Objektebene eine Sprache S, die die qualifizierenden Prädikate »wahr« und »falsch« nicht enthält. Diese gehören vielmehr der Metaebene an, so daß die Qualifikation eines Satzes aus S nur von dieser höheren Sprachebene aus erfolgen kann. Tarski setzt dabei den Unterschied zwischen geschlossenen und offenen Sprachen voraus. Semantisch geschlossene sind solche, die außer ihren Termini und Sätzen auch Namen und Bestimmungen für diese Termini und Sätze enthalten, wie u. a. das Prädikat »wahr« und »falsch«, desgleichen Anwendungsregeln für deren angemesse­ nen Gebrauch. Offen werden solche Sprachen genannt, bei denen dies nicht der Fall ist. Da geschlossene Sprachen für die Paradoxien­ bildung verantwortlich sind, kommen für die Meta-Stufen nur offe­ ne in Betracht. Prinzipiell stimmen Russells mengentheoretische und Tarskis semantische Lösungsstrategie überein, gelangen doch beide zu einem Verbot der Selbstanwendung und Geschlossenheit des Systems und der Forderung nach einer unbegrenzten Stufenhierarchie.27 27 Dann sind Sätze über alle Elemente dieses Ganzen unsinnig. 196

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Lassen sich Paradoxien auf diese Weise wirklich vermeiden? Dies muß bezweifelt werden. Paradoxien kommen weder aus purer Lust am Widerspruch zustande noch durch Konfundierung der Hin­ sichten. Vielmehr erfolgen sie nach strengen Gesetzen und unter Beachtung verschiedener Hinsichten, sei es auf derselben oder auf unterschiedlichen Ebenen. Ein durchgängiges Verbot der Selbst­ anwendung läßt sich nicht aufrechterhalten, da es stets selbstbezüg­ liche Phänomene gibt wie etwa die Sprache, die gleicherweise Expli­ ziertes wie Medium der Explikation ist: Die Sprache spricht über sich selbst. Ähnliches gilt von allen Grundbegriffen, die nur durch sich selbst definierbar sind. Mögen auch Formalsprachen in der Absicht entworfen sein, über die Unterscheidung von Sprachstufen Präzision und Exaktheit zu erreichen, letztlich gründen auch sie in der Normal­ sprache, die gleichzeitig Subjekt und Objekt, Thematisierendes wie Thematisiertes ist. Angewandt auf die formale Logik, die ebenfalls ein letztes, uni­ verselles Grundphänomen zu sein beansprucht, zeigt sich auch bezüglich ihrer die Paradoxie von schrankenloser Geltung ihrer Ge­ setze und Selbstlegitimation, die nur über eine dialektische Logik erfolgen kann. Die Frage, ob für diese dasselbe gilt, d. h. ob auf die dialektische Logik selbst die dialektische Logik applizierbar ist, so daß diese in der Funktion des Explikans wie des Explikandums auftritt, stellt uns vor die Alternative einer Selbstaufhebung des Paradoxes oder seiner Iteration oder auch vor beides. Ist das Paradox selbst pa­ radox?

5. Negative Dialektik als Metaparadoxie Bisher wurde das Paradox als Grundstruktur der Dialektik eruiert und damit als fundamentale Denkfigur aufgewiesen. Anders als die klassische orthodoxe Logik, die mit den Eindeutigkeit stiftenden Prinzipien der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten operiert, basiert die heterodoxe, dialek­ tische Logik gerade auf dem Zweideutigkeit erzeugenden, zumindest zulassenden Prinzip des Widerspruchs, das in ihr neben dem der Identität gilt. Scheinen sich klassisch-dihairetische und dialektische Logik auf den ersten Blick auszuschließen, so zeigt sich bei genauerem Hinse­ hen eine Fundierung der ersteren in der letzteren; denn beim Versuch ^ 197

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ihrer Seihstaufklärung und -rechtfertigung, d.h. der Freilegung ihrer Strukturen, ihres Umfangs und ihrer Grenzen sowie ihrer Geltung, gerät sie aufgrund der Selhstanwendung in die paradoxe Situation, thematisiertes Ohjekt und thematisierendes Suhjekt zugleich zu sein, wie dies hei allen Selhstanwendungen der Fall ist. In der Formulie­ rung mengentheoretischer Paradoxien ausgedrückt, heißt dies, daß sie - ohwohl Ganzes - nur als Element ihrer selhst unter der Bedin­ gung des Ganzen definiert werden kann und damit gerade kein Gan­ zes ist. Mündet sie aher aufgrund ihrer Selhstapplikation in das Pa­ radox, so iteriert sich hezüglich dieses die Frage, oh auch es aufgrund einer Selhstapplikation der Paradoxie unterliegt und somit selhst pa­ radox ist, d. h. als Paradox sowohl paradox wie nicht paradox. (1.) Wird das Ganze des Paradoxes der paradoxalen Behandlung unterworfen, dann tritt es als Moment der Selhstanwendung auf, d.h. in der Funktion des Ohjekts, und läßt in dieser Ohjektivation die paradoxale Struktur des Sowohl-als-auch erkennen. Selhstaufklärung deckt nur auf, was das Paradox immer schon ist: die Gleichgel­ tung von Identität und Widerspruch. (2.) Mit der Thematisierung und Ohjektivation, der Herahsetzung des Paradoxes zum Moment geht der Entzug des Paradoxes in der Funktion des thematisierenden Suhjekts einher; als solches läßt es sich nur noch durch den Kollaps der paradoxalen Strukturen, durch das Weder-noch, indizieren. Von der logischen Strukturierung aus ist der Vollzug im Vollzug logisch nicht faßhar; hezüglich seiner ist nur das Scheitern und Versagen jeglicher Strukturierung, auch der paradoxalen, angezeigt. Das Paradox zeigt sich damit als Gleichursprünglichkeit oder Neheneinander von Sowohl-als-auch und Weder-noch. (3.) Freilich läßt sich der Vollzug selhst, diese strukturelle Indif­ ferenz des Weder-noch, in einem zweiten Thematisierungsanlauf und in einer erneuten Selhstzuwendung durchaus thematisieren und ohjektivieren, also selhst als Moment ausweisen, wohei dann wiederum dieselhe Situation eintritt, daß das Paradox in der Funk­ tion des Ohjekts als paradoxale Methode auftritt, sei es in der äuße­ ren Form des ständigen Umschlags der Glieder, sei es in der inneren Reflexionsform des selhsthezüglichen Ahspulens, während das Para­ dox in der Funktion des thematisierenden Suhjekts sich gleichzeitig jeglicher Strukturierung, auch der paradoxalen, entzieht und zu einem Weder-noch wird. Dieser Vorgang läßt sich in infinitum iterieren. Die paradoxale Logik führt in ihrer Selhstapplikation und 198

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Selbstaufklärung über den paradoxalen Zustand des Sowohl-als-auch wie Weder-noch nicht hinaus. Ihre Selbstlegitimation bleibt ambiva­ lent. Die Tatsache, daß hier neben der strukturellen Totalität stets deren Kollaps begegnet, neben der positiven Dialektik stets deren Negation, hat dieser Argumentationsfigur den Namen »negative Dialektik« eingetragen. Während auf der einen Seite des selbstrefe­ rentiellen Prozesses die paradoxalen Strukturen zutage treten und sich iterieren, versinken sie auf der anderen Seite in reiner Negativi­ tät, im Nichts. Von dieser Seite aus wird die Paradoxie ständig auf sich selbst zurückgeworfen und in ihr Dasein verwiesen.28 Will man hier überhaupt von einer Relation sprechen, obwohl nur das eine Relat derselben bekannt ist - das paradoxale Sowohl-alsauch - während das andere prinzipiell unerkennbar bleibt - ein Weder-noch -, womit der Relationsgedanke streng genommen entfällt, so handelt es sich auf jeden Fall um eine asymmetrische Relation. Indem die Selbstanwendung des Paradoxes einerseits zur Freilegung der paradoxalen Struktur führt, führt sie andererseits zur Aufhebung derselben. Selbstaufklärung ist gleichbedeutend mit Selbstver­ hüllung, Selbstpreisgabe ist gleichzeitig Selbstentzug. Beide sind nur verschiedene Seiten derselben Medaille. Faßt man die paradoxale Logik als eine Form von Rationalität, so sieht man sich mit der Situa­ tion konfrontiert, daß Rationalität in Nicht-Rationalität gründet und in einem Abgrund von Rationalität versinkt. Angesichts der Tatsache, daß das Jenseits der Vernunft nur über den Prozeß der Entfaltung des Paradoxes zugänglich ist, stellt sich die Frage, ob beide letztlich ununterscheidbar zusammenfallen oder un­ terscheidbar bleiben oder beides sind. Von logisch-rationaler Seite gilt beides: die Koinzidenz des absoluten Nichts, des Weder-noch, mit dem Etwas, dem Sowohl-als-auch, wie auch deren Differenz. Die Konstatierung dieser Paradoxie, einerseits des Auf- und Unterge­ hens des Nichts in der unendlichen Iteration des Paradoxes, anderer­ seits beider Differenz, ist das letzte rational Aussagbare.

28 In anderem Kontext hat Heidegger dieses Phänomen in seiner Freiburger Antritts­ vorlesung Was ist Metaphysik? von 1929 (11. Aufl. Frankfurt a.M. 1975) mittels des Begriffs der Nichtung beschrieben, die er als von sich abweisende Verweisung auf das versinkende Seiende im Ganzen bestimmt (vgl. S. 34). Das Entbergen des Seienden geht immer mit einem Verbergen einher, das In-Erscheinung-Treten des Wesens ist stets auch ein Zurücknehmen desselben in die Verborgenheit.

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6. Fichtes Spätphilosophie als Beispiel für negative Dialektik Ein Beispiel für negative Dialektik findet sich in Fichtes Spätphiloso­ phie in der vieldiskutierten und in ihren Strukturen weitgehend frei­ gelegten Wissenschaftslehre von 1804 (2. Fassung).29 Ging es in der Frühphilosophie Fichtes um die Konstitution des Selhsthewußtseins in seinen dialektischen (paradoxalen) Strukturen sowie um die Expli­ kation seiner Internverfassung in Form einer absteigenden Spezifika­ tion und Auffächerung, so ist das Thema der Spätphilosophie die Grundlegung des Selhsthewußtseins, also das Verhältnis des Selhst­ hewußtseins zu seinem unvordenklichen Ermöglichungsgrund. In Anhetracht der Tatsache, daß eine Begründung des unvordenklichen Selhsthewußtseins wegen der Internität des Standpunktes und der Unmöglichkeit der Einnahme eines archimedischen Standpunktes nur als Selhsthegründung möglich ist, d. h. als Anwendung der dia­ lektischen Strukturen auf sich - auf die dialektischen Strukturen des Selhsthewußtseins -, haben wir es formal mit einer Selhstanwendung der Dialektik, einer Paradoxie der Paradoxie, zu tun, wenn­ gleich nicht in Reinkultur. Mit der Thematisierung des Prohlems stellt sich notwendig die Frage nach seinem Resultat, welches einer­ seits im Rückverweis der Dialektik auf sich selhst, mithin in ihrer Freilegung, hesteht, andererseits im Entzug des Grundes, seiner Unhegreiflichkeit. Es ist das Paradox von Immanenz und Transzendenz, von Hervortreten des Selhsthewußtseins in seinen dialektischen Strukturen und gleichzeitiger Aufhehung desselhen in einem unvor­ denklichen Grund, der für das Selhsthewußtsein ein Nichts ist. Im Unterschied zur Frühphilosophie Fichtes geht es hier, hildlich gesprochen, nicht um einen Ahstieg von der dialektischen Grundtria­ de zu deren Spezifikationen, sondern um einen Aufstieg von der Grundtriade zu deren Grund. Dahei ist zu hedenken, daß dieser Auf­ stieg nicht die Gestalt eines Transzensus üher das Selhsthewußtsein hinaus in Form einer dialektischen Bewegung hahen kann, da das Erkenntnissuhjekt stets an das Selhsthewußtsein und dessen Bedin­ gungen gehunden hleiht und diesen Horizont nicht zu üherschreiten 29 J. G. Fichte: Die Wissenschaftslehre von 1804, in: Werke (fotomechanischer Nach­

druck von Johann Gottlieb Fichtes nachgelassene Werke, hrsg. von I. H. Fichte, 3 Bde., Bonn 1834/1835), Berlin 1971, Bd. 10. Zur Interpretation vgl. K. Gloy: Einheit und Mannigfaltigkeit. Eine Strukturanalyse des »und«. Systematische Untersuchungen zum Einheits- und Mannigfaltigkeitshegriff hei Platon, Fichte, Hegel sowie in der Mo­ derne, Berlin, New York 1981, hes. S. 86 ff. 200

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vermag. Operiert werden muß stets im Rahmen und mit Mitteln desselben. Infolgedessen dekouvriert sich dieses Verfahren als Selbst­ betrachtung des Selbstbewußtseins, bei dem jeder vermeintliche Hinausgang zu einem Immanentismus wird. Die Anwendung der intern verfügbaren antithetisch-synthetischen Strukturen von The­ se, Antithese und Synthese auf sich selbst führt zwangsläufig sowohl zu deren Freilegung wie auch zu deren Entzug. Mit der Internität des Reflexionsstandpunktes hängt ein wei­ teres Merkmal und ein Unterschied zu Fichtes Frühphilosophie zu­ sammen. Konnte die Explikation des Selbstbewußtseins in der Frühphilosophie noch weitgehend von außen erfolgen ohne gleich­ zeitige Thematisierung der Explikationsbedingungen, was einem se­ kundären Reflexionsschritt vorbehalten blieb, so ist dies jetzt nicht mehr möglich, da es um die Reflexion auf eben diese Bedingungen geht. Die Selbstthematisierung kann daher nur in demselben Akt geschehen, in dem die Bedingungen reflektiert werden, auch wenn der Akt in abstracto zerlegbar ist. Dies zieht eine Änderung der Ge­ gensatzdialektik zur Widerspruchsdialektik nach sich, da jedes der das Ganze konstituierenden Momente für sich das Ganze zu sein reklamiert und somit in Widerspruch zu seinem Pendant gerät. Im Unterschied zu Hegels Widerspruchsdialektik jedoch, die aufgrund ihrer Operation mit Selbstsetzung, Selbstnegation, selbstbezüglicher doppelter Negation und erneuter Selbstsetzung zu einer einsinnigen Verlaufsform gezwungen wird, behält sich Fichte selbst noch auf die­ ser Stufe, was den Gang des Aufstiegs betrifft, die Freiheit der Wahl des Ausgangspunktes und der Thematisierung der Glieder vor, nimmt also auch hier gleichsam noch einen äußeren Standpunkt ein. Wie im spezifizierenden Abstieg eine beliebige Alternation in der Thematisierung der Glieder möglich war, so wiederholt sich dies im Aufstieg, und wie der Abstieg geleitet war von der heuristisch-experimentierenden Methode, so gilt Entsprechendes auch vom Aufstieg, was der Fichteschen Konstruktion den Charakter des Hin- und Her­ schwankens verleiht. Genau genommen treffen im Aufstieg zwei heterogene Struk­ turen zusammen: zum einen das einsinnig genetisierende Verfahren, zum anderen der alternierende Perspektivenwechsel. (1.) Insofern nach dem Grund des dialektischen (paradoxalen) Selbstbewußtseins gesucht wird, legt sich die genetisierende Metho­ de nahe mit den Kategorien von Prinzip und Prinzipiiertem, Ursache und Wirkung, Grund und Folge, ein Verfahren, das Fichte »Genesis« ^ 201

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oder »Genetisierung« nennt. Es besteht in der Aufgabe, alle Faktizi­ tät auf ein Ursprungsprinzip zu reduzieren und aus diesem zu dedu­ zieren. Wo immer bei der Angabe vermeintlicher Gründe noch Fak­ tisches auftritt, muß dieses weiter genetisiert werden, bis ein absolut letztes, höchstes Prinzip erreicht ist, das Grund von allem ist, selbst aber nicht mehr in anderem gründet. (2.) Die Methode der Genetisierung kann bei ihrem Vorgehen keine anderen Strukturen verwenden als die, die im Selbstbewußt­ sein liegen, d. h. dialektisch-antithetische, die die Möglichkeit eines freien Ausgangs und Wechsels der Alternativen eröffnen. Während die genetische Methode ein einseitiges Dependenzverhältnis zwi­ schen Prinzip und Prinzipiiertem unterstellt, geht die dialektische von der Gleichursprünglichkeit der Glieder aus. Eine Vermittlung ist nur dadurch möglich, daß der letzte Grund, als selbst unerkenn­ bar, auf die Gleichursprünglichkeit der Glieder verweist. Hinzugefügt werden muß, daß Fichte im Gegensatz zu Hegel kein festes, eindeutig fixiertes Operationsschema benutzt, sondern eines, das mit Ausgängen, Übergängen und Termini spielt, was mit seiner Grundüberzeugung zusammenhängt, daß es um die Sache und nicht um deren äußere Darstellung gehe, wobei diese einmal von dieser Seite, einmal von jener erfaßt werden könne. Dies gilt auch noch bei der Selbstanwendung der dialektischen Strukturen. Obwohl gerade Fichte die Operationstermini These, Antithese, Synthese, Po­ sition und Negation als Bewußtseinsoperationen ausweist und legiti­ miert, finden sie bei ihm keine strenge Anwendung. Statt von Wider­ spruch und Negation der Negation ist von Abstraktion die Rede, was zwar Negation impliziert, aber derselben keinen systematischen Ort gibt. Den Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre von 1804 bildet das Selbstbewußtsein, das hier »absolutes Wissen« heißt. Es stellt die Einheit und Vermittlung von Denken und Sein dar, was sich aus dem Umstand erklärt, daß die Kenntnis von etwas einschließlich des eigenen Selbst nach keinem der beiden antithetischen Erkenntnis­ standpunkte von Idealismus und Realismus allein erklärt werden kann, sondern nur aus ihrer Einheit. Realismus und Idealismus, von denen der eine das Sein, der andere das Denken privilegiert unter jeweiliger Ignoranz des Pendants, konkurrieren in der gesamten Phi­ losophiegeschichte miteinander; sie bilden auch die leitenden, ein­ ander widersprechenden Positionen in Form von These und Anti­ these, die die Wissenschaftslehre von 1804 durchziehen. 202

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Der metaparadoxale Rationalitätstypus

Die Tatsache, daß Denken und Sein in der synthetischen Einheit des Selhsthewußtseins miteinander verbunden und zugleich zu Mo­ menten herabgesetzt sind, läßt sich nach Gewinnung dieses Stand­ punktes genetisch erklären. Hierzu zieht Fichte das Bild einer Trias aus Licht - welches stellvertretend für die ursprüngliche synthetische Einheit des Selhsthewußtseins steht -, Denken und Sein heran sowie das in bezug auf dieses Bild formulierte Grundgesetz alles Wissens, das besagt, daß das Denken mit seiner Begrifflichkeit zunächst ange­ nommen, d. h. gesetzt werden müsse, damit sodann heim Versuch der Erfassung der synthetischen Einheit sein Scheitern gezeigt werden könne und mit dieser Selhstnegation die Freisetzung des Seins als unbewußtes Produkt - Fichte spricht von »todtem Absatz«30. Die Reflexion darauf, daß diese Konstruktion vom Selbstbe­ wußtsein vollzogen wird und im Selbstbewußtsein stattfindet, arti­ kuliert sich in zwei antithetisch strukturierten Fragen: Wie haben wir diese Einsicht zustande gebracht? Und: Wie hat sich diese Einsicht in uns erzeugt? Die Beantwortung erfolgt wiederum antithetisch im Sinne des Idealismus und Realismus durch den Hinweis auf den Urbegriff und die Urrealität als jeweils ursächliche Prinzipien. Ihr Zu­ sammengehen erfolgt in der Existenz des Urbegriffs, im sogenannten »Leben des Durch«. Diese ungewöhnliche Formulierung, die auf der Substantivie­ rung einer Präposition basiert, soll einerseits befremden, andererseits den Blick auf das Wesentliche lenken. »Durch« oder »Durcheinan­ der« - griechisch ötd, das auch in »Dialektik« steckt - ist Indiz eines diskursiven, verstandesmäßigen Erkennens, das im Übergang von einem zum anderen, im Verweis des einen auf das andere besteht. Es handelt sich um eine typisch begriffliche Verbindungs- und Ver­ mittlungsstruktur, die Ausdruck einer Relationalität ist und hier in der Besonderheit des Bildwissens bzw. der Bildvermittlung auftritt, bei der Abgebildetes (repraesentatum) und Abbildendes (repraesentans) wechselseitig aufeinander bezogen sind. Mit dieser Struktur wird die Selbstobjektivation des Selbstbewußtseins beschrieben, wie sie in dem auf das Dreiecksbild »Licht - Denken - Sein« bezogenen Selbstbewußtsein vorliegt, das Begriffliches und Anschauliches ver­ eint und daher im Bildwissen seinen adäquaten Ausdruck findet. Da es sich beim »Durch« um eine latente, an sich tote Struktur handelt,

30 J. G. Fichte: Die Wissenschaftslehre von 1804, a.a.O., S. 118.

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bedingt das »Leben des Durch« dessen Aktualität, den realen Über­ gang und Vollzug. Bezüglich desselben stellen sich wiederum die beiden kontrover­ sen Erklärungsmuster des Selbstbewußtseins ein, das idealistische und das realistische, jeweils in zwei Varianten, einer niederen und einer höheren. Während der niedere, naive Realismus grundsätzlich das Stofflich-Materielle betont, das nur faktisch konstatierbar ist un­ ter Ignorierung der Form der Erkenntnis, geht der niedere, naive Idealismus von der Vorfindlichkeit der Form und der Ignorierung der Stofflichkeit aus, so daß sich beide wegen ihrer Einseitigkeit und ihrem faktischen Verhaftetsein als unzulänglich erweisen und auf­ heben. Höherer Idealismus und Realismus berücksichtigen jeweils das Pendant, dergestalt, daß der höhere Idealismus zwar seine Selbst­ negation angesichts des realistischen Prinzips des Ansichseins kon­ zediert, aber für sich reklamiert, den Anfang dieses Prozesses zu bil­ den. Der höhere Realismus wiederum, der sich aus der Konstruktion des An-sich erklärt, das zugleich Negation des Für-uns, d.h. der Bewußtseinsbezogenheit ist - denn ist etwas an sich, so ist es ohne unser Zutun, weder durch uns noch für uns -, operiert selbst wieder mit der idealistischen Vermittlungsstruktur und dekouvriert sich so auf seiner höchsten Stufe als ein verkappter Idealismus. Von der Er­ fassung des absoluten Grundes des Selbstbewußtseins durch eine realistische Einstellung ist ebenso zu abstrahieren wie von der durch eine idealistische. Jeder Versuch einer Bestimmung des Grundes des Selbstbewußtseins vom Selbstbewußtsein aus, so weit er auch vor­ angetrieben werden mag - und Fichtes Abschluß in der Wissen­ schaftslehre von 1804 erscheint als ein willkürlicher Abbruch und die Nichtfortsetzung der Bestimmung als ungerechtfertigt -, führt nur wieder in die Objektivation des Selbstbewußtseins zurück, ist also ein proiectum per hiatum irrationalem. Das Resultat dieser Dialektikkonstruktion, nämlich der Anwen­ dung der dialektischen Struktur auf sich selbst, ist der unaufgeho­ bene Widerspruch, indem einerseits ein Grund für das existierende Selbstbewußtsein supponiert werden muß, was sich schon aus dessen Faktizität ergibt, andererseits die Existenz dieses Grundes zweifelhaft ist, da ein transzendenter, das Selbstbewußtsein übersteigender Grund nicht faßbar ist, vielmehr nur die Aktivität des Selbstbewußt­ seins, also ein immanenter Grund. So wiederholt sich die ständige Verweisung auf das Selbstbewußtsein in seiner antithetischen Struk204

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tun Die totale Abstraktion von allen widersprüchlichen Interpretamenten, wie sie bei der Erfassung dieses Grundes versucht werden, führt keineswegs zur Sicherheit eines transzendenten Grundes31, vielmehr zur Unentschiedenheit und Ambivalenz, nämlich einerseits zur Unerreichbarkeit und Unbegreiflichkeit des Grundes, zum Nichts, andererseits zum ständigen Verweis auf die Faktizität des Selbstbewußtseins. Im Unterschied zur positiven Dialektik der Frühzeit zeigt sich hier ein anderer Typus, ein negativer, besser noch: ein ambivalenter, der offen läßt, ob die Aufhebung des Widerspruchs von idealistischer und realistischer Position zum absoluten Nichts oder zur erneuten Position der Antithetik und Wiederholung des dialektischen Prozes­ ses führt. Genau genommen führt er zu beidem, zum Nichts und zum Vollzug des Selbstbewußtseins. Er läßt den Widerspruch unauf­ gelöst stehen. In diesem Punkt unterscheidet sich diese Dialektik­ form grundsätzlich von Hegels Spekulation, die nicht nur die totale Selbsteinholung aller Voraussetzungen beansprucht, sondern dies auch in Form einer Aufhebung aller Widersprüche zu tun reklamiert und insofern einen positiven Charakter hat. Fichtes Bedeutung besteht darin, neben der positiven Dialektik­ konzeption zur Explikation des Selbstbewußtseins eine negative bzw. ambivalente Konzeption zur Erfassung des Grundes des Selbst­ bewußtseins entwickelt zu haben, die in ein Paradox mündet, und zwar in das von Dialektik und Nichtdialektik, von Sowohl-als-auch und Weder-noch, und damit eine Schwierigkeit erkannt und thema­ tisiert zu haben, für die Hegel blind war. Denn mehrfach stellt sich in dessen System die Frage nach der Möglichkeit einer totalen Selbst­ einholung oder einem nimmer endenden Prozeß, zunächst am Ende der Logik bei Erreichung der absoluten Idee, wo das Problem auf­ taucht, ob angesichts der vollständigen kategorialen Exhaustion ein Fortschritt überhaupt noch möglich sei, und beantwortet wird mit dem Übergang in eine andere Sphäre, in die Natur, zuletzt am Ende des enzyklopädischen Systems, wo das Problem unabweisbar wird, ob eine wirkliche Vollendung oder nur ein Abbruch vorliegt. Eine definitive Selbsteinholung scheint unmöglich zu sein, weil eine sol­ che notwendig einen unbegrenzten, unbestimmten Hintergrund vor­ aussetzt, vor dem sie sich in ihrer Geschlossenheit und Vollendung, 31 Wie W. Janke: Fichte. Sein und Reflexion - Grundlagen der kritischen Vernunft, Ber­

lin 1970, S. 391 ff., meint. ^ 205

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ihrer Ganzheit also, allein ahzeichnen kann. Die Unendlichkeit und Unbestimmtheit dieses gänzlich Anderen, die der Geschlossenheit widersprechen, erzwingen vielmehr einen unahschließharen Prozeß der Forthestimmung. Die andere Möglichkeit ist die von Fichte anvi­ sierte des Paradoxes. In diesem Punkt ist Fichtes Konzeption der Hegelschen überlegen.

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5. Kapitel Der analogische Rationalitätstypus

1. Analogiedenken - Rationalität oder Irrationalität? Während das Klassifikationsdenken, basierend auf dem dihairetisch spezifizierenden Verstand, seit der Antike das abendländische Den­ ken beherrscht und dessen hypotaktisch-hierarchischen Charakter wesentlich geprägt hat und die Grundlage unseres gängigen Wissen­ schafts- und Rationalitätsverständnisses bildet, nicht nur in den sach­ bezogenen Wissenschaften wie der Botanik, Zoologie, Geologie usw., sondern auch in der Methodologie beim Aufbau der Wissenschafts­ systeme, während das zyklisch-dialektische Denken, obwohl von Pla­ ton als eigentliche und höchste Wissenschaft eingestuft, niemals auf wirkliche Resonanz bei Naturwissenschaftlern stieß und von diesen eher pejorativ angesehen wurde, das metaparadoxale Denken aus­ schließlich für die Spekulation reserviert blieb und die Listenmetho­ de mit ihrer parataktischen Architektur keinen Eingang in die euro­ päischen Wissenschaften fand, existiert darüber hinaus noch ein weiteres Denkmodell, das mindestens ebenso alt, wenn nicht sogar älter ist als das dihairetische: das Analogie- oder Entsprechungsden­ ken. Es stammt aus magisch-mythischer Zeit, erfuhr in der Renais­ sance eine Wiederbelebung und existiert in Relikten wie der Astro­ logie, Chiromantie, Parapsychologie, Homöopathie bis heute weiter. Gewöhnlich wird es nicht mit Vernunft, Rationalität und Wissen­ schaftlichkeit in Verbindung gebracht, sondern mit Magie, Okkultis­ mus und Hermetik. Es wird als alogisch und irrational eingestuft. Wenn es aus der Perspektive unseres gängigen, auf Spezifikation und Klassifikation bedachten Wissenschaftstypus nicht als Rationali­ tätsform akzeptiert wird, so deshalb, weil es mit der Herausbildung und Durchsetzung unseres Wissenschaftskonzepts und Vernunft­ begriffs nicht mehr verstanden wurde, in Mißkredit geriet und schließlich suspendiert wurde. Da es sich jedoch um ein formales, schematisierbares Verfahren mit allgemeinverständlichen Gesetzen handelt, das universell applikabel und intersubjektiv kommunikabel ist und genauso wie das klassifikatorische Modell den Wissenschafts­ ^ 207

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kriterien der Begreifbarkeit, der semantischen Klarheit und Präzisi­ on, der logischen Folgerichtigkeit - wenngleich einer anderen als der der Spezifikation bzw. Klassifikation -, der operativen Handhabung usw. genügt, kann ihm der Status eines eigenen Rationalitätstypus nicht abgesprochen werden. Da dieser allerdings bis heute verkannt ist, muß er erst wieder freigelegt werden. Dies hat so zu erfolgen, daß seine Eigengesetzlichkeit und genuine Logik aufgedeckt werden müssen und nicht nur die dem heutigen Wissenschaftsverständnis analogen Strukturen der empirischen, semantischen und logischen Intersubjektivität, wie Kurt Hübner1 dies in seiner Analyse des My­ thos getan hat. Zu diesem Zweck ist von einem konkreten Beispiel für Analogiebeziehungen auszugehen, um daraus Rückschlüsse auf die Struktur dieses Denkens zu ziehen.

2. Arcimboldos »Jahreszeiten«-Zyklus und seine diversen Auslegungen Bei dem genannten Beispiel handelt es sich um die Gemäldetetralogie des Renaissance-Malers Giuseppe Arcimboldo (1527-1593), die den Namen »Die Jahreszeiten« trägt und vier männliche Porträts aus di­ versen Lebensperioden zeigt: den Jüngling, den erwachsenen Mann im Zenit des Lebens, den gesetzten, gereiften Mann und den Greis. Ihre Gesichter und Oberkörper sind aus Blüten und Blättern, Früch­ ten, Beeren und Knollen, Wurzeln und Ästen kombiniert, wie sie für die verschiedenen Jahreszeiten typisch sind. So besteht das Bildnis des jungen Mannes ganz aus Blüten und Blättern. Sein Haupt ist von einem bunten, farbenprächtigen Blüten­ kranz umwunden, auf seiner Wange prangen Rosen und Nelken, seine Augen sind Blütensterne, seine Nase eine geschlossene Lilien­ knospe, sein Mund und Kinn rote Rosen, seine Zähne Maiglöckchen, sein Ohr eine Tulpe mit einem Akelei-Gehänge. Entsprießt seinem Hinterkopf eine weiße Lilie, so seiner Brust eine blaue Schwertlilie; sein Knappengewand besteht aus frischem, grünen Blattwerk, ver­ ziert mit einem weißen Blütenkragen.1 1 K. Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 239 ff.; ders.: Rationalität im

mythischen Denken, in: K. Hübner und J. Vuillemin (Hrsg.): Wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Rationalität. Ein deutsch-französisches Kolloquium, Stuttgart­ Bad Cannstatt 1983, S. 49-68. 208

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Den Kopf des reifen Mannes füllen lauter Früchte aus. Umwun­ den ist sein Haupt von einem Kranz aus Birnen, Pflaumen, Kirschen, Brombeeren; seine Stirn formt eine braune Zwiebel, seine Augen­ brauen eine Ähre, seine Nase eine grüne Gurke, seine Wangen ein praller Apfel, das Kinn eine Birne und den Mund eine Erbsenschote; für Ohren und Hals werden Zwiebeln, Mais, Auberginen und Bana­ nen verwendet; sein Obergewand ist ein Ährenmantel, aus dem auf der Brust eine Artischockenpflanze sprießt. Im dritten Porträt erkennt man die vollen, ausgereiften und scharf gegeneinander abgehobenen Züge des gesetzten Mannes. Es ist ein bacchantisches, süffisant dreinblickendes Gesicht: das Haupt umwunden von einem schweren Kranz aus dunklen Trauben und Weinlaub, der Oberkörper gebildet aus einem Weinzober, umrankt von einer Hagebutte. Das Gesicht besteht aus überreifen Früchten und Knollen. Als Nase dient eine knollenartige Birne, die Wange bildet ein praller Apfel, das Kinn ein hängender Granatapfel, den Bart ein Büschel aus Hirse und Gerste, den Mund eine aufgeplatzte Kasta­ nie. Während den Hinterkopf eine reife Melone formt, gestalten Knollen, Wurzeln und Kartoffeln den Hals. Das Porträt des Greises bildet ein alter, knorriger, fast abgestor­ bener Baumstumpf mit rissiger, schorfiger Rinde. Nur aus dem hin­ teren Teil schießt grünes Blattwerk hervor. Die aus dem Haupt her­ vorragenden Wurzeln und Äste schließen sich zu einer Krone zusammen, die Gehörn gleicht. Die Haut des Alten ist runzlig wie die Rinde des Baumstumpfs. In der Nase erkennt man einen Wurzel­ fortsatz, im Ohr einen abgebrochenen Ast, der schiefe zahnlose Mund wird durch einen aufgequollenen, aufgeschwommenen Pilz gebildet. Das Kinn ist übersät mit Bartstoppeln, sprich Wurzelästen. Als Gewand dient ein Strohmantel, der durch eine kräftig gelbe Zi­ trone und leuchtende Apfelsine zusammengehalten wird, die zum dunklen Wurzel- und Ästegeflecht kontrastieren. Dieser Serie korrespondiert eine zweite, die den Namen »Die Elemente« trägt. Dem Frühling (Jüngling) ist das Element der Luft zugeordnet, dem Sommer (Mann) das Element des Feuers, dem Herbst (Gereiften) das Element der Erde und dem Winter (Greis) das Element des Wassers. Die Korrespondenz erklärt sich aus der symmetrischen Anordnung je zweier links- und rechtsblickender Ge­ sichter. Außerdem bestätigt eine Inschrift auf der Rückseite des Frühlingsbildes die Zuordnung der Luft zum Frühling. Auch diese Bilder zeigen Porträts, jedoch mit dem Unterschied, daß sie nicht ^ 209

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pflanzliche Bestandteile, sondern Tiere verwenden. Das Bild »Luft« zeigt Vögel, die aus einem prächtigen Pfau aufsteigen, der die Brust bildet. Das Bild »Erde« besteht aus erdlebenden Tieren, unter denen das zur Herbstzeit gejagte Wild eine besondere Rolle spielt. Aus Löwe, Schaf (Vlies) und Stier, die den Oberkörper formen, geht eine Vielzahl einheimischer wie fremdländischer Tiere hervor, unter de­ nen die geweihtragenden wie Steinbock, Elch, Hirsch, Gams und Ga­ zelle eine Art Krone bilden. Das Porträt »Wasser« - offensichtlich ein weibliches Gesicht - stellt ein Arrangement von Wassertieren dar. Es vereint Fische, Amphibien, Reptilien, Krustentiere, Muscheln, Poly­ pen usw. Ein Korallenkrönchen schmückt das Haupt, während eine Perlenkette und ein perlmutternes Ohr mit einer Traubenperle das Gesicht zieren. Als einziges der Serie besteht das Bild »Feuer« nicht aus Tieren, sondern aus Utensilien, die zum Feuer gehören: aus Feuerstein, Feu­ erstahl, Docht, Zündhölzern, Kerze, Kerzenhalter, martialischen Ge­ räten wie Kanonenrohr und Flinten, einer güldenen Kette mit Golde­ nem Vlies. Das Haupt ist von einem Feuerkranz eingefaßt. Die Bilder erwecken auf den ersten Blick den Eindruck des Phan­ tastischen, Irrealen, Utopischen, zumindest des Supranaturalen, was ihre Einordnung in das Genre der phantastischen Malerei nahelegt. Obwohl jedes Detail mit außerordentlicher Sachkenntnis, Natur­ treue und Hingabe ausgeführt ist, findet sich doch keine dieser Kom­ positionen in der Natur. Es sind Gebilde der reinen Phantasie, Aus­ geburten von Fieberträumen, Spielereien. Oft kann man ihnen eine gewisse Ironie und Satire nicht absprechen. Nicht zufällig hat man sie mit den Attributen hizzarrie, capricci, scherzi, quadri ghiribizzosi, grilli belegt, eigenwillig, launisch, extravagant genannt2, mithin mit 2 Vgl. G. Comanini: il Figino. Dialoge Mantovano, Mantova 1591, S. 30, 49, 50; P. Mo-

rigia: Historia dell'Antichita di Milano, libri VI, Venezia 1592, S. 562, 566; ders.: La Nobilita di Milano, divisa in sei libri ..., Milano 1595, S. 461; P. A. Orlandi: Abecedario Pittorico, 3. Aufl. Firenze 1731, S. 195; L. Lanzi: Storia pittorica della italia, 5. Aufl. Firenze 1882, S. 180f.; vgl. in jüngerer Zeit B. Geiger: Die skurrilen Gemälde des Giu­ seppe Arcirnboldi (1527-1593) (Titel der Originalausgabe: i Dipinti ghiribizzosi di Giu­ seppe Arcimboldi, Firenze 1954), übertragen von A. Boensch, Wiesbaden 1960, S. 9; S. J. Freedberg: Painting in italy. 1500 to 1600, Harmondsworth 1971, bes. S. 410; dagegen Th. da Costa Kaufmann: Arcimboldo's imperial Allegories. G. B. Fonteo and the Inter­ pretation of Arcimboldo's Painting, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 39 (1976), S. 275-296; ders.: Les allegories et leurs significations, in: L'effet d'Arcimboldo. Les transformations du visages au seixieme et au vingtieme siecles, Paris 1987, S. 89-110; P. Hulten: Arcimboldo: trois modes d'interpretation, in: Leffet d'Arcimboldo, a.a.O., 210

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allen Merkmalen versehen, die gewöhnlich dem Traum, der Mär­ chenwelt, dem Mythos zukommen. Auch ist es kein Zufall, daß in der modernen Kunst Arcimholdo gerade die Surrealisten Rene Magritte, Salvador Dali, Max Ernst oder auch Picasso inspiriert hat. In diesen Bildern wirkt das aus der antiken Chimärenhildung hekannte Groteskenmotiv nach, das in der Renaissance wieder aufleht. Während die Interpretation der Bilderserie als Kuriosität an der Oherfläche hleiht, giht ein kommentierendes Gedicht des mit Arcim­ holdo hefreundeten Poeten Giovanni Baptista Fonteo den Hinweis auf eine tiefere Dimension, in der die Bezüge zum sozialen Umfeld, dem die Gemälde angehören, deutlich werden. Arcimholdo war Hof­ maler an den Hahshurger Kaiserhöfen in Wien und Prag und diente unter drei Kaisern, Ferdinand I., Maximilian II. und Rudolf II. Seine Aufgahe als »Hofkonfetter« hestand darin, die kaiserliche Familie und ihr nahestehende Persönlichkeiten zu porträtieren und so zur Glorifizierung der Hahshurger Dynastie heizutragen. Das Gedicht weist die Bilder folglich als imperiale Allegorien aus. Es hegründet den Rückgriff auf Köpfe aus einer hei Livius über­ lieferten Legende: Danach sollen die Erhauer des Jupiter-Tempels in Rom hei dessen Ausschachtung auf einen ständig hlutenden und gleichwohl nicht verwesenden Kopf gestoßen sein. Der Fundort sollte nach einer Wahrsagung als Haupt (caput) ganz Italiens und darüher hinaus der ganzen Welt dienen, was sich im Namen »Capitolium« ausdrückt, desgleichen im Anspruch Roms, Haupt der Welt zu sein. Da die Hahshurger Monarchie ihr Kaisertum aus dem römischen Cä­ sarentum ahleitete und sich als Fortsetzung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verstand, deuten die Häupter, in denen man Mitglieder der kaiserlichen Familie erhlickt hat - im Winter Maximilian II., im Wasser Kaiserin Maria -, auf den universalen Herrschaftsanspruch, der sich in Übereinstimmung mit der Natur, deren Elementen, Produkten und Zyklen hefindet. Dadurch daß den Porträts die für die Jahreszeiten typischen Naturalien zugeordnet, ja geradezu eingeschriehen werden, so daß sich jene als Grund und Trä­ ger derselhen erweisen, dokumentieren sie ihren Einklang mit die­ sen. Und nicht nur den Gleichklang mit den Produkten der Natur dokumentieren die Porträts, sondern auch den mit den der Natur S. 18-33, hes. S. 19; W. Kriegeskorte: Giuseppe Arcimholdo. 1527-1593. Ein manieristischer Zauherer, Köln 1984, S. 36 f. ^ 211

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zugrundeliegenden Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer, was aus der Korrelation der Elementenserie zur Jahreszeitenserie hervorgeht. Damit ist die Dominanz der Habsburger zur universellen Macht über die Natur hypostasiert. Entsprechend der in der Renaissance so beliebten Analogie zwi­ schen Makro- und Mikrokosmos und politischem Stand schließt der durch die Häupter symbolisierte Herrschaftsanspruch den über die Gesellschaft ein. Wie die Pflanzen- und Tierbilder eine Vielzahl von Geschöpfen aus Nord und Süd, Ost und West, heimischer und exo­ tischer Art vereinen (Äpfel und Birnen aus nördlichen Gefilden, Zi­ tronen und Orangen aus den Mittelmeerländern, den Steinbock aus den Tiroler Alpen, Elefant, Löwe, Gazelle aus fremden Gefilden), welche sich trotz der schier unüberschaubaren Menge klar und deut­ lich voneinander abheben und harmonisch ordnen, so sollen auch die Völker des Vielvölkerstaates Habsburg, in dessen Reich die Sonne niemals unterging, unter der weisen und wohltätigen Regierung der Habsburger harmonisch und friedlich zusammenleben. Die paratak­ tische Anordnung unter der hypotaktischen ist Indiz dieser fried­ lichen Koexistenz. Die Tatsache, daß die aus verschiedenen Lebensperioden stam­ menden Häupter dem jahreszeitlichen Rhythmus entsprechen, soll auf die ständig sich regenerierende, immerwährende Herrschaft der Habsburger hinweisen. Wie sich die Jahreszeiten wiederholen, so er­ neuert sich auch die Herrschaft dieses Geschlechts. Ein Beleg hierfür ist das letzte, »Winter« genannte Bild, das einen Baumstumpf zeigt, aus dessen hinterem Teil neues grünes Blattwerk hervorsprießt. Zu­ dem galt der Winter bei den Römern als ambivalent; er wurde janus­ köpfig dargestellt, zurückblickend auf das alte Jahr und vorausblikkend auf das neue. Wie der Winter Anfang des neuen Jahres ist und seine Macht über dieses entfaltet, so ist die Personifikation des Win­ ters, Maximilian II., Haupt der Dynastie und breitet seine Herrschaft über die Welt aus. In jeder Hinsicht stellen die Bilder einen Panegyrikus auf das Habsburger Imperium dar. Möglich ist eine solche Interpretation jedoch nur aufgrund einer tieferliegenden, dem oberflächlichen Blick verborgenen Schicht von Bezügen der Subordination, Koordination und Zyklik zwischen den Elementen aus dem anthropologischen, biologischen und astro­ nomisch-jahreszeitlichen Bereich, die geregelte Übergänge und Ver­ weise gestatten. Diese gilt es eigens freizulegen.

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3. Morphologischer Raster des Analogiedenkens Das als Bezugssystem dienende Weltbild der Renaissance ist komplex und reich sowohl an formalen wie inhaltlichen Verweisungen. Trotz der Fülle gibt es wiederkehrende, typische Züge, die ein Grund­ muster bilden. Die Grundüberzeugung der Renaissance dokumentiert sich in der These von der Alleinheit des Seienden. Mit ihr knüpft die Renais­ sance an eine alte, bis in die magisch-mythische Zeit zurückreichende Vorstellung an, die philosophisch erstmals in Platons Timaios faßbar ist. Dort findet sich die Aussage, daß das Ganze aus lauter Ganzen bestehe3, ein Vollkommenes aus lauter Vollkommenen (Ganzen) sei4. Für unser Empfinden drückt diese Aussage eine Paradoxie aus, setzt sich doch ein Ganzes aus Teilen, ein Vollkommenes aus noch nicht Vollkommenem zusammen. Platon will mit dieser Aussage zweierlei zum Ausdruck bringen: zum einen im quantitativen Sinne, daß das Ganze umfangmäßig die Gesamtheit der Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer impliziert, zum anderen im qualitativen Sin­ ne, daß das Ganze in einer durchgängigen Vermischung und wech­ selseitigen Durchdringung der Elemente besteht, so daß jedes, obwohl Teil, das Ganze repräsentiert und selbst ein autarkes, suisuffizientes Ganzes ist. In dieser Aussage wie auch in anderen in densel­ ben Kontext gehörigen, die den Kosmos als nie alterndes, nie siechen­ des Ganzes von Kugelgestalt - der vollkommensten aller Gestalten beschreiben, bezüglich dessen es weder einen Zu- noch Abgang, mit­ hin keine Veränderung gibt, weder ein Außen noch eine Bewegung in diesem, sondern nur ein ständiges In-sich-Kreisen, erfolgt ein Rückgriff auf die Alleinheitslehre des Parmenides, wie sie in dessen Lehrgedicht expliziert wird. Das All-Eine (ev anavta) wird dort als ev, ftäv, ouve/eq und opoyevec; beschrieben und in das Bild einer wohlgerundeten Kugel gekleidet, die sich nach allen Seiten gleichmä­ ßig und gleichgewichtig erstreckt, nicht hier ein Mehr und dort ein Weniger an Sein aufweist, sondern von durchgängig gleichartigem Sein ist. Droht der Gedanke der Pluralität und Diversität bei Parmenides unter der Annahme eines einheitlich homogenen Ganzen verloren­ zugehen und zur bloßen Meinung der Sterblichen zu degradieren, so 3 Vgl. Platon: Timaios 33 a. 4 Vgl.a.a.O.,32df.

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erhält er in der anaxagoreischen Homöomerienlehre insofern sein Recht zurück, als diese von der totalen Vermischtheit der Elemente im Urzustand der Welt ausgeht. 'Opoü ndvxa xp^p,axa (»bei­ sammen waren alle Dinge«), heißt es bei Anaxagoras5, 6ungesondert und ungeschieden, bis der Nus sie trennte, Leichtes zum Leichten, Schweres zum Schweren assoziierte und mit dieser Distinktion über­ haupt erst differenzierbar machte. Die Theorie konnte sich auf die Beobachtung des Wachsens durch Nahrungsaufnahme stützen. Da­ mit sich Fleisch an Fleisch, Knochen an Knochen, Sehne an Sehne anlagern könne, müssen die Bestandteile bereits in der Nahrung im­ pliziert sein. Wie Platon einerseits an frühere Theorien anschließt, so hat er andererseits die nachfolgende Tradition beeinflußt. Die Lehre begeg­ net wieder bei Cusanus in der These quodlibet in quolibet (»jedes ist in jedem vertreten«); sie liegt ebenfalls Leibniz' Monadologie zu­ grunde, insofern alle Monaden inhaltlich übereinstimmen und das­ selbe vorstellen, nur aus verschiedenen Standpunkten (points de vue) und in verschiedenen Graden der Deutlichkeit und Undeutlichkeit, angefangen von der höchsten, absoluten Klarheit im Selbstbewußt­ sein bis hin zu den dunklen, sogenannten schlafenden Monaden, der Materie. Und selbst Hegels Wissenschaft der Logik operiert mit der Gedankenfigur, daß die Momente der Totalität selbst bereits die To­ talität sind, aber so, daß im anfänglichen Teil das Ganze und Wahre erst in der Form des An-sich-Seins auftritt, erst am Ende der Logik in der vollständig explizierten Form des An-und-für-sich-Seins. Auf dem Boden dieser Alleinheitsthese bedarf die Entstehung von Pluralität, Differenz und Relationalität einer Erklärung. Die Re­ naissance hat hierfür eine Reihe von Vorstellungen und Bildern ent­ wickelt, die sich in drei Gruppen ordnen je nach der dominanten Raum- und Zeitstruktur, einer vertikalen, einer horizontalen und einer zyklischen. (1.) In die erste Gruppe gehören Stufungs- und Hierarchiever­ hältnisse in absteigender wie aufsteigender Richtung. Das bekann­ teste, das Urbild-Abbildverhältnis, auch Spiegelungs- oder Repräsen­ tationsverhältnis genannt, geht wiederum auf Platon zurück und hat seinen locus classicus im sechsten Buch der Politeia6 in der Darstel­ 5 W. Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch-deutsch von H. Diels,

Bd. 2, 17. Aufl. Zürich, Hildesheim 1989, S. 32 (B 1). 6 Platon: Politeia 509 dff.; vgl. auch Parmenides 132 cff. 214

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lung des Liniengleichnisses, jener vertikal zu denkenden, quatemal eingeteilten Linie, die Platons Ontologie und Epistemologie demon­ striert, und zwar so, daß die beiden oberen Sektoren (die Ideen und Mathematika) den ideellen Bereich verkörpern und die beiden unte­ ren (die konkreten Dinge und deren Spiegelbilder) den sinnlich wahr­ nehmbaren. Wie der letztere Abbild des ersteren ist, so tritt auch innerhalb jedes dieser beiden Bereiche ein Urbild-Abbildverhältnis auf (Mathematika als Abbilder der Ideen, Spiegelbilder als Abbilder der konkreten Gegenstände), so daß sich eine Stufung von der Art: Abbild des Abbildes des Abbildes des Urbildes usw. ergibt. Das Mo­ dell drückt eine Seins- und Erkenntnisstufung aus, mit der sich eine Wert- und Wahrheitstufung einschließlich einer Anzahlstufung ver­ bindet. Je weiter sich die Stufen vom Urbild entfernen, desto schwä­ cher, schlechter, verstellter und verzerrter repräsentieren sie dasselbe, während sich gleichzeitig ihre Anzahl und ihr Umfang erweitern. Mit der quantitativen Zunahme des Umfangs geht die qualitative Minderung des Inhalts einher, ähnlich wie bei der Lichtausbreitung. Man mag sich dies am Beispiel des Kreises verdeutlichen. Während es nur einen einzigen Idealkreis gibt, der durch die Linie aller Punkte definiert wird, die vom Mittelpunkt gleichen Abstand haben, finden sich in der Realität unzählig viele sinnlich wahrnehmbare Kreise, die jedoch allesamt von der Norm abweichen, wie Rad, Teller, Scheibe usw., und noch mehr sind deren durch Spiegelung verzerrte Abbilder. Diese graduellen Abstufungs- und Abschattungsverhältnisse resul­ tieren aus einer Multiplikation und Falzung des Seins. Die Renaissance, die lebensweltliche, speziell biologische Termi­ ni und Vorstellungen präferiert, drückt dieses Verhältnis durch Ge­ nealogien, Abstammungs- und Verwandtschaftsbeziehungen aus, die in zwei Formen begegnen, als Parthenogenese in linear absteigender Folge und als Zeugung durch Elternpaare in zunehmend sich ver­ zweigender Folge. Schon Hesiods Genealogie des Dunklen, Nächt­ lichen, Schattenhaften liefert ein Beispiel hierfür. Die in der Theogonie7 geschilderte Abkunft aus dem anfänglichen Chaos, aus dem Gaia, die Erde, aus dieser Tartaros und Eros hervorgehen, aus dem Chaos weiter das Reich der Finsternis: Erebos und die schwarze Nacht, aus dieser in linearer Folge u. a. Schlaf, Traum, Tod, ferner die Hesperiden. Moiren und Keren, die grausamen Rächer, die Schicksalsgöttinnen Klotho, Lachesis und Atropos, aus der Nemesis 7 Hesiod: Theogonie 116 ff., 211 ff.

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Betrug und Umarmung, Alter und Streit usw., stellt einen sukzessiv­ graduellen Abstieg mit entsprechender Abschattung dar. Im Falle ge­ schlechtlicher Fortzeugung bildet das Urelternpaar das Paradigma, das in den entferntesten Nachkommen, den Urururenkeln, genetisch erkennbar bleibt. Jeder Nachfahre ist ein Spiegel des Vorfahren. Nä­ he wie Ferne der Ähnlichkeit sind durch den Verwandtschaftsgrad festgelegt. Neben diesen Vorstellungen verwendet die Renaissance zur Ex­ plikation dieses Verhältnisses auch die Himmelsleiter, die dem Patri­ archen Jakob im Traum erschien (daher auch Jakobsleiter genannt)8 und Erde und Himmel verbindet und noch in Goethes Faust wieder­ kehrt: »Wie alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem andern wirkt und lebt! Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen Und sich die goldnen Eimer reichen! Mit segenduftenden Schwingen Vom Himmel durch die Erde dringen Harmonisch all das All durchklingen!«9

Auch das Bild einer goldenen Kette mit ineinandergreifenden Ringen ist gebräuchlich, das sowohl Homer wie Platon zugeschrieben wird, oder das einer Saite, die Oben und Unten, Himmel und Erde verbin­ det. Die Verkettung bringt zum Ausdruck, daß in jedem Berührungs­ punkt der eine Ring an den anderen die Ähnlichkeit weitergibt. So heißt es bei Giambattista della Porta: »So sehen wir/ daß von der ersten Ursach an gleichsam ein grosses Seil gezo­ gen ist vom Himmel herunter biß in die Tieffe/ durch welches alles zusam­ men geknüpffet/ und gleichsam zu einem Stücke wird/ also daß/ wann die höchste Krafft ihre Stralen scheinen läst/ dieselben auch biß herunter rei­ chen: Gleich wie/ wann ein ausgespannter Strick an einem Ort gerühret wird/ derselbe gantz durch erzittert/ und auch das Ubrige sich beweget. Und dieses Band nun kan man wol mit an einander hangenden Ringen/ und einer Kette vergleichen/ und hieher die Ringe des Platonis und die güldene Kette des Homeri ziehen l...]«10

8 Vgl. 1. Genesis 28,12. 9 J. W. von Goethe: Faust I, Vers 447-453, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in

14 Bden., Hamburg 1948-1960, wiederholte Aufl., Bd. 3, S. 22. 10 J. B. Porta: Magia Naturalis, oder Haus-Kunst- und Wunder-Buch (Titel der Origi­

nalausgabe: Magiae naturalis, sive de miraculis rerum naturalium libri HU, Neapel 216

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In der Kunst haben die perspektivischen Verzerrungen dieselbe Auf­ gabe, die Expansion eines Punktes über die Kreisfläche bis zur Kugel und umgekehrt die Kontraktion einer Kugel über die Kreisfläche bis zum Punkt zu dokumentieren. Dasselbe gilt für konvexe und kon­ kave Darstellungen.11 Gerade die Malerei und Architektur der Re­ naissance, welche die Perspektive erfand, ist voll von deren Gebrauch, um Ähnlichkeitsverhältnisse auch über Entfernungen hinweg aus­ zudrücken und die Rückbezogenheit auf den Ursprung zu wahren. Das bekannteste Urbild-Abbildverhältnis ist die Makro-Mikrokosmos-Analogie, welche Verhaltensweisen und Beziehungen einer idealen Oberwelt, sei es der Welt der Götter oder der Sphäre des Göttlichen überhaupt, sei es des astronomischen Bereichs, in den Ver­ haltensweisen und Beziehungen der konkreten Sinnen- und Men­ schenwelt spiegelt und die Rückbindung dieser auf jene garantiert. Wenn Liebe den Menschen überkommt, so ist das die Wirkung der Venus, wenn Haß und Streit in der Seele nisten, so geht dies auf den Kriegsgott Ares zurück, wenn Ehebruch geschieht, so hat dies sein Vorbild im Verhalten des Zeus gegenüber Hera, wenn Glück oder Unglück den Menschen heimsuchen, so sind hierfür planetarische Konstellationen verantwortlich. Die Menschenwelt ist Spiegel der Götterwelt, ihrer Ordnung, Konstellationen, Dispositionen und Ei­ genschaften. In der derivativen Dimension findet sich ein Abglanz der Ursprungsdimension. (2.) In die zweite Gruppe gehören jene Phänomene, die sich um die Vertikale in horizontaler Anordnung lagern, wie alle Duplex­ phänomene, Iterationen, Spiegelungen, Symmetrien, Opposita und Antithesen. Der Prototyp für einfache Verdoppelung ist das Zwil­ lingspaar, das am Himmel als Castor und Pollux erscheint, der für symmetrische Verdoppelung das Sternbild der Waage. Gegensätz­ lichkeiten treten in allen positiven und negativen Verhältnissen auf, wie Tag und Nacht, Leben und Tod, heiß und kalt; auch oben und unten, links und rechts, vorn und hinten gehören hierher. Da sich die Sprache der Renaissance mit Vorliebe der Termini der Lebenswelt, der Trieb-, Wunsch- und Emotionssphäre bedient, drückt11 1558). Zuerst von demselben Lateinisch beschrieben; hernach von Ihm selbst vermehret ..., Nürnberg 1680, Bd. 1, S. 47 (Buch 1, Kap. 6, Abschnitt 7). 11 Vgl. das konvexe Selbstporträt von Parmigianino, 1524, im Kunsthistorischen Mu­ seum Wien, abgebildet in: G. Maiorino: The Portrait of Eccentricity. Arcimboldo and the Mannerist Grotesque, The Pennsylvania State University Press and London, 1991, S. 54. ^ 217

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sie die gegenseitigen Beziehungen der um eine Mittelachse angeord­ neten Phänomene durch Sympathie und Antipathie, Attraktion und Repulsion, Freundschaft und Feindschaft, Liehe und Haß aus oder auch durch musikalisch-psychologische Verhältnisse wie Harmonie und Disharmonie, Zusammenklang und Mißklang. Konvergenz fin­ det ihre Explikation in Ausdrücken wie Paarung, Vermählung, Ver­ einigung, Vermischung, Divergenz in Trennung, Ahschied, Tod. Als elementare Basis für Anziehung und Ahstoßung sowie wechselseiti­ gen Ausgleich dienen die vier Elemente und ihre Eigenschaften. Feuer und Wasser hilden aufgrund ihrer Attribute, Wärme und Trockenheit einerseits, Kälte und Feuchtigkeit andererseits, feindliche, einander ausschließende Extreme ebenso wie Luft und Erde aufgrund ihrer Attrihute, Wärme und Feuchtigkeit einerseits, Kälte und Trockenheit andererseits. Zur Erzeugung eines harmonischen Ausgleichs ist daher zwischen Feuer und Wasser die Luft situiert und zwischen Luft und Erde das Wasser; denn aufgrund ihrer Wärme ist die Luft dem Feuer benachbart, aufgrund ihrer Feuchtigkeit dem Wasser, ebenso das Wasser aufgrund seiner Feuchtigkeit der Luft, aufgrund seiner Kälte der Erde. In den Annotations & observations au grand miroir du monde von Duchesne heißt es: »Obwohl die vier Körper (Wasser, Feuer, Luft, Erde) an sich einfach sind und verschiedene Eigenschaften haben, vor allem, weil der Schöpfer angeordnet hat, daß die elementaren Körper aus den vermischten Elementen gebildet werden, sind die Übereinstimmungen und Abweichungen bemerkenswert, was man an ihren Eigenschaften sieht. Das Element Feuer ist heiß und trokken. Es hat also eine Antipathie zu den Eigenschaften des Wassers, das kalt und feucht ist. Die heiße Luft ist feucht, die kalte Erde ist trocken, daraus folgt Antipathie. Um sie in Einklang zu bringen, ist die Luft zwischen Feuer und Wasser gestellt, das Wasser zwischen Erde und Luft. In der Beziehung, daß die Luft warm ist, ist sie dem Feuer benachbart, und ihre Feuchtigkeit verträgt sich mit der des Wassers. Weil ihre Feuchtigkeit gemäßigt ist, mäßigt sie die Wärme des Feuers und erhält von diesem auch Unterstützung, wie die Luft andererseits durch ihre geringe Wärme die kühle Feuchtigkeit des Was­ sers erhält. Die Feuchtigkeit des Wassers wird durch die Hitze der Luft er­ wärmt und erleichtert die Trockenheit der Erde.«12

Beziehungen positiver wie negativer Art sind sowohl bei Gleicharti­ gem wie bei Ungleichartigem zu beobachten, wie sich dies schon in 12 Joseph Duchesne (Quercetanus): Le grand miroir du monde. Deuxieme edition, ...

annotations & observations sur le texte par S. G. S., Lyon 1593, S. 498 (Übersetzung von der Verfasserin). 218

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Redewendungen und Sprüchen niederschlägt. So heißt es nicht nur: »Gleich zu Gleich gesellt sich gern« und »Gegensätze stoßen sich ah«, sondern auch: »Gegensätze ziehen sich an« und »Gleich mit Gleich verträgt sich nicht«. (3.) In die dritte Gruppe fallen zyklische Vorgänge, wie sie teils durch hiologische, teils durch astronomische Prozesse nahegelegt werden, z.B. durch die rhythmisch wiederkehrenden Bewegungen des Herz- und Pulsschlags, des Ein- und Ausatmens, des Einschlafens und Aufwachens, des Tages- und Nachtrhythmus, des Jahreszeiten­ zyklus. Die orphisch-pythagoreische Tradition hat den Gedanken vom Kreislauf des Lehens und der Palingenesis der Seele zur Lehre ausgehaut, derzufolge nicht nur der Tod aus dem Lehen, sondern auch das Lehen aus dem Tod hervorgeht.13 Im Hinduismus wird die­ ser Gedanke durch das Rad der Wiedergehurten wiedergegehen. Ihre hildliche Darstellung findet die Zyklik im Kreislauf. Dieser ist ein Zeitphänomen, hei dem heterogene, sogar konträre Instanzen aufeinander und auseinander folgen gemäß dem Kausalitätsgesetz, und zwar so, daß jede Wirkung einer Ursache ihrerseits Ursache einer anderen Wirkung ist und so heliehig fort, jedoch mit der Einschrän­ kung, daß sich auch üher noch so viele Zwischenglieder das Ende in den Anfang zurückschlingt. Die Zusammengehörigkeit der zeitlich auseinandergelegten, sukzessiv aufeinanderfolgenden heterogenen Glieder läßt sich durch den Bezug auf eine Ursprungsdimension ver­ ständlich machen, hei der das zeitlich expandierte Nacheinander von Ursache und Wirkung in der atemporalen hzw. gleichzeitigen causasui-Beziehung zusammengeschrumpft ist. Zwischen Ursprungs­ dimension und ahgeleiteter Dimension hesteht ein Implikations-Ex­ plikationsverhältnis. Während der Kreis auf der einen Seite als Zeitgestalt fungiert, kommt ihm auf der anderen eine räumliche Funktion zu. Inshesondere konzentrische, ineinandergeschachtelte Kreise, die sich von einem Zentrum aus wellenförmig zur Peripherie hin aushreiten, hahen die Aufgahe, jene in der Ursprungsdimension zusammengehö­ rigen Ding- und Eigenschaftskomplexe hei der Analyse gemäß der Implikations-Explikationsschematik aufzunehmen. Die Zusammen­ gehörigkeit oft heterogenster Bestandteile erklärt sich aus ihrer not­ wendigen Angewiesenheit aufeinander, die teils üher Komplementa­ rität und gegenseitige Komplettierung, teils üher nachharschaftliches 13 Vgl. auch Platon: Phaidon 70cff.

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Nebeneinander geschieht. Mit einem modernen, von Wittgenstein stammenden Begriff könnte man hier von Familienähnlichkeit spre­ chen, wobei die Glieder einer Familie: Vater, Mutter, Kind, Onkel, Tante sich nicht in allen Eigenschaften gleichen, sondern nur teilwei­ se Deckungssynthesen aufweisen, indem z. B. die einen in Wuchs und Gang übereinstimmen, die anderen in Gang und Nasenform und wieder andere in Wuchs und Charakter, so daß es für jedes Glied einen Spielraum von Freiheitsgraden gibt, der seine Eigenständigkeit ausdrückt. Bei Agrippa von Nettesheim finden sich in der Schrift De occulta philosophia umfangreiche Analogiereihen am Leitfaden der Pla­ neten: Sonne, Mond, Saturn, Jupiter, Mars, Venus, Merkur. So heißt es beispielsweise unter dem Leitgestirn »Sonne«: »Unter den Elementen sind solarisch das Feuer und die lichte Flamme; unter den Säften das reine Blut und der Lebensgeist; unter den Geschmäcken der scharfe mit Süßigkeit vermischte; unter den Metallen wegen seines Glanzes das Gold, dem die Sonne eine herzstärkende Eigenschaft verleiht; unter den Steinen solche, welche durch goldene Punkte die Sonnenstrahlen nachahmen, wie der Adlerstein, der solche Punkte hat und eine Kraft gegen die fallende Sucht und gegen Gifte besitzt. Der Stein, welcher Sonnenauge heißt und die Figur einer Augenpupille hat, aus deren Mitte ein Strahl hervorschimmert, stärkt das Gehirn und Gesicht [,..]«14

Und unter dem Leitgestirn »Mond« heißt es: »Dem Monde zugehörig (lunarisch) sind unter den Elementen die Erde, so­ dann das Wasser, sowohl das Meer- als das Flußwasser, und alles Feuchte, die Säfte der Bäume und der Tiere, hauptsächlich die weißen, als Eiweiß, Fett, Schweiß, Schleim und andere Flüssigkeiten der Körper. Von den Geschmäkken gehören dem Monde an der salzige und unschmackhafte. Unter den Me­ tallen ist lunarisch das Silber, unter den Steinen der Kristall, der silberfarbene Markasit und alle weißen und grünen Steine, desgleichen der Selenit oder Mondstein, welcher von honiggelbem Glanze, weißlich durchscheinend ist und nicht nur die Gestalt des Mondes, sondern auch sein tägliches Zu- oder Abnehmen darstellt. Dem Monde gehören auch die Perlen an, die aus Was­ sertropfen in den Muscheln erzeugt werden, ebenso der Kristall und Beryll. Unter den Pflanzen und Bäumen sind lunarisch das Selenotropium, das sich nach dem Monde wendet, wie die Sonnenwende nach der Sonne; die Palme, welche alle Monate neue Zweige ansetzt; [...] ferner das Keuschlamm und der Keuschbaum und der Ölbaum, desgleichen das Kraut Chinostares, wel­ 14 H. C. Agrippa von Nettesheim: Die magischen Werke (Titel der Originalausgabe: De

occulta philosophia libri tres, Antwerpen 1531), 4. Aufl. Wiesbaden 1997, S. 59f. 220

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ches mit dem Monde wächst und abnimmt, nämlich an Substanz und Zahl der Blätter [...] Unter den Tieren gehören diejenigen dem Monde an, die ger­ ne im Umgang mit den Menschen leben und die sich durch verschiedene natürliche Neigungen und Abneigungen gleichermaßen auszeichnen, wie die Hunde jeder Art. Lunarisch ist auch das Chamäleon, das nach der Ver­ schiedenheit der Farbe eines Gegenstandes immer eine ähnliche annimmt, wie der Mond nach Verschiedenheit des Zeichens, in welchem er sich befin­ det, seine Natur wechselt [,..]«15

Als Gliederungsprinzipien des Sonnenartigen, Mondartigen oder sonstigen Astralischen gelten Agrippa Figur, Bewegung, Strahlen der Himmelskörper, Farbe, Wirkung. Implizit macht er auch von ihrer Umgebung, von Tastqualitäten u. ä. Gebrauch. Wie zur Sonne die Kugelgestalt und abgeleiteterweise die Kreisform, die gelbe Farbe, das Feuer, das Metall »Gold«, der Einfluß der Sonnenstrahlen auf Leben, Wachsen und Gedeihen, das Wohlbefinden, ebenso ihr natür­ licher Ort am Himmel gehören, so gehören zum Mond die wechseln­ de Form: Scheibe, Sichel, die silbrige Farbe, das Metall »Silber«, die Wirkung auf den Menschen bei Nacht: Ruhe und Kühle usw. Die im Leitphänomen assoziierten Momente lassen sich bei Explikation den konzentrischen Kreisen zuordnen, wobei dem einen Kreis, der z.B. die geometrische Sphäre repräsentiert, die Form zukommt, dem an­ deren, der das Elementarische verkörpert, das Metall, dem nächsten, der das Optische darstellt, die Farbe. Die Reihenfolge ist variabel und austauschbar aufgrund der Koexistenz der Attribute in der Ur­ sprungsdimension. Dieses Kreismodell ermöglicht entlang von Ra­ diallinien, die vom Mittelpunkt zur Peripherie durch die konzen­ trisch angeordneten Kreise verlaufen, die Beziehung derselben aufeinander.16 Hierin dürfte der auffälligste und gravierendste Unterschied zum Klassifikationsschema bestehen. Während das Klassifikations­ denken das Seiende nach bestimmten Hinsichten - Gattungen - zu­ sammenfaßt, sei es nach Tieren oder Pflanzen oder Metallen oder Eigenschaften, und innerhalb dieser spezifiziert und differenziert, so beispielsweise die Gattung »Baum« nach Laub- und Nadelbäumen und letztere wieder nach Zypressen und Kieferngewächsen und diese wieder nach Tannen und Fichten usw., ordnet das Analogiedenken 15 A.a.O., S. 62f. 16 Auch eine Anordnung der heterogenen Instanzen auf der jeweiligen Kreislinie ist

möglich, die dann die Garantie für die vom Ursprung her bestehende Zusammengehö­ rigkeit der Instanzen bietet. ^ 221

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das Seiende quer durch die Reihe einander zu: Tiere, Pflanzen, Me­ talle, Eigenschaften, Formen, Farben, Einflüsse, Befindlichkeiten usw. Dasselbe läßt sich nicht nur am Kreismodell veranschaulichen, sondern auch an den für die Renaissance typischen Tabellen, die un­ ter einer als Leitfaden fungierenden Urreihe andere Reihen parallel dazu rubrizieren, die die entsprechenden Tiere, Pflanzen, Metalle, Eigenschaften usw. enthalten. Die Kreislinien des Kreismodells sind hier gleichsam halbiert und parallelisiert.17 Wie für die Zuordnung der heterogenen Instanzen der Zusam­ menhang im Urphänomen verantwortlich ist, so lassen sich für die Reihung als solche oft noch spezielle Gesetzmäßigkeiten anführen, wie im Falle der Planeten die Anordnung und Abfolge nach ihrer sichtbaren Entfernung von der Erde aus. Der Arcimboldische Jahres­ zeitenzyklus weist auf den Vegetationszyklus, andere Reihen auf einen Zeugungs- bzw. Fütterungs-, einen Eroberungs- bzw. Über­ windungszyklus, einen Kontrollzyklus, einen Maskierungszyklus usw.18 Werden beispielsweise Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser als Urreihe genannt, so erklärt sich diese nach dem Erzeugungs- und Fütterungsgesetz derart, daß Holz Feuer erzeugt und Flammen nährt, Feuer Asche erzeugt, Asche (Erde) Mineralien (Metalle) her­ vorbringt, Metall Wasser erzeugt und anzieht (bei nächtlichem Tau), Wasser Pflanzen (Holz) ernährt. Auch das heute in der Wissenschaft als einziges noch gebräuch­ liche Ursache-Wirkungsgesetz ist ein Erklärungsprinzip für die Wandlungsphasen und damit rechtbesehen kein wissenschaftlicher, sondern ein mythischer Begriff. Die im Vorangehenden aufgezeigten Verhältnisse: Abstufungen und Genealogien in linearer wie sich verzweigender Folge, Duplexund Symmetriephänomene, Kreisbewegung und Kreisgestalt sowie die unter Verwendung derselben gebildeten Gesamtmodelle lassen sich folgendermaßen schematisieren: 17 Bei der anderen Interpretation des Kreismodells (Anm. 16) geben die jeweiligen Ra­

diallinien die Leitlinie und die Parallelisierungen an. 18 Vgl. die Ausführungen von P. Frei zu den chinesischen Darstellungen, die denen der Renaissance entsprechen: Grundfragen derKategorienlehre. Untersuchungen zum We­ sen und Umfang der Kategorienlehre sowie zur Begriffslehre der Schullogik und der chinesischen bzw. geheimwissenschaftlichen Logik, Basel 1999, S. 155ff.; ders.: Die Be­ griffslehre der chinesischen und geheimwissenschaftlichen Entsprechungslogik, in: K. Gloy und M. Bachmann (Hrsg.): Das Analogiedenken - Vorstöße in ein neues Gebiet der Rationalitätstheorie, Freiburg, München 2000, S. 324-345, bes. S. 339. 222

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einfache Strukturen:

Zusammensetzungen: Sonne

Sonne

Sonne

Mond

Saturn

Sonne

gelb

Gold

gelb

silber

schwarz

Mond

silber

Silber

Gold

Silber

Blei

Saturn

schwarz

Blei

Sie formen den morphologischen Grundraster des Analogiedenkens, der feste, gesetzmäßige Verbindungswege aufzeigt, freilich andere als die gewohnten des Klassifikationsdenkens. Ein System invarianter Strukturen vertikaler, horizontaler und zyklischer Art überzieht das Seiende und ermöglicht entlang dieser Linien und Radien die Zuord­ nung der Elemente. Hypotaxis wie Parataxis ist für das System eben­ so konstitutiv wie Rotation.19 19 Zur Strukturierung der hermetischen Weltmodelle der Renaissance vgl. auch die Ar­ beiten von M. Bachmann: Zur Rationalität der Geisteswissenschaften. Das Koordinatenystem im hermetischen Kosmogramm, in: K. Gloy (Hrsg.): Rationalitätstypen, Frei­ burg, München 1999, S. 185-212; ders.: Brücken zu einer vergessenen Denkform, in: K. Gloy und M. Bachmann (Hrsg.): Das Analogiedenken - Vorstöße in ein neues Gebiet der Rationalitätstheorie, a.a.O., S. 11-23; ders.: Die Topologie der Analogie in der Na­

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4. Analogieformen Auf der Basis des skizzierten Gesamtsystems begegnen Analogien mindestens in drei Varianten, die mit den ihnen zugrundeliegenden Raum- und Zeitstrukturen Zusammenhängen. Es sind dies erstens räumlich-zeitliche Identität der Analoga, d. h. ihr Zusammenfall, zweitens räumlich-zeitliche Kontiguität, ihr simultanes Nebenein­ ander oder sukzessives Nacheinander, und drittens ihr Zusammen­ hang über räumliche und zeitliche Sprünge hinweg. (1.) Die extremste Form der Analogiebildung und wechselseiti­ gen Verweisung der Analoga aufeinander liegt vor bei räumlich-zeit­ licher Identität, die im Kontext des Raumes »Polymorphie« heißt, im Kontext der Zeit »Metamorphose«. Man trifft sie an bei analytischer Explikation eines komplexen Leitphänomens in seine diversen for­ malen wie materialen, quantitativen wie qualitativen, kausalen oder wie immer sonst gearteten Bestandteile. Ein schon genanntes Bei­ spiel ist die Zerlegung der Sonne in die formale Gestalt der Kugel mit deren Ableitungen, dem Kreis und dem kontrahierten Punkt, in die materielle Substanz »Gold« oder »hartes Metall«, in das Element »Feuer«, in die Farbqualität »gelb«, die Tastqualität »brennend heiß«, die Habitualität »Wohlbefinden«, »Wachsen und Gedeihen«, die Zeitangabe ihres Auftretens, den Tag, usw. oder die Zerlegung des Mondes in die formalen Bestimmungen »Scheibe«, »Sichel«, »wech­ selnde Form«, die materialen Bestimmungen »Silber«, »Stahl«, die Farbqualität »silbrigweiß«, die Tastqualität »kühl«, die Habitualität »Ruhe«, »Stille«, die Zeitangabe »Nacht« usw. Jedes dieser das Ins­ gesamt konstituierenden Momente verweist auf das Ganze wie auf jedes andere Moment, tritt also repräsentativ und austauschbar auf. Das Analogiedenken hat den Charakter des pars pro toto, bei dem der Teil für das Ganze steht, das Ganze verkörpert, nicht nur in dem Sinne, daß ein quantitativer Ausschnitt das Ganze vertritt, z. B. ein Getreidekorn die gesamte Ernte oder ein Erdklumpen das ganze Feld, sondern auch in dem, daß eine qualitative Bestimmung Indikator der anderen Bestimmungen ist, z. B. die gelbe Farbe Indikator für Feuer und Flamme, die Scheibe Indikator für Sonne, ebenso für Gold. Diese Polysemie erklärt das abrupte, instantane Umschlagen der Bestand­ teile ineinander, ihre Oszillation. Die Tatsache, daß jedes Moment turmystik der Renaissance, a.a.O., S. 117-143; ders.: Die Kategorie der morphologi­ schen Symmetrie in Agrippas Magie, a.a.O., S. 144-183. 224

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Der analogische Rationalitätstypus

sich seihst und auch andere bezeichnet, kann instrumentalisiert wer­ den. (2.) Eine zweite Form der Analogiebildung liegt vor im Falle räumlich-zeitlicher Kontiguität, wie sie sowohl hei simultanem Ne­ beneinander wie hei sukzessivem Nacheinander vorkommt. Diese nachbarschaftliche Affinität ist auch unter dem Namen convenientia bekannt. Die Ursache derselben kann zweifacher Art sein: Entweder geht die Ähnlichkeit bei der Koexistenz auf das Zusammenwachsen ursprünglich getrennter und verschiedener Entitäten zurück. Räum­ lich-zeitliche Nachbarschaft kann eine assimilierende Wirkung haben, wie dies häufig bei Ehepartnern zu beobachten ist, die trotz verschiedener Physiognomie, Herkunft, Erziehung und Bildung auf­ grund gleicher Umgebung, gleicher materieller und geistiger Nah­ rung, gleicher Betätigung usw. sich angleichen. Oder aber eine tiefer­ liegende Ähnlichkeit erklärt die Zusammengehörigkeit äußerlich verschiedener Dinge. So unterstellen beispielsweise die Humanisten, daß das Geweih auf dem Kopf des Hirsches pflanzliches Gebüsch sei und der Bart des Mannes Grasbüschel. Wie sich Moos und Flechten auf dem Gehäuse von Schnecken ansiedeln und mit diesem eine Symbiose eingehen, so sollen auch Hirsch und Gebüsch, Mann und Grasbüschel symbiotisch zusammengehen und auf eine tieferliegen­ de Einheit von Tier und Pflanze deuten, auf den Zoophyten.20 H. Cardanus faßt in seinem Buch De subtilitate eine Kontiguität von Pflanzen und Metallen ins Auge, wahrscheinlich aufgrund der Beobachtung pflanzlicher Einschlüsse im Gestein oder auch aufgrund der Ähnlichkeit baumartig verzweigter Silber- oder sonstiger Erz­ adern im Gestein mit Bäumen, was auf eine ursprüngliche Einheit zu deuten scheint. »Man begreift, daß Metalle leben, durch das folgende Argument, nämlich weil im Gestein [die Metalle] gleichsam wie Blumen und Früchte entstehen, und zwar nicht anders als Pflanzen mit weit ausgebreiteten Zweigen, Wur­ zeln, Stämmen, so daß das Metall oder die metallische Substanz nichts ande­ res als eine verborgene Pflanze ist.«21

20 Vgl. U. Aldrovandi: Monstrorvm historia cvm paralipomenis historiae omnium ani-

malium, Bononiae 1642, S. 663 f. 21 H. Cardanus: De subtilitate libri XXI, in: Opera omnia. Faksimile-Neudruck der Aus­ gabe Lyon 1663 mit einer Einleitung von A. Buck, 10 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, Bd. 3, S. 440: »[...] metallica viuere etiam hoc argumento deprehenditur, quöd in montibus non secus ac plantae nascuntur, patulis siquidem ramis, radicibus, truncis, ac ^ 225

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In der pseudoparacelsischen Schrift Philosophia ad Athenienses11 fin­ det sich eine Zuordnung diverser Dinge zu den vier Elementen. Wie diese aus einer Urmutter, dem ungeschaffenen mysterium magnum, hervorgegangen sind, so sind sie selbst auch »Mütter« für die aus ihnen hervorgehenden Dinge. So wird dem Wasser alles Wäßrige zu­ geordnet, Brunnen, Bäche, Meere, aber auch Fische aller Art und Stei­ ne wie Bernstein, Beryll, Kristall, Amethyst, desgleichen Steinge­ wächse wie Korallen, sodann Flußwesen wie Nymphen und Sirenen. Der Erde kommt alles Erdartige zu, Metalle, Mineralien, Edelsteine, Pflanzen und Kräuter, Tiere und Menschen, aber auch Erdgeister wie Gnome, Nachttraute und Riesen, der Luft ihrerseits das Unsichtbare und Unbegreifliche, wozu Schicksale (/ata), Eindrücke (impressiones), Träume (somnia), Gesichte (visiones) gehören, ebenso die »luftischen reden, gedanken und taten«13 und schließlich dem Feuer das ihm Gleichartige wie der Himmel mit Sternen und Planeten, Blitz und Donner, außerdem bestimmte körperliche Wesen, bestimmte Steine wie Kalkstein und Farben. Zugleich ist es Lebens- und Wachs­ tumselement, das sich in der Flamme als lebendige Seele zeigt. Die Zuordnung der diversen Gegenstände zu den jeweiligen Be­ reichen erfolgt teils aufgrund der Selbigkeit der Substanz (Wasser Bach, Meer), teils aufgrund der Selbigkeit der Eigenschaften (Luft luftige Rede), der Selbigkeit der Kräfte (Feuer - belebendes Prinzip) oder der Selbigkeit des Ortes und der Umgebung (Wasser - Wasser­ tiere und -pflanzen). Jedes Ding hat teil am gemeinsamen Ursprung, sei es kraft seiner Herkunft aus diesem über Ableitungsstufen unter Bewahrung von Inhalten und Formen, sei es kraft Zugehörigkeit zu einem assoziativen Ganzen.14 So ist der Fisch nicht ohne Wasser denkbar, die Pflanze nicht ohne Erdreich. Wie der erste zum Flüssi-* 11 veluti floribus, ac fructibus, vt non aliud sit metallum, aut metallica substantia, quam planta sepulta [...]« (Übersetzung von der Verfasserin). 11 Th. B. von Hohenheim, genannt Paracelsus: Sämtliche Werke, 1. Abt.: Medizinische, naturwissenscha/tliche und philosophische Schriften, hrsg. von K. Sudhoff, 14 Bde., München, Berlin 1922-1933, Reg.-Bd. von M. Müller (Nova Acta Paracelsica, Supplementum, Einsiedeln I960), Bd. 13, S. 394-399 (Buch 1, Text 11-10). 13 A.a. O. S. 398 (Buch 1, Text 19). 14 Ein Beispiel für diese Auffassung begegnet noch in Goethes weltanschaulichen Ge­ dichten (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, a.a.O., Bd. 1, S. 367): »Wär nicht das Auge sonnenhaft Die Sonne könnt' es nie erblicken; Läg' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt' uns Göttliches entzücken?« 116

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gen als seinem Lebenselement gehört und Anteil am Element des Wassers hat, so gehört die letzte zum Erdreich und hat Anteil am Element der Erde. (3.) Eine dritte Form analoger Beziehung von Instanzen aufein­ ander liegt vor bei räumlicher und zeitlicher Trennung derselben. Sie besteht über räumliche und zeitliche Sprünge hinweg, selbst bei ex­ tremer Distanz, und ist im eigentlichen Sinne unabhängig von Raum und Zeit. Diese als aemulatio bekannte Analogieform ist zum einen an­ zutreffen bei ähnlichen Gegenständen, die sich über Ableitungsket­ ten herausgebildet haben, deren letztes Glied noch Ähnlichkeit mit dem ersten aufweist wie im Falle von Ururenkel und Urahn, oder die über Reduplikation oder symmetrische Spiegelung entstanden sind und sich im letzteren Fall wie Position und Negation zueinander ver­ halten wie das ungeheure Sternenmeer am Himmel und die unzäh­ ligen sternblütigen Pflanzen auf der Erde. Zum anderen ist sie bei unähnlichen Dingen anzutreffen, sofern diese über die Koexistenz im Leitphänomen zusammengehören. So bilden der Mensch und sein Kleid, die Person und ihr Name oder auch ihr Fußabdruck eine Ein­ heit, was im magisch-mythischen Denken von Naturvölkern eine Rolle spielt, da das Kleid oder andere Accessoires eines Kriegers nicht in die Hände des feindlichen Stammes geraten dürfen, damit dieser nicht Macht über jenen und seinen Stamm gewinne. Auch der Na­ mens- und Bildzauber hat hier seinen Ursprung. Beispiele für Ähnlichkeitsbeziehungen unabhängig von Raum und Zeit bilden die physiologischen Analogien, die die Basis für die vergleichende Anatomie abgeben. Die heutige vergleichende Anatomie geht auf Studien Pierre Belons zurück, der vergleichende Tafeln zwischen Menschen- und Vogelskelett aufstellte und dabei entdeckte, daß die Extremitäten des Menschen den Flügeln und Greiforganen der Vögel entsprechen und der menschliche Knochenbau, was Hände und Füße mit je vier Fingern und einem Daumen bzw. vier Zehen und einem großen Zeh betrifft, dem architektonischen Grundriß der Flügel und Greiforgane mit vier Krallen und einer großen Hinterkralle gleicht.25 Nicht weni­ ger bekannt sind die Tier- und Pflanzenanalogien, die in der Pflanze 25 Vgl. P. Belon du Mans: L'histoire de la nature des oyseaux, avec leurs descriptions, &

naifs portraicts. Fac=simile de l'edition de 1555, avec introduction et notes par Ph. Glardon, Genf 1997, S. 38ff. (chap. XII). ^ 227

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ein umgestülptes Tier sehen, das seine nahrungsaufnehmenden Or­ gane, den Mund und die Kauwerkzeuge, in Form von Wurzeln ins Erdreich senkt. Auch die inverse Analogie ist geläufig, derzufolge der tierische Bau aus Kopf, Rumpf und Füßen dem pflanzlichen Bau aus Blüte, Stengel und Wurzeln entspricht und der Adernfluß der Tiere genau wie der Säftefluß der Pflanze von unten nach oben ver­ läuft, indem er im unteren Teil des Bauches beginnt und zum Herzen und Kopf aufsteigt. Die über räumliche und zeitliche Distanzen sich erstreckenden Analogien erschließen sich nicht nur dem theoretischen Verständnis, sondern werden auch in der Praxis genutzt, z. B. in der Medizin für homöopathische Zwecke, in der Psychologie für Analyse, Hypnose, Trance, Ekstase und Suggestion, in der Astrologie und Chiromantie für Zukunftsprognosen und in der Zauberei und Hexerei für positive wie negative Einflußnahme. So versucht der Homöopath Kopf­ schmerzen durch die Verabreichung von Walnüssen zu lindern, da nach dem Gesetz der Ähnlichkeit das Innere der Walnüsse ähnliche Windungen und Schlingen aufweist wie das Gehirn und somit eine Affinität zu diesem hat. Während die Wunden des Gehirnschädels durch die dicke grüne Schale, die dem Walnußkern aufliegt, geheilt werden sollen, sollen sich die inneren Kopfschmerzen nur durch den Kern selbst bekämpfen lassen, der dem Gehirn gleicht.26 Die Samen des Eisenhuts, die aus kleinen schwarzen Kügelchen in weißen Scha­ len bestehen und das Aussehen von Augenlidern haben, dienen als Augenheilmittel. Für den Homöopathen gilt es, die Signaturen der Natur zu lesen und zu verstehen und Beziehungen der Ähnlichkeit oder Isomorphie aufzudecken. Die Chiromantie deutet aus den Handlinien zukünftige Schicksalskonstellationen, die in Zusammen­ hang mit der Gesamtpersönlichkeit und ihrer Verhaltensdisposition stehen. So sind lange Linien das Bild für ein langes Leben, kurze das für ein kurzes. Sich kreuzende Linien deuten auf die Begegnung mit Hindernissen und Gefahren, aufrechte auf Erfolg. Die Breite der Li­ nien ist ein Zeichen für Ansehen und Reichtum, die Kontinuität für

26 Vgl. O. Crollius: Tractatus De Signaturis Internis Rerum, Seu De Vera Et Viva Ana-

tomia Majoris Et minoris mundi, abgedruckt in: Basilica Chymica, Frankfurt 1609, S. 17. Wiederabdruck in: O. Crollius: De signaturis internis rerum. Die lateinische Editio princeps (1609) und die deutsche Erstübersetzung (1623), hrsg. und eingeleitet von E. Kühlmann und J. Telle, Stuttgart 1996, S. 94. 228

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Glück und die Diskontinuität für Ungemach.27 28 Entsprechendes gilt für die Astrologie, die aus planetarischen Konstellationen auf ent­ sprechende Konstellationen im Schicksal des Menschen schließt und daraus Einflüsse ahleitet. Wie sehr selbst das alltägliche Lehen von solchen Vorstellungen beherrscht ist, etwa die Feld- und Gartenhestellung, was den Zeitpunkt des Aussäens, Pflanzens und Erntens betrifft, geht aus unzähligen diesbezüglichen Anleitungen hervor, die in der Gegenwart Hochkonjunktur haben.

5. Die Logik des Analogiedenkens Als Grundlage des Analogiedenkens erweist sich die Alleinheitsvor­ stellung, die in begrifflicher Notation besagt, daß Alles Eines und Eines Alles sei. Das Analogiedenken versucht die Explikation dieser totalen Einheit durch ein hochkomplexes und hochkompliziertes Re­ lationssystem vertikaler, horizontaler und zyklischer Verweise, in dem Abhängigkeiten linearer wie verzweigter Art, Reduplikationen, Symmetrien, Polaritäten, Rotationssymmetrien usw. vorkommen, so daß auf geregelten Wegen die Verbindung jedes mit jedem nachvoll­ zogen werden kann. Wenn die These von der zugrundeliegenden Alleinheit auch eine Verabsolutierung darstellt, so findet sie eine zumindest partielle phänomenale Stütze in den sogenannten überdeterminierten Phäno­ menen, wie sie aus der Wahrnehmungspsychologie bekannt sind, aus Kippfiguren wie der Rubinschen Becherfigur, die einmal eine griechi­ sche Amphora, dann zwei sich anblickende Gesichter zeigt, aus Vexierspielen, die aus einer Konfiguration plötzlich in eine andere umschlagen und wieder zurück, aus Zwitterphänomenen, die unent­ schieden lassen, ob man z. B. bei einem flüchtigen Blick in ein Schau­ fenster eine Schaufensterpuppe oder eine lebendige Person sieht, aus den Escherschen Figuren, die eine Treppe zeigen, die nicht nur aufund absteigt, sondern sich im Kreise dreht.27 28 27 Vgl. H. Cardanus: Metoposcopie libris tredecim, et octogingentis faciei humanae ei-

conibus complexa, Paris 1658, S. III—VIII, vgl. den Nachdruck Opera omnia, a.a.O., Bd. 1, Praefatio. 28 Dem Schriftbild fällt dieselbe Rolle zu. Es spiegelt konstitutive Züge und Charakter­ merkmale eines Menschen, die auch zur Prognose für dessen zukünftige Schicksalskon­ stellationen herangezogen werden können, da sich ein Mensch mit diesen oder jenen Eigenarten stets in einer bestimmten Weise in bestimmten Situationen verhalten wird. ^ 229

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Künstlerisch verwendet werden diese Phänomene von der Ma­ lerei und Plastik. Gerade die Kunst Arcimholdos ist voll von solchen Umschlagsphänomenen von der anthropomorphen Ehene in die hotanische und die jahreszeitliche und umgekehrt. Einmal aufmerksam geworden auf diese amhivalenten Phänomene, entdeckt man sie in der Physik hei der quantentheoretischen Interpretation des Lichts als Welle und Teilchen, nicht weniger in der Psychologie hei der Aus­ deutung von Träumen, die häufig Gegenphänomene zur Wirklichkeit sind, in der Sprache, inshesondere in den älteren morphologischen Schichten des Ägyptischen, Semitischen, aher auch der europäischen Sprachen, in denen Wörter Gegensinne vereinigen können, z. B. das lateinische altus, das »hoch« wie »tief« hedeutet, oder das englische down, das »Berg« wie »Tal« (»nieder«) meint, das deutsche »Boden«, das sowohl den »Dach-« wie den »Fußhoden« (»Höchstes« wie »Grund«) hezeichnet. Wie diese Beispiele erkennen lassen, sind mit­ nichten alle Phänomene eindeutig, vielmehr giht es eine Vielzahl mehrdeutiger, die von einer Instanz in die andere umschlagen und in der Alleinheitsvorstellung zur ahsoluten Üherdetermination ge­ steigert sind. Das ontologische Suhstrat dieser Diaphanität, dieses Durchscheinens mehrerer oder aller Instanzen in einer, dieses Verweisens und Transzendierens kann nur als Fluidität gedacht werden, nicht als starres, festes Sein. Unsere gängige Ontologie mit ihrer festen Gegenstandsauffassung wäre danach zu ersetzen durch eine dynamische Theorie. Angesichts der Tatsache, daß das Analogiedenken dieses Flui­ dum durch ein hochkomplexes Relations- und Verweisungssystem einzufangen versucht, stellt sich die Frage nach dem in ihm herr­ schenden Logiktypus und dessen Verhältnis zur klassischen Logik. Bleiht die traditionelle zweiwertige Logik grundsätzlich in Geltung und hedarf lediglich einer Komplettierung durch eine mehrwertige Logik, oder ist sie durch eine Alternativlogik zu ersetzen? Im Unterschied zum Analogiedenken oktroyiert das klassische Rationalitäts- und Wissenschaftsverständnis der ontologischen Grundlage ein relativ simples und daher für die Wissenschaft hesonders geeignetes System, das zu einer statischen Gegenstandsauffas­ sung führt, die den Gegenstand als äußerlich wie innerlich wohlhestimmtes Ohjekt interpretiert, das nach außen gegenüher anderen Ohjekten scharf ahgegrenzt und nach innen hinsichtlich seiner Merkmale differenziert und durchgegliedert ist. Zugrunde liegt die­ ser Auffassung die Idee einer vollständigen und durchgängigen Be230

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Stimmung des Gegenstands, derzufolge diesem von der Totalität möglicher Prädikate jeweils das eine zukommt, das andere nicht. Den Leitfaden bildet die dihairetische Klasseneinteilung, im Idealfall die Dichotomie, die die Gattung in zwei und nur zwei Arten und entsprechend in zwei und nur zwei Unterarten usw. einteilt, so daß jeder Gegenstand ein individuelles System möglicher Prädikate ist, wobei sich die Vielheit und Verschiedenheit der Gegenstände durch sukzessiv graduelle Kombination der Prädikate ergibt. Ohne dieses Schema durchgängiger und exklusiver Bestimmung hätte das die klassische Logik charakterisierende Binaritätsprinzip, das alle Grund­ sätze durchzieht und die beiden Werte »wahr« und »falsch« umfaßt, keinen Ansatzpunkt. Es allein erklärt die Geltung der logischen Axiome, desjenigen der Identität, das die durchgängige Gleichheit des Gegenstands mit sich postuliert, desjenigen des auszuschließen­ den Widerspruchs, das fordert, daß ein durch ein bestimmtes Prädikat definierter Gegenstand nicht zugleich durch ein kontradiktorisches bestimmt sein darf, und desjenigen des ausgeschlossenen Dritten, das besagt, daß ein Gegenstand nur A oder non A = B sein kann, nicht aber beides zugleich. Versucht nun ein Rationalitätstypus wie das Analogiedenken der Wirklichkeit als Fluidität gerecht zu werden, dann zeigen sich die Grenzen der klassischen Logik. Es ist dann zwar immer noch möglich, sich auf der Oberfläche dieses Fluidums scharf umrissene Gegenstände, Kristallisationspunkten gleich, zu denken, die den Axiomen der klassischen Logik genügen29, doch die Diskrepanz zum fluktuierenden Untergrund bleibt unübersehbar. Andererseits droht als Konsequenz aus der Identifizierung des analogischen Denkens mit dem fluktuierenden Untergrund eine logische Anarchie, die nicht nur den Satz des ausgeschlossenen Dritten in Mitleidenschaft zieht und anstelle des Entweder-Oder das Sowohl-als-auch von A und non A = B setzt, sondern auch den Satz der Identität und den des aus­ zuschließenden Widerspruchs. Wenn alles in jedem ohne Exklusion des Widerspruchs enthalten ist, stellt sich der aus der mittelalter­ lichen Scholastik bekannte aussagenlogische Satz ex contradictione quodlibet sequitur ein, wonach aus Widersprüchlichem alles Mögli­ che, Wahres wie Falsches, folgt. Auf die Behebung dieser Konsequenz zielen mehrere Lösungsvorschläge: 29 Hier legt sich ein Vergleich mit Schellings Theorie der Objekte nahe, die diese mit Wirbeln auf dem Untergrund eines ständig fließenden Lebensprozesses vergleicht.

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(1.) Die erste Reaktion, die drohende Gefahr einer logischen Anarchie zu bannen, besteht in dem Versuch, an der vertrauten zweiwertigen Logik mit ihren Axiomen festzuhalten, jedoch durch Einführung von Zusatzargumenten die Logik den kritischen Phäno­ menen anzupassen. Ein solcher Versuch liegt vor in der sogenannten epistemischen Logik, die über die logische Strukturierung der Ge­ genstände in Aussagen hinaus epistemische Parameter einführt, wie »angenommen«, »behauptet«, »bewiesen«, »gewußt«, »geglaubt«, »verworfen«, usw., die die Art und Weise der Zuschreibung der Wahrheitswerte zu den Aussagen betreffen. Wie auch sonst Wider­ sprüche durch Einführung von Parametern, etwa eines Zeitparame­ ters, vermieden werden, z.B. der widersprüchliche Satz »Peter ist groß und klein« durch Einführung von Zeitpunkten t1 (Kindheit), t2 (Erwachsenenalter), auf die die kontradiktorischen Zustände ver­ teilt werden, so dient hier der zusätzliche epistemische Parameter zur Behebung der Widersprüchlichkeit. Von Relevanz ist in diesem Kontext der Parameter der Entschiedenheit.30 Ist z.B. A die Klasse mit A als einzigem Element und soll bezüglich des kritischen über­ determinierten Phänomens, das AB impliziert, gesagt werden, ob AB zu A gehört oder nicht, so scheint zunächst keine der möglichen Alternativen »AB ist Element von A« oder »AB ist nicht Element von A« zuzutreffen und damit der Satz des tertium non datur wider­ legt zu sein. Gemäß dem Vorschlag der epistemischen Logik zieht man sich jedoch auf die Weise aus der Schlinge, daß man die tatsäch­ liche Unentschiedenheit der Situation konstatiert, wonach eine Wahrheitslücke klafft, die nur durch Entschiedenheit überwunden werden kann, etwa in dem Sinne, daß entschieden ist, daß AB Ele­ ment von A ist, oder entschieden ist, daß AB nicht Element von A ist. In diesem Fall erhält man kontradiktorische Aussagen, von de­ nen nicht die eine, sondern beide falsch und zurückzuweisen sind. Das Festhalten an der traditionellen binären Logik wird hier er­ kauft um den Preis ihrer universellen Geltung. Verliert jedoch die klassische Logik ihren Anspruch auf Universalität, so decouvriert sie sich als ein artifizielles Gebilde von beschränktem Umfang, das keine Fundierung im Sein hat und daher jederzeit von diesem aus attakkierbar und revidierbar ist. Sie hält sich nur durch den Ausschluß der

30 Vgl. den Vorschlag von Hermann Schmitz in seinem Buch System der Philosophie,

Bd. 1, Bonn 1964, S. 325 ff., bes. S. 327f. 232

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Offenheit und Transitivität des Seins am Lehen, wohl wissend, daß sie diese letztlich nicht auszuschließen vermag. (2.) Ein zweiter Lösungsvorschlag zielt auf eine Revision der klassischen Logik durch Erweiterung zur mehrwertigen Logik. Dies geschieht durch Einführung von Quasi-Wahrheitswerten wie »halhwahr«, »weiche Negation«, »unhestimmt«, »Wahrheitsgrade« usw. Die Konsequenz ist die Suspendierung des dritten logischen Grund­ satzes, des tertium non datur. Bei Sluckij geschieht dies nach dem Vorgang von Lukasiewicz und Wajsherg durch Einführung einer dreiwertigen Logik, die außer »wahr« und »falsch« den Wert »halhwahr« henutzt, der, ins Um­ gangssprachliche übersetzt, ein »Jein« hedeutet, so wie wenn die Lauen auf die Frage, oh sie an Gott glauhen, mit einem halhherzigen, zwischen Ja und Nein gelegenen »Jein« antworten. Blau31 schreiht jedem Prädikat außer einem Positiv- und einem Negativhereich einen Neutralhereich zu und erteilt elementaren Sät­ zen den Wahrheitswert »unhestimmt«, wenn das Suhjekt im Vagheitshereich des Prädikats liegt. Zadeh32, ein amerikanischer Systemtheoretiker, charakterisiert unscharfe Mengen (fuzzy sets) durch Grade von wahr und falsch, wohei er sämtliche reellen Zahlen zwischen 0 und 1 zugrunde legt, also die unendliche Menge derselhen (M rc>) als Menge der möglichen Enthaltenseinswerte der Elemente in unscharfen Mengen nimmt. Der Nachteil dieser drei- und mehrwertigen Logiken ist der, je­ den heliehigen Satz in einen halhwahren üherführen zu können. Auf der Flucht vor der Skylla »Inkonsistenz« läuft man hier in den Ra­ chen der Charyhdis, nämlich in die Akzeptanz halhwahrer Sätze. (3.) Auf Rescher und Brandom33 geht der Vorschlag zur Ein­ führung von non-standard worlds zurück, die aus der Verletzung von Axiomen der klassischen Logik resultieren, die die Standard worlds heschreihen. Während die Verletzung des Satzes vom aus­ geschlossenen Dritten die sogenannte schematische non-standard 31 U. Blau: Zur 3-wertigen Logik der natürlichen Sprache, in: Papiere zur Linguistik, 4

(1973), S. 20-96; ders.: Die dreiwertige Logik der Sprache: ihre Syntax, Semantik und Anwendung in der Sprachanalyse, Berlin, New York 1977. 32 L. A. Zadeh: Puzzy Sets, in: Information and Control, Bd. 8 (1965), S. 338-353. 33 N. Rescher and R. Brandom: The Logic of Inconsistency. A Study in Non-Standard Possihle-World Semantics and Ontology, Oxford 1980. Vgl. Ch. Struh: Kalkulierte Ab­ surditäten. Versuch einer historisch reflektierten sprachanalytischen Metaphorologie, Freihurg, München 1991, S. 438 ff. ^ 233

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world ergibt, in der weder P noch non P gilt, ergibt die Verletzung des Satzes vom verbotenen Widerspruch die sogenannte inkonsistente non-standard world, in der sowohl P wie non P gilt. Bezeichnet der erste Typus von Welt »ontological underdetermination«, so der zwei­ te »ontological overdetermination«34. Wichtig ist für Rescher und Brandom die Annahme, daß auch die inkonsistenten Welten nicht unmöglich sind; denn behauptet wird in ihnen nicht, daß wahr sei, daß P und non P gelten, sondern nur, daß wahr sei, daß P, und daß wahr sei, daß non P gilt, wobei beide Wahrheitsbehauptungen strikt unabhängig voneinander sind. P und non P gehören folglich unter­ schiedlichen Systemen an, deren jedes nur für sich existieren und bewußt werden kann. Die non-standard worlds fallen somit im Grunde mit epistemischen Einstellungen zur Welt zusammen und unterliegen deshalb derselben Kritik. (4.) In der letzten Zeit wird häufig die Mehrweltentheorie dis­ kutiert, speziell im Kontext der Quantentheorie, was nicht zufällig ist, da das Licht bzw. elektromagnetische Phänomene zwei wider­ streitende, jedoch komplementär aufeinander bezogene Naturen auf­ weisen, Teilchen- und Feldnatur. So schlägt Everett35 bezüglich der Welt als objektive Beschreibung eine unreduzierte Wellenfunktion vor. Da nun jedes Meßresultat aufgrund der Irreversibilität des Meß­ vorgangs eine bestimmte Entscheidung impliziert, die in einer Re­ duktion des Gesamtwellenpakets besteht und allein dem jeweiligen Beobachter bekannt ist und seine Welt konstituiert, reduziert sich für ihn die Welt auf dieses bestimmte Resultat ohne Kenntnis der ande­ ren Meßergebnisse in den übrigen Zweigen der Wellenfunktion. Nur ein Supertheoretiker, ein übermenschlicher oder göttlicher Geist, könnte alle Meßresultate gleichzeitig überblicken. Für einen menschlichen Beobachter sind aufgrund seiner Endlichkeit die beiden komplementären Eigenschaften »Welle« und »Teilchen« bei der Messung des Lichts nie zugleich zugänglich, vielmehr verteilen sie sich auf verschiedene, voneinander unabhängige Beobachtungssitua­ tionen. Nichts anderes drückt die Heisenbergsche Unschärferelation aus, derzufolge Orts- und Impulsmessung nicht gleichzeitig exakt möglich sind. 34 N. Rescher and R. Brandom: The Logic of Inconsistency, a.a.O., S. 5. 35 Vgl. H. Everett: »Relative State« Formulation of Quantum Mechanics, in: Review of

Modern Physics, Bd. 29 (1957), S. 454-462; ders: The Theory of Universal Wave Functi­ on, in: B. S. de Witt and N. Graham (Hrsg.): The Many Worlds Interpretation of Quan­ tum Mechanics, Princeton, N. J., The University Press, 1973, S. 3-140. 234

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Ebenso wie die komplementären Eigenschaften »Feld« und »Teilchen« in der Quantentheorie lassen sich auch die ambivalenten oder polymorphen Eigenschaften überdeterminierter Phänomene auf verschiedene unabhängige Welten verteilen, so daß die Frage vi­ rulent wird, wie ihre Zusammengehörigkeit dennoch auszumachen sei. Im Nachgang dieser Frage gelangt man zu der Überzeugung, daß die Mehrweltentheorie mit der klassischen Logik und ihren Axiomen in einem ersten Schritt durchaus kompatibel gedacht wer­ den kann. Jede der selbständigen, voneinander unabhängigen Welten könnte gemäß der zweiwertigen Logik strukturiert sein, ein in sich konsistentes und kohärentes System darstellen, sogar auf der Basis der Idee einer durchgängigen und vollständigen Bestimmung des Ge­ genstands gemäß dem dichotomischen Einteilungsschema von genus proximum per differentiam specificam, also einen pyramidalen Bau mit über- und untergeordneten Gattungen, Arten und Unterarten repräsentieren. Während der Zusammenhalt der Teile des jeweiligen Gegen­ standssystems hier durch die Einheit der Gattung garantiert wird und die interne Gliederung am Leitfaden der Spezifikation bzw. Generalisation erfolgt, könnte dies von der Zuordnung der diversen Welten (Gegenstandssysteme) zueinander nicht mehr gesagt werden, da die Einnahme eines archimedischen Standpunktes wie desjenigen des Supertheoretikers für das endliche Erkenntnissubjekt nicht möglich ist, sondern die Betrachtung ihren Ausgang von der jeweili­ gen Welt des Beobachters nehmen muß. Die Verbindung der diversen Gegenstandssysteme, sei es in Form von Verweis oder Transitus, kann hier nur entlang transversaler Linien erfolgen, die quer durch die Sy­ steme hindurchgehen und diverse Individuen, diverse Arten, diverse Gattungen miteinander verbinden: Tiere, Pflanzen, Steine, Minera­ lien, Farben, Befindlichkeiten usw., wie dies an den Analogiereihen Agrippas sichtbar wurde. Jeder einzelne Teil eines Gegenstands­ systems hat einen Transzendenzcharakter auf alle anderen korrelati­ ven und komplementären Teile der anderen Gegenstandssysteme und über diese auf das Ganze. Er steht damit pars pro toto. In einem zweiten Schritt jedoch müßten die nach der klassischen Logik organisierten, transversal verbundenen Gegenstandssysteme aufgelöst werden nach demselben Prinzip, nach dem sie unterein­ ander verbunden sind. Die anscheinend fest umrissenen Dinge, Ei­ genschaften und Sachverhalte müssen ihrerseits nach dem Vorbild ^ 235

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von Welle und Teilchen interpretiert und auf verschiedene Subsyste­ me verteilt werden und so in infinitum, so daß sich das Ganze auflöst in ein durchgängiges Relationsgeflecht mit relativen Teilen. Feste Bestandteile entpuppen sich nur als Bündelungen komplexer Ver­ hältnisse - Knotenpunkten, Symbolen gleich. In einem solchen Sy­ stem sind die klassischen Axiome der Identität, des auszuschließen­ den Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten stets nur vorläufig und letztlich außer Kraft gesetzt. Es ist diese Relativität und Komplexität, die das Analogiedenken mit seiner Logik für die auf Simplizität, Präzision und Exaktheit abhebende Wissenschaft un­ geeignet macht und letztlich zu seiner Verdrängung geführt hat.

6. Die semantischen (ikonographischen) Analogien in den Bildern Arcimboldos Nach diesen Ausführungen ist noch einmal auf den Jahreszeiten­ zyklus Arcimboldos zurückzukommen und eine Interpretation des­ selben gemäß Analogiegesetzen vorzunehmen. Denn es ist unschwer erkennbar, daß es sich bei den Bildern um hochartifizielle und hoch­ intellektuelle Produkte handelt, die wie oft in der Renaissance Anlaß zu gelehrten Diskussionen und kommentierenden Gedichten gaben. Auf den Zusammenhang dieser manieristischen Kunst mit dem rhe­ torischen Stil ist in der Kunsttheorie schon des öfteren hingewiesen worden. So nennt Roland Barthes36 Arcimboldo »un rhetoricien« und seine Werke »un vrai laboratoire de tropes«. Die Bilder repräsentieren einen Zyklus von Menschenantlitzen aus diversen Lebensperioden: Jugend, Reife, Mannes-, Greisenalter, welcher durch einen Zyklus von Naturprodukten: Blütenknospen, reifenden, gereiften Früchten, verdorrten Wurzeln und Ästen expli­ ziert wird, der seinerseits dem Zyklus der Jahreszeiten entspricht. Trotz der Diversität der Ebenen, der anthropologischen, biologischen (botanischen) und jahreszeitlich-astronomischen, sticht die physiolo­ gische Ähnlichkeit ins Auge. Das allen Gemeinsame ist der Lebens­ prozeß, der sich auf anthropologischer Ebene als Zyklus der Lebens­ alter darstellt, auf biologischer als Zyklus des Wachsens, Reifens und Verfallens und auf astronomischer als Zyklus der Jahreszeiten. Wir begegnen hier einem gemeinsamen Substrat bzw. einem gemein­ 36 R. Barthes: Arcimboldo, introduction par A. B. Oliva, Parma 1978, S. 30. 236

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samen Gesetz, das auf verschiedenen Ebenen gemäß den Bedingun­ gen der jeweiligen Ebene wiederkehrt und deren Zusammenhang ga­ rantiert. Was für den Zyklus im ganzen gilt, gilt auch für jeden seiner Teile. So besteht eine physiognomische Ähnlichkeit zwischen dem jugendlichen, »blühenden« Gesicht des jungen Mannes und der Blü­ tenfülle des Frühlings, den geformten Gesichtszügen des reifen Man­ nes und den reifen Früchten des Sommers, dem ausgeprägten, aus­ gereiften Gesicht des gesetzten Mannes und den Vollreifen Beeren, Trauben und Früchten des Herbstes sowie dem verwelkten, runzligen Gesicht des Greises und dem abgestorbenen, kahlen, knorrigen Wur­ zel- und Ästewerk des Winters. Die Ähnlichkeit und die auf ihr basierende Analogie reicht bis ins Detail. Der jugendlichen wohlgeformten Nase entspricht die noch geschlossene Lilienknospe, der gurkenförmigen Nase die gebogene Gurke, der knollenförmigen die Kartoffelknolle. Auf den Wangen des jungen Mannes prangen rote und weiße Rosen und Nelken; die vollen Pausbacken des reifen Mannes sind Vollreife Äpfel, die bac­ chantischen Züge des gereiften, trunkenen Mannes resultieren von überreifen Trauben und Beeren, der Bart des Alten wird durch Stop­ peln und Wurzeln dargestellt, sein aufgequollener, schiefer Mund durch einen schwammigen Pilz. Jedes Detail auf anthropologischer Ebene zeigt eine physiognomische Ähnlichkeit mit jedem Detail der botanischen. Dies setzt sich bis in die Sprache hinein fort, sprechen wir doch von blühender Jugend, vom knorrigen Alten, von Bartstop­ peln analog den Ährenstoppeln. Das Spezifikum dieser Bilderserie, das, was künstlerisch ihre Ge­ nialität ausmacht, besteht in der räumlich-zeitlichen Überlagerung diverser Ebenen, Prozesse und Gestalten. Sie ist der Grund für den ständigen Umschlag der Ebenen und ihrer Elemente ineinander. Jede indiziert eine andere oder transmutiert in eine andere. Was in den Analogietafeln der Renaissance parallel untereinander geordnet ist oder in dem Modell konzentrischer Kreise konzentrisch, fällt hier signifikanterweise zusammen. Die scheinbar vorhandenen mensch­ lichen Gesichter gehen tatsächlich auf Kombinationen von Blüten, Früchten, Wurzeln und Ästen zurück, die zarte Haut des Jünglings wird vorgetäuscht von blaßfarbenen Blumen, andererseits lassen sich aus dem Arrangement der Naturprodukte anthropomorphe Gestal­ ten herauslesen. Jede Ebene, jedes Detail hat eine doppelte Aus­ sagekraft und Wahrheit, indem sie für sich und zugleich für anderes ^ 237

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stehen. Mit dieser Ambivalenz spielt ein zwar nicht auf die vorlie­ gende Serie, wohl aber auf ein ganz ähnliches Bild, namens Flora, bezogenes Gedicht des Hofpoeten Gregorio Comanini, das ein Blu­ menmädchen zeigt: »Bin ich Flora oder nur Blume? Wenn Blume, dann wie Flora. Bin ich wie das Lachen der Blume? Und ich bin Flora. Wie Flora und nur Blume? Ach, ich bin nicht Blume, bin nicht Flora. Ich bin Flora und Blumen. Tausend Blumen und eine einzige Flora; Lebendig Blumen, lebendige Flora. Aber die Blumen machen Flora, und Flora (macht) die Blumen. Weißt du wie? Die Blumen in Flora Hat der weise Maler gesungen, und Flora in den Blumen.«37

Außer der physiologischen und physiognomischen Ähnlichkeit, die als Analogieart auf einen gleichen Ursprung zurückgeht, begegnet jene Art von Analogie, die auf der Koexistenz heterogener Momente (Substanzen, Formen, Eigenschaften, Befindlichkeiten usw.) im Leitphänomen beruht und bei Explikation den Verweis der Momente aufeinander bewahrt. Eine der markantesten Anwendungen hat diese Form in den literarischen Tropen der antiken Rhetorik.38 Bis ins De­

37 »Son'io Flora o pur fiori?

Se fior, come di Flora. Ho col sembiante il riso? E s'io son Flora, Come Flora e sol fiori? Ah non fiori son'io; non io son Flora. Anzi son Flora, e fiori. Fior mille, una sol Flora; Vivi fior, viva Flora. Pero ce i fior fan Flora, e Flora i fiori. Sai come? I fiori in Flora, Cangio saggio Pittore, e Flora in fiori.« In: W. Kriegeskorte: Giuseppe Arcimboldo, a.a.O., S. 48. 38 Vgl. dazu das folgende Unterkapitel dieser Arbeit S. 241ff. (»7. Tropen als linguisti­ sche Analogien«). 238

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tail hinein lassen sich dieselben auch in der Malerei Arcimholdos nachweisen. Metonymie als Verschiebung von einer Eigenschaft auf den Trä­ ger derselben, von einem Produkt auf den Produzierenden, von einem Resultat auf das Material und vice versa usw. herrscht in allen Fällen, wo leuchtend helle Farben auf den Frühling als Erzeuger derselben deuten, dunkle braune und schwarze auf den Winter, Rot und Weiß den Liebenden als Träger derselben anzeigen, ein bacchantisches Ge­ sicht auf Wein und Herbst als Ursache desselben weist. Synekdoche die Ersetzung eines weiteren Begriffs durch einen engeren und umge­ kehrt - liegt vor, wenn Blumen den Frühling andeuten, Früchte den Sommer, Trauben den Herbst, kahle Äste und Wurzeln den Winter. In der Funktion von Emblemata und Sinnbildern kommen Ro­ sen und Nelken vor, die für Liebe stehen, Lilien, die Reinheit und Unberührtheit anzeigen, Trauben, die auf Lebensfreude schließen lassen. Die Paronymie, die auf einer Bedeutungsverschiebung gleicher oder ähnlicher Zeichen basiert, begegnet, wenn eine Nase durch einen Hasen (Hasenscharte) oder ein Mund durch einen Fisch (Fisch­ maul) wiedergegeben wird. Das Oxymoron, die Steigerung der Gegensätzlichkeit, wie sie im Begriffspaar »schön-häßlich«, »puer-senex« vorkommt, charakte­ risiert den gesamten Bilderzyklus, insofern dieser gleicherweise schön und attraktiv wie häßlich und grotesk ist. Auch dies hat Comanini in einem Gedicht zum Vertumnus-Bild, das ein Früchteantlitz in Frontalansicht zeigt, zum Ausdruck gebracht: »So du im Anschaun nicht gewahrst Die Hässlichkeit, durch die ich schön, Weisst du auch nicht, wie Hässlichkeit Noch jede Schönheit übertrifft.«39

Wenn die hier beschriebene Analogieart auf der Assoziation hetero­ gener Momente im Leitphänomen basiert, so begegnet als dritte Art die um die Vertikale zentrierte Symmetrie. Es fällt auf, daß je zwei 39 »Se 'n mirar non t'ammiri

Del brutto, ond'io son bello, Ben non sai qual bruttezza Avanzi ogni bellezza.« Vgl. G. Maiorino: The Portrait of Eccentricity, a.a.O., S. 77, Übersetzung in: W. Krie­ geskorte: Arcimboldo, a.a.O. S. 46. ^ 239

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Profile der »Jahreszeiten«-Serie nach rechts und zwei nach links blikken. Ihnen entsprechen in der »Elementen«-Serie umgekehrt zwei links- und zwei rechtshlickende Porträts. Frühling und Luft blicken einander an, ebenso Sommer und Feuer, Herbst und Erde, Winter und Wasser. Darüber hinaus besteht eine Antithese zwischen Sommer und Winter, Feuer und Wasser ebenso wie zwischen Frühling und Herbst, Luft und Erde. Eine besondere Bedeutung kommt dem Bild mit dem Titel »Was­ ser« zu, kann es doch geradezu als eine Exemplifikation der paracelsischen bzw pseudoparacelsischen Schrift Philosophia ad Athenienses betrachtet werden. Die gesamte bekannte Wasserfauna: Fische, Repti­ lien, Muscheln, Korallen wird parataktisch aufgezählt, nebeneinander geordnet und dann insgesamt dem Element »Wasser« subordiniert. So wird verständlich, daß die räumliche Zusammengehörigkeit [convenientia) aus einer tieferliegenden Ähnlichkeit oder qualitativen Zu­ sammengehörigkeit resultiert, die ihren Ursprung im Wasser hat und die Wasserfauna als Modifikation des Wäßrigen auffaßt. Ein Netz von Analogien überzieht die Gemäldeserie. Für sie sind drei Intentionen leitend, auf die ebenfalls das Gedicht Comaninis zum Vertumnus-Bild einen Hinweis gegeben hat. Zum einen geht es um die kosmologische Entstehung, die Entstehung des Univer­ sums aus einem Urgrund, zum anderen um die jahres- und lebens­ zeitlich bedingte Zusammengehörigkeit diverser Gegenstände. Zum einen sollen die Analogien gemäß dem platonischen Schöpfungs­ bericht im Timaios die Herkunft der Elemente mitsamt ihren Zusam­ mensetzungen, mithin die Entstehung des gesamten Universums er­ klären. Dadurch daß den Köpfen [caput) alle Produkte der Natur einbeschrieben, die Elemente zugeordnet und die Jahreszeiten korre­ liert werden, wird ihre Herrschaftsfunktion über die gesamte Natur festgeschrieben und eine Hierarchie im Ausgang vom Ursprung in Verfolgung einer vertikalen Linie hergestellt. Zum anderen sollen die Analogien das Zusammenbestehen heterogener Momente - hier der jahres- und lebenszeitlich bedingten - gemäß einem paratakti­ schen, simultanen Ordnungsprinzip erklären: Wie das Frühjahr Blüten hervortreibt, Jugend assoziiert, elementarisch warm und feucht ist entsprechend der Luft, so läßt der Sommer Früchte reifen, ist hinsichtlich der Lebensalter mit der Reife des Menschen verbun­ den, elementarisch mit Hitze und Trockenheit entsprechend dem Feuer. Während der Herbst voll- und überreife Trauben und Früchte 240

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hervorbringt, lebenszeitlich dem gesetzten, gereiften Alter ent­ spricht, elementarisch kalt und trocken ist, läßt der Winter die Pflan­ zen absterben entsprechend dem Absterben im menschlichen Leben, ist mit Kühle und Feuchtigkeit verbunden entsprechend dem Wasser. Neben der vertikalen und horizontalen Blickrichtung, deren eine die Kosmologie wiedergibt, deren andere eine Zustandsbeschreibung ist, findet sich als drittes Gestaltungsprinzip die zyklische Blickrichtung, ausgedrückt durch die ständige Wiederkehr des Gleichen im Jahres­ zeitenzyklus, im Zyklus des Naturprozesses wie im Zyklus der Men­ schenalter, so daß alle drei Raumprinzipien einschließlich der Zeit­ komponente und der auf ihnen verlaufenden Analogien vorhanden sind. Die methodisch nachkonstruierbaren Analogiegesetze erschlie­ ßen ein logisch-metaphysisches Gesamtsystem.

7. Tropen als linguistische Analogien Wurde mit der Malerei Arcimboldos ein Bereich der darstellenden Kunst als Anwendungsfeld des Analogiedenkens benannt, so eröffnet sich mit der Rhetorik ein Bereich der Sprachkunst. Zwischen beiden bestehen Beziehungen, die nicht unentdeckt geblieben sind, hat man doch Arcimboldos Malerei von linguistischer Seite nicht selten als Reservoir rhetorischer Stilformen und als eine Visualisierung dersel­ ben betrachtet.40 Die antiken griechischen und lateinischen Rhetori­ ken, etwa die eines Aristoteles, Cicero oder Quintilian41, geben in ihren Tropenlehren eine Reihe von Analogien an, wie Metapher, Synekdoche, Metonymie, Ironie, Litotes u. ä., die zumeist strengen Gesetzmäßigkeiten quantitativer, qualitativer oder kausaler Art fol­ gen, die in Vergrößerung oder Verkleinerung, Erweiterung oder Ver­ engung, Maximierung oder Minimierung, Verschiebung nach dieser oder jener Seite, Negation, Opposition, Zusammennahme der Ge­ 40 Vgl. G. Maiorino: The Portrait of Eccentricity, a.a.O., S. 37 ff.; vgl. Anm. 36 dieser

Arbeit. 41 Aristoteles: Rhetorik, übersetzt mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von F. G. Sieveke, München 1980; M. T. Cicero: De oratore / Über den Red­ ner, lateinisch-deutsch, übersetzt, kommentiert und eingeleitet von H. Merklin, Stuttgart 1976; ders.: Brutus, lateinisch-deutsch, hrsg. von B. Kytzler, München 1970; M. Fabii Quintiliani Institutionis Oratoriae Libri XU / Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hrsg. und übersetzt von H. Rahn, Zweiter Teil, Buch VII-XII, 3. Aufl. Darmstadt 1995, bes. VIII, 6, S. 216/217-248/249. ^ 241

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gensätze u. ä. bestehen und sich daher zur Entschlüsselung der for­ malen Gesetzmäßigkeiten des analogischen Rationalitätstypus be­ sonders eignen. Bei ihrer Exposition soll im wesentlichen der Tropen­ lehre Quintilians gefolgt werden, wie sie sich im achten Buch seiner Institutio Oratoriae im sechsten Kapitel dargestellt findet. Unter einem Tropus versteht Quintilian »die kunstvolle Vertau­ schung der eigentlichen Bedeutung eines Wortes oder Ausdruckes mit einer anderen«42. Zwei Merkmale fallen an dieser Definition auf: Erstens im Unterschied zu den sogenannten Redefiguren, handle es sich um Gedanken- oder Wortfiguren, die ebenfalls kunstvolle, von der gewöhnlichen Redeweise abweichende Gestaltungen sind43, er­ folgt im Tropus die Übertragung einer ursprünglichen oder natür­ lichen Bedeutung auf eine andere oder, wie die Grammatiker sagen, eines Ausdrucks »von der Stelle, bei der er eigentlich gilt, auf eine Stelle [...], wo er nicht eigentlich gilt«44. Handelt es sich bei den Redefiguren um kunstvolle Formen ohne Bedeutungsverschiebung, so ist für die Tropen die Bedeutungsverschiebung bzw. -vertauschung das Hauptcharakteristikum. Aus diesem Grunde stehen hier Wörter als Sinnträger für andere Sinnträger45, was Tropen den in der Kunst und Psychologie verwendeten Zeichen, die für andere Zeichen ste­ hen, ähnlich macht. Das zweite Charakteristikum ist die kunstvolle Art und Weise der Verschiebung bzw. Vertauschung, die auf eine Geregeltheit und nicht bloße Beliebigkeit hinweist. Beide Merkmale qualifizieren die Tropen zu einem gesetzmäßigen, rational nachvoll­ ziehbaren Beziehungsgeflecht, das analogisches Denken ermöglicht. (1.) Der häufigste Tropus ist die Metapher (translatio). Hier wird ein Nomen, Adjektiv oder Verb von einem vertrauten auf einen nicht vertrauten, ihm von Hause aus nicht zukommenden Bereich übertragen, entweder weil in diesem die Bedeutung gänzlich fehlt oder weil die übertragene signifikanter ist. Als Beispiel nennt Quintilian Sätze wie »die Saat dürstet«, »die Frucht hat schwer zu schaf­ fen« oder Ausdrücke wie »Zorn entbrannt«, »von Begierde ent­ flammt«, »Glanzpunkt der Rede«, »Blitze der Beredsamkeit«. Verglichen mit dem ähnlich gearteten Gleichnis, das in einem expliziten Vergleich mit dem Sachverhalt besteht, ist die Metapher 42 43 44 45 242

M. Fabii Quintiliani Institutionis Oratoriae Libri XII, a. a.O., S. 217 (VIII,6,1). Vgl. a.a.O., S. 250ff./251ff. (IX,1ff.). A.a.O., S. 251. Vgl. a.a.O.,S. 252/253.

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ein impliziter oder verkürzter Vergleich, der aufgrund einer Ähnlichkeitsheziehung den betreffenden sachhaltigen Ausdruck im übertra­ genen Sinne zu verwenden erlaubt. Statt des Vergleichs »er kämpft wie ein Löwe« sagt die Metapher kurz »er ist ein Löwe«. Obwohl Quintilian als ühertragungsfähige Ausdrücke die von Belebtem und Unbelebtem auf Gleichartiges wie auch die von Ver­ nünftigem und Unvernünftigem auf ebensolches und jeweils wech­ selweise angibt, genügen diese doch mehr inhaltlichen als formalen Kriterien mit Ausnahme der Übertragungsmöglichkeit vom Teil auf das Ganze und umgekehrt. Während die Frage nach der Art und Weise des Vergleichs, ob Geregeltheit oder Willkür, bei der Metapher noch relativ offen bleibt, basieren Synekdoche und Metonymie auf festen Gesetzmäßigkeiten, erstere auf quantitativen Verhältnissen, letztere auf qualitativen. Sie gestatten daher eine feste Schematik. (2.) Die Synekdoche läßt bei der Nennung eines Dinges an an­ dere denken. Entweder verweist sie vom Teil auf das Ganze, von der Art auf die Gattung, vom Vorhergehenden auf das Nachfolgende oder umgekehrt. Sie geht dabei von einer engeren, spezielleren, vor­ ausgehenden Sphäre auf eine weitere, allgemeinere, nachfolgende und vice versa, wobei im wesentlichen quantitative Momente aus­ schlaggebend sind. Beispiele für die genannten Verweisungen sind »Dach« für »Haus«, »Weißhaarigkeit« für »Alter«. Formalisiert er­ gibt sich folgendes Bild: 1. Verweis vom Teil auf das Ganze Verweis vom Ganzen auf den Teil 2. Verweis von der Spezies auf das Genus Verweis vom Genus auf die Spezies 3. Verweis vom Vorausgehenden auf das Folgende Verweis vom Folgenden auf das Vorausgehende. (3.) Mit der Synekdoche verwandt ist die Metonymie, die Set­ zung einer Benennung für eine andere in der Absicht, den Grund für das anzugeben, worüber gesprochen wird, oder umgekehrt die Folge. Als Spezifikationen dieses Grund-Folge-Verhältnisses sind zu nennen: 1. der Verweis vom Erfinder auf das Erfundene und umgekehrt (z.B.: »Vergil lesen« statt »Vergils Gedichte lesen«) 2. der Verweis vom Besitzer auf das Besessene und umgekehrt (z.B.: »Vulcanus« für »Feuer«, »Venus« für »Liebe«) 3. der Verweis vom Enthaltenden auf das Enthaltene und umge­ kehrt (z.B.: »wohlgesittete Städte« statt der »Menschen in wohlgesitteten Städten«) ^ 243

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4. der Verweis vom Bewirkenden auf das Bewirkte und umge­ kehrt (z.B.: »heitere Jugend« statt »Jugend« als Ursache der Heiterkeit, »träge Muße« statt »Muße« als Ursache der Träg­ heit).46 Die Spezifikationen dieser im wesentlichen qualitativen Art und Weise der Verschiebung fallen in antiken wie neuzeitlichen Rhetori­ ken unterschiedlich aus. Christian Strub47 führt als Subklassifizie­ rungen folgende Relationen an: 1. von Person zu Sache und umgekehrt 2. von Beinhaltendem zu Inhalt und umgekehrt 3. von Grund zu Folge und umgekehrt, Hartmut Kubczak48 nennt die: 1. von Erzeuger und Erzeugnis 2. von Besitzer und Besitz 3. von Inhalt und Gefäß 4. von Einwohner und Ort 5. von Zeitgenosse und Zeit 6. von Produkt und Material. Zu nennen wäre außerdem noch das Verhältnis »Eigenschaftsträger Eigenschaft«, »Mittel - Werk«. (4.) Die Antonomasie, die einen Eigennamen entweder durch ein Patronymikon ersetzt - »Achill« durch »der Pelide« - oder durch ein hervorstechendes Attribut - »Cicero« durch »Fürst der Rede­ kunst« -, verfährt ebenfalls nach quantitativen oder qualitativen Kri­ terien, indem sie für einen engeren Begriff einen weiteren verwendet oder für eine Spezies die Gattung einsetzt oder umgekehrt. (5.) Bei der zur Zeit der Römer kaum noch gebräuchlichen Onomatopoiie, die Begriffe erfindet oder neu bildet, gegebenenfalls unter Verwendung gebräuchlicher, z. B. »Lorbeer gemachte Pfosten« (laureati postes) statt »mit Lorbeer bekränzt« (lauru coronati), sind die Bildungsgesetze weniger erkennbar, allenfalls ist hier Ähnlichkeit im Spiel. (6.) Ähnlichkeit soll auch bei der Katachrese die Übertragung 46 Hiernach ist das Kausalverhältnis im eigentlichen Sinne keine Kategorie des wissen­

schaftlichen Denkens, sondern des analogischen. Vgl. auch S. 257ff. dieser Arbeit. 47 Vgl. Ch. Strub: Kalkulierte Absurditäten. Versuch einer historisch reflektierten

sprachanalytischen Metaphorologie, Freiburg, München 1991, S. 253. 48 H. Kubczak: Metaphern und Metonymien als sprachwissenschaftliche Untersuch­

ungsgegenstände, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Bd. 105 (1986), S. 83-99, bes. S. 95. 244

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einer Bezeichnung auf die Sache leiten, welcher eine eigene Bezeich­ nung fehlt. Wegen häufiger Mißachtung dieses Gesetzes und Ver­ wendung unpassender oder gar fehlerhafter Ausdrücke, ist dieser Tropus jedoch in Mißkredit geraten. Ein Beispiel ist die Bezeichnung »Vatermörder« für »Brudermörder«. (7.) Zu nennen ist noch die Metalepsis (transsumptio), die den Übergang von einem Tropus zum anderen herstellt, was nur unter Verwendung einer Zwischenstufe verständlich wird. Dieser bei den Griechen häufiger, bei den Römern seltener vorkommende Tropus findet Anwendung vor allem in der Komödie, etwa wenn der redende Eigennamen Chiron (»Geringer«) - der Name eines Kentauren - mit dem Synonym "Hoomv (»Geringer«) ausgetauscht wird und umge­ kehrt. (8.) Die restlichen Tropen klassifiziert Quintilian als solche, die mehr um des Redeschmucks denn um der Wortbedeutung willen in Anspruch genommen werden. Hierzu gehört u. a. das Epitheton, das schmückende Beiwort, das als Tropus nicht unumstritten ist und nur dann zu einem echten Tropus wird, wenn der Zusatz etwas Neues, Anderes anzeigt, so z.B. »häßliche Armut«, »düsteres Alter«, oder wenn der Zusatz dasselbe besagt wie das Referenzwort »Er, der Kar­ thago und Numantia zerstört hat« für »Scipio«. In diesem Falle aber ist der Tropus mit der Antonomasie identisch. Auch hier dürften bei der Übertragung quantitative Gesetze der Erweiterung oder Ver­ engung sowie qualitative der Gattung-Art-Beziehung ausschlag­ gebend sein. (9.) Die Allegorie, wörtlich das »Anderssagen«, die im Lateini­ schen auch inversio (»Umkehrung«) heißt, stellt einen Wortlaut dar, der entweder einen anderen Sinn hat (»Anderssagen«) oder sogar einen entgegengesetzten (»Umkehrung«). So gibt es nach Quintilian zwei Arten, eine, hinter deren Wortlaut sich ein anderer, ähnlicher oder gleichartiger Sinn verbirgt, und eine, die einen dem Wortlaut entgegengesetzten Sinn aufweist. Die erste Art liegt vor, wenn es bei Horaz heißt »Schiff, dich treibt die Flut wieder ins Meer zurück! Weh, was tust du nur jetzt! Tapfer dem Hafen zu!«, wo »Schiff« für »Gemeinwesen«, »Fluten und Stürme« für »Bürgerkriege« und »Ha­ fen« für »Frieden und Eintracht« steht. (10.) Zur zweiten Art der Allegorie, die das Gegenteil vom tat­ sächlich Gesagten meint, gehört die Ironie, die im Lateinischen auch illusio (»Verspottung«) genannt wird. Sie ist am Tonfall oder am Auftreten einer Person oder am Wesen der Sache selbst erkennbar; ^ 245

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denn wenn diese dem Wortlaut zuwider sind, ist ersichtlich, daß die Rede etwas vom Ausgesagten Verschiedenes meint. Ironie liegt vor, wenn jemand zu lohen vorgiht, in Wirklichkeit aber herahsetzt, oder zu tadeln behauptet, de facto aber loht. Eine Steigerung stellt der Hohn dar, der das genaue Gegenteil von dem meint, was er sagt. Als Euphemismus gilt, wenn aus Grün­ den der Höflichkeit, des Taktes, der Furcht oder aus anderen Motiven Unerfreuliches in weniger harte Worte gekleidet wird, Negatives in positiver Form ausgedrückt wird. (11.) Periphrase oder Umschreibung heißt das Drumherum­ reden (circumlocutio), das viele Worte für das gebraucht, was sich auch kurz ausdrücken läßt. Teils stellt sie einen zufälligen stilisti­ schen Schmuck dar, teils ist sie zwingend, so wenn sie der Verhüllung dessen dient, was häßlich zu sagen wäre. In diesem Fall bedient sie sich der Darstellung durch das Gegenteil oder der Position statt der Negation. Ein Beispiel hierfür ist die Aussage »was die Natur ver­ langt« für »Notdurft«. (12.) Beim Hyperbaton, dem Überspringen eines Wortes, sei es durch Voran- oder Nachstellung zusammengehöriger Wörter oder Wortteile, ist der Tropuscharakter wegen der bloßen Wortumstellung strittig. Nur solche Figuren, die mit einer Sinnänderung einher­ gehen, sind als Tropen zu akzeptieren, wobei die Art und Weise der Wortzusammenstellung offen bleibt. (13.) Die Hyperbel erfolgt wiederum nach einem streng forma­ len Gesetz, nämlich der Übersteigerung der Wahrheit. Ihre Leistung liegt in der Übertreibung nach dieser oder jener Seite. Als Beispiel läßt sich anführen: »kaum noch Haut und Knochen«. Zustande kommen Über- wie Untertreibung auf verschiedene Weise, entweder durch Vergrößerung oder Verkleinerung (»das Paar der Klippen drohend ragt zum Himmel«), durch Ähnlichkeit (»war's doch, als schwämmen Kykladen entwurzelt«), durch Vergleich (»schneller als Flügel des Blitzes«) oder durch bestimmte Anzeichen (»sie [Camilla] flöge über die Aussaat, selbst ohne die Spitzen zu streifen / noch hätt' im Lauf sie verletzt die zarten Gebilde der Äh­ ren«). In den antiken und neuzeitlichen Rhetoriken werden gelegent­ lich noch weitere Sprachformen genannt, die bei Quintilian als Tro­ pen fehlen oder unter Wortfiguren rangieren. Hält man am Kriteri­ um der Bedeutungsübertragung und -verschiebung fest, so sind mindestens noch folgende Formen aufschlußreich: 246

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- die Paronomasie (annominatio), unter der man das Vorkommen gleichklingender Wörter versteht. Zwar zählen auch Fälle des blo­ ßen inneren Objekts hierzu wie »ein Leben leben«, meist aber handelt es sich um klangähnliche, jedoch bedeutungsverschiedene Wörter. Ihre Zusammenstellung wird in Wortspielen (Kalauern) genutzt, die entweder auf dem Doppelsinn eines Wortes basieren oder auf dem Anklang bedeutungsverschiedener Wörter. Ein gro­ ßer Teil des Witzes (bonmots, Scherz, Anekdote, joke) basiert hier­ auf. - die Anspielung, bei der der Hörer oder Leser der Sprachform etwas hinzufügen muß, um den Sinn vollständig zu verstehen. Die As­ soziation kann Regeln folgen, aber auch willkürlich sein und die Kenntnis einer kontingenten Sprache, Kultur, Literatur usw. vor­ aussetzen. - die Litotes, die ein uneigentliches Sprechen ist, insofern als sie et­ was Positives durch doppelte Negation, also Verneinung des Ge­ genteils, ausdrückt. - die Antithese, die in einer Gegenüberstellung von Opposita be­ steht und daraus ihren Sinn schöpft. - das Oxymoron, das eine Verschärfung der Antithetik darstellt und in der Verbindung zweier sich exkludierender Vorstellungen be­ steht wie »bitter-süß«, »lebender Tod« usw. - Synonyma, die das Gegenteil der Antithese sind und in der Ver­ stärkung eines Wortes durch ein anderes mit ähnlicher Bedeutung bestehen. Sie treten häufig in Doppelform auf, deren Bestandteile klanglich verbunden sind wie »Leib und Leben«, »Haus und Hof«. Von der Wortstellung her sind noch bestimmte Redefiguren be­ achtenswert, da die Wortstellung eine bestimmte parataktische, hy­ potaktische oder spiegelsymmetrische Anordnung verrät, die der äu­ ßere Ausdruck einer tieferliegenden Seinsstruktur sein kann. Zu nennen sind hier: - die Reihung mehrerer gleichartiger, ihre Selbständigkeit bewah­ render Wörter wie »Äpfel, Birnen, Pfirsiche und Pflaumen«, durch die eine parataktische Anordnung wiedergegeben wird. - die Klimax, die in gleichmäßigen Stufen ansteigt und eine Steige­ rung ausdrückt wie in Martin Opitz' Trostgedicht: »Er hat das Vieh hinweg: Das Brot ist doch geblieben. Er hat das Brot auch fort: Der Todt wird keinen Dieben:

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Er hat dein Geld geraubt: Behalt nur du den Muth. Er hat dich selbst verwundt: Die Tugend gibt kein Blut [...]«49

- der Parallelismus, der in parallel geordneten Sätzen besteht wie »heiß ist die Liebe, kalt ist der Schnee«. - die Anapher, die einen parallelen Aufbau durch Wiederholung syntaktisch bedeutender Wörter unterstreicht: »O Mutter! Was ist Seligkeit? O Mutter! Was ist Hölle?«50

- der Chiasmus, dessen Name sich vom griechischen Buchstaben % herleitet und dessen graphisches Bild Ausdruck einer spiegelbild­ lichen Sprachkonstruktion ist. Er ist ein von Schiller häufig verwen­ detes Stilmittel, z. B. »in der Nüchternheit kühn, fromm in der Frei­ heit zu sein«51. Das Gemeinsame aller dieser rhetorischen Tropen und Figuren ist ihre rationale Konstruierbarkeit zumeist nach festen Schemata, was sie für einen Vergleich mit den Analogien in anderen Bereichen qualifiziert.

8. Verkehrung und Verschiebung als psychologische Analogien Es war Jacques Lacan, der erstmals auf die enge Verknüpfung rheto­ rischer Figuren, wie sie bei Quintilian begegnen, mit psychoanaly­ tischen Phänomenen, wie Freud sie herausgearbeitet hat, aufmerk­ sam machte.52 Dieser Hinweis ist eines genaueren Nachgangs wert. Dabei wird sich zeigen, daß sich mit der Psychoanalyse ein Bereich erschließt, der eine verblüffende Übereinstimmung mit den Analo­ giegesetzen zeigt, wie sie bisher herauskristallisiert wurden. Die Untersuchung soll am Leitfaden von Freuds Analysen von Traum, Witz und alltäglichen Fehlleistungen wie Versprechen, Ver­ 49 Martin Opitz: Trostgedichte, Buch II, Vers 601 ff., in: Gesammelte Werke. Kritische

Ausgabe, hrsg. von G. Schulz-Behrend, Bd. 1: Die Werke von 1614 bis 1621, Stuttgart 1968, S. 228. 50 G. A. Bürger: Leonore, Vers 81f., in: Sämtliche Werke, hrsg. von G. und H. Häntzschel, München, Berlin 1987, S. 180. 51 F. Schiller: Das Distichon Witz und Verstand, in: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert in Verbindung mit H. Stuben­ rauch, 5 Bde., München 1958-1959, wiederholte Aufl., Bd. 1, S. 311. 52 J. Lacan: Ecrits, Paris 1966, S. 268. 248

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lesen, Verschreiben, Vergreifen, Vergessen geschehen.53 Krankheits­ symptome, ebenso neurotische und paranoide Zustände gehören im weiteren Sinne ebenfalls dazu. Den genannten Phänomenen hat Freud umfangreiche Studien gewidmet, allen voran in der Traumdeu­ tung von 1900, in dem Werk Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten von 1905, in den Abhandlungen zur Psychopathologie des Alltagslebens von 1904 sowie in vielen kleineren Fallstudien. Auf den ersten Blick mag es befremden, derart heterogene, teils pathologische, teils nichtpathologische Phänomene miteinander zu vergleichen und auf gemeinsame Strukturen hin zu untersuchen, unterscheiden sich doch beispielsweise Traum und Witz darin, daß der erste ein rein privates und insofern asoziales Bewußtseinsprodukt ist, das nur eine bestimmte Person, nämlich die träumende, betrifft und für alle anderen, mit Ausnahme des Psychoanalytikers, uninter­ essant und unverständlich ist, während der Witz ein soziales, wenn nicht gar das sozialste Produkt überhaupt darstellt, das auf Gesell­ schaft, zumindest auf einen Dritten, angelegt ist. Während der Traum auf die großen Probleme des Lebens Bezug nimmt, zielt der Witz auf kleinen Lustgewinn. Hat der Traum die Funktion der Un­ lustersparnis, so der Witz die des Lusterwerbs. Ist der Traum eine, wenngleich unkenntlich gemachte Wunscherfüllung, so der Witz ein entwickeltes Spiel.54 Ähnliche Differenzen lassen sich auch zwi­ schen den übrigen Phänomenen konstatieren. Bei näherem Hinsehen jedoch weisen die genannten Vorgänge Gemeinsamkeiten auf, die es erlauben, sie einer einheitlichen Be­ trachtung zu unterwerfen und den Typus des analogischen Denkens auf sie anzuwenden. Drei wesentliche Merkmale lassen sich herauskristallisieren, die allen genannten psychischen Phänomenen eigen sind und die uner­ läßliche Bedingung für analogisches Denken bilden: erstens Überde­ termination, zweitens Verweisungsstruktur, drittens Gesetzmäßig­ keit der Verweisung. (1.) Gemeinsam ist den genannten psychischen Phänomenen 53 Umfangreiche Ausführungen zum Analogiedenken in Freuds Psychoanalyse enthält

der Aufsatz der Verfasserin; Das Analogiedenken unter besonderer Berücksichtigung der Psychoanalyse Freuds, in: K. Gloy und M. Bachmann (Hrsg.): Das Analogieden­ ken- Vorstöße in ein neues Gebiet der Rationalitätstheorie, a.a.O., S. 256-297, bes. S. 275 ff. 54 Vgl. S. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Der Humor. Einlei­ tung von P. Gay, Frankfurt a.M. 1992, wiederholte Aufl. 1996, S. 192 f. ^ 249

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eine Überdeterminierung. Besonders deutlich wird dies beim Witz, der geradezu von der Doppeldeutigkeit, der Zweigleisigkeit lebt und daher den Charakter der Anspielung hat. Er ist durch den plötzlichen Umschlag von einer Lesart in die andere charakterisiert, die sich un­ terschwellig anbahnt und plötzlich auftut. Wehe dem Hörer oder Le­ ser, der die Einstellung eines neuen Sinnes oder den Eintritt einer neuen Lesart nicht rechtzeitig bemerkt! Aus diesem Grunde ist der Witz stets schlüpfrig, nicht so sehr im Sinne sexueller Anspielung als vielmehr im Sinne der Doppelbödigkeit, derzufolge sich hinter dem direkten Sinn stets ein anderer verbirgt. Nicht weniger gilt dies für die alltäglichen Fehlleistungen des Versprechens, Verlesens und Verschreibens, sogar des Vergreifens, insofern sich an die Stelle des vom Satzsinn her geforderten und erwarteten regulären Wortes ein anderes drängt oder an die Stelle der von der normalen Situation geforderten Sache eine andere setzt. Beim Versprechen geschieht dies aufgrund von Antizipation (z.B. »es war mir auf der Schwest ...« statt »auf der Brust so schwer«), Postposition (»ich fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs auf­ zustoßen« statt »anzustoßen«), Kontamination (»er setzt sich auf den Hinterkopf« statt »er setzt sich einen Kopf auf« und »er stellt sich auf die Hinterbeine«), Vertauschung (»die Milo von Venus« statt »die Venus von Milo«) und Substitution (»ich gebe die Präparate in den Briefkasten« statt »in den Brütkasten«).55 Selbst beim Vergessen eines Namens und beim Verlegen und Nicht-Wiederfinden einer Sa­ che treten an die Stelle des Gesuchten verschiedene Ersatznamen und -sachen, die freilich allesamt verworfen werden. Eine Mehrfachbedeutung, ja sogar eine besondere Bedeutungs­ dichte liegt auch im Falle des Traumes vor. Freud unterscheidet am Traum den manifesten Trauminhalt, der das nächtliche Traumge­ schehen ausmacht und zumeist aus visuellen Vorstellungen, ver­ mischt mit Gefühlen und direkten Reden, besteht, und die latenten Traumgedanken, die sich bei der nachträglichen Traumanalyse im Wachzustand assoziativ an den Inhalt knüpfen. Die sekundär in der Traumanalyse gewonnenen Traumgedanken verhalten sich zum ma­ nifesten Trauminhalt jedoch nicht wie Folgen zum Grund, sondern sie werden als ursprünglicher Grund und Anlaß des Trauminhalts 55 Vgl. S. Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen,

Vergreifen, Aberglauben und Irrtum. Mit einem Vorwort von A. Mitscherlich, Frank­ furt a.M. 1954, wiederholte Aufl. 1996, S. 50. 250

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unterstellt, aus deren Fülle in der ins Unbewußte verlagerten Traum­ arbeit durch Zusammenziehung die Traumelemente hervorgehen. Da jedes Element des Inhalts so ein Knotenpunkt unendlich vieler und verschiedenartiger Traumgedanken ist, strahlt es auch umge­ kehrt symbolhaft eine Fülle latenter Traumgedanken aus. Die Ver­ dichtung der Assoziationen ist beim Traum gegenüber dem Witz und den seelischen Fehlleistungen eklatant. »Die Traumarbeit über­ treibt [...] die Anwendung dieser Mittel der indirekten Darstellung ins Schrankenlose.«56 Entsprechendes gilt auch für das Symptom, das pathologische wie das normale. Wurde es in der klassischen Symptomatologie, wie sie die übliche somatische Medizin charakterisiert, als diagnostisches Zeichen für einen Krankheits- oder Gesundheitszustand betrachtet, so fungiert es nach Freuds Theorie als Symbol, als Zusammenzie­ hung und Verdichtung von Bedeutungen, die gleichsam einen Rebus bilden, der sich nur nachträglich in einer umfassenden Interpreta­ tionsarbeit erschließt. (2.) Mit der Überdetermination der genannten Phänomene ist immer auch ihre Verweisung auf anderes verbunden, sei es auf ein oder mehreres andere, handle es sich um einen anderen Sachverhalt, um einen anderen Sinn oder um eine andere Bedeutungsschicht. Be­ kunden kann sich der Transzendenzcharakter entweder wie beim Witz in der Anspielung, der indirekten, uneigentlichen Rede, im Durchschimmern einer anderen Bedeutung oder im plötzlichen Be­ deutungsumschlag, der zum Aha-Erlebnis führt, oder wie bei den alltäglichen psychischen Fehlleistungen in dem Vordringen eines an­ deren Namens oder einer anderen Sache. Beim Traum und Symptom besteht er in der durch die nachträgliche Analyse ermöglichten asso­ ziativen Anknüpfung der Traumgedanken und Interpretationen. (3.) Entscheidend ist jedoch die Frage, ob der Verweis bzw. Über­ gang in seinen vielfältigen Ausgestaltungen notwendig oder zufällig ist. Nur im Falle gesetzmäßiger Übergänge läßt sich das darauf basie­ rende analogische Denken als rationales rechtfertigen. Denn nur die Gesetzmäßigkeit des Übergangs, die allgemeine Einsichtigkeit, Nach­ vollziehbarkeit und Überprüfbarkeit rechtfertigen das Analogieden­ 56 S. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, a. a. O., S. 185. Dies wird

auch daraus ersichtlich, daß die Niederschrift eines Traumes unmittelbar nach dem Er­ wachen allenfalls eine halbe Seite beträgt, die spätere Traumanalyse jedoch viele Seiten und Hefte füllt. ^ 251

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ken als einen eigenen Rationalitätstypus. Ohne der Hybris zu verfal­ len, alle Verweisungs- und Übergangsarten klassifizieren und in ihrer spezifischen Eigenart und Geregeltheit verständlich machen zu können, sollen drei Gesetzmäßigkeiten aufgewiesen werden: erstens Gegensätzlichkeit, zweitens Verschiebung und drittens bildhafte Ent­ sprechung, anders formuliert: Ähnlichkeit in Verkehrung, Ähnlich­ keit in Verschiebung und Ähnlichkeit als mimetisches Verhältnis. a) Gegensatz oder Ähnlichkeit als Verkehrung von Identität Es ist eine oft gemachte Beobachtung, daß der Witz mit dem Mittel des Gegensatzes operiert. Er bedient sich dazu der Negation, die einen positiven Sachverhalt in einen negativen oder einen negativen in einen positiven verkehrt und dem Witz dadurch den Charakter der »verkehrten« Welt verleiht. Eine Klasse von Witzen, die Freud »Unifizierungswitze«57 nennt, zeigt dies besonders deutlich. Ihr Name erklärt sich daraus, daß sie dasselbe Material mehrfach, und zwar in gegensätzlicher Weise verwenden, so daß sich innerhalb der von ihnen hergestellten Sinneinheit ein Gegensatz bildet. Zwei Beispiele mögen dies demon­ strieren: 1. »Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Lei­ den schafft.«58 2. »Das menschliche Leben zerfällt in zwei Hälften, in der ersten wünscht man die zweite herbei, und in der zweiten wünscht man die erste zurück.«59 Im ersten Fall resultiert die in sich gegensätzliche Einheit aus einer Selbstdefinition, nämlich der Eifersucht als Leidenschaft, die in positiver Absicht sucht, was ihr tatsächlich in negativer Rückwir­ kung Leiden verschafft; im zweiten Fall ergibt sich die Einheit aus einer Wechselimplikation gegensätzlicher Momente, des Herbeiwünschens und des Zurückwünschens, die ein Ganzes konstituieren: Das Jahr besteht aus zwei Hälften, deren eine herbeisehnt, was die andere zurückwünscht. Sowohl die Selbstdefinition wie die Wechsel­ implikation operieren mit der Gedankenfigur der Selbstreferenz, die von einem Ganzen mit internen Gegensatzgliedern ausgeht oder ein 57 A.a.O., S. 83, vgl. S. 51, 82. 58 A. a. O., S. 50. Dieser Witz wird Schleiermacher zugeschrieben. 59 A.a.O., S. 81. 252

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Ganzes aus solchen herstellt. Hier zeigt sich im übrigen die Nähe des analogischen Denkens zum dialektischen, basiert doch auch dieses auf einer selbstreferentiellen Struktur mit interner Zweiheit und Gegensätzlichkeit, sei es der Subjekt-Objekt-Relation, sei es der Dif­ ferenz von Identität und Differenz u. ä., die sich aufhebt und gleich­ wohl wiederherstellt. Es ist diese Paradoxie, die den Anknüpfungs­ punkt des einen Denktypus an den anderen bildet. Die Pointe eines Witzes oder einer witzigen Bemerkung benutzt häufig gerade die Paradoxie, die auch das dialektische Denken charakterisiert. Mit dem Mittel der Negation operiert auch eine zweite Klasse von Witzen, die sogenannten Widersinnwitze. Sie verfolgen die Ab­ sicht, ein Spiegelbild, zumeist der Dummheit, aufzustellen. Von Phokion wird berichtet, daß er anläßlich einer Rede zum Volk, die mit Beifall bedacht wurde, gesagt haben soll, »was habe ich denn so Dummes gesagt, daß es dem Volk gefallen hat?«60 Der Witz benutzt folgende Bausteine: - den positiven, wonach eine kluge Rede dem Volk eigentlich zu gefallen, eine dumme zu mißfallen hätte, - dessen Umkehrung: Eine dumme Rede gefällt dem Volk - eine kluge mißfällt ihm. Da das Volk selbst dumm ist, findet nur die dumme Rede seinen Beifall; sie wird zum Spiegelbild der Dummheit des Volkes, das sich in ihr reflektiert. Genau genommen wird hier mit dem Schema der Negation der Negation operiert, die zur Position zurückführt. Die dumme Rede ist Negation einer klugen Rede. Indem sich Phokion ironisch, d. h. ne­ gierend auf die dumme Rede als Negation der klugen bezieht, kehrt er zum positiven Sachverhalt zurück, der sich jedoch inwendig aus lauter Negativa konstituiert. Auch im Bereich der alltäglichen psychischen Fehlleistungen wie Versprechen, Verlesen, Verschreiben usw. lassen sich Fälle mit Nega­ tion, mit Verkehrung finden. Freud berichtet von der Eröffnung einer Sitzung des österreichischen Abgeordnetenhauses, bei der der Prä­ sident erklärte: »Hohes Haus! Ich konstatiere die Anwesenheit von soundsoviel Herren und erkläre somit die Sitzung für geschlossen [statt für eröffnet]!«61 Der lapsus linguae, der an die Stelle der Eröff­ nung der Sitzung die Ankündigung ihres Schließens setzt, erklärt sich 60 Vgl. a.a.O., S. 74. 61 S. Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, a. a. O., S. 54.

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aus dem heimlichen Wunsch des Präsidenten, daß die Sitzung schon beendet sein möge, da sie nichts Erfreuliches erwarten läßt. Beim Traum fungiert die Inversion als bevorzugtes Darstel­ lungsmittel. Zudem weiß jeder Psychiater aus Erfahrung, daß die Negation einer Aussage, je heftiger und affektbeladener sie ausfällt, desto eindeutiger Indiz für das Vorliegen des bestrittenen Sachver­ halts ist. Ein »so verhält es sich nicht« bekräftigt gerade, daß es sich so und nicht anders verhält.62 Die zärtliche Zuneigung einer Mutter maskiert nicht selten ein aggressives Verhalten; die altruistische Hin­ wendung zu einem anderen ist oft der verschleierte Ausdruck eines Egoismus, dieselbe Liebe, die man dem anderen zuwendet, selbst zu erfahren. Angstträume, in denen man um einen geliebten Menschen fürchtet, sogar Todesangst hat, sind nach Freud wie alle Träume Wunscherfüllungen und somit der manifeste Ausdruck des Wun­ sches nach dessen Tod. Die Darstellung durch das Gegenteil dient dazu, der Wunscherfüllung gegen bestimmte widerstrebende Fakto­ ren, die beim Traum eine Rolle spielen, Geltung zu verschaffen. Hin­ ter der Umkehrung verbirgt sich oft der Wunsch: »Wäre es doch so gewesen!« Wegen seiner Bildhaftigkeit vermag der Traum häufig aus­ sagenlogische Negation nicht anders als durch räumliche Verkehrung und Spiegelsymmetrie wiederzugeben, etwa durch Vertauschung von unten und oben, auf und nieder.63 Typisch ist der von Freud be­ richtete Wirtshaustraum: »Er fährt mit großer Gesellschaft in die X-Straße, in der sich ein bescheidenes Einkehrwirtshaus befindet [...] In den Räumen desselben wird Theater ge­ spielt; er ist bald Publikum, bald Schauspieler. Am Ende heißt es, man müsse sich umziehen, um wieder in die Stadt zu kommen. Ein Teil des Personals wird in die Parterreräume verwiesen, ein anderer in die des ersten Stockes. Dann entsteht ein Streit. Die oben ärgern sich, daß die unten noch nicht fertig sind, so daß sie nicht herunter können. Sein Bruder ist oben, er unten, und er ärgert sich über den Bruder, daß man so gedrängt wird [...] Es war übrigens schon beim Ankommen bestimmt und eingeteilt, wer oben und wer unten sein soll [...]«64 62 Vgl. S. Freud: Die Verneinung, in: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften.

Einleitung von A. Holder, Frankfurt a. M. 1992, wiederholte Aufl. 1997, S. 321-325. 63 Vgl. S. Freud: Die Traumdeutung. Nachwort von H. Beland, Frankfurt a. M. 1991, wiederholte Aufl. 1996., S. 329 f. 64 A. a. O., S. 291. 254

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Die Traumanalyse ergibt folgenden Sachverhalt: Während im Traum der ältere Bruder des Patienten stets »oben« erscheint, zu den oben Einquartierten gehört oder zu den von oben Herunterkommenden, ist er im realen Leben »heruntergekommen«, befindet sich nach einem wienerischen Ausdruck »Parterre«, weil er Stellung und Vermögen verloren hat. Der Träumer selbst hingegen, der im realen Leben Stellung und Vermögen erhalten hat, erscheint im Traum »un­ ten«. Der Traum kehrt also die Verhältnisse um, zeigt mittels der räumlichen Anordnung das genaue Gegenteil zur Realität. Gleiches gilt für das Auf- und Niedersteigen, von dem Freuds Patienten be­ richten und das von Freud ausgedeutet wird als sexuelle Beziehung der Träumer zu Personen niederen Standes. Auch hier kehrt der Traum die Verhältnisse der Realität um. Insofern hier spiegelbildliche Symmetrien, inverse räumliche Beziehungen, Umkehrungsverhältnisse, Klappphänomene usw. vor­ liegen, bieten sich klare Anknüpfungspunkte für das analogische Denken an. Die Bildlichkeit des Traumes, die die Anwendung forma­ ler, sogar geometrischer Verhältnisse gestattet, weist auf eine Forma­ lisierung des Weltbildes und damit auf die Möglichkeit von Analogie­ bildung. Die hier beschriebene Gegensatzstruktur stellt die extremste Form einer Analogiebeziehung dar, insofern die Ähnlichkeit bzw. Entsprechung der Analoga hier auf der Selbigkeit des Musters basiert, das in positiver wie negativer Form auftritt und so den Schluß von der einen Seite auf die andere gemäß dem Gesetz der Umkehr erlaubt. b) Ähnlichkeit als Verschiebung Ließen sich die bisherigen Fälle als Kontrastphänomene einstufen, die mit demselben Material, derselben Struktur, derselben Form nur in negativer oder spiegelbildlicher Verkehrung operierten und so dem analogischen Denken einen gesetzmäßigen Übergang durch Ge­ gensätzlichkeit verschafften, so haben wir es bei der nächsten Gruppe von Beispielen mit Verschiebungen und Verzerrungen zu tun, die nicht mehr auf Identität, sondern auf Ähnlichkeit beruhen. Die Ähn­ lichkeit des Musters kann größer oder kleiner sein, sogar bis zur scheinbaren Unähnlichkeit reichen. Sie kann alle Grade zwischen den Extremen des Gegensatzes einnehmen. Zustande kommt die Abwandlung teils durch ursprünglich räumliche Eigenschaften wie Verschiebung, Vergrößerung oder Verkleinerung, Dehnung oder Kontraktion, Streckung oder Kompression, Maximierung oder Mini­ ^ 255

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mierung, wobei diese auch im übertragenen Sinne verwendet werden können, teils durch qualitative Manipulation wie Über- oder Unter­ treibung, Verstärkung oder Abschwächung. So ist auch die Makro­ Mikrokosmos-Analogie ein Verhältnis nicht zwischen gleichartigen Verhältnissen, sondern zwischen ungleichartigen, einem größeren und einem kleineren bzw. einem idealisierten und einem verendlich­ ten. Beispiele aus dem Bereich des Witzes mögen dies belegen. Ge­ rade der Witz arbeitet häufig mit Über- und Untertreibung. Dasselbe gilt für Ironie, Parodie, Karikatur, Zynismus, Travestie, die teils als selbständige Phänomene auftreten, teils zur Unterstützung des Wit­ zes dienen. So ist die Ironie die Darstellung durch das Gegenteil, freilich nicht in einfacher, sondern in gesteigerter Form, wobei Ton­ fall oder schriftliche Indizien die Verkehrung und Verstärkung anzei­ gen. Parodie, Karikatur usw. stehen dem in nichts nach. Zur Gattung der Überbietungswitze zählt beispielsweise die Darstellung der Häßlichkeit einer Frau durch übermäßige Schönheit. Von Heinrich Heine stammt der Witz: »Diese Frau glich in vielen Punkten der Venus von Melos: sie ist auch außer­ ordentlich alt, hat ebenfalls keine Zähne und auf der gelblichen Oberfläche ihres Körpers einige weiße Flecken.«65

In dieselbe Kategorie gehört der von Freud erzählte, aus dem Wiener Milieu der Jahrhundertwende stammende Judenwitz, in dem ein Schadchen, ein jüdischer Heiratsvermittler, auftritt und dem Heirats­ kandidaten die Braut anpreist, indem er diesen durch das elterliche Haus der Braut führt und auf die kostbaren Möbel sowie einen Glas­ schrank mit schwerem Silber aufmerksam macht: »>Da, schauen Sie hin, an diesen Sachen können Sie sehen, wie reich diese Leute sind.< - >Aberwäre es denn nicht möglich, daß diese schönen Sachen nur für die Gelegenheit zusammen­ geborgt sind, um den Eindruck des Reichtums zu machen?< - >Was fällt Ihnen ein?< antwortet der Vermittler abweisend. Wer wird denn den Leuten was borgenlc«66

Hier bricht plötzlich, veranlaßt durch eine deplazierte Bemerkung, die der Absicht des Heiratsvermittlers zuwiderläuft, die Wahrheit durch, nämlich die tatsächliche Armut der Braut und Brauteltern, 65 S. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, a. a. O., S. 85. 66 A.a.O., S. 80. 256

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die durch den Umstand, daß diese Leute kreditunwürdig sind und ihnen niemand etwas borgen würde, noch verstärkt wird.67 Was die psychopathologischen Vorkommnisse des Alltagslebens betrifft, so erklären sich etliche nach demselben Muster der Verschie­ bung. Ein Feldwebel instruiert seine Mannschaft, die genauen Adres­ sen nach Hause zu geben, »damit die Gespeckstücke nicht verloren­ gehen«68. Der sprachliche Patzer, der anstelle der »Gepäckstücke« die »Speck-« oder »Gespeckstücke« Vordringen läßt, erklärt sich aus der Mangelsituation des Krieges und dem daraus erwachsenden Wunsch nach Nahrung, und zwar nach besonders kalorienreicher, wie sie mit Speck verbunden ist. An die Stelle des zu erwartenden regulären Wortes schiebt sich hier eine Assoziation in Steigerungsform. Besonders ausgeprägt finden sich Verschiebungen beim Traum. Neben der Verdichtung hat Freud die Verschiebung als das zweite Hauptmerkmal des Traumes herausgestellt. Da diese beim Traum von jedem Element auf jedes andere möglich ist, erklärt sich daraus das oft so phantastische, absurde, ja groteske Aussehen des Traumes. So berichtet Freud vom Traum einer Patientin, in dem diese engelgleich, in ein weißes Kleid gehüllt, mit einem Blütenzweig von oben herabsteigend erscheint.69 Da die Patientin bei der Analyse mit dieser Erscheinung ein Gemälde von Mariä Verkündigung assoziiert, auf dem ein Unschuldsengel mit einem weißen Lilienstengel auftritt, dürfte die Anspielung auf sexuelle Unschuld und Reinheit unver­ 67 Allerdings muß zugegeben werden, daß eine Vielzahl von Witzen, die sich der Tech­

nik der Verschiebung bedient und Anspielung durch Ablenkung oder Abweichung zu­ stande bringt, kultur-, gesellschafts- und sprachspezifisch ist und von Mitgliedern einer anderen Kulturgemeinschaft, Gesellschaftsklasse oder Sprachfamilie nicht verstanden wird. Dies gilt für alle Witze, die nicht mit einer formalen Verschiebung operieren, bei der Sprachusance und Bedeutung zusammenfallen, sondern mit einer, die die rein äu­ ßerlichen Spracheigentümlichkeiten betrifft. Folgender Badewitz mag dies demonstrie­ ren: Zwei Juden treffen sich in der Nähe des Badehauses, der eine fragt den anderen: »Hast du genommen ein Bad?« Der andere entgegnet: »Wieso? fehlt eins?« (S. Freud, a.a.O., S. 64.) Die Komik des Witzes erschließt sich nur bei Kenntnis der deutschen Sprache, die außer dem selbständigen, starken Gebrauch des Wortes »nehmen« im Sinne von »wegneh­ men« den schwachen, zum Hilfsverb herabgesetzten Gebrauch in Kombination mit an­ deren Wörtern kennt, z.B. »ein Bad nehmen«. Der Witz kollabiert sofort bei Substitu­ tion von »Bad nehmen« durch »baden«. So aber wird der Witz doppeldeutig durch die Verschiebung des Akzents von der abgeschwächten auf die volle Bedeutung. 68 S. Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, S. 63. 69 Vgl. S. Freud: Die Traumdeutung, a.a.O., S. 322f. ^ 257

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kennbar sein. Am Ende des Traumes sind jedoch die Lilienblüten weitgehend verwelkt und abgefallen, zudem handelt es sich um rote Blüten, womit auf sexuelle Schuld angedeutet wird. Unter Beibehal­ tung desselben Motivs, nämlich des Lilienstengels, hat sich hier eine Wandlung von weißen zu roten Blüten, von frischen zu verwelkten vollzogen. Die Verschiebung ist hier eine farbliche und eine dahinter­ stehende sexuelle. Noch einprägsamer dokumentiert der Traum »Irma« die Ver­ schiebungsarbeit, indem hier metamorphotisch Personen verschoben werden.70 Unter Wahrung der Identität einer bestimmten Person oder, genereller, eines Ich überhaupt verwandeln sich hier Gestalten ineinander. Die Hauptperson des Traumes, Irma, eine Patientin Freuds und von ihm in einer bestimmten Untersuchungshaltung vor­ gestellt, schlüpft nacheinander in verschiedene andere Personen. Zu­ nächst nimmt sie die Gestalt einer anderen Patientin an, dann die von Freuds ältester Tochter, von dieser wechselt sie zu einer anderen, na­ mensgleichen Patientin über, von dieser zu einem Kind, schließlich zu Freuds eigener Frau usw., bedingt jeweils durch bestimmte Asso­ ziationen an gleiche Namen, gleiche sich anbahnende Krankheiten, gleiche Untersuchungssituationen. Solche und ähnliche Metamorphosen sind typisch für Träume, und nicht nur für diese, sondern auch für Märchen und Sagen.71 Sie nehmen dreierlei Gestalt an: Entweder wird eine Person zur Sammel­ person, die aktuelle Züge, Eigenschaften, sogar Worte anderer Per­ sonen aufnimmt und unter Beibehaltung ihres eigenen Aussehens in sich vereint, oder sie wird zur Mischperson, die sich aus den Ei­ genschaften zweier oder mehrerer Personen zusammensetzt72, oder es geht aus der Projektion zweier Personen und ihrer äußeren wie inneren Merkmale eine neue, dritte Person hervor, die die mittleren Gemeinsamkeiten repräsentiert, wobei sich die übereinstimmenden 70 Vgl. a.a.O., S. 298. 71 Vgl. Novalis' Roman Heinrich von Ofterdingen, wo eine ähnliche Metamorphose

geschildert wird, indem der Held zur Blume, zum Tier, zum Stein, zum Stern wird {Novalis Werke, hrsg. und kommentiert von G. Schulz, München 1969, 3. Aufl. 1987 auf der Grundlage der 2., neubearbeiteten Aufl. 1981, S. 283; vgl. auch S. 286, wo es heißt: »Heinrich wird im Wahnsinn Stein - [Blume] klingender Baum - goldner Widder - Heinrich errät den Sinn der Welt - Sein freiwilliger Wahnsinn. Es ist das Rätsel, was ihm aufgegeben wird.«). 72 In diese Rubrik gehören auch die Mensch-Tiergestalten der ägyptischen Mythologie, der griechischen Sagen (z.B. der Kentaur, der halb Mensch, halb Pferd ist, oder Pegasus, das geflügelte Pferd) sowie des Alten Testaments (Engel als Mensch mit Vogelflügeln). 258

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Züge verstärken, die abweichenden abschwächen.73 Ohne den durch­ gehenden Leitfaden einer Person in dieser oder jener Form brächen die diversen Zustände auseinander; sie ständen unverbunden neben­ einander oder tauchten unverbunden nacheinander auf, ohne daß die Transmutation einsichtig wäre. Die Möglichkeit einer Transforma­ tion ineinander im Ausgang von einem bestimmten Zustand ver­ langt eine graduell sich modifizierende Grundstruktur, deren diverse aufeinanderfolgende Zustände als zunehmende Abweichung von der Ausgangssituation interpretiert werden können. Beim Traum läßt sich noch eine andere Art der Verschiebung konstatieren, nicht nur eine qualitative Modifikation, sondern auch eine räumliche und zeitliche Vertauschung der Traumteile unterein­ ander. Hierin ist auch der Grund zu sehen, weshalb die räumliche und zeitliche Ordnung der Traumwelt eine total andere ist als die des Wachzustands. Im Traum ist es nichts Ungewöhnliches, daß sich bei­ spielsweise ein Boot auf dem Dach eines Hauses befindet oder eine Figur ohne Kopf läuft.74 Im übrigen ist dieser Sachverhalt aus Kinder­ zeichnungen und Darstellungen primitiver Völker bekannt75, nicht weniger aus Gemälden Wahnsinniger wie aus der hohen Kunst76, wo nicht selten Personen auf dem Kopf stehen oder quer durch die Luft fliegen. Nicht nur, daß Kinder und Primitive noch nicht gelernt haben, die untere, sich zugewandte Seite eines Blattes Papier als Bo­ den zu fixieren und so den Menschen auf die Füße zu stellen, die räumliche Zu- und Anordnung scheint hier völlig belanglos zu sein, wichtig ist offensichtlich nur die jeweilige Figur vor einem Hinter­ grund. Dasselbe läßt sich bezüglich der zeitlichen Ordnung feststellen. Obwohl auch der Traum die zeitliche Folge kennt, braucht er sich nicht an die Wirklichkeit zu halten. Die zeitliche Folge, sei es das reine Nacheinander oder die kausale Abfolge, kann im Traum ver­ tauscht oder auch als Simultaneität vorgestellt werden.77 Die Bild­ haftigkeit des Traumes und die mit ihr gegebene Simultaneität begünstigen gegenüber der Sukzessivität der Wirklichkeit eine zeit­ Vgl. hierzu auch S. Freud: Die Traumdeutung, a.a.O., S. 299, 301. Vgl. a.a.O., S. 284. Z.B. von Indianerstämmen. Z.B. von Chagall. Die von S. Freud: Die Traumdeutung, a.a.O., S. 318ff., gegebene Erklärung, daß kau­ sale Sequenz oft als Vor- und Haupttraum oder als Haupt- und Nachtraum begegnet, dürfte die Situation nicht genau wiedergeben. 73 74 75 76 77

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liehe Verschiebung, sogar eine gleichzeitige Darstellung aufeinander­ folgender Vorgänge. Dies ist auch der Grund, weshalb sieh die Logik des Traumes grundlegend von der der Wirklichkeit und den in ihr gemeinhin für gültig erachteten Sätzen: dem Satz der Identität, des auszuschließen­ den Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten unterscheidet. Wie das Moment der Verdichtung und Mehrdeutigkeit des Traumes die Geltung der Gesetze der Wachlogik dementiert und im Unter­ schied dazu gerade Widersprüchliches, Gegensätzliches toleriert, so läßt auch das Moment der Verschiebung an die Stelle logisch-zeit­ licher Folge mit Vorliebe Gleichzeitigkeit treten.78 Fassen wir die bisher aufgezeigten Verschiebungsmöglichkeiten bei Witz, psychopathologischen Vorgängen des Alltagslebens und Traum zusammen, so ergeben sich folgende Gesetzmäßigkeiten: er­ stens die räumliche und zeitliche Verschiebung unter Beibehaltung des Musters, zweitens die quantitative Verschiebung, die auch im übertragenen Sinne verstanden werden kann und zur Vergrößerung oder Verkleinerung, Über- oder Untertreibung usw. führt, und drit­ tens die qualitative Verschiebung, die die graduelle Modifikation und Wandlung der Grundstruktur bedingt. c) Ähnlichkeit als mimetisches Verhältnis Zum Analogiedenken gehört außer den bisher beschriebenen For­ men von Ähnlichkeit noch eine andere, wie sie sich aus der semanti­ schen Beziehung zwischen Darstellung und Darzustellendem ergibt. Auf sie läßt sich das Urbild-Abbildverhältnis anwenden. Zur Erklärung des Zustandekommens der Ebenbildlichkeit bzw. der Entsprechung hat Wittgenstein in seiner Abbildtheorie im Tractatus logico-philosophicus das Verhältnis »Sprache - Wirklichkeit« als Abbildverhältnis interpretiert. In diesem Zusammenhang hat er auch den Begriff der »Form der Abbildung«79 eingeführt und ihn von

78 Dasselbe gilt für den Wahnsinn, die Paranoia usw. S. Freud: Der Witz und seine Be­

ziehung zum Unbewußten, a.a.O., S. 184, weist auf die Vermutung Griesingers hin, daß die Delirien Geisteskranker die Funktion der Mitteilung haben, die allerdings nur dann von uns verstanden wird, wenn wir nicht die Anforderungen des bewußten Den­ kens an sie stellen. 79 L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Nr. 2.17, in: Schriften 1, Frankfurt a.M. 1969, S. 15. 260

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dem der »Form der Darstellung«80 unterschieden. Mit dem ersteren bezeichnet er die Gleichartigkeit, mit dem zweiten die Ungleichartig­ keit. In jedem Ahhildverhältnis muß es sowohl Gemeinsamkeiten wie Unterschiede geben, andernfalls, bei Suspendierung aller Diffe­ renzen, fielen beide Relata zusammen, während sie bei totaler Hete­ rogenität inkompatibel wären. Das Eigensein des Abbildes gegenüber dem Original - die »Form der Darstellung« - ist es nun, die dessen Andersheit gegenüber dem Abzubildenden bedingt. Was jeweils als Gemeinsamkeit und was als Unterschied fungiert, hängt von empi­ risch-psychologischen Faktoren ab. Ist es im einen Fall die Größe, Anordnung der Elemente, Farbe u. ä., worin das Abbild dem Original gleicht, so sind es im anderen Fall gerade diese Eigenschaften, worin es sich von ihm unterscheidet. Die Abbildung zweier Fechter, die in realistisch-plastischer Darstellung außer der Größe, Haltung, Farbe noch die Plastizität wahrt, verliert bei flächenhafter Darstellung die Dreidimensionalität und bei Schwarz-Weiß-Darstellung außerdem noch die Farbe. Ein Minimum an Gemeinsamkeiten muß jedoch er­ halten bleiben, um bei aller Reduktion und Abweichung den Zusam­ menhang zu garantieren. Dies gilt nun auch für den Traum. Zwischen Trauminhalt und Traumgedanken muß es trotz aller Verschiebung, Verstellung und Verzerrung Gemeinsamkeiten geben, mögen sie im Muster, in der Anordnung der Teile, in der Gesamtsituation oder im Detail beste­ hen. Ansonsten wäre eine semantische Entsprechung unmöglich. Hier stellt sich nun allerdings eine schwierige Frage, nämlich die, welches Glied innerhalb dieser Beziehung als Urbild und welches als Abbild fungiert. Freud und seine Nachfolger, u. a. auch der dem impliziten Sprachdenken Freuds aufgeschlossen gegenüberstehende Habermas81, gehen wie selbstverständlich von der Prämisse aus, daß die retrospektiv aus der Traumdeutung gewonnenen Traumgedan­ ken, deren Gefüge unserer normalen Wachlogik entspricht und sich daher unserem Verstehen erschließt, das Ursprüngliche und Zugrun­ deliegende seien, demgegenüber der oft absurd erscheinende und schwer verständliche Traum das Derivative, Verstellte und Verzerrte sei. Es läßt sich aber auch umgekehrt argumentieren, daß der Traum das Erste, Ursprüngliche, weil faktisch Vorausgehende sei und die 80 Nr. 2.173, a.a.O., S. 16. 81 J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a.M. 1968, 6. Aufl. 1981, S. 274f.,

vgl. auch S. 266. ^ 261

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assoziativ angeschlossenen Traumgedanken lediglich ein Ahleitungsprodukt seien. Für die Beurteilung der Logik hat dies entscheidende Konsequenzen: Im ersten Fall giht die normale Wachlogik mit ihrer Eindeutigkeit und Identität, ihrem Ausschluß von Widerspruch und Gegensatz sowie der Unmöglichkeit eines Dritten den Maßstah und die Orientierungsgrundlage ah, während der Traum mit seiner Mehr­ deutigkeit, seinen Widersprüchen und Gegensätzen, seiner Gleich­ zeitigkeit des Sich-Ausschließenden als durch die Traumarheit des Unhewußten verstellt und unverständlich gemacht gilt. Im zweiten Fall wird die Eigenständigkeit und Originalität der Traumlogik unter­ stellt, nicht zuletzt, weil sie sich dem analogischen Denken er­ schließt, während das Zustandekommen der normalen Wachlogik durch Reglementierung, Auswahl und Einspruch der kritischen Ver­ nunft erklärt wird. Als künstliches Ahstraktionsprodukt giht sie nicht die Gesamtheit der Wirklichkeit wieder, sondern nur das, was sich dem konsistenten, kohärenten Denken fügt, während die Traumlogik gerade die Fülle des Lehens mit seiner Mehrdeutigkeit und Wider­ sprüchlichkeit erschließt. Auffallend ist dies hei Witzen, die sich nicht durch Esprit und Feinsinnigkeit auszeichnen, sondern hloße Klangassoziationen sind oder sogar durch ausgesprochene Dummerhaftigkeit hervortreten. Zu den ersteren gehören die Kalauer. Bei ihnen handelt es sich um reine Klangspiele wie die Predigt des Kapuziners aus Wallensteins Lager: »Kümmert sich mehr um den Krug als den Krieg, Wetzt lieher den Schnahel als den Sahel [...] Der Rheinstrom ist worden zu einem Peinstrom, Die Klöster sind ausgenommene Nester, Die Bistümer sind verwandelt in Wüsttümer [,..]«82

Ein Beispiel für die zweite Art, die sogenannten Dummerchenwitze, die den Anschein der Logik erwecken, aher auf einem Denkfehler hasieren, ist der folgende: »Ein Herr kommt in eine Konditorei und läßt sich eine Torte gehen; hringt dieselhe aher hald wieder und verlangt an ihrer Statt ein Gläschen Likör. Dieses trinkt er aus und will sich entfernen, ohne gezahlt zu hahen. Der Ladenhesitzer hält ihn zurück. >Was wollen Sie 82 F. Schiller: Wallensteins Lager, Vers SOOff., in: Sämtliche Werke, a.a.O., S. 292f.

(VersSOOff.). 262

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von mir?< - >Sie sollen den Likör bezahlend - >Für den habe ich Ihnen ja die Torte gegebene - >Die haben Sie ja auch nicht bezahlte - >Die habe ich ja auch nicht gegessen.««83 Der Denkfehler besteht darin, daß hier zwei voneinander unab­ hängige Vorgänge, das Zurückbringen der Torte und das Nehmen des Likörs, vom Kunden in eine Beziehung gesetzt werden, und zwar in die eine Entschädigung, die vom Verkäufer aus dessen Sicht nicht verstanden wird und normalerweise auch nicht verstanden werden kann. Die Logik des Käufers konfligiert hier mit der Logik des Ver­ käufers. Das »dafür« wird doppeldeutig, indem es aus der Sicht des einen das »dafür nehmen«, aus der Sicht des anderen das »dafür be­ zahlen« bedeutet. Die hier angeführte Sorte von Witzen zeigt eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Traum und seiner zwiefachen Interpretations­ möglichkeit, was die Beziehung zwischen Trauminhalt und latenten Traumgedanken sowie den damit zusammenhängenden Status der Logik betrifft. Bisher wurde die spezifische Gedankenkombination in Witzen aus der Verdichtungs- und Verschiebungsarbeit der Witz­ technik erklärt, wobei die normale Logik den Ausgang und ständigen Referenten bildete. Aus Kinderspielen, zu denen Reim, Alliteration, Refrain, Klang- und Gedankenspiele gehören, ist jedoch bekannt, daß der Lustgewinn um so größer ist, je willkürlicher, wahlloser, unver­ ständlicher aus der »normalen« Sicht der Erwachsenen die Wort- und Gedankenkombinationen sind. Das Kind operiert völlig frei und un­ gebunden mit Worten und Gedanken, erweist sich insofern als schöpferisch in bezug Wort- und Gedankenkombinationen. Während dieser infantile Zustand normalerweise im Laufe der intellektuellen Entwicklung mehr und mehr eingeschränkt wird und schließlich ver­ lorengeht, hat er sich beim Witz ins Erwachsenenalter hinübergeret­ tet. Könnte dieser Umstand nicht auf die Tatsache weisen, daß die Kinderlogik mit ihrer Mehr- und Vieldeutigkeit, ihrer Widersprüch­ lichkeit, die wir als »Kinderdummheit« bezeichnen, wie sie auch beim Witz vorliegt, die ursprünglichere ist, von der unsere normale Logik lediglich ein künstliches, reglementiertes Ableitungsprodukt darstellt? Nicht wäre dann die Logik des Witzes aus der normalen Logik durch Verschiebung entstanden, sondern umgekehrt die nor­ male Logik aus der Witzlogik durch Auswahl und Reglementierung. Für das Verhältnis des analogischen Denkens zum angeblich schlüssi­ 83 S. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, a. a. O., S. 75.

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gen der normalen Logik hätte dies zur Konsequenz, daß es diesem vorgängig, nicht nachfolgend wäre, zumindest gleichrangig mit ihm. Auf jeden Fall ist die These zu verabschieden, daß das Analogieden­ ken ins Irrationale gehört, da Rationalität hier nur aus der Perspekti­ ve der »normalen« Logik gesehen wird.

9. Selbstähnlichkeit als Analogieform in derfraktalen Geometrie a) Die Entdeckung des 20. Jahrhunderts Das Analogiedenken, das historisch gesehen das Wissenschaftsver­ ständnis der Renaissance ausmacht und in den darauffolgenden Jahr­ hunderten seitens des Rationalismus, der Aufklärung, der Transzen­ dentalphilosophie, der neuzeitlichen Naturwissenschaft als irrational und unwissenschaftlich disqualifiziert wurde, hat im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine Aufwertung in einem völlig neu ausgear­ beiteten Wissenschaftszweig gefunden, und zwar in der von dem pol­ nischen Mathematiker Benoit B. Mandelbrot begründeten fraktalen Geometrie. Sie ist im Begriff, die klassische, auf Euklid zurückgehen­ de Geometrie mit ihren regulären Strukturen wie Parallele, Winkel, Kreis, Dreieck, Quadrat und ihren stetigen Dynamiken durch eine Geometrie zu ersetzen, die komplizierte, komplexe Gestalten und Dynamiken ins Auge faßt und damit eine Vielzahl von Phänomenen nicht allein aus der Wissenschaft, sondern auch aus dem Alltag, der Natur und Kunst zu erklären vermag, denen die traditionelle Geo­ metrie ratlos gegenüberstand. Da die fraktale Geometrie als Wissen­ schaft akzeptiert ist, wirft dies retrospektiv ein Licht auch auf den Wissenschaftsstatus des älteren Analogiedenkens. Beobachtungen, die die Mathematik bereits im 19. Jahrhundert beunruhigten, jedoch wegen ihrer Unlösbarkeit für pathologisch gehalten und beiseite geschoben wurden, wie die zwar stetige, aber undifferenzierbare Kurve von Debois Reymond, die raumfüllende Kurve von Giuseppe Piano und andere Monstren, veranlaßten Man­ delbrot seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Idee einer neuen Geometrie nachzugehen. Als eigentliches Geburtsjahr dieser Geometrie gilt jedoch das Jahr 1975, in dem Mandelbrot sein Buch Les objets fractals. Forme, hasard et dimension publizierte.84 Das 84 Paris 1975, 3. Aufl. 1989. Vgl. auch ders.: On the geometry of homogenous turbu264

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Spezifikum dieser Geometrie besteht darin, daß sie nicht auf dem quantitativen, sondern auf dem qualitativen Maß basiert und inso­ fern eine Gestaltmathematik ist. Sie operiert mit komplizierten, komplexen Mustern, die sich allerdings auf vergleichsweise einfache Erzeugungs- und Verhaltensregeln reduzieren lassen. Da eine Viel­ zahl mathematischer Begriffe und Hilfsmittel schon vor der Etablie­ rung dieser Geometrie elaboriert war, konnten etliche derselben als mathematische Grundlagen übernommen und in die fraktale Geo­ metrie eingebaut werden, womit dem Exaktheits- und Präzisions­ ideal der modernen Wissenschaft Genüge getan wurde. Inzwischen zeigt sich die Relevanz dieses Wissenschaftszweiges im Anstieg der Einsichten und Erkenntnisse einschließlich der Fachliteratur und nicht zuletzt in der Anwendung auf immer neue Bereiche der Wis­ senschaft und Kunst, auf Physik, Chemie, Geologie, Kosmologie, Astronomie, Meteorologie, Anatomie, Biologie, Psychologie, Wis­ senschaftstheorie, Ökonomie, Malerei, Musik usw. Sie ist ebenso auf räumliche wie zeitliche Strukturen, auf statische geometrische Gebilde wie auf Fluktuationen, auf Turbulenzen, Wellenerscheinun­ gen, Populationskurven, Aktienkurse, Schwankungen des Weltmark­ tes usw. anwendbar; sie wird zur Erklärung der Entstehung von Blatt-, Baum-, Kohlformen85, von Tierfellmaserung, von Blutkreis­ lauf, Nervensystem u. ä. herangezogen. Es gibt kein Gebiet, das sich der fraktalen Geometrie verschlösse. Wiewohl nicht Ursache und Anlaß ihrer Entstehung, so ist doch die moderne Computertechnik aus dieser Disziplin nicht wegdenk­ bar, da erst die Computersimulation die Visualisierung der Algorith­ men, d. h. die Transformation mathematischer Gleichungen in opti­ sche Strukturen und Formationen ermöglicht hat; insofern ist sie ein lence, with stress on the fractal dimension of the iso-surfaces of scalars, in: Journal of Fluid Mechanics, Bd. 72 (1975), S. 401-416; ders.: Mecanique des fluides. Geometrie fractale de la turbulence. Dimension de Hausdorff, dispersion et nature des singularites du mouvement des fluides, in: Comptes Rendus. Hebdomadaires des Seances de l'Academie des Sciences, Bd. 282 - Serie A (Paris 1976), Nr. 1, S. 119-120; ders.: Fractals: form, chance, and dimension, San Francisco 1977; ders. The fractal geometry of trees and other natural phenomena, in: Lecture Notes in Biomathematics, Bd. 23: Geometrical Probality and Biological Structures: Buffon's 200th Anniversary. Proceedings of the Buffon Bicentenary Symposium on Geometrical Probability, Image Analysis, Mathematical Stereology, and Their Relevance to the Determination of Biological Structures, Paris 1977, ed. by R. E. Miles and J. Serres, Berlin, Heidelberg, New York 1978, S. 235­ 249; ders.: Les objets fratals, in: La Recherche, Bd. 9, Nr. 85 (1978), S. 5-13. 85 Besonders beliebte Beispiele sind Farn und Brokkoli. ^ 265

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wichtiges, nicht wegdenkhares Instrument, komplizierte Zahlen und Verhältnisse zu veranschaulichen. Die fraktale Geometrie ist durch zwei Eigenschaften charakteri­ siert, zum einen durch Fraktalität, zum anderen durch Selhstähnlichkeit. Von ihnen drückt die erste Gehrochenheit aus, wie sie an Brüchen, gehrochenen Zahlen u. ä. konstatierhar ist. Mit der Zer­ splitterung geht Irregularität und Unherechenharkeit einher, wo­ durch eine Beziehung zur Chaostheorie gegehen ist, die ehenfalls Unherechenharkeit trotz Determination einzukalkulieren hat.86 Die zweite Eigenschaft deutet auf Wiederholung des Gleichen, zumindest des Ähnlichen, also auf Iteration; sie schließt Rekursion und Selhsthezüglichkeit ein und weist damit auf Regularität und Ordnung. Die fraktale Geometrie stellt folglich eine Verhindung von Regularität und Irregularität, Ordnung und Kontingenz dar und, da Regelmäßig­ keit und Ordnung an Vernunftmethoden gehunden sind, eine Ver­ hindung von Vernunft und dem Anderen der Vernunft, was den Bo­ gen zum Analogiedenken als einer spezifischen Rationalitäts- und Wissenschaftsstruktur schlagen läßt. Geht man vom Begriff des Fraktals aus, so dient das adjektivi­ sche »selhstähnlich« im Fundamentalhegriff dieser Geometrie, dem »selhstähnlichen Fraktal«, zur Ahschwächung des Moments der Irre­ gularität und Unordnung und deutet auf eine gewisse Ordnung. Geht man hingegen von der Selhstähnlichkeit als primärem Begriff aus, der auf wiederkehrender Gleichheit hzw. Ähnlichkeit hasiert und Ordnung impliziert, dann weist das Moment der Fraktalität darauf, daß es eine ahsolute Homogenität und Dimensionskonkordanz nicht giht und daß mit Brüchen und Irregularitäten zu rechnen ist. Fraktalität und Selhstähnlichkeit sollen im folgenden zum Leit­ faden der Analyse dienen und zugleich den Brückenschlag zum Ana­ logiedenken der Renaissance ermöglichen. b) Fraktal Der Neologismus »fraktal« wurde von Mandelhrot in Anlehnung an das lateinische frangere = »hrechen«, »zerhrechen«, »unregelmäßige 86 Chaos ist hier nicht im Sinne eines passiven Chaos als vollendete Entropie, d.h. als

Maximum an Auflösung von Strukturen, zu verstehen, sondern im Sinne eines aktiven, kreativen Prinzips, als Anfangszustand der Gestaltung, als Insgesamt der noch nicht differenzierten Muster und Strukturen. 266

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Bruchstücke erzeugen« geprägt und soll, auf Gegenstände ange­ wandt, nicht nur ihre Komplexität gegenüber den einfachen Gegen­ ständen der euklidischen Geometrie anzeigen, sondern auch auf eine prinzipiell neue Ebene der Betrachtung hinführen, auf die der Zerbrochenheit und Zersplitterung der Gegenstände. Was mit Fraktal näherhin gemeint ist, läßt sich an einem po­ pulären Beispiel demonstrieren. Betrachtet man ein Wollknäuel von 10 cm Durchmesser und 1 mm dicken Fäden hinsichtlich seiner Dimension, so wird das Resultat je nach Nähe oder Ferne schwan­ ken. Aus großer Distanz zieht sich das Knäuel für einen Betrachter auf einen Punkt, ein nulldimensionales Gebilde, zusammen. Bei Annäherung zeigt es sich als Kugel, d. h. als dreidimensionales Raumgebilde. Tritt man noch näher heran, so erkennt man nur noch ein Gewirr von Fäden, von eindimensionalen Gebilden, und nähert man sich noch mehr mittels einer Lupe oder eines Mikro­ skops, so nehmen etwa bei 0,1mm Auflösung die Fäden die Gestalt einer Säule, also wieder einer dreidimensionalen Raumfigur, an. Bei 0,01mm löst sich die Säule in eindimensionale Fasern auf. Die Dimensionen schwanken also zwischen 0, 3, 1, 3, 1. Ähnlich ver­ hält es sich bei einem zerknitterten und zum Kügelchen zusam­ mengepreßten Blatt Papier, das sowohl als zweidimensionale Fläche wie als dreidimensionale Kugel verstanden werden kann, oder bei der vielgewundenen, raumerfüllenden Peano-Kurve, die keinen Ort der Fläche untangiert läßt und daher gleicherweise als eindimen­ sionale Linie wie als zweidimensionale Fläche genommen werden kann. Wie die Beispiele zeigen, wechseln die »effektiven Dimensio­ nen« je nach Nähe oder Ferne der Betrachtung. Der scheinbar selbe Gegenstand zerfällt in eine Vielzahl verschieden dimensionaler Ge­ genstände: Er bricht auseinander und löst sich in eine Pluralität auf. Man kann sich fragen, ob es überhaupt festumrissene, eindeutig definierbare Gegenstände gibt oder ob sich alle Gegenstände in eine Sequenz unterschiedlicher Größenbereiche auflösen. Beobachtetes Objekt und beobachtendes Subjekt stehen in einer unaufhebbaren Interdependenz - eine Erkenntnis, die die fraktale Geometrie mit der Quantenmechanik und Relativitätstheorie teilt. Einen Eindruck von der Fraktalität verschafft man sich am be­ sten über Computermodellationen, die bei Vergrößerung oder Ver­ änderung eines mathematischen oder natürlichen Gegenstands (Sy­ ^ 267

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stems) den Blick in immer neue Welten eröffnen und den Betrachter auf eine Reise in unauslothare Tiefen mitnehmen.87 Der Begriff »Fraktal« dient aher nicht nur zur Bezeichnung der Ahfolge der effektiven Dimensionen eines Gegenstands, sondern auch zur Bezeichnung des Resultats dieser Ahfolge, ehen jener nicht eindeutig definierharen Dimension, die den Ühergang zwischen wohldefinierten Zonen ausmacht. Ähnlich wie der Begriff der Sum­ me sich auf den Additionsvorgang wie auf das Resultat heziehen kann, so auch der Begriff des Fraktals. Mit fraktalen Dimensionen sind inshesondere Wellenlinien, mäanderhafte Flußläufe, Gehirgssilhouetten, Küsten- und Grenzlinien, Wolkenformationen, die Win­ dungen des Gehirns u. ä. gemeint. Die oft gestellte Frage, welche Länge die Küstenlinie Großhritanniens hat, sperrt sich gegen eine eindeutige Beantwortung, da die Längenangahe mit dem Maßstah variiert. Wenn hei einer Kartographierung im Maßstah 1:100000 Buchten und Halhinseln sichthar sind, so zeigen sich hei einem Maß­ stah 1:10000 neue Details, Unterhuchten und Unterhalhinseln und hei einem Maßstah 1 : 1 000 wieder neue und so in infinitum, wohei sich die Linie ins Unendliche ausdehnt, während im entgegengesetz­ ten Fall der Verkleinerung die Details verschwimmen und ver­ wischen. Zum Zwecke des Vergleichs verschiedener unendlicher Linien, heispielsweise der Küstenlinie Englands und der Amerikas, hat man eine hestimmte mathematische Methode, das Hausdorff-BesicovitchVerfahren, entwickelt, das die Komplexität und Krümmung herücksichtigt, wohei wenig gekrümmte Linien, die sich der Eindimensionalität annähern, gegen 1 tendieren, stark gekrümmte, die sich der Zweidimensionalität annähern, gegen 2. So hat z.B. die Küstenlinie Großhritanniens eine Dimension von 1,26; für das menschliche Ge­ hirn scheint eine fraktale Dimension von 2,79 his 2,73 zu hestehen. Das Fraktal erweist sich damit als ein hochkomplexes, hochdif­ ferenziertes Ohjekt, das durch unterschiedliche Skalierung, durch Vergrößerung oder Verkleinerung, durch Verschiehung, modifizierte 87 Vgl. das eindrucksvolle, von David Brooks entwickelte und von Dan Kalikow kom­

mentierte Computerprogramm der Mandelhrotmenge in J. Briggs und F. D. Peat: Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaos-Theorie. Mit vielen Illustrationen (Titel der Originalausgahe: Turbulent Mirror. An Ulustrated Guide to Chaos Theory and the Science of Wholeness, New York 1989), aus dem Amerikanischen ühersetzt von C. Carius unter wissenschaftlicher Beratung von P. Kafka, München, Wien 1990, S. 143-148. 268

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Iteration u. ä. zustande kommt. Im Fraktal löst sich der scheinbar eine mit sich identische Gegenstand in eine Pluralität von Facetten oder, deutlicher noch, in eine Pluralität verschiedener Gegenstände auf. Hier legt sich der Vergleich mit dem Analogiedenken und der von ihm akzeptierten äußeren Verschiedenheit der Gegenstände nahe. Analogie spielt ja nicht innerhalb einer und derselben Gattung oder Art zwischen gleichartigen Instanzen, sondern zwischen heteroge­ nen gleichrangigen Individuen, Arten und Gattungen. Der Diversität der Instanzen, die sich bei analytischer Explikation eines Leitphäno­ mens im Analogiedenken ergeben, entspricht die Diversität der Di­ mensionen beim Durchgang durch das natürliche oder geometrische Objekt in der fraktalen Geometrie. Wenn im magisch-mythischen Weltbild der Ursprung der Diversifizierung das principium individuationis, die Materie, ist, so ist das Pendant dazu in der fraktalen Geometrie wegen der Reduktion auf mathematische Größen und räumliche Formen das unendliche Reich der Zahlen und des Raumes. Im einen wie im anderen Fall zerfällt die eine Welt in eine Vielheit disparater Stücke, Fragmente, die gleichwohl zusammengehalten und geeint werden, sei es durch die Ursprungszusammengehörigkeit und Verwandtschaft wie im Analogiedenken, sei es durch die noch zu erläuternde Selbstähnlichkeit wie in der fraktalen Geometrie. Gilt für die absolut homogenen Gebilde der euklidischen Geo­ metrie Dimensionskonkordanz, so gilt für die Gebilde der fraktalen Geometrie Dimensionsdiskordanz, was voraussetzt, daß das Inva­ rianzgesetz gegenüber Transformationen, sei es Verschiebungen oder Veränderungen (z.B. Maßstabsveränderung), verletzt, modifiziert oder eingeschränkt werden muß, damit verschiedene Gegenstände zustande kommen. Selbstähnlichkeit, nicht Selbstgleichheit ist die Folge. So erscheinen dieselben Figuren, Muster, Systeme entweder vergrößert oder verkleinert bei Skalenänderung oder gedehnt, ge­ streckt, gestaucht, gefaltet, vervielfältigt je nach Dehnung, Strekkung, Stauchung, Faltung, Spiegelung usw. Die unterschiedliche Skalierung ist Ursache der modifizierten Iteration desselben Objekts auch über Phasen hinweg wie bei der aemulatio im Analogiedenken. c) Selbstähnlichkeit Ebenso wie das Moment der Fraktalität gehört auch das der Selbst­ ähnlichkeit und das der ihm zugrundeliegenden Selbstbezüglichkeit (Rekursivität) zur fraktalen Geometrie. Sie lassen sich in der gesam­ ^ 269

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ten Natur, der anorganischen wie organischen, der mikrokosmischen wie makrokosmischen, der Geometrie wie der Zahlentheorie sowie darüber hinaus der Kunst und Technik nachweisen. Schon früh hat man beim genaueren Studium von Turbulenzen in Fluiden bemerkt, das sich große Turbulenzen aus vielen kleineren konstituieren und diese wieder aus noch kleineren. Lewis F. Richardson entwickelte 1926 aufgrund dieser Beobachtung seine Theorie von Hierarchien der Wirbel, die über Kaskaden verbunden sind. Auf einer Zeichnung von Leonardo da Vinci mit dem Titel »Die Sintflut«, die Mandelbrot seinem Buch Die fraktale Geometrie der Natur88 beifügt, gibt Leonardo einen Wasserschwall als Überlagerung unzäh­ lig vieler, verschieden großer Wirbel, Wellen und Strudel wieder, die sich über, unter und neben den Hauptwirbeln sammeln. Berühmt geworden ist auch der aus dem 18. Jahrhundert stammende Farbholzschnitt »Die große Woge« des Japaners Katsushika Hokusai, der eine gigantische, sich überschlagende Woge zeigt, die an ihren Rän­ dern in Gischt zerfranst. Mit dem Wellenberg im Vordergrund kor­ respondiert die Silhouette des Fujiyama im Hintergrund, während sich in die Wellentäler schlanke Schiffe einschmiegen. Diese Bilder sind ein früher Ausdruck fraktaler Wahrnehmung und, im Falle Leo­ nardos, eines bereits intensiveren Studiums fraktaler Objekte, noch bevor ihre wissenschaftliche Erforschung einsetzte. Auch das Studium des Wetterverhaltens, dem sich Edward N. Lorenz vom Massachusetts Institute of Technology in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts widmete, ließ bei Langzeit­ beobachtung immer wieder ähnliche, wenn auch wegen der extremen Sensibilität und Beeinflußbarkeit89 nicht genau gleiche Verhaltens­ weisen erkennen und führte 1963 zur Entdeckung des sogenannten chaotischen oder seltsamen Attraktors. Gemeint ist damit, daß trotz aller Stochastizität und Chaotik bestimmte Verhaltensmuster inner­ halb gewisser Grenzen wiederkehren. Den Schlüssel zum Verständnis dieses Verhaltens glaubt man in den lokalen Eigenschaften des Zu­ standsraumes zu finden, der Streckung einerseits, der Faltung ande­ rerseits. Ein exponentielles Auseinanderdriften des Musters (bzw. der Orbits), das zum absoluten Chaos führen würde, wird wegen der End­ 88 B. B. Mandelbrot: Die fraktale Geometrie der Natur (Titel der Originalausgabe: The

Fractal Geometry of Nature, New York 1977,1982,1983), aus dem Englischen übersetzt von R. und U. Zähle, Basel, Boston, Berlin 1991, Tafel C 3 zwischen den S. 272 und 273. 89 Siehe Schmetterlingseffekt. 270

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lichkeit des Attraktors verhindert. Auf diese Weise erfolgt eine stän­ dige Zurückführung des Musters auf sich selbst. Inzwischen sind eine Vielzahl selbstähnlicher Strukturen und Formationen in der Natur entdeckt worden. Im organischen Bereich zählt das Luftröhrensystem, der sogenannte Bronchialbaum, dazu, der sich nach einer groben Verästelung in die rechte und linke Luft­ röhre zunehmend detaillierter verzweigt, bis er in einem schier un­ entwirrbaren Geflecht kleinster Verästelungen versinkt. Da die Bi­ furkationen nicht in regelmäßigen Abständen erfolgen, sondern in unterschiedlicher Skalierung, resultieren neue, wenngleich ähnliche Muster.90 Entsprechendes gilt für den Blutkreislauf und das Nerven­ system. Der Aufbau geschieht nach dem Prinzip modifizierter Iterati­ on, so daß sich bezüglich des ersteren eine Verzweigung in die großen Arterien und Venen (ein Versorgungs- und Entsorgungssystem), er­ gibt und bezüglich dieser wieder kleinere und kleinste Verzweigun­ gen. Strukturell hat dieses System von Auffächerungen sein Pendant im Spezifikationssystem, das ja auch mit zu den Formen analoger Ab­ leitung gehört, auch wenn es unregelmäßige Abstände aufweist und nach bestimmten Hinsichten variiert ist. Selbstähnlichkeit begegnet auch im anorganischen Bereich, im kristallinen ebenso wie im metallischen. Bekannt sind die hexagona­ len Rauhreifkristalle oder die wie Tannenbäumchen aussehenden Xe­ non-Kristalle, die beim Erstarren von Eisenguß oder Stahl entste­ hen.91 Helge von Koch entwickelte 1904 ein Konstruktionsverfahren zur Erzeugung von Schneeflockengestalten durch fortgesetzte An­ wendung desselben Generators, nämlich von Dreiecken, auf immer kleinerer Skala, wodurch eine zunehmend komplexere Gestalt ent­ steht. Wie im mikrokosmischen Bereich so sind auch im makrokos­ mischen die Galaxien nach bestimmten Prinzipien gestaltet. Um eine durchaus nicht zufällige Anordnung handelt es sich bei bestimmten 90 Die Skalierung der ersten sieben Generationen der Bronchialröhre erfolgt nach einer von dem italienischen Mathematiker Filius Bonacci im 13. Jahrhundert entwickelten Skala, der sogenannten Fibonacci-Skala, bei der sich jede nachfolgende Zahl aus der Summe ihrer beiden Vorgängerinnen errechnet. Nach diesen ersten Generationen der Verästelung ändert sich die Skala auffällig. Nach der zwanzigsten Iteration beispiels­ weise erfolgt eine Verzweigung auf einer kleineren Längenskala, aber mit demselben Luftröhrendurchmesser wie zuvor. Bruce West und Ary Goldberger haben herausgefun­ den, daß die menschliche Lunge mit einer ganzen Reihe fraktaler Skalen überzogen ist. 91 Vgl. Horizonte. Schweizer Forschungsmagazin, Nr. 31 (1996), S. 14-15.

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Galaxienhaufen, deren Entstehung man sich als Streuung des galak­ tischen Stauhes auf einem makrokosmischen Gummihand vorstellt, das zunächst gedehnt und dann in regelmäßigen Ahständen zer­ schnitten wird, wohei sich die Teile auf ihre ursprüngliche Länge zu­ sammenziehen. Bezüglich der Teile wiederholt sich der Prozeß, so daß im Endeffekt ein selhstähnlicher, hierarchisch geklumpter Stauh entsteht.92 Eines der ergiehigsten Gehiete ist der Zahlenhereich und seine Veranschaulichung auf dem Computer, wohei sich Mathematik und Ästhetik die Hand reichen. Am hekanntesten dürfte die sogenannte Mandelhrot-Menge sein, die auf dem Bildschirm als Apfelmänn­ chen erscheint, als nierenförmiges Gehilde mit Aushuchtungen, dem ein weiteres kreisrundes Gehilde ehenfalls mit Aushuchtungen aufgesetzt ist. Gleich welches Fragment man herausgreift und ver­ größert, immer wieder tauchen selhst in den kompliziertesten Mu­ stern, im sogenannten Perlenmuster, Seepferdchenmuster, Filigran­ muster usw., Apfelmännchen in verschiedener Größe, Lage und Anordnung auf.93 In aller Vielfalt, ja in aller unüherschauharen chaotischen Fülle kehrt dieselhe hzw. eine ähnliche Figur wieder. Ohwohl die Vergrößerung ins Unendliche fortgesetzt werden kann und allenfalls an der Computerkapazität Schranken findet, geht die Ähnlichkeit gewisser Figuren nicht verloren. Daß sich Selhstähnlichkeit nicht auf visuelle und geometrisierhare Formen heschränkt, sondern auch auf akustische Phänomene in der Musik hezieht, auf psychische in Träumen und auf sinnenhafte in der Literatur, rückt mehr und mehr ins Bewußtsein. Man denke an die Gesangsmuster primitiver Völker, an die Sprachmuster der Kin­ der, aher auch an die Variation von Leitthemen in Opern und Sym­ phonien. Der Gegenwartskomponist Charles Wuorinen hat nach eigener Aussage aufgrund einer inspirierenden Lektüre von Mandelhrots Buch üher die fraktale Geometrie musikalische Stücke unter Verwendung fraktaler Algorithmen komponiert, u. a. das Bamboula Squarde genannte Stück für ein quadrophonisches Tonhand und Or­ chester. Die Themenvariation ist ein hekanntes Stilmittel nicht nur in der Musik, sondern auch in der Dichtung. Verwiesen sei auf das Mo­ tiv der Entsagung in Goethes Wilhelm Meister, das in allen Lehens­ stadien des Helden modifiziert wiederkehrt, oder auf das Motiv des 92 Vgl. B. B. Mandelhrot: Fraktale Geometrie der Natur, a.a.O., S. 310. 93 Vgl. Anm. 87. 272

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Strebens in Goethes Faust.94 Daß auch Träume fraktal strukturiert sind, indem sich das Problem des Träumers in der story wiederholt und in immer subtileren Details reflektiert, ist faktisch seit Freud bekannt, von Montague Ullman wurde es ausdrücklich unter den Aspekt der Fraktalität gestellt.95 Metaphysische Intentionen verbindet der Physiker David Bohm mit dem Disparatheit und Heterogenität überwindenden Prinzip der Selbstähnlichkeit, das er zur Konstruktion eines Hologramms ge­ nutzt hat, das einerseits auf wissenschaftlichen Experimenten ba­ siert, andererseits den Weg für metaphysische Spekulationen eröff­ net. Ein Hologramm ist ein aus Laserstrahlen gebildetes, auf Interferenz beruhendes imaginäres Gebilde im dreidimensionalen Raum, um das ein Betrachter herumgehen kann. Es resultiert, wenn Laserstrahlen durch einen halbdurchlässigen Spiegel geschickt wer­ den. Die eine Hälfte des Lichts wird direkt auf eine photographische Platte gelenkt, die andere über die Vermittlung eines Gegenstands. Schneidet man aus diesem Interferenzmuster ein Stückchen heraus, so gibt das Fragment das gesamte Bild wieder, wenngleich in abge­ schwächter Form. Aufgrund des holistischen Effekts schließt Bohm, daß das Ganze der Welt in jedem Detail impliziert ist, wiewohl auf modifizierte Weise. Jeder Teil, jedes Einzelphänomen der physischen Welt ist Spiegel des Universums, ein Makrokosmos im Mikrokos­ mos. Hier taucht die alte Idee des Ganzen im Teil, der Totalität im Moment wieder auf, auf der auch das ältere Analogiedenken basierte, nur daß sie jetzt in wissenschaftlichem Kontext begegnet und einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen wird. Mit der Möglichkeit »wissenschaftlicher« Betrachtung im heutigen Verständnis ist retro­ spektiv die Rationalität des Analogiedenkens erwiesen.

94 Ein besonders ergiebiges Feld begegnet in der Malerei. Das Studium alter Meister, etwa

des von Hans Memling aus dem 15. Jahrhundert stammenden Porträts der Maria Porti­ nari zeigt, wie sehr diese Künstler mit denselben Formen arbeiten. Im vorliegenden Fall handelt es sich um das Motiv des Mandelförmigen, das nach Größe und Lage, Hell und Dunkel variiert wird. Es tritt nicht nur in den Augen der jungen Patrizierin auf, sondern vergrößert auch im Oval des Gesichts, das sich als heller Fleck vom dunklen Hintergrund abhebt, im Oval des Halsbandes und des Kragens, verkleinert im Bogen des Daumens und in der Hutspitze, im Auslaufen des Hutbandes, das in seiner strengen Form und in seiner dunklen Farbe dem ebenso strengen, aber hellen Kragen korrespondiert. 95 Vgl. M. Ullman: Wholeness and dreaming, in: Quantum Implications. Essays in honour of David Bohm, ed. by B. J. Hiley und F. D. Peat, London, New York 1987, S. 386­ 395. ^ 273

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Wenn das Analogiedenken der Renaissance aufgrund verglei­ chender Beobachtung die äußere wie innere Ähnlichkeit oder auch die vom Ursprung her bestehende Ähnlichkeit96 zwischen Dingen aufdeckte und in Kosmogrammen zusammenstellte und diese nicht nur für die theoretische Erklärung der zwischen den Objekten beste­ henden Beziehungen heranzog, sondern sie auch praktisch für die wechselseitige Beeinflussung der Objekte nutzte, so geht es jetzt im fraktalen Denken um die mathematisch-formale Darstellung der Strukturzusammenhänge; denn nach heutigem Wissenschaftsver­ ständnis kann Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und auf damit ver­ bundene Exaktheit, Präzision, Eindeutigkeit und Definierbarkeit nur machen, was sich auf mathematisch Explizierbares reduzieren und in formaler Notation wiedergeben läßt. So besteht das Anliegen der fraktalen Geometrie in der Angabe mathematisch formulierbarer Entstehungs- und Bildungsregeln der Objekte. Auf einfache wie eindringliche Weise läßt sich dies an der Man­ delbrot-Menge demonstrieren, jener Iterationsgleichung zur Erzeu­ gung von Apfelmännchen, deren Selbstähnlichkeit sich aus der Rückkopplung, nämlich der ständigen Wiedereinführung des Ergeb­ nisses in die Ausgangsgleichung, ergibt. Bei der Mandelbrot-Menge handelt es sich um eine höchst einfache mathematische Grundformel aus zwei Variablen z und c, von denen die eine quadriert und die andere sodann als Konstante subtrahiert wird: z2 - c. Durch ständige Wiedereinführung des Resultats in die Ausgangsfunktion resultiert ein immer komplexer werdendes Gebilde, allerdings unter Wahrung der Selbstähnlichkeit. Interessante graphische Effekte lassen sich je­ doch erst bei der Interpretation von z und c durch komplexe Zahlen erzielen, die sich aus einer reellen und einer imaginären Komponente zusammensetzen, deren Schnittstellen in der komplexen Ebene lie­ gen und unendlich sind. Das Frappierende an der Mandelbrot-Menge ist die Tatsache, daß sich Muster von schwindelerregender Komple­ xität auf relativ einfache Bauformeln und Erzeugungsregeln reduzie­ ren lassen, die dem Prinzip der rekursiven Iteration genügen.97 Die iterativen Prozesse können sowohl linearer wie nichtlinearer Art sein, angereichert mit Zufallsoperatoren oder auch nicht. Ange­ 96 Die äußerlich auch als Unähnlichkeit auftreten kann. 97 Vgl. K.-H. Becker und M. Dörfler: Rezept für ein Apfelmännchen, in: K. M. Michel

und T Spengler unter Mitarbeit von H. M. Enzensberger (Hrsg.): Kursbuch, Heft 98: Das Chaos, Berlin 1989, S. 39-41. 274

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Der analogische Rationalitätstypus

sichts der Vielzahl von Selhstähnlichkeiten muß es Anliegen der fraktalen Geometrie sein, diese nach ihren Aufbauprinzipien zu systema­ tisieren, wobei das Koordinatensystem des älteren Analogiedenkens mit seiner linearen und verzweigten Folge, mit seinen Symmetrien und mit seiner Komplementarität unter einem Leitphänomen zur Anregung und zum Leitfaden dienen kann. Selbstähnlichkeit in li­ nearer Folge läßt sich in allen skalenvarianten Gebilden nachweisen, bei Vergrößerung wie Verkleinerung, Erweiterung wie Teilung. Eine Linie ist ins Unendliche teilbar, wobei sich auf jeder Teilungsstufe die Struktureigenschaften des Ganzen wiederholen. Jeder Teil und jeder Teil des Teils hat selbst wieder Ganzheitsstruktur. So basiert die Kochsche Insel (Schneeflockengestalt) auf der Potenzierung von Dreiecken auf immer kleinerer Skala. Symmetrien und Inversionen sind in selbstabbildenden Mustern nachweisbar, so in allen spiegelbildlichen Verhältnissen wie im Bronchialstamm, Blutkreislauf- und Nerven­ system, deren Verästelung nach rechts und links dem Spezifikations­ system mit seiner Symmetrie entspricht, ebenso in Quadrierungen wie den sogenannten selbstquadrierten Kurven oder im Sankt-Markus-Drachen98 oder in Selbsthomographien, die auf Inversion und Drehung basieren und als Muster aus dem Jugendstil bekannt sind.99 Bislang noch keine Beachtung und Verortung gefunden hat in der fraktalen Geometrie das aus der Quantentheorie bekannte Phä­ nomen der Komplementarität von Teilchen und Welle, das aber ebenfalls hierher gehört. Komplementäre Erscheinungen sind trotz der Heterogenität ihrer Naturen zusammengehörige, einander er­ gänzende Phänomene. Trotz Unterschiedlichkeit und Gegensätzlich­ keit besteht eine notwendige wechselseitige Verweisung aufeinander. Obwohl sich Ort und Impuls nicht gleichzeitig exakt messen lassen, verhalten sie sich reziprok zueinander. Die komplementären Phäno­ mene setzen die Tradition der komplexen, auf Agglomeration und Assoziation beruhenden Phänomene des Analogiedenkens fort, die im Leitphänomen heterogene Instanzen, Eigenschaften, Verhaltens­ weisen usw. vereinen, welche bei Analyse extrapoliert werden, gleichwohl aber aufeinander bezogen bleiben. Die hier vorliegende Form von Selbstähnlichkeit repräsentiert einen Fall, der nur durch die Gleichheit des Ursprungs begründet werden kann, da die extra­

98 Vgl. B. B. Mandelbrot: Die fraktale Geometrie, a.a.O., S. 197 ff. 99 Vgl. a.a.O., S. 190f.

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polierten Teile eigentlich einander unähnlich sind. So lassen sich im fraktalen Denken alle wesentlichen Analogieformen wieder antref­ fen, die aus den älteren Kosmogrammen bekannt sind.

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6. Kapitel Überlegungen zum Zusammenhang der Rationalitätstypen

1. Empirischer oder apriorischer Status der Rationalitätstypen? Im Vorangehenden wurde eine Reihe von Rationalitätstypen präsen­ tiert, die allesamt den Anspruch erhoben, Paradigmen, d. h. einheit­ liche Welterklärungsmuster zu sein. Fragen bezüglich ihrer erkennt­ nistheoretischen Herkunft und des damit verbundenen Status, der Vollständigkeit oder Unvollständigkeit der Aufzählung sowie des Verhältnisses der Typen untereinander, blieben dabei meist unbeach­ tet. Dies mag für eine reine Deskription und Analyse genügen, kann jetzt aber nicht länger mehr ignoriert werden. Die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Ursprung unseres Wissens von verschiedenen Rationalitätstypen läßt nur eine zweifa­ che Beantwortung zu: Entweder haben wir dieses Wissen aus der Empirie, oder wir bringen es a priori in unserer Naturveranlagung mit. Die erste Antwort ist die von der empiristischen, positivistischen und phänomenologischen Schule gegebene. Sie besagt, daß wir unse­ re Kenntnis der verschiedenen Rationalitätsformen entweder aus der Geschichte, dem Studium vergangener Epochen und Kulturen, schöpfen, wobei schriftliche Dokumente, aber auch andere kulturelle Produkte wie Kunst und soziale Organisationen wichtige Zeugnisse sind, oder aus dem Vergleich gegenwärtiger Kulturen, Denk-, Le­ bens- und Handlungsweisen von Völkern, wobei auch und gerade die sogenannten primitiven Stufen der Naturvölker eine entschei­ dende Rolle spielen, da sie oft andere Welterschließungsweisen ken­ nen als die globalisierten und abgeschliffenen. Den Rekurs auf die Empirie wählen die meisten Forscher, die sich mit dieser Thematik befassen, sei es von logischer, sei es von psychologischer Seite. So gewinnt Hans Leisegang in seiner Denkformenlehre1 die heterogenen »Denkformen«, unter denen er, einen Hegelschen Terminus aufgreifend, nicht nur wie Kant die Katego­ rien, d. h. die Gegenstandsbestimmungen versteht, sondern das zwi-1 1 H. Leisegang: Denkformen, Berlin, Leipzig 1928.

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sehen diesen bestehende Beziehungsgeflecht, also das in sich zusam­ menhängende und geschlossene Ganze der Gesetzmäßigkeiten des Denkens, das Menschen oder Gruppen von Menschen bewußt bindet und das wir Logik nennen, aus der empirischen Beobachtung, ins­ besondere aus Texten, in denen die Denkweisen der Völker schriftlich fixiert sind. Da das menschliche Denken wesentlich auf Anschauli­ ches bezogen ist und sich an ihm orientiert, da jeder Gedankengang sich irgendwie anschaulich darstellen lassen muß, können nach Lei­ segang die heterogenen Denkformen nirgends anders als in der An­ schauung ihr Fundament haben.2 Hierauf gründet sich für Leisegang die These von der Korrelation von »Denk-form« und »Welt-anschauung«3, wobei er zu vier Denkformen gelangt: zum Gedankenkreis, von der Hegels Dialektik als Kreis von Kreisen eine Abart darstellt, zur Begriffspyramide sowie zum gradlinig-linearen Fortschritt und zur kreisförmigen Entwicklung, denen je verschiedene Weltbilder, teils lebendig-organische, teils starre mechanische, entsprechen. Auch Ernst Cassirer, der in seinen Schriften Philosophie der symbolischen Formen4 und schon vorher in seiner Studie Die Be­ griffsform im mythischen Denken5 von dem gängigen, die abendlän­ dische Tradition seit den Griechen beherrschenden wissenschaftlichen Rationalitätstypus einen präwissenschaftlichen, prälogischen, mythi­ schen Rationalitätstypus unterscheidet, jedoch bemüht ist, diesen nicht nur als Vorstufe jenes, sondern in seiner Selbständigkeit und Spezifität zu charakterisieren, gelangt zu dieser Abhebung aufgrund empirischer Studien. Cassirer sieht in den diversen geistigen Produk­ ten wie Sprache, Mythos, Religion und Kunst je eigentümliche Orga­ ne des Weltverständnisses und der ideellen Weltschöpfung, die ihre je spezifischen Rationalitätsstrukturen aufweisen. Von diesen zieht ins­ besondere der mythische sein Interesse auf sich. Nicht anders verhält es sich mit Karl Jaspers, der in seiner Psy­ chologie der Weltanschauungen6 von Denktechniken statt von Denkformen spricht und eine scholastische Technik, die zu den Be-2 3 4 5 2 Vgl. a.a.O., S. 10. 3 A. a. O. 4 E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 1. Teil 1923, 2. Teil 1924, 3. Teil

1929, 2. Aufl. Darmstadt 1953ff. (wiederholte Aufl.). 5 E. Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken. Studien der Bibliothek War-

burg, Heft 1, Leipzig, Berlin 1922. 6 K. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, 4. Aufl. Berlin, Göttingen, Heidelberg 1954, S. 76 ff. 278

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griffspyramiden der traditionellen Logik führt und im Sammeln und Schildern des Erfahrharen besteht, eine experimentierende Technik, die das natur- wie geisteswissenschaftliche Denken charakterisiert und als Befragung und Konstruktion von Zusammenhängen auftritt, und eine dialektische Technik, die das spekulative Denken auszeich­ net und das Ganze statt der abstrakten Teile in den Vordergrund rückt, unterscheidet und zur Auffindung derselben über ein empi­ risch-psychologisches Studium gelangt, wie dies bereits der Titel sei­ nes Werkes andeutet. »In der psychologischen Betrachtung werden wir uns dessen [der diversen formalen Bildungen] bewußt. Aber allein das Studium der Logik kann dies Wissen vermitteln, indem wir die Einsichten der Logik in psychologischer Hinsicht zu Beobachtungen an uns und an­ deren verwenden.«7 Und ebenso ist hier Wilhelm Dilthey mit seiner Typologie der philosophischen Weltanschauungen8 zu nennen, die er induktiv aus historischem Material gewinnt. Einer der frühesten Forscher, der aus dem empirischen Studium von Naturvölkern nicht nur graduell, sondern prinzipiell verschiede­ ne Gesetze eruiert, ist Lucien Levy-Bruhl9. Trotz einer noch vorläu­ figen Terminologie gebührt ihm das Verdienst, verschiedene Logiken im Denken primitiver Völker aufzuweisen, indem er nicht nur deren Vorstellungen herausarbeitet, sondern auch die Verbindungen dieser Vorstellungen untereinander zeigt und auf diese Weise zu Gesetzmä­ ßigkeiten solcher Verbindungen gelangt. - Die Liste der Forscher, die ihr fundamentum inconcussum in der Empirie finden, ließe sich be­ liebig fortsetzen. Die empirische Auffindung von Rationalitätstypen hat jedoch mit zwei Grundschwierigkeiten zu kämpfen: Zum einen läßt sich auf diese Weise niemals Vollständigkeit und Ausschließlichkeit hin­ sichtlich der Art und Zahl der möglichen Typen erreichen, da man sich niemals mit der Gesamtheit möglicher Fälle konfrontiert sieht, sondern immer nur mit bestimmten, beschränkten Ausschnitten. Die Erfahrung kann jederzeit aufgrund neuer Tatsachen weitere Struk­ 7 A.a.O., S. 76. 8 Vgl. das Kapitel »Typen der philosophischen Weltanschauung«, in: W. Dilthey: Das

Wesen der Philosophie (1907), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Leipzig, Berlin 1924, S. 402 ff. 9 L. Levy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, aus dem Französischen übersetzt von P. Friedländer, hrsg. und eingeleitet von W. Jerusalem, 2. Aufl. Wien, Leipzig 1926. ^ 279

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turtypen nahelegen, während sie ebenso zur Suspendierung schon vorhandener, anscheinend gesicherter nötigen kann oder auch zu de­ ren Integration in größere Kontexte. Durch eine bloß narrative Auf­ zählung läßt sich dem Einwand der Kontingenz und Unvollständig­ keit nicht begegnen. Zum anderen erweist sich die Annahme eines rein phänomeno­ logischen Zugangs zu den Fakten, der diese rein und unverstellt, ohne jegliche Beimischung metaphysischer oder theoretischer Ele­ mente konstatiert, als eine Illusion. Jedes angeblich reine Datum ist bereits theorieimprägniert und steht unter bestimmten theoretischen Rahmenbedingungen, die unbewußt die Sichtweise auf die Phäno­ mene dirigieren und die Interpretation der Fakten leiten. Dieser Ein­ wand läßt sich nicht dadurch beheben, daß man nachträglich die Prä­ missen, unter denen man die Erfahrung macht, reflektiert, da auch diese angeblich neutrale Reflexion entweder unter denselben Bedin­ gungen und Voraussetzungen steht wie die Erfahrung selbst oder unter anderen, auf jeden Fall aber unter spezifischen Rahmenbedin­ gungen. Dort, wo Brüche und Inkompatibilitäten der Empirie mit dem vorausgesetzten Theorierahmen auftreten, sogenannte Anoma­ lien, darf man sicher sein, auf Phänomene zu treffen, die eine andere Interpretation verlangen. Die erkenntnistheoretische Alternative zum Empirismus ist der Apriorismus, der von einem natürlichen Mitgegebensein bestimmter Erkenntnisstrukturen im menschlichen Erkenntnissubjekt ausgeht und daraus auf die Konstitutivität und Notwendigkeit eines be­ stimmten Weltbildes für alle Menschen schließt. Seiner Tendenz nach ist er monistisch: Er läßt nur eine Rationalitätsgestalt gelten, nicht mehrere. Denn für den Fall, daß hypothetisch mehrere ange­ setzt würden, die sich auf verschiedene menschliche Rassen oder In­ dividuen verteilten, könnten diese doch von anderen Rassen oder an­ deren Erkenntnissubjekten nicht erkannt werden, da der jeweils Erkennende an seine genuinen Bedingungen, mithin an seinen Ra­ tionalitätstypus, gebunden ist und diesen nicht transzendieren kann. Ein universeller Transzendentalismus ist die Konsequenz. Im Sinne eines starren Apriorismus hat Kant den mathematisch­ naturwissenschaftlichen Rationalitätstypus mit der ihm zugrunde­ liegenden klassischen Logik angenommen. Das Kategoriensystem, die Urteilstafel als seine Basis, das darauf aufbauende System der Grundsätze sowie das dasselbe einbeziehende durchgängige Klassifikations- bzw. Spezifikationssystem, das von den allgemeinsten zu den 280

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speziellsten Gegenstandsbestimmungen und -gesetzen reicht und den Axiomen der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten folgt, bestimmt konstitutiv oder regulativ, auf jeden Fall aber gesetzmäßig unsere Erkenntnis von der Welt. Freilich hat der Fortschritt der Wissenschaften in nachkantischer Zeit, der Physik nicht weniger als der Psychologie, die Überholtheit des Kantischen Kategoriensystems deutlich gemacht, zumindest ei­ niger Kategorien wie der von Ubiquität (Gleichzeitigkeit), Kausalität, Substanz und Akzidens, wahrscheinlich aber sogar der gesamten kategorialen Objektivität, wofür die fraktale Geometrie spricht. Zudem hat die Krise der Formalwissenschaften, der Logik und Mathematik, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Notwendigkeit an­ derer Logiken vor Augen geführt, etwa der mehrwertigen Logik. Was hier von innen heraus sichtbar wurde, haben soziokulturelle, ethno­ logische und empirische Untersuchungen wie die von Levy-Bruhl, Cassirer und Leisegang10 11 von außen bestätigt, nämlich die Unver­ meidbarkeit der Annahme anderer Rationalitätsformen, so daß der Alleinanspruch eines bestimmten Konzepts unhaltbar wird.

2. Vermittlungsvorschläge a) Geschlossene Modelle Will man dennoch an einem Vernunftmonismus festhalten, so ist die Vermittlung mit der nicht wegdiskutierbaren Pluralität von Rationa­ litätstypen nur auf zweierlei Weise möglich: entweder auf spekulati­ ve im Sinne der Hegelschen Dialektik oder auf genetische im Sinne von Konrad Lorenz' Nativismus11 oder Gerhard Vollmers evolutio­ närer Erkenntnistheorie12. Nicht nur in der Phänomenologie des Geistes hat Hegel den Versuch unternommen, eine Vielzahl von Bewußtseinsformen und Weltanschauungen mittels der dialektischen Methode in ein einheit­ 10 Vgl. in jüngerer Zeit: C. Levi-Strauss: Das wilde Denken (Titel der Originalausgabe:

La pensee sauvage, Paris 1962), aus dem Französischen von H. Naumann, Frankfurt a.M. 1973, 10. Aufl. 1997. 11 K. Lorenz: Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung, in: Zeitschrift für Tier­ psychologie, Bd. 5 (1943), S. 235-409. 12 G. Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie, 2. Aufl. Stuttgart 1980. ^ 281

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liches Korsett zu zwängen, auch in der Wissenschaft der Logik setzt er das Bemühen fort, die verschiedenartigsten Theorien und Meta­ physiken in ein umfassendes Konzept zu bannen, das sie allesamt als Stationen eines Weges ausweist, der zu einem letzten umfassenden, eben dem Hegelschen, hinführt. Der »absolute Begriff« bezeichnet eine universelle Theorie, in die alle früheren Theorien als Entwick­ lungsstadien eingehen. Sie sind Stufen auf dem Wege zu dieser letz­ ten, alles begreifenden, die den Weg dorthin mit einbezieht. Auch wenn von einem Entwicklungsprozeß, von Entwicklungsstufen, Vor­ formen, Wahrheiten, die erst an sich, noch nicht für sich, erst später an und für sich sind, usw. die Rede ist, so ist hier doch kein histori­ scher Entwicklungsgang gemeint, sondern eine ahistorische, speku­ lative Reflexionsform, die jeder Theorie unabhängig von ihrem hi­ storischen Auftreten ihren genau bestimmten Ort und ihr Verhältnis zu anderen zuweist. Wenn diese spekulative Denkform dann auch noch auf den geschichtlichen Prozeß angewandt wird, so ist dies ein sekundärer Vorgang. Am Hegelschen System läßt sich demonstrieren, wie die Inte­ gration anderer Rationalitätstypen, z. B. des klassisch-dihairetischen in ein gänzlich anderes Rationalitätsmodell vonstatten geht. Daß eine solche Einbeschreibung, die die dialektische Logik als Fun­ dament der klassifikatorischen Logik in Anspruch nimmt, einer Um­ interpretation bedarf, versteht sich von selbst. Begriffe sind jetzt nicht mehr wie in der »normalen Logik« Abstraktionen, die dem Empirisch-Konkreten gegenüberstehen, sondern Ganzheiten unter je bestimmten Aspekten. In ihnen vereinen sich die Bestimmungen von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, wenngleich mit je unterschiedlicher Akzentuierung. Geht es in dieser Logik darum, die erstarrte Verstandesbegrifflichkeit zu verflüssigen, die Begriffe in­ einander zu überführen, dann müssen sie an sich immer schon das Ganze sein, auch wenn dieses nur sukzessiv expliziert werden kann. Das Verhältnis von Allgemeinheit über Besonderheit zu Einzelheit versteht sich folglich nicht als ein spezifizierendes Scheiden und Un­ terscheiden bzw. umgekehrt als eine zusammenfassende Klassifikati­ on, sondern als ein Herablassen und Heraufholen. Entsprechend wird auch das Urteil gedeutet bzw. umgedeutet, indem es nicht einfach wie in der traditionellen Logik eine Subjekt-Prädikat-Verbindung ist, sondern aufgrund der Austauschbarkeit von Subjekt und Prädikat der real existierende Widerspruch, den es auf dem Wege zur absolu­ ten Einheit zu überwinden gilt. Im spekulativen Satz sind Subjekt 282

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und Prädikat einerseits verschieden, andererseits identisch. Das Ur­ teil verkörpert damit den realen Widerspruch, den der Schluß über­ holen soll. Der Schluß ist ebenfalls nicht wie in der traditionellen klassischen Logik ein Syllogismus, bestehend aus Ober-, Untersatz und Conclusio, sondern der Zusammenschluß von Instanzen, die an sich schon Totalitäten sind, zur vollständigen Totalität. Eine demgegenüber temporale Weise der Vermittlung von Ver­ nunftmonismus und -pluralismus begegnet sowohl in Lorenz' Nati­ vismus, der im Ausgang von Kants Erkenntnistheorie und in natura­ listischer Uminterpretation von deren Apriori unterstellt, daß unsere jetzige Raum- und Zeitstruktur einschließlich des Kategorien­ systems und der Logik sich entwicklungsgeschichtlich durchgesetzt habe und die gegenwärtig bestangepaßte an die Wirklichkeit sei, wie auch in Vollmers evolutionärer Erkenntnistheorie, die eine Entwick­ lung der Erkenntnisformen annimmt und unsere jetzige Erkenntnis­ art als bisheriges Endprodukt einer langen Reihe von Vorformen an­ sieht. Auf die diversen Rationalitätstypen übertragen, heißt das, daß sie Präfigurationen des jetzt dominanten Rationalitätstypus sind, auf den sie gemäß den Darwinschen Prinzipien von Mutation, Selektion und bestmöglicher Anpassung hingesteuert haben. Ein solcher evolutionärer Gedanke klingt auch bei Levy-Bruhl und Cassirer an, wenn beide die mythische Rationalitätsform als prä­ logische vom entwickelten Logikverständnis abheben, obwohl sie an­ dererseits bemüht sind, deren Autonomie zu erweisen. Gegen eine solche genetisierende Konzeption ist allerdings ein­ zuwenden, daß sich die Bindung bestimmter Rationalitätstypen an bestimmte Entwicklungsstufen nicht nachweisen läßt. So ist z. B. der mythische Typus, dem das Analogiedenken entspricht, nicht nur auf primitiven, quasi vorwissenschaftlichen Kultur- und Bewußtseinsstu­ fen nachweisbar, sondern taucht ebenso in der Renaissance neben dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Typus mit der klassifikatorischen Logik auf, mit dem er zunächst sogar konfundiert ist, so daß Kurt Hübner nicht zu Unrecht Chemie und Alchemie, Astronomie und Astrologie, Medizin und Alternativmedizin, kurzum Naturwis­ senschaften und Magie »Töchter desselben Stammes«13 nennen kann. Und auch heute noch hat der analogisch-mythische Rationalitäts­ typus sein Fortleben nicht allein in marginalen Bereichen wie der Wahrsagekunst, Chiromantie, Parapsychologie u. ä., sondern auch in 13 K. Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 346.

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der Alltagssprache - man denke an die vielen Tier-Mensch-Analogien wie »stolz wie ein Pfau«, »dumm wie ein Esel«, »schlau wie ein Fuchs« oder an die vielen Materie-Sinn-Analogien wie »ein Herz aus Stein«, »Blutschuld«, »blutjung«, »schwerfällig«, »leichtsinnig« usw. -, des­ gleichen in der Kunst und Literatur und neuerlich in der fraktalen Geometrie, in der er nach dem Scheitern des herkömmlichen analy­ tischen Wissenschaftsverständnisses das neue Paradigma eines holistischen Wissenschaftskonzepts zu werden verspricht. Und was Hegels spekulative Lösung der Integration diverser Ra­ tionalitätstypen in ein einziges, allumfassendes System, in das dialek­ tische, betrifft, so kollabiert sie an internen wie externen Wider­ sprüchen. Der Gedanke der Vollkommenheit und Abgeschlossenheit, den Hegel für sein enzyklopädisches System in Anspruch nimmt und durch das Bild eines Kreises von Kreisen wiedergibt, scheitert bereits daran, daß die Vorstellung von Geschlossenheit stets mit der von Be­ grenzung und Endlichkeit einhergeht und einen unendlich-unbe­ stimmten Horizont voraussetzt, von dem sich das geschlossene Ganze abhebt und bezüglich dessen es sich in einem unendlich fortschreiten­ den Prozeß iterieren kann. Hegels angeblicher Absolutheitsbegriff kommt mit dem Abschluß der Enzyklopädie ebensowenig an ein Ende wie mit dem Abschluß der Logik in der absoluten Idee. Immer ist ein weiterer Überstieg zu anderen Theorie- und Rationalitätsformen möglich und notwendig. Auch von einem systemexternen, nicht-hegelschen Standpunkt aus läßt sich einwenden, daß Hegels dialektische Logik, so wie sie das Fundament der klassisch-dihairetischen Logik bildet, selbst in einer noch umfassenderen Logik begründet ist, zum einen in der meta­ paradoxalen, mit der das Problem der Grundlegung der dialektischen Logik in einem Grundlosen angesprochen ist, zum anderen in der analogischen, die den Funktionsbereich der dialektischen Logik, das offene Feld, betrifft, das die Wiederholung der triadischen Kreis­ struktur ins Unendliche ermöglicht. Das Verhältnis zwischen der Ge­ schlossenheit des Systems und der Offenheit des Horizontes, das He­ gels Denken übersteigt, ist eine Denkfigur des Analogiedenkens, die in der Komplementaritätsvorstellung ihren Niederschlag findet. Das Analogiedenken besitzt, wie die hermetischen Kosmogramme der Renaissance zeigen, kein ausgezeichnetes Zentrum mit umgebenden Marginalbereichen, vielmehr ist hier jeder Marginalbereich selbst Zentrum; anders gesagt: das Zentrum ist überall. Man spricht daher auch von einem ubiquitären Mittelpunkt. Die für Hegels Dialektik 284

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typische Struktur des einsinnig gerichteten teleologischen Prozesses, der sich selbst einholt, findet auch hier Platz, darüber hinaus noch weitere Strukturen. Und schließlich macht Hegels Dialektik bei der Begriffsentwick­ lung, die nicht nur analytische Begriffsexplikation, sondern auch synthetische Fortbestimmung ist, von Operationen Gebrauch wie der Verschiebung und Verlagerung, die allein aus dem Analogieden­ ken erklärt werden können. Der Übergang von einem Begriff zum anderen läßt sich nicht nach einem rein formalen antithetischen Schema verstehen, sondern bedarf darüber hinaus des inhaltlichen Moments der Bedeutungsverschiebung. Man hat stets bemerkt, daß Hegels Logik ohne diesen Fremdbestandteil, der dem analogischen Denken entstammt, nicht auskommt. Damit soll nicht schon behaup­ tet sein, daß der analogische Rationalitätstypus der basalste von allen sei, sondern nur, daß es Überlagerungen und Überschneidungen gibt, die das Hineinreichen des einen in den anderen verständlich machen. b) Das offen konstruktivistische Modell Neben den bisherigen Vermittlungsvorschlägen zwischen der empi­ risch konstatierbaren Pluralität von Rationalitätstypen und einem monistischen Vernunftentwurf verdient jener Aufmerksamkeit, der nicht von der apriorischen Vorgegebenheit einer bestimmten ein­ heitlichen Vernunftstruktur ausgeht, sondern lediglich von der Mög­ lichkeit zur Rationalitätsbildung überhaupt und die spezifischen Ausformungen von Rationalität in den verschiedenen Kulturen und zu den verschiedenen Zeiten empirisch kontingenten Bedingungen überläßt, z.B. den jeweiligen Lebenssituationen und -erfahrungen, den mentalen und religiösen Unterschieden der Menschen, den eth­ nischen, geographischen, klimatischen und anderen Besonderheiten. Nur das, was allen Rationalitätstypen eigentümlich ist, wie begriff­ liche Bestimmung und Herstellung formaler Verknüpfungen (Me­ thode), Folgerichtigkeit, semantische Klarheit und Deutlichkeit, in­ tersubjektive Kommunikabilität und Überprüfbarkeit, wäre als Naturveranlagung mitgegeben, nicht die je spezifischen Ausprägun­ gen. Diese generelle rationale Veranlagung würde auch das Verste­ hen und Sich-Hineinversetzen in andere Rationalitätstypen als den im eigenen Kulturraum ausgeprägten ermöglichen. Dieses Argument kommt in die Nähe dessen, was in der sprachanalytischen Kant-Diskussion als »transcendental argument« be­ ^ 285

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kannt ist. Wie vom Kantischen Apriorismus nach Meinung gewisser Autoren, vor allem Peter F. Strawsons14, nicht mehr ührighleiht als ein höchst allgemeines begriffliches Rahmenwerk, dessen Aus­ füllung dem jeweiligen Stand der empirischen Forschung obliegt, so ließe sich Entsprechendes auch im jetzigen Kontext sagen. Die Aus­ gestaltung des unspezifischen Rationalitätsrasters zu spezifischen Rationalitätssystemen hätte man sich so vorzustellen, daß man aus dem unbestimmt-unendlichen Substrat, das ununterscheidbar mit der potentiellen Strukturentotalität zusammenfällt, ein signifikantes Beziehungsgeflecht heraushöbe und mit ihm die Sichtweise auf die Welt festlegte. Die Interpretation trägt konstruktivistische Züge, da sie nicht von einem An-sich-Sein der Welt mit natürlich vorgege­ benen Eigenschaften ausgeht, sondern die Einteilung, Gliederung und Strukturierung der Welt vom Erkenntnissubjekt her festlegt. Vertraut ist ein solches Konzept von der mathematisch-naturwissen­ schaftlichen Weltsicht, mit der man stets einen konstruktivistischoperationalistischen Charakter verbunden hat, da die Gegenstände dieses Konzepts hochartifizielle, widernatürliche Objekte sind, die gemäß einem apriorischen, experimentell umgesetzten Plan aus ihrer natürlichen Umgebung herauspräpariert werden. Wegen des Verlusts der Fülle ihrer in natürlicher Einstellung vorfindlichen Ei­ genschaften und Verknüpfungen mit der Umwelt werden sie als ma­ nipuliert empfunden; an ihnen interessiert nur das, was sich quanti­ tativ und monokausal fassen oder auf solches reduzieren läßt. Da ein solches Konzept über das Experiment der Natur oktroyiert wird, ge­ rät nur das in den Blick, was diesem Konzept entspricht. Die Wirk­ lichkeit wird durch dieses Gradnetz eingefangen; was dessen Ma­ schen nicht konform ist, fällt durch sie hindurch. Was hier ausgegrenzt wird, was jedoch durch andere, nicht we­ niger rationale Konzepte einholbar ist, zeigen andere Blickweisen auf das Seiende. Gerade die phänomenologischen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte, angefangen von Heideggers Entdeckung des Be­ griffs der Zuhandenheit15, Schmitz' sinnes- und leibphysiologischen Analysen16 bis zu Gernot Böhmes Namhaftmachung anderer als der üblichen kategorialen Gegenstandsbestimmungen wie des Atmo­ 14 P. F. Strawson: Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London 1959, wie­

derholte Aufl.; ders.: The Bounds of Sense, London 1966. 15 Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit [1927], 9. Aufl. Tübingen 1960, S. 69ff. 16 H. Schmitz: System der Philosophie, Bd. 1 ff., Bonn 1964ff. 286

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sphärischen, Physiognomischen, Gestischen, Ekstatischen17, haben uns diese verschütteten Sichtweisen auf die Dinge, die dem analogi­ schen Denken nahestehen, wieder ins Bewußtsein gerufen. So ist es etwas gänzlich anderes, ob eine Gebirgslandschaft bei erwachendem Morgen, wenn der Tau noch auf Blüten und Blättern liegt, die ersten Sonnenstrahlen durch die Nebelschwaden brechen, die Vogelstim­ men erwachen, erlebt wird oder bei sinkendem Tag, wenn die lauten Geräusche verklingen, Ruhe eintritt, Dämmerung sich über Berge und Täler legt. Obwohl es sich um »dieselbe« Landschaft handelt, begegnet sie als je und je verschiedene. Durch den Begriffsraster des mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkens mit seiner Präfe­ renz von Quantität und klassifikatorischer Selektion läßt sich dieser atmosphärische Gesamteindruck niemals einfangen. Dasselbe gilt für die Physiognomie und Gestik der Natur, die nicht mechanisch über Druck und Stoß, sondern über affektives Be­ troffensein vermittelt werden. Als Ganzheitseigenschaften bestim­ men sie die Dinge ebenso wie das Atmosphärische, wobei das Physiognomische mehr statische Eigenschaften bezeichnet entsprechend seiner Herkunft aus Kretschmers Physiognomie der verschiedenen Menschenrassen, das Gestische mehr Bewegungsanmutungen ent­ sprechend seiner Herkunft aus Klages Deutung von Schriftzügen. In einer Gebirgssilhouette meinen wir oft die Züge eines schlafenden Riesen zu erblicken, dessen geballte Kraft sich jederzeit wieder in Naturgewalten entladen kann; ein in den Himmel ragender Ast gilt uns als Siegesgeste, während herniederhängende Äste und Zweige von uns als Zeichen der Trauer gedeutet werden - wir sprechen von Trauerweide, Trauerbuche usw. Hier werden nicht einfach mensch­ liche Gefühle und Stimmungen extrapoliert, sondern die äußeren Verhältnisse und Verhaltensweisen aufgrund eines allgemeinen, alle Dinge durchziehenden Lebensprozesses mit den eigenen identifi­ ziert. Ebenso gibt es ein reiches Vokabular nonverbaler Kommunika­ tion als Ausdruck des Ekstatischen der Natur, wie Warnrufe, gebiets­ markierende Gesänge, gruppenstabilisierendes Palaver, Drohgebär­ den von der Art aufgeblähter Backen, Demutsgesten von der Art geneigter Kopfhaltung usw. Nach Jakob Böhme überzieht ein ganzes 17 G. Böhme: Ästhetische Erkenntnis der Natur, in: K. Gloy (Hrsg.): Natur- und Tech­

nikbegriffe. Historische und systematische Aspekte: von der Antike bis zur ökologi­ schen Krise, von der Physik bis zur Ästhetik, Bonn 1996, S. 118-145. ^ 287

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Signaturensystem die Natur, das der Kundige und Arzt kennen muß, um heilen zu können. Dieses dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Denken gänzlich fremde Weltverständnis findet seine Interpretation im ana­ logischen Denken, das im Gegensatz zum ersteren nicht klassifizie­ rend, gattungsanalysierend und sezierend vorgeht, sondern gattungsühergreifende Zusammenhänge herstellt, indem es Gegenstände, Farben, Befindlichkeiten, Stimmungen, Ausdrucksweisen u. ä. ein­ ander zuordnet. Daß mit dem konstruktivistischen Gedanken der Vorwurf der Beliebigkeit und Relativität laut wird, versteht sich; denn es wird nun prinzipiell möglich, aus dem indifferenten Substrat unendlich viele Rationalitätssysteme zu isolieren. Zudem wird der Wahrheits­ begriff, der das ureigenste Anliegen jeder Erkenntnistheorie ist und gemäß der thomistischen Formel von der adaequatio intellectus rei die Übereinstimmung unserer Vorstellungen mit der Welt bedeutet, hinfällig. Zumindest bedarf er einer Neuinterpretation, insofern jedes System seine eigene immanente Wahrheit hat.

3. Kriterien für einen paradigmatischen Status der Rationalitätstypen Um einem totalen Relativismus entgegenzuwirken, sind die System­ bedingungen zu eruieren, denen ein Rationalitätstypus genügen muß, um Anspruch auf einen paradigmatischen Status erheben zu können. Denn es geht ja nicht um irgendeine Methode, sondern um eine solche, die eine bestimmte Weltanschauung eröffnet. Vorab sind einige begriffliche Distinktionen vorzunehmen, die retrospektiv auch auf die bisher dargestellten Rationalitätstypen Licht werfen, wie Hy­ pothese, Theorie, Theoriesystem, Modell, Typus, Paradigma usw. Während eine Hypothese eine inhaltliche Einzelaussage über Seiendes ist und entweder als Arbeitshypothese oder als Experimen­ talhypothese angesetzt wird, um anschließend durch Beobachtung und Experiment anhand der Wirklichkeit als tauglich oder untauglich erwiesen zu werden, stellt eine Theorie eine Vielheit inhaltlicher Aussagen über einen mehr oder weniger großen Seinsbereich dar, je nachdem, ob mit ihr ein Subsystem oder ein Ganzheitssystem mit der Unterordnung diverser Subsysteme gemeint ist. Außer dem In­ halt spielt hier insbesondere die Form eine Rolle. Die Art und Weise 288

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der Verknüpfung der Aussagen regelt hier den Übergang von einer zur anderen entsprechend dem griechischen Wort piüoöoc; = »Weg«, der die formale Beziehung zwischen zwei Punkten bezeich­ net. So kann eine Theorie axiomatisch aufgebaut sein, wenn sie von einer bestimmten Anzahl von Axiomen, Definitionen und Postulaten ausgeht wie die euklidische Geometrie oder die Hilbertsche Mathe­ matik und hieraus deduktiv, also im wesentlichen analytisch, die übrigen Sätze des Systems ableitet. Je nach dem Wahrheitsstatus der Ausgangssituation - ob die Axiome für evident gehalten oder bewußt hypothetisch gelassen werden - versteht sich auch der Wahr­ heitsanspruch der übrigen Sätze. Sie sind entweder gewiß und über jeden Zweifel erhaben oder weisen eine rein immanente Wahrheit auf, die erst einer Bestätigung durch die Außenwelt bedarf. Oder eine Theorie kann wie in den hermetischen Systemen der Renaissance und in den Topologien der chinesischen Philosophie tabellarisch auf­ gebaut sein gemäß einer horizontalen und vertikalen Koordinate, entlang denen die übrigen Begriffe und Aussagen des Systems rubri­ ziert werden. Dabei kann die horizontale ebenso wie die vertikale Achse die Leitbegriffe enthalten und ihr Pendant die analogen Be­ griffe. Auch anhand konzentrischer Kreise lassen sich die tabellari­ schen Topologien darstellen wie ebenfalls in den hermetischen Kosmogrammen, wobei die vertikale Koordinate mit ihren Begriffen zur Radialachse des Kreises mutiert und die horizontale mit ihren Begrif­ fen auf die Kreisumfänge und Sektoren zwischen den Radialachsen verteilt wird. Auch die Umkehrung ist möglich, die Avancierung der Horizontalachse zum Radius, der Vertikalachse zu den Kreisumfän­ gen. Da die Kreise rotieren können, ergeben sich die verschieden­ artigsten Zuordnungen und Verbindungen. Wenn inhaltlich Theorien durch den Seinsbereich bestimmt sind, auf den sie sich beziehen, so prägt sich formal in ihnen ein Methoden­ muster aus, das sich abstrahieren und schematisch im Raum bzw. un­ ter Einbezug des Raumes darstellen läßt. Dieses hat entweder eine offene oder geschlossene Gestalt, ist linear oder pyramidal, kreisför­ mig oder antithetisch oder auch komplementär angeordnet. Wie sehr bei formalen Darstellungen Raumanschauungen eine Rolle spielen, zeigt die Tatsache, daß wir bezüglich des Umfangs von Begriffen en­ gere und weitere unterscheiden, bezüglich ihrer Anordnung Über-, Unter- und Nebenordnung, daß wir von Zirkelschlüssen, Kreisargu­ menten, diametralem Gegensatz usw. sprechen. Die angeblich rein ^ 289

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Erster Teil: Rationalitätstypen

logischen Beziehungen sind durch Raumstrukturen geprägt. Sofern diese Methodenmuster allgemeinverständlich, nachvollziehbar und überprüfbar sind, d. h. der Verstandes- und Vernunfteinsicht zugäng­ lich, sprechen wir von Rationalitätstypen. Sie können mehrere diver­ se Einzelmethoden enthalten, wie der dihairetische Typus, der im Ab­ stieg vom Allgemeinen zum Besonderen mit der deduktiven Methode operiert, im Aufstieg vom Besonderen zum Allgemeinen mit der in­ duktiven. Der analogische Typus vereinigt in sich eine Vielzahl for­ maler Operationen, neben der generativen Methode in gradlinig ab­ steigender oder sich verzweigender Richtung die zyklische Methode; daneben kommen Symmetrien und Polaritäten vor, die in Verbindung mit Bewegung Spiegel- und Rotationssymmetrie ergeben. Mit dem signifikanten Methodenmuster treffen wir auf einen gestalttheoretischen Begriff, der sich von der Grundkonstellation »Figur - Hintergrund« her versteht. Das Figur-Grund-Schema ist für die gestalttheoretische Erkenntnistheorie das letzte Aussagbare, über das hinaus keine weitere Reduktion möglich ist. In denselben Kontext gehört der Begriff des Typus, der ur­ sprünglich aus den Geisteswissenschaften stammt und dort im Un­ terschied zu dem naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff konzipiert wurde. Während das Gesetz eine invariante Beziehung zwischen Va­ riablen bezeichnet, die generell auf alles applikabel ist, bezeichnet der Typus etwas Besonderes, Einmaliges, Herausragendes. Wie wir Epo­ cheneinteilungen der Geistes- und Ideengeschichte nach Typen vor­ nehmen, die historisch gewachsene Kulminationspunkte einer Ent­ wicklung sind, wie z.B. die Klassik im Verhältnis zur Vor- und Nachklassik, die Romantik im Verhältnis zur Früh- und Spätroman­ tik, so heben sich aus der Vielzahl möglicher Methoden signifikante Strukturen heraus, die, obwohl wiederholbar, doch als solche ein­ malig und unverkennbar sind. Sofern das Muster zum Vorbild, Leitfaden oder Maßstab für anderes dient, an dem sich dieses orientiert, fungiert es als Modell. Mit diesem wird häufig nicht nur ein anschaulicher Charakter ver­ bunden, der es zum Demonstrationsmittel qualifiziert, sondern auch ein proportionaler, der die Übertragung der Verhältnisse vom Klei­ nen auf das Große erlaubt. Seitdem im 16. Jahrhundert der VitruvKommentar des Platonischen Timaios den griechischen Ausdruck napäheiy^a18, der im Kontext der Ideentheorie die Vorbildfunktion 18 Platon: Timaios 38 c. 290

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Überlegungen zum Zusammenhang der Rationalitätstypen

der Ideen anzeigt, mit »modello« übersetzte19, ist diese Bedeutung üblich geworden. Da die Platonische Idee, wie schon aus dem Namen ersichtlich (löea, eLöoc; = »Anschauungsbild«, »Angeschautes«), die anschauliche Gestalt und nicht das neuzeitliche Gesetz, den Funk­ tionszusammenhang, meint, überträgt sich diese gestalttheoretische Auffassung auch auf das Paradigma oder Modell. Erhebt nun das signifikante Methodenmuster einen Totalitäts­ anspruch, so avanciert es zum Paradigma im Sinne von Welterklä­ rung. Von dieser Art sind die beschriebenen Rationalitätstypen. Al­ lerdings wird man sich fragen müssen, ob sich nicht ein Widerspruch einstellt, wenn man eine Mehrzahl von Modellen mit Absolutheits­ anspruch unterstellt. Im Unterschied zum Einzelmuster müssen solche Muster, die den Status von Universalparadigmen reklamieren, eine Reihe von Kriterien erfüllen. Hierzu gehören Einheit wie Allheit, erstere inso­ fern, als alles Begegnende unter eine einheitliche Perspektive ge­ zwungen wird, und letztere insofern, als diese Perspektive für das gesamte Seiende gelten soll. Da mit den Kriterien der Einheit und Allheit das Ganze bezeichnet ist, kommen auch die Kriterien der Selbst- und Fremdbeziehung ins Spiel, ersteres insofern, als das Gan­ ze keine Beziehung zu anderem außer ihm mehr zuläßt, sondern nur noch eine Selbstbeziehung einschließlich einer Selbsterkenntnis, und letzteres insofern, als totale Fremdbeziehung nichts anderes als Selbstbeziehung ist. Damit scheinen alle Kriterien wiederzukehren, denen wir bei der dialektischen Methode begegneten und die diese als eine absolute, letztbegründende Vernunftmethode auszuzeichnen schienen. Dem stellt sich jedoch sofort der Einwand entgegen, daß der Absolutheitsanspruch in Gestalt der Hegelschen Dialektik schei­ terte, da er nur in Form eines unendlichen, nimmer endenden Pro­ zesses, nicht aber in Form definitiver Selbsteinholung einlösbar war. Denn die Vorstellung eines abgeschlossenen Ganzen setzt einen of­ fenen, unabgeschlossenen Horizont voraus, dessen Aneignung durch das angeblich ganze System stets aussteht. Wegen der Nichter­ füllbarkeit der Totalitätskriterien kann kein geschlossenes System, geschweige denn ein offenes, Anspruch auf Totalität erheben. 19 Di Lucio Vitruvio Pollione ... De architectura incomenza ... translato in vulgare

sermone commentato et affigurato da C. Caesariano, Como 1521; Neue Ausgabe: Vitruvi De architectura libri decem l Vitruv; Zehn Bücher überArchitektur, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von C. Fensterbusch, Darmstadt 1964. ^ 291

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Erster Teil: Rationalitätstypen

Die Möglichkeit, eine Mehrzahl »universeller« Systeme, also verschiedener Rationalitätstypen mit Welterklärungsanspruch, an­ zunehmen, führt uns noch einmal vor die Frage nach ihrem Verhält­ nis untereinander, oh sie unverbunden nebeneinander bestehen oder in ein allumfassendes System integriert sind, das dann das letzte uni­ verselle wäre, oder oh sie sich partial oder total überlagern. Hier zeigt sich eine Merkwürdigkeit, nämlich die, daß jedes der genannten Schemata zugleich als Superschema wie als Suhschema auftreten kann. Gemäß der Listenmethode lassen sich alle anderen Typen nebeneinander arrangieren, also reihentheoretisch aufzählen, gemäß dem Klassifikationsschema spezifizieren, allerdings nicht nach einem dichotomischen, sondern polytomischen Prinzip, so daß sie auch hier gleichberechtigt nebeneinander stehen, gemäß der dia­ lektischen Methode in eine zyklische Abfolge bringen, die jedoch wegen der prinzipiellen Beliebigkeit des Anfangs und Endes und des Arrangements auch hier zu einer Gleichrangigkeit führt, und gemäß der analogischen Methode lassen sie sich in jede mögliche Formation und Anordnung bringen, unter anderem auch in die der tabellari­ schen Gleichstellung und Austauschbarkeit der Ober- oder Leit­ begriffe. Die Tatsache, daß jedes System trotz der Pluralität von Sy­ stemen holistisch ist und ein Ganzes ausmacht, das die anderen einbezieht und gleichwohl als deren Teil auftritt, deutet ebenso auf eine Überlagerung wie auf ein Nebeneinander, die zur Ermöglichung einen indifferenten Grund voraussetzen: Raum, Materie, reine Mög­ lichkeit. Diesem Medium, diesem Anderen der Vernunft, soll sich der zweite Teil der Arbeit widmen.

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Zweiter Teil Das Andere der Vernunft

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1. Kapitel Das Andere als Sub-, Hyper- und Transrationales

Seit der griechischen Antike, verstärkt noch durch den Einfluß des Christentums, verbindet sich mit der Vernunft ein Allmacht- und Herrschaftsanspruch, der zu dem bekannten Vorwurf vom »Logozentrismus«1 des Abendlandes geführt hat. Der Vorwurf betrifft nicht nur das neuzeitliche mathematisch-naturwissenschaftliche Ver­ nunft- und Wissensverständnis, die auf der dihairetischen Vernunft basierende experimentelle Methode, die seit Bacon als Manipula­ tionsinstrument der Natur gilt, indem sie die Natur artifiziell her­ richtet, stellt und damit auch verstellt, mit Heideggers Worten zu einem »Ge-stell«12 macht, und sich so als instrumentelles Verfügungs­ wissen geriert gegenüber dem kontemplativen Orientierungswissen der Antike, sondern der Vorwurf gilt auch dem letzteren wie jeder Vernunft- und Wissensart; denn jede hat die Aufgabe, allgemeinver­ ständliche und -verbindliche, für jedermann zu jeder Zeit zugängliche und überprüfbare methodische Wege des Denkens und Handelns in das Dickicht der uns umgebenden Fülle von Erscheinungen zu schla­ gen, mithin Orientierung im Chaos des Seienden zu ermöglichen, was stets auch Macht- und Herrschaftsausübung bedeutet. Leibniz hat unser Wissen mit einem großen Kramladen vergli­ chen, der mit Kenntnissen verschiedenster Art angefüllt ist - modern würde sich der Vergleich mit einer Datenbank mit ihrer immensen Anhäufung abrufbarer Daten nahelegen. Sofern es jedoch keine ver­ bindlichen und gesicherten formalen Wege zur Erschließung dieser potentiellen Informationen gibt, bleibt eine auch noch so große Men­ ge derselben für uns unnütz. 1 J. Derrida: Grammatologie (Titel der Originalausgabe De la grammatologie, Paris

1967), aus dem Französischen von H.-J. Rheinberger und H. Zischler, Frankfurt a.M. 1974, S. 11; vgl. S. 10f. Anm. 1 dieser Arbeit. 2 M. Heidegger: Die Frage nach der Technik, in: Die Künste im technischen Zeitalter. Dritte Folge des Jahrbuchs Gestalt und Gedanke, hrsg. von der Bayerischen Akademie der schönen Künste, München 1954, S. 70-108, bes. S. 88. 294

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Das Andere als Sub-, Hyper- und Transrationales

Gemäß dem Schema von bestimmender Form (Methode) und zu bestimmendem Inhalt (Materie) legt sich für die Beziehung der Ver­ nunft zum Anderen der Vernunft das Dependenzverhältnis nahe, das sich bildlich durch ein Oben und Unten wiedergeben läßt, dergestalt, daß die Vernunft als das Bestimmende »oben« situiert ist und das Andere als das zu bestimmende Substrat (griechisch unoxet^evov, lateinisch substratum, deutsch Unterliegendes) »unten«. Das Paradigma für dieses Schema findet sich in Platons Linien­ gleichnis, das anhand der senkrecht zu denkenden, quarternal ein­ geteilten Linie Platons Auffassung von den ontologischen und epistemologischen Stufungsverhältnissen wiedergibt. Danach ist die Vernunft, bestehend aus voüq und öidvota mit den entsprechenden ideellen Strukturen, im oberen Bereich angesiedelt, das durch sie Be­ stimmte und an ihr Partizipierende im unteren. Dieses Schema von oben und unten hat sich durch die Geschichte der Philosophie bis in die Neuzeit hinein erhalten. Es taucht ebenso bei den Rationalisten Leibniz, Wolff, Baumgarten, Meier als Unterscheidung eines superiorischen und inferiorischen Erkenntnisvermögens - Vernunft und Sinnlichkeit - auf wie noch bei Kant im Architektonikkapitel der Kritik der reinen Vernunft3, wo sich außer dem oberen Erkenntnis­ vermögen, bestehend aus dem konstitutiven Verstand mit seinen Ka­ tegorien und der regulativen Vernunft mit ihren Ideen, das untere Erkenntnisvermögen, die Sinnlichkeit, findet. Als der Bestimmung Unterworfenes läßt sich dieser Bereich des Unbestimmten am ehesten als Extension, Feld, Horizont, indifferen­ te Materie, chaotisches Mannigfaltiges u. ä. umschreiben. In der Ge­ schichte der Philosophie sind hierfür verschiedene Begriffe benutzt worden, je nachdem, wie das Verhältnis zwischen Bestimmung und Unbestimmtem gesehen wird, ob gestalttheoretisch als Verhältnis zwischen Figur und Umfeld oder spezifikationstheoretisch als Spezi­ fikation eines indifferenten Grundes oder genetisch als Differenzie­ rung des Chaos. Es ist dieses Modell von Herrschaft und Knechtschaft, das erst­ mals von Nietzsche einer radikalen Kritik unterzogen wurde, mit der gleichzeitig die Einleitung in die Moderne erfolgte. Das von Nietz­ sche aufgestellte Postulat einer Umwertung aller Werte, welches das Thema der unter dem Titel Wille zur Macht zusammengefaßten Schriften bildet, sieht nicht nur unter Beibehaltung der Grundkon­ 3 Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 835 B 863.

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Zweiter Teil: Das Andere der Vernunft

stellation einen Austausch der Werte vor, dergestalt, daß anstelle des bislang höchsten Prinzips, der Vernunft, nun andere philosophische, religiöse, kulturelle oder soziale Werte treten, sondern eine Suspen­ dierung der gesamten Werteskala, die mit einer Aufwertung des un­ teren Bereichs, der Sinnlichkeit und der ebenfalls hierher gehörenden Leiblichkeit, verbunden ist. Hierin sind Nietzsche die Existenziali­ sten, Phänomenologen, Fundamentalontologen wie Postmodernisten gefolgt. Zu beachten ist folgendes: Das Andere der Vernunft fungiert traditionell nicht nur als Substrat der Bestimmung, d. h. als unterge­ ordnetes Medium, auf das die Strukturen quasi von oben herab an­ gewendet werden, sondern auch als Ermöglichungsgrund der Struk­ turen, also als höchstes, den Strukturen noch übergeordnetes Prinzip, das dieselben überhaupt erst hervortreten läßt. »Grund« wird ent­ sprechend seiner etymologischen Ambivalenz und Gegensinnigkeit sowohl als Basis (Fundament) wie als Prinzip (Ursprung, Quelle) ge­ nommen. Auch hierfür hat das Liniengleichnis das Vorbild abge­ geben, indem es den Ideen und ihrer Erkenntnis die löea tot) ayaüoü überordnet. Als Vergleich wird das Licht in seiner Funktion als Ermöglichungsgrund des Sehvorgangs herangezogen. Wie dieses im sichtbaren, realen Bereich den Augen Sehkraft und den Gegenstän­ den Sichtbarkeit, Gestalt, Farbe usw. verleiht, ohne selbst gesehen werden zu können, so verleiht im übersinnlichen, ideellen Bereich die Idee des Guten der Vernunft Erkenntnisfähigkeit und den Ideen ihr Offenbarsein, ihr Sein und ihre Gestalt. Als Ermöglichungsgrund ideeller Erkenntnis ist sie selbst jedoch nicht mehr erkennbar; sie ist enexetva rqc; onotaq, »jenseits des Seins«4 und, wie ergänzend hin­ zugefügt werden muß, jenseits der Erkenntnis. Da sie grundsätzlich dieselben Eigenschaften aufweist wie die untergeordnete Materie, unbestimmt und unerkennbar zu sein, wiewohl sie die Strukturen hervortreten läßt und strukturelle Erkenntnis ermöglicht, sind Höchstes und Niederstes letztlich eins und fallen ununterscheidbar zusammen. Das Andere der Vernunft tritt sowohl als Untergeord­ netes wie als Übergeordnetes, als Sub- wie als Hyperrationales auf. Daß darüber hinaus auch Gleichrangigkeit zwischen Bestimmungs- und Ermöglichungsgrund in Form einer Transrationalität be­ steht, zeigt sich, wenn man nicht vom dihairetischen Vernunftmodell ausgeht wie an der genannten Stelle bei Platon, sondern vom dialek­ 4 Platon: Politeia 509 b. 296

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Das Andere als Sub-, Hyper- und Transrationales

tischen wie hei Hegel oder vom analogischen wie in den hermeti­ schen Kosmogrammen. Im dialektischen Modell hilden Methode und Inhalt ein Ganzes, das nur ahstraktiv einen Unterschied gestat­ tet. Da es in diesem selhstreferentiellen Ganzen darum geht, die ei­ genen Voraussetzungen einzuholen, was nur in Form eines unend­ lichen Prozesses geschehen kann, zeigt sich hier die Gleichrangigkeit und Untrennharkeit von Bestimmung und zu Bestimmendem, von Grund und Folge. Bilden im dialektischen Modell die Vernunft und das Andere der Vernunft interne Momente und Gegensatzglieder der einen ahsoluten Vernunft, so treten sie im analogischen Modell als Komplementaritäten auf wie Welle und Teilchen im quantentheore­ tischen Modell. Wie den hermetischen Kosmogrammen zu entneh­ men ist, sind in ihnen die vielfältigsten Strukturierungen im Raum möglich, vertikale, horizontale, zyklische, symmetrische, antitheti­ sche, wohei der zugrundeliegende Raum als uhiquitärer Mittelpunkt fungiert, der im All üherall zugleich ist. Die Gesamtheit möglicher Strukturen, die Strukturtotalität, ist hier identisch mit dem Raum hzw. der Materie, genauer gesagt, sie ist deren Kehrseite, genau wie im quantentheoretischen Modell unreduzierte Welle und reduziertes Teilchen Umschlagphänomene, Komplementaritäten sind. So stellt sich denn das Andere der Vernunft als gleichwertiges Korrelat zur Vernunftstruktur heraus, von denen jedes auf sein Pendant angewie­ sen ist. Im folgenden geht es darum, die Zugangsweise und Erfassungs­ art dieses Anderen zu eruieren, wohei grundsätzlich drei Wege denkhar sind: (1.) ein negativer, der im Ausgang von den Rationalitätsstruktu­ ren, die als allein zugänglich und verfüghar supponiert werden, durch Ahsprechen derselben das Andere der Vernunft zu erfassen, hesser, zu indizieren sucht mit der Konsequenz, daß das Kollahieren jedes Bestimmungsversuchs eine Leerstelle hinterläßt, die auf die Ver­ nunftstrukturen selhst zurückweist. Dieser Weg ist der von der ne­ gativen Metaphysik und negativen Theologie heschrittene; auch das Antigrunddenken der Postmoderne hat ihn zu seiner Maxime ge­ macht. (2.) ein positiver, der durch die Annahme eines anderen als des kognitiven Vermögens der Vernunft sich einen Zugang zum Ande­ ren zu verschaffen heansprucht. Angenommen werden hierhei nicht nur der Vernunft opponierte Vermögen, sondern auch die Vernunft umgreifende. Je nach Auslegung und Bewertung des Anderen als ^ 297

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Zweiter Teil: Das Andere der Vernunft

Hyper-, Sub- oder Transrationales - als göttliche Sphäre, sinnlich­ emotionaler Bereich oder Lehensvollzug - erfolgt seine Konstatie­ rung entweder durch das religiöse Gefühl hzw. eine entsprechende Erfahrung oder durch die Sinnlichkeit mit Anschauung, Wahrneh­ mung, Phantasie, Empfindung, Gefühl, Stimmung, Befindlichkeit oder durch den Lehensvollzug, das Dasein, die Existenz, den elemen­ taren Willen, also auf vitalistisch-naturalistische Weise. (3.) Als dritter Weg ist der metaphorische zu bedenken, der das Andere der Vernunft mittels Metaphern, Bildern, Gleichnissen und Paraheln heschreiht und auf diese Weise zu erfassen sucht. Präferiert werden hei der Auslegung des Anderen und seines Verhältnisses zu den Rationalitätsstrukturen Vorstellungen wie »Prinzip - Prinzipiiertes«, »Ursache - Wirkung«, »Grund - Folge«, »Bedingung - Beding­ tes«, »Ding an sich - Erscheinung«, theologisch »Gott - Schöpfung«, metaphysisch »Sein - Dasein« u. ä. Durch die Übertragung dieser Vorstellungen aus dem uns hekannten und vertrauten Bereich auf den uns unbekannten und unvertrauten konstituiert sich nicht nur ein Verhältnis zwischen jenseitigem Grund und diesseitiger Folge, sondern es konstituiert sich überhaupt erst das Andere der Vernunft als Grund und Voraussetzung dieses Verhältnisses. Da hier Vorstel­ lungen per analogiam von einem Bereich auf den anderen - wenn­ gleich auf einen nur hypothetischen - transferiert werden, fällt dieser Weg mit dem Analogiedenken zusammen. Diese Zugangsarten sollen anhand konkreter philosophischer Positionen exemplifiziert werden.

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2. Kapitel Der negative Zugang zum Anderen der Vernunft: die via negativa, demonstriert an Derridas differance-Begriff 1. Vorgeschichte Es gibt wohl keine zweite Epoche der Philosophiegeschichte, die sich mit einer solchen Vehemenz dem Anderen der Vernunft zugewendet hat wie die Postmoderne, jene in den sechziger Jahren des 20. Jahr­ hunderts in Frankreich entstandene und sich bald über Europa und Amerika ausbreitende avantgardistische nouvelle philosophie, ohne die das Denken der Gegenwart unverständlich bliebe. Ebenso nach­ haltig ist die mit ihr einhergehende Kritik am traditionellen Monopol und Absolutheitsanspruch der Vernunft, und zwar der als Einheits­ programm entworfenen klassifikatorischen Vernunft, auf der die klassische Logik basiert. An die Stelle der von dieser postulierten Prinzipien: Einheit, Identität, Grund usw. sind Vielheit, Differenz, Relationalität usw. getreten, allerdings nicht jene immer noch unter der Dominanz von Einheit und Identität stehenden, nämlich die atomisierte, wohlunterschiedene, abzählbare Vielheit, sondern Mannig­ faltigkeit, Differenz, Relationalität schlechthin. Wiewohl sich alle Postmodernisten in irgendeiner Weise in ihren Schriften mit dem Anderen der Vernunft befassen, vorzüglich unter dem Differenzbegriff1, gebührt Derrida das Verdienst, sich am radikalsten unter dem verfremdenden Begriff differance dem Anderen zugewandt zu haben, so daß sein Konzept zur Exemplifikation dienen möge. Nicht, daß es überhaupt keine Anknüpfungs- und Bezugspunk­ te seiner Philosophie an frühere metaphysische Modelle, Argumen­ tationsformen und Gedankenfiguren gäbe und sämtliche Gedanken­ gänge innovativ wären. Wohl aber hat Derrida am rigorosesten die 1 Vgl. J. Derrida: Die differance, in: Randgänge der Philosophie (Titel der Originalaus­

gabe: Marges de la philosophie), aus dem Französischen von G. Ahrens, H. Beese, M. Fi­ scher, K. Karabaczek-Schreiner, E. Pfaffenberger-Brückner, G. Sigl, D. W. Tuckwiller, hrsg. von P. Engelmann, Wien 1988, S. 29-52; G. Deleuze: Difference et repetition, Pa­ ris 1968, deutsch: Differenz und Wiederholung, aus dem Französischen von J. Vogl, München 1992; J.-F. Lyotard: Le Differend, Paris 1983: G. Vattimo: Le avventure della differenza. Che cosa significa pensare dopo Nietzsche e Heidegger, Mailand 1980. ^ 299

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Zweiter Teil: Das Andere der Vernunft

Konsequenzen aus dem Ansatz einer Unzugänglichkeit des als Ab­ solutes angesetzten Anderen gezogen. Derrida selbst nennt in seiner Studie differance als Anknüpfungspunkte seiner Philosophie Hei­ deggers Konzept der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem und, noch weiter zurückgehend, die negative Theologie, deren Ursprünge sich bis auf Platons Sonnengleichnis zurückver­ folgen lassen. Platons Sonnengleichnis ist insofern von entscheidender Wich­ tigkeit, als hier erstmals in der Geschichte des Denkens der Transzen­ denzgedanke und die negative Methode [via negativa) eingeführt werden, wozu sich Platon des Arguments bedient, daß das, was Grund von allem ist - letzter, höchster, umfassender Grund - nicht adäquat durch das aus ihm Begründete eingeholt werden könne, da sich sonst Begründendes und Begründetes nivellierten. Obwohl das Andere Ermöglichungsgrund des Ideensystems und der entsprechen­ den Vernunfterkenntnis ist, läßt es sich selbst durch keines der bei­ den Gegensatzglieder fassen und beschreiben, weder als ideeller Er­ kenntnisgegenstand noch als ideelle Erkenntnis, so daß keines der aus ihm freigesetzten rationalen Prädikate auf es selbst zutrifft: Es ist weder Einheit noch Vielheit, weder Identität noch Differenz, weder Grund noch Folge, weder Sein noch Bewußtsein. Ebenso wichtig ist die Tatsache, daß es als unbegreiflicher Systemgrund auf das explizite System zurückverweist und, was seine Explikationsmöglichkeit be­ trifft, gänzlich in diesem aufgeht. Die Argumentation operiert mit den klassischen Kategorien »Grund« und »Folge« bzw. deren Synonymen, auf denen auch das klassische klassifikatorische Vernunftmodell basiert, das ein Begrün­ dungssystem, ein hierarchischer Stufenbau aus Gründen und Folgen, ist und die Existenz eines letzten, höchsten Grundes suggeriert, ohne daß dieser vom explizierten System aus zugänglich wäre. Wir begeg­ nen hier der Paradoxie, zwar einen Grund supponieren zu müssen, um das explizite System erklären zu können, ihn aber gleichzeitig der Erkennbarkeit zu entziehen, so daß letztlich unausgemacht bleibt, ob er überhaupt existiert und in ein Verhältnis zum expliziten System gesetzt werden darf, ja ob nicht die ganze Begrifflichkeit von Grund und Folge unangemessen ist. Platons Antwort bleibt ambiva­ lent. Gelegentlich hat es den Anschein, als wäre die Annahme eines solchen Grundes unerläßlich, gerade auch in seiner Leitfunktion für das explizite System und die Vernunfterkenntnis wie nach dem Höhlengleichnis der Politeia; gelegentlich scheint nur das Nichts zu 300

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Der negative Zugang zum Anderen der Vernunft

bleiben mit dem Verweis auf die O'up.nXox^ xmv yevmv-Struktur wie nach dem Parmenides. Vom Platonischen Sonnengleichnis und seinem Transzendenz­ gedanken, der sich nur in der Immanenz offenbart, hat die negative Theologie ihren Ausgang genommen, wie sie exemplarisch in Pseu­ do-Dionysius Areopagitas Schrift De mystica theologia vorliegt, in der Gott, welcher hier die Stelle der ursprünglich neutralen Ur­ sprungsdimension einnimmt, alle nur erdenklichen rationalen Prädi­ kate abgesprochen werden in der Manier: Gott ist nicht ... bzw. Gott ist weder dies noch jenes, weder Größe noch Kleinheit, weder Identi­ tät noch Differenz, weder Vernunft noch Gegenstand der Vernunft . Im fünften Kapitel heißt es: »Noch höher aufsteigend sagen wir von ihr (der Allursache) aus, daß sie we­ der Seele ist noch Geist; ihr ist auch weder Einbildungskraft, Meinung, Ver­ nunft oder Denken zuzuschreiben, noch ist sie mit Vernunft und Denken gleichzusetzen, noch wird sie ausgesagt, noch gedacht. Sie ist weder Zahl noch Ordnung, weder Größe noch Kleinheit, weder Gleichheit noch Un­ gleichheit, weder Ähnlichkeit noch Unähnlichkeit. Sie hat weder einen festen Stand, noch bewegt sie sich, noch rastet sie. Ihr ist auch weder Kraft zuzu­ schreiben, noch ist sie mit Kraft identisch, noch mit Licht. Sie ist weder le­ bendig noch mit Leben identisch. Auch ist sie nicht Sein, nicht Ewigkeit, nicht Zeit. Sie kann aber auch nicht gedanklich erfaßt, noch gewußt werden. Auch ist sie weder mit Wahrheit, noch mit Herrschaft oder Weisheit gleichzuset­ zen. Sie ist weder eines noch Einheit, weder Gottheit noch Güte. Sie ist auch nicht Geist in dem Sinne, wie wir diesen Ausdruck verstehen, noch mit Sohn­ schaft oder Vaterschaft gleichzusetzen oder mit irgend etwas anderem, von dem wir oder irgendein anderes Wesen Kenntnis besaßen. Sie gehört weder dem Bereich des Nichtseienden noch dem des Seienden an. Auch erkennen sie die Dinge nicht so, wie sie (tatsächlich) ist, noch erkennt sie die Dinge in ihrem tatsächlichen (begrenzten bzw. zusammengesetzten) Sein. Sie entzieht sich jeder (Wesens-)Bestimmung, Benennung und Erkenntnis. Sie ist weder mit Finsternis noch mit Licht gleichzusetzen, weder mit Irrtum noch mit Wahrheit. Man kann ihr überhaupt weder etwas zusprechen noch abspre­ chen. Wenn wir vielmehr bezüglich dessen, was ihr nachgeordnet ist, beja­ hende oder verneinende Aussagen machen, dann ist es nicht etwa sie selbst, die wir bejahen oder verneinen. Denn sie, die allvollendende, einzige Ursache aller Dinge, ist ebenso jeder Bejahung überlegen, wie keine Verneinung an sie heranreicht, sie, die jeder Begrenzung schlechthin enthoben ist und alles übersteigt.«2 2 Pseudo-Dionysius Areopagita: De mystica theologia, Kap. 5, in der Übersetzung von A. M. Ritter, in: Pseudo-Dionysius Areopagita: Über die Mystische Theologie und Brie­

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Des selben Denkschemas bedient sich Heidegger bei der Konzeption seiner ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem, deren erstes Glied die Ursprungsdimension und deren zweites das wohl­ unterschiedene, bestimmte Seiende bezeichnet. Auch hier findet die Dialektik von Entbergung und Verbergung, Lichtung und Entzug Anwendung. »Das Sein«, heißt es in Holzwege, »entzieht sich, indem es sich in das Seiende entbirgt.«3 Das Sein muß gedacht werden als das »entbergend-verbergende Lichten«4. »Die Unverborgenheit be­ ruht in der Verborgenheit des Anwesens.«5 In aller Schärfe bringt die Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1929 diese Dialektik zum Ausdruck, indem sie die Ursprungsdimension als Nichts bestimmt, das in der Angst erfahren wird, einer Stimmung oder, besser, einer Grundbefindlichkeit des Menschen, in der alle festen, sicheren Grenzen verschwimmen, die vertrauten, Halt gebenden, identifizierbaren Dinge in einem grauen Einerlei versinken, gleichsam in ein schwarzes Loch fallen. Die Kehrseite dieses das Sein charakterisierenden Prozesses ist das Hervortretenlassen des Seienden im ganzen. Im Entzug liegt zugleich das In-Erscheinung-Treten und Sichtbarwerden des Seienden als solchen, so daß Heidegger das Nichts als die von sich selbst »abwei­ sende Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen«6 be­ stimmen kann. Nicht nur an Heideggers Philosophie, sondern auch an der ne­ gativen Theologie meint Derrida eine Inkonsequenz des Antigrund­ denkens konstatieren zu müssen, insofern beide allzu leicht die Exi­ stenz zweier selbständiger Ebenen suggerieren, die im Verhältnis von Grund und Folge zueinander stehen, ohne zu bedenken, daß dadurch Begriffe der einen Sphäre illegitimerweise auf die andere übertragen werden und so die Ursprungsdimension zu einem zweiten Seienden neben dem eigentlichen Seienden degradiert. Sie wird nicht in ihrer ausschließlich konstituierenden Funktion für das Seiende erfaßt. Bezüglich der negativen Theologie kulminiert der Vorwurf in der

fe, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von A. M. Ritter, Stuttgart 1994 (Bibliothek der griechischen Literatur, hrsg. von P. Wirth und W. Gessel, Bd. 40), S. 79f. (vgl. Patrologiae Graecae, Bd. 3, S. 1045f. /1046f.). 3 M. Heidegger: Holzwege, in: Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1977, S. 337. 4 M. Heidegger: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 27. 5 M. Heidegger: Zur Seinsfrage, in: Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt a. M. 1976, S. 416. 6 M. Heidegger: Was ist Metaphysik?, 1929,11. Aufl. Frankfurt a. M. 1975, S. 34. 302

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Der negative Zugang zum Anderen der Vernunft

Kritik an der Substantialisierung Gottes, bezüglich Heideggers Phi­ losophie gipfelt er in drei Punkten: (1.) Zum einen nivelliert nach Derrida Heideggers Formel von der ontologischen Differenz, die auch als Formel für Entzug / Lich­ tung bzw. Verbergen / Entbergen gelesen werden kann, das Sein zu einem Seienden, das sich hinter dem letzteren verbirgt. (2.) In dieselbe Richtung zielt der Vorwurf, daß Heidegger in bezug auf das Sein die Wesensfrage stellt, d. h. die Frage nach Sinn und Eigenart des Seins als solchen. Eine solche Frage suggeriert, daß es das Sein gleichsam wie ein Seiendes gebe, nach dessen Beschaffen­ heit gefragt werden könne. (3.) Heideggers gesamtes Sinnen und Trachten zielt auf eine letzte Wahrheit, einen letzten Sinn. Da der Logos aufgrund seiner Struktur diesen jedoch verbirgt, rückt an seine Stelle der Versuch, mittels des dem Sein näherstehenden poetischen Sprechens das alte Ideal der adaequatio intellectus rei zu verwirklichen. Die Suche nach dem »einzigartigen Namen«7, der das Unnennbare benennen soll, bleibt nach Derrida jedoch dem Phonologismus oder Phonozentrismus verhaftet, der von der metaphysischen Obsession der Anwesen­ heit und ihrer Transparenz geprägt ist. Sollen diese Monita - zum einen die metaphysischen Anklänge an die Anwesenheit, zum anderen die Wesensfrage und zum dritten die Wahrheitsdefinition - vermieden werden, so ist mit der These ernst zu machen, das Andere der Vernunft in seiner ausschließ­ lichen Konstitutionsfunktion für das durch Rationalitätsstrukturen zu erfassende Seiende aufzuzeigen, es weder im Sinne eines stati­ schen substantiellen Prinzips noch im Sinne eines dynamischen Anfangs oder Ursprungs, sondern allein in seiner Bewegung des Sich-Entlassens in das wohlbestimmte, differenzierte Seiende dar­ zustellen. Dies geschieht bei Derrida unter dem markanten Termi­ nus differance.

2. Derridas Begriff der differance Die Wortneuprägung »differance« weist für Derrida zwei Vorzüge auf: Zum einen macht das lautlose a in differance das Wort ununter­ scheidbar vom gleichlautenden difference mit der Konsequenz, daß 7 J. Derrida: Randgänge der Philosophie, a.a.O., bes. S. 51.

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differance nur als difference konstatierbar ist. Zum anderen haben Wortbildungen mit a im Französischen den Vorteil, neutral zu sein, weder das Aktivum noch das Passivum zu bezeichnen. So drückt mouvance (Beweglichkeit) weder einseitig die Tätigkeit des Bewegens noch einseitig das Geschehen des Bewegt-Werdens aus. Und ebenso bedeutet resonance nicht einfach das aktive Widerhallen-Machen (resonner), freilich auch nicht das passive Widerhallen-Lassen. Differance eignet sich daher schon von der sprachlichen Verfassung her zur Explikation der medialen Form. »Was sich differance schreibt, wäre also jene Spielbewegung, welche diese Differenzen, diese Effekte der Differenz, durch das >produziertUrsprung< nicht mehr zu.«8

Die weder als aktiv noch als passiv zu verstehende mediale Bewegung des Sich-Differenzierens kann gleicherweise als Spatialisierung wie als Temporalisierung verstanden werden, als Raum- wie Zeiteröff­ nung, als Freisetzen räumlicher Intervalle wie auch als Herstellung eines zeitlichen Zwischen zwischen dem aktuellen Jetzt und den ver­ gangenen bzw. bevorstehenden Jetzten einschließlich der Setzung be­ grifflicher Differenzen. Durch die Freigabe der gesamten möglichen Vernunftstrukturierung in Raum und Zeit wird der ermöglichende Grund selbst für das Vernunftdenken zum Abgrund und Ungrund. Um mit Derrida zu sprechen: Die durch differance charakterisierte Ursprungsdimension geht in der durch difference charakterisierten Sphäre auf und unter. Es ist kein Zufall, daß bei dieser ontologischen Konzeption die Sprachtheorie Saussures9 Pate gestanden hat, wie überhaupt Saus­ sure für die gesamte Postmoderne eine entscheidende Rolle spielt. Im Unterschied zur klassischen Sprachauffassung, wie sie bei Platon, Aristoteles, Leibniz, in der Port-Royal-Schule u. a. anzutreffen ist und als Repräsentationstheorie auftritt, bei der das Verhältnis »Wort 8 A. a. O., S. 37. 9 Vgl. F. de Saussure: Cours de linguistique generale [1917], publie par Ch. Bally et

A. Sechehaye avec la collaboration de A. Riedlinger. Edition critique par T. de Mauro, Paris 1973, deutsch: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, übersetzt von H. Lommel, 2. Aufl. Berlin 1967. 304

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bzw Zeichen - Sache« als ein Verhältnis zwischen Repräsentant und Repräsentiertem bestimmt wird, dergestalt, daß sich ersteres Glied mimetisch oder aufgrund konventionalistischer Festlegung in einer Eins-zu-eins-Relation auf letzteres bezieht, bestreitet Saussure eine solche Externrelation, da sie von vorausgesetzten wohlunterschiede­ nen Objekten ausgeht, die bereits in einer vorsprachlichen Form er­ faßt sein müßten. Die Worte und Zeichen der Sprache wären dann nur noch Hüllen dieses Vorbewußten und Vorgedachten. Für Saus­ sure ergibt sich daraus die Konsequenz, die Bedeutung der Worte und Zeichen ausschließlich durch ihre Internrelation innerhalb des Sprachsystems festzulegen, indem ein Zeichen auf ein anderes Zei­ chen verweist und dieses wieder auf ein anderes usw. in einem unend­ lichen Verweisungsnetz. Das Zeichen ist nicht durch feststehende, identische Merkmale bestimmt, sondern durch die wechselnden Dif­ ferenzen zu anderen Zeichen, so daß sich die Sprache als ein relatives Differenzsystem darstellt. Hier wird nicht von unveränderlichen Zei­ chen ausgegangen, die nachträglich in Relation zueinander gesetzt werden, sondern umgekehrt von Differenzen, die die Zeichen ur­ sprünglich bestimmen, freilich damit auch zu relativen herabsetzen. Zur Plausibilisierung läßt sich ein einfaches Modell heranzie­ hen. Man denke sich einen undifferenzierten Grund, eine Fläche et­ wa, die man durch Striche zu erfassen sucht. Angesichts der Diskre­ panz zwischen Strich und Fläche sind zumindest zwei Striche erforderlich, um durch deren Intervall oder Differenz die Fläche ein­ zugrenzen. Da dies jedoch ohne Erfolg bleibt, werden weitere Striche, kleinere Intervalle bzw. kleinere Differenzen erforderlich und so in infinitum. Denn jede Eingrenzung eröffnet die Möglichkeit eines noch kleineren Intervalls. Ohne durch Striche je faßbar zu sein, sind die Differenzen der Striche doch das einzige, durch das sich der Grund zeigt. Der Grund gibt sich nur durch ein unendliches Inter­ vallsystem zu erkennen, indem er sich gleichzeitig in und mit jedem Intervall entzieht. Jedes neue Intervall dokumentiert paradoxerweise nur seine Abwesenheit. Überträgt man dieses Modell auf die Sprache, so sind die Striche die Wörter, die sogenannten Signantien, und die Intervalle ihre Dif­ ferenzen. Die bezeichnete Sache, das Signifikat, geht dann im System der Signantien auf oder, besser, unter, da jedes Signans nur insofern Signans ist, als es in Beziehung auf ein anderes ein solches ist und in einer differentiellen Relation zu ihm steht. So kann Saussure sagen: »Dans la langue il n'y a que des differences sans termes positifs.« (»In ^ 305

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der Sprache gibt es nur Unterschiedenheiten ohne positive Einzel­ glieder.«)10 Derrida geht bei der Auslegung der Differenz noch einen Schritt über Saussure hinaus unter Rekurs auf Husserls Zeittheorie, wie sie sich in der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins expliziert findet. Husserls Theorie ist gekennzeichnet durch eine Kritik an der traditionellen Auffassung von der Präsenz oder Anwesenheit einer Sache im Augenblick und ihrer »unmittelbaren« Erfahrbarkeit, mit­ hin durch eine Kritik an der traditionellen Metaphysik der Anwesen­ heit, die die gesamte Philosophiegeschichte durchzieht und auch im Kreuzfeuer von Heideggers Attacken stand. Ging die Tradition bezüglich der Zeit von einer Punktualisierung und Momentanisierung aus, einer Zerlegung des kontinuierlichen Zeitflusses in eine Vielzahl unausgedehnter, mathematisch faßbarer Augenblicke, letz­ te, so nimmt Husserl, da sich das Zeitkontinuum nicht mengentheo­ retisch aus letzten zusammensetzt, mehr oder weniger ausgedehnte Präsenzzeiten an, die aus einer Urimpression sowie aus einer Reten­ tion und Protention, desgleichen aus einem Schweif von Retentionen der Retentionen und Protentionen der Protentionen bestehen. Für die Urimpression innerhalb der Präsenzzeit gilt im Prinzip dasselbe, nämlich daß sie sich nicht auf einen punktuellen Augenblick reduzie­ ren läßt, sondern ihrerseits aus einem Spektrum von Urimpression, Retention und Protention besteht, wenngleich eingeschränkterer Art. Für dessen Urimpression gilt dasselbe und so in infinitum. So wie sich die zeitliche Gegenwart in eine unendlich verschachtelte Konstruktion auflöst und hinter dieser verschwindet, so entschwin­ det auch die Anwesenheit des Gegenstands, der nie in leibhaftiger Selbstgegenwart, in absoluter Evidenz, gegeben ist. Da Wahrneh­ mung, selbst die angeblich unmittelbare, augenblicksbezogene, wie alle Bewußtseinsakte intentional strukturiert, mithin objektbezogen ist, kann sie sich auf den gegenwärtigen Gegenstand immer nur nachgewahrend in Form von Retentionen beziehen. Der Quellpunkt der Zeit ebenso wie das Momentanerlebnis sind selbst nicht faßbar. Der Anfang liegt seiner Erfahrbarkeit immer schon voraus. Anders gesagt, das Gegenwärtige ist nie als Gegenwärtiges konstatierbar, sondern immer nur im nachherein. Das Aktuelle ist paradoxerweise nur als Gewesenes bewußt. Die Bewußtseinsintention gelangt nie nur Gänze mit der Intuition zur Deckung. Diese Zeitverschobenheit 10 A.a.O., S. 166 (deutsch S. 143). 306

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führt zur These von der Phasenverschohenheit des sich konstituie­ renden und des erscheinenden Bewußtseinsflusses. Denn die Reihe der Konstitutionsmomente ist nicht und kann nicht identisch sein mit der Konstatierung und reflexiven Erfassung derselhen. »Das Konstituierende und das Konstituierte decken sich, und doch können sie sich natürlich nicht in jeder Hinsicht decken. Die Phasen des Bewußtseins­ flusses, in denen Phasen desselhen Bewußtseinsflusses sich phänomenal kon­ stituieren, können nicht mit diesen konstituierten Phasen identisch sein, und sind es auch nicht. Was im Momentan-Aktuellen des Bewußtseinsflusses zur Erscheinung gehracht wird, das sind in der Reihe der retentionalen Momente desselhen vergangene Phasen des Bewußtseinsflusses.«11

Allerdings taucht hier im Zentrum der Husserlschen Theorie ein Prohlem auf, dessen sich Husserl zwar hewußt war und das er in den Beilagen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins zu lösen suchte, für das er aher nur den Verlegenheitshegriff eines »Urhewußtseins«11 12 des Gegenwärtigen fand. Denn wenn das Aktuelle über­ haupt nicht hewußt ist, kann es auch nachträglich nicht retiniert und erinnert werden. Indem Husserl zwischen unmittelharer innerer Wahrnehmung hzw. Urhewußtsein und nachfolgender Beohachtung und Reflexion unterscheidet, versucht er das hier auftauchende Prohlem zu hehehen, hegiht sich allerdings hezüglich des unmittelharen Ur- oder Selhsthewußtseins in ein neues Dilemma, nämlich entweder die Annahme eines unendlichen Bewußtseinsregresses, mag sich die­ ser instantan, vorgängig oder nachträglich ahspulen, oder die Annah­ me eines letztlich unhewußten Bewußtseins, - ein Prohlem, das noch Sartre heschäftigte und ihn zur Unterscheidung eines präreflexiven und reflexiven Bewußtseins zwang. Trotz vordergründiger Husserl-Kritik ist es genau diese Husserlsche Position des Aufhrechens einer Zeitverschiehung, die Derrida mit dem Ausdruck differer wiedergiht. Er definiert denselhen als »etwas auf später [...] verschiehen, sich von der Zeit und den Kräften hei einer Operation Rechenschaft ah[ ]legen, die Rechnung auf[ ]legen, die ökonomischen Kalkül, Umweg, Aufschuh, Verzögerung, Re­ serve, Repräsentation impliziert«13. Um etwas als gegenwärtig hezeichnen zu können, muß es im Horizont von Retentionen und 11 E. Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893-1917), in: Hus-

serliana, Bd. 10, S. 83. 12 A.a.O., S. 118ff. (Beilage IX). 13 J. Derrida: Randgänge der Philosophie, a.a.O., S. 33. ^ 307

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Protentionen gesehen werden entweder als das Nicht-mehr einer schon vorühergeeilten, schon vergangenen Gegenwart oder als das Noch-nicht einer erst erwarteten, hevorstehenden. Gegenwärtiges ist nur im Rück- oder Vorgriff, auf jeden Fall im Sinne einer das aktuelle Lehen überschreitenden Intention identifizierhar. Ohne die Folie Husserls bliebe die für Derridas differance-Konzeption typische Temporalisation (»Temporisation«14) unverständ­ lich, mit der die Eröffnung der Zeitdimension gemeint ist. Und mit der Temporalisation geht die Raumgehung, das Räumen, einher, das im Sinne Heideggers die Freigabe von Orten (espacement15) ist. Das räumliche wie zeitliche Intervall ist das, was das Anwesende als sol­ ches konstituiert; mit ihm geht die Möglichkeit begrifflicher Struk­ turierung Hand in Hand. In der Kette von Beschreihungsweisen tre­ ten noch weitere Termini zur Kennzeichnung dieser konstitutiven Differenz auf, wie »Spur«, »Schrift«, »Reserve« usw. Vor diesem Hintergrund läßt sich verstehen, daß die Postmoder­ ne die dem Denken und der Vernunft zugängliche Realsphäre mit Vorliehe mit dem Bild des Rhizoms helegt.16 Das Rhizom, das Wur­ zelgeflecht, ist ein nach allen Richtungen sich aushreitendes, wild­ wucherndes Netzwerk, das aufgrund seiner Internrelationen und Vernetzung dem Denken die verschiedensten Wege ermöglicht. An die Stelle des alten, das Denken heherrschenden klassifikatorischen Vernunftmodells und der darauf hasierenden hinären Logik, die ihren adäquaten Ausdruck im Bild des sich verzweigenden Baumes mit seinen Üher- und Unterordnungen, mit seinen klar gegliederten, wohlhestimmten Teilen fand, tritt hier ein alternatives Modell, das sogenannte Rhizom-Denken, das allseitig verzweigt, dezentralisiert, assoziativ ist. Es ist offen für diverse Rationalitätskonzepte und Lo­ giktypen. Die heiden Bilder und Denktypen lassen sich mit verschiedenen Kulturen in Verhindung hringen: »Es ist merkwürdig, wie der Baum die Wirklichkeit und das gesamte Denken des Ahendlandes heherrscht hat, von der Botanik his zur Biologie und Anato­ 14 A. a. O., S. 33. 15 Vgl. M. Heidegger: Die Kunst und der Raum. Hart et l'espace, St. Gallen 1969, S. 9:

»Räumen ist Freigahe der Orte [...]« 16 Vgl. das gleichnamige erste Kapitel aus dem Buch von G. Deleuze und F. Guattari:

Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie (Titel der Originalausgahe: Mille plateaux, Paris 1980), aus dem Französischen ühersetzt von G. Ricke und R. Voullie, hrsg. von G. Rösch, Berlin 1997, S. 11-42. 308

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mie, aber auch die Erkenntnistheorie, die Theologie, die Ontologie, die ge­ samte Philosophie ... der Wurzelgrund, Grund, roots und foundations. Das Abendland hat eine besondere Beziehung zum Wald und zur Rodung [...] Der Orient zeigt ein ganz anderes Muster: eher eine Beziehung zur Steppe und zum Garten [.] Bei uns ist der Baum in die Körper eingepflanzt, und er hat sogar die Geschlechter verhärtet und in Schichten aufgeteilt. Wir haben das Rhizom oder das Gras verloren.«17 »Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie. Es ist [.] ein azentrisches, nicht hier­ archisches und asignifikantes System ohne General. Es hat kein organisieren­ des Gedächtnis und keinen zentralen Automaten und wird einzig und allein durch eine Zirkulation von Zuständen definiert.«18 »Ein Rhizom hat weder Anfang noch Ende, es ist immer in der Mitte, zwischen den Dingen, ein Zwi­ schenstück, Intermezzo. Der Baum ist Filiation, aber das Rhizom ist Allianz, einzig und allein Allianz. Der Baum braucht das Verb >seinund ... und ... und