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German Pages [449] Year 2016
Marie-Luise Raters
Das moralische Dilemma Antinomie der praktischen Vernunft?
BAND 87 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495860762
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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
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In der angelsächsischen Philosophie wurde in den letzten Jahrzehnten diskutiert, welche Konsequenzen für die Moralphilosophie gezogen werden müssten, falls die Möglichkeit unauflösbarer moralischer Dilemmata nicht ausgeschlossen werden kann. Diese metamoralische Frage stellt sich, weil in einem moralischen Dilemma ein und dieselbe Handlung in ein und derselben Situation für ein und denselben moralischen Akteur sowohl moralisch geboten als auch verboten zu sein scheint. Müsste die Moralphilosophie die Möglichkeit unauflösbarer moralischer Dilemmata zugestehen, geriete die Moral in den Verdacht, von den moralischen Akteuren Kontradiktorisches (d. i. logisch Unsinniges) zu fordern, was offensichtlich ein grundlegendes Problem für die Moralphilosophie als systematische, vernünftige und handlungsleitende normative Wissenschaft wäre. Jenseits dieser metamoralischen Frage der angelsächsischen Debatte nimmt das Buch aber auch die pragmatische Perspektive der Angewandten Ethik und der individuellen moralischen Akteure ein. Wie sollen sie handeln, wenn jede mögliche Handlung moralisch falsch zu sein scheint, weil eine Unterlassung der Handlung ebenfalls geboten ist? Insbesondere mit der Zielsetzung einer Lösung dieses pragmatischen Problems leitet das Buch zunächst in das metamoralische Problem der angelsächsischen Debatte ein und klärt den Begriff des ›moralischen Dilemmas‹. Anschließend rekonstruiert es die Positionen von D. Ross, R. M. Hare, der deontischen Logik, B. Williams und Th. Nagel. Im letzten Kapitel entwickelt es zur Lösung des pragmatischen Problems das ›Prinzip der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung‹ zur Entscheidung unlösbarer moralischer Dilemmata. Nachdem ein solcher Entscheidungsprozess unter dem Etikett ›die Nagelprobe‹ paradigmatisch durchgespielt wurde, diskutiert das Buch abschließend die Folgehandlungen, welche unlösbare moralische Dilemmata im Unterschied zu anderen moralischen Konflikten nach sich ziehen sollten.
Die Autorin: Apl. Professorin Dr. phil. Marie-Luise Raters hat sich 2004 an der Universität Magdeburg habilitiert und arbeitet seit 2002 als feste wissenschaftliche Mitarbeiterin für Ethik, Religionsphilosophie und Didaktik der Philosophie und Ethik an den Instituten für Philosophie und LER der Universität Potsdam.
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Marie-Luise Raters Das moralische Dilemma
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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Löhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rümelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 87
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Marie-Luise Raters
Das moralische Dilemma Antinomie der praktischen Vernunft?
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Für meine Familie
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Potsdam und des Philosophischen Instituts der Universität Potsdam
2., überarbeitete Auflage 2016 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48572-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86076-2
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. (a) (b)
Das Problem des moralischen Dilemmas . . . . . . . . . . Der erste Anstoß der Debatte durch Sir David Ross . . . . Die Wurzel des Problems bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die metamoralische Ausrichtung der angelsächsischen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moralphilosophie, Metamoral und Angewandte Ethik . . Die Bedeutung des Problems für die Angewandte Ethik . Die Bedeutung des Problems für die moralischen Akteure . Gliederung und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zum Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Begriffe des ›Dilemmas‹ in der angelsächsischen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ursprung des Begriffs in der Antike . . . . . . . . . Synonyme in der Umgangssprache . . . . . . . . . . . . Synonyme in der philosophischen Wissenschaftssprache . Das symmetrische Dilemma, das strategische Dilemma und das Dilemma der schmutzigen Hände . . . . . . . . . . . Das moralische Dilemma . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(c) (d) (e) (f) (g) 2. (a) (b) (c) (d) (e) (f) 3. (a) (b) (c)
Das moralische Dilemma als menschliches Versagen nach Sir David Ross . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das moralische Dilemma als Grenzerfahrung . . . . . . . Das Argument der prima facie Pflichten als unvollkommene Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Argument der prima facie Pflichten als Scheinpflichten
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Inhalt
(d) (e)
4. (a) (b) (c) (d) (e) (f) (g) 5. (a) (b) (c) (d) (e) (f) (g) (h) 6. (a) (b)
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Das Argument der nicht sicheren Erkennbarkeit der aktualen Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Möglichkeit des moralischen Dilemmas durch ungünstige Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das moralische Dilemma als Herausforderung für die Moralphilosophie nach Richard M. Hare . . . . . . . . . . Das Argument der Entscheidbarkeit aller Dilemmata durch kritisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vier Standardeinwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einwand der Außerkraftsetzung von Grundrechten von John Rawls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einwand der Schwierigkeiten der Präferenzberücksichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einwände des Egoismus und des Amoralismus . . . . Die Schwierigkeiten der Universalisierung von spezifischen Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einwand des Erzengels als deus ex machina . . . . . Die deontische Logik und das moralische Dilemma als Inkonsistenz der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Beweis der logischen Widersinnigkeit des moralischen Dilemmas in der deontischen Logik . . . . . . . . . . . . Die Widerspruchsfreiheit des Vernünftigen (P1) . . . . . Die notwendige Widerspruchsfreiheit moralphilosophischer Systeme (P2) . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Übertragbarkeit von aussagen- und modallogischen Schlussprinzipien in den Bereich der Moral (P3) . . . . . Das Agglomerationsprinzip (P4) . . . . . . . . . . . . . Das Aus-Sollen-folgt-Können-Prinzip (P5) . . . . . . . . Die logischen Kontradiktionen (P6) . . . . . . . . . . . . Die Unzulänglichkeit der deontischen Beweise . . . . . . Das moralische Dilemma als tragische Verkettung übler Umstände nach Sir Bernard Williams . . . . . . . . . Das phänomenologische Argument des moralischen Restbestands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einwand der bloßen Subjektivität von Gefühlen (P1) .
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176 176 185 188 205 211 220 232 241
244 244 252
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Inhalt
(c) (d) (e) (f) (g) (h)
7. (a) (b) (c) (d) 8. (a) (b) (c) (d) (e)
Der Einwand der Irrationalität eines moralischen Bedauerns (P5) . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einwand möglicher Entlastungsgründe (P6) Das modifizierte Argument . . . . . . . . . . . Gibt es das moralische Dilemma (K1)? . . . . . Ist der moralische Realismus falsch (K2)? . . . . Kann die Moralphilosophie keine Wissenschaft mehr sein (K3)? . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . 309
Das moralische Dilemma als Expertenproblem mit Restrisiko nach Thomas Nagel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Hiat zwischen persönlicher und unpersönlicher Perspektive als Entstehungsgrund für moralische Dilemmata . Einige weiterführende Fragen . . . . . . . . . . . . . . Die objektive Entscheidung aus der überpersönlichen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nagels Vision einer neuen Moralphilosophie . . . . . . . Das moralische Dilemma als pragmatisches Problem . . . Sind moralische Dilemmata systematisch vermeidbar? . Die Konsequenz für die Moralphilosophie . . . . . . . Die pragmatischen Konsequenzen für die Angewandte Ethik und die moralischen Akteure . . . . . . . . . . . Das pragmatische ›Prinzip der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung‹ . . . . . . . . . . . . . . Die pragmatistische Nagelprobe am Beispiel des Neugeborenen-Dilemmas . . . . . . . . . . . . . . .
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. 356 . 357 . 369 . 375 . 383 . 390
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Zur 1. Auflage 2013 Mein Buch hat vor allem von zwei Tagungen sehr profitiert, nämlich zum einen von der gemeinsam mit Ludger Heidbrink organisierten Tagung Was tun, wenn alles falsch ist? am KWI in Essen am 15. 7. 2011, und zum anderen von dem von Anna Goppel veranstalteten Workshop Moralische Konflikte am Ethik-Zentrum in Zürich vom 7.–8. 12. 2012. Den Teilnehmern und Teilnehmerinnen dieser beiden Veranstaltungen möchte ich ganz herzlich für wichtige Anregungen und Kritik danken. Frau Julia Heuer von der Universität Potsdam und Frau Caroline Baumer vom Verlag Karl Alber danke ich für Verbesserungen der Druckfassung. Vor allem aber danke ich Ralf Stoecker, ohne dessen Einwände, Ratschläge und Unterstützung ich dieses Buch nicht hätte schreiben können.
Zur überarbeiteten 2. Auflage 2016 Ich danke der Universität Potsdam für vielfältige Unterstützungen meiner wissenschaftlichen Arbeit. Dem Verlag Karl Alber danke ich für die Möglichkeit dieser 2. Auflage und für eine gute Zusammenarbeit.
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1. Das Problem des moralischen Dilemmas
In der angelsächsischen Moralphilosophie wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein interessantes Problem diskutiert. Es ging um die Frage, ob es so etwas wie ›unauflösbare moralische Dilemmata‹ gibt. Dass diese Frage von großer Bedeutung für die Angewandte Ethik und für alle moralischen Akteure ist, bedarf letztlich keiner weiteren Erläuterung, denn schließlich scheint man im Falle eines moralischen Dilemmas nicht wissen zu können, welche der möglichen Handlungen die richtige wäre. 1 Im Zentrum der angelsächsischen Debatte stand jedoch nicht diese wichtige pragmatische Frage, sondern vielmehr das metamoralische Problem, ob es einer Kapitulationserklärung gleichkäme, wenn die Moralphilosophie einräumen müsste, dass es moralische Dilemmata gibt. Die Debatte basiert auf der Prämisse des Aristoteles, dass Widersprüche auf falsche Voraussetzungen oder fehlerhaftes Schlussfolgern hindeuten, weil sich widersprechende Aussagen sinnlos sind und deshalb im vernünftigen Denken nichts zu suchen haben. Dem angelsächsischen Verständnis zufolge ist es die Aufgabe der Moralphilosophie, vernünftige normative Systeme zur Handlungsorientierung für vernünftige moralische Akteure zu entfalten. Im moralischen Dilemma stehen widersprüchliche moralische Ansprüche zur Disposition. Deshalb stand der Verdacht im Raum, dass die Moralphilosophie ihren Anspruch, vernünftige Systeme von Handlungsorientierungen entwickeln zu können, aufgeben muss, wenn sie das Problem des moralischen Dilemmas nicht grundsätzlich lösen kann. Da sich diese Frage erst stellt, wenn die Möglichkeit moralischer Dilemmata zugegeben werden muss, hat in der angelsächsischen Debatte die Frage nach der Lösbarkeit aller moralischen Konflikte zwangsläufig ebenfalls großen Raum eingenommen. Vgl. zu den pragmatischen Herausforderungen für die Angewandte Ethik und die individuellen moralischen Akteure die Abschnitte 1.d. und 1.f.
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1. Das Problem des moralischen Dilemmas
(a) Der erste Anstoß der Debatte durch Sir David Ross Es war sicherlich kein Zufall, dass die Debatte ihren ersten Anstoß 2 von einem Moralphilosophen bekommen hat, der sich auch als AristotelesExperte 3 einen Namen gemacht hat: Die Rede ist von Sir David Ross. Das Problem des moralischen Dilemmas für die Moralphilosophie hat Ross allerdings mehr oder weniger zufällig im Zuge einer Auseinandersetzung mit den sogenannten ›private-reaction-theories‹ in seinen Foundations of Ethics aus dem Jahr 1939 aufgeworfen. Ross kennzeichnet diese Theorien als solche, denen zufolge ein Akt den »Charakter der moralischen Richtigkeit« haben soll, sobald ein individueller Beobachter »mit der Emotion der Zustimmung reagiert«. Mit dieser Auffassung hat Ross Schwierigkeiten, weil sie zu sich »kontradiktorisch widersprechenden Urteilen« führen kann. Schließlich könnten ja auf ein und denselben Akt ein Beobachter mit Zustimmung und ein anderer mit Ablehnung reagieren, woraus die privatereaction-theories schließen müssten, dass ein und derselbe Akt sowohl richtig als auch falsch ist (sein kann). Den aristotelischen Gesetzen des vernünftigen Denkens und Argumentierens zufolge sind kontradiktorische Schlussfolgerungen jedoch bekanntlich Hinweise auf Fehler in den Ableitungen oder den Prämissen, weil zwei sich kontradiktorisch widersprechende Urteile nicht gleichzeitig beide wahr sein können. 4 Eine Moralphilosophie muss nach Ross vernünftig sein in dem Sinne, dass sie den elementaren Gesetzen des vernünftigen Denkens entspricht und nicht zu Widersprüchen führt. Aufgrund dieser Voraussetzungen begründet Ross seine Ablehnung der private-reaction-theories schließlich mit dem Argument, dass es »allem ethischen Urteilen ein Ende setzen« 5 würde, wenn man mit den private-reaction-theories zuDer Beginn der Debatte wird bei Ross verortet u. a. von McConnell 2006, 3; sowie von Donogan 1993, 19; sowie von Stratton-Lake 1930, xxxviii. 3 Eine zentrale Rolle in der Aristoteles-Forschung spielt bis heute der Kommentar Ross 1924. Ein weiterer namhafter Aristoteles-Experte in Oxford war John Alexander Smith. Vgl. zum Aristotelismus des Britischen Intuitionismus auch Bradley 1901 sowie Raters 2005, Abschnitt 4.1.6. 4 Der Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch (den Aristoteles in seiner Metaphysik immerhin als den »Grund jedes Beweises« bezeichnet hat) besagt bekanntlich, dass nichts »demselben und in derselben Beziehung« zugleich »zukommen und nicht zukommen kann«. Aristoteles 1871, 1005b. 5 Es heißt im englischen Wortlaut: »The first of these theories will be the theory that because an individual contemplating an act reacts to it with the emotion of approval, 2
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(b) Die Wurzel des Problems bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant
lassen würde, dass ein und dieselbe Handlung in ein und derselben Situation sowohl moralisch richtig als auch moralisch falsch sein kann. Um es ausdrücklich zu betonen: Ross spricht im vorliegenden Kontext nicht über moralische Dilemmata, sondern über den moralischen Relativismus der private-reaction-theories. Weil das moralisches Dilemma jedoch als eine Situation beschrieben werden kann, in der ein und dieselbe Handlung in ein und derselben Situation sowohl als moralisch richtig als auch moralisch falsch beurteilt wird (und das auch noch von ein und demselben Akteur), hat Ross mit seinem Einwand gegen die private-reaction-theories eben doch den Anstoß dafür gegeben, dass sich nahezu alle namhaften angelsächsischen Moralphilosophen des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu der metamoralischen Frage geäußert haben, ob die Möglichkeit des moralischen Dilemmas tatsächlich ›allem ethischen Urteilen ein Ende setzen‹ würde.
(b) Die Wurzel des Problems bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant Ross’ Argument basiert auf der Prämisse, dass moralphilosophische Systeme ebenso widerspruchsfrei sein müssen wie Systeme von Aussagen, weil auch moralphilosophische Systeme den aristotelischen Anforderungen an vernünftiges Denken und Argumentieren gehorchen müssen. Dass der moralische Realist Ross diese starke Prämisse 6 selbstverständlich setzt, erklärt sich vermutlich dadurch, dass Thomas von Aquin und Immanuel Kant als die wichtigsten historischen Bezugsautoren des moralischen Realismus die Moral als ein widerspruchsfreies System moralischer Anforderungen aufgefasst haben. Die entsprechenden Argumentationsgänge beruhen jenseits aller Unterschiede auf fünf Prämissen. Eine erste monistische Prämisse behauptet eine einzige, für alle moralischen Akteure in gleicher Weise verbindliche moralische Weltordnung. Eine zweite rationalistische Prämisse besagt, dass diese Weltordnung für alle vernünftigen moralischen Akteure er-
therefore the act in itself has the characteristic of rightness.« Ross 1939, 60. »If I am judging it to be right on the whole and you are judging it to be wrong on the whole, we are certainly making statements each of which means to contradict the other.« A. a. O. 24. »To think this would be to put an end to all ethical judgment.« A. a. O. 60. 6 Vgl. zu dieser Prämisse auch den Abschnitt 5.c. Das moralische Dilemma
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1. Das Problem des moralischen Dilemmas
kennbar ist. Einer dritten ontologischen Prämisse zufolge ist die moralische Weltordnung vernünftig, weil sie ihren Ursprung in einer vollkommen vernünftigen Instanz hat, die bei Thomas von Aquin der Geist Gottes und bei Immanuel Kant die Praktische Vernunft ist. Die vierte Prämisse besteht in der aristotelischen Überzeugung, dass Vernünftiges keine Widersprüche aufweist. Eine fünfte Prämisse lautet, dass ein moralisches Dilemma ein Widerspruch der Moral wäre, weil zwei sich ausschließende moralische Ansprüchen in ein und derselben Situation gültig sein sollen. Thomas von Aquin entfaltet sein Argument zur Widerspruchsfreiheit der Moral etwa zwischen den Jahren 1266 bis 1274 in seinem unvollendet gebliebenen Spätwerk Summa Theologiae. 7 Für den Dominikanermönch steht fest, dass das »ewige Gesetz« der Moral 8 seinen genuinen Ort »im göttlichen Geist« hat, womit ein »Widerstreit der Willen« aus zwei Gründen ausgeschlossen ist. Zum einen ist der göttliche Geist in einem vollkommenen Sinne vernünftig, was für den Aristoteliker Thomas von Aquin bedeutet, dass das ewige Gesetz keine Widersprüche aufweisen kann. Zum anderen erklärt er es für unvereinbar mit der göttlichen Güte, wenn es in der gottursprünglichen sittlichen Weltordnung »für dasselbe Seiende« gleich »mehrere unmittelbare Maßstäbe« geben soll. Dass verschiedene Akteure zu unterschiedlichen moralischen Urteilen gelangen können, erklärt Thomas von Aquin mit der begrenzten moralischen Perspektive des Menschen. Zwar habe Gott in seiner vollkommenen Güte dafür gesorgt, dass ausnahmslos alle vernünftigen Wesen die moralische Weltordnung »in gewisser Weise« kennen: Den Heiden ist sie »durch die natürliche Vernunft« zugänglich, und den 7 Vgl. Aquin 2001. Ein früherer Entwurf dieser Moralphilosophie findet sich in der zwischen 1254–1256 entstandenen Schrift Quaestiones Disputatae de Veritate. Vgl. Aquin 1955. Eine ausführliche und sehr luzide Rekonstruktion der Dilemma-Theorie des Thomas von Aquin findet sich in Dougherty 2011, 112–168. Gegen Donnogans verkürzte Darstellung dieser Theorie (vgl. Donnogan 1977, Donnogan 1984 sowie Donnogan 1993) unterscheidet Dougherty sechs verschiedene Spielarten des moralischen Dilemmas (lat. perplexio; vgl. Abschnitt 2.b.), nämlich (i) die »malformed conscience dilemmata« (a. a. O. 118–122), (ii) die »wayward deric dilemmata« (a. a. O. 122–125), (iii) die »evil intention dilemmata« (a. a. O. 125f.), (iv) die »layperson dilemmata« (a. a. O. 126ff.), (v) die »infelicitous dilemmata« (a. a. O. 128f.) und (vi) die »hidden option dilemmata« (a. a. O. 129–132). 8 In der christlichen Moralphilosophie ist in der Regel vom ›Naturrecht‹ die Rede. Vgl. Spaemann 2001, 10.
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(b) Die Wurzel des Problems bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant
getauften Christen zusätzlich noch durch die göttliche »Offenbarung« der Bibel. Weil jedoch ausschließlich die göttliche Vernunft vom »Gutsein selbst« 9 weiß, bleibt die moralische Ordnung als Ganze den Menschen »unbekannt«, so dass Menschen immer nur aus einer begrenzten Perspektive urteilen können. So kann ein Richter beispielsweise einen »guten Willen« haben, »wenn er die Tötung« eines »Verbrechers will, weil es gerecht ist«, während die Ehefrau oder die Söhne des Verbrechers genau das nicht wollen dürfen. Das bedeutet aber nicht, dass Thomas von Aquin die Möglichkeit des moralischen Dilemmas aus der Perspektive von menschlichen moralischen Akteuren zugeben würde. Jenseits der partikularen menschlichen Sichtweisen ordnet das göttliche Gesetz nämlich in ausnahmslos jedem Konfliktfall »ein Maßstab dem anderen« 10 in eindeutiger Weise unter, was die betroffenen menschlichen Akteure mittels ihrer Vernunft bei entsprechender Anstrengung nach Thomas von Aquin auch erkennen können. Den empirischen Anschein des moralischen Dilemmas in der moralischen Praxis erklärt Thomas von Aquin also mit schuldhaften 11 epistemischen Fehlleistungen der menschlichen moralischen Akteure. In dieselbe Kerbe schlägt mehr als 500 Jahre später Immanuel Kant in dem Kapitel Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten seiner im Jahr 1797 erschienenen Schrift Metaphysik der Sitten in zwey Theilen. Eine »Handlung«, die »moralisch notwendig, d. i. verbindlich« ist, wird hier als »Pflicht« bezeichnet. Dass es keinen echten »Widerstreit der Pflichten« im Sinne des moralischen Dilemmas geben kann, begründet diese Abhandlung mit dem analytischen Argument, dass »Pflicht und Verbindlichkeit überhaupt Begriffe« seien, »welche die objektive praktische Notwendigkeit gewisser Handlungen« ausdrücken, so dass niemals »zwei einander entgegengesetzte Regeln« in derselben Situation Pflicht sein können, weil sie offensichtlich nicht beide »zugleich notwendig sein« können. Nun kann es nach Kant »gar wohl« Situationen geben, in denen »zwei Gründe der Verbindlichkeit (lat. rationes obligandi)« miteinander in Widerstreit geraten. Das bedeutet nach Kant Aquin 2001, 133 ff. Aquin 2001, 99, 133–139. 11 Dass Gott moralische Verstöße bestraft, hält Thomas von Aquin für »offenkundig« mit dem Hinweis darauf, »daß die menschlichen Handlungen auch im Hinblick auf Gott den Charakter des Verdienstes bzw. des Strafwürdigen« haben müssen, weil die Annahme des Gegenteils bedeuten würde, »daß Gott sich nicht um die Handlungen der Menschen kümmert«. Aquin 2001, 195. 9
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1. Das Problem des moralischen Dilemmas
allerdings nicht, dass der Grundsatz ›Pflichten können sich nicht widersprechen‹ (lat. obligationes non colliduntur) aufgegeben werden müsste. In seinen Augen steht vielmehr fest, dass immer eine der zur Disposition stehenden Pflichten »die andere (ganz oder zum Teil)« aufhebt, so dass der Akteur nach entsprechender moralphilosophischer Reflexion zu dem Schluss kommen muss, dass dem ersten Anschein zum Trotz der eine oder der andere scheinbare »Verpflichtungsgrund« zur »Verpflichtung« tatsächlich gar »nicht zureichend ist (lat. rationes obligandi non obligantes)«. Falls es zu einem Pflichtenkonflikt kommt, muss der Akteur also im Zuge eines moralischen Reflexionsprozesses erkennen, welche der beiden Pflichten tatsächlich gar keine Pflicht ist, so dass schließlich der »stärkere Verpflichtungsgrund« allein »den Platz« 12 als Verpflichtungsgrund behält (lat. fortior obligandi ratio vincit), womit der Anschein des moralischen Dilemmas beseitigt wäre. Die Moralphilosophien von Thomas von Aquin und Immanuel Kant stimmen jenseits aller Details also in der Überzeugung überein, dass die Moral keine Widersprüche aufweisen kann, weil sie ihren Ursprung in einer vollkommen vernünftigen Instanz hat. Ins Normative gewendet und auf die Moralphilosophie übertragen, liegt diese Überzeugung dem Einwand des Aristotelikers Ross gegen die moralphilosophische Position der private-reaction-theories zugrunde: Nach Ross Kant 1797, 327–330. (1) So kann es nach Kant beispielsweise durchaus Konflikte zwischen Pflichten des äußeren Gesetzes (lat. lex externa) einer weltlichen Instanz und den Pflichten des natürlichen Gesetzes der Vernunft geben. Während das äußere Gesetz der weltlichen legislativen Instanzen jedoch »willkürlich« sein kann, insofern es seine Wurzeln nicht im natürlichen Gesetz hat, ist das natürliche Gesetz dasjenige, welches »uns a priori und unbedingt durch unsere eigene Vernunft verbindet«. Wenn es also zu einem Widerstreit zwischen äußerem und natürlichem Gesetz kommt, muss sich der moralische Akteur für das natürliche Gesetz entscheiden. Kant 1797, 331–334. (2) Möglich sind ggfs. auch Konflikte zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. In solchen Fällen muss sich der Akteur für die vollkommenen Pflichten entscheiden, weil die vollkommenen Pflichten per definitionem keine Abweichungen und Ausnahmen dulden, während Kant die unvollkommenen Pflichten auch ›Verdienste‹ nennt, weil unvollkommene Pflichten Ausnahmen dulden. Kant 1785, 52–54. Kants Beispiel für eine vollkommene Pflicht gegen sich selbst ist die Pflicht zur Lebensbewahrung (wodurch die Selbsttötung auch unter misslichsten Umständen ausgeschlossen wird); als Beispiel für eine unvollkommene Pflicht gegenüber sich selbst führt Kant die Pflicht zur Ausbildung seiner Talente an; sein Beispiel für eine vollkommene Pflicht gegenüber Anderen ist die Aufrichtigkeit; sein Beispiel für eine unvollkommene Pflicht gegenüber Anderen ist die Wohltätigkeit.
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(c) Die metamoralische Ausrichtung der angelsächsischen Debatte
darf ein moralphilosophisches System keine Widersprüche erlauben, weil damit allem vernünftigen moralischen Urteilen ›ein Ende‹ gesetzt würde.
(c) Die metamoralische Ausrichtung der angelsächsischen Debatte Dass das moralische Dilemma als ein solcher Widerspruch angesehen werden könnte, ist Ross selbst allerdings noch nicht in den Sinn gekommen (vgl. Kapitel 3). Das Bedrohungspotential des moralischen Dilemmas für das Selbstverständnis der Moralphilosophie hat meiner Rekonstruktion zufolge erst Richard M. Hare nach einer Lektüre des 1951 erschienenen Essays Deontic Logic von G. H. von Wright erkannt. Von Wrights Essay behauptet eine Analogie zwischen Aussagen und Imperativen, die so grundsätzlich sein soll, dass sich in Analogie zur Logik der Indikative eine parallele ›deontische Logik‹ (sprich: eine Logik der Imperative) entwickeln lassen soll, was sich von Wright für einige Jahre dann auch auf die Fahnen schreibt. 13 Hare stellt die Weichen für die angelsächsische Debatte, als er in seiner frühen Abhandlung Language of Morals von 1952 unter ausdrücklicher Berufung auf von Wrights Essay und im Fahrwasser von Sir David Ross (vgl. Abschnitt 1.a) die Situation des moralischen Dilemmas als »konträr« im »eigentlichen Aristotelischen Sinn« bezeichnet und zudem von einer »Krankheit« 14 spricht, welche die Moralphilosophie zu heilen habe. Wie für Ross, so kann die Moralphilosophie auch für Hare nur den Anspruch einer systematischen normativen Wissenschaft aufrechterhalten, wenn sich aus ihren ersten Prinzipien und Axiomen keine Widersprüche ableiten. Sollte eine Moralphilosophie an der ›Krankheit‹ des moralischen Dilemmas leiden, muss sie deshalb Strategien zur systematischen Vermeidung dieses Problems entfalten. Insgesamt wurde damit an die Moralphilosophie der Anspruch gestellt, dass sich mit ihren Strategien sämtliche moralische Konflikte eindeutig auflösen lassen, die sich in der moralischen Praxis prima facie als moralische Dilemmata darstellen mögen. Indem er die Moralphilosophie derart in die Wright 1951, 1–15. Vgl. ausführlicher Abschnitt 5.a. Hare 1952, 43 ff. Der ausdrückliche Hinweis auf von Wright findet sich a. a. O. 48 f. Anm. 10.
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1. Das Problem des moralischen Dilemmas
Pflicht nimmt, gibt Hare der angelsächsischen Debatte die metamoralische Ausrichtung, welche sie fortan kennzeichnen wird. Seither steht die Frage im Zentrum, ob die Moralphilosophie ihren Anspruch aufgeben muss, vernünftige Systeme von Handlungsorientierungen für vernünftige Akteure entfalten zu können, falls es ihr nicht gelingen sollte, Strategien zu entfalten, mit denen sich die moralischen Dilemmata der alltäglichen moralischen Praxis zuverlässig auflösen lassen. Zu Hares wichtigstem Kontrahenten wird bald Bernard Williams. Als Hare sein Buch Language of Morals verfasst, ist er Tutor am Balliol-College in Oxford, an dem Bernard Williams gerade studiert. 15 Seit den sechziger Jahren geht Williams mit einer Fülle von Aufsätzen gegen Hares Projekt einer widerspruchsfreien ›Logik der Imperative‹ in Opposition, womit er sich zum Sprecher der Befürworter der Möglichkeit des moralischen Dilemmas macht. Starke Schützenhilfe erhält diese Fraktion durch den Logiker E. J. Lemmon, der mit seinem Plädoyer für die Möglichkeit des moralischen Dilemmas und gegen die deontische Logik in seinem Essay Deontic Logic and the Logic of Imperatives von 1965 wiederum Thomas Nagel beeinflusst hat. Viel zitiert sowohl von Gegnern als auch von Befürwortern der Möglichkeit des moralischen Dilemmas wird Lemmons rhetorische Frage in einem Essay von 1965, ob nicht angesichts der Möglichkeit des moralischen Dilemmas vor dem Hintergrund gängiger logischer Vorgaben der Verdacht aufkommen müsse, dass die »Situation« in der Moralphilosophie »dieselbe wie die der Mathematik« sei, wo ja schließlich auch »die Axiome geändert« werden müssten, sobald sich aus ihnen »eine Inkonsistenz ableitet« 16. Dieselbe Frage stellt wenige Jahre später Donald Davidson in seinem Essay How is Weakness oft the Will Possible von 1970 mit der Äußerung, dass wir »unsere gesamte bisherige Auffassung vom Wesen der praktischen Vernunft aufgeben« müssten, wenn wir »nicht Bernard Williams studierte zwischen 1947–1951 am Balliol-College in Oxford die Fächer Antike Literatur und Zeitgenössische Philosophie. R. M. Hare war einer seiner Tutoren. 16 Es heißt im englischen Wortlaut: »It may be argued that our being faced with this moral situation merely reflects an implicit inconsistency in our existing moral code; we are forced, if we are to remain both moral and logical, by the situation to restore consistency to our code by adding exception clauses to our present principles or by giving priority to one principle over another, or by some such device. The situation is as it is in mathematics: there, if an inconsistency is revealed by derivation, we are compelled to modify our axioms; here, if an inconsistency is revealed in application, we are forced to revise our principles.« Lemmon 1965, 46. 15
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die Position vertreten können, daß es bei moralischen Prinzipien zu keinen Anwendungskonflikten kommen« könne. Wie könne man schließlich an die »Wahrheit (oder Gültigkeit) von Prämissen« glauben, wenn sie zu »Widersprüchen« führen? Davidson hält es für ausgesprochen »befremdlich«, dass die »zeitgenössische Moralphilosophie« diesem drängenden Problem bislang »so wenig Aufmerksamkeit« geschenkt und sich so wenig um eine »befriedigende Lösung« 17 bemüht hat. Bei McConnell heißt es in einem Essay von 1978 dann sogar, dass der Moralphilosophie nur noch ein Versinken in Zynismus und Resignation übrig bliebe, wenn die Bedrohung durch die Möglichkeit des moralischen Dilemmas nicht beseitigt werden könnte. 18 Und Sinnott-Armstrong schreibt im Jahr 1988 schließlich, dass »moralische Dilemmata« dazu »zwingen« würden, »unseren traditionellen Blick« sowohl »auf die Natur und die Ansprüche der Moraltheorie« als auch auf die »Standards zur Entscheidung zwischen Moraltheorien zu überdenken« 19. Sowohl unter den Befürwortern als auch den Gegnern der Möglichkeit des moralischen Dilemmas war man sich also einig darüber, dass es Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Moralphilosophie haben müsste, falls die Möglichkeit des moralischen Dilemmas zugegeben werden müsste. Dementsprechend konzentrierte sich die angelsächsische Debatte auf die metamoralische Frage, inwieweit es unser Vertrauen in die Vernünftigkeit der Moralphilosophie erschüttern müsste, wenn sich die Möglichkeit des moralischen Dilemmas nicht ausschließen lässt. Eine deutliche Sprache hinsichtlich dieser FoEs heißt im englischen Wortlaut: »But then unless we take the line that moral principles cannot conflict in application to a case, we must give up the concept of the nature of practical reason we have so far been assuming. For how can premises, all of which are true (or acceptable), entail a contradiction? It is astonishing that in contemporary moral philosophy this problem has received little attention, and no satisfactory treatment.« Davidson 1980, 34. Das ›Prinzip der Selbstbeherrschung‹ als Davidsons eigener Vorschlag zum adäquaten Umgang mit moralischen Konflikten wird hier nicht diskutiert, weil es in der angelsächsischen Debatte nicht thematisiert worden ist. Es besagt im Kern, dass man von einem (bedingten) prima facie Urteil zu einem unbedingten Urteil übergehen sollte, sobald man das prima facie Urteil auf der Basis sämtlicher verfügbarer relevanter Evidenz gefällt hat. Den Hinweis auf dieses Prinzip verdanke ich Thomas Spitzley während der Tagung Was tun, wenn alles falsch ist? am KWI (Essen) am 15. 7. 2011. 18 McConnell 1978, 173. 19 Es heißt im englischen Wortlaut: »First, moral dilemmas force us to rethink the traditional view of the nature and purpose of moral theory and thus of the standards for deciding among moral theories«. Sinnott-Armstrong 1988, 2. 17
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kussierung sprechen die einschlägigen systematischen Abhandlungen und Sammelbände. (1) Der vielschichtige Sammelband Moral Dilemmas, den Christopher Gowans im Jahr 1987 zusammengestellt hat, versammelt in einem ersten historischen Teil klassische Texte von Kant bis Ross, um zu zeigen, dass es in der Moralphilosophie immer schon strittig war, ob moralische Dilemmata unangenehme Wirklichkeit oder nur Irrtum bzw. bloßer Anschein sind. 20 Ein zweiter Teil (der den Hauptteil bildet) stellt dann zentrale Texte 21 der angelsächsischen Debatte aufgrund der Prämisse zusammen, dass die deontische Logik 22 den Anspruch der Moralphilosophie auf Vernünftigkeit durch den Aufweis der Unmöglichkeit des moralischen Dilemmas gerettet zu haben glaubte, woraufhin die Möglichkeit des moralischen Dilemmas vor allem mit drei Argumenten verteidigt worden sei, nämlich mit dem »Argument des moralischen Gefühls, dem Argument der Pluralität der Werte und dem Argument der Möglichkeit des Konflikts eines Wertes mit sich selbst« 23. Den Anfang des historischen Teils macht (1) ein Auszug aus Kants Metaphysik der Moral unter dem Titel Kant, Immanuel: Moral Duties (Moral Dilemmas 1987, 34–51). (2) Es folgen Auszüge aus Mills A System of Logic und Utilitarianism unter dem Titel Mill, John Stuart: Utilitarianism and Moral Conflicts (a. a. O. 52–61). (3) Es folgt ein Auszug aus Bradleys Ethical Studies unter dem Titel Bradley, F. H.: Collision of Duties (a. a. O. 62–82). (4) Den Schluss bildet ein Auszug aus Ross 1939 unter dem Titel Ross, Sir David: Prima Facie Duties (a. a. O. 83–100). 21 Den Anfang macht (1) der Essay Lemmon 1962 (A. a. O. 101–114). (2) Es folgt William 1965 (a. a. O. 115–137). (3) Dann folgt Fraassen 1973 (a. a. O. 138–153). (4) Dann folgt McConnell 1978 (a. a. O. 154–173). (5) Dann folgt Nagel 1977 (a. a. O. 174–187). (6) Dann folgt Marcus 1980 (a. a. O. 188–204). (7) Dann folgt ein Auszug aus Hare 1981 (a. a. O. 205–238). (8) Es folgt Connee 1982 (a. a. O. 239–249). (9) Es folgt Foot 1983 (a. a. O. 250–270). (10) Den Abschluss bildet Donogan 1984 (a. a. O. 271–290). 22 Nach einem kurzen, aber luziden Überblick über die Entstehungsgeschichte und das zentrale Anliegen der deontischen Logik erklärt Gowans in seiner Einleitung, dass die deontische Logik die Möglichkeit des moralischen Dilemmas nicht zugestehen könne, weil damit zwei ihrer zentralen Grundprinzipien in Gefahr wären. Gowans 1987, 20. Vgl. zu den ›Beweisen‹ der deontischen Logik Kapitel 5 insg. 23 Es ist im englischen Wortlaut die Rede von »the argument of moral sentiment, the argument from a plurality of values, and the argument from single-value-conflicts«. Gowans 1987, 14 (vgl. auch Gowans 1996). (1) Das Argument des moralischen Gefühls führt Gowans nachvollziehbarerweise auf Bernard Williams zurück. Es besagt in seiner Rekonstruktion, dass sich moralische Konflikte von Überzeugungskonflikten im Nachhinein durch ein Bedauern als Anzeichen dafür unterscheiden, dass gegen einen moralischen Anspruch verstoßen wurde. Wie er 20
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Insgesamt ist der Band äußerst hilfreich, weil er neben einer überzeugenden Systematisierung der Positionen eine Vielzahl wertvoller Literaturhinweise zu den einzelnen Debatten enthält. Unter den im Band versammelten Essays ist sicherlich vor allem E. J. Lemmons Essay Moral Dilemmas von 1962 von bleibendem Interesse, welcher sowohl die These vom moralischen Dilemma als logische Inkonsistenz als auch das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ als ein zentrales Prinzip des sogenannten ›Beweises der Unmöglichkeit des moralischen Dilemmas‹ diskutiert. 24 Dasselbe gilt für den Essay Moral Dilemmas and Consistency in Ethics von 1978, in welchem McConnell sowohl das ›Aus-Sollen-folgt-Können‹-Prinzip als auch das Agglomerationsprinzip als auch die Notwendigkeit der Konsistenz der Moral verteidigt und den empirischen Anschein einer Inkonsistenz der Moral durch die Möglichkeit des moralischen Dilemmas mit dem Argument der vorangegangenen moralischen Fehlleistungen erklärt. 25 In dasselbe Horn stößt Allan Donogan mit seinem Essay Consistency in Rationalist Moral Systems von 1984; der Essay findet sich ebenfalls in dem Sammelband von Gowans. 26 Zu nennen wäre außerdem noch der Essay Values and the Heart’s Command von Bas C. van Fraassen aus dem Jahr 1973, der vor allem die grundlegende Ansicht der deontischen Logik attackiert, dass die logischen Verhältnisse im Bereich der Imperative den Verhältnissen im Bereich der Indikative vergleichbar sein könnten. 27
ebenfalls treffend rekonstruiert, wurde gegen das Argument zum einen eingewandt, dass sich das Bedauern auch als Bedauern über den entstandenen Schaden erklären lässt (vgl. Abschnitt 6.c), und zum anderen, dass sich von subjektiven Schuldgefühlen nicht auf objektive Schuld schließen lässt (vgl. Abschnitt 6.b). Gowans 1987, 14 ff. (2) Das Argument der Pluralität unserer Wertesysteme wird nach Gowans von Autoren wie Fraassen, Lemmon und Nagel vertreten. Seine Wurzeln habe es im Britischen Hegelianismus von F. Bradley beispielsweise. Der gängige Einwand sei der Einwand des Werterelativismus. A. a. O. 16 ff. Tatsächlich ist zumindest Nagels Position jedoch sehr viel komplexer. Vgl. dazu Kapitel 7 insgesamt. (3) Das Argument der Möglichkeit des Konflikts eines Wertes mit sich selbst führt Gowans schließlich auf Marcus zurück. A. a. O. 18–20. Dieses Argument diskutiere ich nicht, weil es mir uninteressant zu sein scheint. 24 Lemmon 1962. 25 McConnell 1978. Vgl. auch Gowans 1987, 20 ff. 26 Donogan 1984. 27 Fraassen 1973. Das moralische Dilemma
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(2) Als englischsprachige Monographie aus der Fülle von einschlägigen Essays und von Exkursen in umfassenden moralphilosophischen Abhandlungen ist Sinnott-Armstrongs Abhandlung Moral Dilemmas von 1988 hervorzuheben. Im einleitenden Kapitel What Moral Dilemmas Are erklärt Sinnott-Armstrong das Problem der Möglichkeit des moralischen Dilemmas für interessant, weil es zum Ersten »zwingen« würde, die »traditionelle Sichtweise zur Natur und zum Anspruch der Moraltheorie« zu revidieren; weil es zum Zweiten Zweifel an der moralphilosophischen Position aufkommen ließe, die als »Realismus, Objektivismus, Absolutismus oder Rationalismus« 28 bezeichnet wird; und weil es zum Dritten unsere moralische Alltagspraxis beträfe. Es folgen ausführliche Überlegungen zur adäquaten Definition des Begriffs ›moralisches Dilemma‹ 29. Im zweiten Kapitel Arguments for Moral Dilemmas weist Sinnott-Armstrong zunächst einige gängige Argumente 30 für die Annahme des moralischen Dilemmas als zu schwach zurück, um dann in einem »zweistufigen Argumentationsgang« die beiden Kernthesen seines Buches zu verteidigen, dass »moralische Ansprüche tatsächlich miteinander konfligieren können« und dass es »Fälle geben kann, in denen keiner der moralischen Ansprüche überlegen ist« 31. Es heißt im englischen Wortlaut: »First, moral dilemmas force us to rethink the traditional view of the nature and purpose of moral theory and thus of the standards for deciding among moral theories.« Weiterhin heißt es: »Some defenders of moral dilemmas also claim that the possibility of moral dilemmas refutes realism, objectivism, absolutism, or rationalism in moral.« Sinnott-Armstrong 1988, 2. Vgl. auch SinnottArmstrong 1992, 1125 ff. sowie Sinnott-Armstrong 1996 insg. 29 Sinnott-Armstrong definiert den Begriff ›moralisches Dilemma‹ schließlich so: »A moral dilemma is any situation where at the same time (i) there is a moral requirement for an agent to adopt each of two alternatives, (ii) neither moral requirement is overridden in any morally relevant way, (iii) the agent cannot adopt both alternatives together, and (iv) the agent can adopt each alternative separately.« Sinnott-Armstrong 1988, 29. Vgl. zu meiner Definition den Abschnitt 2. f. 30 (1) Das Argument der empirischen Faktizität des moralischen Dilemmas weist Sinnott-Armstrong zurück mit dem Hinweis darauf, dass sich das auch mit epistemischen Irrtümern der Akteure erklären ließe. Sinnott-Armstrong 1988, 37. (2) Das Argument der Heterogenität verschiedener Rollen weist er damit zurück, dass das kein Grund sei, einen moralischen Anspruch einem anderen vorzuziehen. A. a. O. 37. (3) Das Argument, dass es in der Moral anders als im Bereich der Rechtsprechung keine Gerichte bzw. Schiedsinstanzen gibt, weist er mit dem Argument zurück, dass es keine Analogie zwischen moralischen Ansprüche und den Gesetzen der realen Rechtsprechung gäbe. A. a. O. 38. 31 Es heißt im englischen Wortlaut: »My argument will have two stages. I will argue, 28
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Nachdem Sinnott-Armstrong so die Möglichkeit des moralischen Dilemmas begründet zu haben glaubt, nimmt er die Gegner dieser Überzeugung ins Visier. Im dritten Kapitel Some Opponents attackiert Sinnott-Armstrong verschiedene prominente »Versuche, ein Moralsystem ohne Dilemmata zu konstruieren« 32. In den folgenden Kapiteln first, that moral requirements can conflict. Then I will argue that sometimes neither moral requirement is overridden.« Sinnott-Armstrong 1988, 39. (1) Die erste Teilthese verteidigt Sinnott-Armstrong mit den Argumenten der entgegengesetzten Tatsachen (engl. counterfactuals) und der moralischen Restbestände (engl. moral residue). (1.1) Das ›Argument der entgegengesetzten Tatsachen‹ besagt, dass es Umstände geben kann, aus denen sich moralische Rechtfertigungen für jeweils zwei sich widersprechende Handlungen herleiten können, von denen jede ohne diese spezielle moralische Rechtfertigung falsch wäre. Es heißt im englischen Wortlaut: »This definition of moral requirements makes it easy to establish the possibility of conflicts between moral requirements. The argument can be based on any situation where each alternative would be morally wrong if the agent had no justification.« A. a. O. 40 (vgl. auch 43). Als Beispiel führt Sinnott-Armstrong die Situation des Feldherrn Agamemnon an. Jenseits dieser speziellen Situation wäre es ebenso eindeutig falsch, seine Tochter zu töten, wie es falsch wäre, wenn ein Heerführer überhaupt überlegt, ob er alles in seiner Macht Stehende tun soll, um seine Truppen nach Troja zu führen. (1.2) Wie Sinnott-Armstrong betont, stammt das ›Argument der moralischen Restbestände‹ von Bernard Williams und Ruth B. Marcus. Es besagt, dass es Entscheidungssituationen gibt, in denen bei jeder möglichen Entscheidung Gewissensbisse adäquat wären. Als Beispiel führt er das Liz-Dilemma ins Feld. Das Argument besagt, dass es angemessen wäre, wenn Liz nach jeder möglichen Entscheidung im Nachhinein Gewissensbisse hätte. Es heißt im englischen Wortlaut: »The general argument is that there are some situations where such moral residue is justified after every choice, but there is no justification for this residue except that a moral requirement was violated, and this is evidence that each alternative does violate a moral requirement.« A. a. O. 44 (vgl. auch 45 f.). Verweis auf Williams 1965 sowie auf Marcus 1980. (2) Seine zweite Teilthese versucht Sinnott-Armstrong mit dem Hinweis darauf zu plausibilisieren, dass es moralische Konflikte geben könne, in denen moralische Ansprüche entweder absolut gleich (symmetrisch) oder aber absolut unvergleichbar sind. Als Beispiel für ein völlig symmetrisches Dilemma führt er das Sophie-Dilemma an. Zur Plausibilisierung seiner These von der Unvergleichbarkeit mancher moralischer Ansprüche stellt Sinnott-Armstrong zunächst einmal klar, dass man eine strenge Unvergleichbarkeit im Sinne von Williams und Nagel nicht behaupten könne, um dann aber eine begrenzte Unvergleichbarkeit mit dem Hinweis darauf zu verteidigen, dass es keine Möglichkeit einer strengen Hierarchisierung von moralischen Ansprüche gäbe. Es heißt im englischen Wortlaut: »My first argument refers to a special kind of example where there is no morally relevant difference between the conflicting alternatives or moral requirements.« Sinnott-Armstrong 1988, 54. Verweis auf Styron 1979, 541 (vgl. auch 57). 32 Es heißt im englischen Wortlaut: »However, I will argue that every attempt to construct a moral system without dilemmas fails for at least one of two reasons. Either the Das moralische Dilemma
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wendet sich Sinnott-Armstrong der deontischen Logik als dem in seinen Augen wichtigsten Gegner der Möglichkeit des moralischen Dilemmas zu, indem er im vierten Kapitel 33 mit den Prinzipien Sollen impliziert Können und dem Agglomerationsprinzip die beiden grundlegenden Prämissen des deontischen Beweises der Widersinnigkeit der Annahme moralischer Dilemmata infrage stellt (vgl. im Detail das gesamte 5. Kapitel). Im fünften Kapitel wird das Argument Sollen und Nicht-Sollen unter die Lupe genommen, mit dem Autoren wie McConnell, Hare und Connee beispielsweise die Widersinnigkeit einer Situation behauptet hatten, in der man dasselbe sowohl tun als auch nicht tun soll. 34 Anschließend diskutiert er die dem Beweisgang der deontischen Logik insgesamt zugrundeliegende Auffassung, dass es das moralische Dilemma nicht geben könne, weil es als Inkonsistenz auf die Unvernünftigkeit und Mangelhaftigkeit unserer Moral hindeuten würde. 35 Im siebten Kapitel zeigt er dann, dass die Argumentationsgänge nicht überzeugen, mit denen Sartre und Williams aufgrund der Annahme der Möglichkeit des moralischen Dilemmas die Falschheit des moralischen Realismus zu zeigen versucht haben, um anschließend ein eigenes argument from interpersonal comparison mit derselben Stoßrichtung zu
moral system does not really succeed in excluding all possible moral dilemmas; or the system is implausible, either because it depends on some arbitrary stipulation or because it does not cover all of morality.« A. a. O. 72. Aufs Tablett kommen dann in relativ schneller Abfolge so verschiedene Systeme wie der moralische Monismus von Immanuel Kant, der Utilitarismus in insgesamt vier verschiedenen Varianten einschließlich des Universalen Präskriptivismus von R. M. Hare, der christliche moralische Absolutismus mit seiner Doppelwirkungslehre, der Intuitionismus von Sir David Ross sowie die an Thomas von Aquin angelehnte Position von Donnogan 1977, 72–107. 33 Sinnott-Armstrong 1988, 108–136. 34 Sinnott-Armstrong 1988, 136–168. Verweis auf McConnell 1978 sowie auf Hare 1981 sowie auf Connee 1982. 35 Sinnott-Armstrong 1988, 169–188. Nach Sinnott-Armstrong wäre das InkonsistenzArgument gegen die Möglichkeit des moralischen Dilemmas nur überzeugend, wenn Folgendes der Fall wäre: »The argument from inconsistency does not rule out moral dilemmas unless there is a single kind of inconsistency such that all moral dilemmas introduce this kind of inconsistency and also such that nothing with this kind of inconsistency is possible or adequate«. Im 6. Kapitel seiner Abhandlung zeigt er zunächst, dass in der Debatte verschiedene Begriffe von ›Inkonsistenz‹ verwendet werden, um daraus dann folgende Schlussfolgerung abzuleiten: »No single notion of inconsistency has both of these properties, so none suffices for the argument from inconsistency or rules out moral dilemmas. The argument for inconsistency seems to rule out moral dilemmas only if different kinds of inconsistency are confused.« A. a. O. 168 f.
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entwickeln, welches im Kern in der Idee besteht, dass der moralische Realismus falsch sein muss, weil es möglich sei, dass zwei Personen Pedro und Fritz in einer identisch beschriebenen Konfliktlage mit gutem Gewissen unterschiedlich entscheiden, weil sie beide von unterschiedlichem Charakter sind und unterschiedliche moralische Schwerpunkte in ihrer Lebensführung setzen. 36 In einem knappen Ausblick kommt Sinnott-Armstrong schließlich auf die Bedeutung des moralischen Dilemmas für »individuelle moralische Probleme und generelle soziale Verfahren« zu sprechen. Im Zentrum steht dabei die These, dass man im Falle einer individuellen Dilemma-Entscheidung nicht mehr davon ausgehen kann, ein gutes Gewissen haben zu dürfen, weil man die eine richtige Entscheidung getroffen hätte, während auf der Ebene der generellen sozialen Verfahren der Gedanke zugelassen werden müsste, dass sogar Grundrechte miteinander in Konflikt geraten können. 37 (3) Der von H. E. Mason im Jahr 1996 herausgegebene Band Moral Dilemmas and Moral Theory diskutiert vor allem die Frage, ob das moralische Dilemma möglich ist oder nicht. Der Einleitung des Herausgebers zufolge wurde diese Frage in der Moralphilosophie zwar schon von jeher diskutiert. Besonderes Gewicht für die Moralphilosophie des ausgehenden 20. Jahrhunderts soll sie aber in den sechziger Jahren durch Bernard Williams erhalten haben, der gegen die deontische Logik in verschiedenen Essays ja immer wieder die Auffassung vertreten hatte, dass Imperative anderen logischen Gesetzen gehorchen als Indikative, so dass es inadäquat sei, das moralische Dilemma als problematische Inkonsistenz des jeweiligen moralphilosophischen Systems zu betrachten. Der Band ist aus einer Tagung der University of Minnesota im Jahr 1991 hervorgegangen und dem Andenken von Alan Donogan gewidmet, der kurz nach der Tagung verstorben ist. Er versammelt 12 Beiträge, welche die Möglichkeit des moralischen Dilemmas mit den unterschiedlichsten Argumenten behaupten oder bestreiten, wobei in den meisten Beiträgen neben der Position von Donogan dem sogenannten ›phänomenologi-
Sinnott-Armstrong 1988, 189–215. Sinnott-Armstrong 1988, 215–228. Es heißt im englischen Wortlaut: »Moral dilemmas are also important because they affect how we should think about individual moral problems and general social policies«. A. a. O. 215.
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schen Argument des moralischen Restbestandes‹ (engl. moral residue) von Bernard Williams besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. 38
Jenseits dieser Fokussierung auf das ›phänomenologische Argument des moralischen Restbestands‹ sind die Beiträge des Bandes ausgesprochen heterogen. (1) Folgende Beiträge erklären das moralische Dilemma für unmöglich bzw. für bloßen Schein. (1.1) Donogan argumentiert, dass rationale Moralphilosophien wie die von Kant und Thomas von Aquin im Gegensatz zu autoritären (religiösen) Moralsystemen nicht inkonsistent sein dürften, weil sie überzeugen müssten. Donogan 1993. (1.2) McConnell unternimmt eine Widerlegung des phänomenologischen Arguments des ›moralischen Restbestandes‹, indem er alternative Erklärungen anbietet für Reue bzw. Schuld, den Drang zur Entschuldigung und den Impuls, moralische Dilemmata in Zukunft zu vermeiden. McConnell 1996. (1.3) Brink stellt gleich mehrere Beweisgänge der deontischen Logik zur Diskussion, um abschließend den empirischen Anschein der Möglichkeit von moralischen Dilemmata mit Rekurs auf die Moralphilosophie von Sir David Ross mit dem Hinweis darauf zu erklären, dass es sich bei scheinbaren deontischen Widersprüchen um Widersprüche auf der prima-facie-Ebene von moralischen Ansprüchen handeln könnte. Brink 1994. (1.4) Hill zeigt, dass Kants Moralphilosophie das moralische Dilemma zwar prinzipiell nicht zulässt, dass es aber (wegen systematischer Lücken bei Kant) zu Anwendungsschwierigkeiten kommen kann, die im Nachhinein zu Schuldgefühlen führen, welche Hill (anders als Marcus z. B.) aber nicht als Mittel zur moralischen Erziehung sieht, sondern als Ausdruck der spezifisch menschlichen Fähigkeit zur Moral. Hill 1996. (2) Andere Beiträge erklären das moralische Dilemma für möglich bzw. zu einem festen Bestandteil alltäglicher moralischer Praxis. (2.1) Marcus recycelt ihr Argument, dass es Widersprüche auch in Systemen mit konsistenten Grundprinzipien geben könne. Insgesamt soll das Scheitern des Projekts der deontischen Logik an der Kontingenz der moralischen Praxis gezeigt werden. Marcus 1996. (2.2) Sinnott-Armstrong zieht für den Bereich des Rechts analogische Konsequenzen aus seiner moralphilosophischen Überzeugung, dass es das moralische Dilemma geben kann, weil es keine eindeutige Hierarchie von moralischen Ansprüche gibt. Sinnott-Armstrong 1996. (2.3) Railton vertritt die Auffassung, dass Mills Utilitarismus entgegen der gängigen Lesart die Möglichkeit des moralischen Dilemmas nicht nur zulassen, sondern auch plausibel erklären kann. Railton 1996. (2.4) Gowans erklärt das Problem der Möglichkeit des moralischen Dilemmas für philosophisch irrelevant, aber nicht das Problem der unvermeidlichen moralischen Verfehlung. Aus dieser Perspektive diskutiert er das phänomenologische Argument des moralischen Restbestandes, das belegt, dass Verantwortlichkeiten nicht schlicht verschwinden, wenn man sich mit guten Gründen dagegen entscheidet. Gowans 1996. (2.5) Der Herausgeber Mason begründet die Möglichkeit des moralischen Dilemmas in seinem eigenen Beitrag mit divergierenden Rollenanforderungen und formuliert Skepsis, ob die Moralphilosophie das auflösen kann. Mason 1996. (3) Einige Beiträge beziehen eine Position jenseits der bipolaren Fragestellung des Bandes. (3.1) Mothersill erklärt die Debatte um die Möglichkeit des moralischen Dilemmas insgesamt für fruchtlos, weil sich die Moralphilosophie lieber um konkrete Probleme der Menschen kümmern solle. Mothersill 1996. (3.2) Dahl zeigt, dass die Antwort auf
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(4) Im deutschen Sprachraum ist zur metamoralischen angelsächsischen Debatte zunächst einmal das im Umfeld der Diskursethik 39 entstandene Buch Normenkonflikte von Thomas Zoglauer aus dem Jahr 1998 zu nennen. Zoglauer stellt hier der deontischen Logik bzw. dem Projekt einer »Logik der Normen« sein eigenes »kohärentisches Begründungsmodell« von Moral gegenüber, welches »von bewährten Normen« ausgeht und diese »auf ihre Kohärenz« hin testet, wobei eine Norm »als begründet« gelten soll, »wenn sie zu anderen Normen und moralischen Überzeugungen kohärent ist«. Zoglauer beansprucht ausdrücklich nicht, mit seinem Begründungsmodell alle Normenkonflikte »beseitigen« zu können. Intendiert sei aber immerhin, ein Normensystem mit »größtmöglicher Kohärenz zu schaffen« 40. Das Buch ist insgesamt der Aufgabe gewidmet, diesen gegenüber der deontischen Logik deutlich geminderten Anspruch an eine moralphilosophische Begründung zu plausibilisieren. Dazu unterscheidet Zoglauer im ersten Kapitel Normentheorie Normen und Aussagen. 41 Das zweite Kapitel ist unter der Überschrift Naturalistischer Fehlschluß dem Verhältnis von Sein und Sollen gewidmet. 42 Es folgt unter der Überschrift Das die Frage nach der Möglichkeit des moralischen Dilemmas vom zugrundeliegenden Moralsystem abhängt. Dahl 1996. (3.3) Blackburn verweist auf die Parallelen der moralischen Dilemma-Situation zu anderen Entscheidungssituationen und fordert gegen das Argument des phänomenologischen Restbestands, dass die Moralphilosophie mit therapeutischer Funktion dazu befähigen sollte, sich trotz drohender Schuld für die situativ beste Option zu entscheiden. Blackburn 1996b. 39 Die Affinität zu Fragestellung erklärt sich daraus, dass Normensysteme (anders als Systeme von Werten) auch nach Jürgen Habermas widerspruchsfrei sein müssen. Es heißt zum Unterschied zwischen Normen und Werten in der Schrift Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch von 1977: »Schließlich dürfen verschiedene Normen, wenn sie für denselben Kreis von Adressaten Geltung beanspruchen, einander nicht widersprechen; sie müssen in einem kohärenten Zusammenhang stehen, d. h. ein System bilden. Verschiedene Werte konkurrieren hingegen um Vorrang; soweit sie innerhalb einer Kultur oder Lebensform intersubjektive Anerkennung finden, bilden sie flexible und spannungsreiche Konfigurationen.« Habermas 1977, 175 f. 40 Zoglauer 1998, 17, 22. 41 Zoglauer 1998, 23–44. Der Unterschied lässt sich auf folgenden einfachen Nenner bringen: »Während Aussagen einen Sachverhalt beschreiben, schreiben Normen eine Handlung vor«. A. a. O. 23. 42 Zoglauer 1998, 45–66. Leitend ist hier folgendes Interesse: »Für mich stellt sich allerdings die Frage, ob eine rationale Normenbegründung notwendig auf Seins-SollensSchlüsse angewiesen ist oder ob es noch andere Begründungsverfahren gibt. Gibt es keine anderen Verfahren zur Normbegründung, wäre es um die Rationalität ethischen Argumentierens in der Tat schlecht bestellt.« A. a. O. 66. Das moralische Dilemma
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Jørgensensche Dilemma eine ausgesprochen informative Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte der deontischen Logik, wobei mit besonderer Klarheit die Zweifel des späten von Wright an seinem eigenen Projekt benannt werden. 43 Im Kapitel Die logische Struktur von Normenkonflikten setzt sich Zoglauer dann in Anknüpfung an den angelsächsischen Diskurs kritisch mit dem deontischen Beweis der Widersinnigkeit der Annahme des moralischen Dilemmas und seinen zentralen Beweisprinzipien sowie mit der Position von Sir David Ross auseinander. 44 Im fünften Kapitel werden die Grenzen verschiedener Modelle zur Lösung juristischer Normenkonflikte aufgezeigt. 45 Dieselbe Grenzziehung erfolgt im 6. Kapitel für verschiedene moralphilosophische Positionen 46, im 7. Kapitel für Konflikte zwischen Recht und Moral 47 und im 8. Kapitel für die Diskursethik 48. Unter der Überschrift Modelle ethischer Begründung gibt Zoglauer im 8. Kapitel abschließend einen zusammenfassenden Überblick über die gescheiterten Versuche der Moralphilosophie, von der Auflösbarkeit aller Normenkonflikte zu überzeugen. 49 Bezeichnenderweise beschließt Zoglauer sein spannendes Buch mit der Äußerung, dass »Normenkonflikte« in »schmerzhafter Weise die Grenzen ethischer Rationalität deutlich« 43 Zoglauer 1998, 67–98. Thematisiert werden vor allem Jørgensen 1937 sowie Wright 1951 sowie Wright 1977 sowie Wright 1994. 44 Zoglauer 1998, 99–124. 45 Zoglauer 1998, 125–150. Mit Blick auf Rawls u. a. halte ich es für besonders bemerkenswert, dass Zoglauer hervorhebt, dass unserem Grundgesetz Art. 19. Abs. 1 u. 2 zufolge noch nicht einmal Grundrechte »absolute uneingeschränkte Geltung beanspruchen« können. Vorgesehen sei vielmehr »ausdrücklich«, dass »Grundrechte durch weitergehende Gesetze eingeschränkt werden können (Gesetzesvorbehalt)«, wobei durch »diese Einschränkung ihr Wesensgehalt« jedoch »nicht angetastet werden dürfe«. A. a. O. 138. 46 Zoglauer 1998, 151–199. Im Detail diskutiert Zoglauer das Lügenverbot bei Kant, den Utilitarismus in verschiedenen Varianten sowie die Frage nach universalen unantastbaren Menschenrechten. 47 Zoglauer 1998, 201–225. Thematisiert werden die Situation der Mauerschützen, das Problem des moralischen Rechts auf Widerstand und die Frage nach zivilem Ungehorsam. 48 Zoglauer 1998, 227–274. Diskutiert werden insbesondere die Positionen von Habermas und Alexy. Kritisch hervorgehoben wird, dass sich allenfalls »kommunikative Grundrechte, wie z. B. die Meinungsfreiheit, diskursiv begründen« ließen, wobei »nicht alle Menschenrechte kommunikative Rechte« seien. A. a. O. 246. Hervorgehoben wird auch, dass Mediationsverfahren immer nur Schlichtungsverfahren sein könnten, aber keine Konfliktlösungsverfahren im strengen (logischen) Sinne. A. a. O. 273. 49 Zoglauer 1998, 275–311.
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(c) Die metamoralische Ausrichtung der angelsächsischen Debatte
machen würden als Beleg dafür, dass die »Ethik« kein »starres System von Normen liefern« könne, »in dem stets festgelegt« sei, »wie wir uns in einer bestimmten Situation zu verhalten haben«. Bei »jeder moralischen Entscheidung« bliebe vielmehr ein »Rest von Unsicherheit, die die Richtigkeit der Entscheidung in Frage stellt.« Insofern zitiert Zoglauer abschließend ein Diktum von Thomas Nagel, das er folgendermaßen zusammenfasst: »Zweifellos leben wir nicht in der moralisch besten Welt. Aber wir können uns immerhin bemühen, sie besser zu machen« 50. (5) Im deutschen Sprachraum ist schließlich auch das Buch Ethik der Konflikte von Stephan Sellmaier aus dem Jahr 2008 zu erwähnen. Wie der Untertitel Über den moralisch angemessenen Umgang mit ethischem Dissens und moralischen Dilemmata schon aussagt, unterscheidet Sellmaier im ersten Teil Moralische Konflikte grundsätzlich zwischen ›moralischen Dilemmata‹ als »Konflikte zwischen Sollenssätzen« einer moralphilosophischen »Theorie« 51 und ›ethischen Dissensen‹ als Konflikte zwischen verschiedenen moralischen Systemen, wie sie in der alltäglichen moralischen Praxis auftreten und entschieden werden müssen. Im dritten Abschnitt Moralische Dilemmata dieses ersten Teils kommt Sellmaier dann auf die metamoralische Frage der angelsächsischen Debatte bezüglich der möglichen »Konsequenzen« der Möglichkeit des moralischen Dilemmas für die moralphilosophische »Theoriebildung« sowie auf die deontische Logik zu sprechen, wobei er für die Auffassung in den Ring steigt, dass es »nicht nur nicht möglich ist, genuine Dilemmata« in einer moralphilosophischen Theorie grundsätzlich »auszuschließen«, sondern dass das letztlich auch gar nicht wünschenswert sei, weil »durch ihre Anerkennung« ein »Spielraum« entstünde, »der produktiv für die Konfliktbewältigung genutzt Zoglauer 1998, 311. Verweis auf Nagel 1977, 73. Seinen positiven Ausweg aus der Situation entwickelt Zoglauer in dem Buch Tödliche Konflikte von 2007 dann (anders als ich; vgl. die Kapitel 7 und 8) allerdings nicht in Anknüpfung an Nagel, sondern unter dem Etikett ›Methode des Überlegungsgleichgewichts‹ vielmehr in Anknüpfung an John Rawls. Vgl. Zoglauer 2007. So interessant dieser Vorschlag sicherlich ist, so kann er hier doch leider nicht weiter diskutiert werden, weil der Vorschlag über die angelsächsische Debatte im engeren Sinne hinausgeht und also den Rahmen dieser Abhandlung sprengen würde. 51 Sellmaier 2008, 42. Ich werde diese wichtige Unterscheidung der Sache nach in Abschnitt 5.c aufgreifen, ohne jedoch Sellmaiers Terminologie zu übernehmen. 50
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1. Das Problem des moralischen Dilemmas
werden« 52 könne. Im zweiten Teil Moralische Probleme analysiert das Buch zunächst die Entstehungsbedingungen ethischer Dissense in der moralischen Praxis. Dann untermauert es die Unterscheidung zwischen ethischen Dissensen und moralischen Dilemmata mit Beispielen. Der dritte Teil Ethik der Konflikte widmet sich schließlich möglichen Strategien der »Bewältigung moralischer Dilemmata« und des adäquaten Umgangs mit einem »ethischen Dissens« 53.
(d) Moralphilosophie, Metamoral und Angewandte Ethik In ihrer dezidiert metamoralischen Ausrichtung fokussierte sich die angelsächsische Debatte auf die Frage, ob die Möglichkeit des moralischen Dilemmas unser Vertrauen in die Moralphilosophie als vernünftiges Systemdenken erschüttern muss, wenn diese keine Strategien entfalten kann, mit denen sie von der Konsistenz der Moral jenseits des empirischen Anscheins der Möglichkeit des moralischen Dilemmas überzeugen oder eine solche Konsistenz zumindest herstellen kann. Diese Frage hat zweifellos einen hohen Stellenwert. Aus einer gewissen räumlichen und zeitlichen Distanz zur angelsächsischen Debatte gerät jedoch schnell die Tatsache in den Blick, dass es für die Angewandte Ethik und die alltägliche moralische Praxis von moralischen Akteuren mindestens ebenso gravierende Folgen hätte, wenn die Möglichkeit des moralischen Dilemmas moralphilosophisch nicht ausgeschlossen werden könnte. Bevor ich jedoch meine Gründe für einen solchen Richtungswechsel von Metamoral und Moralphilosophie zur Angewandten Ethik erläutere, möchte ich zunächst einmal klarstellen, von welchen Teildisziplinen der Praktischen Philosophie ich damit eigentlich rede, weil es weder im Deutschen noch im Englischen eine selbstverständlich klare Terminologie gibt. Es gibt einerseits die Konvention, mit dem Begriff ›Moral‹ ein ›System von moralischen Ansprüchen und Handlungsgründen‹ zu bezeichnen, und mit dem Begriff ›Ethik‹ die ›Wissenschaft bzw. die Philosophie von der Moral bzw. von den Moralen‹. 54 Für an-
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Sellmaier 2008, 37. Sellmaier 2008, 125, 140. Vgl. dazu z. B. Nagel 1997 sowie Gerhardt 1999, 95 sowie Steinvorth 1990, 10 f.
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(d) Moralphilosophie, Metamoral und Angewandte Ethik
dere 55 hingegen bezeichnet das Etikett ›Ethik‹ die ›Lehre vom geglückten Leben‹, während sie unter ›Moralphilosophie‹ die ›Philosophie bzw. die Wissenschaft von der Moral bzw. von den Moralen‹ verstehen. Die letztgenannte Konvention hat in meinen Augen den großen Vorteil, dass sie auch die Ausrichtung des menschlichen Handelns auf Glück in das Feld der Praktischen Philosophie einbezieht. Nichtsdestotrotz scheint mir jedoch nicht nur mit Blick auf die angelsächsische Debatte im Feld der Praktischen Philosophie eine weitere Binnendifferenzierung vonnöten zu sein, weshalb ich eine dritte Konvention als Alternative vorschlagen möchte. 56 (1) Wie Habermas und andere möchte ich unter ›Ethik‹ die ›Wissenschaft von der guten Lebensführung und vom geglückten Leben‹ im antiken Sinne des Aristoteles verstehen. Eine deskriptive Ethik würde dieser Terminologie zufolge herrschende Auffassungen von einem geglückten Leben daraufhin untersuchen, ob sie tatsächlich langfristig zu einem geglückten Leben führen können und ob sie zu realisieren seien, während eine normative Ethik Modelle einer möglichst guten oder sogar bestmöglichen Lebensführung entwickeln würde. 57 (2) Unter einer ›Moral‹ möchte ich ein System von moralischen Überzeugungen, Ansprüchen und Handlungsgründen verstehen, das der alltäglichen moralischen Praxis eines individuellen moralischen Akteurs, einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft oder auch einer ganzen Kultur handlungsleitend zugrunde liegt. Dieser Begriffsbestimmung zufolge kann man im Plural von ›Moralen‹ sprechen, wenn man sagen will, dass es in einer Gemeinschaft unterschiedliche Moralsysteme geben kann. (3) Mit dem Etikett ›Moralphilosophie‹ wiederum möchte ich diejenige philosophische Disziplin bezeichnen, die sich unabhängig von sowie Sellmaier 2008 sowie das Potsdamer LER-Konzept (auch hier steht das ›E‹ für Ethik als Wissenschaft von der Moral). 55 Vgl. zu diesem Begriffsgebrauch Williams 1985a, 1 ff.; sowie Tugendhat 1984, 43 ff.; sowie Habermas 1991, 100–118; sowie Früchtl 1996, 151. 56 Meine terminologischen Überlegungen haben u. a. dazu geführt, dass ich den Sprachgebrauch von Nagel und anderen Autoren der angelsächsischen Debatte diesbezüglich in meinen Übersetzungen angeglichen habe. Vgl. dazu insb. Kapitel 7. 57 Mit diesem Sprachgebrauch weiche ich deutlich beispielsweise von dem Sprachgebrauch von Nico Scarano in seinem Artikel Metaethik – ein systematischer Überblick im Handbuch Ethik ab. Scarano versteht unter ›Ethik‹, was ich unter ›Moralphilosophie‹ verstehe. Im Feld der Ethik unterscheidet er ›deskriptive und normative Ethik‹. Scarano 2002. Das moralische Dilemma
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konkreten Konflikten mit der Entwicklung und Prüfung von Strategien zur moralischen Konfliktlösung sowie mit moralischen Entschuldigungs- und Entlastungsgründen befasst. Mills Utilitarianism von 1861 entfaltet dieser Terminologie zufolge ebenso eine Moralphilosophie wie Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 oder Hares Moral Thinking von 1981. Unterscheiden könnte man weiterhin eine deskriptiv verfahrende Moralphilosophie von einer normativ ausgerichteten Moralphilosophie: Während die deskriptive Moralphilosophie herrschende Moralsysteme auf innere Stimmigkeit, Reichweiten und Anwendungsgrenzen hin untersucht, stellt die normative Moralphilosophie Überlegungen an, wie eine Moral im Bestfall beschaffen und ausgerichtet sein sollte. (4) Unter ›Metamoral‹ möchte ich die philosophische Reflexion über die Bedingungen und Grenzen sowohl von Moral als auch von Moralphilosophie verstehen. Mit Scarano 58 könnte man darüber hinaus noch (mindestens) vier verschiedene Typen von Metamoral unterscheiden. Wenn Hare 59 beispielsweise im ersten Kapitel von Moral Thinking Überlegungen zur Bedeutung des Hilfsverbs ›sollen‹ und des Imperativs ›Du sollst‹ anstellt, betreibt er eine sprachphilosophisch orientierte Metamoral. Ein zweiter Typ von Metamoral richtet sich an der Philosophie des Geistes aus und fragt nach den mentalen und neurologischen Voraussetzungen für Moralität und moralische Urteilsfähigkeit. Eine dritte Spielart ist die ontologische Metamoral, die »sich mit Ich spreche von ›Metamoral‹ im selben Zusammenhang, in dem Scarano von ›Metaethik‹ spricht. Scarano 2002, 27. Meine Unterscheidung in Anknüpfung an Scarano erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 59 Hare 1981, 39–68. In seinem Essay Why Do Applied Ethics von 1986 äußert sich Hare allerdings abfällig über die Unterscheidung von Moralphilosophie und Angewandter Ethik, weil (um die Formulierung von Oliver Hallich aufzugreifen) eine moralphilosophische »Theorie, die nichts zur Lösung konkreter moralischer Probleme beitragen kann«, sowieso nichts tauge. Hallich 2000, 154. Verweis auf Hare 1986. Zwar kann Hare tatsächlich auf eine Reihe von Essays zu konkreten moralischen Problemen verweisen. Vgl. u.a. Hare 1972 oder Hare 1976. Vgl. auch Hallich 2000, 161–180. Es gibt aber zumindest den einen wichtigen Unterschied, dass sich der Moralphilosoph mit der Entwicklung und Verteidigung einer einzigen moralphilosophischen Position befassen kann (vgl. z. B. Hare 1981), während es zu wenig überzeugenden Ergebnissen führt, wenn der Angewandte Ethiker einseitig von der Warte einer einzigen moralphilosophischen Position aus argumentiert (vgl. zur entsprechenden Kritik an Hare 1976 den Abschnitt 8.e.5.1.2.). Der Gefahr der Überkomplexität zum Trotz sollte der Angewandte Ethiker vielmehr zwischen möglichst vielen Positionen abwägen. Vgl. Abschnitt 8.e. insgesamt. 58
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(d) Moralphilosophie, Metamoral und Angewandte Ethik
dem Status moralischer Eigenschaften und der Existenz moralischer Tatsachen beschäftigt« 60. Die angelsächsische Debatte wäre einer vierten logischen Spielart von Metamoral zuzuordnen, welche sich mit den Fragen befasst, wie sicher sich moralische Urteile begründen lassen, ob moralische Urteile ebenso wie epistemische Urteile einen Wahrheitswert haben können, und ob moralische Urteile und moralische bzw. moralphilosophische Systeme den Anforderungen der (aristotelischen?) Logik genügen müssen oder nicht. (5) Von der ›Metamoral‹, der ›Ethik‹ und der ›Moralphilosophie‹ möchte ich die ›Angewandte Ethik‹ unterscheiden. Mit diesem Etikett bezeichne ich die philosophische Disziplin, welche die von der Moralphilosophie entwickelten Strategien sowie die Einsichten der Ethik und die jeweils herrschenden moralischen Überzeugungen systematisch sichtet, um konkrete Lösungsvorschläge für aktual anstehende Probleme der alltäglichen moralischen Praxis zu entwickeln, die von den betroffenen moralischen Akteuren oder von den entsprechenden Institutionen dann gegebenenfalls in die Tat bzw. in Gesetze oder Strukturen umgewandelt werden können. 61 In sich differenziert sich die der Angewandten Ethik je nach der Art ihrer Probleme. So befasst sich die Medizinethik als Teildisziplin der Angewandten Ethik beispielsweise mit moralischen Problemen, die im Umfeld des Gesundheitswesens für Ärzte und Patienten entstehen. Vergleichbar befasst sich die Politische Ethik mit moralischen Problemen im Feld des politischen Handelns; die Technikethik mit moralischen Problemen der Technik; die rote und grüne Genethik mit moralischen Problemen des Eingriffs in die Gene von Menschen und Pflanzen; die Ethik der Pflege mit moralischen Problemen bei der Pflege von kranken und behinderten Menschen usw.
Scarano 2002, 27. Beachte jedoch, dass Scarano hier seiner Terminologie zufolge von ›Metaethik‹ und nicht von ›Metamoral‹ spricht. 61 Den Einwand, dass es im Rahmen meiner Unterscheidung terminologisch konsequenter gewesen wäre, statt von ›Angewandter Ethik‹ von ›Angewandter Moralphilosophie‹ oder (wegen des Stellenwerts von ethischen Einsichten und den herrschenden moralischen Überzeugungen für die Angewandte Ethik) vielleicht sogar besser noch von ›Angewandter Praktischer Philosophie‹ zu sprechen, möchte ich ohne weiteres zugeben. Allerdings hat sich das Etikett ›Angewandte Ethik‹ mittlerweile so fest zur Bezeichnung der Disziplin etabliert, welche ich im Auge habe, dass ich diesbezüglich keinen Sonderweg gehen möchte. 60
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(e) Die Bedeutung des Problems für die Angewandte Ethik Die Möglichkeit unlösbarer moralischer Dilemmata stellt tatsächlich ein interessantes metamoralisches Konsistenzproblem für die Moralphilosophie dar. Dennoch verwundert es, dass in der angelsächsischen Debatte die Frage nahezu ausgeblendet wurde, was unlösbare moralische Dilemmata pragmatisch sowohl für die Angewandte Ethik als auch für die individuellen moralischen Akteure bedeuten würde. Selbst die drohenden Schuldgefühle wurden lediglich als Argument für die Möglichkeit unlösbarer Dilemmata diskutiert, aber nicht in ihrer fatalen Tragweite für diejenigen, die durch ein moralisches Dilemma unter konkreten Entscheidungs- oder Handlungsdruck gesetzt werden. Was die Möglichkeit der Diagnose ›moralisches Dilemma‹ für die Angewandte Ethik bedeuten würde, möchte ich am Beispiel der Frage nach dem moralisch richtigen Umgang mit denjenigen Säuglingen erläutern, die aus irgendwelchen Gründen geistig und körperlich so schwer behindert auf die Welt kommen, dass ihr Leben von sehr starken Schmerzen und quälendem Leid geprägt wäre, bis sie absehbarerweise über kurz oder lang sowieso sterben müssen. 62 Drei Fälle von schwerstbehinderten Neugeborenen werden von Peter Singer und Helga Kuhse in ihrem Buch Should the Baby live von 1985 exponiert, wobei in meinen Augen nur zwei Fälle Kandidaten für ein moralisches Dilemma sind. (1) Zunächst wird nämlich der Fall des Baby John Pearson vorgestellt, das als »Down Syndrom Kind, aber sonst offenbar gesund« zur Welt kam. Weil die Eltern das Kind ablehnten, gab der zuständige Arzt die Anweisung zu »nur pflegerischer Versorgung«, was faktisch bedeutete, dass man das Baby hungern und schließlich an einer Lungenentzündung sterben ließ. Der Fall des sogenannten ›Baby Pearson‹ ist für mich ausdrücklich kein Kandidat für ein moralisches Dilemma, weil Menschen mit Down Syndrom durchaus ein geglücktes Leben führen können, so dass es in meinen Augen keinen moralphilosophischen Grund gibt, auch nur darüber nachzudenken, ob man sie sterben lassen oder gar töten sollte. (2) Dann sprechen Singer und Kuhse jedoch die Fälle von Baby Doe und Baby West an, die beide nicht nur mit einem Down-Syndrom, sondern zusätzlich mit einer schweren Missbildung der Speiseröhre geboren wurden. Es wird aus einem Brief zitiert, den die Eltern von Baby West an die Eltern von Baby Doe geschrieben haben. Hier heißt es unter anderem, dass das Neugeborene »in den 18 Monaten seines Lebens aufgrund seiner Mißbildungen, der Operationen und der damit verbundenen anschließenden Komplikationen viel Schmerzen, Leid und Elend erfahren« musste. Der Brief schließt mit der Bemerkung, dass es für die Eltern »wirklich schwer« sei, »daneben zu stehen und all dem zuzuschauen«. Singer u. a. 1985, 28, 45. Diese Fälle sind in meinen Augen wegen der starken Schmerzen und der geringen Überlebenschancen der betroffenen Säuglinge anders als der Fall von Baby Pearson durchaus Kandidaten für ein moralisches Dilemma.
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(e) Die Bedeutung des Problems für die Angewandte Ethik
(1) Medizinisch ins Detail zu gehen, ist an dieser Stelle überflüssig, weil es auf medizinische Details hier noch nicht ankommt (vgl. 8.e). Wichtig ist hier lediglich der Hinweis, dass sich das Problem immer häufiger stellt, weil es im Zuge von künstlichen Befruchtungen (IVF) immer häufiger zu Frühgeburten kommt, während gleichzeitig die technischen Möglichkeiten immer besser werden, auch sehr schwer behinderte Neugeborene am Leben zu halten. Bei diesem Problem handelt es sich zweifellos um ein ›moralisches Dilemma‹ im Sinne des im Abschnitt 2.f noch zu entfaltenden Begriffs. Um dem kurz vorzugreifen: Ein moralisches Dilemma ist eine Situation, in der sich ein Protagonist (bei dem es sich auch um mehrere Aktuere oder um eine Institution handeln kann) zwischen zwei sich ausschließenden Handlungsoptionen entscheiden muss, für die jeweils vergleichbar starke moralische Gründe sprechen, ohne dass es einen glücklichen dritten Ausweg gibt. Diese Beschreibung scheint auf das Problem des adäquaten Umgangs mit schwergeschädigten Säuglingen prima facie erst einmal zuzutreffen. Schließlich müssen sich die Ärzte und die Eltern entscheiden, ob sie das Kind mit allen technisch und medizinisch zur Verfügung stehenden Mitteln am Leben erhalten sollen oder ob sie es sterben lassen oder gar aktiv töten sollen, wobei für die erste Option der gewichtige moralische Grund spricht, dass es sich bei einem schwer behinderten Säugling um einen Menschen handelt, während für die zweite(n) Option(en) der prima facie vergleichbar gewichtige moralische Grund zu sprechen scheint, dass der Säugling schwer leidet und sowieso bald sterben wird, ohne eine Aussicht auf Besserung seines Zustandes zu haben. Für beide Optionen sprechen im vorliegenden Fall also besonders schwerwiegende moralische Gründe, gegen welche die Ärzte und Eltern jenseits der Konkurrenzsituation niemals verstoßen würden. Die Protagonisten des Säuglingsdilemmas wissen, dass man einen Menschen nicht töten darf. Gleichzeitig würden sie unter anderen Umständen aber auch alles tun, um solche Qualen, wie sie der Säugling erleiden muss, zu beenden oder zumindest abzumildern. Gleichzeitig scheint es keinen dritten Weg zu geben, der keine schwere moralische Verfehlung bedeuten würde. Damit ist das Säuglingsdilemma in meinen Augen ein Kandidat für ein besonders schwerwiegendes und schwieriges moralisches Dilemma 63, falls sich bei der Prüfung der zentralen Argumente der angelsächsischen Debatte gegen die Möglich63
Vgl. dazu auch den Abschnitt 8.e sowie Raters 2006.
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1. Das Problem des moralischen Dilemmas
keit des moralischen Dilemmas in den Kapiteln 3–7 herausstellen sollte, dass das moralische Dilemma eben doch prinzipiell möglich ist. (2) Was würde es nun für die Angewandte Ethik bedeuten, falls sie in Fällen wie dem vorliegenden die Diagnose ›moralisches Dilemma‹ stellen müsste? Die Antwort ist schnell gegeben: Die Diagnose ›moralisches Dilemma‹ würde bedeuten, dass die Angewandte Ethik den Protagonisten des Säuglingsdilemmas sagen müsste, dass es in ihrem Falle leider keine moralphilosophisch eindeutig richtige Lösung gibt. Sie wird diese schlimme Diagnose sogar dadurch unterfüttern müssen, dass sie die Grenzen und Schwächen derjenigen Positionen aufzeigt, die so tun, als gäbe es für einen moralischen Konflikt wie das Säuglingsdilemma eine klare Lösung. Mehr als eine Kritik an allzu eindeutigen Lösungsvorschlägen wird die Angewandte Ethik redlicherweise nicht mehr leisten können, nachdem sie sich einmal gezwungen gesehen hat, in einem konkreten Fall die fatale Diagnose ›moralisches Dilemma‹ zu stellen. Das wiederum würde bedeuten, dass es Fälle gibt, in denen die Angewandte Ethik ihre Klientel letztlich nur irritieren kann durch den Aufweis, dass alle scheinbar klaren Positionen, die zur vorliegenden Frage vertreten werden bzw. vertreten werden könnten, einen gravierenden moralphilosophischen, moralischen oder ethischen Haken haben, obwohl die Angewandte Ethik doch eigentlich die Aufgabe hat, klare Handlungsorientierungen für schwierige praktische Situationen zu entfalten (vgl. Abschnitt 1.e.5). Falls es moralische Dilemmata gibt, gibt es demnach also Fälle, in denen die Angewandte Ethik den Entscheidungsträgern der Situation ausdrücklich nicht mehr sagen kann, was sie vom Standpunkt von Ethik, Moralphilosophie und herrschender Moral im vorliegenden Fall am besten tun sollten, obwohl genau das doch eigentlich die Aufgabe der Angewandten Ethik ist. Stattdessen muss sie den Entscheidungsträgern sagen, dass (wie Bernard Williams pointiert formuliert hat) letztlich »falsch sein wird, was immer« 64 sie auch tun werden. Damit steht mit der Möglichkeit moralischer Dilemmata also der Verdacht im Raum, dass es Fälle geben 64 Im englischen Wortlaut heißt es in der Schrift Conflicts of Values von 1979 wie folgt: »In another, and more drastic, kind of cases, however, which might be called the ›tragic‹ kind, an agent can justifiably think that whatever he does will be wrong: that there are conflicting moral requirements, and that neither of them succeeds in overriding our outweighing the other. In this case, though it can actually emerge from deliberation that one of the course of action is the one that, all things considered, one had better take, it is, and it remains, true that each of the courses of action is morally required, and at a level
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(e) Die Bedeutung des Problems für die Angewandte Ethik
könnte, in denen die Angewandte Ethik ihren genuinen Anspruch nicht mehr aufrecht erhalten kann, zum richtigen Handeln in konkreten moralischen Konfliktfällen anzuleiten. Insofern wäre das Selbstverständnis der Angewandten Ethik durch das Zugeständnis der Möglichkeit moralischer Dilemmata massiv berührt. (3) Nun könnte man vielleicht einwenden, dass das Sterbehilfedilemma eine besonders schwierige Situation sei und dass es die Angewandte Ethik in aller Regel mit Situationen zu tun habe, die keine Kandidaten für ein moralisches Dilemma seien, weshalb das gerade skizzierte Problem der Möglichkeit des moralischen Dilemma für die Angewandte Ethik ein künstlich aufgebauschtes Randproblem sei. Tatsächlich lassen sich jedoch viele (wenn nicht sogar die meisten) Probleme der Angewandten Ethik als Kandidaten für mögliche moralische Dilemmata ausbuchstabieren. Das Problem des moralisch richtigen Umgangs mit schwerstbehinderten Neugeborenen ist als Spielart des Sterbehilfeproblems im Bereich der Medizinethik anzusiedeln, und unabhängig davon, wie alt der betroffene Mensch ist, stellt es in meinen Augen geradezu ein Paradebeispiel für ein moralisches Dilemma dar, wenn die Frage im Raum steht, ob man einen Menschen töten darf oder sterben lassen soll, um ihm Qualen zu ersparen. Vergleichbar lässt sich jedoch auch die Situation eines Polizisten z. B. als Kandidat für die Diagnose ›moralisches Dilemma‹ ausbuchstabieren, der vor der Frage steht, ob er einem Verdächtigen, der ein Kind entführt haben soll, die Folter androht, um damit ein eventuell lebensrettendes Geständnis über den Aufenthaltsort des Kindes erpressen zu können. Im Bereich der Tierethik wäre das Problem der Tierversuche zur Abwendung von Schäden von Menschen ein Kandidat für ein moralisches Dilemma. Dasselbe gilt für das Kernproblem der sogenannten ›grünen Gentechnik‹, ob man Pflanzen genetisch manipulieren darf, damit weniger Menschen hungern müssen, obwohl man sich nicht sicher sein kann, ob die menschlichen Eingriffe zentrale Regelungsmechanismen der Natur unwiederbringlich zerstören. Ohne mich hier auf Beweise einlassen zu wollen, würde ich insgesamt behaupten wollen, dass es sich bei den wirklich interessanten Problemen der Angewandten Ethik in ihren verschiedenen Teilbereichen von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen generell um Kandidaten für moralische Dilemmata handelt. which means that, whatever he does, the agent will have reason to feel regret at the deepest level.« Williams 1979, 74. Das moralische Dilemma
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1. Das Problem des moralischen Dilemmas
Weil dieses Problem wiederum praktische Probleme für die betroffenen moralischen Akteure nach sich zieht, halte ich es als Pragmatistin 65 letztlich sogar für wichtiger und drängender als das metamoralische Problem der angelsächsischen Debatte, inwieweit die Möglichkeit moralischer Dilemmata den vernünftigen Anspruch eines moralischen oder moralphilosophischen Systems auf logische Konsistenz infrage stellen würde. Deshalb werde ich mich zumindest am Ende dieser Abhandlung mit der Frage nach den Konsequenzen der Möglichkeit des moralischen Dilemmas für die Angewandte Ethik und für individuelle moralische Akteure befassen.
(f) Die Bedeutung des Problems für die moralischen Akteure Für individuelle moralische Akteure und Entscheidungsträger hätte die Möglichkeit des moralischen Dilemmas besonders schlimme Konsequenzen. Ein moralisches Dilemma ist eine Situation, in der (um noch einmal Williams zu zitieren) »falsch sein wird, was immer« 66 ein moralischer Akteur auch tun wird, wobei die Angewandte Ethik zunächst einmal (vgl. Abschnitt 8.c) nichts anderes tun kann, als dem individuellen moralischen Akteur zu bestätigen, dass er tatsächlich in einem moralischen Dilemma steckt. (1) Das bedeutet für den moralischen Akteur, dass er eine schwerwiegende moralische Entscheidung treffen muss, für die es die eine richtige Entscheidung nicht gibt. Das wiederum bedeutet, dass es mit dem moralischen Dilemma moralische Entscheidungssituationen gäbe, in der nach jeder möglichen Entscheidung Restzweifel bleiben müssen, ob die Entscheidung wirklich zu verantworten war. Diese Zweifel mögen letztlich zwar epistemischer Natur sein. Im Falle eines moralischen Dilemmas wären sie aber dennoch pragmatisch fatal, weil Restzweifel bei einer moralischen Entscheidung ein Hemmnis bedeuten können, die Entscheidung in die Tat umzusetzen. Wenn die Eltern und die ÄrzFür eine Pragmatistin gibt es keine ›nur‹ theoretischen philosophischen Probleme, weil Überzeugungen immer auch praktische Konsequenzen für die konkreten Lebensvollzüge haben. Um ein Beispiel zu nennen: Es macht sicherlich einen großen Unterschied, ob jemand (im Kontext einer Religion beispielsweise) an ein Leben nach dem Tod glauben kann oder nicht. Vgl. dazu Raters 2015. 66 Williams 1979, 74. Vgl. Anm. 64. 65
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(f) Die Bedeutung des Problems für die moralischen Akteure
te sich im Falle des Säuglingsdilemmas für ein Weiterleben des Säuglings entscheiden, werden sie angesichts seiner Qualen vermutlich immer wieder neu überlegen, ob sie ihn nicht doch sterben lassen sollen. Sollten sie sich jedoch für den Tod des Säuglings entscheiden, werden sie vermutlich versuchen, den Zeitpunkt hinauszuzögern, an dem sie ihren schrecklichen Entschluss durchführen, weil sie wissen, dass der Tod etwas Endgültiges ist. Ein erstes Risiko der Möglichkeit des moralischen Dilemmas wären aus der Sicht der moralischen Akteure also handlungshemmende Restzweifel. 67 (2) Ein zweites gravierendes Problem für den moralischen Akteur wären die subjektiven Schuldgefühle, die ihm drohen, falls es das moralische Dilemma geben sollte, weil man im Falle eines moralischen Dilemmas ja zwangsläufig einem gewichtigen moralischen Handlungsgrund zuwiderhandeln muss. Wenn sich Eltern und Ärzte für den Tod des Babys entscheiden, müssen sie einen Menschen töten oder sterben lassen. Das ist ein schweres moralisches Vergehen, mögen die Gründe dafür noch so gewichtig sein, weshalb quälende Schuldgefühle kaum ausbleiben werden. Dasselbe ist zu erwarten, falls sich Eltern und Ärzte für ein Weiterleben des Säuglings entscheiden, weil sie dann schließlich Tag für Tag mit ansehen müssen, wie ein Mensch schwer leidet, ohne etwas dagegen unternommen zu haben. Wie Bernard Williams in seinem Essay Moral Luck von 1976 treffend hervorhebt, liegt »unseren Ideen von Moralität« seit Jahrhunderten die Vorstellung »zugrunde« 68, dass sich moralische Akteure »durch Moralität« davor schützen können, sich moralisch schuldig zu machen. Sollte es das moralische Dilemma tatsächlich geben, müsste diese Idee aufgegeben werden, dass sich subjektive Schuldgefühle durch die richtige moralische Entscheidung konsequent vermeiden ließen. Mit der Möglichkeit des moralischen Dilemmas steht aus der Sicht der moralischen Akteure also vor allem die Drohung im Raum, dass es Situationen geben kann, die man selbst nicht herbeigeführt oder verschuldet hätte, die aber dennoch zu einer Entscheidung zwingen, nach der man sich schuldig füh-
Wie oben zitiert, macht Zoglauer diesen Punkt stark, wenn er sagt, dass im Falle der Möglichkeit des moralischen Dilemma bei »jeder moralischen Entscheidung« ein »Rest von Unsicherheit« bleiben müsse, »die die Richtigkeit der Entscheidung in Frage stellt«. Zoglauer 1998, 311. 68 Williams 1976, 31. 67
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1. Das Problem des moralischen Dilemmas
len wird. Ob sich Akteure eines moralischen Dilemmas objektiv moralisch schuldig machen, wird natürlich noch zu diskutieren sein (vgl. Abschnitt 6.c). In meinen Augen reicht jedoch die bloße Möglichkeit, dass massive subjektive Schuldgefühle der Preis einer Dilemma-Entscheidung individueller moralischer Akteure sein können, um eine pragmatische Beschäftigung mit dem moralischen Dilemma aus der Perspektive individueller moralischer Akteure entgegen der metamoralischen Stoßrichtung der angelsächsischen Debatte für wichtig zu halten.
(g) Gliederung und Methode Nach einer Rekonstruktion der metamoralischen Debatte zum moralischen Dilemma, wie sie im angelsächsischen Sprachraum in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts geführt wurde, zeigt meine Abhandlung also die Konsequenzen der Möglichkeit des moralischen Dilemmas für die Angewandte Ethik und für individuelle moralische Akteure auf. Methodisch ist mein Buch der pragmatistischen Traditionskritik verpflichtet, der zufolge eine aktuelle philosophische Position in einem ersten Schritt unter Fokussierung auf das für die systematische Fragestellung Relevante so rekonstruiert wird, dass die Position in einem zweiten Schritt dialektisch diskutiert und in einem dritten Schritt mit systematischem Interesse ausgewertet werden kann. Dabei wird die Debatte folgende Stationen haben: (1) In diesem ersten Kapitel wurden die Probleme entfaltet, die sich für die verschiedenen Teildisziplinen der Praktischen Philosophie aus einer eher beiläufig geäußerten Kritik von Sir David Ross an der sogenannten ›private-reaction-theory‹ der Moral ergeben haben. Die leitende Frage der angelsächsischen Debatte lautete, ob die Moralphilosophie ihren Anspruch aufgeben muss, vernünftige Systeme vernünftiger Handlungsorientierung für vernünftige Akteure entfalten zu können, wenn sie die Möglichkeit des moralischen Dilemmas nicht ausschließen kann. Im Hintergrund stand die (natürlich strittige) Prämisse, dass das moralische Dilemma als ›logische Inkonsistenz‹ in einem moralphilosophischen System gedeutet werden muss. Wie gezeigt wurde, hätte es aber auch Konsequenzen für die Angewandte Ethik und insbesondere für die betroffenen moralischen Akteure, wenn die Möglichkeit des moralischen Dilemmas nicht ausgeschlossen werden könnte. 42
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(2) In einem zweiten, ebenfalls noch einleitenden Kapitel werden die Begriffe ›Dilemma‹ und ›moralisches Dilemma‹ geklärt. Gezeigt wird, dass insbesondere das ›teuflische reale reine moralische echte Dilemma‹ eine massive Bedrohung für die Moralphilosophie, die Angewandte Ethik und die moralischen Akteure ist. Mit diesem Bandwurm-Begriff ist eine Situation angesprochen, in der sich ein Protagonist real zwischen zwei sich ausschließenden Handlungsoptionen entscheiden muss, wobei für beide Optionen sehr gewichtige moralische Handlungsgründe von gleichem Gewicht sprechen, so dass er weiß, dass er sich eines Verstoßes gegen einen gewichtigen moralischen Handlungsgrund schuldig machen muss, wofür er sich auch entscheiden wird. (3) Anschließend wird gezeigt, dass Sir David Ross selbst schlicht davon ausgegangen ist, dass das moralische System der eigentlichen Pflichten widerspruchsfrei ist. Den empirischen Anschein des moralischen Dilemmas erklärte er mit nur vorläufigen Konflikten von prima facie Pflichten, die sich mit Mitteln der praktischen Vernunft lösen lassen sollen. Zum einen kann Sir David Ross jedoch die Möglichkeit des Irrtums menschlicher Akteure nicht ausschließen, weshalb das pragmatische Problem der Möglichkeit des moralischen Dilemmas in seiner eigenen Moralphilosophie allen starken metaphysischen Prämissen zum Trotz bestehen bleibt. Vor allem aber kann er nicht ausschließen, dass zwei sich widersprechende aktuale Pflichten durch äußere Umstände eben doch mit gleichem Gewicht in Kraft gesetzt werden, womit Ross die Möglichkeit des moralischen Dilemmas auch auf der in seinem System eigentlich interessanten Ebene der aktualen Pflichten letztlich nicht wirklich ausschließen kann. Das Resultat lautet, dass Ross nicht davon überzeugen kann, dass die pluralistische Weltordnung tatsächlich widerspruchsfrei ist. (4) Richard M. Hare gesteht zu, dass es auf der Ebene der intuitiven Moralen durchaus zu moralischen Dilemmata kommen könne. Aufgrund dieser Diagnose stellt er an die Moralphilosophie dann die Anforderung, die intuitionistischen Dilemmata hinter sich zu lassen und ein rationales Verfahren zu entwickeln, mit der sich alle moralischen Dilemmata lösen lassen, so dass die Konsistenz moralphilosophisch hergestellt werden kann, wenn sie in den gewachsenen Moralen nicht vorgefunden wird. Das von Hare entwickelte Verfahren besteht in seinem wesentlichen Kern in der Überlegung, von welcher Entscheidung Das moralische Dilemma
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der Akteur unter Berücksichtigung der berechtigten Präferenzen aller Beteiligten wollen kann, dass alle moralischen Akteure sie in einer genau ähnlichen Situation genauso entscheiden würden. Tatsächlich kann jedoch nur ein idealer moralischer Akteur (Hare spricht vom ›Erzengel‹) alle Bedingungen erfüllen, die Voraussetzung einer erfolgreichen Anwendung von Hares kritischer Methode wären. Der ›normale‹ menschliche Akteur muss sich letztlich auf genau die moralischen Intuitionen verlassen, die Hare mit seiner kritischen Methode überwinden wollte. Deshalb kann Hare nicht davon überzeugen, dass sich moralische Konsistenz mit moralphilosophischen Strategien herstellen bzw. dass sich jedes moralische Dilemma wirklich lösen lässt. (5) Das fünfte Kapitel widmet sich der deontischen Logik, die versucht hat, Beweise für die logische Widersinnigkeit der Annahme der Möglichkeit des moralischen Dilemmas zu entfalten. Das Kapitel verfährt scholastisch, indem es die Beweise syllogistisch auf eine Grundstruktur reduziert, um dann zu zeigen, dass sämtliche Prämissen der Beweise strittig oder sogar definitiv unhaltbar sind. Es kommt so zu dem Resultat, dass es sich mit den Mitteln der Logik nicht beweisen lässt, dass die Annahme der Möglichkeit des moralischen Dilemmas unsinnig ist. Damit kommt die Abhandlung zu dem Zwischenfazit, dass die Praktische Philosophie insgesamt wohl weiterhin mit der Möglichkeit des moralischen Dilemmas rechnen muss. (6) Sir Bernard Williams hatte gegen den Mainstream der angelsächsischen Debatte mit dem ›phänomenologischen Argument des moralischen Restbestandes‹ die These vertreten, dass moralische Dilemmata schon deshalb systematisch unvermeidbar seien, weil es keine moralphilosophische Strategie geben könne, die alle denkbaren bösen Zufälle mit einbezieht, unter denen es in der alltäglichen moralischen Praxis zu einem moralischen Dilemma kommen kann. Von Details (die allerdings relativ unaufwändig präzisiert werden können) einmal abgesehen, ist Williams Argument sicherlich überzeugend. Fraglich bleibt allerdings, ob man mit Williams auch den Glauben an die Moralphilosophie als systematische Wissenschaft aufgeben muss, wenn man seine Diagnose teilt, dass es keine moralphilosophische Strategie geben kann, mit der alle moralischen Dilemmata sicher aufgelöst werden können.
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(7) Thomas Nagel gelangt ebenfalls zu der Diagnose, dass sich das moralische Dilemma moralphilosophisch nicht vermeiden lässt. Allerdings begründet er diese Diagnose grundsätzlich anders als Williams. Nagel sieht den eigentlichen Grund dafür, dass die Moralphilosophie am Problem des moralischen Dilemmas scheitern muss, darin, dass moralische Handlungsgründe aus grundsätzlich unterschiedlichen Quellen stammen und schon deshalb nicht aufeinander zu reduzieren sind, weil der Hiat zwischen personaler und neutraler Perspektive in der Moral als konstitutiver Hiat der menschlichen Vernunft insgesamt durch keine moralphilosophische Strategie zu überwinden ist. Anstatt wie Williams vor dem moralischen Dilemma jetzt aber im Sinne der Ausgangsfrage der angelsächsischen Debatte zu kapitulieren, entwickelt Nagel mit seiner Strategie der Objektivierung von moralischen Entscheidungen ein Verfahren, mit der ein moralischer Akteur ein moralisches Dilemma zwar nicht lösen, aber immerhin doch mit so guten Gründen wie eben möglich entscheiden kann, so dass der Akteur seine Entscheidung im Nachhinein rechtfertigen kann. Der professionellen Moralphilosophie schreibt Nagel die Rolle zu, solche Entscheidungsverfahren zu entwickeln. Damit ist vermieden, dass die Moralphilosophie kapitulieren muss, ohne dass abgeleugnet würde, was sich angesichts unserer alltäglichen moralischen Praxis letztlich wohl auch nicht wirklich ableugnen lässt: die Möglichkeit des moralischen (realen teuflischen reinen) moralischen Dilemmas nämlich. (8) Nachdem noch einmal die wichtigsten Argumente der angelsächsischen Debatte für und wider die Möglichkeit moralischer Dilemmata zusammengefasst wurden, nehme ich (mit den beiden pragmatistischen Argumenten, dass (i) moralische Dilemmata unvermeidlich sind, weil sich die Moral veränderten Umwelt- und Lebensbedingungen dynamisch anpassen muss, und dass (ii) Dilemmata deshalb als ›Grenzsteine‹ der immer nur vorläufigen moralphilosophischen Systeme ein kreatives Potential haben) im achten Kapitel zunächst einmal Partei für die Auffassung, dass es keine moralphilosophische Strategie zur sicheren Vermeidung oder Auflösung moralischer Dilemmata geben kann (8.a). Daraufhin wird mit Thomas Nagel die Auffassung vertreten, dass die Moralphilosophie deshalb nicht kapitulieren muss, weil unlösbare moralische Dilemmata immerhin mit vernünftigen Gründen entschieden werden können (8.b). Anschließend wird ein Wechsel von der metamoralischen Perspektive der angelsächsischen Debatte zur pragDas moralische Dilemma
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matischen Perspektive der Angewandten Ethik und der moralischen Akteure vollzogen, um zu erläutern, was bei der Entfaltung eines Verfahrens zur Entscheidung unlösbarer moralischer Dilemmata (zu dem es bei Nagel nur Andeutungen gibt) berücksichtigt werden muss. Im Zentrum steht dabei die Einsicht, dass sich eine moralische Verfehlung im Falle eines unlösbaren Dilemmas für die moralischen Akteure per definitionem nicht vermeiden lässt (8.c). Aufgrund dieser Einsicht wird das ›Prinzip der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung‹ zur Entscheidung unlösbarer moralischer Dilemmata entwickelt und verteidigt (8.d). Das Buch endet damit, dass unter dem Etikett pragmatistische Nagelprobe ein Verfahren zur Entscheidung unlösbarer moralischer Dilemmata entwickelt, am Beispiel des sogenannten ›Säuglingsdilemmas‹ paradigmatisch durchgespielt und trotz seiner Grenzen kurz verteidigt wird (8.e).
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2. Zum Begriff
Dieses Kapitel ist der Frage gewidmet, was ein ›moralisches Dilemma‹ überhaupt ist. Auf den ersten Blick scheint diese Frage trivial zu sein, weil jedem Leser Legionen von Beispielen einfallen werden. Die unbestrittenen Spitzenreiter in der angelsächsischen Debatte sind die Dilemmata des Agamemnon 1 und der Sophie 2. Daneben werden aber auch immer wieder Dilemmata thematisiert, die im Rahmen von moralphilosophischen Abhandlungen eigens erfunden worden sind, wie beispielsweise Platons ›Waffendilemma‹, 3 Kants ›Lügendilemma‹, 4 König Agamemnon von Argos sieht sich durch ein Bündnis verpflichtet, mit König Menelaos in den Krieg gegen Troja zu ziehen, um den Raub an dessen Ehefrau Helena durch Paris zu rächen. Als das Heer wegen widriger Winde nicht aus dem Hafen segeln kann, steht er nach einem Orakelspruch vor der Entscheidung, ob er um seiner Pflicht als griechischer Feldherr willen seine Tochter Iphigenie den Göttern opfern soll oder nicht. Er entscheidet sich gegen seine Tochter. Aischylos: Agamemnon. Diskutiert wird dieser Konflikt vor allem in Williams 1965a. 2 Die Novelle Sophies Choice von W. Styron aus dem Jahr 1979 erzählt die furchtbare Geschichte von Sophie, die (nachdem sie dem Lagerarzt gesagt hat, dass sie weder Jüdin noch Kommunistin, sondern gläubige Katholikin sei) im Konzentrationslager von den Nazi-Verbrechern vor die Entscheidung gestellt wird, eines ihrer beiden Kinder dem Gas zu opfern, weil sonst beide Kinder ermordet würden. Styron 1979, 541. Im Roman opfert Sophie ihre Tochter und behält den Jungen, ohne dass dafür Gründe angegeben werden. Diskutiert wird dieses Dilemma u. a. in Kuhlmann 1985, 252 f. sowie SinnottArmstrong 1988, 54 ff. sowie Sinnott-Armstrong 1992, 1125. Um dieses besonders schreckliche Dilemma von der Literatur ins Leben zu holen, berichtet Sinnott-Armstrong von einer Fernseh-Reportage über eine äthiopische Mutter, die nur die körperliche Kraft hatte, eines ihrer beiden Kinder zur Ausgabestelle von Nahrungsmitteln zu tragen, so dass sie ihr anderes Kind zurücklassen musste. Sinnott-Armstrong 1988, 57. 3 Nachdem Sokrates’ Gesprächspartner Cephalus die ›Gerechtigkeit‹ als »Wahrheit reden und was man empfangen hat, wiederzugeben« definiert hat, fragt ihn Sokrates in Platons Politeia, ob man eine geliehene Waffe etwa auch dann zurückgeben müsse, wenn der Freund, von dem man die Waffe geliehen hat, dem Wahnsinn verfallen sei? Platon 1958b, 331c. Diskutiert wird dieses Dilemma u. a. in Boshammer 2008, 149 f. 4 Anlass der Spätschrift Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen 1
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Sartres ›Dilemma des französischen Patrioten‹, 5 das ›Jim-Dilemma‹ 6 von Bernard Williams, das ›Trolley-Dilemma‹ 7 oder das ›Heinz-Dilemma‹ 8 von Lawrence Kohlberg. Dabei muss man gar nicht in moralphilosophischer Literatur stöbern, um auf Beispiele für moralische Dilemmata zu stoßen, weil auch die Tagespresse immer wieder eine gute Quelle ist. Pars pro Toto hervorheben möchte ich die Debatten zum von Immanuel Kant aus dem Jahr 1797 ist eine süffisante Anfrage des französischschweizerischen Philosophen Benjamin Constant in seiner 1793 erschienenen Schrift Über politisch Reaktion (franz. Des Réactions Politique) an einen ›deutschen Philosophen‹ (mit dem zweifelsohne Kant gemeint ist), ob die bedingungslose Pflicht zur Aufrichtigkeit nicht doch eine Ausnahme zulassen müsse, falls man von einem potentiellen Mörder nach dem Aufenthaltsort eines Freundes gefragt wird. Kants Entgegnungsschrift verteidigt dann bedingungslos die Auffassung, dass das Lügenverbot keine Ausnahmen kennen darf. Vgl. Kant 1797. 5 In seiner Schrift L’existentialisme est un humanisme von 1946 erzählt Sartre von einem Schüler, der ihn im Zweiten Weltkrieg um Rat gefragt hatte, ob er nach England gehen und sich den Freien Französischen Streitkräften anschließen oder sich um seine alte kranke Mutter kümmern soll, die sonst niemanden hat, der für sie sorgen könnte. Sartre 1946, 17 ff. Diskutiert wird dieses Beispiel u. a. von Hilary Putnam in Putnam 1990 sowie in Lueck 2015. 6 In seiner Schrift Consequentialism and Integrity konstruiert Williams den Fall von Jim, der in eine südamerikanische Stadt kommt, in der ein General 20 Indianer festgenommen hat, um die Indianer von einem Aufstand abzuhalten. Der General verspricht Jim, 19 Indianer freizulassen, falls Jim eigenhändig einen der Indianer erschießt. Williams 1988, 34. 7 Ein Straßenbahnfahrer muss wegen eines Versagens seiner Bremsen entscheiden, ob er nach links ausweichen und einen Menschen töten oder ob er seiner Fahrt freien Lauf lassen soll, wodurch er fünf töten würde. Dieses Beispiel wird häufig variiert: Manchmal handelt es sich bei dem einen Menschen um einen Nobelpreisträger, ein anderes Mal um ein Kind und ein drittes Mal um eine Person, die aus irgendwelchen Gründen die Menschheit retten kann. Das Beispiel stammt von Philippa Foot in Foot 1967. Aufgegriffen wird es u. a. in Thomson 1986, 78–93 sowie in Naylor 1987, 711–722. Von Zoglauer wird es folgendermaßen abgeändert: Wie sieht die Sache aus, wenn man den Straßenbahnwagen stoppen kann, indem man einen unbeteiligten Zuschauer auf die Gleise stößt? Zoglauer 1998, 172. Erhellende Systematisierungen erst von verschiedenen Varianten des Trolley-Dilemmas und dann von verschiedenen Lösungsvorschlägen finden sich in Bruers u.a. 2014. Den Forschungen von Sachdeva u.a. 2015 zufolge ist eine signifikante Anzahl von befragten Probanden der Ansicht, dass die Selbstaufopferung die moralisch richtige Entscheidung solcher Dilemmata sei. 8 Die Ehefrau von ›Heinz‹ ist an einer seltenen Krankheit erkrankt. Ein Apotheker hat ein Medikament entwickelt, das er allerdings zu einem völlig überteuerten Preis anbietet, den Heinz nicht aufbringen kann. Nachdem sich der Apotheker auf keine Ratenzahlungen einlassen und keine Bank einen Kredit geben will, muss Heinz entscheiden, ob er in die Apotheke einbrechen sollte, um das rettende Medikament für seine Frau zu stehlen. Kohlberg 1996, 495.
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2. Zum Begriff
finalen Rettungsschuss 9, zur Folterandrohung gegen den Kindesentführer Magnus Gäfgen 10, zur Entscheidung der Bundesregierung im Falle der Entführung des Arbeitergeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF 11 und zur Sterbehilfeorganisation Dignitas. 12 Wer solche Beispiele 13 für moralische Dilemmata kennt, weiß allerdings noch längst nicht, was der Begriff ›moralisches Dilemma‹ bedeuUnter diesem Etikett wurde beispielsweise die Frage diskutiert, ob eine staatliche Instanz ggfs. entscheiden darf, dass ein mit unschuldigen Passagieren besetztes Flugzeug abgeschossen werden soll, falls es von Terroristen entführt wurde, um es nach dem Vorbild des Attentats auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 als Massenvernichtungswaffe zu missbrauchen. 10 In der Presse diskutiert wurde die Situation des Frankfurter Polizei-Vizepräsidenten Wolfgang Daschner, der dem Entführer Magnus Gäfgen im Januar des Jahres 2002 die Folter angedroht hat, um jede Chance zu nutzen, das Leben des elfjährigen Bankierssohn Jakob von Metzler noch zu retten. Sinnott-Armstrong konstruiert den parallelen Fall, dass Terroristen den Wasserspeicher einer großen Stadt vergiftet haben. Liz soll eine verantwortliche Person sein, die das Massensterben verhindern könnte, indem sie das Kind eines Terroristen mit Folter bedroht bzw. tatsächlich so lange foltert, bis der Terrorist verrät, welcher Tank vergiftet wurde. Sinnott-Armstrong 1988, 44. Gerwith diskutiert die Frage, ob ein Sohn seine Mutter zu Tode foltern muss, wenn das Terroristen von ihm mit der Drohung fordern, ansonsten mehrere Atombomben in mehreren Großstädten detonieren zu lassen. Gerwith 1989, 99. Nach Mieth 2010 würde es jedoch zu ›schlechten Gesetzen‹ führen, wenn die gesetzgebenden Instanzen solche seltenen Ausnahme-Dilemmata antizipieren würden. 11 Dieses Dilemma diskutiert Boshammer 2008, 144 ff. 12 Diskutiert wurde beispielsweise das schreckliche Schicksal der Französin Chantal Sébire. Frau Sébire wollte im März des Jahres 2008 im Alter von 52 Jahren vor der Grande Instance in Dijon »ihr Recht auf selbstbestimmten Tod« erstreiten, nachdem man sieben Jahren zuvor die »extrem seltene Krebserkrankung« eines Ethesioneuroblastom »diagnostiziert« hatte. Unter der Überschrift »Aufgefressen vom Schmerz« rekonstruiert der Autor Gerd Kröncke in einem Artikel das moralische Dilemma der zuständigen Gerichte in der Frage: »Darf ein Mensch sterben, weil ihm sein Leben unerträglich ist?«. Den Schilderungen des Verfassers zufolge ist »ihr Anblick herzzerreißend«, und das nicht etwa, »weil ihr Gesicht so entstellt ist«, sondern »weil man die Schmerzen ahnt«, die Frau Sébire ihren Schilderungen vor Gericht zufolge »nicht mehr aushält«, weil »selbst stärkste Medikamente« längst schon »keine Linderung mehr bringen« können und der Tumor »unablässig« weiter wächst. Kröncke 2008. 13 Eine schöne Sammlung ›klassischer‹ Dilemmata aus der Literatur einschließlich interessanter Diskussionen findet sich in dem Band Great Moral Dilemmas. In: Literature, Past and Present (MacIver 1964). Eine schöne Sammlung religiöser Dilemmata findet sich in Kuld u. a. 2001, 169–186. Obwohl zumindest der englische Originaltitel ›ethische Dilemmata‹ verspricht, handelt es sich bei näherer Hinsicht jedoch nicht bei jeder ›Zwickmühle‹, die in dem Buch 99 moralische Zwickmühlen von Martin Cohen geschildert wird, tatsächlich um ein moralisches Dilemma. Dennoch bietet auch dieses Buch eine gute Materialsammlung. Die Rede ist von Cohen 2003. 9
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tet. Im Sinne einer Annäherung möchte ich zunächst verschiedene Begriffe des ›Dilemmas‹ klären, bevor ich auf das ›moralische Dilemma‹ zu sprechen komme.
(a) Zwei Begriffe des ›Dilemmas‹ in der angelsächsischen Debatte In der angelsächsischen Debatte 14 werden zwei Begriffe des ›Dilemmas‹ oder des ›moralischen Dilemmas‹ mit unterschiedlichen Implikationen verwendet. (1) Vorherrschend 15 ist ein Dilemma-Begriff, der (entkleidet von Präzisierungen und Ergänzungen) in seiner Grundform besagt, dass ein ›DiIm deutschen Sprachraum ist häufig auch von einem Konflikt zwischen ›Werten‹ und ›Normen‹ die Rede. (1) Im Hintergrund steht vermutlich die Terminologie von Jürgen Habermas. (1.1) »Werte« sind nach Habermas »intersubjektiv geteilte Präferenzen«, welche »Vorzugsrelationen« festlegen, »die besagen, daß bestimmte Güter attraktiver sind als andere«, weshalb wir »evaluativen Sätzen mehr oder weniger zustimmen« können. Habermas 1992, 311. Vergleichbar sind ›Werte‹ für Krijnen »bewußte oder unbewußte Orientierungsdirektiven für das menschliche Leisten«. Krijnen 2002, 528. Vgl. auch Joas u. a. 2005, 548. (1.2) »Gültige Normen« verpflichten ihre »Adressaten« nach Habermas hingegen »ausnahmslos und gleichermaßen zu einem Verhalten, das generalisierte Verhaltenserwartungen erfüllt«. Weil sie per se mit »einem binären Geltungsanspruch« in dem Sinne auftreten, dass sie »entweder gültig oder ungültig« sein können, können wir »zu normativen Sätzen« anders als im Falle von Werturteilen ähnlich »wie zu assertorischen Sätzen nur mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ Stellung nehmen oder uns des Urteils enthalten. Habermas 1992, 311. Wiederum heißt es im Handbuch Ethik zum Begriff ›Norm‹ vergleichbar: »Unter einer Norm ist eine mehr oder weniger stark generalisierte Handlungsanweisung oder Vorschrift (Präskription) zu verstehen.« Ott 2002, 458. (2) Durch den Stellenwert der Dilemma-Methode nach Lawrence Kohlberg dominiert ein werte-basierter Dilemma-Begriff auch die Debatten zur Didaktik der Ethik. In einer seiner dezidiert moralphilosophischen Schriften definiert Kohlberg das ›Dilemma‹ als Konflikt entweder zwischen »zwei angenommenen Normen« oder zwischen einer Norm und einem Wert. Kohlberg u. a. 1984, 400, 394. Vgl. dieselbe Dilemma-Definition in Edelstein u. a. 2001, 176. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser (wie gesagt: im deutschsprachigen Raum vorherrschenden) Philosophie des moralischen Dilemmas findet sich in Raters 2011a, Teil III. 15 Tatsächlich verwenden fast alle Autoren der angelsächsischen Debatte die sollensbasierte Definition des Dilemmas. (1) Zwar findet sich bei Sir David Ross selbst (welcher der Debatte ja unbeabsichtigt den Anstoß gegeben hatte; vgl. 1.a) noch keine dementsprechende Definition. Allerdings hat 14
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(a) Zwei Begriffe des ›Dilemmas‹ in der angelsächsischen Debatte
lemma‹ vorliegt, wenn ein moralischer Akteur mir zwei moralischen Sollensanforderungen (engl. moral oughts) bzw. moralischen Ansprüchen (engl. moral requirements) bzw. Pflichten (engl. duties) bzw. Verpflichtungen (engl. obligations) konfrontiert ist, die er nicht beide erfüllen kann, weil sie sich gegenseitig ausschließen bzw. widersprechen. Dazu heißt es im Cambridge-Dictionary of Philosophy in der dritten Ausgabe von 1998, dass die »Moralphilosophen der Gegenwart« das »moralische Dilemma« in aller Regel als »eine Situation« diskutierten, »in der ein moralischer Akteur vom Standpunkt der Moral zwei Handlungen vollziehen sollte, aber nicht beide vollziehen kann« 16. In der
er die Weichen gestellt, als er moralische Konflikte generell als Konflikte zwischen prima facie Pflichten auffasste. Ross 1930, 30. In Anlehnung an Ross definiert beispielsweise David Brink das moralische Dilemma folgendermaßen: »If an agent is faced with a moral dilemma, he has an obligation to do A and an obligation to do B, but can’t do both.« Brink 1994, 102. (2) Richard M. Hare definiert das ›Dilemma‹ in seinem Frühwerk Languages of Morals als eine Situation, in der ein Akteur widersprüchliche Befehle befolgen muss. Hare 1952, 43 f. (3) In seinem Fahrwasser definiert Bernard Williams in seinem Essay Ethical Consistency das Dilemma (obwohl die Definition wegen ihrer ontologischen Vorannahmen eigentlich gar nicht in den Kontext seiner Moralphilosophie passt; vgl. Einwand 2.a.1.2) als eine Situation, in der es »den Anschein« hat, »ich solle jedes von zwei Dingen tun, könne aber nicht beides ausführen«. Williams 1965a, 271. Diese Definition greift Boshammer zur Definition des Begriffs ›moralischer Konflikt‹ auf, wobei sie unter einem ›moralischen Dilemnma‹ die spezielle Spielart moralischer Konflikte versteht, für die es auch nach reiflicher Reflexion keine Lösung gibt. Boshammer 2008, 149, 158. (4) In Gowans Einleitung zu seinem Sammelband zur deontischen Logik heißt es: »A moral dilemma is a situation in which an agent S morally ought to do A and morally ought to do B but cannot do both, either because B is just not-doing-A or because some contingent feature of the world prevents him doing both.« Gowans 1987, 3. (5) Vergleichbar heißt es bei Ruth B. Marcus: »There are principles in accordance with which one ought to do x and one ought to do y, where doing y requires that one refrain from doing x; i. e. one ought to do not-x«. Marcus 1980, 189. (6) Bei McConnell heißt es kurz und bündig: »A moral dilemma is a situation in which each of two things ought to be done.« McConnell 1996, 36. An anderer Stelle heißt es: »In each case, an agent regards herself as having moral reasons to do each of two actions, but doing both actions is not possible.« McConnell fährt fort: »The crucial features of a moral dilemma are these: the agent required to do each of two (or more) actions; the agent can do each of the actions; but the agent cannot do both (or all) of the actions. The agent thus seems condemned to moral failure; no matter what she does, she will do something wrong (or fail to do something she ought to do)«. McConnell 2006, 2. 16 Im englischen Wortlaut heißt es: »Recently, moral philosophers have discussed a much narrower set of situations as ›moral dilemmas‹. They usually define ›moral diDas moralische Dilemma
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2. Zum Begriff
formalisierten Sprache der deontischen Logik (vgl. Kapitel 5) ist vom sollensbasierten Dilemma so die Rede, dass etwas gesollt wird [O (a)] und dass gleichzeitig etwas anderes gesollt wird [O (b)], wobei sich a und b jedoch gegenseitig ausschließen [: K (a&b)]. (1.1) Die Verteidigung dieser sollensbasierten Definition des Dilemmas hat vor allem Sinnott-Armstrong unternommen. Sein Ausgangspunkt ist eine in ihrem Ursprung nicht näher gekennzeichnete ›Standarddefinition‹ des Dilemmas, der zufolge ein ›Dilemma‹ in einer »Situation« vorliegen soll, in welcher »ein Akteur aus moralischer Perspektive jede von zwei (oder mehr) Handlungsalternativen für sich genommen ausführen sollte, aber beide (oder alle) nicht gleichzeitig ausführen kann« 17. Dem könnte man nach Sinnott-Armstrong entgegenhalten, dass in manchen Dilemmata statt einem ›Sollen‹ ein ›Nicht-Sollen‹ (bzw. ein Verbot) vorliegt. Wie er treffend bemerkt, lässt sich dieses Problem jedoch schnell lösen, indem man die Standarddefinition so anpasst, dass mit einem Nicht-Sollen gemeint ist, dass der Akteur die Alternative zum Nicht-Sollen wählen soll. Wenn Agamemnon also beispielsweise seine Tochter nicht töten soll, soll er die Alternative wählen, sie weiter leben zu lassen. Überzeugend zeigt SinnottArmstrong so, dass sich Verbote generell als Gebote bzw. Sollenssätze umformulieren lassen. 18 (1.2) Solche Einwände können die sollensbasierte Definition des lemma‹ as a situation where an agent morally ought to do act at two acts but cannot do both.« Moral Dilemma. In: The Cambridge Dicitionary of Philosophy 1995, 508. 17 Im englischen Wortlaut heißt es: »The standard definition is that moral dilemmas are situations in which an agent morally ought to adopt each of two (or more) alternatives separately but cannot adopt both (or all) of them together«. Sinnott-Armstrong 1988, (1–14) 5. Vergleichbar schreibt Sinnott-Armstrong in seinem Artikel Moral Dilemma in der Encyclopedia of Ethics: »The standard definition is that moral dilemmas are situations in which an agent morally ought to adopt each of two (or more) alternatives separately but cannot adopt both (or all) of them together«. Sinnott-Armstrong 1992, 1125 f. 18 Sinnott-Armstrong 1988, 5 ff. Wichtig ist Sinnott-Armstrong zweitens auch, dass es im Falle eines ›moralischen Dilemmas‹ um dezidiert moralische Ansprüche gehen müsse. A. a. O. 7–15. Drittens hebt er hervor, dass im ›moralischen Dilemma‹ keine der beiden konkurrierenden Ansprüchen ein eindeutiges Übergewicht hat. A. a. O. 15–22. Viertens müsse festgehalten werden, dass der moralische Akteur nicht beiden Ansprüchen nachkommen kann. A. a. O. 21–28. Aufgrund solcher Überlegungen gelangt Sinnott-Armstrong schließlich zu folgender ›finaler Definition‹ : »A moral dilemma is any situation where at the same time (i) there is a moral requirement for an agent to adopt each of two alternatives (ii) neither moral requirement is overridden in any mo-
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(a) Zwei Begriffe des ›Dilemmas‹ in der angelsächsischen Debatte
›Dilemmas‹ also letztlich nicht in Frage stellen. Dennoch aber sollte man sie nicht weiter verfolgen, weil sie im Sinne eines metaphysischen Realismus die Vorentscheidung trifft, als gäbe es im Fall des Dilemmas zwei objektive Sollensanforderungen 19, zwischen denen der Akteur quasi ›eingequetscht‹ ist, so dass er nicht mehr reagieren kann. Diese Vorentscheidung sollte man terminologisch nicht bedienen, weil das Dilemma als Situation ohne Reaktionsmöglichkeiten phänomenologisch nicht adäquat beschrieben wäre: Das Quälende an der Dilemma-Situation ist schließlich die Tatsache, dass der Akteur weiß, dass er sich paradoxerweise allen situativen Zwängen zum Trotz dennoch ›frei‹ entscheiden ›muss‹. Von einer ›freien Entscheidung‹ spreche ich, weil der Akteur weiß, dass er sich zwischen den beiden gesollten Handlungsalternativen entscheiden muss; von einem ›müssen‹ spreche ich, weil eine Dilemma-Situation eine Entscheidung herbeizwingt (s. u. 2.a.2.2). Beides bedeutet, dass der Protagonist eines Dilemmas um eine Entscheidung ringen muss, indem er Gründe für die eine oder die andere Entscheidung abwägt. Eine Dilemma-Situation verlangt wesentlich eine Entscheidung durch das Abwägen der jeweiligen Gründe für oder gegen die eine oder die andere Entscheidungsmöglichkeit. Deshalb möchte ich mich hier der Handlungsgrund-basierten Definition des ›Dilemmas‹ von Thomas Nagel anschließen, obwohl diese Definition im Kontext der angelsächsischen Debatte eine Außenseiterrolle gespielt hat. (2) In seinem Essay von 1977 stellt Nagel zunächst einmal fest, dass er unter einem ›praktischen Konflikt‹ »nicht einfach nur eine schwierige Entscheidung« unter »Bedingungen der Ungewissheit« wie beispielsweise die Entscheidung »zwischen einer Chemotherapie und einem chirurgischen Eingriff« verstehen will, sondern einen »Konflikt unter Werten«, die »aus Gründen inkommensurabel sind, die mit Ungewissheit in Bezug auf empirische Fakten nichts zu tun haben«. »Echte Dirally relevant way (iii) the agent cannot adopt both alternatives together, and (iv) the agent can adopt each alternative separately.« A. a. O. 29. 19 In diesem Sinne verteidigt Philippa Foot die sollensbasierte Definition mit dem Argument, dass das in einer Dilemma-Situation zur Debatte stehende Sollen auf objektiven Fakten beruhe, die sich nachprüfen lassen. So sei es ein Faktum, wenn man ein Versprechen gegeben habe. Foot 1983, 390 f. Wie in 5.g festgestellt, können Ansprüche ihren Grund allerdings auch in subjektiven Wünschen von Befehlshabern beispielsweise haben, was sich nur schwerlich als ›objektives Faktum‹ bezeichnen lässt. Das moralische Dilemma
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2. Zum Begriff
lemmata« stellen nach Nagel die »härtesten« dieser »Konfliktfälle« dar: Von einem ›echten Dilemma‹ will er sprechen, sobald »zwingende Gründe« jeweils für »zwei inkompatible Handlungsalternativen (oder gegebenenfalls für mehr als zwei)« sprechen, »zu denen auch gehören kann, daß wir nichts unternehmen«. Wie Nagel weiterhin betont, ist »sogar in solchen Fällen« eine »Entscheidung unausweichlich«, wenn es auch scheint, als müsse die Entscheidung »gezwungenermaßen willkürlich getroffen« werden. In dieser Willkürlichkeit sieht Nagel »kein Problem«, wenn sich die Gründe für die beiden Optionen »im Gleichgewicht« befinden; anders sieht es in seinen Augen jedoch aus, wenn »beide Alternativen aus sowohl triftigen als auch zureichenden Gründen jede für sich angezeigt« sind, weil in einer solchen Situation »mit einem Mal Gründe fehlen, wo Gründe dringend benötigt werden, denn welche Entscheidung jemand dann auch immer fällt, er handelt in jedem Falle einigen dieser Gründe zuwider, ohne sich darauf berufen zu können, daß dies durch andere Gründe von erheblicherem Gewicht kompensiert würde« 20. Ohne den Ausführungen im 7. Kapitel vorgreifen zu wollen, möchte ich die wichtigsten Implikationen dieser definierenden Passage hier schon kurz markieren. (2.1) Zunächst einmal hebt sie hervor, dass im Falle eines Dilemmas »gegebenenfalls« auch »mehr als zwei« inkompatible Handlungsalternativen zur Disposition stehen können. Dem möchte ich mich anschließen, obgleich man in solchen Fällen deutlicher von einem ›Trilemma‹ oder einem ›Quatrolemma‹ etc. sprechen sollte. Der These, dass Nichtstun unter bestimmten Umständen als Handlung betrachtet werden sollte, möchte ich mich ebenfalls anschließen, weil das in der HandIm vollständigen Wortlaut der deutschen Übersetzung lautet die hier einschlägige Passage: »Echte Dilemmata stellen die härtesten Konfliktfälle dar. Zwingende Gründe sprechen jeweils für zwei inkompatible Handlungsalternativen (oder gegebenenfalls für mehr als zwei), zu denen auch gehören kann, daß wir nichts unternehmen. Sogar in solchen Fällen ist also eine Entscheidung unausweichlich, doch scheint sie gezwungenermaßen willkürlich getroffen zu werden. Befinden sich zwei Optionen nahezu im Gleichgewicht, kann es belanglos sein, welche Entscheidung man trifft, und in der Willkürlichkeit besteht dann kein Problem. Erscheinen jedoch beide Alternativen aus sowohl triftigen als auch zureichenden Gründen jede für sich angezeigt, bedeutet Willkürlichkeit der Dezision, daß mit einem Mal Gründe fehlen, wo Gründe dringend benötigt werden, denn welche Entscheidung jemand dann auch immer fällt, er handelt in jedem Falle einigen dieser Gründe zuwider, ohne sich darauf berufen zu können, daß dies durch andere Gründe von erheblicherem Gewicht kompensiert würde.« Nagel 1977, 181 f. Vgl. auch Nagel 1971, 85.
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(a) Zwei Begriffe des ›Dilemmas‹ in der angelsächsischen Debatte
lungstheorie unstrittiger Konsens ist. So ist es sicherlich eine ›Handlungsalternative‹ im Sinne von Nagels Dilemma-Definition, wenn die Frage im Raum steht, ob es eventuell geboten sein könnte, einen sterbenskranken Menschen weder zu beatmen noch künstlich zu ernähren. Dasselbe gilt für Buridans Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, welchen er fressen soll: Das Hinauszögern dieser Entscheidung ist faktisch eine Entscheidung für das Verhungern. (2.2) Erläuterungsbedürftig scheint mir jedoch zu sein, was es heißen soll, dass »eine Entscheidung« zwischen den beiden Handlungsalternativen im Falle eines Dilemmas »unausweichlich« sein soll. Damit könnten zum einen diejenigen Fälle angesprochen sein, in denen (wie z. B. im gerade angesprochenen Sterbehilfedilemma) ein Herauszögern der Entscheidung einer Entscheidung gegen eine der beiden Handlungsalternativen gleichkommt. Nachdem Fälle des Nichtstuns aufgrund einer Nicht-Entscheidung allerdings (wie gerade gezeigt) von Nagel ausdrücklich als mögliche »Handlungsalternativen« hervorgehoben werden, denke ich, dass sein Hinweis auf die Unausweichlichkeit einer Entscheidung vielmehr darauf zu beziehen ist, dass es im Falle des ›echten Dilemmas‹ (anders als in anderen Spielarten von praktischen Konflikten) keinen glücklichen dritten Ausweg gibt, den der moralische Akteur gehen könnte, ohne gewichtigen moralischen Handlungsgründen zuwiderhandeln zu müssen. Die Entscheidung der Sophie zwischen ihren beiden Kindern ist nicht nur in dem Sinne unausweichlich, dass ihr die Entscheidung von der Situation (besser: von dem Nazi-Verbrecher) aufgezwungen wird. Sophies Entscheidung ist auch insofern unausweichlich, dass ihre Situation ›ausweglos‹ ist, weil es für sie keinen ›glücklichen dritten Weg‹ im Sinne einer dritten Handlungsoption gibt, mit der sie beide Kinder retten könnte. Gleich, was Nagel mit seinem Nebensatz nun tatsächlich gemeint hat: Fest steht für mich, dass eine ›Ausweglosigkeit‹ im Sinne einer fehlenden dritten Handlungsalternative ein wichtiges Kennzeichen jedes ›echten Dilemmas‹ ist, durch das sich das ›echte Dilemma‹ von anderen Spielarten praktischer Konflikte unterscheidet (vgl. im Detail dazu 2.f.5.1). (2.3) Erläuterungsbedürftig scheint mir außerdem zu sein, warum Nagel eine willkürliche Dilemma-Entscheidung unproblematisch findet, sobald sich die Gründe für die beiden Handlungsalternativen im Gleichgewicht befinden, während er in derselben Willkürlichkeit durchaus ein Problem sieht, sobald »beide Alternativen aus sowohl Das moralische Dilemma
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2. Zum Begriff
triftigen als auch zureichenden Gründen jede für sich angezeigt« sind. In meinen Augen grenzt Nagel hier die ›echten‹ Dilemmata von denjenigen Dilemmata ab, die in der einschlägigen Literatur auch ›symmetrische Dilemmata‹ genannt werden (vgl. ausführlich 2.d.1). Es handelt sich um Dilemmata, in denen für die sich ausschließenden Handlungsalternativen jeweils dieselben Gründe sprechen, während im ›echten‹ Dilemma Nagels Definition zufolge für die sich ausschließenden Handlungsalternativen verschiedene Handlungsgründe von gleichem Gewicht sprechen sollen. Vermutlich will Nagel betonen, dass nur im Falle von unterschiedlichen Handlungsgründen ein Abwägen bzw. ein echtes Ringen um die Entscheidung erforderlich ist. Vor diesem Hintergrund scheint es mir allerdings nicht adäquat zu sein, dass Nagel von vergleichbar ›zwingenden‹ Gründen spricht: Das würde meinem Sprachverständnis zufolge nämlich besagen, dass es keine Möglichkeit geben soll, sich gegen die durch die Gründe jeweils ›erzwungene‹ Handlungsalternative zu entscheiden. Wie schon hervorgehoben, besteht das Quälende eines ›echten Dilemmas‹ ja gerade darin, dass man sich immer gegen die eine und für die andere Handlungsalternative entscheiden kann: Ansonsten wäre die DilemmaSituation nicht das, was sie (gerade auch laut Nagel) vor allem ist, nämlich eine Situation, in der eine Entscheidung gefordert ist. Es scheint mir deshalb angemessener zu sein, anstatt von ›zwingenden Gründen‹ von ›vergleichbar gewichtigen‹ oder ›vergleichbar starken‹ Gründen zu sprechen. 21 (2.4) Hervorzuheben ist in meinen Augen auch, dass es weder ein Versehen noch ein Kategorienfehler darstellt, wenn Nagel in einem Atemzug von Werten und Handlungsgründen spricht. Werte und Handlungsgründe stehen nach Nagel nämlich in einem genetischen Zusammenhang, weil ›Werte‹ für Nagel »Urteile aus einer uns selbst gegenüber externen Perspektive« darüber sind, »wie schlechterdings jeder leben sollte« 22. Weil Urteile auf Gründen basieren, akzeptiert man immer auch ein Set von Gründen, wenn man sich für einen Wert entscheidet oder sich an einen Wert bindet. Deshalb kann Nagel beIch verzichte absichtlich darauf, von ›sehr gewichtigen Gründen‹ o. Ä. zu sprechen, weil sich meinem Sprachverständnis zufolge im Feld des ›echten Dilemmas‹ von den teuflischen Dilemmata die banalen Dilemmata unterscheiden lassen, in denen relativ banale Handlungsgründe für die jeweiligen Handlungsalternativen sprechen. Vgl. dazu 2.f. 22 Nagel 1986, 232–235. 21
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(a) Zwei Begriffe des ›Dilemmas‹ in der angelsächsischen Debatte
haupten, dass in konkreten Entscheidungssituationen aus dem heterogenen Ensemble von Werten verschiedene Handlungsgründe 23 hervorgehen, die im Falle eines ›echten Dilemmas‹ miteinander in Konflikt geraten können (vgl. dazu ausführlich 7.a.1). (2.5) Hervorzuheben ist jedoch vor allem, dass Nagels Rede von konfligierenden Gründen 24 das, was eine Dilemma-Entscheidung phänomenologisch ausmacht, sehr viel deutlicher macht als die in der angelsächsischen Debatte gängige metaphysische Rede von einem konfligierenden Sollen. (2.5.1) Das gilt vor allem, weil es in einer Dilemma-Entscheidung um das ringende Abwägen der jeweils besten Gründe für zwei sich ausschließende Handlungsoptionen geht, und nicht um ein ›Gefangensein‹ zwischen zwei Ansprüchen. Der Protagonist weiß, dass er entscheiden muss, obwohl eine wirkliche Entscheidung nicht möglich zu sein scheint: Wie Nagel treffend bemerkt, ist es ein wesentliches Charakteristikum der Dilemma-Situation, dass der Protagonist leidet, weil ihm »mit einem Mal Gründe fehlen, wo Gründe dringend benötigt werden« 25. (2.5.2) Auch der Erfahrung der Dynamik unserer Werte-Systeme wird die Rede von ›Handlungsgründen‹ besser gerecht als die metaphysisch-statische Rede von ›moralischen Sollensansprüchen‹, zwischen denen der moralische Akteur im Falle des moralischen Dilemmas eingekeilt sein soll. Diese Erfahrung steht im Zentrum der Moralphilosophie des amerikanischen Pragmatismus: Die zentrale These dieser Nun bin ich mir natürlich der Tatsache bewusst, dass eine solche knappe Bemerkung über den genetischen Zusammenhang von Handlungsgründen und Werten bei Nagel den handlungstheoretischen Anforderungen an den Begriff eines ›Handlungsgrundes‹ auch nicht annähernd gerecht werden kann. Weil hier allerdings der Raum für eine Rekonstruktion der verzweigten Debatten zu diesem Thema fehlt, muss ich mich darauf beschränken. Einräumen muss ich jedoch, dass es alles andere als klar ist, was ein ›Handlungsgrund‹ wirklich ist. Ralf Stoeckers griffiger Definition zufolge beantwortet ein ›Handlungsgrund‹ die Frage, »warum jemand etwas getan hat«. Stoecker 2002, 10. Diese Definition passt in den Kontext einer Philosophie des moralischen Dilemmas, weil durch das ›warum‹ hervorgehoben wird, dass es in einer Dilemma-Situation wesentlich um eine Entscheidung zwischen zwei Handlungsoptionen durch das Auffinden der jeweils besten Gründe für oder gegen zwei sich ausschließende Handlungsoptionen geht, und nicht darum, zumindest einer der beiden Handlungsoptionen irgendwie nachzukommen. 24 Zum Begriff ›moralischer Handlungsgrund‹ vgl. näherhin 2.f.1. 25 Nagel 1977, 182. 23
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2. Zum Begriff
evolutionären Moralphilosophie lautet, dass es keine überzeitlich-ewigen Moralen geben kann, weil sich unsere Lebenswelt ständig ändert, der unsere Werte angepasst sein müssen. 26 Wie das Beispiel des Säuglingsdilemmas zeigt, gibt es heute Dilemmata, die es vor 200 Jahren noch nicht gab. Anders als heute konnten schwerstbehinderte Babys vor zweihundert Jahren nicht am Leben erhalten werden, weil die medizinisch-technischen Mittel noch nicht zur Verfügung standen. Insofern gibt es heute Gründe, über den adäquaten Umgang mit schwerstbehinderten Babys nachzudenken, die es vor zweihundert Jahren noch nicht gab, obwohl sich an der Tatsache, dass man Menschen nicht töten soll, nichts geändert hat. (2.5.3) Wie Brune treffend hervorhebt, liegt ein weiterer Vorteil eines auf Handlungsgründen 27 basierenden Begriffs darin, dass auch solche Dilemmata erfasst werden können, in denen nicht moralische Vorschriften, sondern beispielsweise Wünsche 28 miteinander konkurrieren. 29 Brunes Diagnose zufolge wird in »der angelsächsischen metaVgl. dazu u. a. Mead 1908 sowie Mead 1923 sowie Dewey 1891 sowie Dewey 1908. Brune vertritt ebenfalls einen auf Handlungsgründen basierenden Begriff, wenn er das Dilemma als eine Situation kennzeichnet, in der sich »eine Person« zwischen »zwei einander widersprechenden Handlungsoptionen« zu entscheiden hat, wobei jedoch jede der beiden Handlungsoptionen »starke oder gar ›zwingende‹ Gründe auf ihrer Seite« haben müssen. Brune 2002, 325. Dasselbe gilt z. B. für Monika Betzler. Ihr Essay Sources of Practical Conflicts and Reasons for Regret wird mit folgender Definition eingeleitet: »It is a widespread phenomenon that we often experience regret after having resolved a practical conflict: In such a case, we had a reason (or reasons) to do A, and we had a reason (or reasons) to do B, but we could not do both A and B.« Betzler 1999, 197. Anschließend diskutiert sie die Frage der Rationalität eines solchen Bedauerns (engl. regret) nach einer wohlbegründeten rationalen Entscheidung. Vgl. dazu im Detail 6.c. 28 In der Handlungstheorie ist es strittig, ob Wünsche als ›Handlungsgründe‹ betrachtet werden. Auf solche Fragen kann ich hier allerdings ebenso wenig eingehen wie auf die grundsätzliche Frage beispielsweise, ob Handlungen kausalistisch über ›Gründe‹ überhaupt adäquat erklärt werden können. Vgl. zu solchen Debatten näherhin Handlungen und Handlungsgründe 2002 sowie Analytische Handlungstheorie 1985 sowie Heuer 2001 sowie Stoecker 2008. 29 Auf die Tatsache, dass nicht alle Dilemmata per se auch moralische Dilemmata sind, wird deutlich hingewiesen in Donogan 1984, 287 f. Mit derselben Stoßrichtung heißt es bei Sinnott-Armstrong: »There are many kinds of non-moral dilemmas.« SinnottArmstrong 1988, 7. Weiterhin heißt es: »Non-moral dilemmas are, then, situations where an agent ought to adopt incompatible alternatives because of reasons that are not moral.« A. a. O. 7. Unterschieden vom moralischen Dilemma werden hier näherhin das pragmatische Dilemma, das epistemische Dilemma (die Antinomie), das religiöse 26 27
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(b) Der Ursprung des Begriffs in der Antike
ethischen Literatur vielfach ein enges, mit dem Sollens- und Pflichtbegriff arbeitendes Konzept moralischer Dilemmata vertreten«, was »nicht unerhebliche Probleme mit realen und komplexen Problemen« nach sich ziehen würde, weshalb ein eher »offener Begriff von Dilemmata erforderlich« sei, wie »ihn z. B. Th. Nagel vertritt« 30. Dem nun naheliegenden Einwand, dass Nagels Begriff des ›echten Dilemmas‹ zu weit sei, um den Gegenstand der angelsächsischen Debatte adäquat zu erfassen, weil es hier ausschließlich um das ›moralische Dilemma‹ gegangen sei, muss deshalb natürlich stattgegeben werden. Tatsächlich werde ich auf diesen Einwand noch zurückkommen, indem ich das ›moralische Dilemma‹ der angelsächsischen Debatte so als Spezialfall von Nagels ›echtem Dilemma‹ ausweise, dass die sollensbasierte Definition des Dilemmas integriert wird (vgl. 2.f.1.1). Bis dahin werde ich mich zu Zwecken der Abgrenzung auf das ›echte Dilemma‹ im generellen Sinne konzentrieren, wobei ich unter einem ›echten Dilemma‹ näherhin eine Situation verstehe, in der sich ein Akteur zwischen zwei sich ausschließenden Handlungsalternativen entscheiden muss, zwischen die jeweils vergleichbar gewichtige Gründe sprechen, ohne dass es einen glücklichen Ausweg im Sinne einer dritten Handlungsoption gäbe. Aufgrund dieses Begriffs lassen sich im Begriffsfeld des ›Dilemmas‹ weitere Unterscheidungen einziehen.
(b) Der Ursprung des Begriffs in der Antike Jens-Peter Brunes luzider Artikel zum Dilemma im Handbuch Ethik führt den Begriff ›Dilemma‹ erst auf das lateinische ›dilemma‹ und letztlich auf das griechische ›di-lemma‹ für »Zwiegriff oder Doppelfang« zurück. 31 Versucht man das zu rekonstruieren, wird es allerdings kompliziert. Dilemma und das juristische Dilemma. A. a. O. 7 f. Dass es verschiedene Spielarten des ›Dilemmas‹ gibt, wird in diesen Abhandlungen allerdings nicht thematisiert, so dass auch nicht thematisiert wird, dass es verschiedene Spielarten nicht-moralischer Dilemmata gibt. 30 Brune 2002, 326 f. 31 Brune 2002, 325. Auch im Duden wird der Begriff ›Dilemma‹ auf das das lateinische ›dilemma‹ zurückgeführt, was seinen Ursprung im griechischen ›dilemma‹ haben soll, was wiederum so viel wie »Fangschluß oder Doppelfang« bedeutet haben soll. Dilemma. In: Duden 1994, 342. Das moralische Dilemma
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2. Zum Begriff
(1) Die Schwierigkeit besteht darin, dass es allen einschlägigen griechischen und lateinischen Wörterbüchern zufolge das griechische Wort ›dilemma‹ (griech. δίλημμα) in der griechischen Umgangssprache ebenso wenig gegeben zu haben scheint wie das lateinische Wort ›dilemma‹ in der lateinischen Umgangssprache. In der griechischen Umgangssprache gab es aber immerhin die Vorsilben ›di‹ (griech. δί) oder ›dia‹ (griech. διά) für ›mittendurch‹ oder ›dazwischen‹ sowie das Wort ›lémma‹ (griech. λήμμα) für ›Einnahme, Gewinn, Vorteil, Trinkgeld‹. Das würde nun erwarten lassen, dass der zusammengesetzte Begriff ›dialemma‹ (griech. διάλημμα) so etwas wie ›zwischen zwei Vorteilen stehend‹ bedeutet haben könnte. Den einschlägigen Wörterbüchern zufolge bedeutet ›dialemma‹ tatsächlich aber umgangssprachlich ›Zwischenraum‹ oder auch ›Pause‹. 32 Damit scheint ein ›dialemma‹ ursprünglich so etwas wie eine Geschäftspause oder eine Pause in der Arbeit gewesen zu sein. Mit der griechischen Umgangssprache kommt man also nicht weiter. (2) Dem Sprachwissenschaftler Hans Poeschel zufolge soll es den griechischen Begriff ›dilemma‹ (griech. δίλημμα) jenseits der griechischen Umgangssprache im größeren Zusammenhang von »Fremdwörtern und Neubildungen« gegeben haben, die aus dem Verb ›lambáno‹ (griech. λαμβάνω) für ›nehmen, fassen, ergreifen, an sich nehmen‹ hervorgegangen sein sollen, welches wiederum dem lateinischen ›lambare‹ für ›berühren, umzingeln, bespülen‹ entlehnt worden sei. Zum Wortfeld der entlehnten Neubildungen habe zum Beispiel das Wort ›syllabé‹ (griech. συλλαβή) für ›Zusammennahme‹ gehört, was seine lateinische Entsprechung im Begriff ›syllaba‹ für ›Silbe‹ gehabt hätte. Außerdem sei der Begriff ›λήμμα‹ gebildet worden, der nach Poeschel jetzt nicht mehr ›Gewinn, Einnahme‹ bedeutet haben soll, sondern im Sinne einer Äquivokation vielmehr »alles, was man nimmt oder bekommt«. In der Dialektik sei schließlich auch eine »Annahme« oder ein »Vordersatz« (sprich: eine Prämisse) als ›lémma‹ (griech. λήμμα) bezeichnet worden. Daraus sei »bei späteren Autoren« (Namen nennt Porschel leider nicht) schließlich der Begriff ›dílemma‹ (griech. δίλημμα) für »Doppelannahme, Zwiespalt, Dilemma« entstanden. Weitere Begriffe des Feldes sind nach Poeschel der Begriff ›lepsis‹ (griech. ληψις) für ›Nehmen‹ oder Vgl. die entsprechenden Einträge in Langenscheidt Taschenwörterbuch Altgriechisch-Deutsch 1982 sowie in Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch 1908.
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(b) Der Ursprung des Begriffs in der Antike
›spilepsis‹ (griech. ςπίληψις) für ›Ergriffensein‹, woraus sich dann auch der Begriff ›Epilepsie‹ für ein ›Ergriffensein von Gott als heilige Krankheit‹ abgeleitet hätte. 33 Folgt man Poerchel, ist der Begriff ›dilemma‹ also ein umgangssprachlich nicht etabliertes Kunstwort der antiken Dialektik für »Doppelannahme, Zwiespalt, Dilemma«. (3) Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der griechische Begriff ›λήμμα‹ in seiner lateinischen Entsprechung ›lemma‹ nicht mehr ›Einnahme, Gewinn‹, sondern ›Satz‹ oder auch ›Epigramm‹ bedeutet, wobei ein ›Epigramm‹ ein pointiert verfasster Satz, ein Sinnspruch, aber auch ein bissig-knapper Spott sein kann. Der Duden übersetzt das in die lateinische Schreibweise übertragene griechische Adjektiv ›dilémmatos‹ mit der Formel ›aus zwei Sätzen bestehend‹ 34. Bei dieser Übersetzung fehlt mir jedoch erstens der Hinweis darauf, dass es sich bei den ›lemmata‹ nicht um irgendwelche Sätze, sondern um ›pointiert verfasste Sätze‹ bzw. um ›Sinnsprüche‹ handeln soll. Vor allem aber wird nicht erfasst, dass mit der griechischen Silbe ›δι‹ gesagt wird, dass jemand im Falle eines Dilemmas ›zwischen‹ zwei Sinnsprüchen stehen soll. Um einem solchen ›zwischen‹ Sinn zu verleihen, müssen die Sätze in gewisser Weise unvereinbar sein – ansonsten könnte man ja nicht ›zwischen‹ zwei Sätzen stehen. Brune übersetzt die Übertragung der griechischen Wortschöpfung ›di-lemma‹ (griech. δι-λημμα) in das lateinische ›dilemma‹ mit ›Doppelannahme‹. 35 Das lateinische Kunstwort ›dilemma‹ scheint also ebenso wie seine griechische Entsprechung ›δίλημμα‹ eine Situation beschrieben zu haben, in der jemand mit zwei pointiert verfassten Sätzen konfrontiert ist, die beide Gültigkeit beanspruchen, obwohl sie sich widersprechen. (4) Wissenschaftlich etabliert hat sich der lateinische Begriff ›dilemma‹ dann in der Logik der lateinischen Antike. 36 Unterschieden wurden Poeschel 1975, 177 f.; sowie Der kleine Stowasser 1971, 290. Duden 1994, 342. 35 Brune 2002, 325. 36 Vgl. zum Ursprung in der Antiken Logik den Artikel Dilemma in The Oxford Dictionary in Philosophy 1994; sowie den Artikel Dilemma in The Cambridge Dictionary of Philosophy 1995, 203; sowie den Artikel Dilemma in Ethymologisches Wörterbuch der Deutschen 1993, 226; sowie den Artikel Dilemma in Eislers Wörterbuch der Philosophie 1930, 274; sowie Brune 2002, 325; sowie Mau 1972, 247. Mau verweist weiterhin auf Bochénski 1951 sowie auf Mates 1953. Zum Tetralemma vgl. auch Mau 1966. Mau 33 34
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2. Zum Begriff
zwei Standardformen des logischen ›Dilemmas‹, nämlich das positive bzw. konstruktive Dilemma und das negative bzw. dekonstruktive Dilemma. (4.1) Das negative logische Dilemma ist eine Schlussform, die zeigt, dass das Ausbleiben von zwei unterschiedlichen Ereignissen ein und dieselbe Ursache hat. Es hat die Standardform: ((wenn q dann m oder n) und (wenn m dann r) und (wenn n dann s) und (non-r und non-s) also (non q)). Zur Veranschaulichung habe ich folgendes Beispiel erfunden: Wenn jemand im Lotto gewinnt (q), kann er zwischen einem sechsstelligen Betrag (m) oder einer Leibrente (n) wählen. Nehmen wir einmal an, dass wir es mit einer Person zu haben, die den sechsstelligen Betrag für eine Yacht (wenn m dann r) und die Leibrente für Kreuzfahrten in die Karibik (wenn n dann s) ausgeben würde. Falls diese Person zu einem Zeitpunkt x weder eine Yacht besitzt noch Kreuzfahrten unternimmt (non r und non s), kann man daraus schließen, dass sie nicht im Lotto gewonnen hat (non q). (4.2) Das positive logische Dilemma ist ein Fangschluss, der zeigt, dass zwei scheinbare Alternativen dieselben negativen Folgen haben. Es hat die Standardform: ((p oder non-p) und (wenn p dann q) und (wenn non-p dann q) also q). Im Historischen Wörterbuch der Philosophie findet sich folgendes Beispiel für ein positives logisches Dilemma: Wenn ein Soldat vor der Alternative zwischen einem ruhmvollen Sieg (p) und einem ruhmvollen Tod (non p) steht, wird ihm gezeigt, dass er sich für den Kampf (q) entscheiden muss, weil nur der Kampf beide Optionen bietet, entweder ruhmvoll zu sterben oder ruhmvoll zu siegen. Ein weiteres Beispiel ist der Streit zwischen Protagoras und Euathlus. Zwischen beiden bestand die Vereinbarung, dass Protagoras für seine Lehrtätigkeit bezahlt werden würde, sobald Euathlus seinen ersten Prozess gewonnen haben würde. Dieser strengt seinen ersten Prozess nun ausgerechnet gegen Protagoras wegen der vereinbarten Bezahlung an, so dass die Situation entsteht, dass Euathlus sowohl bezahlen muss, wenn er den Prozess verliert (weil er ja zur Bezahlung
widerspricht hier der These von Frenkian, dass die Ausführungen über das Tetralemma bei Sextus Empiricus mit der aristotelisch-griechischen Logik nicht in Einklang zu bringen seien und also aus einem indischen Einfluss stammen müssten. Zur Plausibilisierung dieser These wird verwiesen auf Frenkian 1957.
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(b) Der Ursprung des Begriffs in der Antike
verurteilt wird), als auch, wenn er den Prozess gewinnt (weil er ja dann seinen ersten Prozess gewonnen hätte). 37 (4.3) Hinzuzufügen ist schließlich auch, dass die Schlussform des ›dilemmas‹ in der Antike auch als ›syllogismus cornutus‹ bezeichnet wurde, was so viel wie ›gehörnter Syllogismus‹ bedeutet. Im Anschluss daran heißen die sich ausschließenden Alternativen eines ›Dilemmas‹ bis heute auch die ›Hörner‹ eines Dilemmas. Entfliehen kann man dem Dilemma der antiken Logik zufolge nur, indem man seine Prämissen bezweifelt. Das bedeutet im Falle des positiven Dilemmas, dass man entweder gegen die Prämisse eines tertium non datur (p oder non p) eine dritte Alternative finden oder das ›Dilemma beim Horn packen‹ und bezweifeln muss, dass aus p oder aus non-p tatsächlich zwangsläufig q folgt. Vergleichbar muss man im Falle des negativen Dilemmas bezweifeln, dass aus q im Sinne des tertium non datur nur m oder n folgen können, oder dass aus m zwangsläufig r und aus n zwangsläufig s folgen müssen (schließlich kann es ja sein, dass sich der glückliche Lottogewinner besonnen und mit seinem Geld etwas Vernünftiges angestellt hat). (5) Auffällig ist, dass in der lateinischen Logik zumindest im Falle des positiven Dilemmas plötzlich davon die Rede ist, dass mit beiden Optionen dieselben negativen Folgen verbunden sein sollen, während Poeschels Referenzautoren anscheinend noch neutral lediglich sich ausschließende Sätze und eben keine üblen Folgen vor Augen hatte. Es gibt nun in der altgriechischen Umgangssprache das Wort ›délema‹ (griech. δήλημα) für ›Verderben, Schaden‹. Obwohl ich mir darüber bewusst bin, dass meine nun folgende These auf einer sprachwissenschaftlich laienhaften Spekulation beruht, könnte ich mir vorstellen, dass der Begriff ›dilemma‹ keine simple Übernahme des griechischen Kunstworts ›dilemma‹ (griech. δίλημμα) war, sondern letztlich eine Neuschöpfung der mit der griechischen Sprache bekanntlich gut vertrauten lateinischen Logiker aus den beiden Begriffen ›délema‹ und ›dílemma‹. Ich halte das für möglich, weil ›délema‹ fast genauso klingt wie ›dílemma‹. Sollte ich Recht haben, wäre das von Bedeutung, weil das griechische ›délema‹ eine moralische Dimension hat. Tatsächlich beIch verdanke den Hinweis auf dieses Beispiel Thomas Spitzley während der Tagung Was tun, wenn alles falsch ist? am KWI (Essen) am 15. 7. 2011. Bei Mackie wird dieses ›logische Dilemma‹ als ›Paradox‹ diskutiert. Mackie 1973, 297 f.
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2. Zum Begriff
zieht sich das zugehörige Verb ›deléomai‹ (griech. δμλέομαι) für ›beschädigen, verletzen, vereiteln‹ nämlich dezidiert auf die Verletzung moralischer Güter: Weitere Bedeutungen dieses Verbs sind ›beleidigen‹, ›berauben‹, ›verwunden‹, ›töten‹, ›freveln‹ und das ›Brechen von Eidschwüren‹ 38. Damit scheint der Begriff ›dilemma‹ in der antiken Logik zumindest in der Variante des ›positiven Dilemmas‹ also einen Fangschluss bezeichnet zu haben, der zeigt, dass zwei sich ausschließende Handlungsalternativen zu denselben üblen (moralischen?) Folgen führen, ohne dass die Ausweichmöglichkeit einer dritten Handlungsoption ohne diese üblen Folgen gegeben wäre. Weil es in der gegenwärtigen Literatur keine Rolle spielt, möchte ich das ›logische Dilemma‹ der antiken Logik (vgl. 2.a) nur in einer Hinsicht vom ›echten Dilemma‹ unterscheiden, die mir allerdings besonders wichtig zu sein scheint. Wie oben skizziert, bezeichnet der antike Begriff des ›positiven Dilemmas‹ einen Fangschluss, der demonstrieren soll, dass zwei sich ausschließende Handlungsalternativen zu denselben üblen Folgen führen, ohne dass die Ausweichmöglichkeit einer dritten Handlungsoption ohne diese üblen Folgen gegeben wäre. Angesichts dieser Grundstruktur kann es in meinen Augen keinen Zweifel geben, dass die antike Schlussform eingesetzt wurde, um in einer entsprechenden praktischen Situation den Aufweis zu erbringen, dass jedes Abwägen und alle Überlegungen überflüssig sind, weil alle möglichen Handlungsalternativen ja doch auf ein und dasselbe Übel hinauslaufen. Würde man eine solche Haltung nun aber im Falle eines echten Dilemmas wie des Sterbehilfedilemmas beispielsweise (s. o.) einnehmen, wäre das blanker Zynismus. Der antike Fangschluss soll zu einem gelassenen Fatalismus führen, der im Falle eines echten Dilemmas völlig fehl am Platz wäre. Die zynische Idee, dass es im Sinne des antiken Fatalismus gleichgültig sein könnte, welche Entscheidung getroffen wird, sollte im Falle eines echten Dilemmas zumindest dann gar nicht erst aufkommen, falls es sich nicht um ein banales echtes Dilemma handeln sollte (vgl. 2.f).
Vgl. die entsprechenden Einträge in Langenscheidt Taschenwörterbuch Altgriechisch-Deutsch 1982, 100; sowie in Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch 1908, 191.
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(c) Synonyme in der Umgangssprache
(c) Synonyme in der Umgangssprache Im nächsten Schritt möchte ich das Verhältnis des ›echten Dilemmas‹ zu den Synonymen der Umgangssprache klären, die auffällig viele verschiedene Synonyme anbietet. (1) Ruth B. Marcus zufolge verstehen wir unter einem ›Dilemma‹ umgangssprachlich eine ›missliche Lage‹ (engl. predicaments). 39 Nun befindet man sich allerdings auch in einer misslichen Lage, wenn man seine Schulden nicht zurückzahlen kann oder etwas gegessen hat, was man nicht verträgt. Demnach ist der umgangssprachliche Begriff ›missliche Lage‹ sehr viel weiter als Nagels Begriff vom ›echten Dilemma‹ : Ein ›echtes Dilemma‹ ist eine spezielle Spielart der ›misslichen Lagen‹, nämlich eine Lage, die misslich ist, weil sich der Protagonist zu einer Entscheidung zwischen zwei sich ausschließenden Handlungsfolgen gezwungen sieht, die jeweils dieselbe üble Folge hätten, ohne dass es einen dritten Weg im Sinne eines Auswegs gäbe (s. o.). Ein ›echtes Dilemma‹ als ›schwierige Lage‹ zu bezeichnen, ist also nicht falsch, aber auch nicht deutlich. (2) Man kann umgangssprachlich auch sagen, dass man ›in der Patsche‹ sitzt, wenn jemand in einem ›Dilemma‹ steckt. Eine ›Patsche‹ kann zunächst einmal eine Babyhand sein. Das ist zweifellos nicht einschlägig, weil niemand sagen will, dass sich jemand, der in einem ›echten Dilemma‹ steckt, in einer Babyhand befindet. Eine ›Patsche‹ kann aber auch eine schlammige Wasserlache sein. Wiederum kann nicht in einem wörtlichen Sinne gemeint sein, dass derjenige, der sich in einem Dilemma befindet, in einer schlammigen Wasserlache sitzt. Wenn nicht gerade Hochsommer ist, kann es allerdings sehr unangenehm sein, in einer schlammigen Wasserlache zu sitzen. Vergleichbar unangenehm ist es, in einem ›Dilemma‹ im Sinne der antiken Logik zu stecken. Das Unangenehme einer schlammigen Wasserlache wird in meinen Augen jedoch davon überwogen, dass man vermutlich ziemlich lächerlich aussieht, wenn man in einem wörtlichen Sinne in einer ›Patsche‹ sitzt. Deshalb sollte man umgangssprachlich mit dem Begriff ›Patsche‹ nur die harmlosen Fälle des ›Dilemmas‹ bezeichnen. Würde man hingegen
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2. Zum Begriff
sagen, dass Agamemnon ›in der Patsche gesessen‹ habe, würde man dem Ernst seiner Situation zweifellos nicht gerecht. (3) Dem sollensbasierten Begriff des Dilemmas (vgl. 2.a) entspricht wohl am ehesten das umgangssprachliche Synonym ›Klemme‹. Eine ›Klemme‹ ist ein Gerät, mit dem man etwas zusammenpressen oder zusammenhalten kann, indem man es zwischen die beiden Bügel der Klemme steckt. Meistens taucht der Begriff in zusammengesetzter Form als ›Haarklemme‹, ›Papierklemme‹ oder ›Rohrklemme‹ auf, je nachdem, was mit der jeweiligen Klemme zusammengepresst werden kann. Wenn man sagt, jemand steckt in der Klemme, redet man metaphorisch, weil man nicht wörtlich meint, dass jemand zwischen zwei Bügeln zusammengepresst wird. Das Synonym entspricht dem sollensbasierten Begriff des ›Dilemmas‹, der ja besagt, dass man zwischen zwei Sollensanforderungen ›eingeklemmt‹ ist, weil man beiden nachkommen sollte, obgleich man beiden nicht nachkommen kann. (4) Wenn man nach einer metaphorischen Entsprechung für Nagels Begriff vom ›echten Dilemma‹ sucht, würde sich die Redeweise von einer ›Zwickmühle‹ anbieten. Der Begriff stammt aus dem Kontext des sogenannten Mühle-Spiels und bezeichnet eine Stellung, in der man einen Stein setzen kann, wie man will: Er wird immer in einer Mühle des Gegners gefangen werden, womit er verloren ist. Wenn man umgangssprachlich also sagt, dass der Protagonist eines moralischen Dilemmas in einer ›Zwickmühle‹ steckt, trifft man gleich zwei wesentliche Aspekte des ›Dilemmas‹ : zum einen nämlich den Aspekt, dass für beide Handlungsalternativen vergleichbar gewichtige Gründe sprechen, und zum anderen den Aspekt, dass man eine Entscheidung für eine Handlungsoption treffen muss, wenn man – um im Bild zu bleiben – das Spiel nicht abbrechen will. 40 Das Ethymologische Wörterbuch der Deutschen von 1993 definiert das Dilemma als eine Situation, die eine Person mit einem »Entscheidungszwang zwischen zwei wirklichen Übeln« konfrontiert. Ethymologisches Wörterbuch der Deutschen 1993, 226; vgl. im selben Sinne auch Duden 1994, 342. Vergleichbar definiert der Wahrig das Dilemma als eine »Zwangslage zwischen zwei Übeln«. Deutsches Wörterbuch 1966, 348. Das Bertelsmann Handlexikon spricht von einer »Zwangslage«, die »eine Entscheidung zwischen zwei gleich ungünstigen Möglichkeiten fordert«. Bertelsmann Handlexikon 1975, 264. Bei diesen Definitionen handelt es sich nicht um Synonyme, sondern um umgangssprachliche Erläuterungen dessen, was Nagels philosophisch-technischer Be-
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(d) Synonyme in der philosophischen Wissenschaftssprache
(d) Synonyme in der philosophischen Wissenschaftssprache Wenn Thomas von Aquin von den Situationen spricht, die Gegenstand einer Philosophie des moralischen Dilemmas sind, verwendet er nicht den Begriff ›dilemma‹, sondern den kirchenlateinischen Begriff ›perplexio‹. Bei Brune heißt es mit Verweis auf Kannetzky, dass der Begriff ›Dilemma‹ in der »Bildungssprache« auch für ein »unauflösbar scheinendes Problem« stünde und hier insofern »sinnverwandt mit ›Aporie‹ und ›Paradox‹« gebraucht würde. Brunes Diagnose bezüglich der bildungssprachlichen Usancen des Begriffsgebrauchs ist sicherlich richtig. Von der Sache her sollte der Begriff ›Dilemma‹ aber sowohl von der ›Aporie‹ als auch von der ›Perplexio‹, vom ›Paradox‹ und von der ›Antinomie‹ als den wohl wichtigsten Synonymen der philosophischen Wissenschaftssprache unterschieden werden. 41 Vor allem aber muss der Begriff vom sehr viel weiteren Begriff des ›praktischen Konflikts‹ abgegrenzt werden. (1) Mothersill kritisiert zu Recht, dass die im angelsächsischen Sprachraum dominierende sollensbasierte Definition des Dilemmas so weit sei, dass sie praktische Konflikte generell umfassen würde. 42 Dasselbe scheint auf den ersten Blick auch für den in Anlehnung an Nagel entwickelten Begriff des ›echten Dilemmas‹ zu gelten, dem zufolge unter einem ›echten Dilemma‹ eine Situation verstanden werden soll, in der sich ein Akteur für zwei sich ausschließende Handlungsalternativen entscheiden muss, für die jeweils vergleichbar gewichtige Gründe sprechen, ohne dass es einen glücklichen Ausweg im Sinne einer dritten Handlungsoption gäbe. Nun ist jedes ›echte Dilemma‹ tatsächlich ein praktischer Konflikt. Im Rückblick auf die in 2.a schon entfalteten Implikationen des Begriffs ›echtes Dilemma‹ zeigt sich jedoch schnell, dass nicht jeder praktische Konflikt ein ›echtes Dilemma‹ ist. Es muss sich vielmehr im Zuge eines Reflexionsprozesses im Sinne einer moralphilosophischen Anamnese erst erweisen, ob es sich bei einem praktischen Konflikt um den Spezialfall des ›echten Dilemmas‹ handelt, weil sich das echte Dilemma insbesondere durch zwei Merkmale von anderen griff des ›echten Dilemmas‹ impliziert. Deshalb werde ich sie nicht weiter thematisieren. 41 Brune 2002, 325. Verweis auf Kannetzky 1999. 42 Mothersill 1996, 66 ff. Das moralische Dilemma
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2. Zum Begriff
Spielarten praktischer Konflikte unterscheidet, die nicht immer gleich offen zu Tage liegen. (1.1) So soll es im Falle eines echten Dilemmas anders als in anderen Fällen praktischer Konflikte keinen glücklichen Ausweg geben (vgl. 2.a). Das bedeutet mit Blick auf eine Unterscheidung echter Dilemmata von anderen Spielarten praktischer Konflikte, dass geprüft werden muss, ob es jenseits der beiden Handlungsalternativen tatsächlich keinen dritten Ausweg gibt, bevor ein praktischer Konflikt ein ›echtes Dilemma‹ genannt wird. Schon diese Feststellung setzte intensive Reflexion voraus, weil Auswege aus praktischen Konflikten häufig nicht offen zu Tage liegen, weshalb man immer den Vorbehalt machen sollte, dass der glückliche Ausweg bislang schlicht nicht erkannt worden ist, bevor man die Diagnose ›echtes Dilemma‹ fällt. (1.2) Vor allem aber sollen die Handlungsgründe, die für die sich ausschließenden Handlungsalternativen sprechen, im Falle echter Dilemmata ja von vergleichbarem Gewicht sein. Dass diese Feststellung nur nach intensiver Reflexion getroffen werden kann, bedarf keiner weiteren Erläuterung, weil es schließlich keine objektive Messlatte gibt, mit der sich das Gewicht von Handlungsgründen feststellen ließe. (2) Der kirchenlateinische Begriff ›perplexio‹ bedeutet ›Verwirrung, Verstrickung‹. Er geht auf das lateinische ›perplexus‹ für ›verschlungen, verworren, verwickelt, unklar, dunkel‹ zurück. 43 Thomas von Auqin verwendet diesen Begriff, um zu betonen, dass die Situationen, von denen die Rede ist, eine Verstrickung in Sünde und Schuld bedeuten. Laut Spaemann bezeichnet Thomas von Aquin mit diesem Begriff eine »Situation, in der sich jemand zweier gegensätzlicher Normen gegenüberzustehen und in jedem Fall, welche Norm er auch befolgt, eine Sünde zu begehen meint« 44. Ob ein Akteur mit einer Dilemma-Entscheidung eine ›Sünde‹ in dem Sinne begeht, dass er objektiv Schuld auf sich laden würde, ist im Kontext der Philosophie des moralischen Dilemmas jedoch strittig (vgl. 6.b.2), zumal von ›Schuld‹ auch nur im Falle eines moralischen Dilemmas (vgl. 2.f) die Rede sein könnte. Insofern ist der kirchenlateinische Begriff ›perplexio‹ mit Nagels Begriff des ›echten Dilemmas‹ nicht in vollem Umfang deckungsgleich. Der kleine Stowasser 1971, 370. Vgl. zum Begriff ›perplexio‹ ausführlicher auch Dougherty 2011, 6 ff. sowie a. a. O. 112–168 zur ›perplexio‹ bei Thomas von Aquin. 44 Spaemann 2001, 12. 43
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(d) Synonyme in der philosophischen Wissenschaftssprache
(3) Der Begriff ›Paradox‹ stammt ebenfalls aus der altgriechischen Umgangssprache. Das Adjektiv ›parádoxos‹ (griech. παράδοξος) bedeutet hier ›unerwartet, befremdlich, sonderbar‹. Es hat seinen Ursprung in der Vorsilbe ›pará‹ (griech. παρά) für ›neben, gegen‹ und dem griechischen Wort ›dóxa‹ (griech. δοξα) für ›herrschende Meinung, Erwartung‹. Demnach ist dasjenige ›paradox‹, was intellektuell verwirrt, weil es den gängigen Erwartungen nicht entspricht oder der herrschenden Meinung entgegengesetzt ist. (3.1) Umgangssprachlich kann der Begriff ›Paradox‹ etwas Absonderliches, Abnormes und Rätselhaftes bezeichnen, das in einer Raritätenshow beispielsweise ausgestellt werden könnte. In dieser Bedeutung ist der Begriff im Rahmen einer Philosophie des moralischen Dilemmas offensichtlich nicht einschlägig: Dilemmata gehören zur alltäglichen moralischen Praxis und sind keine seltenen Abnormitäten. So klar der Begriffsursprung in der Umgangssprache ist, so schwer fällt eine Eingrenzung der philosophischen Bedeutungen von ›Paradox‹, weil der Begriff in unterschiedlichen philosophischen Kontexten unterschiedlich verwandt wird. (3.2) Der Topik des Aristoteles zufolge ist ein ›Paradoxon‹ ein unsinniges Scheinprobleme, mit dem man sich im Gegensatz zur ›Aporie‹ (vgl. 2.d) nicht auseinandersetzen muss, weil es auf Behauptungen beruht, die sowieso »niemand für wahr hält« 45. Ein unsinniges Scheinproblem ist ein Dilemma nicht; also ist der Begriff ›Paradox‹ auch in dieser Bedeutung nicht einschlägig. (3.3) Als ›Paradoxa‹ werden jedoch auch Situationen bezeichnet, in denen etwas der Fall sein soll, obwohl gleichzeitig auch sein Gegenteil der Fall sein soll, was den Gesetzen der Logik zufolge ja eigentlich nicht möglich sein kann. Das bekannteste Beispiel der Philosophiegeschichte ist das Paradox des lügenden Kreters, dass entstünde, falls ein fiktiver Kreter behaupten würde, dass alle Kreter lügen. In dieser Weise verwendet, ist der Begriff ›Paradox‹ nun zumindest dann einschlägig, wenn man den deontischen Widerspruch [O (a & :a)] ins Auge fasst, der sich der deontischen Logik zufolge aus der Prämisse des moralischen Dilemmas ableiten lassen soll (vgl. 5.a.2.2). Hier scheint es tatsächlich zumindest strukturelle Parallelen zum Paradox zu geben: Während man im Falle des deontischen Widerspruches ein und dassel-
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Aristoteles 1995b, 172b31–34, 104a8–11, 180b2–7.
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2. Zum Begriff
be tun und nicht tun soll, soll in einer ›paradoxen Situation‹ dasselbe sowohl der Fall als auch nicht der Fall sein. (4) Ein weiterer Kandidat für ein Synonym aus der philosophischen Wissenschaftssprache ist die ›Aporie‹. Dem altgriechischen Begriff ›aporia‹ (griech. απορία) liegt die Vorstellung eines Weges zugrunde, der entweder nur schwer oder überhaupt nicht zu passieren ist. 46 Der Begriff ist aus einem verneinenden ›alpha privativum‹ und dem Wort ›póros‹ (griech. πόρος) zusammengesetzt, das wörtlich ›Furt, Durchgang, Weg‹ und in einem übertragenen Sinn ›Hilfe‹, ›Hilfsquelle‹ oder ›Erwerb‹ bedeutet. In wörtlicher Verwendung bedeutet das Adjektiv ›aporetisch‹, also ›schwer zu passieren‹ oder auch ›völlig unzugänglich‹. In einem ersten übertragenen Sinn kann das Adjektiv im Altgriechischen auch auf menschliche Zustände angewandt werden und die Situation eines wegen seiner Mittellosigkeit hilfsbedürftigen Menschen kennzeichnen: Wenn das Adjektiv ›apóros‹ (griech. απόρος) mit einem Infinitiv kombiniert wird, bedeutet es ›zu arm sein, um etwas zu tun‹. In einem zweiten übertragenen Sinn bedeutet es ›verworren‹ oder ›ratlos‹. Das Substantiv ›Aporie‹ kann im Altgriechischen dementsprechend sowohl ›Bedürftigkeit‹ als auch ›intellektuelle Verwirrung‹ bzw. ›Ratlosigkeit‹ bedeuten. 47 In philosophischen Kontexten ist die zweite Bedeutung einschlägig, wobei sich bei näherer Hinsicht wiederum drei Verwendungsweisen unterscheiden lassen. (4.1) Die erste Verwendungsweise geht auf Sokrates zurück. In den frühen Dialogen Platons bezeichnet der Begriff einen Zustand der intellektuellen Ratlosigkeit, der durch die Konfrontation mit schwierigen oder gar unlösbaren philosophischen Problemen entsteht, der gegenüber dem Ursprungszustand eines nicht bewussten Nichtwissens aber einen Fortschritt darstellt, weil derjenige, der sich in einem aporetischen Zustand befindet, ja zumindest weiß, wo die Grenzen seines Wissens liegen bzw. dass sein Wissen überhaupt Grenzen hat. 48 Damit ist der Unterschied zu einem ›Dilemma‹ schon benannt: Während der aporetische Zustand bei aller unangenehmen Verwirrung einen GeVgl. zum Begriff ›Aporie‹ ausführlicher auch Raters 2011b. Vgl. dazu Langenscheidt Taschenwörterbuch Altgriechisch-Deutsch 1982, 60 f.; sowie Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch 1908, 109; sowie Waldenfels 1961, 13 f. 48 Einschlägig sind der Dialog Menon und die Apologie. Vgl. Platon 1958d, 79b–80d, 82c–85b,100b; sowie Platon 1958e, 26b, 21a, 23a5–23b4. 46 47
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(d) Synonyme in der philosophischen Wissenschaftssprache
winn darstellt (nämlich einen Erkenntnisgewinn), bedeutet ein Dilemma für seinen Protagonisten neben dem Erkenntnisgewinn (den die Diagnose ›Dilemma‹ zweifellos ebenfalls darstellt; vgl. das Charmenides-Argument in 8.c.1.1) auch, dass er vor einem sehr schwierigen, wenn nicht sogar unlösbaren Problem steht. (4.2) Von einer ›Aporie‹ kann zweitens die Rede sein, wenn ein schwieriges philosophisches Problem exponiert wird, das es zu lösen gilt. Vor allem Aristoteles hat den Begriff in dieser Weise verwendet und damit Weichen gestellt: Seit Aristoteles haben Aporien in philosophischen Abhandlungen in der Regel den Stellenwert einer Einleitung in eine Problemlage und einer hinführenden Vorabklärung der später zu diskutierenden Fragen. Entscheidend ist, dass die ›Aporie‹ im Falle dieser Begriffsverwendung als ein zwar schwieriges, aber eben doch zu lösendes intellektuelles Problem aufgefasst wird. In diesem Zusammenhang scheint mir der Hinweis darauf wichtig zu sein, dass ein ›Dilemma‹ keine handlungsentlastete intellektuelle Situation ist, sondern eine praktische Situation mit unmittelbarem Handlungs- und Entscheidungsdruck und mit ganz konkreten schmerzlichen Handlungsfolgen. Zumindest deshalb scheint mir die Rede vom ›echten Dilemma‹ als ›Aporie‹ im Sinne eines schwierigen intellektuellen Problems, das am Beginn einer philosophischen Untersuchung in seinen Details ausbuchstabiert werden sollte, verfehlt zu sein. (4.3) Eine ›Aporie‹ kann drittens aber auch eine völlige ›Ausweglosigkeit‹ des Denkens bezeichnen, nämlich ein philosophisches Problem, das sich als unlösbar darstellt, weil sich mehrere gleich gut begründbare Lösungen anbieten, die sich jedoch gegenseitig ausschließen. 49 Dann handelt es sich um eine ›echte Aporie‹, welche in manchen Kontexten auch als ›Antinomie‹ bezeichnet wird. Wie im ersten Kapitel dargestellt, lässt sich die angelsächsische Debatte auch auf den Nenner bringen, dass strittig war, ob das (unauflösbare) moralische Dilemma Eine echte Aporie ist demnach kein Überzeugungskonflikt von der Art, wie ihn Bernard Williams in seiner Abhandlung Ethical Consistency von 1965 untersucht. In den von Williams betrachteten Überzeugungskonflikten stellt sich nämlich eine der beiden miteinander konkurrierenden Überzeugungen durch kritische Reflexion als falsch heraus, wodurch sie ihren Charakter als Überzeugung verliert. Williams 1965a, 268–271. Genau das ist bei einer echten Aporie (bzw. Antinomie) nicht zu erwarten, weil in einer echten Aporie ja für beide konkurrierenden Überzeugungen gleich gute bzw. gleich vernünftige Gründe sprechen. Vgl. zu Williams’ Unterscheidung von Überzeugungs-, Wunsch- und moralischen Konflikten ausführlicher 6.d.
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2. Zum Begriff
nicht als ›Antinomie der Praktischen Vernunft‹ betrachtet werden müsse. Wird unter einer ›Aporie‹ also eine ›echte Aporie‹ im Sinne einer ›Antinomie‹ verstanden, ist der Begriff im Sinne Brunes tatsächlich ›sinnverwandt‹. 50 (5) Der Begriff ›Antinomie‹ stammt von dem altgriechischen Adjektiv αντί-νομος (antí-nomos), das in wörtlicher Übersetzung ›gegen das Gesetz‹ bedeutet. ›Das Gesetz‹, das in philosophischen Kontexten zur Debatte steht, ist ›das Gesetz der Vernunft‹ : Unter einer ›Antinomie‹ wird in philosophischen Kontexten ein Widerstreit der Vernunft mit sich selbst verstanden, der entsteht, wenn sich auf eine Frage zwei kontradiktorische Antworten geben lassen, die sich den Gesetzen des vernünftigen Denkens entsprechend jeweils in gleicher Weise als richtig bzw. wahr bzw. gültig ausweisen lassen. Kennzeichnend für die Antinomie ist eine Ausweglosigkeit des Denkens: Es steht ein Problem zur Disposition, das sich mit Mitteln der Vernunft nicht lösen lässt, weil es die Vernunft in einen Widerstreit mit sich selbst führt. Antinomien sind Probleme, durch welche die theoretische Vernunft an ihre Grenzen geführt wird. Es handelt sich um Probleme, vor denen sie kapitulieren muss, weil es zwei gleich gut begründete Antworten zu geben scheint, die sich aber gegenseitig ausschließen, so dass die theoretische Vernunft weder eine Gewichtung zugunsten der einen oder der anderen Lösung vornehmen noch eine Synthese aus beiden Lösungen bilden könnte. Obwohl nur Probleme der Theoretischen Philosophie als ›Antinomien‹ bezeichnet werden, lässt sich das Kernproblem der angelsächsischen Debatte dennoch mit der Frage zusammenfassen, ob das moralische Dilemma als eine Art ›Antinomie der Praktischen Vernunft‹ anzusehen sei, durch welche die Praktische Vernunft ebenso in ihre Grenzen verwiesen würde wie die Theoretische Vernunft durch die theoretischen Antinomien. Damit kommt unter den wissenschaftlichen Synonymen der ›Antinomie‹ ein besonderer Stellenwert zu.
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Vgl. zum Begriff der ›Antinomie‹ ausführlicher auch Raters 2011b.
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(e) Das symmetrische Dilemma, das strategische Dilemma und schmutzige Hände
(e) Das symmetrische Dilemma, das strategische Dilemma und das Dilemma der schmutzigen Hände Nagel führt seine Definition des ›echten Dilemmas‹ unter anderem deshalb ins Feld, um sie von Entscheidungssituationen abzugrenzen, die schwierig sind, weil der Protagonist nicht genau wissen kann, mit welchen Risiken und Chancen beide Optionen jeweils verbunden sind. Als Beispiel führt er das Beispiel einer krebskranken Frau ein, die sich zwischen einer schmerzhaften Chemotherapie und einer komplizierten Operation entscheiden muss, ohne dass ihr die Ärzte sagen könnten, wie erfolgversprechend bzw. wie risikoreich die beiden Optionen tatsächlich sind. (1) Damit spricht Nagel diejenigen Dilemmata an, die in der Literatur üblicherweise als ›strategische Dilemmata‹ diskutiert werden. 51 Das Standardbeispiel für das strategische Dilemma ist das sogenannte ›Gefangenendilemma‹. In diesem Dilemma geht es um die Situation von zwei Verdächtigen, denen man ein schweres Verbrechen, das sie gemeinsam begangen haben sollen, nicht nachweisen kann, weshalb die Polizei sie in getrennte Zellen sperrt und beiden das Angebot macht, durch ein Geständnis Strafminderung oder vielleicht sogar Straffreiheit erwirken zu können. Falls beide das Geständnis verweigern sollten, werden beide wegen eines kleineren Verbrechens relativ gering bestraft. Falls beide gestehen, werden beide wegen des schweren Verbrechens verurteilt, wobei das Geständnis leicht strafmildernd wirkt. Wenn jedoch nur einer gesteht und der andere nicht, dann wird der Geständige als Kronzeuge freigesprochen, während der andere zur Höchststrafe verurteilt wird. 52 (1.1) Ein erster Unterschied zum echten Dilemma besteht darin, dass die Sache für die Protagonisten im Falle des strategischen Dilemmas gut oder schlecht ausgehen kann, während eine echte DilemmaEntscheidung per se schlecht ausgehen muss, weil für beide HandNagel 1977, 181. Vergleichbare Abgrenzungen zwischen echten und strategischen Dilemmata finden sich in explizitem Anschluss an Nagel auch in Gowans 1987, 29; sowie in Brune 2002, 325. 52 Vgl. zu diesem Szenario Luce u. a. 1957, 95. Eine Wiedergabe findet sich in Nida Rümelin u. a. 2000, 95. Das Gefangenendilemma interessiert vor allem in der Entscheidungs- und in der Spieltheorie. Als Standardwerk dazu gilt Axelrof 1984. Brune verweist in Brune 2002 außerdem auf Gauthier 1987. 51
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2. Zum Begriff
lungsalternativen ja vergleichbar gewichtige Gründe sprechen, ohne dass es einen glücklicheren dritten Ausweg gäbe. (1.2) Ein zweiter Unterschied besteht darin, dass der Protagonist eines ›echten Dilemmas‹ über alle relevanten Informationen verfügt und der Protagonist eines ›strategischen Dilemmas‹ nicht. Während die Protagonisten eines echten Dilemmas genau wissen (oder zumindest nach angemessener Überlegung genau wissen können), was mit beiden Optionen jeweils auf dem Spiel steht und von welcher Art und von welchem Gewicht die Handlungsgründe sind, muss der Protagonist eines strategischen Dilemmas unter der Bedingung der »Ungewissheit« 53 über die Faktenlage entscheiden. Der Protagonist eines Sterbehilfedilemmas weiß, was für eine schnelle Tötung des leidenden Menschen und was für ein qualvolles Am-Leben-Erhalten spricht. Die Protagonisten des Gefangenendilemmas wissen hingegen nicht, wie sich der jeweils andere Gefangene verhält, obwohl sie genau das wissen müssten, um die situativ für sich selbst beste Entscheidung treffen zu können. Würde der Protagonist eines strategischen Dilemmas über solche Informationen verfügen, läge seine Entscheidung klar auf der Hand. Im Gegensatz dazu verfügt der Protagonist eines ›echten Dilemmas‹ über alle relevanten Informationen. Seine Entscheidung gestaltet sich schwierig, weil für beide Handlungsoptionen vergleichbar starke Gründe sprechen. (2) Wie oben schon erwähnt (vgl. 2.a.2), grenzt Nagel das ›echte Dilemma‹ auch von Situationen ab, in denen sich die Gründe für die beiden Optionen »im Gleichgewicht« 54 befinden sollen. Solche Situationen werden in der Literatur gemeinhin 55 als ›symmetrische Dilemmata‹ bezeichnet. Das Standardbeispiel ist ›Buridans Esel‹, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, bei welchem er zu fressen beginnt. 56 Der Unterschied zum ›echten Dilemma‹ Auf die »Ungewissheit« in Bezug auf die Faktenlage im Falle des strategischen Dilemmas legt Thomas Nagel großes Gewicht. Nagel 1977, 181. 54 Nagel 1977, 181. 55 Das Etikett ›symmetrisches Dilemma‹ verwenden beispielsweise Sinnott-Armstrong 1988, 56 ff.; sowie Brune 2002, 330. 56 In der Anmerkung 2 dieses Kapitels 2 finden sich weitere Beispiele, nämlich SinnottArmstrongs Beispiel der äthiopischen Mutter sowie Marcus’ Modifikation der Situation des Sophie-Dilemmas. Vgl. Anm. 2 mit Verweis auf Sinnott-Armstrong 1988, 58; sowie auf Marcus 1980, 192. 53
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(e) Das symmetrische Dilemma, das strategische Dilemma und schmutzige Hände
ist schnell benannt: Während im echten Dilemma für die beiden sich ausschließenden Handlungsoptionen vergleichbar starke Gründe unterschiedlicher Art sprechen, sprechen im Falle des symmetrischen Dilemmas identische Gründe für beide Handlungsoptionen. (2.1) Fraglich wird dadurch natürlich, ob ein Abwägen im Falle des symmetrischen Dilemmas nicht ebenso sinnlos ist wie im Falle des logischen Dilemmas der Antike. In diesem Sinne heißt es bei Thomas Nagel, dass es im Falle des symmetrischen Dilemmas als »belanglos« gelten könne, »welche Entscheidung man trifft«, weshalb »in der Willkürlichkeit«, mit der nach Nagel letztlich alle Dilemmata entschieden werden müssen, im Falle des symmetrischen Dilemmas »kein Problem« 57 bestünde. Nach Feldmann sind symmetrische Dilemmata keine echten Dilemmata, weil es keine Entscheidungsunsicherheit gäbe. Schließlich sei im Falle des symmetrischen Dilemmas ja per se klar, dass zumindest eine der beiden Handlungsoptionen durchgeführt werden müsse, wobei es letztlich gleich sei, für welche man sich entscheidet. 58 Mit dem Argument, dass Sophie beispielsweise »faktisch keinerlei Spielraum für gute Gründe gegeben« sei, bestreitet Brune sogar, dass symmetrische Dilemmata überhaupt Dilemmata seien, weil man ohne Spielraum für das Abwägen von Gründen nicht mehr von einer praktischen »Entscheidungssituation« sprechen könne, was für das ›Dilemma‹ jedoch konstitutiv sei. 59 (2.2) Um diese Auffassung zu unterstützen, könnte man den Fall dahingehend zuspitzen, dass es sich bei den beiden Kindern von Sophie sogar um eineiige (sprich: genetisch identische) Zwillinge handeln soll. 60 Damit scheint tatsächliches ein symmetrisches Dilemma vorzuliegen. Weil jedoch selbst eineiige Zwillinge niemals schlicht ›gleich‹ sind, fordert die Situation aller scheinbaren ›Symmetrie‹ der Handlungsgründe zum Trotz eben doch ein Abwägen. Das bedeutet, dass selbst durch die drastische Modifikation aus dem Sophie-Dilemma kein Nagel 1977, 181. Feldman 1986, 201 f. 59 Brune 2002, 330. 60 Ruth B. Marcus modifiziert das Sophie-Dilemma in dieser Weise. Damit will sie jedoch nicht zeigen, dass das modifizierte Sophie-Dilemma kein symmetrisches Dilemma ist. Sie will (als Parteigängerin von Bernard Williams) vielmehr zeigen, dass es entgegen der Vorannahmen des monistisch-rationalistischen moralischen Realismus im Sinne Kants moralische Konflikte gibt, für die es keine eindeutige Lösung gibt. Marcus 1980, 192. 57 58
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2. Zum Begriff
symmetrisches Dilemma im strengen Begriffssinn geworden ist, sondern dass es sich vielmehr immer noch um ein ›echtes Dilemma‹ im oben (vgl. 2.a.2) entfalteten Sinn des Begriffs handelt. Das wiederum bedeutet nun nicht, dass gegen Brune u. a. der Schluss gezogen werden sollte, dass Abwägungen im Falle symmetrischer Dilemmata doch erforderlich sind. Die Tatsache, dass es schwierig zu sein scheint, ein halbwegs interessantes symmetrisches Dilemma zu konstruieren, gibt vielmehr dem Verdacht Nahrung, dass das symmetrische Dilemma eine theoretische Konstruktion ist, die in der alltäglichen moralischen Praxis keine moralphilosophisch interessante Entsprechung hat. (3) Das ist nun ausdrücklich nicht der Fall bei den Problemen, die in der Literatur gemeinhin unter dem Etikett ›Problem der schmutzigen Hände‹ diskutiert werden. 61 Verwandt wird dieses Etikett, wenn sich ein politischer Verantwortungsträger vor die Entscheidung gestellt sieht, etwas tun oder veranlassen zu müssen, was sowohl seinen eigenen als auch den in seinem politischen Kontext etablierten Moralvorstellungen massiv widerspricht. Das Standardbeispiel der einschlägigen Autoren der angelsächsischen Debatte ist die Situation, in der Truman entscheiden musste, ob er japanische Städte durch Atombomben ausradieren lassen sollte oder nicht. 62 Vom Problem der ›schmutzigen Hände‹ spricht man nun ausschließlich, wenn gegen die Handlung bzw. Entscheidung, zu der sich der Verantwortungsträger gezwungen sieht, ein gewichtiger moralischer Handlungsgrund spricht. 63 Wie Monika Betzler in ihrem luziden Artikel Schmutzige Hände von 2008 treffend Der ›Klassiker‹ zu dieser Debatte ist bis heute sicherlich Max Webers Abhandlung Politik als Beruf von 1919 (Weber 1919). Vgl. für weitere interessante Aspekte und weiterführende Literaturhinweise auch Celikates 2011 sowie Boshammer 2008 sowie Betzler 2008 (insb. 1154). 62 Vgl. Nagel 1971. Nagel bezieht sich auf Anscombe 1958. Eine Antwort auf Nagel findet sich in Hare 1972. Auf Hare wiederum antwortet Walzer 1973. Vgl. auch Kapitel 4, Anm. 3. Auf den viel diskutierten politischen Einwand, dass Truman für seine Entscheidung tatsächlich gar nicht den vorgeschobenen Grund hatte, den Krieg beenden zu wollen, sondern vielmehr durch die schreckliche Bombe Amerikas Vorrangstellung in der Welt begründen wollte, kann ich hier nicht eingehen. 63 Damit ist auch das Agamemnon-Dilemma eigentlich ein Dilemma der schmutzigen Hände (obwohl es in der Literatur gemeinhin als echtes Dilemma diskutiert wird), weil es für Agammemnon als Feldherrn wohl von vornherein festgestanden haben dürfte, dass er seine Tochter opfern würde. Den Hinweis darauf verdanke ich Robin Celikates während der Tagung Was tun, wenn alles falsch ist? am KWI (Essen) am 15. 7. 2011. 61
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(e) Das symmetrische Dilemma, das strategische Dilemma und schmutzige Hände
hervorhebt, scheint es deshalb nahezuliegen, das »Phänomen der schmutzigen Hände« als »einen Fall eines moralischen Dilemmas« zu betrachten. Tatsächlich sollte man das ›Dilemma der schmutzigen Hände‹ jedoch als spezielle Spielart im Feld der Dilemmata betrachten. Wenn Betzler dann nämlich auch betont, dass es sich bei einem ›Problem der schmutzigen Hände‹ vermutlich nicht um »ein unlösbares moralisches Dilemma« 64 handele, deutet sie einen wichtigen Unterschied zum echten Dilemma an. (3.1) Während es im Falle eines ›echten Dilemmas‹ bis zuletzt (sprich: bis zum Zeitpunkt der durch die Situation erzwungenen Entscheidung; vgl. 8.e.10) nicht klar wird, welche der beiden Handlungsalternativen unter den gegebenen Umständen unter Berücksichtigung der bekannten Fakten und moralischen Gesichtspunkte diejenige ist, für die man sich letztlich entscheiden sollte, spricht man von einem ›Problem der schmutzigen Hände‹ nur, wenn es aus der Sicht des Verantwortungsträgers mit drastischer Deutlichkeit feststeht, dass er eine ganz bestimmte Entscheidung treffen muss, mit der er sich ›die Hände schmutzig‹ machen wird, weil sie den herrschenden Moralvorstellungen massiv zuwiderhandelt. Tatsächlich weiß er sogar, dass er in das Amt berufen wurde, damit er sich im Ernstfall in der Weise moralisch schuldig macht, wie es die Situation jetzt gerade von ihm fordert. 65 (3.2) Das wiederum bedeutet, dass der Protagonist eines ›Problems der schmutzigen Hände‹ im Zweifelsfalle aus moralischen Skrupeln zögert, die unmoralische Entscheidung in die Tat umzusetzen, während sich ein phänomenologisch vergleichbares Zögern im Falle eines echten Dilemmas dadurch begründet, dass der Protagonist nicht weiß, ob er die richtige bzw. die situativ vernünftigste und am besten zu begründende Entscheidung (vgl. 8.e.10) getroffen hat. 66 Aus beiden Gründen ist ein ›Dilemma der schmutzigen Hände‹ kein ›echtes Dilemma‹. Festzuhalten wäre damit, dass sich gegen das logische Dilemma der griechischen Antike vier Spielarten praktischer Dilemmata abgrenBetzler 2008, 1153. Hier findet sich auch eine umfangreiche Literaturliste. A. a. O. 1154. 65 Die gängigen Theorien dazu, wie es im Bereich der Politik überhaupt zum ›Problem der schmutzigen Hände‹ kommen kann, diskutiert Boshammer in erhellender Weise unter den Überschriften ›Macht-Korrumpiert-These‹, ›Hard-Choices-These‹ und ›These vom unausweichlichen Unrecht‹. Boshammer 2012. 66 Ich verdanke diese Hinweise auf die beiden Unterschiede Robin Celikates während der Tagung Was tun, wenn alles falsch ist? am KWI (Essen) am 15. 7. 2011. 64
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2. Zum Begriff
zen lassen, nämlich das strategische Dilemma, das symmetrische Dilemma, das echte Dilemma und das Dilemma der schmutzigen Hände, wobei das ›echte‹ Dilemma in der Spielart des ›echten moralischen Dilemmas‹ Gegenstand der metamoralischen angelsächsischen Debatte zur Bedeutung des ›moralischen Dilemmas‹ für das Selbstverständnis der Moralphilosophie war. Damit stellt sich nun die Frage, was ein ›echtes moralisches Dilemma‹ im Unterschied zu anderen Spielarten des ›echten Dilemmas‹ ist.
(f) Das moralische Dilemma In der sollensbasierten Beschreibung des Dilemmas ist von moralischem Sollen, moralischen Ansprüchen, Pflichten und Verpflichtungen die Rede (vgl. 2.a.1). Wie in 2.a.2.5 schon zugestanden, legt die sollensbasierte Definition des ›Dilemmas‹ mit solchen dezidiert moralischen Begriffen den Finger in die Wunde, die darin besteht, dass der auf vielfältigen Handlungsgründen basierende Begriff des ›echten Dilemmas‹ von Thomas Nagel demgegenüber zu weit ist, um das ›moralische Dilemma‹ adäquat zu erfassen, das Gegenstand der angelsächsischen Debatte war. Zwar diskutiert Nagel unter dem Etikett ›echtes Dilemma‹ fast immer den Spezialfall des ›moralischen echten Dilemmas‹ als den interessantesten und problematischsten Fall des ›echten Dilemmas‹. Wie Brune treffend hervorhebt, ist Nagels Begriff vom ›echten Dilemma‹ jedoch »offen« 67 genug, um auch nicht-moralische Spielarten des ›echten Dilemmas‹ zu erfassen. Ich möchte das Problem lösen, indem ich im Feld der ›echten Dilemmata‹ einige zusätzliche Unterscheidungen markiere. (1) Tatsächlich lässt sich die erforderliche Grenzziehung im Feld des ›echten Dilemmas‹ nun relativ schnell vornehmen: Es handelt sich bei dem ›echten moralischen Dilemma‹ der angelsächsischen Debatte nämlich um den Spezialfall des ›echten Dilemmas‹, bei dem für mindestens eine der beiden Handlungsalternativen ein dezidiert moralischer Handlungsgrund wie beispielsweise eine moralische Sollensanforderung, ein moralischer Anspruch, eine moralische Pflicht oder eine moralische
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Verpflichtung spricht. Damit steht die Frage im Raum, was ein ›moralischer Handlungsgrund‹ ist. (1.1) Weil es meiner Abhandlung eine völlig andere, nämlich handlungstheoretische Richtung geben würde, kann ich allerdings leider auch hier nicht wirklich klären, was ›Handlungsgründe‹ sind. Wiederum muss ich mich behelfsmäßig auf die griffige Formulierung von Ralf Stoecker stützen, dem zufolge ein ›Handlungsgrund‹ die Antwort auf die Frage ›Warum hast du das getan?‹ gibt. 68 (1.2) Vom ›Vorliegen eines moralischen Handlungsgrundes‹ spreche ich demzufolge, wenn die Antwort eines Akteurs auf die Frage ›Warum hast du dich für diese mögliche Handlungsoption entschieden?‹ der Sache nach lauten würde: ›Weil ich mich mit Blick auf die berechtigten Interessen Dritter so entscheiden sollte‹. 69 Wie in Kapitel 7 in Anknüpfung an Thomas Nagel noch ausführlich dargestellt werden wird, gibt es verschiedene 70 Quellen, aus denen moralischen Stoecker 2002, 10. Vgl. Kapitel 2, Anm. 23. Das Adjektiv ›moralisch‹ bedeutet in meinem Sprachgebrauch also in etwa so viel wie ›die Bewahrung und Berücksichtigung von berechtigten Interessen Dritter betreffend‹. In diesem Sinne heißt es in dem Essay Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft von Jürgen Habermas aus dem Jahr 1971 in Anlehnung an Kants Kritik der reinen Vernunft, dass man von einer dezidiert »moralischen Leistung der praktischen Vernunft« sprechen könne, sobald wir »die Vereinbarkeit« unserer Handlungsziele mit den berechtigten Interessen anderer im Sinne der Goldenen Regel oder des Kategorischen Imperativs prüfen. Eine moralische Dimension hat eine Entscheidung nach Habermas demnach, sobald sie mögliche »interpersonelle Handlungskonflikte« berücksichtigt, die sich »aus gegensätzlichen Interessenlagen ergeben« können. Habermas 1991, 105 f. Mit derselben Stoßrichtung heißt es bei Oser und Althof, dass wir »den Bereich der Moral« betreten, sobald »das Wohlergehen der Menschen vom Verhalten anderer Menschen beeinflusst wird«. Oser u. a. 1992, 11. 70 Sinnott-Armstrong verteidigt seine sollensbasierte Definition des moralischen Dilemmas allerdings u. a. mit dem Argument, dass es nur zwei Quellen von moralischen Handlungsgründen gäbe, nämlich moralische Ansprüche (engl. moral requirements) und moralische Ideale (engl. moral ideals), wobei moralische Ideale im moralischen Dilemma keine Rolle spielen sollen, so dass man den Begriff ›moralischer Handlungsgrund‹ im Rahmen einer Philosophie des moralischen Dilemmas mit dem Begriff ›moralischer Anspruch‹ gleichsetzen könne. Mit diesem Argument kommt er zu folgendem Schluss: »In sum, I will not count a situation as a moral dilemma unless one moral requirement conflicts with another moral requirement«. Sinnott-Armstrong 1988, 15. (1) Seine drei Argument dafür, dass Konflikte, in denen ein Handlungsgrund ein moralisches Ideal ist, ausdrücklich keine Kandidaten für ein ›moralisches Dilemma‹ seien, lassen sich letztlich auf das wenig überzeugende Autoritätsargument reduzieren, dass es im Kontext der angelsächsischen Debatte nun einmal so üblich sei, nur Konflikte zwischen moralischen Ansprüchen zu betrachten. Es heißt im englischen Wortlaut: 68 69
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Handlungsgründe hervorgehen können: Aus moralischen Sollensanforderungen, moralischen Ansprüchen, Pflichten oder eingegangenen Verpflichtungen wie einem Versprechen beispielsweise können ebenso moralische Handlungsgründe hervorgehen wie aus Gütern 71, die es zu bewahren oder zu opfern gilt, aus Grundrechten und aus moralischen Idealen wie der Wohltätigkeit beispielsweise. Damit ist die Liste möglicher Quellen für moralische Handlungsgründe sicherlich nicht vollständig. Hier zu den verschiedenen Quellen von moralischen Handlungsgründen weiter ins Detail zu gehen, würde jedoch einen überflüssigen Vorgriff auf die Ausführungen in Kapitel 7 bedeuten, der zur Klärung des Begriffs des ›moralischen Dilemmas‹ nichts beitragen würde. Festzuhalten bleibt lediglich, dass ich von einem ›moralischen Handlungsgrund‹ spreche, wenn sich jemand für eine Handlung entschieden hat, um die berechtigten Interessen und Ansprüche Dritter zu berücksichtigen. (2) Ein ›moralisches echtes Dilemma‹ liegt demnach vor, wenn für mindestens eine der beiden konkurrierenden Handlungsalternativen ein dezidiert moralischer Grund spricht. Dementsprechend liegen nichtmoralische echte Dilemmata vor, wenn für keine der beiden Hand»People who defend moral dilemmas do not seem to have in mind such conflicts between moral ideals, since almost all of their examples include moral requirements. Furthermore, some people who deny the possibility of moral dilemmas explicitly admit that moral ideals can conflict. And both sides often describe moral dilemmas as conflicts of obligations or duties, which are kinds of requirements. For these reasons, I will not count conflicts between moral ideals as moral dilemmas.« Sinnott-Armstrong 1988, 14. Tatsächlich sind jedoch sehr wohl echte moralische Dilemmata denkbar, in denen ein Handlungsgrund ein moralisches Ideal ist. Für einen japanischen Geschäftsmann beispielsweise mag ein ehrenhaftes Leben ein moralisches Ideal darstellen. Wenn er sich nun eines Betrugs schuldig gemacht hat und dieser Betrug aufgedeckt wird, wird er in dem ›echten moralischen Dilemma‹ stecken, ob er sich zum Schutz seiner Ehre umbringen muss oder nicht. (2) Bezeichnenderweise fasst Sinnott-Armstrong unter dem Etikett ›moralischer Anspruch‹ so Unterschiedliches wie Verpflichtungen (engl. obligations), Pflichten (engl. duties) und Rechte (engl. rights) zusammen. Das zeigt, dass das Feld von moralischen Handlungsgründen nicht so homogen ist, wie Sinnott-Armstrong mit seiner synthetisierenden Redeweise von den ›moralischen Ansprüchen‹ nahelegt. Wie im Kapitel 7 mit Rekurs auf die Moralphilosophie von Thomas Nagel noch gezeigt werden wird, gibt es verschiedene heterogene Quellen moralischer Handlungsgründe. 71 Den Hinweis auf zu bewahrende oder zu opfernde Güter verdanke ich Corinna Mieth während der Tagung Was tun, wenn alles falsch ist? am KWI (Essen) am 15. 7. 2011.
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lungsalternativen eines echten Dilemmas ein moralischer Grund spricht. (2.1) So kann man von einem ›ethischen Handlungsgrund‹ beispielsweise sprechen, sobald ein Akteur auf die Frage nach dem Grund für seine Entscheidung antworten würde ›weil ich mir von dieser Entscheidung einen Beitrag zu einem frohen bzw. geglückten Leben versprochen habe‹. 72 Ein ›ethisches echtes Dilemma‹ läge dementsprechend vor, wenn für mindestens eine der beiden Handlungsalternativen eines echten Dilemmas ein ethischer Handlungsgrund spricht. Ein ›pragmatisches echtes Dilemma‹ liegt vor, sobald für mindestens eine Alternative eines ›echten Dilemmas‹ ein pragmatischer Handlungsgrund spricht. Davon wiederum spreche ich, wenn die Antwort auf die Frage nach den Gründen für eine Handlungsentscheidung lauten würde: ›Weil ich dachte, so am effektivsten zu meinem Ziel kommen zu können‹. 73 Von einem ›ästhetischen Handlungsgrund‹ würde ich spreDas Adjektiv ›ethisch‹ bedeutet in meinem Sprachgebrauch damit in etwa so etwas wie ›die eigene Konzeption eines geglückten und frohen Lebens betreffend‹. Wiederum lehne ich mich damit an Habermas an. Habermas’ an Kant angelehnter Terminologie zufolge sind ethische Leistungen der praktischen Vernunft gefordert, sobald es um die Wahl der Berufs oder des Lebenspartners beispielsweise geht. Solche Entscheidungen gehen nach Habermas über den »Horizont der Zweckrationalität« weit hinaus, weil »die Bindung an den falschen Partner« oder »die Wahl der falschen beruflichen Alternative« in Einzelfällen sogar »ein verfehltes Leben zur Folge haben« können. Wie Habermas betont, geht es in solchen Fällen nur oberflächlich um die Frage nach den eigenen Neigungen und Interessen. Tatsächlich geht es um viel Wichtigeres, nämlich um die Frage nach den »Wertungen, die nicht nur zufällige Dispositionen und Neigungen, sondern das Selbstverständnis einer Person«, die »Art der Lebensführung« und ihren »Charakter berühren«. Es geht um Fragen nach der »eigenen Identität«, dem eigenen »Selbstverständnis« und letztlich um die Frage, wie man leben will. Habermas 1991, 100–104. 73 Das Adjektiv ›pragmatisch‹ bedeutet also in etwa so etwas wie ›die geeigneten Mittel für einen festliegenden Zweck betreffend‹. Eine pragmatische Leistung ist laut Habermas gefordert, sobald beispielsweise das täglich benutzte Fahrrad defekt ist. In solchen Situationen sind die Handlungsziele relativ klar definiert, so dass sich die praktischen Überlegungen auf die »rationale Wahl der Mittel bei gegebenen Zwecken oder um die rationale Abwägung der Ziele bei bestehenden Präferenzen« konzentrieren können. Es geht in den Situationen wie den geschilderten damit ausdrücklich nicht um eine Bestimmung des Handlungszieles, sondern vielmehr um »Abwägungen« nach »Gesichtspunkten der Effizienz« im Horizont »der Zweckrationalität mit dem Ziel, geeignete Techniken, Strategien oder Programme zu finden«. Im Wortlaut heißt es bei Habermas, dass in einer solchen Situationen nach »Gründen für eine vernünftige Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten« gesucht wird »angesichts einer Aufgabe, die wir lösen müssen, wenn wir ein bestimmtes Ziel erreichen wollen«, wobei »das, was man vernünftigerweise tun« sollte, schon »determiniert« durch das Ziel ist, 72
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chen, wenn die Antwort auf die Frage nach dem Entscheidungsgrund lauten würde: ›Weil mir das, was mit der Option verbunden ist, am besten gefällt‹. Ein ›juristischer Handlungsgrund‹ liegt vor, wenn die Antwort auf die Entscheidungsfrage lauten würde: ›Weil die Entscheidung vom Gesetz so geboten ist‹. Von einem ›ästhetischen (echten) Dilemma‹ und von einem ›juristischen (echten) Dilemma‹ spreche ich, wenn im Falle eines ›echten Dilemmas‹ mindestens ein ästhetischer oder mindestens ein juristischer Handlungsgrund vorliegen. Wiederum lassen sich vergleichbare Unterscheidungen im Feld der symmetrischen und der strategischen Dilemmata treffen. So läge ein nicht-moralisches (nämlich ökonomisches) strategisches Dilemma beispielsweise vor, wenn einem Geschäftsmann, der unbedingt sein Geld in einer neuen Firma anlegen muss, die Information zugetragen wurde, dass eine der beiden Firmen, die er kaufen könnte, vor dem Konkurs steht, ohne dass er wüsste, welche dieser Firmen vom Konkurs bedroht ist. Weil in der angelsächsischen Debatte allerdings nur das moralische echte Dilemma Gegenstand war, sei auf die Konstruktion weiterer Beispiele hier verzichtet. (2.2) Obwohl es in der angelsächsischen Debatte ebenfalls keine Rolle spielt, sei hier kurz darauf hingewiesen, dass die Abgrenzung von moralischen und nicht-moralischen Dilemmata nicht nur bei echten Dilemmata, sondern auch bei strategischen und symmetrischen Dilemmata 74 vorgenommen werden kann. Das Problem der schmutzigen Hände hingegen ist per se ein moralischer Konflikt, weil hier ja per definitionem ein moralischer Grund gegen die als unvermeidlich eingesehene Maßnahme sprechen soll (vgl. 2.e). (3) Es gibt nun sowohl bei den moralischen als auch bei den nicht-moralischen Dilemmata solche, in denen für beide Handlungsalternativen jeweils gleichgewichtige Gründe desselben Typs sprechen, und solche, welches man erreichen will. Habermas 1991,101 f. Oser und Althof sprechen nicht von ›pragmatischen Handlungsgründen‹, sondern von »strategischen Erwägungen«. Oser u. a. 1992, 35. 74 Falls es symmetrische Dilemmata wirklich geben sollte (vgl. 2.e.2.2), wäre das Sophie-Dilemma in der Variante von Marcus sicherlich ein Kandidat für ein moralisches symmetrisches Dilemma. Und ein moralisches strategisches Dilemma läge beispielsweise vor, wenn eine Polizeieinheit entweder ein Krankenhaus oder eine Schule evakuieren kann, aber nicht weiß, gegen welche der beiden Einrichtungen sich die Bombendrohung richtet.
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in denen für die beiden Handlungsalternativen jeweils gleichgewichtige, aber unterschiedliche Gründe sprechen. Insofern möchte ich zwischen reinen und vermischten Dilemmata unterscheiden. (3.1) Im Bereich der symmetrischen Dilemmata lässt sich die Unterscheidung zwischen reinen und vermischten Dilemmata allerdings ausdrücklich nicht sinnvoll treffen, weil symmetrische Dilemmata per definitionem reine Dilemmata sind. (3.2) Sinnvoll treffen lässt sich die Unterscheidung zwischen reinen und vermischten Dilemmata aber in den Bereichen der strategischen Dilemmata und der Dilemmata der schmutzigen Hände. So ist das Gefangenendilemma in seiner gängigen Form eigentlich ein reines ethisches strategisches Dilemma, weil sowohl eine Freilassung als auch eine niedrigere Gefängnisstrafe aus der Sicht der Gefangenen ethische Optionen sind. (3.3) Sinnvoll treffen lässt sich die Unterscheidung zwischen reinen und vermischten Dilemmata auch im Feld der moralischen echten Dilemmata. (i) So läge beispielsweise ein vermischtes pragmatischmoralisches (echtes) Dilemma vor, wenn jemand mit einem lebenswichtigen Medikament behandelt werden müsste, das aus einem Enzym hergestellt wird, für das Millionen Mäuse gemolken werden müssten. So unrealistisch dieses Szenarium auch sein mag, so kann es doch verdeutlichen, dass es Situationen gibt, in denen pragmatische Gründe gegenüber moralischen Gründen abgewogen werden müssen. (ii) Ein Beispiel für ein vermischtes ästhetisch-moralisches (echtes) Dilemma wäre die Ausstellung Körperwelten des Anatomen Gunther von Hagens. Die Ausstellung entzündete bei ihrer Eröffnung im Jahr 1996 bekanntlich eine breite öffentliche Diskussion zu der Frage, ob um einer Innovation in der Kunst willen die plastinierten Leichname verstorbener Menschen öffentlich ausgestellt werden dürfen. Einerseits scheint es ein starkes ästhetisches Interesse einer kunstinteressierten Öffentlichkeit zu geben: Wie beispielsweise die Süddeutsche Zeitung am 8. November 2008 zu berichten wusste, sollen »Millionen Menschen« die »Ausstellung inzwischen auf der ganzen Welt gesehen haben«. Anderseits aber wird mit der Ausstellung zweifellos der moralische Wert der Totenwürde verletzt, weshalb der Gubener Pfarrer Michael Domke das ›Aktionsbündnis Menschenwürde‹ gründete, als er erfuhr, dass die Stadt Guben dem Künstler ab 2006 eine ausgediente Wollfabrik für eine Dauerausstellung zur Verfügung stellen wollte. Weil gegen die Ausstellung der moralische Grund der Totenwürde Das moralische Dilemma
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und für die Ausstellung der ästhetische Grund der großen Faszinationskraft der Ausstellung sprechen, spreche ich von einem vermischten ästhetisch-moralischen (echten) Dilemma. 75 (iii) Als Beispiele für ein vermischtes juristisch-moralisches (echtes) Dilemma lässt sich der Fall eines Soldaten anführen, dem sein Vorgesetzter befiehlt, einen Kriegsgefangenen zu töten, aber auch die Situation der Mauerschützen in der ehemaligen DDR beispielsweise 76. Schließlich muss man einerseits den Befehlen von Vorgesetzten und den Gesetzen des eigenen Landes Folge leisten. Anderseits aber gibt es den starken moralischen Anspruch, dass man Unschuldige nie töten soll. 77 (iv) Von einem vermischten ökonomisch-moralischen (echten) Dilemma würde ich reden, wenn ein Patient nur durch eine Therapie gerettet werden kann, die so teuer ist, dass die Krankenkasse ihre Beiträge erhöhen müsste. Ist es gerechtfertigt, auch extrem hohe Kosten für die Behandlung eines Einzelnen auf die Gemeinschaft der Versicherten abzuwälzen? Um einem naheliegenden Einwand vorzubeugen: Vom Standpunkt der Moralphilosophie ist es irrelevant, dass keine Versicherung der Welt bei diesem Szenarium mitspielen würde. Entscheidend ist, dass ein vermischtes ökonomisch-moralisches (echtes) Dilemma denkbar ist. (v) Ein aktuelles Beispiel für ein ethisch-moralisches Dilemma lässt sich aus dem Fall des »schwedischen Designer-Babys« ableiten. Wie die Süddeutsche Zeitung vom 4. Juni 2007 berichtet, hat ein schwedisches Ehepaar im Frühsommer des Jahres 2007 die Erlaubnis bekommen, eine Pränataldiagnostik im Zuge einer Invitrofertilisation vornehmen zu lassen, damit unter den befruchteten Embryos derjenige ausgewählt werden kann, der das passende Erbgut hat, um nach seiner Geburt das lebensrettende Rückenmark für seinen an einer seltenen Erbkrankheit erkrankten Bruder Felix spenden zu können. Man stelle sich jetzt einmal vor, dass die Krankheit von Felix so weit fortschreitet, dass Felix immer Grassmann 2006. Ausführlich diskutiert wird das Dilemma in Verführerische Leichen – verbotener Verfall 2006. 76 Vgl. auch das Smith-Dilemma: Smith steht vor der Entscheidung, ob er aus religiösen Gründen den Kriegsdienst verweigern soll. Vgl. Fraasen 1973, 152; sowie Nair 2014, 753f. 77 Zu legalistischen bzw. juristischen Dilemmata siehe u. a. Englisch 1935 sowie Zoglauer 1998, 125–150. Nach Zoglauer werden Konflikte in der Rechtspraxis in aller Regel nach den Prinzipien (i) Lex superior derogar legi inferiori (die höhere Norm hat Vorrang vor der niedrigeren), (ii) Lex specialis derogat legi generlia (spezielle Gesetze haben Vorrang vor allgemeinen Gesetzen) und (iii) Lex posterior derogat legi priori (jüngere Gesetze heben ältere Gesetze auf) entschieden. Zoglauer 1998, 127. 75
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wieder neue Knochenmarkspenden braucht, und schließlich sogar eine Niere. Muss das ›Designer-Baby‹ dann immer noch zustimmen, seinem Bruder Felix das lebensrettende Organ zu spenden? Würde sich diese Frage stellen, sobald das bislang namenlose Designer-Baby zu moralischer Mündigkeit herangewachsen ist, befände sich die Person in einem echten Dilemma der vermischten ethisch-moralischen Spielart, weil sie schließlich ihre eigenen ethischen Interessen an physischem und psychischem Wohlbefinden gegen das Lebensinteresse seines Bruders abwägen muss. 78 (vi) Obwohl Williams den Fall des Malers Gaugin in seinem Essay Moral Luck unter anderen Rücksichten diskutiert, wäre dieser Fall ein Beispiel für ein vermischtes ethisch-ästhetisch-moralisches (echtes) Dilemma. Gaugins Geschichte ist weithin bekannt: Gaugin war ein geachteter Bankier und Familienvater in Paris, als er seine Leidenschaft und besondere Befähigung zur Malerei entdeckte. Seine bürgerliche Existenz erlaubte ihm nicht, dieser Berufung zu folgen. Also entschied er sich, alle Rücksichten sowohl gegen seine Bank als auch gegen seine Familie fahren zu lassen und als Maler nach Tahiti zu gehen. Die Entscheidungssituation, in der sich Gaugin vor seiner faktischen Entscheidung befand, war ein echtes Dilemma der vermischten Spielart. Die beiden sich ausschließenden Handlungsalternativen waren das Ausharren bei Familie und Beruf einerseits und das Auswandern nach Tahiti anderseits. Für beide Optionen sprachen zwingende Gründe. Für das Auswandern sprachen die ästhetischen Gründe der Berufung als Künstler, die Gaugin in sich gespürt haben mag, wie auch der ethische Grund einer Sehnsucht nach einem Leben jenseits einer bürgerlichen Existenz. Für das Ausharren in der bürgerlichen Existenz sprachen hingegen der moralische Grund von Gaugins Verpflichtungen gegenüber Familie und Beruf. Damit ist der Fall des Gaugin ein vermischtes ethisch-ästhetisch-moralisches (echtes) Dilemma. (vii) Ein Beispiel für ein reines ethisches echtes Dilemma wäre eine Situation, in der sich eine Frau zwischen ihrer Karriere und ihrer Familie beispielsweise entscheiden muss. (3.4) Die Unterscheidung von reinen und vermischten Dilemmata ist für die angelsächsische Debatte nun von besonderem Interesse, weil es in der Moralphilosophie seit jeher einen breiten Konsens darüber gibt, dass moralische Handlungsgründe gegenüber allen anderen im Zweifelsfall den Vorrang haben müssen. Manche Autoren lassen Aus78
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nahmen von dieser Regel nur zu, wenn der moralische Handlungsgrund gegenüber dem konfligierenden Handlungsgrund eindeutig banal zu sein scheint. Es gibt aber auch Autoren, die überhaupt keine Ausnahmen zulassen. 79 Es kann hier nicht der Raum sein, die damit verbundenen Probleme der moralischen Supererogation zu diskutieren. 80 Hervorzuheben ist jedoch, dass auch in der angelsächsischen Debatte ein weitgehender Konsens dahingehend bestand, dass man sich im Zweifelsfall für den moralischen Handlungsgrund zu entscheiden hat. Das bedeutete, dass vermischte moralische echte Dilemmata zumindest solange als per se ›lösbar‹ galten, solange die konkurrierenden nicht-moralischen Handlungsgründe nicht deutlich übergewichtig sind. 81 Das wiederum bedeutete, dass sich die angelsächsische Debatte letztlich nicht mit vermischten moralischen echten Dilemmata befasst hat, sondern sich ganz auf das reine moralische (echte) Dilemma konzentrierte. Ein vermischtes (moralisches echtes) Dilemma liegt vor, wenn nur für eine der beiden konkurrierenden Handlungsalternativen ein moralischer Handlungsgrund spricht. Ein reines (moralisches echtes) Dilemma hingegen liegt vor, wenn beide Handlungsgründe moralische Handlungsgründe sind. Ein Beispiel für ein solches Dilemma wäre das Sterbehilfe-Dilemma, weil sowohl für das Sterben- als auch für das Lebenlassen jeweils genuin moralische Handlungsgründe sprechen. (4) Der Gegenstand der metamoralischen angelsächsischen Debatte wäre mit dem Etikett ›reines moralisches echtes Dilemma‹ schon hinreichend deutlich präzisiert. Um jedoch auch die Bedeutung des Pro79 Bekanntlich vertritt insbesondere Immanuel Kant in seiner Kritik der Praktischen Vernunft von1788 mit Hinweis auf die Notwendigkeit der Bewahrung einer ›Würdigkeit zum Glück‹ die Auffassung, dass auf ethische Erwägungen »gar nicht Rücksicht« zu nehmen sei, sobald die Pflicht ruft. Kant 1788, 217. Kant verteidigt diese Position u. a. in seinem Essay Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis von 1793. Kant 1793, 139, 132. Kant antwortet hier auf Garve 1792– 1802, 111–116. Ich werde mich der Frage nach der Möglichkeit des unauflösbaren vermischten ethisch-moralischen Dilemmas an anderer Stelle widmen 80 Vgl. dazu Raters Forthcoming. 81 Tatsächlich sind solche Dilemmata sehr selten, weil die wenigsten praktischen Konflikte zwischen ethischen und moralischen Handlungsgründen der Prüfung standhalten, ob der ethische Handlungsgrund tatsächlich so gewichtig ist, dass er gegenüber dem moralischen Handlungsgrund als gleichgewichtig gelten kann, obwohl es doch in der Moralphilosophie den breiten Konsens gibt, dass moralische Handlungsgründe in aller Regel per se das Übergewicht haben sollen.
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blems des moralischen Dilemmas für die Angewandte Ethik und die individuellen moralischen Akteure hervorheben zu können, ist eine weitere Unterscheidung zwischen banalen und teuflischen Dilemmata notwendig. Selbst die reinen moralischen echten Dilemmata sind nämlich pragmatisch unproblematisch, falls es sich um banale (reine moralische echte) Dilemmata handelt, weil es im Falle solcher Dilemmata gleichgültig ist, welche Entscheidung man trifft, da nicht viel auf dem Spiel steht. Von einem ›banalen Dilemma‹ möchte ich sprechen, wenn für die beiden sich ausschließenden Handlungsoptionen jeweils banale Gründe ohne nennenswertes Gewicht sprechen. In einem ›teuflischen 82 Dilemma‹ sollen hingegen gewichtige Handlungsgründe für die beiden sich ausschließenden Alternativen sprechen. (4.1) Ein Beispiel für ein banales (reines moralisches echtes) Dilemma findet sich in Harald Martensteins Glosse Wie man Gemüse in Kinder kriegt aus dem Jahr 2001. Die Glosse schildert, wie jemand zu Erbsengröße verstümmelte Karotten in Nutella versteckt und frittierten Sellerie als Fischstäbchen tarnt, weil er keine »Möglichkeit« sieht, seinen »Kindern auf eine moralisch einwandfreie Weise Gemüse zu verabreichen«. Darf man seine Kinder auf diese Weise betrügen, weil man als Vater dafür sorgen muss, dass Kinder ausreichend Gemüse essen? Aus diesem »deutschen Dilemma« 83 sieht der Autor keinen Ausweg! Der Protagonist von Martensteins Glosse befindet sich in einem banalen Dilemma, weil er eine Entscheidung zu fällen hat, die keine wirklichen Bauchschmerzen verursachen kann. Schließlich wird kein Hahn danach krähen, ob er seine Kinder nun auf die genannte harmlose Weise hinters Licht führt oder ob der Gemüse-Anteil ihrer Ernährung geringer als von Ernährungswissenschaftlern empfohlen ausfällt. Der Terminus ›teuflisches Dilemma‹ stammt von Patricia Greenspan, die allerdings (wie in der angelsächsischen Debatte üblich) eine sollensbasierte Definition des ›moralischen Dilemmas‹ verwendet. Sie spricht von einem ›schwachen Dilemma‹ (engl. weak dilemmas), sobald es eine vertretbare Lösung für ein Dilemma gibt, und von einem ›teuflischen Dilemma‹ (engl. diabolical dilemmas), wenn der Protagonist zwischen zwei verbotenen Handlungsoptionen wählen muss und sich also mit jeder möglichen Entscheidung schuldig macht. Ihr Beispiel ist das Dilemma der Sophie. Greenspan 1981. Vgl. auch Argument 6.c.5. Wenn ich zwischen banalen und teuflischen Dilemmata unterscheide, weiche ich von Nagels (und Brunes) Definition des ›echten Dilemmas‹ ab, weil diesen Autoren zufolge im Falle eines ›echten Dilemmas‹ ja für beide Alternativen ›zwingende‹ Gründe sprechen sollen. Nagel 1977, 181 f.; sowie Brune 2002, 325. Vgl. 2.a.2. 83 Martenstein 2001, 77. 82
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Seine Kinder werden nicht langfristig leiden, gleich welche Entscheidung er trifft. Im Falle des banalen Dilemmas ist es letztendlich gleichgültig, welche Entscheidung getroffen wird, so dass es nicht weiter belastet, dass man ein banales Dilemma willkürlich entscheiden muss. Das wiederum bedeutet, dass man sich lächerlich machen würde, wenn man mit der Entscheidung eines banalen Dilemmas Zeit für Reflexion verschwenden würde – und genau deshalb ist Martensteins Glosse komisch. (4.2) Ein Beispiel für ein teuflisches reines moralisches (echtes) Dilemma wäre hingegen das Sterbehilfe-Dilemma: Für ein Sterbenlassen spricht das unsagbare Leid eines todkranken Menschen, und gegen das Sterbenlassen spricht, dass ein Arzt menschliches Leben eigentlich unter allen Umständen bewahren soll. Wiederum gibt es teuflische und banale strategische und symmetrische Dilemmata, wie es auch teuflische und banale nicht-moralische echte Dilemmata gibt, während Dilemmata der schmutzigen Hände per se teuflische Dilemmata sind, weil man dieses Etikett nicht verwenden würde, wenn ein Politiker lediglich einen Kugelschreiber stehlen müsste, um einen wichtigen Vertrag unterschreiben zu können. Solche Unterscheidungen sind in dieser Abhandlung jedoch nicht weiter von Belang. Aus pragmatischer Sicht ausgeprochen wichtig ist allerdings die Tatsache, dass das teuflische (reine moralische echte) Dilemmas anders als das banale (reine moralische echte) Dilemma eine Entscheidung gegen einen gewichtigen moralischen Handlungsgrund fordert, was wiederum bedeutet, dass die Entscheidung im Nachhinein das Gewissen des Protagonisten des Dilemmas schwer belasten könnte. (5) Eine Entscheidung in die Tat umsetzen muss ein Protagonist allerdings nur, falls er in einem realen Dilemma steckt. Damit ist auch die Unterscheidung zwischen realen und nur hypothetischen Dilemmata von Belang, wenn man die metamoralische angelsächsische Debatte ausweiten und das (echte teuflische reine) moralische Dilemma auch pragmatisch aus der Perspektive von Angewandter Ethik und betroffenen moralischen Akteuren in den Blick nehmen will. Das reale Dilemma ist eines, mit dem man im wirklichen Leben konfrontiert ist, während das hypothetische Dilemma ein nur vorgestelltes Dilemma ist. Dieser Unterscheidung zufolge würden sich SchülerInnen, die sich im Rahmen einer von der Dilemma-Methode geprägten Unterrichtseinheit mit dem Sterbehilfe-Dilemma befassen, in einem hypothetischen 88
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echten Dilemma befinden, während sich ein Arzt in einem realen echten Dilemma befinden würde. 84 Aus drei Gründen ist die Unterscheidung zwischen realen und hypothetischen Dilemmata aus der pragmatischen Perspektive wichtig. (5.1) Erstens gehen hypothetische Dilemmata niemals von der Entscheidungsphase in eine Handlungsphase über, während im Falle des realen Dilemmas ein unmittelbarer Entscheidungsdruck besteht, weil auch das Verweigern einer Entscheidung zu einer Form von Handlung mit entsprechenden Konsequenzen wird. Während man im Falle des hypothetischen Dilemmas die Entscheidung durchaus verweigern bzw. offen lassen kann, stellt im Falle eines realen Dilemmas jedes Hinauszögern oder Verweigern einer Entscheidung faktisch eine Entscheidung für oder wider eine der beiden Optionen mit den entsprechenden Konsequenzen dar. Wenn ein Akteur beispielsweise in einem Sterbehilfe-Dilemma steckt, würde ein Hinauszögern seiner Entscheidung faktisch eine Entscheidung gegen Sterbehilfe bedeuten, weil der Betroffene ja (in der Zeit des Hinauszögerns) weiter leidet. (5.2) Ein zweiter Unterschied besteht darin, dass im realen Dilemma mit dem unmittelbaren Entscheidungsdruck in aller Regel ein großer Zeitdruck verbunden ist und im hypothetischen Dilemma nicht. Wenn der Ethik-Unterricht mit einem hypothetischen Dilemma konfrontiert, sollen die SchülerInnen eine möglichst sorgfältige rationale Analyse des Dilemmas vornehmen. Wenn ein Akteur hingegen mit einem realen Dilemma konfrontiert ist, muss er möglichst schnell eine Entscheidung treffen und in die Tat umsetzen. (5.3) Mit den möglichen Folgen ist der pragmatisch wichtigste Unterschied zwischen realen und hypothetischen Dilemmata angesprochen: Während das reale Dilemma ganz reale Folgen für den Entscheidenden und gegebenenfalls auch für betroffene Andere hat, bleibt man Wiederum gilt diese Unterscheidung für alle vier Spielarten praktischer Dilemmata. Wären eineiige Zwillinge gleich und hätte die Romanfigur Sophie eineiige Zwillinge, befände sich Sophie in einem realen symmetrischen Dilemma, während jemand, der das Buch liest und sich in die Situation der Protagonistin einfühlt, sich lediglich mit einem hypothetischen symmetrischen Dilemma konfrontiert sieht. Genauso wären die SchülerInnen in einem hypothetischen strategischen Dilemma, wenn das Gefangenendilemma auf dem Stundenplan steht, während die Gefangenen selbst in einem echten strategischen Dilemma stecken. Und sie wären in einem hypothetischen Dilemma der schmutzigen Hände, wenn Trumans Entscheidung im Geschichtsunterricht diskutiert wird, während Truman selbst (vgl. Anm. 62 in diesem Kapitel) in einem realen Dilemma war.
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im Falle des hypothetischen Dilemmas von solchen realen Folgen verschont. Insgesamt sind reale Dilemmata also für die Protagonisten deutlich gewichtiger und folgenschwerer als hypothetische Dilemmata. (6) In dieser Abhandlung steht damit also das ›reale teuflische reine moralische echte Dilemma‹ zur Debatte, weil die Möglichkeit solcher Dilemmata eine enorme Bedrohung sowohl für die Moralphilosophie als auch für die Angewandte Ethik und die betroffenen moralischen Akteure darstellen würde. Manche Autoren der angelsächsischen Debatte haben nun versucht, die Bedrohung durch solcher Dilemmata mit der Behauptung aus der Welt zu schaffen, dass ausnahmslos alle Dilemmata mit der richtigen moralphilosophischen Strategie oder aufgrund der richtigen moralphilosophischen Einstellung lösbar seien. Tatsächlich war in der angelsächsischen Debatte keine Frage so strittig wie die, ob es unauflösbare (moralische reine echte) Dilemmata 85 geben kann. Es würde nun einen Vorgriff auf die Kapitel 3, 4 und 5 bedeuten, wenn ich die vorgeschlagenen Strategien bzw. Haltungen hier schon zur Diskussion stellen würde. Deshalb möchte ich an dieser Stelle lediglich das schlichte Argument ins Feld führen, dass es sinnlos wäre, von einem ›auflösbaren Dilemma‹ zu sprechen, weil das eine contradictio in adjecto wäre. Das Etikett ›Dilemma‹ ist eine Diagnose, die man erst nach ausführlicher Reflexion und intensiver Suche nach einer Lösung stellen kann. Sobald diese Diagnose jedoch mit guten Gründen gestellt wird, besagt sie eben, dass es keine Lösung gibt. Das bedeutet, dass man von einem ›Dilemma‹ nur reden kann, wenn man davon überzeugt ist, dass es unlösbar ist, während die Rede von ›auflösbaren Dilemmata‹ sinnlos wäre. 86 Daraus möchte ich zwei Konsequenzen ziehen. Die Terminologie unterscheidet sich; die Sachfrage jedoch nicht. Christopher Gowans und Sinnott Armstrong sprechen von ›unauflösbaren Dilemmata‹ (engl. irresolvable dilemmas). Gowans 1987, 14; sowie Sinnott-Armstrong 1988, 1. Brink unterscheidet ›unlösbare Konflikte‹ von ›lösbaren Konflikten‹ (engl. soluble and insoluble conflicts). Brink 1994, 104. McConnell wiederum spricht von ›genuinen‹ bzw. ›echten‹ Dilemmata im Gegensatz zu nur scheinbaren Dilemmata. McConnell 2006, 1 f. Von ›genuinen Dilemmata‹ im Unterschied zu moralischen Konflikten spricht auch Daniel Statman in seinem Essay Moral Dilemmas von 1995. Statman 1995. 86 Echte Dilemmata lassen sich nur lösen, indem man entweder einen glücklichen dritten Ausweg findet oder aber herausfindet, für welche der konkurrierenden Handlungsalternativen die gewichtigeren Gründe sprechen – aber sobald jemand den dritten Weg oder die gewichtigeren Gründe gefunden hat, steckt er nicht mehr in einem ›echten Dilemma‹. Die Sinnlosigkeit einer Rede von ›auflösbaren Dilemmata‹ ließe sich nun an 85
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(f) Das moralische Dilemma
(6.1) Zum einen werde ich ergebnisoffen von einem ›praktischen Konflikt‹ (vgl. 2.c.1) sprechen, solange die Diagnose ›Dilemma‹ noch nicht gestellt wurde, und näherhin von einem ›moralischen Konflikt‹, solange die Diagnose ›moralisches Dilemma‹ (in welcher näheren Spielart auch immer) noch nicht gestellt wurde. 87 (6.2) Vor allem aber scheint es mir sinnlos zu sein, mich mit Donogan und anderen federführenden Autoren der angelsächsischen Debatte aus dem Lager eines monistischen moralischen Realismus auf die Frage einzulassen, ob sich nicht alle moralischen Konflikte bei näherer Hinsicht und bei der richtigen Anwendung der richtigen moralphilosophischen Strategie auflösen lassen. Das kann in meinen Augen gar nicht strittig sein, weil auflösbare Dilemmata ja eine contradictio in adjecto wären. Strittig scheint mir vielmehr die Frage zu sein, ob und gegebenenfalls warum (teuflische echte reine reale) moralische Dilemmata überhaupt möglich sind. Erst wenn diese Frage bejaht wurde, stellt sich in meinen Augen nämlich die eigentliche Frage der metamoralischen angelsächsischen Debatte, was diese Möglichkeit für die Moralphilosophie bedeuten würde, und erst dann kann man auch sinnvoll
allen vier Spielarten des ›praktischen Dilemmas‹ aufzeigen; tatsächlich muss hier aber nur das ›echte Dilemma‹ interessieren. Deshalb nur einige knappe Bemerkungen dazu. (1) So kann die Lösung eines strategischen Dilemmas nur darin bestehen, dass sich der Protagonist die relevanten Informationen für seine Entscheidung beschafft. Sollte er sie jedoch tatsächlich erhalten haben, wäre seine Situation kein ›strategisches Dilemma‹ mehr. (2) Vergleichbar lässt sich ein symmetrisches Dilemma nur so lösen, dass sich eben doch entscheidungsrelevante Unterschiede zwischen den beiden konkurrierenden Handlungsoptionen herausstellen. Wieder gilt: Sollte das gelingen, liegt kein symmetrisches Dilemma mehr vor. (3) Ein Dilemma der schmutzigen Hände lässt sich nur durch das Auffinden eines glücklichen dritten Weges lösen, auf dem das anvisierte Ziel ebenfalls erreicht wird, ohne dass der politische Verantwortungsträger gegen gewichtige moralische Handlungsgründe verstoßen müsste. Und noch einmal gilt: Sollte sich dieser Weg eröffnen, steckt der Verantwortungsträger nicht mehr in einem Dilemma der schmutzigen Hände. 87 Wie Susanne Boshammer möchte ich also von »dilemmatische(n) Konflikten« nur im Falle von »nicht lösbare(n) moralische(n) Konflikte(n)« sprechen. Boshammer 2008. Ihrer Definition eines ›moralischen Konflikts‹ liegt eine sollensbasierte Auffassung (vgl. 2.a.1) zugrunde, wenn sie schreibt, dass moralische Konflikte »Situationen« seien, »in denen wir uns zu verschiedenen Handlungen, sagen wir der Einfachheit halber: Handlung A und Handlung B, verpflichtet sehen, die beide ›machbar‹, aber nicht gemeinsam durchführbar sind, sondern sich wechselseitig ausschließen.« Boshammer 2008, 150. Das moralische Dilemma
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2. Zum Begriff
meine weiterführende Frage nach der Bedeutung dieser Möglichkeit für die Angewandte Ethik und die moralischen Akteure stellen. Damit lassen sich die Resultate dieses Kapitels folgendermaßen zusammenfassen. Es gibt die logischen Dilemmata der griechischen Antike im Unterschied zu strategischen, symmetrischen und echten Dilemmata und den Dilemmata der schmutzigen Hände als Spielarten praktischer Dilemmata. Diese einzelnen Spielarten von praktischen Dilemmata lassen sich wiederum jeweils in moralische und nicht-moralische, reine und vermischte, teuflische und banale sowie hypothetische und reale Dilemmata unterscheiden. 88 Bei den Dilemmata, die in der metamoralischen angelsächsischen Debatte als mögliche Bedrohung für das Selbstverständnis der Moralphilosophie diskutiert wurden, handelt es sich näherhin um reine moralische echte Dilemmata, wobei aus der pragmatischen Perspektive der Angewandten Ethik und der individuellen moralischen Akteure näherhin die realen teuflischen (reinen moralischen echten) Dilemmata besonders interessieren müssen, weil diese besonders fatale Folgen haben. Wenn ich in den folgenden Kapiteln allen Ungenauigkeitsbedenken zum Trotz aus Knappheitsgründen vom ›moralischen Dilemma‹ spreche, meine ich damit also eigentlich das ›reale teuflische reine moralische echte Dilemma‹. Präziser gefasst, lautet die Leitfrage meiner Abhandlung damit also folgendermaßen: Was würde es für die Moralphilosophie sowie für die Angewandte Ethik und die individuellen moralischen Akteure bedeuten, falls sich herausstellen sollte, dass die Möglichkeit von praktischen Konflikten nicht ausgeschlossen werden kann, bei denen man nach intensiver Reflexion die Diagnose ›reales teuflisches reines moralisches echtes Dilemma‹ stellen muss?
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Dass symmetrische Dilemmata immer reine Dilemmata sind, wurde schon erwähnt.
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3. Das moralische Dilemma als menschliches Versagen nach Sir David Ross
Wie im 1. Kapitel dargestellt, hatte Sir David Ross in seiner Foundation of Ethics von 1939 im Kontext seiner Kritik an den sogenannten ›private-reaction-theories‹ das Argument ins Feld geführt, dass es »allem ethischen Urteilen ein Ende setzen« 1 würde, wenn die Möglichkeit sich widersprechender moralischer Urteile nicht ausgeschlossen werden kann. Die Tatsache, dass das moralische Dilemma ebenfalls als eine Situation sich widersprechender moralischer Urteile betrachtet werden kann, lässt nun erwarten, dass Ross’ eigene Moralphilosophie davon überzeugen kann, dass es das moralische Dilemma nicht geben kann. Bei näherer Hinsicht ist das jedoch keineswegs der Fall.
(a) Das moralische Dilemma als Grenzerfahrung Seine Philosophie des moralischen Dilemmas entfaltet Ross im 2. Kapitel seiner Abhandlung The Right and the Good von 1930. 2 Im Zentrum steht eine Abgrenzung von sogenannten ›prima facie Pflichten‹ »To think this would be to put an end to all ethical judgment.« Ross 1939, 60. Vgl. 1.a. Das Buch distanziert sich insgesamt von Kant und vom Utilitarismus mit der These, dass sich ›das Richtige‹ (engl. the right) im Sinne der situativ moralisch gebotenen Handlung (engl. ›this act ought to be done‹) weder auf das ›moralisch Gute‹ (engl. the morally good) im Sinne Kants noch auf ›das Gute‹ (engl. the good) im Sinne des Utilitarismus reduzieren ließe. Ross’ zentraler Einwand lautet, dass in beiden Moralphilosophien die Komplexität von moralischen Entscheidungsprozessen simplifizierend verkannt würde. Es heißt im englischen Wortlaut: »There a two theories, each in its way simple, that offer a solution of such cases of consequences. One is the view of Kant, that there are certain duties of perfect obligation, such as those of fulfilling promises, of paying debts, of telling the truth, which admit of no exception whatever in favour of duties of imperfect obligations, such as that of relieving distress. The other is the view of, for instance, Professor Moore and Dr. Rashdall, that there is only the duty of producing good, and that all ›conflicts of duties‹ should be resolved by asking ›by which
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3. Das moralische Dilemma als menschliches Versagen nach Ross
(engl. prima facie duties) gegenüber tatsächlichen bzw. aktualen Pflichten (engl. actual duty), die in einer konkreten Situation tatsächlich befolgt werden sollen. (1) Die zentrale Prämisse von Ross’ Philosophie des moralischen Dilemmas lautet, dass moralische Akteure in praktischen Situationen in aller Regel mit einem dichten Gemenge von unterschiedlichen Verpflichtungen konfrontiert sind, die Ross als ›prima facie Pflichten‹ 3 bezeichnet, und von denen er betont, dass sie »in konkreten Erfahrungen« auf »hoch komplexe Weise miteinander verbunden« 4 sein können. Das System aller prima facie Pflichten insgesamt bildet nach Ross die »moralische Ordnung«, die als »Teil der grundlegenden Beschaffenheit des Universums« denselben objektiven Charakter haben soll wie »die räumliche und numerische Struktur, die sich in den Axiomen der Geometrie und der Arithmetik ausdrückt« 5. Allerdings sind action will most good be produced?‹ But it is more important that our theory fits the facts than that it be simple.« Ross 1930, 18 f. (1) Unter dem ›moralisch Guten‹ im Sinne Kants versteht Ross die guten Intentionen, welche nach Kant eine Handlung moralisch wertvoll machen. Ross stimmt Kant grundsätzlich zu, dass sich moralische Akteure an Pflichten orientieren müssen. Probleme hat er jedoch damit, dass diese Pflichten nach Kant »keine Ausnahme dulden« sollen, weil es in seinen Augen eben doch »Ausnahmefälle« gibt, in denen ein Festhalten am Aufrichtigkeitsgebot oder am »Gebot der Erfüllung eines Versprechens« Folgen hätte, die »für andere so desaströs wären«, dass wir es intuitiv für falsch halten würden, dem Gebot in der vorliegenden Situation Folge zu leisten. Es heißt im englischen Wortlaut: »What lends color to the theory we are examining, then, is not the actions (which from probably a great majority of our actions) in which some such reflections as ›I have promised‹ is the only reason we give ourselves for thinking a certain action is right, but the exceptional cased in which the consequences of fulfilling a promise (for instance) would be so disastrous to others that we judge it right not to do so.« Ross 1930, 17 f. (2) Unter ›dem Guten‹ versteht Ross das ideale Glück der Menschengemeinschaft im Sinne von George Edward Moores Principia Ethica von 1903. Ross’ zentraler Einwand gegen den Utilitarismus lautet: »When a plain man fulfils a promise because he thinks he ought to do so, it seems clear that he does so with no thought of its total consequences, still less with any opinion that these are likely to be the best possible.« Ross 1930, 17. Vgl. auch a. a. O. 11 sowie die ausführlichen Entfaltungen dieses Einwandes gegen den Utilitarismus a. a. O. 34–39 sowie a. a. O. 42–47 3 Nach Wolf handelt es sich »wörtlich gesprochen um Pflichten auf den ersten Blick, ›devoirs à première vue‹«. Wolf 1996, 601. Verweis auf Blackburn 1996a, 99 f. 4 Es heißt im englischen Wortlaut: »In actual experience they are compounded together in highly complex ways.« Ross 1930, 27. 5 Es heißt im englischen Wortlaut: »The moral order expresses in these propositions is just as much a part of the fundamental nature of the universe (and, we may add, of any
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(a) Das moralische Dilemma als Grenzerfahrung
nicht alle prima facie Pflichten in jeder Situation als Pflicht präsent. Sie werden vielmehr in konkreten Situationen jeweils durch »bestimmte Umstände« mit »moralischer Bedeutung« 6 in Kraft gesetzt oder auch nicht. Solche Umstände können die persönlichen Beziehungen sein, in denen jemand steht, oder auch die Tatsache, dass man ein Versprechen gegeben hat, oder dass jemand Hilfe braucht. Weil die prima facie Pflichten durch objektive äußere Umstände und Tatsachen in Kraft gesetzt werden, haben sie nach Ross den Charakter von »objektiven Tatsachen« 7, welche die »Natur einer Situation« mitbestimmen. Gemeint ist, dass wir ganz genau wissen können, welche prima facie Pflichten durch eine bestimmte Situation an uns herangetragen werden, wenn wir die Tatsachen und Umstände der Situation kennen. Es gibt für Ross keinen Zweifel, dass wir ein angeborenes 8 Wissen über das System von prima facie Pflichten und seine Korrelation zu den äußeren Umständen einer Situation haben, welches sich uns im Laufe unserer moralischen possible universe in which there were moral agents at all) as is the spatial or numerical structure expressed in the axioms of geometry or arithmetic.« Ross 1930, 29 f. 6 Es heißt im englischen Wortlaut: »Each rests on a definite circumstance which cannot seriously be held to be without moral significance«. Ross 1930, 20. 7 Es heißt im englischen Wortlaut: »What I am speaking of is an objective fact involved in the nature of the situation.« Ross 1930, 20. 8 Mit der These vom Evidenzcharakter des moralischen Wissens knüpft Ross offensichtlich an die Introspektionslehre der englischen Romantik an. (1) Ihren Ursprung hat diese Erkenntnistheorie im Cambridger Neuplatonismus, dem zufolge alles Wissen sowohl im Bereich der Moral als auch der Naturwissenschaften durch die Gnade Gottes angeboren ist, so dass es nicht erlernt, sondern wiederentdeckt wird. Zu den Cambridge Platonists gehören u. a. H. More, J. Smith und Ralph Cudworth. Als Hauptwerk des Letzteren gilt gemeinhin Cudworth 1678. Vgl. auch den Sammelband The Cambridge Platonists 1997. (2) Einfluss hatte diese Theorie zunächst einmal auf Anton Ashley Cooper Earl of Shaftesbury. Seine Schrift The Moralists aus dem Jahr 1709 ist nach dem Vorbild der sokratischen Dialoge verfasst. Sie entfaltet im Kern die These, dass das angeborene moralische Wissen durch enthusiastische Gefühle der Liebe zu schönen Menschen und der Begeisterung für die Schönheit der Natur wiederentdeckt wird. Das Werk erschien in erster Auflage schon 1705 unter dem Titel The Sociable Enthusiast. A Philosophical Adventure Written to Palemon. Vgl. Shaftesbury 1709. (3) Großen Einfluss hatte der Cambridger Neuplatonismus auch auf die englische Romantik um Samuel Taylor Coleridge und William Wordsworth. Vgl. ausführlich Raters 2006, Kapitel II. Diskutiert wurde diese Erkenntnistheorie im sogenannten ›SecondOxford-Hegelianismus‹, der zur selben Zeit, als Ross in Oxford lehrte, seine Blütephase erlebte. Deutlich vom Aristotelismus von Ross beeinflusst ist insbesondere die Schrift Bradley 1926. Das moralische Dilemma
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3. Das moralische Dilemma als menschliches Versagen nach Ross
Reifung mit zunehmender Evidenz und Deutlichkeit erschließt. Ausdrücklich betont Ross, dass »die wichtigsten moralischen Überzeugungen des gemeinen Mannes« keine »Meinungen« sind, die von Seiten der »Philosophie zu beweisen oder zu widerlegen« wären, sondern »ursprüngliche Erkenntnis«. »Ganz ausdrücklich« will Ross nicht nur die »Korrektheit unserer wichtigsten Überzeugungen über prima facie Pflichten« behaupten, sondern sich sogar auf die viel stärkere Position festlegen, dass »wir genau wissen«, dass diese Überzeugungen »wahr« 9 sind. Insgesamt unterscheidet Ross ohne Anspruch auf Vollständigkeit sechs (bzw. sieben) verschiedene Arten von ›prima facie Pflichten‹ nach Maßgabe der Tatsachen bzw. Umstände, durch welche die Pflichten jeweils in Kraft gesetzt werden bzw. aus denen sie sich herleiten. 10 Die ›Vertrauenspflichten‹ (engl. duties of fidelity) sowie die ›Wiedergutmachungspflichten‹ (engl. duties of reparation) basieren auf vorangegangenen Akten des Akteurs. Im ersten Fall hat er ein Versprechen gegeben, während er im zweiten Fall einen Fehler begangen hat, durch den jemand zu Schaden gekommen ist. Die sogenannten ›Dankbarkeitspflichten‹ (engl. duties of gratitude) wiederum beruhen auf Wohltaten anderer. Die ›Gerechtigkeitspflichten‹ (engl. duties of justice) betreffen die Verteilung von Gütern dem Verdienst entsprechend. Sie beruhen auf einem »komplexen Gut«, das Ross im 5. Kapitel seiner Abhandlung ausführlich thematisiert, nämlich auf dem Gut einer »Verteilung des Glücks in Entsprechung zur Tugend« 11. Die ›Wohltätigkeitspflichten‹ (engl. duties of benefice) sowie die ›Pflichten zur Selbstvollkommnung‹ (engl. duties of self-improvement) basieren auf der Tatsache, dass Tugend und Erkenntnis (und mit Einschränkung auch die Lust) nach Ross intrinsisch gut sind. Komplementär dazu basieren die ›Pflichten der Schadensvermeidung‹ (engl. duties of not injuring others) auf der Tatsache, dass Schaden intrinsisch schlecht ist. Es heißt im englischen Wortlaut: »The main moral convictions of the plain man seem to me to be, not opinions which it is for philosophy to prove or disprove, but knowledge from the start.« Ross 1930, 20 f. Anm. 1. »I should make it plain at this stage that I am assuming the correctness of some of our main convictions as to prima facie duties, or, more strictly, am claiming that we know them to be true.« A. a. O. 20 f. Anm. 1. 10 Nach Wolf will Ross mit seiner Liste von prima facie Pflichten »dem pessimistischen Diktum von Moore« trotzen, »das besagt: ›Die Ethik ist völlig unfähig, eine Liste von Pflichten zu geben‹«. Wolf 1996, 601. Verweis auf Moore 1903, § 91. 11 Ross 1930, 21 f., 26 f. Es heißt im englischen Wortlaut: »There is a more complex good (…) consisting in the proportionment of happiness to virtue.« A. a. O. 27. 9
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(a) Das moralische Dilemma als Grenzerfahrung
(2) Nun will man in einer konkreten moralischen Entscheidungssituation aber letztlich nicht wissen, welche Pflichten zur Disposition stehen, sondern man will wissen, was man »unter den gegebenen Umstände« tatsächlich tun soll, weil es im Gemenge der verschiedenen prima facie Pflichten die »eigentliche Pflicht« (engl. actual duty 12) ist. Vor dem Hintergrund von Ross’ Kritik an den ›private-reaction-theories‹ würde man nun erwarten, dass Ross’ Moralphilosophie eine Strategie an die Hand gibt, mit der sich das eindeutig feststellen ließe. Im Zentrum seiner Theorie des moralischen Urteils steht jedoch die Überzeugung, dass unsere »Urteile über unsere aktuale Pflicht keineswegs denselben Gewissheitsgrad haben« können wie unser Evidenzwissen von den prima facie Pflichten. Nach Ross lässt sich ein moralisches Urteil über »die aktual richtige Handlung« nur so fällen, dass man sich für diejenige Handlung entscheidet, die einem »unter den gegebenen Umständen« richtiger zu sein scheint als die Alternativen. Weil es für eine solche »Abschätzung« allerdings keine »allgemeinen Regeln« gibt, müssen sich die moralischen Akteure nach Ross auf ihren »Sinn für die aktuale Pflicht unter den gegebenen Umständen« verlassen, der zwar »im höchsten Grade fehlbar«, aber dennoch »die einzige Orientierungshilfe« ist, die wir im Falle konkreter moralischer Urteile »zur Verfügung haben«. Insofern sei »schon etwas Wahres dran« an der Behauptung, dass das richtige moralische Urteil eine »Glücksache« sei, wobei Ross allerdings auch betont, dass es sich bei diesem Glück um das ›Glück des Tüchtigen‹ handelt, weil es auch im Bereich der Moral »wie in allen praktischen Tätigkeiten« zwar »nicht sicher, aber immerhin doch wahrscheinlich« sei, dass man »Erfolg« hat und die richtige Entscheidung fällt, wenn man sich »besonders anstrengt« und aufrichtig abwägt und überlegt. »Mit dieser größeren Wahrscheinlichkeit« muss man sich nach Ross »zufrieden« geben, weil es letzte Sicherheit im moralischen Urteil seinen moralphilosophischen Vorgaben zufolge nicht geben kann. Im vorliegenden Zusammenhang vergleicht Ross das moralische Urteil dann sogar mit dem ästhetischen Urteil. Es heißt, dass wir uns im »moralischen Falle« ebenso wie im Bereich des Schönen »mit mehr oder weniger wahrscheinlichen Meinungen zufrieden-
Mit seiner Rede von einem spezifischen ›Sinn für die aktuale Pflicht‹ verweist Ross auf Passagen in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, nämlich auf Aristoteles 1995a, 1126b2–4, 1109b15–23. A. a. O. 42.
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geben« müssten, »die keine logisch abgesicherten Folgerungen aus für evident befundenen allgemeinen Prinzipien sind«. (3) Das moralische Dilemma bringt er dann ausgerechnet ins Spiel, um zu plausibilisieren, dass Moralurteile nicht per se mit Evidenz als richtig erlebt würden. Ein moralisches Dilemma ist für Ross eine Situation, in der »ein- und dieselbe Handlung zwei Charakteristiken hat, denen zufolge sie sowohl prima facie richtig als auch prima facie falsch ist«, und gerade in solchen Situationen wird uns nach Ross »bewußt, daß wir nicht mit Gewissheit wissen« können, »ob wir die Handlung ausführen sollten oder nicht, und daß wir, ob wir sie ausführen oder nicht, in jedem Fall ein moralisches Risiko eingehen«. Damit hat das moralische Dilemma in der Moralphilosophie von Ross also ausgerechnet deshalb einen besonderen Stellenwert, weil es uns besonders deutlich bewusst machen soll, dass wir mit jedem moralischen Urteil das »moralische Risiko« 13 eingehen, die falsche Entscheidung zu treffen. Eine überzeugende Begründung dafür, dass es das moralische Dilemma nicht geben kann, findet sich in der Moralphilosophie von Ross also nicht, obwohl Ross in The Foundation of Ethics eine Bemerkung gemacht hat, die von anderen so
Es heißt im englischen Wortlaut: »Our judgments about our actual duty in concrete situations have none of the certainty that attaches to our recognition of the general principles of duty«. Ross 1930, 30. »Right acts can be distinguished from wrong acts only as being those which, of all those possible for the agent in the circumstances, have the greatest balance of prima facie rightness, in those respects in which they are prima facie right, over their prima facie wrongness, in those respects in which they are prima facie wrong«. A. a. O. 41. »For the estimation of the comparative stringency of these prima facie obligations no general rules can, so far as I can see, be laid down.« A. a. O. 41. »This sense of our particular duty in particular circumstances, preceded and informed by the fullest reflection we can do best on the act in all its bearings, is highly fallible, but it is the only guide we have to our duty.« A. a. O. 42. »There is therefore much truth in the description of the right act as a fortunate act.« A. a. O. 31. »Yet it is certain that we are more likely in general to secure our advantage if we estimate to the best of our ability the probable tendencies of our actions in this respect, than if we act on caprice.« A. a. O. 32. »With this greater likelihood we must be content.« A. a. O. 32. »Both in this and in the moral case we have more or less probable opinions which are not logically justified conclusions from the general principles that are recognized as self-evident.« A. a. O. 31. »Where a possible act is seen to have two characteristics, in virtue of one of which it is prima facie right, and in virtue of the other prima facie wrong, we are (I think) well aware that we are not certain whether we ought or ought not to do it; that whether we do it or not, we are taking a moral risk.« A. a. O. 30. »We are taking a moral risk.« A. a. O. 30.
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(b) Das Argument der prima facie Pflichten als unvollkommene Pflichten
gelesen wurde, dass es gravierende Folgen für das Selbstverständnis der Moralphilosophie hätte, falls die Möglichkeit des moralischen Dilemmas nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden könnte. Damit scheint es eine Lücke in Ross’ Moralphilosophie zu geben, die es zu füllen gilt. In der einschlägigen Literatur waren insgesamt drei mögliche Argumente im Gespräch, mit denen sich diese Lücke vielleicht schließen lässt.
(b) Das Argument der prima facie Pflichten als unvollkommene Pflichten Zur Diskussion gestellt wurde erstens der Vorschlag, die prima facie Pflichten gegenüber der einen aktualen Pflicht als ›unvollkommene Pflichten‹ zu betrachten, weil dann jeder moralische Konflikt zu lösen wäre, indem man die prima facie Pflichten der einen aktualen Pflicht unterordnet, die man im Gemenge der situativ zur Disposition stehenden Pflichten als die aktuale Pflicht erkannt hat. 14 Das Problem des moralischen Dilemmas wäre damit gelöst, weil es Dilemmata lediglich auf der Ebene der prima facie Pflichten geben würde, aber nicht auf der moralphilosophisch eigentlich wichtigen Ebene der aktualen Pflichten, die tatsächlich befolgt werden müssen. Dieser Vorschlag basiert auf zwei Prämissen. Zum einen setzt er voraus, dass sich im Gemenge der jeweils in Kraft gesetzten prima facie Pflichten die eine aktuale Pflicht sicher erkennen lässt. Eine zweite Voraussetzung lautet, dass die prima facie Pflichten für Ross tatsächlich als ›unvollkommene Pflichten‹ eine grundsätzlich andere Art von Pflichten als die aktualen Pflichten sind. Die zweite Prämisse soll Gegenstand dieses Abschnitts sein, während ich die erste Prämisse in 3.d diskutieren werde. (1) Wie Sinnott-Armstrong treffend hervorhebt, könnte dieser Vorschlag der prima facie Pflichten eine vordergründige Plausibilität als ›unvollkommene Pflichten‹ der Tatsache entlehnen, dass »Ross und andere die ›prima facie‹ Pflichten sowohl ›aktualen‹ als auch ›absoluten‹« Diskutiert wird die Möglichkeit der Unterscheidung von zwei Arten von Pflichten zur Lösung von moralischen Konflikten u. a. auch in Aune 1979, 188–194; sowie in Donogan 1977, 154–157; sowie in Gregor 1963, 95–122; sowie bei Nell 1975 insg. Zum Verhältnis der hier verwendeten Begrifflichkeit zu Kants Terminologie s. u. Abschnitt 3.b.2. 14
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3. Das moralische Dilemma als menschliches Versagen nach Ross
Pflichten »gegenüberstellen, obwohl beide Begriffe nicht synonym« 15 zu sein scheinen. Insofern ist es zunächst einmal nachvollziehbar, wenn John Searle in seinem Essay Prima Facie Obligations von 1978 kritisch bemerkt, dass es bis zuletzt unklar bliebe, was Ross den prima facie Pflichten eigentlich genau gegenüberstellen wollte, weil er ihnen sowohl die Pflichten ›sans phrase‹ bzw. die aktualen Pflichten (engl. actual duties bzw. duties proper) als auch die ›absoluten Pflichten‹ (engl. absolute duties) gegenübergestellt habe. 16 Weil sie von Nachfolgern wie beispielsweise Hintikka übernommen worden sei, soll die letztgenannte Unterscheidung nach Searle besondere Wirkmacht entfaltet haben. Eine Gegenüberstellung vom prima facie Pflichten und absoluten Pflichten im Sinne von Hintikka würde nach Searle den Rückschluss zulassen, dass prima facie Pflichten nach Ross »eine spezielle Sorte von Pflichten« sind, welche »von anderen Pflichten« (nämlich den sogenannten »absoluten Pflichten«) »außer Kraft gesetzt werden« können, wobei aus einer prima facie Pflicht »in einer bestimmten Situation eine absolute Pflicht werden« könne, insofern sie »alle anderen Pflichten außer Kraft setzt« 17. (2) Pate gestanden hat bei Hintikkas Unterscheidung der prima facie Pflichten von ›absoluten Pflichten‹ natürlich Kants Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. (2.1) Dass Ross diese Unterscheidung nicht im Sinn gehabt haben kann, liegt in meinen Augen jedoch schon deshalb auf der Hand, weil die Unterscheidung bei Kant nicht von den Umständen abhängig ist. Vollkommene Pflichten sind moralische Handlungsregeln, die keine Ausnahmen dulden. Unvollkommene Pflichten hingegen nennt Kant deutlicher auch ›Verdienste‹, um zu betonen, dass unvollkommene Pflichten Ausnahmen und Interpretationsspielräume zulassen, weil es im Falle der unvollkommenen Pflichten nach Kant kein allgemeines Es heißt im englischen Wortlaut: »Ross and others contrasts ›prima facie‹ with both ›actual‹ and ›absolute‹. These terms are not synonym.« Sinnott-Armstrong 1988, 99. 16 Searle 1978, 81 f. 17 Es heißt im englischen Wortlaut: »Prima facie obligations are a species or kind of obligations. They are inherently subject to being overruled or overridden by other obligations (and other reasons for acting in conflict situations). An obligation that overrides them is called an absolute obligation. Relative to a given situation, a prima facie obligation can become an absolute obligation if it overrides all other obligations.« Searle 1978, 83. Verweis auf Hintikka 1969. 15
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(b) Das Argument der prima facie Pflichten als unvollkommene Pflichten
Gesetz geben kann, das auf diese Handlung in jeder Situation unbedingt verpflichten würde. Kants Beispiel für eine vollkommene Pflicht gegen sich selbst ist die Pflicht zur Lebensbewahrung (wodurch die Selbsttötung auch unter misslichsten Umständen ausgeschlossen wird); als Beispiel für eine unvollkommene Pflicht gegenüber sich selbst führt Kant die Pflicht zur Ausbildung seiner Talente an; sein Beispiel für eine vollkommene Pflicht gegenüber anderen ist die Aufrichtigkeit; sein Beispiel für eine unvollkommene Pflicht gegenüber anderen ist die Wohltätigkeit. 18 Entscheidend ist, dass es bei Kant völlig unabhängig von den Umständen ist, ob eine Pflicht eine vollkommene oder eine unvollkommene Pflicht ist. Schon deshalb kann Ross Kants Unterscheidung nicht gemeint haben. (2.2) Ein weiteres Problem wäre, dass der Begriff einer ›unvollkommenen Pflicht‹ im kantischen System eigentlich eine contradictio in adjecto zu sein scheint, weil Kant selbst an exponierter Stelle betont, dass er unter einer »Pflicht« grundsätzlich »diejenige Handlung« verstanden wissen will, die »moralisch notwendig, d. i. verbindlich« 19 ist. Eine unvollkommene Pflicht duldet Ausnahmen, obwohl eine Pflicht nach Kant per se und ausnahmslos verbindlich ist. Hätte Ross diese Unterscheidung von Kant übernehmen wollen, hätte er ebenfalls eine Liste erstellen müssen, welche prima facie Pflichten nur als Verdienste anzusehen sind und welche als ›Pflicht‹ im eigentlichen Sinne des Begriffs tatsächlich immer und ausnahmslos verbindlich sind. Eine solche Liste gibt es jedoch nicht. Im Gegenteil betont Ross immer wieder, dass alle prima facie Pflichten zunächst einmal (sprich: prima facie) verpflichtend sind. (2.3) Ross hat sich von der fraglichen Unterscheidung sogar ausdrücklich distanziert mit der Bemerkung, dass es sich Kant viel zu »einfach« gemacht habe mit seiner Auffassung, dass es »Pflichten von vollkommener Verpflichtungskraft« geben könne, wie »beispielsweise die Pflichten, ein Versprechen zu halten, seine Schulden zurückzuzahlen« oder »immer aufrichtig zu sein«. In der Tat kann die fragliche Unterscheidung bei Ross auch gar keine Rolle spielen, weil ja eine der zentralen Prämissen seiner Moralphilosophie lautet, dass es keine Pflichten gibt, die »keine Ausnahmen zulassen« 20 würden, was bei den 18 19 20
Kant 1785, 52 ff. Kant 1797, 327 f. Ross 1930, 18. Im engl. Wortlaut zit. s. o. Kap. 3 Anm. 2.
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3. Das moralische Dilemma als menschliches Versagen nach Ross
sogenannten ›absoluten Pflichten‹ jedoch per definitionem der Fall wäre. Das gesteht dann auch Searle zu mit dem Hinweis darauf, dass Ross die Rede von den prima facie Pflichten explizit eingeführt habe, um deutlich zu machen, dass es in seinen Augen keine Pflichten gibt, gegen die man niemals verstoßen sollte. 21 Gegenstandslos wird damit auch Zoglauers Kritik, der »die Unterscheidung zwischen absoluten und Prima-facie-Pflichten« bei Ross unter ausdrücklicher Berufung auf Searle als »willkürlich« bezeichnet, weil Ross »keine klaren Unterscheidungskriterien« gäbe, »ob eine absolute oder nur eine bedingte Pflicht vorliegt«, so dass es sein könne, dass eine Pflicht, »die uns in einer Situation als absolute Pflicht erscheint«, in einer anderen Situation »lediglich« als »prima facie Pflicht« 22 behandelt werden müsse. Ross bietet keine Kriterien zur Unterscheidung von unvollkommenen prima facie Pflichten und vollkommenen bzw. absoluten Pflichten an, weil es absolute Pflichten (die keine Ausnahme dulden würden) in seiner Moralphilosophie schlicht nicht gibt. Das einzige, was Ross Kants Unterscheidung zugesteht, ist, dass Kants vollkommenen Pflichten wie beispielsweise das Halten eines Versprechens ein besonders hohes Maß an Verbindlichkeit gegenüber anderen prima facie Pflichten zukomme. 23 (2.4) Dass Ross tatsächlich keine zwei Arten von Pflichten annehmen wollte, bestätigt sich schließlich auch durch eine von Searle selbst ins Feld geführte Passage, in der Ross ausdrücklich sagt, dass der Begriffsbestandteil ›prima facie‹ die prima facie Pflichten »keineswegs im Sinne eines Adjektivs« von anderen Pflichten »unterscheiden« 24 solle. Diese Passage muss man wohl tatsächlich (wie Searle es dann auch tut) so lesen, dass Ross hier die Möglichkeit verschiedener Arten von Pflichten definitiv ausschließen wollte, unter »denen die prima facie Pflichten eine bestimmte Spielart darstellen« 25 würden.
Searle 1978, 81. Dieser Lesart findet sich auf bei Wolf. Es heißt: »Es handelt sich im Kern um Pflichten, welche im Anwendungsfall Ausnahmen oder Qualifikationen durch andere prima facie Pflichten zulassen. Ross will im Blick auf die vertrackten Probleme moralischer Konflikte und Ausnahmen ein angemessenes Vokabular schaffen« Wolf 1996, 601. 22 Zoglauer 1998, 119. Verweis auf Dancy 1979, 222. 23 Ross 1930, 41. 24 Es heißt im englischen Wortlaut: »Strictly speaking, we want not a phrase in which duty is qualified by an adjective, but a separate noun«. Ross 1930, 20. 25 Es heißt im englischen Wortlaut: »Ross explicitly denies that he thinks of prima facie obligations as a kind of obligations.« Searle 1978, 83. 21
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Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass Ross keine distinkte Unterscheidung von absoluten und prima facie Pflichten im Auge hatte. Er verwendet die Begriffe ›aktuale Pflicht‹ (engl. actual duty) und ›absolute Pflicht‹ (engl. absolute duty) vielmehr synonym, um in dem gesamten Gemenge der situativ in Kraft gesetzten prima facie Pflichten diejenige Pflicht hervorzuheben, die durch die konkreten Umstände der Situation am stärksten in Kraft gesetzt wurde und in einer Situation tatsächlich befolgt werden sollte, weil sie in der jeweiligen Situation das größte Gewicht hat. 26 Damit kann es aber auch die Möglichkeit einer konsequenten Unterordnung der prima facie Pflichten unter absolute Pflichten zur Lösung aller moralischen Dilemmata bei den moralphilosophischen Vorgaben von Ross nicht geben. Das bedeutet, dass das erste ins Spiel gebrachte Argument zum Aufweis der Unmöglichkeit des moralischen Dilemmas im Sinne von Ross nicht infrage kommt.
(c) Das Argument der prima facie Pflichten als Scheinpflichten Als zweites mögliches Argument wurde vorgeschlagen, dass man die prima facie Pflichten als bloße Scheinpflichten betrachten könnte, deren moralischer Anspruchscharakter sich in Luft auflöst, sobald man eine gut begründete Dilemma-Entscheidung für eine aktuale Pflicht getroffen hat. 27 Für einen Autor wie Donogan beispielsweise steht fest, Dieser Vorschlag entspricht weitgehend dem Interpretationsvorschlag von Trigg aus dem Jahr 1971, dem zufolge Ross mit seiner Unterscheidung keine ontologische Unterscheidung treffen, sondern lediglich zwei Arten unterscheiden will, wie wir in konkreten Konfliktsituationen davon reden, dass wir etwas tun sollen. Wenn er von prima facie Pflichten spricht, meint er laut Trigg das Sollen, was in einer Situation insgesamt zur Disposition stehen kann, während als die ›aktuale Pflicht‹ dasjenige Sollen bezeichnet wird, für das sich unsere moralische Intuition in einer konkreten Situation letztendlich als das vorrangige und eigentlich gebotene Sollen entschieden hat. Es heißt im englischen Wortlaut: »In other words we want a word which we can use in asking for a final decision and ›ought‹ seems the appropriate one.« Trigg 1971, 52. Weiter heißt es: »It was this difficulty which made Ross make his distinction between prima facie duties and actual duty. If he had restricted ›duty‹ to what he termed ›prima facie duties‹, the word might have appeared to have lost much of its force as a guide go action. If, on the other hand, he had restricted it to what we should actually do in a situation, he would have ignored the true nature of moral dilemmas.« A. a. O. 53. 27 Dieses Argument der Scheinpflichten wurde häufiger diskutiert als das Argument der absoluten Pflichten. 26
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dass die prima facie Pflichten nach Ross bloße Scheinpflichten in dem Sinne sind, dass die jeweils unterlegenen prima facie Pflichten ihr »moralisches Gewicht« durch das Unterliegen »gleich ganz« 28 verlieren sollen. Mit diesem Vorschlag wäre das Problem des moralischen Dilemmas sogar besonders ›restlos‹ gelöst, weil sich die unterlegene prima facie Pflicht ja gleich ganz ›auflösen‹ soll. Searle zufolge soll es immerhin die »offizielle Lesart« 29 sein, die prima facie Pflichten als Scheinpflichten zu betrachten. Tatsächlich ist das jedoch umstritten. Treffend beschrieben wird die Sachlage von Sinnott-Armstrong, dem zufolge sich die Geister gegenüber der Moralphilosophie von Ross bis heute an dieser Frage scheiden. 30 (1) In einem Essay von 1994 versucht Brink, die prima facie Pflichten gegen den Verdacht der Scheinpflichten mit dem Argument zu verteidigen, dass prima facie Pflichten einen objektiven »metaphysischen« 31 (1) Als Einwand formuliert, wurde die Möglichkeit dieses Arguments beispielsweise in dem Essay Ethical Consistency von Williams aus dem Jahr 1965 ins Feld geführt. Hier heißt es, dass Ross den Begriff der prima facie Pflichten eingeführt habe, weil ein »wirkliches Akzeptieren« der Möglichkeit des moralischen Dilemmas für Ross einen »logischen Widerspruch« darstellen würde. Williams’ Rekonstruktion zufolge besteht Ross’ Lösung des Problems der Möglichkeit des moralischen Dilemmas in der Überzeugung, dass zwar »in jeder dieser Situationen« mindestens »zwei solcher Pflichten vorhanden« sein mögen, »von denen aber höchstens eine jeweils eine tatsächliche Verpflichtung darstellen« könne. Williams 1965a, 272. (2) Bei van Fraassen heißt es im Jahr 1973: »Sir David Ross thought that it was exactly the business of the moral philosopher to show how such conflicts are to be resolved, how conflicts between prima facie duties are, after all, illusory upon proper understanding.« Fraassen 1973, 141. (3) Auch Searle zieht die Möglichkeit dieses Arguments in seinem Essay von 1978 kritisch in Erwägung. Es heißt zunächst: »An immediate difficulty with it is that on this view the promise in the conflict situation ends up counting for nothing.« Searle 1978, 82. Kritisch heißt es dann etwas später: »If taken seriously, it has the consequence of denying the obvious fact about human experience, that there are moral conflicts.« A. a. O. 86. (4) Bei Donogan heißt es im Jahr 1993 schließlich folgendermaßen: »Because of this, not only do you have no conflict of duties, you do not even have the ghosts of a conflict.« Donogan 1993, 20. 28 Es heißt im englischen Wortlaut: »The crucial point in Ross’s theory is that the prima facie duty with the lesser potential weight has no actual weight at all.« Donogan 1993, 20. 29 Searle 1978, 82. 30 Sinnott-Armstrong 1988, 101. 31 Es heißt im englischen Wortlaut: »Prima facie obligations should be given a metaphysical reading that recognizes prima facie obligations as moral forces that are not
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Grund haben müssten, weil sich ansonsten keine eindeutige Hierarchie zwischen ihnen herstellen ließe, durch welche der moralische Sinn schließlich die eigentliche bzw. aktuale Pflicht identifizieren könne. Dieser Vorschlag ist nun schon deshalb wenig hilfreich, weil es nach Ross ausdrücklich keine objektive Hierarchie der prima facie Pflichten gibt. 32 Und letztlich ist auch der ›metaphysische Urgrund‹ der prima facie Pflichten strittig – aber das ist Gegenstand der Diskussion in 3.d. (2) Tatsächlich können prima facie Pflichten schon deshalb mit Ross nicht als ›Scheinpflichten‹ betrachtet werden, weil es eine Passage gibt, in der Ross ausdrücklich sagt, dass mit der prima-facie-Rede kein bloßer »Anschein« einer Pflicht gemeint sei, der sich im Zuge von moralischer Reflexion als »illusionär« erweisen kann. Explizit verweist diese Passage darauf, dass prima facie Pflichten als »objektive Bestandteile bzw. Elemente der Situation« 33 anzusehen seien. Was objektiv in Kraft gesetzt wird, kann kein Schein sein. Schon deshalb lassen sich die prima facie Pflichten mit Ross nicht als bloße Scheinpflichten betrachten. (3) Gegen eine Betrachtung der prima facie Pflichten als bloße Scheinpflichten spricht vor allem, dass Ross immer wieder betont, dass wir auch nach einer noch so gut begründeten Entscheidung gegen eine situativ zur Disposition stehende prima facie Pflicht in aller Regel »vielleicht nicht gerade Scham (shame) oder Reue (repentance) fühlen, aber immerhin doch Gewissensbisse (compunction)« empfinden. Als Beispiel zieht Ross das Lügen-Dilemma von Kant heran, das in seinen Augen eindeutig zugunsten einer schützenden Lüge gegenüber dem Mörder zu entscheiden ist. Dann aber betont Ross Folgendes: »Obwohl wir uns selbst gerechtfertigt fühlen«, in einer solchen Situation gegen das Aufrichtigkeitsgebot zu verstoßen, und »obwohl wir uns vielleicht sogar zu einem solchen Verstoß verpflichtet fühlen, um große Qual von jemand anderem abzuwenden«, würden wir »keinen Augenblick lang cancelled by the existence of other moral forces even if the later override or defeat the former.« Brink 1994, 104. 32 Das wird explizit gesagt in Ross 1930, 24. 33 »Prima facie suggests that one is speaking only of an appearance which a moral situation presents at first sight, and which may turn out to be illusory; whereas what I am speaking of is an objective fact involved in the nature of the situation, or more strictly in an element of its nature, though not, as duty proper does, arising from its whole nature.« Ross 1930, 20. Das moralische Dilemma
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zögern«, die Aufrichtigkeitspflicht »als Pflicht weiterhin anzuerkennen« 34. Wenn wir die Aufrichtigkeitsforderung in entsprechenden Situationen hingegen (wie die einschlägige Kritik behauptet) als bloße Scheinpflicht abtun könnten, gäbe es keinen Grund und damit keine Erklärung dafür, dass wir nach einer solchen Entscheidung ja tatsächlich oft Gewissensbisse verspüren und uns bei dem entschuldigen wollen, gegenüber dem wir aus noch so guten Gründen gegen eine prima facie Pflicht verstoßen haben. Es ist also überflüssig, wenn Donogan 35 abschließend vorschlägt, in der Moralphilosophie von Ross die ›kleine Änderung‹ vorzunehmen, dass die prima facie Pflichten ihren Verpflichtungscharakter auch nach einer gut begründeten Entscheidung gegen sie behalten sollen, weil dieser Gedanke bei Ross längst ausformuliert ist. Vergleichbar erledigt sich die Kritik von Bernard Williams in seinem Essay Ethical Consistency von 1965, der zufolge es »dunkel« bleibt, wie einer »Pflicht«, deren »Anspruch« als Pflicht sich »in einer Konfliktsituation« nicht »erhärtet, weiterhin einen Resteinfluss auf mein moralisches Denken im Rahmen dieser Situation ausüben« 36 können soll: Der Anspruch einer prima facie Pflicht als Pflicht ändert sich durch eine moralische Entscheidung nicht, und deshalb kann sie auch weiterhin einen Einfluss auf das moralische Denken in der Weise ausüben, dass es zwar nicht zu Reue, aber immerhin doch zu Gewissensbissen kommen kann. 37 Damit bleibt festzuhalten, dass die prima facie Pflichten nach Ross keine bloßen Scheinpflichten sind, womit auch das zweite Argument zur Widerlegung der Möglichkeit des moralischen Dilemmas im Sinne von Ross hinfällig geworden wäre.
(d) Das Argument der nicht sicheren Erkennbarkeit der aktualen Pflicht Man könnte von der eigentlichen Nicht-Existenz des moralischen Dilemmas nun auch so zu überzeugen versuchen, dass man den empiri34 35 36 37
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Ross 1930, 28. Donogan 1993, 20. Williams 1965a, 279 f. Vgl. Mit demselben Einwand auch Searle 1978, 86. Vgl. dazu ausführlich Abschnitt 6.c.3.
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schen Anschein der Möglichkeit des moralischen Dilemmas damit erklärt, dass eine Pflicht im Gemenge der prima facie Pflichten durch situative Umstände zwar tatsächlich eindeutig als aktuale Pflicht in Kraft gesetzt wird, dass das aber wegen der begrenzten Fähigkeiten des Menschen zur vollständigen Erfassung solcher moralischen Tatsachen in vielen Fällen falsch oder nur undeutlich erfasst wird. 38 Als Syllogismus Die Möglichkeit dieses Arguments wurde in der angelsächsischen Debatte insgesamt am ausführlichsten diskutiert. (1) Als ein im Sinne von Ross mögliches Argument wurde das Argument der nicht sicheren Erkennbarkeit der aktualen Pflicht von Ruth B. Marcus in ihrer Abhandlung Moral Dilemma and Consistency von 1980 zur Diskussion gestellt. Ihrer Rekonstruktion zufolge bestreitet Ross’ Moralphilosophie die »Realität des moralischen Dilemmas« allem empirischen Anschein zum Trotz aufgrund der Überzeugung, dass es »den einen richtigen Weg« zur Lösung jedes Dilemmas »tatsächlich gäbe«, weshalb das Problem des moralischen Dilemmas letztlich »kein Konsistenzproblem« sei, sondern lediglich ein Problem der fehlbaren moralischen »Intuition«, der nach Ross ja die »letzte Entscheidung« im moralischen Konfliktfall zukommen soll. Marcus’ Rekonstruktion zufolge machen also diejenigen, die sich vom Problem der Möglichkeit des moralischen Dilemmas »irritiert« fühlen, den schlichten Fehler, dass sie nicht akzeptieren, dass es sich bei diesem Problem lediglich »um ein epistemoglisches Problem« handele und keinesfalls um ein »ontologisches oder reales« Problem. Es heißt im englischen Wortlaut. »However, the moral intuitionist also dispute the reality of moral dilemmas.« Marcus 1980, 191. »There is only one right way to go, and hence no problem of inconsistency«. A. a. O. 192. »That ultimate determination is a matter of intuition.« A. a. O. 191. »For Ross, those who are puzzled by moral dilemmas have failed to see that the problem is epistemological and not ontological, or real«. A. a. O. 191. (2) Verbreitung fand dieses Argument insbesondere dadurch, dass Gowans es in der Introduction zu seinem Band Ross ausdrücklich zugeschrieben hat. Gowans 1987, 13. (3) Unabhängig von Ross als eigenständige Position vertreten wurde das Argument der nicht sicheren Erkennbarkeit der aktualen Pflicht dann von David O. Brink in dem Essay Moral Conflicts and Its Structure von 1994 als Beitrag gegen die deontische Logik (vgl. Kapitel 5). Im Sinne einer Präambel hält Brink fest, dass nur die Möglichkeit derjenigen »echten moralischen Dilemmata« ein »ernsthaftes Problem für die Moralphilosophie« darstellen würde, die auch jenseits der empirischen Ebene von konfligierenden prima facie Pflichten in einem »metaphysischen« Sinne unlösbar zu sein scheinen. Um von der ›metaphysischen Lösbarkeit‹ aller Dilemmata zu überzeugen, führt Brink dann den Begriff der ›eigentlichen Verpflichtung‹ (engl. all-things-considered obligation) ein. Gemeint ist diejenige der prima facie Pflichten, für die man sich im Konfliktfalle als die tatsächliche Pflicht (engl. actual duty) entscheiden müsste, wenn man einen Gottesstandpunkt einnehmen und alle »moralisch relevanten Aspekte der Situation« erfassen und adäquat berücksichtigen könnte. Damit meint Brink, gezeigt zu haben, dass es möglich ist, die Erfahrung des moralischen Dilemmas als bloßen Anschein zu erklären, dem jenseits der begrenzten moralischen Fähigkeiten des Menschen in der moralphilosophisch eigentlich relevanten Sphäre der moralischen Weltordnung jedoch kein reales Problem entspricht. Es heißt im englischen Wortlaut: »It is a conflict of all-
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lässt sich das Argument der nicht-sicheren-Erkennbarkeit folgendermaßen rekonstruieren. Eine erste realistisch-metaphysische Prämisse P1 würde besagen, dass es eine einzige ›moralische Weltordnung‹ als in sich geschlossenes System von prima facie Pflichten gibt. Eine zweite Prämisse P2 würde besagen, dass konkrete situative Umstände jeweils einige dieser Pflichten in moralisch so eindeutiger Weise und mit so eindeutigem moralischen Gewicht als moralische Tatsachen in Kraft setzen, dass es im Gemenge der jeweils in Kraft gesetzten prima facie Pflichten eine aktuale Pflicht gibt, die am gewichtigsten in Kraft gesetzt wurde. Aus diesen beiden Prämissen würde zunächst einmal folgen, was zu beweisen ist: Es würde nämlich folgen, dass es keine moralischen Dilemmata gibt, weil in jeder Situation ja eine der prima facie Pflichten als die gewichtigste aktuale Pflicht zu befolgen wäre. Eine dritte Prämisse P3 würde schließlich die Begrenztheit der Fähigkeiten des Menschen behaupten, solche moralischen Tatsachen im vollen Umfang und vollständig zu erfassen, womit der empirische Anschein der Möglichkeit des moralischen Dilemmas erklärt wäre. (1) Die dritte Prämisse P3 würde die Begrenztheit des menschlichen moralischen Urteils 39 über die aktuale Pflicht behaupten, um den Anschein des moralischen Dilemmas zu erklären. (1.1) Dieser Prämisse P3 würde Ross zweifellos zustimmen. Schließlich betont er immer wieder, dass unser »Sinn für die aktuale Pflicht unter den gegebenen Umständen« im »höchsten Grade fehlbar« things-considered, and not merely prima facie, duties that is required to generate a moral conflict that would have serious implications for ethical theory.« Brink 1994, 102. »Rather, genuine moral dilemmas must involve metaphysical equipollence.« A. a. O. 105. »Friends of dilemmas reject such principles at a high price.« A. a. O. 114. »An allthings-considered obligation represents what one ought to do in light of all morally relevant factors, including alternatives.« A. a. O. 115. 39 Nach John Rawls hat Ross die Unterscheidung von prima facie Pflichten und aktualen Pflichten überhaupt nur eingeführt, um die Begrenztheit des (menschlichen) moralischen Urteils zu betonen. Rawls Lesart zufolge setzt Ross ein realistisches System von Grundsätzen voraus, das (i) vollständig bekannt sein kann und (ii) endlich ist. Vor diesem Hintergrund betrachtet er die Unterscheidung zwischen aktualen Pflichten und prima facie Pflichten als eine Unterscheidung zwischen zwei Spielarten des moralischen Urteils: Von prima facie Pflichten sei so lange die Rede, wie noch nicht alle Sätze des Systems berücksichtigt wurden, während von einer aktualen Pflicht nur bei der Erfassung des Gesamtsystems die Rede sein könne, was menschlichen Akteuren natürlich faktisch unmöglich ist. Rawls 1971, 376.
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sei. In The Right and the Good begründet Ross diese Überzeugung damit, dass es »seiner Theorie zufolge« weder eine objektive Hierarchie von Pflichten noch erste »Prinzipien« geben könne, mit denen sich »unter bestimmten Umständen« entscheiden ließe, welche der vielen in Kraft gesetzten prima facie Pflichten »die aktuale Pflicht« ist. Die Gewissheit einer »logischen Ableitung aus ersten selbstevidenten Prämissen« im Bereich des moralischen Urteils kann es nach Ross nicht geben, weil es in seinen Augen kein allgemeines Verfahren oder »Prinzip« gibt, durch das sich »schlussfolgern« ließe, ob ein bestimmter Akt unter bestimmten Umständen »insgesamt richtig oder insgesamt falsch« 40 ist. (1.2) Gegen diese Theorie des moralischen Urteils drängen sich allerdings die Einwände der irrationalen Willkür und des moralphilosophischen Defätismus auf. 41 Weil Ross sich nicht dazu äußere, »wie die konkurrierenden Pflichten zu gewichten bzw. zu beurteilen sind«, ist Ross’ Theorie des moralischen Urteils für Hare beispielsweise »weniger eine Methode« zur Lösung »als vielmehr eine Umgehung des Problems« 42 des moralischen Dilemmas. Vergleichbar heißt es bei Donogan, dass bei Ross »alle formalen Prozeduren« fehlen würden, so dass »moralische Reflexion keine Angelegenheit der praktischen Vernunft«, sondern lediglich der Intuition wäre, was Donogan für »selbstmörderisch« 43 hält. Kutschera distanziert sich in seinem Plädoyer für »This sense of our particular duty in particular circumstances, preceded and informed by the fullest reflection we can do best on the act in all its bearings, is highly fallible.« Ross 1930, 42. »Our theory that there are these various and often conflicting types of prima facie duty leaves us with no principle upon which to discern what is our actual duty in particular circumstances.« A. a. O. 23. »Our judgements about our particular duties are not logical conclusions from self-evident premisses«. A. a. O. 31. »There is no principle by which we can draw the conclusion that it is on the whole right or on the whole wrong«. A. a. O. 41 Wie Wolf treffend bemerkt, müssen sich »Intuitionisten« wegen ihrer Theorie des moralischen Urteils fast schon routinemäßig gegen den Standardeinwand »der Willkür« verteidigen. Wolf 1996, 602. 42 Hare 1981, 80. 43 Es heißt im englischen Wortlaut: »There are no formal procedures by which such tasks can be performed: they call for a good judgement, not for reasoning. Moral reflection is not a matter of practical reasoning, but of surveying considerations intuitively perceived to be relevant, in the hope that none will be overlooked, and then of intuitively gauging their relative weight.« Donogan 1984, 272. »This theoretical strategy is suicidal«. A. a. O. 272. Bei Jonathan Dany heißt es vergleichbar: »There is no general ranking of the different types of prima facie duty, and since different moral principles 40
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eine intuitionistische Ethik von der Moralphilosophie von Ross, weil sie »in den wichtigen Fällen von Pflichtenkollisionen keine Auskunft darüber geben« würde, »was zu tun ist« 44. Mit dem Hinweis auf die von Ross hervorgehobenen Schwierigkeiten, »unsere definitive Pflicht zu bestimmen«, nennt schließlich sogar Wolf als expliziter Verteidiger des Intuitionismus Ross »im Bereich der Anwendung« einen »Skeptiker«, wenn Wolf dann allerdings auch gleich wieder betont, dass eine solche Skepsis in den ›harten‹ moralischen Konfliktfällen wie beispielsweise »der Sterbehilfe« 45 durchaus angebracht sei. (1.3) Wäre Ross’ Theorie des moralischen Urteils tatsächlich irrational bzw. willkürlich, müsste das Argument der nicht sicheren Erkennbarkeit der aktualen Pflicht schlicht zu den Akten gelegt werden, weil Argumente per se nicht überzeugen können, wenn sie auf irrationalen Prämissen beruhen. Tatsächlich ist Ross’ Theorie des moralischen Urteils jedoch keineswegs irrational, sondern lediglich anti-rationalistisch. 46 (1.3.1) Diesbezüglich wenig Überzeugungskraft hat es allerdings, wenn Ross darauf verweist, dass selbst Aristoteles für das moralische
express different prima facie duties, there is no general ranking of moral principles.« Dancy 1979, 222. Und auch Zoglauer bemängelt, dass Ross »keine allgemeingültigen Vorrangregeln für Prima-facie-Pflichten« angeben und sich damit »dem Vorwurf des Subjektivismus« aussetzen würde. Zoglauer 1998, 119. 44 Kutschera 1980, 114, Anm. 6. 45 Wolf 1996, 606. Verweis auf Feinberg 1986, 370. 46 Ross’ zentraler Einwand gegen den moralphilosophischen Rationalismus ist im vorliegenden Zusammenhang unwichtig. Er lautet, dass aus einem rein rationalen moralischen Urteil kein Impuls zum Handeln hervorgehen könne. Dieses Problem habe sich beispielsweise der moralphilosophische Rationalismus von Kant eingehandelt, als er den »Sinn für Pflicht als eine von jedem Begehren unabhängige Funktion der Vernunft« erklärte. Es heißt im englischen Wortlaut: »Regarding the sense of duty as an operation of reason distinct from any form of desire, and accepting the general truth of Aristotle’s dictum that thought alone sets nothing going, Kant found one of his greatest puzzles to lie in the fact that pure reason can become practical, that the mere thought of an act as one’s duty can by itself induce us do the act.« Ross 1930, 157. Dagegen habe schon Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik treffend darauf hingewiesen, dass das »Prinzip des Handelns« die »Willenswahl« sei, wobei das Prinzip der Willenswahl wiederum »das Begehren« bzw. »der Begriff oder die Vorstellung des Zwecks« sei, weshalb »das Denken für sich allein« nichts bewegen könne, sondern nur »das auf einen bestimmten Zweck gerichtete praktische Denken«, wobei es natürlich eine wichtige Rolle spielen müsse, wenn es um die Entscheidung für die jeweils »richtige« Handlung ginge. Aristoteles 1995c, 1139a30–35.
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Urteil keine letzte Gewissheit beanspruchen würde. 47 Zwar steht Aristoteles als einer der systematischsten und originellsten Denker der Philosophiegeschichte sicherlich nicht unter Irrationalitäsverdacht. Insgesamt aber ist der Verweis auf die Nikomachische Ethik nur ein schwaches Autoritätsargument. (1.3.2) Stärker fällt ins Gewicht, dass Ross durchaus gute (sprich: rationale) Gründe für seine Zweifel an einer objektiven Hierarchie von Pflichten oder an ersten Prinzipien des moralischen Urteils anführt. Gegen Kants Hierarchie von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten wendet er beispielsweise ein, dass es unter Umständen richtig sein könne, gegen die vollkommene Pflicht der Aufrichtigkeit zu verstoßen. Dieser Einwand ist sicherlich ebenso überzeugend wie Ross’ zentraler Einwand gegen das utilitaristische Prinzip, dass nämlich »eine Handlung nicht schon deshalb« im moralischen Sinne »richtig« sei, weil sie irgendein »gutes Resultat« produziere: Eine Handlung müsse vielmehr »unabhängig von den Folgen für sich selbst betrachtet richtig« 48 sein. Hinweisen ließe sich schließlich auch auf die Tatsache, dass Hares Universaler Präskriptivismus – der dem Anspruch nach die ›irrationale Lücke‹ in Ross’ intuitionistischer Moralphilosophie durch die Etablierung eines rationalen Verfahrens des moralischen Urteils schließen will – letztlich doch noch auf dieselben Intuitionen angewiesen ist, die Hare bei Ross als ›irrational‹ kritisiert (vgl. dazu das gesamte 4. Kapitel).
Als Beleg zitiert er zwei Passagen aus der Nikomachischen Ethik, denen zufolge nur denjenigen ein »Tadel« treffen soll, der mit seinem praktischen Urteil »das rechte Maß bedeutend« verfehlt, während denjenigen »kein Tadel« treffen solle, der das richtige moralische Urteil »nur um ein Kleines fehlt, sei es durch ein Zuviel oder ein Zuwenig«. Von »welchem Punkt und Grad an man aber Tadel verdient«, lässt sich nach Aristoteles bezeichnenderweise »nicht leicht in Worte fassen«, weil alles, »was dem Bereich des Handelns« angehört, »singulär und konkret« sei. Es lässt sich nach Aristoteles »nicht leicht mit Worten angeben«, wie »weit und wie man von der Mitte abweichen muß, um dem Tadel zu verfallen«, weil das »Urteils des Sinnes« nun einmal »mit dem Einzelnen zu tun« habe. Aristoteles 1995c, 1109b15–23; 1126b2–4. Der Hinweis auf diese Passagen findet sich in Ross 1930, 42. 48 Zu den Einwänden gegen eine Hierarchie von Pflichten (insb. mit Blick auf Kant) vgl. Ross 1930, 22 ff., 44. Zu den Zweifeln an ersten Prinzipien (insb. mit Blick auf den Utilitarismus) vgl. a. a. O. 42–47. Es heißt im englischen Wortlaut: »An act is not right because it, being one thing, produces good results different from itself; it is right because it is itself the production of a certain state of affairs. Such production is right in itself, apart from any consequences.« A. a. O. 46 f. 47
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3. Das moralische Dilemma als menschliches Versagen nach Ross
(1.3.3) Vor allem aber muss Ross’ Theorie des moralischen Urteils nicht schon per se deshalb irrational sein, weil sie auf dem Standpunkt steht, dass der »Sinn für die aktuale Pflicht unter den gegebenen Umständen im höchsten Grade fehlbar« 49 sei. Irrational wäre eine Position, die behauptet, dass moralische Urteile nicht auf rationalen Gründen beruhen. Ross’ Intuitionismus zufolge beruht das moralische Urteil jedoch sehr wohl auf Gründen, von denen anders als im Rationalismus allerdings nicht angenommen wird, dass sie bis ins Letzte intersubjektiv ausbuchstabiert oder aus ersten absoluten Prinzipien oder Pflichtenhierarchien abgeleitet werden können. Der Intuitionist glaubt nicht, dass es solche Prinzipien oder Hierarchien gibt. Wie Wellmer jedoch treffend hervorhebt, ist er aber dennoch der Auffassung, dass wir durch den »Umstand, dass wir in konkreten Situationen (immer) noch-nicht-genügend-spezifizierte Prinzipien haben«, ausdrücklich nicht darin gehindert würden, dennoch »in diesen Situationen mit Gründen das Richtige zu tun«, weil unser »Situationsverständnis« 50 immer komplexer und tiefgehender sei, als es sich in einigen wenigen Prinzipien auf den Begriff bringen ließe. Wenn Sinnott-Armstrong sich also der gängigen Irrationalismus-Kritik an der Moralphilosophie von Ross mit der Behauptung anschließt, dass einem moralischen Intuitionismus zufolge die »Moralität keine Erklärungen oder Rechtfertigung« 51 brauche, hat der die Pointe der intuitionistischen Theorie des moralischen Urteils nicht verstanden. Insgesamt bleibt damit festzuhalten, dass sich mit der Begrenztheit der menschlichen moralischen Urteilsfähigkeit der empirische Anschein der Möglichkeit des moralischen Dilemmas wohl tatsächlich plausibel erklären ließe, ohne dass Ross’ Theorie des moralischen Urteils deshalb wegen ›Irrationalität‹ verworfen werden müsste. 52
Vgl. Anmerkung 39. Wellmer 1986, 35 f. 51 Wellmer 1986, 35 f. 52 Begründet wird jedoch ausdrücklich nur der Anschein, aber nicht die wirkliche Möglichkeit des moralischen Dilemmas. Insofern ist es schlicht falsch, wenn Ewing die Philosophie des moralischen Dilemmas von Ross als die größte moralphilosophische Entdeckung im 20. Jahrhundert würdigt, weil sie im Gegensatz sowohl zu Kants Moralphilosophie als auch zu den Utilitaristen die Möglichkeit moralischer Konflikte nicht nur zulassen, sondern auch erklären würde. Ewing 1959, 126. Auf diese emphatische Würdigung verweist Stratton-Lake in Stratton-Lake 1930, xxxvii. 49 50
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(2) Die zweite Prämisse P2 würde besagen, dass im Gemenge der prima facie Pflichten jeweils eine dieser Pflichten durch die konkreten situativen Umstände in moralisch eindeutiger Weise und mit eindeutigem Gewicht als die eine aktuale Pflicht in Kraft gesetzt wird. Wiederum kann es keinen Zweifel geben, dass Ross diese Prämisse teilen würde. Wie oben schon skizziert, behauptet er schließlich ausdrücklich, dass die prima facie Pflichten den Charakter von »objektiven Tatsachen« haben sollen, welche die »Natur einer Situation« 53 mitbestimmen. Diese Prämisse ist allerdings gleich in zweifacher Weise strittig. Zum einen kann mit guten Gründen bestritten werden, dass Umstände überhaupt Pflichten in Kraft setzen. Vor allem aber kann bestritten werden, dass das in der eindeutigen Weise geschieht. (2.1) Dass Pflichten durch Umstände in Kraft gesetzt werden, wurde insbesondere von Richard M. Hare in seiner Abhandlung Universal Prescriptivism von 1991 bestritten. Umstände sind Hares Terminologie zufolge Tatsachen (engl. facts), die sich in Aussagesätzen (deskriptiv) beschreiben lassen, während er Pflichten als moralische Ansprüche auffasst, die sich in Imperativen mit präskriptiver (vorschreibender) Funktion ausdrücken lassen. Sein Argument gegen die These, dass aus Tatsachen Pflichten hervorgehen sollen, lautet dann, dass sich aus der bloßen Beschreibung einer Situation noch längst nicht herleiten würde, was in der Situation moralisch gefordert sei. »Moralische Urteile« müssen »den Sprecher« nach Hare »zu Motivationen und Handlungen verpflichten«. Situative Umstände wie Beziehungskonstellationen oder vorangegangene Handlungen beispielsweise seien jedoch Tatsachen, die diese moralische Dimension nicht per se selbst schon haben. Zur »reinen Beschreibung der Tatsache« müsse vielmehr immer etwas hinzutreten, das Hare das »präskriptive oder motivationale Element« 54 nennt, damit ein moralisches Urteil gefällt werden kann. (2.1.1) Hares Einwand ist nicht überzeugend, solange es um Handlungen wie beispielsweise ein Versprechen geht, welche die strittige moralische Dimension per se schon haben. Wer ein Versprechen abgibt, hat dadurch tatsächlich ein Faktum geschaffen, aus dem eine Pflicht für ihn hervorgeht, die man durchaus mit Ross als »Vertrauenspflicht« (engl. duty of fidelity) charakterisieren könnte. Dasselbe könnEs heißt im englischen Wortlaut: »What I am speaking of is an objective fact involved in the nature of the situation.« Ross 1930, 20. 54 Hare 1991, 46. 53
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te man auch für die Pflichten behaupten, die Ross (vgl. 3.a.1) als ›Wiedergutmachungspflichten‹ (engl. duties of reparation) und als Pflichten der Schadensvermeidung (engl. duties of not injuring others) bezeichnet. Durch die Handlung, jemandem Schaden zuzufügen, setzt man sich gemeinhin in die Pflicht, den Schaden wieder gutzumachen. Genauso folgt aus der Tatsache, dass Schmerzen intrinsisch schlecht sind, die moralische Pflicht, niemandem Schmerzen zuzufügen. 55 (2.1.2) Deutlich weniger eindeutig gegeben sind die Relationen jedoch bei den sogenannten ›Dankbarkeitspflichten‹ (engl. duties of gratitude): Wenn mir jemand etwas Gutes tut, entsteht daraus noch längst keine Pflicht, es ihm irgendwie zu vergelten. Zwar würden Dankbarkeitsbezeugungen für einen wohlerzogenen und guten Charakter sprechen, aber eine wirkliche ›Pflicht‹ zur Dankbarkeit wird durch Wohltaten anderer definitiv nicht in Kraft gesetzt: Es muss vielmehr im Sinne Hares tatsächlich etwas Moralisches wie ein guter Charakter oder eine entsprechende Erziehung hinzutreten, damit sich jemand zur Dankbarkeit ›verpflichtet‹ fühlt, wenn er eine Wohltat empfangen hat. Dasselbe gilt für die ›Gerechtigkeitspflichten‹ (engl. duties of justice): Aus der bloßen Tatsache, dass sich jemand besondere Verdienste erworben hat, folgt längst keine Pflicht für andere, ihn bei der Verteilung von Gütern in besonderem Maße zu berücksichtigen. Wieder muss etwas dezidiert Moralisches hinzutreten (wie beispielsweise die individuelle moralische Überzeugung oder eine kollektiv verankerte Einstellung, dass es verdienstvollen Mitgliedern der Gesellschaft besonders gut gehen sollte), damit aus der Tatsache eines Verdienstes eine Pflicht zur Würdigung und Entlohnung des Verdienstes wird. (2.1.3) Explizit keine direkte genetische Relation zwischen Tatsachen und Pflichten gibt es nun im Falle der Pflichten, die Ross ›Wohltätigkeitspflichten‹ (engl. duties of benefice) und ›Pflichten zur Selbstvollkommnung‹ (engl. duties of self-improvement) nennt. Schon Kant nennt die Wohltätigkeit eine ›unvollkommene Pflicht‹ bzw. einen ›Verdienst‹, weil aus der Tatsache, dass jemand Not leidet, nicht per se und unter allen Umständen eine Pflicht für andere folgt, seine Not zu lindern. 56 Wieder zeugt es von einem hochherzigen und großzügigen Wiederum ist es kein Einwand gegen Ross, dass es (bei einer Operation z. B.) Umstände geben kann, durch die eine gegenteilige Pflicht stärker in Kraft gesetzt wird, bei deren Ausübung eben doch Schmerzen zugefügt werden müssen. 56 Eine strenge Nothilfepflicht gibt es nur bei unmittelbaren Notlagen, in denen Hilfe 55
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Charakter, einer mitleidigen Gesinnung oder schlicht von guter moralische Erziehung, wenn sich jemand generell durch die Not anderer verpflichtet fühlt, die Not zu lindern. Noch deutlicher liegt der Fall bei den Pflichten zur Selbstvervollkommnung: Aus der Tatsache, dass Gaugin ein besonderes Talent zum Malen hatte, folgte dezidiert keine Pflicht, dieses Talent zur Meisterschaft auszubauen. Dass Tatsachen solche Pflichten in Kraft setzen sollen, muss also mit Hare tatsächlich bezweifelt werden, zumal es ja auch moralisch völlig neutrale Tatsachen wie beispielsweise die Handlung des Händewaschens oder das Faktum eines blühenden Obstbaumes gibt. Die These, dass durch bestimmte Tatsachen oder Fakten bestimmte prima fache Pflichten in Kraft gesetzt werden, lässt sich also nur bedingt für ganz bestimmte Tatsachen, Handlungen oder Beziehungen aufrechterhalten. (2.2) Definitiv nicht haltbar ist die These, dass die prima facie Pflichten durch die konkreten situativen Umstände in so moralisch eindeutiger Weise und mit so eindeutigem Gewicht in Kraft gesetzt werden sollen, dass eine der in Kraft gesetzten prima facie Pflichten die aktuale Pflicht ist, welche tatsächlich befolgt werden muss. (2.2.1) Dass Ross diese Auffassung verteidigen würde, zeigt sich in meinen Augen nun gerade daran, dass er immer wieder die Fehleranfälligkeit des moralischen Sinnes hervorhebt: Ein Fehler ist schließlich eine Abweichung von der richtigen Lösung; wer von ›Fehlern‹ spricht, glaubt also, dass es eine richtige Lösung gibt; damit scheint Ross tatsächlich zu glauben, dass im Gemenge der in Kraft gesetzten prima facie Pflichten jeweils eine der Pflichten mit so deutlichem Übergewicht in Kraft gesetzt wird, dass sie als die aktuale Pflicht befolgt werden muss. In dieselbe Richtung deutet es, wenn Ross die »richtige moralische Entscheidung« als »Glückstreffer« bezeichnet: Von einem ›Treffer‹ spricht man, wenn ein bestimmtes Ziel erreicht wird, und das kann im vorliegenden Kontext nur die gewichtigste aktuale Pflicht sein. Deutlich wird Ross schließlich in einer Passage, in der es um die Unterscheidung zwischen einer moralisch guten und einer moralisch richtigen Handlung geht. Ross entwirft hier ein Gedankenexperiment, demzufolge ein moralischer Akteur in einem »unvollkommenen Erkenntnisstadium« denken soll, dass Handlung A seine Pflicht ist, um
sowohl direkt möglich als auch zuzumuten ist. Vgl. dazu Singer 1972 sowie Mieth 2012 sowie Raters Forthcoming. Das moralische Dilemma
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dann aber in einem »vollkommenen Erkenntnisstadium« 57 einsehen zu müssen, dass eigentlich Handlung B seine Pflicht gewesen wäre. Ross will mit dem Beispiel zeigen, dass der Akteur zum späteren Zeitpunkt sagen würde, dass schon zum früheren Zeitpunkt ›eigentlich‹ Handlung B die richtige gewesen wäre, dass sich der moralische Akteur wegen seiner Fehlentscheidung aber dennoch nicht wirklich moralisch schlecht fühlen würde, weil er ja aus bester Überzeugung und damit aus einem gutem Motiv heraus gehandelt hat. Das Beispiel belegt aber auch, dass Ross fest an die ›eine richtige Lösung‹ für jeden moralischen Konflikt glaubt. (2.2.2) Tatsächlich aber ist die Überzeugung nicht haltbar, dass Umstände ein Gemenge von prima facie Pflichten mit so eindeutiger Gewichtung in Kraft setzen sollen, dass eine der in Kraft gesetzten Pflichten eindeutig die gewichtigste aktuale Pflicht wäre. Ein besonders deutlicher Gegeneinwand wäre der Hinweis auf die Ambivalenz von Beziehungen. Beziehungen sind für Ross ebenso Tatsachen wie vorangegangene Handlungen oder äußere Umstände. 58 Allerdings setzen gerade Beziehungen prima facie Pflichten nicht in eindeutiger Weise in Kraft. Wenn jemand zu einem anderen Menschen in einer bestimmten Situation beispielsweise in der Beziehung eines Schwiegersohns zur Schwiegermutter steht, leitet sich daraus bekanntlich noch längst nicht ab, was dieser Mensch in der Situation tun soll. Vielmehr ist diese Beziehung moralisch ambivalent. So mag sich einer seiner Schwiegermutter dankbar verpflichtet fühlen, während ein anderer sie nur als Störfaktor betrachten kann: Unzählige Komödien leben von den vielschichtigen möglichen moralischen Implikationen dieses Typs von BeEs heißt im englischen Wortlaut: »There is therefore much truth in the description of the right act as a fortunate act.« Ross 1930, 31. »But suppose that from the state of partial knowledge in which I think act A to be my duty, I could pass to a state of perfect knowledge in which I saw act B to be my duty, should I not say ›act B was the right act for me to do‹«. A. a. O. 31. 58 Wolf würdigt es in besonderem Maße, dass Ross’ Moralphilosophie, die »Bedeutung persönlicher Beziehungen« besonders hervorheben würde, während »Utilitaristen und Kantianer« in ihrem Streben nach Unparteilichkeit des moralischen Urteils diesen wichtigen »Aspekt der Moralpsychologie« »gewöhnlich vernachlässigen« würden. Nach Wolf hat Ross »damit Anregungen vorweggenommen, welche in der Situationsethik und der Care-Ethik weiter entfaltet wurden«. Wolf vermutet, dass diese Akzentsetzung den Ausführungen zur charakterbildenden Funktion der echten Freundschaft unter Tugendhaften in der Nikomachischen Ethik verpflichtet sein könnte. Wolf 1996, 607 ff. Verweis auf Montefiore 1973 sowie auf LaFolette 1996 sowie auf Wolf 1992. 57
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ziehungen. Was für diese Beziehung gilt, gilt für alle Beziehungen: Es gibt eben keine objektiven Korrelationen zwischen bestimmten Typen von Beziehungen und den daraus folgenden prima facie Pflichten. Es müsste aber zumindest Hinweise (im Sinne von eindeutigen Tendenzen beispielsweise) auf solche objektiven Korrelationen geben, wenn die Prämisse P2 richtig wäre, der zufolge es in einer moralischen Weltordnung festgelegt sein soll, welche Umstände welche prima facie Pflichten in Kraft setzen. Solche Hinweise gibt es faktisch jedoch nicht. Damit ist die zweite Prämisse P2 nicht haltbar. (3) Die wichtigste Prämisse ist schließlich die metaphysische Prämisse P1, der zufolge die prima facie Pflichten das eine, in sich geschlossene System der ›moralischen Weltordnung‹ bilden sollen. Dass Ross das bejahen würde, äußert sich unmissverständlich in der schon zitierten Passage, der zufolge die Gesamtheit aller prima facie Pflichten die »moralische Ordnung« bilden soll. Bei der Prämisse P1 handelt es sich nun um eine metaphysische Prämisse, die weder bewiesen noch widerlegt werden kann: Es kann nicht direkt gezeigt werden, ob es die ›moralische Weltordnung‹ gibt oder nicht. Überprüfen lässt sich jedoch die Zuverlässigkeit der Quelle, durch die wir nach Ross von der ›moralische Weltordnung‹ wissen. Diese Quelle ist nach Ross zweifellos das moralische Wissen der ›moralisch Besten‹. Wie Ross betont, ist uns das Evidenzwissen über die ›moralische Weltordnung‹ der prima facie Pflichten nicht »von Beginn an« klar verfügbar. Es muss vielmehr im Zuge von »geistiger Reifung« und durch »ausreichende Sorgfalt« 59 sukzessive erst immer deutlicher erschlossen werden. Weil das »Nachdenken über das Richtige und das Gute« den »direktesten verfügbaren Weg« zu den »Fakten über das Richtige und das Gute« darstellt, soll sich die moralische Ordnung nach Ross am deutlichsten in den »moralischen Überzeugungen von ernsthaft nachdenkenden und gut gebildeEs heißt im englischen Wortlaut: »The moral order expressed in these propositions is just as much a part of the fundamental nature of the universe (and, we may add, of any possible universe in which there were moral agents at all) as is the spatial or numerical structure expressed in the axioms of geometry or arithmetic.« Ross 1930, 29 f. »That an act, qua fulfilling a promise (…) is prima facie right, is self-evident; not in the sense that it is evident from the beginning of our lives, or as soon as we attend to the proposition for the first time, but in the sense that when we have reached sufficient mental maturity.« A. a. O. 29. Den Stellenwert von moralischer Reife und Erziehung betont auch Wolf 1996, 602.
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ten Leuten« niederschlagen, die er insofern auch als die eigentlichen »Daten der Moralphilosophie« 60 bezeichnet. Damit lässt sich indirekt nun doch etwas zu der metaphysischen Frage sagen, ob es die eine ›moralische Weltordnung‹ gibt. Wenn sich diese Weltordnung nämlich tatsächlich in den moralischen Überzeugungen der ›moralisch Besten‹ als ›Ordnung‹ manifestiert, müssten diese moralischen Überzeugungen in signifikanter Weise ein einheitliches und eindeutiges Bild ergeben. Genau das scheint aber bei näherer Hinsicht nicht der Fall zu sein. 61 (3.1) Erste Zweifel werden durch den Einwand der abweichenden »Listen« von prima facie Pflichten erweckt, den Jean Claude Wolf in seinem luziden Artikel Ein Pluralismus von prima-facie Pflichten als Alternative zu monistischen Theorien der Ethik von 1996 diskutiert. Wenn sich in den ›Überzeugungen der moralisch Besten‹ tatsächlich die eine moralische Weltordnung widerspiegelt, dürften die Listen von prima facie Pflichten bei verschiedenen Moralphilosophen eigentlich nicht gravierend voneinander abweichen, was sie faktisch aber tun. 62 Wolf begegnet diesem Einwand nun mit dem Hinweis auf die Es heißt im englischen Wortlaut: »We have no more direct way of access to the facts about rightness and goodness and about what things are right or good, than by thinking about them.« Ross 1930, 40. »The moral convictions of thoughtful and well-educated people are the data of ethics«. A. a. O. 41. 61 Nicht einschlägig (wenn auch m. E. durchaus treffend) ist im vorliegenden Zusammenhang der Einwand des kritiklosen Konservatismus von Bernard Williams in seinem zwischen 1982 und 1993 entstandenen Essay What does Intuitionismus Imply?. Der Einwand lautet, dass die Moralphilosophie moralische Überzeugungen von wem auch immer kritisch zu reflektieren habe, anstatt sie kritiklos zum Kanon der ›moralisch richtigen Überzeugungen‹ zu erklären. Williams 1995, 183. Der Essay nimmt seinen Ausgangspunkt bei John Rawls, der den Intuitionismus als philosophische Methode verstanden hatte, welche von folgender Vorgabe ausgeht: »It admits a plurality of first principles that may conflict, and, moreover, it has no explicit method or priority rules for resolving such conflicts«. Williams 1995, 182. Verweis auf Rawls 1971, 34. Von einem solchen ›methodischen Intuitionismus‹ (MI) will Williams einen epistemischen Intuitionismus (EI) unterscheiden, der durch die Überzeugung gekennzeichnet sein soll, dass wir ein evidentes Wissen von moralischen Überzeugungen haben. Williams 1995, 182 f. Eine erste Spielart dieses EI wird neben Ross auch H. A. Prichards zugeschrieben. Dieser Spielart zufolge soll das moralische Evidenzwissen mit mathematischem Wissen vergleichbar sein. Williams 1995, 183 f. Williams’ eigentliches Interesse gilt aber der zweiten Spielart von EI, die er McDowell zuschreibt und die eine Analogie des evidenten moralischen Wissens mit dem Wissen behaupten soll, das wir über unsere Sinneswahrnehmungen haben. Williams 1995, 184–191. 62 Zum Problem der abweichenden Listen heißt bei Wolf: »Variierende Listen findet man bei Price 1758, Warnrock 1971 und Richards 1971. Diese Autoren weichen auch 60
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Indirektheit des intuitionistischen Zugriffs auf die moralische Weltordnung über »ein wohlerzogenes oder reifes moralisches Bewusstsein« 63. Dieser Hinweis scheint auf den ersten Blick nicht einschlägig zu sein, weil die strittigen Listen ja nicht von den ›moralisch Besten‹ selbst, sondern von Moralphilosophen erstellt wurden. Die Moralphilosophen sollen nach Ross die »Urteile des moralischen Bewusstseins der Besten« allerdings zum »Fundament« der »Errichtung« ihrer moralphilosophischen Theorie machen, nachdem sie diese Überzeugungen verglichen und »eventuelle Widersprüche eliminiert« 64 haben. Weil im Zuge solcher Vergleiche und Eliminierungen jedoch Fehler passieren können, wird Wolfs Argument der Indirektheit doch einschlägig. Die Abweichung ließen sich durch Fehler der professionellen Moralphilosophen 65 erklären, womit der Einwand der abweichenden moralphilosophischen Listen von prima facie Pflichten die Prämisse P1 nicht erschüttern würde. (3.2) Mit dem Hinweis darauf, dass die professionellen Moralphilosophen nicht per se selbst zu den ›moralisch Besten‹ gehören, stellt sich allerdings die Frage, wie entschieden wird, wer zu diesem erlauchten Kreis gehört und wer nicht. Die Antwort ist schnell gegeben: Letztlich können nur die moralisch Besten selbst festlegen, wer zu den moralisch Besten gehört. Als Kandidaten für die ›moralisch Besten‹ kommen schließlich nur diejenigen infrage, die der moralischen Weltordnung in besonderem Maße gerecht werden. Da die professionelle Moralphilosophie aber nur mittels der Überzeugungen der ›moralisch Besten‹ wissen können soll, wie die ›moralische Weltordnung‹ beschaffen ist, legen es letztendlich die ›moralisch Besten‹ selbst fest, welchen Maßstäben jemand gerecht werden muss, der zu den ›moralisch Besten‹ in der Zahl der Basisregeln der Moral voneinander ab.« Wolf 1996, 602. Verweis auf Brülisauer 1988, 75. Zitiert werden Price 1758 sowie Warnrock 1971 sowie Richards 1971. Weiter heißt es: »Andere Autoren, die auf Zehnerlisten kommen, weichen inhaltlich voneinander ab.« Wolf 199, 602; verwiesen wird auf Raphael 1994 und Gert 1988. 63 Wolf 1996, 602. 64 »The verdicts of the moral consciousness of the best people are the foundation on which he must build; though he must compare them with one another and eliminate any contradictions they may contain.« Ross 1930, 41. 65 Tatsächlich gesteht Ross sogar selbst in seiner Eigenschaft als Moralphilosoph die unsystematische Herleitung seines Pflichtenkatalogs und seine mögliche Unvollständigkeit ausdrücklich ein. Ross 1930, 20–23. Wenig später beansprucht Ross dann allerdings doch Folgendes: »These seem to be, in principle, all the ways in which prima facie duties arise«. A. a. O. 27. Das moralische Dilemma
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gehören soll. 66 Damit aber ergibt sich zweifellos eine theoretisch unbefriedigende zirkuläre Situation. (3.3) Ebenso schwer ins Gewicht fällt der Einwand der Kulturrelativität. Zur Veranschaulichung hat Hare das Beispiel eines ›intuitionistischen Saudis‹ erfunden, der es vor dem Hintergrund seiner kulturell geprägten moralischen Erfahrungen für »offensichtlich« erklärt, »daß eine Frau, die ihrem Ehemann nicht gehorcht«, etwas »tut, was sie nicht tun sollte« 67. Ein ›intuitionistischer Europäer‹ würde dem natürlich widersprechen, womit Ross nach Hare vor dem gravierenden Problem stünde, dass er eigentlich beide Überzeugungen trotz ihrer Widersprüchlichkeit akzeptieren müsste, insofern es sich (das setzt Hares Beispiel voraus) sowohl bei dem Saudi als auch bei dem Europäer um moralisch hochgebildete Personen handelt. Dieses Argument ist stichhaltig, weil es zwischen den moralischen Überzeugungen der ›moralisch Besten‹ aus verschiedenen Kulturen tatsächlich signifikante Divergenzen gibt, die es aber nicht geben könnte, wenn sich in diesen Überzeugungen die eine moralische Weltordnung widerspiegeln würde. In The Right and the Good verteidigt Ross seinem Glauben an »ein einziges System moralischer Wahrheiten, die so objektiv gültig sind, wie das bei Wahrheiten der Fall sein muß« 68 gegen den Einwand der Kulturrelativität von moralischen Überzeugungen mit den ArgumenDer Formulierung von Wolf zufolge wird kritisiert, dass die »Kriterien für richtig und falsch« ebenso »im wohlerzogenen moralischen Bewusstsein« liegen sollen wie die »Kriterien zu Unterscheidung von einem unreifen moralischen Bewusstsein« Wolf 1996, 603. In dem Essay What Does Intuitionism Imply? von Bernard Williams wird dieser Einwand gegen Sidgwicks Intuitionismus erhoben. Auch Sidgwick vertraut auf die Autorität der moralisch Besten. Wer aber zu diesen moralisch Besten gezählt werden soll, will er von einem Kanon von moralischen Überzeugungen abhängig machen, die er für »selbstevident« hält. Es heißt dazu bei Williams: »It is hard to find ethical propositions with any content for which the required self-evidence can be invoked in the first place (Sidgwicks own fundamental intuitions illustrate this.) Even if such propositions were available, it is not clear how far we should have got, since it is not clear how much is done by the notion of intuition even for mathematical truths«. Williams 1995, 183. 67 Hare 1991, 46. 68 Es heißt im englischen Wortlaut: »There are not merely so many moral codes which can be described and whose vagaries can be traced to historical causes; there is a system of moral truth, as objective as all truth must be.« Ross 1930, 15 f. Ross distanziert sich im vorliegenden Kontext vom Kulturrelativismus, wie er von soziologisch ausgerichteten Denkern wie Durkheim and Lévy-Bruhl in Frankreich beispielsweise vertreten worden sei. A. a. O. 12–15. 66
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ten, dass es objektiv moralischen Fortschritt gäbe und dass manche Moralen anderen (primitiveren) objektiv überlegen seien. In diesem Sinne könnte man mit Ross den intuitionistischen Europäer aufgrund der Prämisse, dass die europäische Moralkultur gegenüber arabischen Moralkultur per se fortgeschrittener bzw. ›moralisch noch besser‹ in einem komparativischen Sinne sei, zur Person mit den reiferen moralischen Überzeugungen erklären. Eine solche Verteidigungsstrategie wäre jedoch wenig überzeugend, weil sie auf einer kulturellen Arroganz beruhen würde: Es gibt keinen Grund, das Evidenzwissen eines saudischen ›moralisch Besten‹ für weniger aussagekräftig bezüglich der ›moralischen Weltordnung‹ als das Evidenzwissen eines europäischen ›moralisch Besten‹ zu halten. 69 Die Tatsache, dass es signifikante Abweichungen zwischen den moralischen Überzeugungen derjenigen gibt, die (aus welchen Gründen auch immer) zu den ›moralisch Besten‹ einer Kultur erklärt werden, lässt deutliche Zweifel daran aufkommen, dass sich aus diesen Überzeugungen auf die Existenz einer einzigen ›moralischen Weltordnung‹ als System von prima facie Pflichten rückschließen lässt. Dieselben Zweifel ergeben sich aufgrund der Tatsache, dass sich die ›Überzeugungen der moralisch Besten‹ auch innerhalb einer Kultur im Laufe der Geschichte der Kultur immer wieder gewandelt haben. Weiter ins Detail zu gehen, ist überflüssig: Die ›moralischen Überzeugungen‹ der ›moralisch Besten‹ geben in verschiedenen Kulturen und Epochen der Menschheitsgeschichte kein so einheitliches Bild, dass man von diesen Überzeugungen im Sinne der Prämisse P3 auf die Existenz einer einzigen ›moralischen Weltordnung‹ rückschließen könnte. Strittig ist jedoch vor allem die Prämisse P2, der zufolge situative Umstände prima facie Pflichten mit so eindeutigem Gewicht in Kraft setzen können sollen, dass eine dieser Pflichten eindeutig die gewichtigste Pflicht wäre, die in der Situation als aktuale Pflicht befolgt werden In The Foundation of Ethics begegnet Ross dem Einwand des Kulturrelativismus mit dem Hinweis darauf, dass es möglich sei, dass unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Kulturen die moralisch relevanten Fakten unterschiedlich gewichten und interpretieren würden, durch welche die prima facie Pflichten in Kraft gesetzt werden. Ross 1939, 15 ff. Dieses Gegenargument ist im vorliegenden Zusammenhang nicht einschlägig, weil es nicht das Evidenzwissen der ›moralisch Besten‹ betrifft, sondern unsere moralischen Urteilsfähigkeiten, deren Fehleranfälligkeit in 3.d.1 ja schon zugegeben wurde.
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müsste. Obwohl Ross das Argument der nicht-sicheren-Erkennbarkeit zur Erklärung des empirischen Anscheins des moralischen Dilemmas anders als die in 3.b und 3.c diskutierten Argumente vermutlich tatsächlich verteidigen würde, kann es nicht davon überzeugen, dass es das moralische Dilemma tatsächlich nicht gibt, weil gleich zwei seiner drei Prämisse nicht haltbar sind.
(e) Die Möglichkeit des moralischen Dilemmas durch ungünstige Umstände Tatsächlich könnte Ross die Unmöglichkeit des moralischen Dilemmas noch nicht einmal beweisen, wenn man ihm einräumt, was man (wie in 3.d gezeigt) eigentlich nicht einräumen kann: Die Prämisse von der eindeutigen Inkraftsetzung von prima facie Pflichten durch situative Umstände und die metaphysische Prämisse von der einen ›moralischen Weltordnung‹ nämlich. Selbst dann besteht nämlich immer noch die Möglichkeit, dass Umstände eintreten, durch die zwei sich widersprechende prima facie Pflichten absolut gleichgewichtig in Kraft gesetzt werden! Das beste Beispiel für eine gleichgewichtige Inkraftsetzung von sich widersprechenden prima facie Pflichten durch entsprechende Umstände sind die symmetrischen Dilemmata. Wie in 2.e.2 skizziert, ist das Standardbeispiel ›Buridans Esel‹, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, bei welchem er zu fressen beginnt. Ein weiteres Beispiel ist das Sophie-Dilemma in der Modifizierung von Marcus: Die Katholikin Sophie muss sich diesem modifizierten Dilemma zufolge entscheiden, welches ihrer eineiigen Zwillingskinder sie ins Gas schickt und welches weiterleben soll. 70 Beide Dilemmata ließen sich mit Ross so beschreiben, dass durch die Umstände sich widersprechende prima facie Pflichten mit exakt gleichem Gewicht in Kraft gesetzt wurden. Selbst wenn man Ross seine starken Prämissen P2 und P3 also zugeben würde, könnte es immer noch zu einer Situation kommen, in der sich keine Entscheidung für die aktuale Pflicht treffen lässt, weil Umstände vorliegen, durch die zwei konfligierende Systeme von prima facie Pflichten mit genau identischem Gewicht in Kraft gesetzt werden.
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(e) Die Möglichkeit des moralischen Dilemmas durch ungünstige Umstände
(1) Wie in 2.e.2 ebenfalls schon bemerkt, bestreitet allerdings Brune mit dem Argument, Sophie sei »faktisch keinerlei Spielraum für gute Gründe gegeben«, dass symmetrische Dilemmata überhaupt Dilemmata seien, weil man ohne Spielraum für das Abwägen von Gründen nicht mehr von einer praktischen »Entscheidungssituation« sprechen könne, was für das ›Dilemma‹ jedoch konstitutiv sei. 71 Das Argument ist nicht stichhaltig, weil Sophie selbstverständlich in einer Entscheidungssituation steckt: Sie muss sich für eines der beiden Kinder entscheiden, weil sonst beide Kinder ermordet werden. Dem könnte man nun zwar entgegenhalten, dass es sich bei dem modifizierten Sophie-Dilemma tatsächlich gar nicht um ein symmetrisches Dilemma, sondern um ein echtes Dilemma handeln würde, weil selbst eineiige Zwillinge niemals ›identisch‹ seien, wobei die Unterschiede in der Regel allerdings so beschaffen seien, dass sich daraus fatalerweise bei der schrecklichen Wahl zwischen beiden kein moralisch relevanter Anhaltspunkt ergibt. Dieser Einwand wäre Wasser auf den Mühlen meines Einwands gegen Ross: Wenn es sich bei Sophies Dilemma nämlich tatsächlich um ein echtes Dilemma handelt, bei denen für beide Handlungsoptionen jeweils tatsächlich gleichgewichtige moralische Gründe sprechen, wäre bewiesen, dass es sogar echte Dilemmata geben kann, in denen zwei sich widersprechende prima facie Pflichten mit identischem Gewicht in Kraft gesetzt werden. (2) Brink begegnet dem Einwand der symmetrischen Dilemmata mit dem Argument, dass es im Falle solcher Dilemmata nur die eine Meta-Pflicht geben könne, »sich für eine der beiden Optionen zu entscheiden« 72. Um mit Ross zu sprechen, wäre die Entscheidung für eine der beiden prima facie Pflichten die aktuale Pflicht. Diese ›Strategie‹ mag im Falle des scholastischen Esels vielleicht noch anzuraten sein. Allerdings handelt es sich bei den Optionen des Esels ausdrücklich nicht um zwei moralische Optionen! Vom Standpunkt der Moral ist es völlig gleichgültig, welcher Heuhaufen gefressen wird, weshalb man dem bedauernswerten Tier wohl tatsächlich den praktischen Rat geben kann,
Brune 2002, 330. Vgl. mit derselben Stoßrichtung auch Feldman 1986, 200–206. Es heißt im englischen Wortlaut: »The only all-things-considered obligation is the disjunctive obligation to perform one or the other of the conflicting undefeated primafacie obligations.« Brink 1994, 119. Diese Auffassung wird zuvor schon vertreten in Feldman 1986. Vgl. 8.a.4.
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3. Das moralische Dilemma als menschliches Versagen nach Ross
er solle doch wenigstens einen Haufen fressen. Ganz anders sieht der Fall jedoch in dem modifizierten Sophie-Dilemma aus. Auch dann, wenn es sich bei den beiden Kindern um eineiige Zwillinge handeln sollte, stünden hier mit dem moralischen Anspruch, das Leben dieser Kinder schützen zu sollen, zwei extrem gewichtige moralische Pflichten zur Disposition. Deshalb wäre es schlicht zynisch, wenn man Sophie sagen würde, dass ›die Sache schon in Ordnung ginge‹, wenn sie sich wenigstens für ein Kind entschieden hat! Eine ›Lösung des Dilemmas‹ zeigt Brinks Hinweis auf eine aktuale ›Meta-Pflicht‹ also sicherlich nicht auf. Weiter ins Detail zu gehen, ist überflüssig. Festzuhalten bleibt zum einen, dass das Argument der nicht sicheren Erkennbarkeit der aktualen Pflicht (vgl. 3.d), das Ross vermutlich bejahen würde, von der faktischen Nichtexistenz des moralischen Dilemmas selbst dann nicht überzeugen könnte, wenn man Ross die beiden strittigen Prämissen dieses Arguments zugeben würde, weil auch dann nicht ausgeschlossen wäre, dass zwei konfligierende prima facie Pflichten durch situative Umstände mit genau identischem Gewicht in Kraft gesetzt werden können. Das wiederum heißt, dass Ross’ Moralphilosophie selbst überraschenderweise keine Mittel an die Hand gibt, mit denen er gegen den empirischen Anschein der Möglichkeit moralischer Dilemmata davon überzeugen könnte, dass es das moralische Dilemma eigentlich nicht gibt bzw. nicht geben kann. Das wiederum ist bemerkenswert, weil Ross in den Foundations of Ethics ja eine Bemerkung gemacht hatte, die von anderen so gelesen wurde, als würde Ross glauben, dass es ›allem ethischen Urteilen ein Ende setzen‹ würde, falls die Möglichkeit des moralischen Dilemmas nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. 1.a).
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4. Das moralische Dilemma als Herausforderung für die Moralphilosophie nach Richard M. Hare
Das Problem widersprüchlicher moralischer Urteile war von Sir David Ross im Kontext einer Kritik an den private-reaction-theories mehr oder weniger beiläufig aufgeworfen worden (vgl. 1.a). Durch Richard Mervyn Hare wurde dieses Problem zum Leitproblem einer verzweigten Debatte im angelsächsischen Sprachraum, nachdem er in seinem frühen Buch Language of Morals von 1952 unter Berufung auf Wrights Essay Deontic Logic 1 von 1951 das moralische Dilemma als eine »Krankheit« 2 bezeichnet hatte, die es auszumerzen gelte, falls eine Moralphilosophie davon befallen sein sollte, weil ja auch im Falle eines moralischen Dilemmas zwei sich widersprechende moralische Urteile zur Disposition zu stehen scheinen (vgl. 1.c). In seinem Essay Rules of War and Moral Reasoning von 1972 stellt Hare dann im Kontext einer Debatte über das Problem der ›schmutzigen Hände‹ (vgl. 2.e.3) die Diagnose, dass die intuitionistische Moralphilosophie von der ›Krankheit‹ des moralischen Dilemmas besonders befallen sei, weil sich Moralphilosophen wie Ross (und Nagel) ausschließlich auf »die einfachen Moralprinzipien des gemeinen Mannes« verlassen würden. Eine Chance, die diesbezüglichen Grenzen des Intuitionismus »rational zu übersteigen« 3, sieht Hare in einem »zweistufigen Zu-
Wright 1951, 1–15. Hare 1952, 48 f. Anm. 10. 3 Es heißt im englischen Wortlaut: »They have no coherent rational account to give any level of moral thought above that of the man who knows some good simple moral principles and sticks to them.« Hare 1972, 174. (1) Der Essay antwortet auf Nagel 1971. Hare kritisiert zunächst, dass Nagel kein reiner Absolutist sei, sondern absolutistische und utilitaristische Auffassungen unglücklich vermengen würde. Hare 1972, 167. Vgl. zu diesem Missverständnis Argument 7.d.6.1. (2) Dann unterscheidet Hare fünf verschiedene moralphilosophische Ansätze, um anschließend zu behaupten, dass sein ›universaler Präskriptivismus‹ die Vorzüge der übrigen vier in sich vereinigen würde. A. a. O. 168–171. 1 2
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griff« 4 auf moralische Probleme, wie er ihn schon in seinem Buch Freedom and Reason vorgeschlagen habe. Entfaltet wird dieses Verfahren in Hares spätem Buch Moral Thinking von 1981. 5
(a) Das Argument der Entscheidbarkeit aller Dilemmata durch kritisches Denken Das Buch basiert grundsätzlich auf der Prämisse, dass diejenigen, welche die Möglichkeit des moralischen Dilemmas zuließen, damit »zugeben« würden, dass ihr moralisches Denken »noch unvollständig« sei, weil eine ausgereifte Moralphilosophie eine »Lösung solcher Konflikte« anbieten können müsse. Weiter heißt es, dass die »Auffassungen über Konflikte zwischen verschiedenen Pflichten« ein »hervorragender Test dafür« seien, wie »umfassend und tiefgehend« die »Gedanken über Moral« 6 jeweils beschaffen sind. Mit solchen Bemerkungen bemisst Hare seine eigene Moralphilosophie ausdrücklich an ihrer Haltung zum moralischen Dilemma. Um dem Problem des moralischen Dilemmas begegnen zu können, unterscheidet er zwei Ebenen 7 des moralischen Denkens und Urteilens. (3) Plausibilisiert wird dieser Anspruch an den Problemen der Verteilungsgerechtigkeit, des Amoralisten, des Fanatikers und des Problems der schmutzigen Hände. A. a. O. 171 ff. (4) Abschließend vertritt Hare die These, dass Nagel (weil ihm ein übergeordnetes Entscheidungsprinzip fehle) halbherzig an einem deontologisch begründeten Pazifismus festgehalten und deshalb zu dem ›Problem der schmutzigen Hände‹ unter den Bedingungen des modernen Kriegs mit seinen Massenvernichtungswaffen nichts Relevantes beigetragen habe. A. a. O. 173–181. Vgl. auch Kapitel 2, Anm. 61. 4 Es heißt im englischen Wortlaut: »To achieve such an account, we have to adopt a ›two-level‹ approach«. Hare 1972, 174. Verweis auf Hare 1962, 42–44. 5 Zum Stellenwert von Moral Thinking im Gesamtwerk von Hare heißt es bei Spitzley: »In seinem jüngsten Buch Moral Thinking gibt Hare die bisher geschlossenste Darstellung seiner präskriptivistischen Ethik. Zwar hat Hare die wesentlichen Elemente seiner Theorie beibehalten, doch er hat darüber hinaus auch einige entscheidende Veränderungen vorgenommen.« Spitzley 1992, 148 f. 6 Hare 1981, 70. Angesichts dieser Äußerung herrscht in der einschlägigen Literatur ein relativ einhelliger Konsens darüber, dass es für Hare das moralische Dilemma nicht gibt. Vgl. stellvertretend Donogan 1993, 19; sowie Trigg 1971, 41; sowie Williams 1965a, 279; sowie Gowans 1987, 13; sowie Hallich 2000, 128 f. 7 Es gibt für Hare noch eine dritte, »metaethische« Ebene des moralischen Denkens, die er in seiner Abhandlung von 1981 jedoch weitgehend ausblenden will. »Auf ihr bewegen wir uns« nach Hare, »wenn wir die Bedeutung der moralischen Wörter und der
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(1) Die ›intuitive Ebene‹ des moralischen Denkens ist die vertraute Ebene des alltäglichen moralischen Entscheidens aufgrund eines festen Repertoires von sehr einfachen und sehr allgemeinen prima facie Prinzipien 8, die wir durch Erziehung und Erfahrung erworben haben. Weil sie einfach und klar sind, lassen sich die prima facie Prinzipien leicht lernen und begreifen. Weil sie sehr allgemein sind, decken sie »eine Vielzahl von Situationen« ab, »die alle gewisse auffällige Merkmale gemeinsam haben«. Dass »unsere Intuitionen oder Dispositionen« durch Erziehung und Erfahrung »in unseren Charakter und in unsere Motivation fest eingebaut sind«, hat nach Hare schließlich den Vorteil, dass sich die intuitiven Prinzipien nur schwer »zurechtfrisieren« lassen. So ist es nach Hare im Falle des Lügenverbots beispielsweise »nur zu leicht, sich selbst einzureden, dass ein Akt des Lügens, mit dem man sich aus der Affäre ziehen kann«, die »anderen nur relativ wenig kostet«. Dass »unsere Intuitionen oder Dispositionen« in »unseren Charakter und in unsere Motivation fest eingebaut sind« 9, verhindert nach Hare ein solches ›Zurechtfrisieren‹. (1.1) So weitreichend und unverzichtbar das intuitive moralische Denken ist, so stößt es doch an (mindestens) zwei Grenzen. Eine erste Grenze sieht Hare darin, dass »intuitives Denken sich nicht auf sich selbst stützen kann«. Als »Produkt unserer Erziehung und unserer früheren Erfahrungen« rechtfertigen sich intuitive Prinzipien nicht »von selbst«, weil man sich »fragen« könnte, ob die jeweilige »Erziehung die bestmögliche war«, ob frühere »Entscheidungen richtig waren« und ob
Logik der moralischen Begründungen diskutieren«. Hare 1981, 70. Außerdem betont Hare 1981, dass er die beiden Ebenen in früheren Abhandlungen als ›Ebene 1‹ und ›Ebene 2‹ unterschieden habe: Die neue Etikettierung sei jedoch »klarer«. A. a. O. 70. 8 Wie Hare betont, bezeichnet er die Prinzipien des intuitiven Denkens anders als in früheren Abhandlungen nicht mehr als ›Faustregeln‹, weil sich diese Etikettierung als »durch und durch irreführend« erwiesen habe. Unter einer ›Faustregel‹ könne man nämlich auch eine Regel verstehen, »gegen die zu verstoßen im Unterschied zu einem Verstoß gegen die von uns diskutierten moralischen Prinzipien keinerlei Gewissensbisse nach sich zieht«. Genau das sei mit den intuitiven Prinzipien aber nicht gemeint. Deshalb ziehe er in der vorliegenden Abhandlung in Anlehnung an Sir David Ross den Begriff ›prima facie Prinzipien‹ vor. Hare 1981, 85. Verweis auf Hare 1952, 4.4; sowie auf Ross 1930, 19. Zu einer kurzen (treffenden) Skizze der wichtigsten Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Auffassungen von den prima facie Pflichten bzw. Prinzipien bei Ross und Hare vgl. Gowans 1987, 13. 9 Hare 1981, 81–85. Das moralische Dilemma
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»die damals gebildeten Prinzipien auch auf eine neue Situation angewandt werden sollten« 10. (1.2) Die zweite Grenze besteht darin, dass sich Konflikte zwischen intuitiven Prinzipien auf der Ebene des intuitiven moralischen Denkens selbst nicht lösen lassen. Als kleines Zugeständnis an Ross und andere Intuitionisten räumt Hare zwar ein, dass sich in einigen wenigen Fällen auf der intuitiven Ebene das »sichere Gefühl« einstellen könne, dass ein prima facie Prinzip zugunsten des anderen verworfen werden muss. In »ernsteren Konflikten« stünde dieser »Strohhalm« jedoch »nicht zur Verfügung«. Eine Modifizierung von prima facie Prinzipien hält Hare auf der Ebene des intuitiven Denkens selbst für nicht möglich. Deshalb bleiben dem Akteur in »ernsten Konfliktfällen« in seinen Augen nur die Möglichkeiten, die Entscheidung entweder zu vertagen oder eines der Prinzipien zu verwerfen, ohne dass sich der Akteur dabei jedoch »sicher sein« könnte, »dass er recht hatte«. Während es dem späten Hare zufolge auf der intuitiven Ebene nun »voll und ganz in Ordnung« ist, »rundweg zu behaupten, unauflösbare Konflikte zwischen Pflichten könne es einfach geben«, darf sich ausgereiftes moralisches Denken keinesfalls damit abfinden, dass uns die »absolutistischen Denker« (wie der Kontext zeigt, ist nicht nur Ross, sondern auch der frühe Nagel beispielsweise gemeint) durch ihren »Glauben an sehr einfache und völlig unverletzliche Prinzipien« in eine moralische »Sackgasse« geführt haben, aus der wir im Falle eines moralischen Dilemmas ebenso wenig herausfinden wie eine »Ratte in einem Labyrinth ohne Ausweg«. Außer der »Rolle, prima facie Pflichten auszuwählen«, muss eine ausgereifte Moralphilosophie dem späten Hare zufolge also auch die Funktion erfüllen, »Konflikte zwischen ihnen aufzulösen«. Weil beides auf der intuitiven Ebene selbst nicht mehr geleistet werden kann, betrachtet Hare »die relativ einfachen Prinzipien, die auf der intuitiven Ebene verwendet werden«, für menschliches »moralisches Denken« als »zwar notwendig«, aber nicht als »hinreichend« 11 für ein umfassendes moralisches Denken.
Hare 1981, 93, 86 ff. Hare 1981, 98, 70, 77, 98, 86. Zusammenfassend heißt es zu Beginn des zweiten Kapitels, dass jede »einstufige Struktur dazu verdammt« zu sein scheine, »entweder kein wohlbestimmtes Verfahren für die Beilegung moralischer Konflikte aufzuweisen oder sich Prinzipien von immer größerer Komplexität auszuliefern«. A. a. O. 81. Vgl. dazu auch Gowans 1987, 9.
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(a) Das Argument der Entscheidbarkeit aller Dilemmata durch kritisches Denken
(2) Im vollen Umfang leistungsfähig ist das moralische Denken nach Hare erst, wenn es jenseits der intuitiven Prinzipien auf Prinzipien zurückgreifen kann, die entweder »durch eigenes kritisches Denken« entstanden sind oder aber durch das kritische Denken von »denen, bei denen wir darauf bauen, dass sie dazu imstande sind« 12. Das kritische Denken besteht nach Hare darin, »dass unter gewissen Beschränkungen eine Entscheidung getroffen wird – nämlich unter solchen, die uns durch die logischen Eigenschaften der moralischen Begriffe sowie durch die nicht-moralischen Fakten auferlegt wird – und durch sonst nichts« 13. Um die in diesem Diktum implizierten Pointen angemessen zu erläutern, müsste man nun eigentlich die gesamte in Moral Thinking entfaltete Moralphilosophie mit ihren Wurzeln in früheren Abhandlungen wie Freedom and Reason von 1963 und The Language of Morals von 1952 detailliert rekonstruieren. 14 Weil das den Rahmen dieser Abhandlung sprengen würde, müssen einige knappe Erläuterungen 15 genügen. (2.1) Das kritische Denken soll sich an den »logischen Eigenschaften der moralischen Begriffe« orientieren. Das besagt vor allem, dass es sich aller inhaltlichen moralischen Intuitionen zu entledigen hat: »Auf der kritischen Ebene inhaltliche moralische Intuitionen einzuführen«, würde nach Hare bedeuten, dem »kritischem Denken gerade die Schwächen einzuverleiben, die zu beheben es eigens entworfen wurde«. Soll eine Moralphilosophie »von Dauer« sein, darf sie sich nach Hare »mit dem intuitiven Sand, auf den die meisten Moralphilosophen bauen, nicht zufrieden geben«. Insofern soll sich das kritische Denken ausschließlich an »in Übereinstimmung mit den durch die philosophische Logik etablierten und somit allein auf sprachlichen Intuitionen basierenden Regeln« 16 orientieren.
Hare 1981, 94. Hare 1981, 87. 14 Die Kriterien des kritischen Denkens werden entfaltet in Hare 1981, 143–236. Wichtige Vorüberlegungen der hier entfalteten Position finden sich u. a. in Hare 1952, 205– 224; sowie in Hare 1962, 52 f. 15 Im Rahmen dieser Abhandlung zur Philosophie des moralischen Dilemmas muss ich Überlegungen zur internen Entwicklung von Hares Moralphilosophie ausblenden. Die detaillierteste Rekonstruktion leistet zumindest im deutschsprachigen Raum Hallich 2000. Knappere Rekonstruktionen finden sich u. a. in Spitzley 1992, 128 f.; sowie in Primorac 1985, 171–175. 16 Hare 1981, 87. 12 13
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(2.1.1) Die logischen Eigenschaften von Moralprinzipien sind nach Hare nun zum einen dadurch bestimmt, dass es sich bei Moralprinzipien um Sätze handelt, in denen von einem ›Sollen‹ oder einem ›Müssen‹ die Rede ist. Und wie Hare unter Rückgriff auf frühere Abhandlungen hervorhebt, haben diese Adverbien in moralischen Kontexten keine deskriptive, sondern eine präskriptive 17 Bedeutung: Wenn man einen Satz von der Art ›man soll nicht lügen‹ ausspricht, schreibt man etwas vor, während man einen Sachverhalt beschreibt, wenn man sagt ›der Gartenschlauch sollte eigentlich im Garten sein‹. 18 (2.1.2) Wichtiger noch ist Hare der implizite Universalitätsanspruch von Moralprinzipien, dem zufolge Moralprinzipien Vorschriften sind, die sich nicht in individuellen Situationen an individuelle Protagonisten wenden, sondern die implizit immer behaupten, dass das, wovon sie sagen, dass es »sein muss, in allen anderen Situationen der Fall« sein sollte, »die bezüglich all ihrer universellen Eigenschaften mit der vorliegenden identisch ist«. Gemeint ist, dass man nicht sinnvoll sagen kann: »Du solltest, aber ich kann mir eine andere Situation vorstellen, die bezüglich all ihrer universellen Eigenschaften mit der vorliegenden identisch ist – mit der einen Ausnahme, dass der Betref-
In Ethics and the Limits of Philosophy von 1985 würdigt Williams zunächst, dass Hare Folgendes deutlich gemacht habe: »Was das Präskriptive vermag – Menschen vorschreiben, auf bestimmte Art und Weise zu handeln – kann das Deskriptive aus sich heraus nicht leisten.« Williams 1985d, 175. (1) Wie das ›Werten‹ vor sich ginge, habe Hare allerdings nicht deutlich machen können, weil er die Bedeutung des Wollens, der Wünsche und der persönlichen Vorlieben nicht erkannt habe. Williams 1985d, 176–179. (2) Außerdem könne man die deskriptive und die präskriptive Ebene zumindest bei ›dichten Begriffen‹ wie z. B. dem Begriff des ›Verrats‹ nicht so distinkt treffen, wie Hare vorgibt, was sich daran zeige, dass es keinen wertneutralen Begriff gibt, durch den man den Begriff ›Verrat‹ ersetzen könne. A. a. O. 197 ff. (3) Vor allem aber könne man bei solchen Begriffen das präskriptive Element nicht allein durch logische Analyse der Begriffsimplikationen unabhängig von den persönlichen Überzeugungen und Vorlieben bestimmen. So hinge es z. B. deutlich davon ab, auf welcher Seite man gerade steht, ob man eine bestimmte Handlung als ›Verrat‹ etikettieren würde oder nicht. Williams 1985d, 199 f. 18 Hare 1981, 42 ff. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung versteht sich der in 3. d.2.1 skizzierte Einwand, den Hare in Universal Prescriptivism von 1991 gegen Ross formuliert hat. Es geht um den Einwand, dass zu einer »reinen Beschreibung der Tatsache« immer ein präskriptives Element hinzukommen müsse, damit ein Satz ein moralisches Sollen bzw. eine Aufforderung ausdrücken kann. Hare 1991, 46. 17
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fende nicht sollte« 19. Während intuitive Prinzipien einfach und allgemein gehalten und deshalb auf die unterschiedlichsten Situationen anwendbar sind, kann ein kritisches Moralprinzip nach Hare bei aller Universalität unendlich spezifisch sein, damit es den moralischen Ansprüchen einer individuellen moralisch schwierigen Situation gerecht werden kann. 20 Hare spricht von der ›unendlichen situationsspezifischen Universalisierbarkeit‹ der kritischen Prinzipien, um hervorzuheben, dass das kritische Denken Moralurteile fällen kann, die auf einen genau begrenzten Typ von Situationen zugeschnitten sind, ohne dass damit der generelle Anspruch der Universalisierbarkeit aufgegeben werden müsste, dem zufolge das Moralurteil genauso »über eine jede andere genau ähnliche Situation zu fällen« 21 sein muss. (2.2) Worin besteht nun aber die ›genaue Ähnlichkeit‹ zwischen verschiedenen Situationen? Mit dieser Frage sind die nicht-moralischen Fakten angesprochen, die das kritische Denken ja auch berücksichtigen soll. In Hares Moralphilosophie hat die Logik einen hohen
Hare 1981, 47–50. (1) In diesem Kontext äußert sich Hare zum Verhältnis von deontischer Logik und gewöhnlicher Modallogik dahingehend, dass das »deontische ›muß‹ und das deontische ›sollte‹« in »vielerlei Hinsicht wie das ›muß‹ der gewöhnlichen Modallogik« beschaffen seien, wenn anderseits auch »gewisse ihrer Gebrauchsweisen« abweichen würden. Hare 1981, 50. (2) In seinem späten Rückblick Universal Prescriptivism von 1991 betont Hare den Anspruch auf Universalisierbarkeit als die wesentliche logische Eigenschaften von deontischen Sollenssätzen gegenüber anderen, nicht-deontischen präskriptiven Sätzen, indem er betont, dass »man einige Differenzierungen« vornehmen müsse, um zu verstehen, was die deontischen »sollte-Aussagen« der Moral von anderen Imperativen unterscheidet. Mit Blick darauf vertrete sein »universeller Präskriptivismus« die Auffassung, dass »sich die Sollens-Sätze der Moral in mindestens einem wesentlichen Merkmal von anderen Imperativen unterscheiden«, nämlich durch »die sogenannte Universalisierbarkeit von ›sollte‹ Sätzen und von anderen normativen oder evaluativen Sätzen«. Hare 1991, 40. Gemeint ist, dass ein deontischer Satz wie der Satz ›Du sollst nicht töten‹ beispielsweise implizit behaupten würde, dass »die Aussage auf alle genau ähnlichen Situationen anwendbar ist«, während genau das bei dem Imperativ ›Du sollst jetzt einkaufen gehen‹ offensichtlich nicht der Fall ist. A. a. O. 41. 20 Sowohl in Moral Thinking von 1981 als auch in Universal Prescriptivism von 1991 wendet sich Hare deutlich gegen das mögliche Missverständnis, Universalität mit Allgemeinheit zu verwechseln. Vgl. dazu Hare 1981, 88; sowie Hare 1991, 41. Auf diese Unterschiede kann ich hier allerdings ebenfalls nicht eingehen. Vgl. Hallich 2000, 79 f., 132. 21 Hare 1981, 88 f. 19
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Stellenwert. 22 Obwohl man mit der Logik im Feld der Moral nach Hare »ganz schön weit« kommt, räumt er aber dennoch ein, dass das ausgereifte moralische Denken »bei der Auswahl von Prinzipien, die sich in dieser unserer Welt anwenden lassen« sollen, »auch Tatsachen relevant werden« lassen müsse, die »eben diese Welt und die in ihr lebenden Menschen betreffen«. Weil von menschlichen moralischen Akteuren allerdings »nicht erwartet« werden könne, dass sie sich ausnahmslos »aller bestehenden Fakten vergewissern«, ehe sie ein Moralurteil fällen, müssen sie sich nach Hare wohl oder übel auf die »moralisch relevanten« Fakten bzw. »Merkmale« einer Situation beschränken. Ein erneuter Blick auf die »logischen Eigenschaften der moralischen Begriffe« zeigt nun, dass moralisch relevant vor allem die »Präferenzen derer« sind, »die von unseren Handlungen« ganz konkret »betroffen werden«. Weil »Moralurteile präskriptiv sind, und eine Präferenz zu haben heißt, eine Vorschrift zu akzeptieren«, wird durch die »logischen Eigenschaften der moralischen Begriffe« nach Hare erstens von uns »verlangt«, dass wir im kritischen moralischen Denken »darauf achten, dass die Präferenzen der Betroffenen« überhaupt »erfüllt werden«. Weil »moralische Prinzipien« zudem »universell sein müssen« und »keine Individuen herausgreifen dürfen«, geben uns die »logischen Eigenschaften« nach Hare außerdem vor, »dass wir den gleichen Präferenzen aller Betroffenen« im Zuge von kritischem moralischen Urteilen »in gleicher Weise Beachtung schenken« 23 müssen. Damit sollen die nicht-moralischen Fakten im kritischen Denken also berücksichtigt werden, indem den gleichen Präferenzen aller an der Situation Beteiligten in gleicher Weise Rechnung getragen wird. (3) Zusammenfassend lässt sich Hares Philosophie des moralischen Dilemmas also so charakterisieren, dass es auf der Ebene der intuitiven Prinzipien zu moralischen Dilemmata kommen kann, die auf der Ebene des kritischen Denkens dann aber aufgrund der Überlegung gelöst werden können, welches der konfligierenden intuitiven Prinzipien unter gleicher Berücksichtigung der gleichen Präferenzen aller Beteiligten In dem von Hare selbst verfassten ausführlichen Inhaltsverzeichnis heißt es, dass »die Aufgabe der Moralphilosophie« darin bestünde, »zu helfen, unser moralisches Denken besser, d. h. rationaler zu betreiben«. Das wiederum könne geschehen, indem man »die Bedeutung der logischen Wörter, somit auch die logischen Eigenschaften dieser Wörter« aufspürt. Hare 1981, 15. 23 Hare 1981, 41–44, 145 ff. 22
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in genau ähnlichen Situationen beibehalten und welches verworfen werden sollte. Als Gegensatz zum Intuitionismus hervorzuheben wäre noch, dass Hare, wenn er von einer »Lösung« 24 des moralischen Dilemmas spricht, anders als Sir David Ross nicht die eine richtige Lösung des Dilemmas vor Augen hat, sondern die unter den gegebenen Umständen jeweils vernünftigste Entscheidung. Ausdrücklich betont Hare im letzten Kapitel von Moral Thinking, dass es für ihn schon deshalb keine ›objektiv richtigen‹ Moralurteile geben könne, weil es seinen moralphilosophischen Vorgaben zufolge keine ›moralischen Tatsachen‹ gibt (vgl. Argument 3.d.2). Um diesbezügliche Missverständnisse zu vermeiden, schlägt Hare vor, auf den Begriff der ›Objektivität‹ zu verzichten, um stattdessen von der ›vollendeten Rationalität‹ des moralischen Urteils zu sprechen. 25 Was er meint, veranschaulicht Hare im 2. Kapitel von Moral Thinking an »einem trivialen Beispiel von der von intuitionistischen Philosophen gewöhnlich favorisierten Sorte«. Es soll um die Frage gehen, ob man das seinen Kindern gegebene Versprechen, mit ihnen »heute Nachmittag eine Bootsfahrt mit Picknick auf dem Fluss bei Oxford« zu unternehmen, auch dann halten muss, wenn unverhofft »ein alter Freund aus Australien« auftaucht, »der nur noch heute hier ist, und möchte«, dass der Protagonist des Dilemmas »ihm und seiner Frau« die Colleges von Oxford zeigt. Solange man sich auf der intuitiven Ebene des moralischen Denkens bewegt, kann es für eine solche Situation nach Hare keine Lösung geben, weil der Protagonist offensichtlich nicht gleichzeitig mit seinen Kindern »die Vergnügungsfahrt machen« 26 und nicht machen kann. Auf dem Niveau des kritischen moralischen Denkens würde man sich jedoch die Frage stellen, welches der konfligierenden intuitiven »Prinzipien« in der konkret vorliegenden Situation »angewandt werden sollte, um eine Vorschrift für diese spezielle Situation zu erhalten«, welche unter Berücksichtigung der Präferenzen aller Beteiligten die Anforderung der UniversalisierHare 1981, 70. Hare 1981, 285 ff. Hare intendiert mit diesem Begriffsvorschlag, seine Distanzierung vom moralischen Deskriptivismus begrifflich zu manifestieren. In seinen Augen sagt der Begriff ›Rationalität‹ nämlich anders als der Begriff ›Objektivität‹ nichts über die Beziehung ein Aussage zu Tatsachen, weil er im »primären Sinne des Wortes eine Eigenschaft des Denkens und von Handlungen« bezeichnet, »insofern diese das Produkt von Denken sind«. A. a. O. 286. Dieselbe Stoßrichtung verfolgt auch der späte Essay Hare 1991. 26 Hare 1981, 71, 89. 24 25
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barkeit erfüllt. Anders als das intuitive Denken würde ein solches kritisches Verfahren nach Hare zu einem eindeutigen Resultat führen, nämlich zu dem Resultat, dass es unter den gegebenen Bedingungen zweifellos am vernünftigsten wäre, die Bootsfahrt mit den Kindern auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. 27
(b) Vier Standardeinwände Hares zweistufiger Präferenzutilitarismus – den er selbst als einen ›Universalen Präskriptivismus‹ bezeichnet – basiert nicht nur auf eigenen früheren Überlegungen, sondern in wesentlichen Elementen auch auf Sidgwicks Universalem Hedonismus. 28 Mit Blick auf die wichtigsten Einwände gegen diese klassisch-utilitaristische Position 29 hat Hare jedoch systematische Vorkehrungen getroffen. Ein anderes Beispiel findet sich z. B. im 9. Kapitel. Hier wird im Zuge einer Reflexion über Gerechtigkeit zunächst eingeräumt, dass verschiedene »Menschen über die gerechte Lösung eines bestimmten Dilemmas« durchaus »verschiedener Meinung sein können«, um dann aber darauf zu beharren, dass das »nicht von der Suche nach der besten Lösung abhalten« dürfe. Hares Beispiel ist hier »das Palästinenserproblem«. Für dieses Problem gibt es nach Hare vermutlich »keine Lösung, die sowohl den Israelis als auch den vertriebenen Arabern gerecht würde«. Gerade in solchen Situationen, in denen es die eine objektiv richtige Lösung nicht zu geben scheint, solle man jedoch »auf der Möglichkeit kritischen Denkens« beharren, weil das kritische Denken zwar nicht »bestimmen« könne, »was die einzig gerechte Handlung ist«, aber immerhin doch sagen könne, was wir vernünftigerweise »in diesen schwierigen Umständen tun sollten«. Hare 1981, 223 f. 28 Das scheint mir angesichts der zweistufigen Struktur von Hares Moralphilosophie offensichtlich zu sein, obwohl Sidgwick das moralische Dilemma lediglich en passant als einen möglichen Anwendungsfall für die utilitaristische Methode behandelt und seine prinzipielle Lösbarkeit auch nicht in letzter Konsequenz verteidigt. Sidgwicks Beitrag zur Philosophie des moralischen Dilemmas lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Wenn ein Akteur im Falle eines moralischen Dilemmas vor der Entscheidung steht, ob er gegen einen moralischen Anspruch verstoßen soll, dessen »allgemeine (wenn auch nicht universelle) Befolgung« ihm »durchaus zweckmäßig« zu sein scheint, muss er sich mit Blick auf das größte Glück insgesamt wesentlich von der Überlegung leiten lassen, inwieweit der einzelne Verstoß gegen den moralischen Anspruch dessen Charakter als moralischer Anspruch zerstören könnte. Sidgwick 1874, 265. Dass das keine wirkliche Entscheidungshilfe im Falle eines moralischen Dilemmas ist, liegt auf der Hand – und tatsächlich beansprucht Sidgwicks Universaler Hedonismus auch gar nicht, eine solche Entscheidungshilfe bereitstellen zu können. 29 Zum Stellenwert moralischer Konflikte im Klassischen Utilitarismus vgl. u. a. Bro27
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(b) Vier Standardeinwände
(1) So baut Hare dem Einwand der Elitisierung der Moral 30 beispielsweise durch die Unterscheidung von ›Erzengeln‹ und ›Proleten‹ vor. Der ›Erzengel‹ ist eine fiktive Figur, die ausschließlich »kritisches moralisches Denken« verwenden kann, weil sie mit »übermenschlichen Geisteskräften« und »übermenschlichen Kenntnissen« ausgestattet ist und »keinerlei menschliche Schwächen« hat, so dass sie wie ein »Hellseher« auf »einen Schlag« alle »Eigenschaften« einer Situation »überblicken« und zudem völlig »unparteiisch« urteilen und handeln kann. Ebenso fiktiv ist die Figur des ›Proleten‹. Sie muss sich nach Hare ausschließlich in parteiischer Weise »auf Intuitionen und korrekte primafacie-Prinzipien« verlassen, weil sie völlig »außerstande« ist, »kritisch zu denken«. Entscheidend ist nun, dass beide Figuren typisierende Kunstfiguren sind. Ausdrücklich betont Hare, dass kein wirklicher Mensch »nur vom kritischen Denken Gebrauch« machen oder »ausschließlich intuitiv denken« 31 könnte. Wirkliche Menschen sind niemals Erzengel. Weil auch professionelle Moralphilosophen Menschen sind, können sie sich dem Niveau des Erzengels lediglich annähern, aber es nie wirklich erreichen. Sie bleiben vielmehr immer irgendwie auch Proleten, womit der Einwand einer Elitisierung der Moral hinfällig wäre.
naugh 1975 sowie Griffin 1982 sowie Hoag 1983 sowie Lyons 1978 sowie McConnell 1981 sowie Rabinowicz 1978 sowie Slote 1985 sowie Stubbs 1981 sowie William 1973b. 30 Der Einwand wurde von Bernard Williams prominent gegen Sidgwicks Utilitarismus erhoben. (1) In Williams’ Abhandlung Morality von 1972 heißt es beispielsweise, dass »die Einsicht in die tiefere Wahrheit des Utilitarismus« im Sinne seines Zweistufenutilitarismus »einer verantwortungsbewussten Elite vorbehalten« würde und »nicht unter die Massen verbreitet werden dürfe«. Williams 1972, 109. Später nennt Williams Sidgwick und Hare in einem Atemzug und spricht kritisch von einem »Gouverneurs-Utilitarismus«. Williams 1985d, 153–157. (2) Für Sidgwick muss Williams’ Einwand wohl zugegeben werden. In der Abhandlung Methods of Ethics von 1874 finden sich Passagen, in denen Sidgwick von der »Pflicht« des Utilitaristen spricht, als Experte für Moral an der »Verbesserung« der als »unvollkommen« bezeichneten herrschenden Moral »mitzuarbeiten«. Sidgwick 1874, 252. Wie in den Absätzen 7.c, 8.c und 8.e noch gezeigt wird, stehe ich allerdings auf dem Standpunkt, dass sowohl die Moralphilosophie als auch die Angewandte Ethik tatsächlich Expertendisziplinen sind. 31 Hare 1981, 91 ff. Das moralische Dilemma
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(2) Um den Hedonismuseinwand 32 gar nicht erst aufkommen zu lassen, spricht Hare nicht mehr im Sinne des klassischen Utilitarismus von ›Lust‹ oder vom ›größten Glück insgesamt‹, sondern von den ›Präferenzen der Betroffenen‹. Wie dann sogar Hares hartnäckigster Kritiker Williams einräumt, können mit diesem Begriff jenseits von banaler Lustbefriedigung auch »radikal andere Werte« wie beispielsweise »persönliche Integrität, Spontanität, Freiheit, Liebe, künstlerische SelbstFür den Hedonismus-Einwand steht in der angelsächsischen Philosophie des moralischen Dilemmas insb. Sinnott-Armstrong. Innerhalb des Utilitarismus unterscheidet Sinnott-Armstrong den Regel-Utilitarismus, Hares zweistufigen Utilitarismus, den idealen Utilitarismus Moores und den hedonistischen Akt-Utilitarismus. (1) Mills Position rechnet er dem hedonistischen Akt-Utilitarismus zu, den er dadurch gekennzeichnet sieht, dass er alles Wertvolle, Gute und Nützliche auf Vergnügen (engl. pleasure) und alles Unwerte, Schmerzvolle und Böse auf Schmerz (engl. pain) reduziere. Mills Prinzip der Nützlichkeit betrachtet er damit als ein Prinzip, das gebietet, ein moralisches Dilemma anhand der hedonistischen Überlegung zu entscheiden, welche der beiden Optionen am wenigsten Schmerzen und am meisten Vergnügen bedeuten würde. Sinnott-Armstrong 1988, 77. Tatsächlich ist Mills Prinzip der Nützlichkeit jedoch keineswegs so hedonistisch orientiert, wie Sinnott-Armstrong es darstellt. Zwar identifiziert Mill tatsächlich ›Glück‹ (engl. happiness) mit »Lust« im Sinne einer »Abwesenheit von Schmerz« (engl. pleasure and the absence of pain). Dann aber macht Mill klar, dass es ihm weniger um die schlichte Abwesenheit von Schmerz und Leid geht als darum, dass möglichst viele Menschen ein Leben führen können, das ihrem eigenen Urteil über sich selbst standhält, weil es den »Geboten der Sittlichkeit und der Menschenliebe entspricht«. Mill 1861, 25, 29–35. Die ›Lust‹, die es nach Mill im Zuge dilemmatischer Entscheidungen zu optimieren gilt, ist keineswegs auf physische Lust zu reduzieren. Damit kann Sinnott-Armstrongs Hedonismus-Einwand also schon für Mill als hinfällig abgetan werden. (2) Sidgwick begegnet dem Hedonismus-Einwand, indem er das gesamte II. Buch der Distanzierung vom sogenannten ›egoistischen Hedonismus‹ widmet, der das eigene Wohlbefinden ins Zentrum aller praktischen Entscheidungen stellen würde. Eine interessante Passage findet sich auch im 4. Kapitel des I. Buches, wenn er sich vom sogenannten »psychologischen Hedonismus« distanziert, der leider allzu oft mit dem egoistischen Hedonismus »verwechselt« würde. Während es dem egoistischen Hedonismus um jegliche Lustmaximierung geht, vertritt der psychologische Hedonismus in Sidgwicks Rekonstruktion die Auffassung, dass wir moralische Lust empfänden, wenn wir moralisch handeln, weil wir mit einer moralischen Handlung unseren moralischen Sinn befriedigen. Bezeichnenderweise distanziert sich Sidgwick selbst von dieser Position, und das mit dem Argument, dass »eine Handlung, um im höchsten Sinne tugendhaft zu sein, nicht einzig um der zu erwartenden Lust willen getan werden darf«, was in seinen Augen auch dann gilt, »wenn es eine Lust für den Moralsinn wäre«. Nach Sidgwick ist eine Handlung definitiv »nicht tugendhaft«, wenn sie nur begangen wird, »um den höchsten Grad von Selbstbefriedigung zu erreichen«. Sidgwick 1874, 50. Damit ist der Hedonismus-Einwand auch gegen Sidgwick schon nicht mehr einschlägig. 32
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entfaltung« 33 gefasst werden. Wenn Hare also betont, dass seine »Version von Utilitarismus nicht lustbezogen formuliert« 34 sei, ist dem nichts hinzuzufügen. (3) Dem von Bernard Williams wiederholt erhobenen Einwand der kontraintuitiven Entscheidungen 35 begegnet Hare überzeugend mit der Retourkutsche, dass die kritisierten Entscheidungen nur deshalb gegen unsere »gewöhnlichen Intuitionen« verstoßen würden, weil mit den »für gewöhnlich angeführten Beispielen« völlig »ungewöhnliche Williams 1972, 99. Hare 1981, 206. 35 Der Einwand der kontraintuitiven Entscheidung lautet, dass der Utilitarismus in Einzelfällen zu Entscheidungen führt, die »unseren moralischen Intuitionen zu widersprechen scheinen«. Diese Formulierung findet sich in Zoglauer 1998, 286. (1) Mit Blick auf Mill muss dieser Einwand zugegeben werden. Schon Sidgwick bemerkt, dass man zur Vermeidung von Ungerechtigkeiten »dem Prinzip der größten Glückseligkeit im ganzen noch ein Prinzip der gerechten oder richtigen Verteilung dieser Glückseligkeit hinzufügen« müsse. Sidgwick 1874, 204 f. Tatsächlich würde eine strikte Befolgung von Mills Prinzip dazu führen, dass man sich in extremen Situationen dafür entscheiden müsste, sich mit Blick auf das Wohl vieler für Grausamkeiten gegen einige wenige zu entscheiden. So müsste man sich mit Mill beispielsweise dafür entscheiden, einem einzigen Menschen seine Organe zu entnehmen, wenn man dadurch vielen anderen Menschen ein würdiges Leben verschaffen könnte. Das Beispiel findet sich in Harris 1986, 87; sowie in Thomson 1986, 80. Birnbacher verteidigt den Utilitarismus gegen solche Beispiele mit dem Argument, dass eine solche Tötungspraxis wegen der Angst und Unsicherheit, die sie mit sich bringen würde, nicht wünschenswert sei. Birnbacher 1992, 35. Fehige bringt das besagte Problem auf die prägnante Formel vom ›großen Unglück der kleineren Zahl‹. Dieser Formel zufolge gibt es »für jedwede erdenkliche Menge von Greueln eine natürliche Zahl n mit folgender Eigenschaft: Dafür, daß sich n andere Leute auch nur ein winziges bißchen besser fühlen, wäre es geboten, die Greuel in Kauf zu nehmen.« Fehige 1995, 140. (2) Im Gegensatz zu Mill macht Sidgwick den Einwand der kontraintuitiven Entscheidung allerdings regelrecht zum Programm. Besonders deutlich äußert sich das im 3. Kapitel des IV. Buches, das bezeichnenderweise mit der Überschrift Das Verhältnis des Utilitarismus zur Moral des gemeinen Menschenverstandes überschrieben ist. Sidgwick liefert hier »verschiedene Beispiele« dafür, wie sein Utilitarismus Probleme lösen würde, bei denen uns »der gemeine Menschenverstand« im »Unklaren läßt«. Sidgwick 1874, 232 f. Bezeichnenderweise endet jeder einzelne Diskussionsgang dann aber mit der Versicherung, dass das Resultat der Überlegungen »gerade die Anschauung des gemeinen Menschenverstandes« sei, was beweist, dass Sidgwicks Verfahren kontraintuitive moralische Entscheidungen nicht zulässt. Dieser Anspruch stützt sich vor allem darauf, dass der moralische Akteur nach Sidgwick wollen können muss, dass die Regel, an der er seine Handlung ausrichtet, »von allen Personen in gleichen Verhältnissen« befolgt werden soll. A. a. O. 227, 269. 33 34
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Fälle« zur Diskussion gestellt würden. In einem »weit hergeholten Fall« wie dem von Williams konstruierten Jim-Dilemma 36 beispielsweise müsse das kritische Denken wohl tatsächlich für die »Tötung eines Unschuldigen« plädieren. Der Eindruck der »Kontra-Intuitivität« erkläre sich jedoch schlicht dadurch, dass »unsere Intuitionen« nun einmal nur »für die Abwicklung solcher Fälle ausgebildet worden« seien, »auf die wir im wirklichen Leben zu stoßen einigermaßen wahrscheinlich ist, so dass sie in ungewöhnlichen Fällen Antworten geben« würden, die »mit dem konfligieren können, was ein Erzengel entscheiden würde«. Bezeichnenderweise müsse schließlich sogar »Williams selbst« die »Möglichkeit ins Auge fassen, dass es richtig sein könnte, den Unschuldigen zu erschießen, um die neunzehn anderen zu retten«. Dass die kritische Entscheidung in solchen »bizarren Situation« 37 auch einmal kontraintuitiv ausfallen mag, beweist nach Hare also keineswegs, dass uns das kritische moralische Denken generell auf die falsche Fährte führen würde. (4) Dem Standardeinwand der Unterhöhlung der Moral 38 begegnet Hare schließlich, indem er schlicht darauf besteht, dass es selbstverständlich »vernünftig« sei, intuitive Moralprinzipien vom Standpunkt Laut Williams müsste Jim dem Utilitarismus zufolge ohne zu Zögern zur Waffe greifen und den Indianer zur Rettung der neunzehn übrigen Indianer erschießen, obwohl erstens der Erfolg seiner Maßnahme gar nicht garantiert ist (der General könnte sein Versprechen brechen) und obwohl er einen Menschen erschießen müsste. Williams 1988, 34. Dass diese Entscheidung gegen das Tötungsverbot trotz ihrer wünschenswerten Folgen für die neunzehn anderen Indianer zumindest aus der Sicht des christlichen Naturrechts inakzeptabel wäre, betont Reinhard Löw: Wie er treffend herausarbeitet, müsste sich Jim dem Naturrecht zufolge kategorisch weigern, selbst zum Täter zu werden, weil jede Tötung eines Unschuldigen dem Naturrecht zufolge ein ›der Natur nach schlechter Akt‹ ist, der durch kein noch so gutes Motiv und durch keine noch so guten Folgen zu einem guten (sprich: moralisch gerechtfertigten) Akt werden kann. Löw 1987, 23. Der Hinweis auf Löw findet sich in Zoglauer 1998, 167. 37 Hare 1981, 210, 96 f. Verweis auf Williams 1973b. Corinna Mieth stößt ins selbe Horn wie Hare mit ihrer These, dass eine Ausrichtung an extremen Dilemma-Fällen (engl. hard cases) zu schlechteren Rechtssystemen (engl. bad law) führen würde. Vgl. Mieth 2010. 38 Sidgwick antizipiert diesen Einwand, indem er im 5. Kapitel des IV. Buches den konservativen Charakter des Universalen Hedonismus hervorhebt. Ehe man eine Regel aufgibt, müssen nach Sidgwick mehrere Überlegungen angestellt werden. (1) Zum einen sollte der Utilitarier die Gefahr »sozialer Mißbilligung« und die damit verbundene Gefahr einer »Verminderung seiner Macht, der Gesellschaft zu dienen und 36
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des kritischen Denkens zu verwerfen, sobald »Situationen vorkommen, in denen die Akzeptanz des Prinzips zu suboptimalen Resultaten führen würde«. Das könne jedoch nur gelten, wenn solche Situationen »häufig genug« sind, »um jene zu überwiegen, in denen die Akzeptanz optimale Resultate hat«. Wenn es sich beispielsweise »herausstellen« sollte, dass »durch den Umsturz der Ehekonventionen mehr Schaden verursacht wird als durch deren Beibehaltung«, dann sollte man die »Beibehaltung begünstigen« 39. Sollte das aber nicht der Fall sein, wäre die Abschaffung dieser Konventionen vernünftiger. Weil mit dem kritisch begründeten Abschaffen von herrschenden Moralprinzipien im Bestfall Erneuerungen und Verbesserungen einhergehen können, trifft Hare der Einwand der Unterhöhlung der herrschenden Moral nicht. 40
(c) Der Einwand der Außerkraftsetzung von Grundrechten von John Rawls John Rawls hatte in seiner A Theory of Justice von 1971 gegen Sidgwicks Utilitarismus den Einwand erhoben, dass man »jedem Mitglied der Gesellschaft« eine gewisse minimale »Unverletzlichkeit« zuschreiben sollte, die »auch im Namen des Wohles aller anderen nicht aufgehoben werden« 41 dürfe. Damit hat er das Problem in den Raum das allgemeine Glück in anderer Weise zu fördern«, in »Rechnung ziehen«. Sidgwick 1874, 257 ff. (2) Vor allem aber sollte bedacht werden, welche Chance die Regel hat, von einer Gemeinschaft akzeptiert zu werden, welcher die alte Regel vertraut und wohlbewährt zu sein scheint. Entscheidend ist, dass der Utilitarier nach Sidgwick aufgrund solcher Überlegungen durchaus zu dem Schluss kommen kann, dass die alte Regel bewahrt werden sollte, obwohl die neue Regel mit Blick auf das Glück insgesamt erfolgversprechender zu sein scheint. Damit trifft der Einwand der Unterhöhlung der Moral auf Sidgwicks Utilitarismus nur sehr bedingt zu. 39 Hare 1981, 96. 40 Trigg entfaltet das Argument, dass das Gefühl des Bedauerns und der Impuls, sich zu entschuldigen, beweisen, dass die gebrochenen Regel noch in Kraft sei. Trigg 1971, 46 f. Wie in 6.c.5 jedoch gezeigt wird, hält Hare jedes Bedauern nach einer kritischen Entscheidung für irrational. Deshalb lässt sich Triggs Argument zur Verteidigung von Hares Position nicht ins Feld führen. 41 Rawls 1971, 46. Für Rawls charakterisiert sich der »strenge klassische Utilitarismus« durch die Grundeinsicht, dass eine Gesellschaft eine gute Gesellschaft ist, »wenn ihre Hauptinstitutionen so beschaffen sind, dass sie die größte Summe der Befriedigung für die Gesamtheit ihrer Mitglieder hervorbringen«. A. a. O. 40. Nachdem er die grundDas moralische Dilemma
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gestellt, ob es nicht bestimmte Grundgüter oder Grundrechte geben sollte, die selbst dann nicht angetastet werden dürfen, wenn gewichtige Interessen einer großen Anzahl von Menschen berührt sind. 42 Hare stellt sich dieser Frage im 9. Kapitel von Moral Thinking. Weil Rechte »untergeordnet werden können« und »oft miteinander konfligieren«, gehören sie nach Hare dem »intuitiven Denken« an. Und weil seine Theorie dem intuitiven Denken einen hohen Stellenwert einräumt, meint er relativ schnell zu dem Schluss kommen zu können, dass der »übliche Einwand«, der Utilitarismus würde Rechte »im Dienste des Nutzens vom Tisch fegen«, völlig »unbegründet« 43 sei. Aus der Prämisse, dass Rechte prinzipiell dem intuitiven Denken angehören, folgert Hare weiterhin, dass man die »Methode kritischen Denkens« zum Einsatz bringen sollte, wenn es um die Frage geht, welche Rechte man welchen anderen unterordnen sollte. Ausdrücklich empfiehlt Hare dieses Verfahren auch für Rawls und andere »intuitionistische Theorien«. Zur Plausibilisierung führt Hare einen »typischen Konflikt zwischen Rechtsansprüchen« ins Feld. Es soll um eine Situatisätzliche Plausibilität dieser Auffassung hervorgehoben hat, formuliert Rawls erstens den Einwand, dass die »Verschiedenheit der Menschen nicht ernst« genommen würde. A. a. O. 45. Ein zweites Problem sieht Rawls darin, dass es für den klassischen Utilitarismus »keinen Grund« geben könne, »warum größere Vorteile einiger nicht geringere Nachteile anderer aufwiegen sollen«. Für Rawls ist die Annahme, dass »die Verletzung der Freiheit einiger weniger« durch »das größere Wohl anderer wieder gutgemacht« wird, ausdrücklich nicht gerechtfertigt. A. a. O. 44. Unter den klassischen Utilitaristen versteht Rawls vor allem Sidgwick und außerdem Hobbes, Hume, Bentham und J. St. Mill. Rawls 1958, 143, Anm. 11. In dasselbe Horn wie Rawls stößt später Zoglauer mit dem Plädoyer, dass die »utilitaristische Schaden-Nutzen-Abwägungen« spätestens »dort ihre Grenzen« finden sollten, »wo es um das Leben, die Integrität oder andere Grundrechte von Menschen geht«. Zoglauer 1998, 173. Zustimmend verwiesen wird auf Steinvorth 1990, 185. 42 (1) Für Sidgwick muss der Einwand der möglichen Außerkraftsetzung von Grundrechten wohl zugegeben werden. Zu verweisen wäre z. B. auf eine Passage, der zufolge sich der Utilitarist trotz allem Respekt vor Recht und Gerechtigkeit auch gegen die Gesetze wenden muss, wenn die Anwendung der Gesetze zu kollektivem Übel führen würde. Sidgwick 1874, 225 f. (2) Prima facie zugeben muss man auch den Einwand der Nichtberücksichtigung individueller Bedürfnisse. Vgl. dazu u. a. Sidgwick 1874, 244. Es gibt allerdings auch eine Passage, in der Sidgwick hervorhebt, dass ein utilitaristisches Gesetzbuch nur das Notwendigste regeln dürfe, weil ansonsten kein Raum für individuelle Bedürfnisbefriedigung und Talententfaltung mehr sei. A. a. O. 232. 43 Hare 1981, 216–218.
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on gehen, in der eine »rassistische Organisation« für eine »Versammlung einen öffentlichen Saal mieten« will, wobei es von vornherein »klar« ist, »daß es, falls das Treffen stattfindet, Aufstachelung zum Rassenhaß sowie die Gefahr von gewalttätigen Ausschreitung geben wird«. Zur Disposition stünden »das Recht auf Meinungsfreiheit« einerseits und andererseits »das Recht der Öffentlichkeit«, gegen »rassistische Propaganda und gegen Gewaltausbrüche geschützt zu sein«, zur Disposition. Der bloße Rekurs auf Rechte würde nach Hare nun lediglich zu einer Verhärtung der Fronten führen. Sobald aber kritisches moralisches Denken prüfen würde, welche »allgemeine Akzeptanz in der betreffenden Gesellschaft, alles in allem und unparteiisch betrachtet, das beste für die Interessen der Leute in der Gesellschaft ist«, würde es nach Hare schnell zu dem Resultat kommen, dass »ein Prinzip ausgewählt« werden sollte, welches »freie Meinungsäußerung garantiert, ihr aber Beschränkung hinsichtlich dessen auferlegt, was gesagt werden darf«. Die Pointe dieses Verfahrens sieht Hare darin, dass die zur Disposition stehenden Rechte keineswegs aufgehoben, sondern im Gegenteil gegenüber »leichtfertigen Appellen an unmittelbare Nutzenmaximierung in Schutz« 44 genommen wären. (1) Keine weiteren Worte möchte ich darüber verlieren, dass Hares Lösungsvorschlag alles andere als salomonisch ist, weil man die Redefreiheit faktisch aufhebt, wenn man Rassisten rassistische Äußerungen verbietet. Wichtiger ist der Hinweis darauf, dass sich Rawls vom Intuitionismus mit dem Argument distanziert hat, dass der Intuitionismus »keine ausdrückliche Kriterien für das Vorrangproblem« 45 angeben könne. Rawls’ Gerechtigkeitstheorie kennt durchaus die Unterordnung von Rechten und moralischen Ansprüchen, wobei mit den Freiheitsrechten allerdings tatsächlich ein bestimmter Typ von Rechten ausgenommen wird. (1.1) Die Frage nach der Unverletzlichkeit von einigen wenigen Hare 1981, 218 ff. Rawls 1971, 61. Rawls versteht unter einem ›Intuitionismus‹ generell die »Lehre, es gebe eine nicht weiter zurückführbare Familie von Grundsätzen, aus denen durch wohlüberlegte Urteile eine möglichst gerecht gewichtete Kombination herzustellen ist.« A. a. O. 52. Ausdrücklich betont er, dass der Intuitionismus »nichts Unvernünftiges« an sich habe und »durchaus wahr sein« könne. A. a. O. 58. Wegen der fehlenden Vorrangregeln ist der Intuitionismus in seinen Augen jedoch nur eine unvollständige bzw. »halbe« Gerechtigkeitsvorstellung. A. a. O. 61.
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Grundrechten ist für eine Philosophie des moralischen Dilemmas nun von großem Belang, weil sich aufgrund einer solchen Annahme viele Dilemmata eindeutig auflösen lassen würden. So würde es mit Rawls unzweideutig feststehen, dass man nicht foltern darf, um Osama Bin Laden auffinden zu können, was selbst dann gilt, falls dadurch das Leben tausender Menschen gerettet werden könnte. Mit Hare hingegen läge die Entscheidung keineswegs eindeutig auf der Hand: Man müsste sorgfältig abwägen, ob die speziellen Bedingungen fordern, dass doch gefoltert wird. (1.2) Dem Vorteil der Eindeutigkeit bei Rawls steht allerdings entgegen, dass es bei einem starren Festhalten an Grundrechten in extremen Einzelfällen zu kontraintuitiven Entscheidungen kommen kann. Wenn eine Terroristengruppe ein Atomkraftwerk sprengen will, dürfte man ein gefangenes Mitglied dieser Gruppe nach Rawls nicht foltern, um die Katastrophe zu verhindern, womit man dem elenden Sterben von vielen tausend Menschen seinen Lauf lassen würde. (2) Dem Einwand der kontraintuitiven Entscheidungen setzt sich Hare (wie schon gezeigt) nicht aus: Das kritische Denken würde im vorliegenden Extremfall wohl zu der intuitiv einleuchtenden Entscheidung gelangen, dass die Folter zur Abwendung der Katastrophe geboten wäre. Indem ich von ›Extremfällen‹ spreche, habe ich jedoch das zentrale Problem von Hares Philosophie des moralischen Dilemmas benannt. Die Schwäche dieser Philosophie besteht nämlich nicht darin, dass Grundrechte überhaupt zur Disposition gestellt werden, sondern darin, dass Hares kritisches Verfahren in problematischen Fällen keineswegs eindeutig angibt, wie mit zur Disposition stehenden Grundrechten denn nun konkret umgegangen werden soll. Wie ich in den nächsten Abschnitten noch zeigen werde, ist das kritische Denken sehr viel mehr auf moralische Intuitionen angewiesen, als Hare es wahrhaben will, weshalb es vergleichbar gewichtige Anwendungsschwierigkeiten wie die traditionellen utilitaristischen Verfahren 46 der klassischen Utilitaristen aufweist. Der Einwand der Anwendungsschwierigkeiten ist vielschichtig. (1) Problematisiert wird erstens die Nichtmessbarkeit von Glück. Vgl. Sinnott-Armstrong 1988, 77 f.; sowie Fraassen 1973, 141; sowie Williams 1992, 102. (2) Ein weiteres Problem sind die unterschiedlichen Vorstellungen von Glück, die sich bei den verschiedenen Menschen antreffen lassen. Williams 1992, 102. Dieses Problem gesteht Sidgwick ausdrücklich zu. Sidgwick 1874, 244.
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(d) Der Einwand der Schwierigkeiten der Präferenzberücksichtigung Wie es im 5. Kapitel von Moral Thinking ausdrücklich heißt, verlangt die »Methode des kritischen Denkens« im Falle eines moralischen Dilemmas, »dass wir den gleichen Präferenzen aller Betroffenen in gleicher Weise Beachtung schenken«, weil »moralische Prinzipien« ja »universell sein müssen und daher keine Individuen herausgreifen dürfen« 47. So einleuchtend das klingt, so schwierig stellt sich die gleiche Berücksichtigung der gleichen Präferenzen aller Betroffenen bei näherer Hinsicht in der konkreten Anwendung dar. (1) Strittig ist schon, wer überhaupt ›betroffen‹ ist. Im »unparteiischen, kritischen Denken« soll »den Interessen eines jeden gleiches Gewicht« verliehen werden, der von der »Beibehaltung« oder Verwerfung eines prima facie Prinzips in einer bestimmten Situation »begünstigt oder geschädigt wäre« 48. Dass im Falle eines Sterbehilfe-Dilemmas der sterbenskranke Mensch und der Arzt betroffen sind, steht außer Frage. Wie aber steht es mit potentiellen Erben oder dem Krankenhausträger? Handelt es sich um ›Betroffene‹ ? Falls sich die Gruppe der Betroffenen exakt umgrenzen ließe, stünde man vor dem Folgeproblem, ob tatsächlich die Präferenzen aller Betroffenen gleich gewichtet werden müssen, wie Hare nahelegt. Es liegt auf der Hand, dass die Präferenzen des Sterbenden besonderes Gewicht haben müssen, während es allen moralischen Intuitionen widersprechen würde, wenn man den Präferenzen der potentiellen Erben dasselbe Gewicht beimessen müsste. Unklar ist schließlich auch, inwieweit die Intensität und Stärke der unterschiedlichen Präferenzen diverser Betroffener berücksichtigt werden muss. Wenn man einmal annimmt, die Patientin von Dr. Jefferson hätte (3) Ein weiteres Anwendungsproblem besteht in der Frage, wer eigentlich die »alle« sind, deren Glück dem utilitaristischen Prinzip zufolge berücksichtigt werden muss. Werden die Tiere beispielsweise ebenfalls bedacht? Und welchen Stellenwert haben die Nachkommen? Sidgwick 1874, 202 f. (4) Sidgwick beantwortet solche Fragen damit, dass es um die »Menge der lebenden Personen« gehen soll. Sidgwick 1874, 204. Damit stellt sich das Folgeproblem, dass es im Einzelfall alles andere als klar auf der Hand liegt, mit welcher Strategie sich das größtmögliche Glück aller lebenden Menschen am besten realisieren lässt. Vgl. dazu Ross 1930, 23 f. 47 Hare 1981, 147. 48 Hare 1981, 96. Das moralische Dilemma
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4. Das moralische Dilemma als Herausforderung nach Hare
einen Neffen, der extrem daran interessiert ist, seine Tante möglichst bald zu beerben, muss seine Präferenz wegen ihrer Stärke dann in besonderem Maße berücksichtigt werden, obwohl es sich doch um eine wenig sympathische Präferenz eines nur mittelbar Betroffenen handelt? 49 (2) Damit ist das Problem angesprochen, dass es auch primitive, dumme und böse Präferenzen gibt. Hare diskutiert dieses Problem im 5. und 8. Kapitel von Moral Thinking. (2.1) Böse Präferenzen interessieren Hare nur, insofern es sich um böse Präferenzen einer großen Zahl von Menschen handelt, weil es in seinen Augen auf der Hand liegt, dass die Forderung nach der Erfüllung von vereinzelten bösen Präferenzen zu Lasten einer großen Gemeinschaft nicht universalisierbar ist. 50 Als Beispiel für böse Präferenzen einer Masse von Menschen führt er das Vergnügen an Zirkusspielen im antiken Rom und an Stierkämpfen und Fuchsjagden der Gegenwart ins Feld. Obwohl hier ein hohes Maß an Präferenzerfüllung zur Disposition steht, muss das kritische Denken solche Vergnügungen nach Hare nicht erlauben, weil man »den römischen Massen ihr Vergnügen« ja auch durch »Wagenrennen oder Fußballspiele« hätte verschaffen können. Schließlich zeige »die heutige Erfahrung«, dass solche Veranstaltungen »genauso viel Erregung generieren können« 51. Solche Umerziehungsmaßnahmen (Brandt spricht freundlicher von einer ›kognitiven Therapie‹ 52) empfiehlt Hare auch gegen ›primitive Hinsch erfindet zur Plausibilisierung des Problems das Beispiel, dass ein »unbekannter Wohltäter« entweder »Patricks Wunsch, eine luxuriöse Villa zu besitzen, oder Annas Wunsch nach einem Eigenheim« erfüllen will. Wenn man weiterhin annähme, dass »Annas Präferenz für das bescheidene Eigenheim schwächer ist als Patricks Präferenz für die Villa«, müsste sich der Wohltäter nach Hinsch für den Kauf von Patricks Villa entscheiden, obwohl das auf den ersten Blick »unfair« zu sein scheint. Hinsch 1995, 107 f. 50 Dass die sadistischen Präferenzen eines Marquis de Sade nicht erfüllt werden müssen, liegt nach Hare schon auf dem Niveau des unkritischen Utilitarismus von Mill auf der Hand, weil das die Lust eines Einzelnen zu dem Preis des Schmerzes von Vielen bedeuten würde. Hare 1981, 204. Mit dem von Amarynta Sed erfundenen Fall eines sadistischen Polizisten, dessen Opfer masochistische Lust empfindet, will sich Hare nicht befassen, weil es in seinen Augen »offensichtlich« ist, »dass kein Fall wie dieser wirklich eintreten wird«. A. a. O. 205. 51 Hare 1981, 205. 52 Brandt 1979, 113 ff. Der Hinweis darauf findet sich in Hinsch 1995, 106. 49
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(d) Der Einwand der Schwierigkeiten der Präferenzberücksichtigung
Präferenzen‹. Sein Beispiel ist die Lust vieler an »Massenunterhaltung« gegenüber der Lust einer kleinen intellektuellen Elite an Oper und dem Ballett beispielsweise. Zwar »dürfen« wir nach Hare »hier keine Intuitionen darüber einbringen«, welche »Freude wertvoller« ist. Dennoch aber empfiehlt er wiederum Umerziehungsmaßnahmen, damit sich »die Verantwortlichen« auf lange Sicht den Ansprüchen »der Spießbürger« auf Erfüllung ihrer Präferenzen »erwehren« 53 können. (2.1.1) Die wichtigsten Probleme dieses Vorschlags zeigt Anna Kusser in ihrem Essay Welchen Nutzen maximiert der Utilitarismus? auf. Ihr erster Einwand lautet, dass es durch nichts garantiert werden könne, dass eine Erfüllung der neuen Präferenzen zur selben Befriedigung wie die Erfüllung der alten Präferenzen führen wird. Des Weiteren fragt sie, woher »der Utilitarist« eigentlich »das Recht« nimmt, »Personen in ihren fundamentalen Dispositionen verändern zu wollen«? Drittens stellt Kusser die Frage, »welche Präferenzen diesen Maßnahmen« 54 unterzogen werden sollen und welche nicht? Hare würde vermutlich antworten, dass sich zumindest das letzte Problem durch rationale Erwägungen lösen ließe. Dann entsteht nach Kusser aber das Problem, dass bei vielen Menschen eine hohe Frustration entstehen würde, wenn (wie es zweifelsohne klug wäre) langfristige Präferenzerfüllung der kurzfristigen per se vorgezogen würde. (2.1.2) Kussers letzter Einwand lautet, dass sich satisfaktorische Präferenzen schwerer als Sachpräferenzen verändern ließen. 55 Dem begegnet Hare, indem er »einen graduellen Übergang« vorschlägt. So hätte man »die Christen den Löwen in einer spannenden Jagd entkommen lassen« können, was »für das Publikum« wohl ebenfalls »recht aufregend« 56 gewesen wäre. Dass dieser Vorschlag den historischen Gegebenheiten nicht gerecht wird, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Vor allem aber ist kein Fall eines moralischen Dilemmas denkbar, in denen Zeit für Umerziehungsmaßnahmen vorhanden wäre, zumal die Akteure in den seltensten Fällen in der Position sind, solche UmerzieHare 1981, 208 f. Kusser 1995, 118–129. 55 Kusser 1995, 129. Im Sinne des letztgenannten Einwands weist auch Hinsch darauf hin, dass »die Bildung individueller Präferenzen von sozialen und persönlichen Lebensbedingungen beeinflusst wird«, die in vielen Fällen so prägend seien, dass die kognitive Therapie entweder von vornherein zum Scheitern verurteilt oder zumindest etwas sehr Langwieriges sein wird. Hinsch 1995, 107 ff. 56 Hare 1995a, 283. 53 54
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hungsmaßnahmen veranlassen zu können. Wenn Sophie vor der Wahl steht, welches ihrer Kinder sie ins Gas geben soll, hat sie weder die Zeit noch die Möglichkeit, die sadistischen Präferenzen ihrer Peiniger in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Damit sind Umerziehungsmaßnahmen keine echte Option, um mit bösen oder primitiven Präferenzen im Falle eines moralischen Dilemmas angemessen umzugehen. (2.2) Während man kollektive böse und primitive Präferenzen nicht einfach unter den Tisch fallen lassen darf, eröffnet Hare diese Möglichkeit für dumme Präferenzen anderer durchaus. Unter ›dummen Präferenzen‹ versteht Hare überholte Präferenzen (er spricht von ›Ego-fanatischen Jetzt-für-dann-Präferenzen‹). Gegen ein Festhalten an solchen dummen Präferenzen formuliert Hare ein »Gebot der Klugheit«, dem zufolge »wir stets eine dominante bzw. (andere Präferenzen) unterordnende Jetzt-Präferenz dafür haben sollten, dass die Erfüllung unserer Jetzt-für-jetzt und Dann-für-dann-Präferenzen maximiert wird«. Nach diesem ›Gebot der Klugheit‹ sollen wir nach Hare auch die Präferenzen anderer bewerten: Wenn es um die »Universalisierung unserer Vorschriften« geht, sollen wir also »nur diejenigen Vorschriften und Präferenzen anderer« berücksichtigen, die »diese auch dann noch hätten, wenn sie stets in dem eben definierten Sinne klug wären« 57. Als Beispiel führt Hare einen Arzt ins Feld, der prinzipiell jede Sterbehilfe verweigert, weil er ›fanatisch‹ am Prinzip der Heiligkeit des Lebens festhält. Dass der Arzt »auf der vorgängigen Autorität« dieser »moralischen Intuition« besteht, bedeutet nach Hare, dass er »das kritische Denken einfach« verweigert, weil das Prinzip der Heiligkeit des Lebens in Hares Augen »nicht universalisierbar ist«. Wie das Beispiel zeigt, setzt sich Hare mit seiner Strategie zum Umgang mit dummen Präferenzen noch deutlicher dem Einwand eines anmaßenden Paternalismus aus. Man kann die moralischen Ansichten und Ansprüche anderer im Falle eines moralischen Dilemmas ganz offensichtlich nicht einfach im Sinne Hares mit dem schlichten Argument unter den Tisch fallen lassen, dass es sich um Fanatiker handle, die man moralisch nicht ernst nehmen müsse. Hare verteidigt seinen Paternalismus mit der Behauptung, dass der Arzt der Entscheidung des kritischen Denkens zustimmen würde, »wenn er mehr Erfahrungen mit solchen Fällen gemacht hat«, weil solche Erfahrungen zwangsläufig dazu führen würden, dass der Arzt »das Ideal, Leben um jeden Preis 57
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zu erhalten«, durch das Ideal ersetzt, »dem Patienten Gutes zu tun« 58. Die moralische Praxis zeigt, dass von dieser Zwangsläufigkeit tatsächlich keine Rede sein kann. Ansonsten müsste es eine statistische Korrelation zwischen den Dienstjahren von Ärzten und ihrer Bereitschaft zur Leistung von Sterbehilfe geben – und eine solche Korrelation gibt es nicht. Tatsächlich ist es keineswegs ausgemacht, dass es sich bei den Präferenzen eines Sterbehilfegegners per se um dumme Präferenzen handelt. Damit ist das zentrale Problem von Hares ›kritischer‹ Haltung gegenüber dummen Präferenzen benannt: Es gibt keinen objektiven Maßstab, mit dem sich entscheiden ließe, welche Präferenzen dumm sind und welche nicht. (3) Wenn man nun einmal annimmt, dass sich das doch irgendwie entscheiden ließe, besteht immer noch das Problem, wie ein kritischer Denker von den Präferenzen der anderen wissen kann, über dessen Wert er paternalistisch entscheiden soll. Schließlich kann man in andere Menschen ja nicht hineinschauen! Hare widmet sich diesem zentralen Problem jedes Präferenzutilitarismus im 5. Kapitel von Moral Thinking. Er schlägt hier ein zweistufiges Verfahren vor, dem zufolge man die Präferenzen anderer erfassen können soll, wenn man die Situation der anderen erst so umfassend wie möglich beschreibt und sich dann vorstellt, was es für einen selbst bedeuten würde, in einer vergleichbaren Situation zu sein. Wie Hare ausdrücklich einräumt, möchte er nicht »behaupten«, dass man durch dieses Verfahren »von der Erfahrung eines anderen jemals ein vollständiges Wissen haben« 59 kann. Allerdings könne man sich vorstellen, welche Präferenzen man selbst in einer vergleichbaren Situation hätte, und das sei ausreichend, um eine kritische moralische Entscheidung zu fällen. (3.1) Ein erstes Problem dieses Verfahrens der »erweiterten Präferenzen« 60 besteht darin, dass man niemals eine Situation vollständig Hare 1995a, 283 f. Hare 1981, (149–153) 152. In seiner Replik auf Leist betont Hare im selben Sinne Folgendes: »Ich behaupte nicht, dass, wenn ich mir die Situation einer anderen Person einschließlich der Präferenzen dieser Person vollständig repräsentiere, ich zu denselben Präferenzen in bezug auf das, was dieser Person geschehen sollte, gelangen muß, sondern nur in bezug auf das, was mir geschehen sollte, wenn ich in genau der Situation dieser Person mit ihren Präferenzen wäre« Hare 1995b, 304. 60 Hare spricht unter Berufung auf Kenneth Arrow bzw. John Harsanyi von einem Verfahren der ›erweiterten Sympathie‹ bzw. der ›erweiterte Präferenzen‹. Hare 1981, 189. 58 59
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wird beschreiben können, in der sich ein anderer befindet. 61 Diesen Einwand gibt Hare bezeichnenderweise einfach zu mit der Bemerkung, dass man mit Blick auf das »menschliche kritische Denken« nicht »erwarten« könne, dass es sich »aller bestehenden Tatsachen vergewissern« würde. Es könne vielmehr lediglich um eine »Auswahl« von relevanten Fakten gehen, wobei Hare dann auch gleich zugesteht, dass zumindest ein im kritischen Denken noch relativ ungeübter moralischer Akteur »am Anfang« letztlich »einfach raten« 62 müsse, welche Fakten mit Blick auf die Präferenzen aller Beteiligten nun relevant sind und welche nicht. Das kann nun offensichtlich nichts anderes heißen, als dass er sich (insofern er kein Erzengel ist, der als solcher über eindeutige Relevanzkriterien verfügt) auf seine Intuitionen verlassen muss. (3.2) Ein zweites Problem besteht darin, dass sich aus keiner noch so adäquaten Situationsbeschreibung ein Wissen über die Art der Präferenzen der betroffenen Personen ableiten lässt, weil sich die Vorlieben und Abneigungen verschiedener Menschen nicht über einen Kamm scheren lassen. 63 Hare antwortet auf den Einwand der Individualität von Präferenzen, dass es nur in Extremfällen nicht möglich sei, die Präferenzen anderer aus der aufrichtigen Vorstellung abzuleiten, welche Präferenzen man selbst in einer ähnlichen Situation hätte. So könne es »ungewöhnlichen Fällen« beispielsweise »möglich« sein, dass jemand Schmerzen hat, ohne dass er darunter leidet, so dass er auch kein »Motiv für die Beendigung oder Vermeidung der Schmerzen hat« 64. Jenseits solcher ungewöhnlichen Ausnahmefälle könne man jedoch sicher davon ausgehen, dass Schmerzen, Grausamkeiten und der Tod für die meisten Menschen etwas Übles sind. Für solche ›dicken Präferenzen‹ muss man Hare wohl zugeben, dass sie sich durch eine Situationsbeschreibung erfassen lassen. Sobald man die Ebene der ›dicken Präferenzen‹ jedoch verlässt, stößt das Verfahren der erweiterten Verweis auf Arrow 1977 sowie auf Harsanyi 1977, 54. Nach Hinsch sollte Hare besser vom ›Prinzip der bedingten situativen Identifikation‹ sprechen. Hinsch 1995, 93 f. 61 Vermutlich gilt das auch für eine Situation, in der man sich selbst befindet, aber das tut hier im Rahmen einer Philosophie des moralischen Dilemmas nichts zur Sache. 62 Hare 1981, 145 f. 63 Hinsch bezweifelt sogar, dass man ein Wissen über seine eigenen Präferenzen in einer Situation X haben kann, solange man sich nicht aktual in der Situation X befindet. Hinsch 1995, 95. Hare diskutiert die Möglichkeit einer Nicht-Identifizierung mit dem eigenen zukünftigen Selbst in Hare 1981, 153 ff. Hare führt Hinschs zentralen Einwand der Individualität von Präferenzen treffend auf Rawls zurück. Vgl. Hare 1995c, 268. 64 Hare 1981, 150.
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Präferenzen an seine Grenzen. Wer kennt nicht die Erfahrung, dass man ein Geschenk gekauft hat, von dem man sicher war, dass es dem anderen gefallen würde, das dann aber achtlos zur Seite gelegt wurde? Wenn es um andere Präferenzen als die basalen Präferenzen der Schmerzvermeidung beispielsweise geht, muss sich der Akteur wiederum (insofern er kein allwissender Erzengel ist) auf seine moralischen Intuitionen verlassen, wenn er die Präferenzen anderer in seiner Entscheidung mit einbeziehen will. (4) Hare selbst widmet sich in Moral Thinking vor allem dem Problem, inwieweit sich Präferenzen von unterschiedlicher Stärke ›interpersonell‹ gegeneinander abwägen lassen. Sein im 7. Kapitel verteidigter Lösungsvorschlag lautet im Kern, dass sich »Vergleiche zwischen anderer Leute Präferenzen auf Vergleiche zwischen unseren eigenen« reduzieren lassen würden. So wisse man nach einem Italienurlaub im Nachhinein, ob man »das Konzert am Dienstagabend mehr genossen« hat »als das Abendessen am Mittwoch«, indem man sich die Frage stellt, ob man das Konzert oder das Abendessen vorziehen würde, wenn man »die Zeit noch einmal durchleben«, aber »nicht beides haben könnte«. Weil wir solche Vergleiche zwischen verschiedenen eigenen Präferenzerfüllungen der Vergangenheit anstellen können, kann es nach Hare jenseits eines philosophischen »Skeptizismus in Sachen Fremdpsychisches« keinen Zweifel geben, dass man »Vergleiche zwischen anderer Leute Präferenzen« ziehen kann, indem man »die Stärke« seiner »eigenen entsprechenden Präferenzen« miteinander vergleicht. Wie das vonstattengehen könnte, erläutert Hare an einem Beispiel. Diesem Beispiel zufolge soll ein moralischer Akteur »entweder an Jones oder an Smith ein Brötchen zu vergeben« haben, wobei Jones das Brötchen »stärker als Smith« präferieren soll. Dann muss ich mir nach Hare vier verschiedene Situationen vorstellen, nämlich eine Jones-mit-BrötchenSituation J1, eine Smith-ohne-Brötchen-Situation S1, eine Jones-ohne-Brötchen-Situation J2 und eine Smith-mit-Brötchen-Situation S2. Und irgendwann sei es dann »klar«, dass bei den angenommenen Stärken von Smith’s und Jones’ Präferenzen »meine eigene Präferenz« als derjenige, der das Brötchen zu verschenken hat, schließlich »die für die erste der beiden Alternativen sein wird« 65, dass Jones das Brötchen bekommt, während Smith leer ausgeht. 65
Hare 1981, (177–191) 187 ff. Zu Beginn des 7. Kapitels betont Hare, dass er zentrale
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(4.1) Wie das Beispiel des trotzigen Kindes zeigt, ist zunächst einmal einzuwenden, dass das Kriterium der Präferenzstärke nicht per se ein gutes Kriterium für eine moralische Entscheidung ist. 66 Neben der Präferenzstärke muss sicherlich auch die Art der Präferenz mit einbezogen werden. So muss beispielsweise überlegt werden, ob es sich um eine dumme, primitive oder böse Präferenz handelt, was (wie in Argument 4.d.2 gezeigt) mit erheblichen Problemen beladen ist. (4.2) Ein zweites Problem besteht darin, dass ich im Nachhinein noch nicht einmal meine eigenen vergangenen Präferenzstärken sicher rekonstruieren kann. Vielleicht war der Restaurant-Besuch tatsächlich eher fade, weil das Essen schlecht war. Weil ich aber gleich anschließend auf dem Parkplatz vor dem Restaurant den Mann meines Lebens kennengelernt habe, erscheint mir der Restaurantbesuch im Nachhinein trotzdem das intensivere Erlebnis zu sein, obwohl ich den Konzertbesuch für sich genommen eigentlich sehr viel mehr genossen habe. (4.3) Stärker noch fällt das Problem ins Gewicht, dass ich selbstverständlich nicht davon ausgehen kann, dass alle anderen bei denselben Ereignissen dieselben Präferenzen wie ich entwickeln. Treffend führt Fehige in seinem Essay Das große Unglück der kleineren Zahl den Einwand ins Feld, dass verschiedene Menschen jenseits von Extremfällen auf starke Lautstärken ganz unterschiedlich reagieren: Der eine liebt Diskothekenbesuche, und dem anderen ist die Musik dort viel zu laut. 67 Welche Präferenzen bei welchen Menschen durch welche Ereignisse tatsächlich entstehen, ist erfahrungsgemäß sehr von persönlichen Vorlieben, vom Temperament 68 und von den individuellen Lebensumständen abhängig, um nur die wichtigsten Faktoren zu nennen. erkenntnistheoretische Probleme ausblenden und sich also weder mit dem skeptischen Problem des Fremdpsychischen noch mit der Frage beschäftigen wolle, ob ich noch ›ich selbst‹ bin, wenn ich mit meinen gesamten Eigenschaften und Erfahrungen in »die Haut eines anderen« transferiert würde. A. a. O. 178–180. 66 Vgl. dazu ausdrücklich Hare 1981, 170. 67 Fehige 1995, 169 ff. 68 Auf die Bedeutung des Temperaments weist Fehige in seinem Argumentationsgang gegen das Zwei-Welten-Kriterium zur Gewichtung von Präferenzstärken hin, das Hare kurz in Anlehnung an C. Lewis im 7. Kapitel ebenfalls erwähnt. Wenn wir zwei Welten hinsichtlich ihrer moralischen Qualität vergleichen wollen, sollen wir fragen, ob ein informierter rationaler Beobachter lieber sämtliche Leben in der einen oder in der anderen Welt durchleben wollen würde. Wie Fehige treffend betont, können »verschiedene vollinformierte rationale Entscheider« zu »verschiedenen Ergebnissen kommen«.
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(4.4) Wenn man nicht davon ausgehen kann, dass in einer vergleichbaren Situation alle dieselben Präferenzen entwickeln wie ich, kann man erst recht nicht davon ausgehen, dass die Präferenzen von vergleichbarer Intensität und Stärke sind. Obwohl er Fehiges Analogie letztlich für »schlecht gewählt« hält, entgegnet Hare zunächst einmal, dass es »sicherlich« in einer »großen Zahl von Fällen zumutbar leicht« sei, auch Lautstärkenunterschiede miteinander zu vergleichen. Sein Beispiel ist der »Lautstärkenunterschied zwischen einem Schuss, der im selben Raum abgefeuert wird, und einem Gewicht von zehn Gramm«, das zu Boden fällt, einerseits und dem »zwischen zwei Gewichten von zehn Gramm und zwanzig Gramm, die man beide fallen läßt«, andererseits. Vergleichbar könne man sich »ziemlich sicher« sein, »im Falle von Präferenzen die notwendigen Unterschiede bestimmen zu können« 69, obwohl es keinen objektiven intersubjektiven Maßstab dafür gäbe. Schließlich hätten »die Leute« auch sagen können, welcher von zwei Säcken Korn schwerer ist, »bevor Waagen oder Kilogramm erfunden waren«, weil sie die Säcke »anheben« 70 konnten! Diese Beispiele sind in doppelter Weise verräterisch. Zum einen beweist die Tatsache, dass man einen Schuss anders hört als einen leichten herabfallenden Gegenstand, natürlich nicht, dass alle einen Restaurantbesuch intensiver als einen Konzertbesuch erleben würden. Und zum anderen muss man sich bei zwei annähernd gleich schweren Säcken selbstverständlich auf seine Intuition verlassen, wenn man ohne Waage etc. entscheiden soll, welcher schwerer ist. (4.5) Wenn man nun einmal zugibt (was man nicht zugeben sollte!), dass man durch das Verfahren der erweiterten Sympathie tatsächlich nicht nur die Art, sondern auch die Stärke der Präferenzen anderer kennen kann, stellt sich das Folgeproblem, wie man etwas über die unterschiedlichen Präferenzstärken verschiedener Protagonisten wissen kann. In seinem Brötchenbeispiel setzt Hare schlicht voraus, dass Jones das Brötchen »stärker als Smith« präferiert. Wie aber kann man das wissen? Sobald es sich um zwei verschiedene Personen handelt, komme ich mit dem Verfahren der erweiterten Sympathie definitiv nicht weiSchließlich könne es sein, dass der eine es vorziehen würde, »dass sein Präferenzerfüllungs-Level fieberkurvenartig auf und ab geht, wenn nur der Durchschnitt stimmt«, während ein anderer »den gleichen Durchschnitt lieber konstant« hätte. Fehige 1995, 171. 69 Hare 1995d, 260 f. 70 Hare 1995d, 262. Das moralische Dilemma
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ter, weil die Reduzierung auf meine eigenen Präferenzen mir ja vorgaukeln würde, dass Jones und Smith dieselben Präferenzen von derselben Stärke haben müssten, da ich ja nur den einen Bezugspunkt meiner eigenen Präferenzen habe. Kryptisch deutet Hare an, dass man die Präferenzen anderer erfassen könne, wenn man zusätzlich zu den »eigenen Erfahrungen« auch das berücksichtigt, »was andere Leute uns über die ihrigen sagen« 71. Dem ist nun zum einen entgegenzuhalten, dass es sein kann, dass die Präferenzen von Jones tatsächlich keineswegs stärker als die von Smith sind, sondern dass Jones seinen (dem Kriterium der Präferenzstärke zufolge eigentlich schwächeren) Anspruch lediglich besser plausibilisieren kann, weil er eloquenter als Smith ist. Zum anderen ist einzuwenden, dass das um die Einbeziehung von relevanten Informationen über die anderen selbst wiederum erweiterte Verfahren der erweiterten Sympathie spätestens dann restlos überfordert ist, wenn über die konkurrierenden Präferenzen einer Vielzahl von Personen entschieden werden muss. Man stelle sich vor, dass zwei Brötchen unter 24 Personen verteilt werden sollten. Wieder müsste der menschliche Akteur auf seine Intuitionen zurückgreifen, da er kein Erzengel ist. (4.6) Restlos überfordert ist das Verfahren der erweiterten Sympathie, falls verschieden geartete Präferenzen verschiedener Personen von unterschiedlicher Intensität und Stärke gegeneinander abgewogen werden müssen. Insgesamt sind die Schwierigkeit einer angemessenen Präferenzberücksichtigung so offensichtlich, dass Hare selbst einräumt, dass »menschliche Wesen« anders als die Erzengel kein vollständiges Wissen von den »Tatsachen über anderer Leute Präferenzen und deren Stärke« haben könnten, »deren Kenntnis für eine sichere Antwort auf alle moralischen Fragen nötig wäre« 72. In seinem späten Essay Universal Prescriptivism von 1991 führt Hare das Problem des interpersonellen Präferenzstärkenvergleichs dann sogar als einen »Beweis dafür« ins Feld, »dass moralisches Denken überhaupt schwierig ist«. Er spricht hier von schwerwiegenden »philosophischen Schwierigkeiten«, welche das Problem betreffen sollen, »wie man die Stärke der Präferenzen anderer und mit der der eigenen Präferenz vergleicht« 73. Hare 1981, 188 f. Hare 1981, 183. 73 Hare 1991, 48. Hallich bemerkt in diesem Zusammenhang, dass Hare an der »Aufgabe scheitert«, davon zu überzeugen, dass man über die Präferenzen anderer Men71 72
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Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass man sich (insofern man kein Erzengel ist) wiederum letztlich auf seine Intuitionen verlassen muss, wenn man die Präferenzen anderer im Zuge einer moralischen Entscheidung nach ihrer Art und Stärke angemessen berücksichtigen will.
(e) Die Einwände des Egoismus und des Amoralismus Nehmen wir nun einmal an, dass moralische Akteure doch hinreichendes Wissen über Stärke und Art der Präferenzen anderer haben können. Dann würde sich das Folgeproblem ergeben, warum sich aus einem solchen Wissen die Bereitschaft ergeben sollte, die eigenen Präferenzerfüllungen gegebenenfalls zurückzustellen, falls die Präferenzen der anderen stärker oder klüger sein sollten als seine eigenen. (1) Im 6. Kapitel von Moral Thinking versucht Hare das Egoismus-Problem durch den Aufweis zu lösen, dass es logisch zwingend sei, seine eigenen Präferenzen hinter den Präferenzen anderer zurückzustellen, falls diese stärker sind. Der Argumentationsgang basiert auf der Prämisse, dass derjenige, der die Universalisierbarkeitsforderung akzeptiert, sich damit darauf festlege, dass »das, wovon er sagt, dass es gegenüber einer anderen Person getan werden soll, auch gegenüber ihm selbst« getan werden sollte, wenn er »genau in ihrer Lage wäre, die gleichen persönlichen Merkmale hätte« und sich »in den gleichen motivationalen Zuständen befände«. Die Universalisierbarkeitsforderung fordert nach Hare also, dass ich mir die Präferenzen der anderen zu eigen mache. Das bedeutet zunächst einmal, dass es zu einem »Widerspruch im Willen« kommt, sobald das Gegenüber andere Präferenzen als ich selbst hat. Und das wiederum bedeutet, dass ich »mein ursprüngliches ›sollte‹-Urteil zurückziehe«, wenn die Präferenzen des anderen stärker sind, weil ich mir die Präferenzen des anderen ja zu eigen gemacht habe und im Falle eines Konfliktes zwischen eigenen Präferenzen immer die stärkere Präferenz der schwächeren vorziehe. Hares Beispiel ist eine Situation, in der ›Ich‹ mein Auto an einer Stelle parken schen Sicheres wissen kann, obwohl der »Versuch, die Frage kohärent zu beantworten«, das »Herzstück der Theorie Hares« darstelle. Hallich 2000, 94. Dann zieht Hallich eine Parallele zu Schopenhauer, weil dieser an derselben Aufgabe gescheitert sei. Das moralische Dilemma
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möchte, an der Friedas Fahrrad steht. Weil ›Ich‹ mich der Universalisierbarkeitsforderung verpflichtet fühle, habe ›Ich‹ mir Friedas Präferenzen zu eigen gemacht, wodurch sich der Konflikt nach Hare von einem »interpersonellen« in einen »intrapersonellen Konflikt« verwandelt hat. Sollte Friedas Interesse, ihr Fahrrad an der besagten Stelle stehen zu sehen, nun stärker sein als mein Interesse an dem Parkplatz, werde ›Ich‹ das Fahrrad stehenlassen, während ›Ich‹ es im gegenteiligen Falle wegräumen würde. 74 (1.1) Ein zentraler Unterschied zwischen eigenen und fremden Präferenzen besteht nun darin, dass eigene Präferenzen (insofern sie stark genug sind) unmittelbare Handlungsimpulse sind und fremde nicht. Um den Unterschied klar zu machen, unterscheidet Hinsch in seinem Essay Präferenzen im moralischen Denken aktuale von nur konditionalen Präferenzen, wobei konditionale Präferenzen im Gegensatz zu aktualen Präferenzen solche sein sollen, die man nicht wirklich hat, sondern von denen man sich nur vorstellt, dass man sie in einer bestimmten Situation vermutlich haben würde. Die Präferenzen der anderen können nach Hinsch nur konditionale Präferenzen sein. 75 Sein zentrales Problem lautet dann, wie solche nur konditionalen Präferenzen entscheidungs- und handlungsleitend sein können. Warum soll ›Ich‹ mich durch eine nur konditionale Präferenz veranlasst sehen, Friedas Fahrrad stehen zu lassen, obwohl ›Ich‹ diese Präferenz gar nicht aktual, sondern nur konditional habe? (1.1.1) Dem könnte man zur Verteidigung von Hare entgegenhalten, dass keineswegs nur aktuale Präferenzen handlungsleitend sein können. Wenn ich weiß, dass ich in der Zukunft einmal ein Interesse an einer tüchtigen Pflegekraft haben werde, werde ich jetzt schon mein
Hare 1981, 168–171. Vgl. auch Hare 1995c. Nicht diskutieren möchte ich Hares Anspruch, dass sich auf diese Weise nicht nur interpersonale, sondern auch multilaterale Konflikte (mit vielen Beteiligten bzw. Betroffenen) auf »intrapersonelle Konflikte reduzieren« lassen sollen. Hare 1981, 170. Ausblenden möchte ich auch den jetzt vielleicht möglichen Einwand, dass es unmöglich sei, widersprüchliche Präferenzen zu haben. Vgl. dazu Williams 1965a, 289. Vgl. meine Entgegnung in 5.d.4. 75 Es heißt bei Hinsch: »Die Pointe des Prinzips der bedingten situativen Identifikation liegt aber nicht in diesem Übergang von meinem Wissen darüber, welche Präferenzen andere unter bestimmten Bedingungen haben, zu einem Wissen über Präferenzen, die ich unter denselben Bedingungen hätte, sondern in dem Übergang von meinem Wissen über Präferenzen, die ich unter bestimmten Bedingungen hätte, zu Präferenzen, die ich jetzt habe, obwohl diese Bedingung nicht erfüllt sind«, Hinsch 1995, 96. 74
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Geld zusammenhalten, um später eine solche Kraft bezahlen zu können, obwohl ich die aktuale Präferenz dazu noch nicht habe. (1.1.2) Wichtiger scheint mir jedoch der Hinweis darauf zu sein, dass sich Hinsch auf eine Passage stützt, in der zumindest im englischen Wortlaut unzweideutig von aktualen und nicht von konditionalen Präferenzen die Rede ist. Es handelt sich um eine Passage aus dem 5. Kapitel von Moral Thinking, in der es in wörtlicher deutscher Übersetzung heißt, dass man »das Ausmaß und die Beschaffenheit des Leidens anderer« nicht kennen könne, ohne dass man selbst tatsächlich »vergleichbare Motivationen dahingehend entfalten« würde, »was mit mir geschehen sollte, falls ich an ihrer Stelle mit ihren Motivationen und Präferenzen wäre« 76. Insofern korrigiert Hare Hinsch in seiner Replik mit dem Hinweis darauf, dass er nicht behauptet habe, dass im Zuge von Universalisierung konditionale Präferenzen erworben würden, sondern dass er immer von aktualen Präferenzen gesprochen habe, so dass sich das Problem der nur konditionalen Präferenzen nicht stelle. 77 Und tatsächlich heißt es im 6. Kapitel von Moral Thinking, dass der moralische Akteur »selbst eine entsprechende Motivation erwerben« würde, sobald er sich die »Lage« Friedas »mitsamt ihren Motivationen vor Augen« 78 führt. Hare scheint also tatsächlich zu meinen, dass ›Ich‹ dasselbe will wie Frieda, sobald ich mich in ihre Situation hineinversetze, insofern ›Ich‹ die Universalisierbarkeitsforderung anerkenne. (1.2) Nach Hare soll man die Motivationen des anderen selbst entHinsch zitiert selbst den englischen Wortlaut. Es heißt: »I cannot know the extent and quality of others’ sufferings and, in general, motivations and preferences without having equal motivations with regard to what should happen to me, were I in their places, with their motivations and preferences.« Hare 1981, 99. Zit. nach Hinsch 1995, 93. In der deutschen Übersetzung heißt die entsprechende Passage: »Für unsere Zwecke genügt es aber, daß ich nur das Ausmaß und die Beschaffenheit des Leidens und, allgemeiner, auch der Motivationen und Präferenzen anderer kennen kann, wenn ich die gleichen Motivationen habe in Hinsicht darauf, was mit mir geschehen sollte, wenn ich mitsamt ihren Motivationen und Präferenzen in ihrer Lage wäre«. Hare 1981, 158. 77 Im Wortlaut der deutschen Übersetzung heißt es, dass er nicht behauptet habe: »Wenn ich in seiner Position wäre, dann würde ich wollen, dass p«. Richtig sei vielmehr: »Ich will jetzt, dass, wenn ich in seiner Position wäre, p«. Hare 1995b, 263. 78 Hare 1981, 168. Wenig später heißt es ebenso unmissverständlich: »Wir haben nachgewiesen, dass, wenn ich von den Präferenzen des anderen vollständig Kenntnis habe, ich selbst in Hinsicht darauf, was mir gegenüber getan werden sollte, wenn ich in seiner Lage wäre, die gleichen Präferenzen erworben habe wie er selbst.« A. a. O. 169. 76
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falten, sobald man sich in die Lage des anderen versetzt und die Universalisierbarkeitsforderung anerkennt. Wie Leist in seinem Essay Moralisches Zaubern von 1992 anschaulich rekonstruiert, soll das nach Hare auf folgendem Vorgang beruhen: »Ich habe den Wunsch zu parken, versetze mich außerdem in Frieda, und habe dann den Wunsch, den Frieda hat« 79. Wie Leist überzeugend hervorhebt, folgt daraus, dass ich mir vorstelle, welche Präferenzen ich in der Situation eines anderen vermutlich hätte, allerdings auch dann nicht, dass ich selbst diesen Wunsch habe, wenn ich im Sinne der Universalisierbarkeitsforderung anerkenne, dass die Präferenzen des anderen dasselbe Gewicht haben sollen wie meine eigenen. Wenn sich der moralische Akteur in Frieda hineinversetzt, mag er ihre Präferenzen vielleicht in gewissen Grenzen kennen können. Das bedeutet jedoch noch längst nicht, dass er ihren Wunsch ebenfalls haben muss. Ja, Leist hält es sogar für völlig sinnlos, behaupten zu wollen, dass jemand anders als Frieda selbst Friedas Wünsche haben könne, weil nur Frieda selbst Friedas Wünsche haben kann. Dem kann man nun entgegenhalten, dass Hare natürlich keine numerische, sondern lediglich eine qualitative Identität meint, wenn er von ›denselben‹ Präferenzen spricht. Damit wäre das zugrundeliegende Problem jedoch nicht aus der Welt, dass zusätzliche moralische Motive wie ›Mitgefühl und Sympathie 80 gegeben sein müssen, falls sich ein moralischer Akteur durch das Verfahren der erweiterten Sympathie tatsächlich die Präferenzen von anderen zu eigen machen kann. (1.3) Dass Hares Universaler Präskriptivismus auf solchen altruistischen Prämissen beruht, wird noch deutlicher, wenn man die noch sehr viel grundsätzlichere Frage stellt, warum der moralische Akteur die Universalisierbarkeitsforderung akzeptieren soll. Das EgoismusProblem stellt ein altes Problem des Utilitarismus dar, weil er letztlich keine Antwort auf die Frage geben kann, was Menschen dazu motivieren sollte, nicht etwa das eigene Glück, sondern das größte Glück der größten Zahl zu maximieren. 81 Mit Blick auf Hare spricht Leist anLeist 1995, 83. Bei Hinsch findet sich die lakonische Bemerkung, dass Hares Moralphilosophie ein »beträchtliches Maß an Mitgefühl und Sympathie für andere« voraussetzen würde. Hinsch 1995, 95. 81 So heißt es bei Williams beispielsweise, dass es nicht den »mindestens Grund« gäbe, »warum ausgerechnet der Utilitarismus über eine Zauberformel verfügen sollte, mit der man den Amoralisten von seinem Standpunkt abbringen könnte«. Williams 1972, 95. 79 80
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schaulich vom ›moralischen Spiel‹, das nur funktioniert, wenn der moralische Akteur nicht nur über die Fähigkeit zum »Standpunktaustausch und Universalisieren« verfügt, sondern das Spiel auch spielen will. Leists zentraler Einwand lautet dann, dass »in Hares Buchhaltung nicht offen gelegt« 82 würde, woher dieses ›Wollen‹ stammen könnte. Wie Leist ebenfalls ausführt, hatte Hare in Freedom and Reason von 1963 noch die Auffassung vertreten, dass es »nichts gäbe«, was einen moralischen Akteur »veranlassen könnte, eher den einen moralischen Grundsatz als einen anderen anzunehmen oder zurückzuweisen«, wenn der Akteur »bei seinem Unparteiischwerden« völlig »gefühlund teilnahmslos würde und sich durch die Interessen der anderen ebenso wenig bewegen« ließe »wie durch seine eigenen« 83. In Moral Thinking habe sich Hare dann jedoch »korrigiert« und sich dezidiert dagegen ausgesprochen, dass man für moralisches Handeln und Entscheiden über die intellektuellen Fähigkeiten des Sichhineinversetzens in andere und des Universalisierens hinaus auch über »Motive der Anteilnahme« 84 wie Mitgefühl oder die Sympathie für andere verfügen müsse. Tatsächlich ist es jedoch ohne solche Zusatzannahmen nicht zu erklären, warum ein moralischer Akteur überhaupt die Bereitschaft haben sollte, seine Entscheidung einer Universalisierbarkeitsprüfung zu unterziehen, obwohl er weiß, dass das durchaus auch die Konsequenz haben könnte, dass er seine eigenen Präferenzen den Präferenzen anderer unterordnen muss. (2) Es bestätigt Leists Auffassung, dass das Egoismusproblem in Hares Moralphilosophie vermutlich nur durch gewisse Zusatzannahmen zu lösen ist, wenn Hare im 11. Kapitel von Moral Thinking im Kontext seiner Ausführungen zum verwandten Problem des Amoralisten 85 die Auffassung vertritt, dass die Entscheidung für die moralische Haltung eine Angelegenheit der Klugheit sei, weil es den Ring des Gyges nun
Leist 1995, 82. Hare 1962, 113. Zitiert in Leist 1995, 78 f. Anm. 2. 84 Leist 1995, 84. 85 Die Begriffe ›Amoralist‹ und ›Egoist‹ sind nicht synonym: Während ein Amoralist Moralität verachtet und sich bewusst gegen moralisches Handeln entscheidet, verfolgt ein Egoist zunächst einmal nur seine eigenen Interessen, was natürlich ebenfalls i. d. Regel zu amoralischem Handeln führt. (Nur) in der Moralphilosophie von Arthur Schopenhauer ist der Egoist immer auch ein Amoralist. 82 83
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einmal nicht gäbe, weshalb der Amoralist mit sozialer Ächtung rechnen müsse. (2.1) Dem ist zunächst einmal entgegenzuhalten, dass Amoralisten keineswegs immer sozial geächtet werden. Ein Mafiaboss beispielsweise muss nur einen Teil seines unrechtmäßig erworbenen Vermögens für öffentliche Zwecke geben, um sozial sehr viel geachteter als ein anständiger armer Schlucker zu sein. (2.2) Darüber hinaus sind viele moralische Entscheidungen definitiv nicht klug! So ist es zweifelsohne keine kluge Entscheidung, wenn das Mädchen im Grimm’schen Märchen vom Sterntaler in einer kalten Winternacht ihr letztes Stück Brot und alle Kleidungsstücke verschenkt, weil normalerweise in solchen Situationen keine rettenden Münzen oder Kleidungsstücke vom Himmel fallen. Unter tatsächlichen Bedingungen wäre das Mädchen erfroren und verhungert oder (im Bestfall) auf Sozialhilfe angewiesen. Wenn Erzengel also (wie Hare an einer Stelle in Erwägung zieht) »wie einige Heilige« ihr »gesamtes Hab und Gut verschenken« 86, mag das moralisch vorbildlich sein, aber keinesfalls per se auch klug! Es scheint vielmehr von kontingenten außermoralischen Faktoren abhängig zu sein, ob eine moralische Entscheidung auch eine kluge Entscheidung ist. So wäre es nur dann nicht nur moralisch, sondern zudem auch klug, Friedas Fahrrad stehen zu lassen, wenn sie das unbedingt will, falls Frieda ein heftiges Temperament hat, so dass sie vielleicht in einem Wutanfall das Auto des moralischen Akteurs demolieren würde. 87 (2.3) Hare entgegnet Leist, dass er keine kurzfristige pragmatische Klugheit im Auge habe, sondern eine »universalisierte Klugheit«, die nicht nur auf die Befriedigung eigener Präferenzen »für die aktuelle Situation« abzielen soll, sondern auf eine Präferenzbefriedigung »in allen Situationen, die ihr in ihren universellen Eigenschaften gleichen, wer auch immer welche Rolle in ihnen spielen mag, und unabhängig davon, ob diese Situationen hypothetisch oder wirklich sind« 88. Zum einen ist mit diesem Joker einer ›universalisierten Klugheit‹ das Problem des Amoralisten natürlich nicht gelöst, weil das, was Hare hier als ›Klugheit‹ etikettiert, bei näherer Hinsicht nichts anderes als die Umschreibung der moralischen Haltung der grundsätzlichen Bereit86 87 88
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Hare 1981, 270. Leist 1995, 80 f. Hare 1995c, 305.
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(f) Die Schwierigkeiten der Universalisierung von spezifischen Prinzipien
schaft zur Universalisierung bzw. zur nichtegoistischen Berücksichtigung der Präferenzen anderer ist. Hares Begriff der ›universalisierten Klugheit‹ ist bei näherer Hinsicht nur ein anderer Begriff für ›Moralität‹. Vor allem aber können wieder einmal nur Erzengel über ›universalisierte Klugheit‹ in dem von Hare definierten Sinne verfügen. Damit bleibt Hare letztlich auch zur Lösung sowohl des Egoismus- als auch des Amoralismusproblems wieder einmal nur der Verweis auf die Erzengel übrig, die mit »keinerlei menschlichen Schwächen« belastet und deshalb jenseits von allem menschlichen Egoismus in der Lage sein sollen, völlig unparteiisch »ein universelles Prinzip« zu entwickeln, »das er für ein Handeln in dieser Situation akzeptieren würde«, und zwar unabhängig davon, »welche Rolle er selbst in ihr einnehmen würde« 89.
(f) Die Schwierigkeiten der Universalisierung von spezifischen Prinzipien Eine weitere zentrale Schwierigkeit liegt darin begründet, dass kritische Prinzipien sowohl universalisierbar als auch einer individuellen Situation angepasst sein müssen (vgl. 4.a). Es mag zwar übertrieben sein, wenn Moscher behauptet, dass »niemand (und bösen Zungen zufolge auch Professsor Hare nicht) genau weiß«, was mit der ›situationsspezifischen Universalisierbarkeit‹ kritischer Prinzipien genau »gemeint ist« 90. Zuzugestehen ist Moscher aber zumindest, dass Hare letztlich keine genauen Anweisungen gibt, wie die Universalisierbarkeitsprüfung im konkreten Anwendungsfall vonstattengehen soll. (1) In seiner früheren Schrift Freedom and Reason hat Hare noch die Anweisung gegeben, die Universalisierbarkeit eines Moralprinzips durch das Verfahren des Rollentausches zu prüfen. Es heißt hier: »Um Hare 1981, 91. Morscher 1995, 179. Moscher unterscheidet fünf mögliche Bedeutungen von ›Universalisierbarkeit‹, um dann zu zeigen, dass mit Hares ›situationsspezifischer Universalisierung‹ eigentlich keine dieser fünf Möglichkeiten gemeint sein kann. Grundsätzliche Überlegungen zum Universalisierungsprinzip finden sich in Wimmer 1980. Speziell zu Hare äußert sich Wimmer in dem Kapitel Hares Universalisierungsprinzip als Konsistenzprinzip. Vgl. Wimmer 1980, 211–231.
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auf moralische Begründungen die Universalisierbarkeitsbedingung zur Anwendung zu bringen, wird es sich nie als verkehrt herausstellen, wenn man sich Fälle vorstellt, die denen, die tatsächlich vorkommen, in den relevanten Punkten genau ähnlich sind – mit der einen Ausnahme, dass die Rollen der Betroffenen verschieden sind« 91. Im Zuge eines Rollentausches versetzt sich der moralische Akteur in die Position seines Widersachers. Das Resultat wäre ein Fall von moralischer Supererogation, weil der Akteur dann statt seiner eigenen Interessen altruistisch die Interessen der Gegenpartei wahren müsste. Es kann im Falle eines moralischen Konfliktes aber nicht darum gehen, dass moralische Akteure statt ihrer eigenen Interessen die Interessen ihrer Kontrahenten wahren müssen. Es muss vielmehr um einen Standpunkt gehen, von dem aus ein echter Ausgleich zwischen den konkurrierenden Parteien und Interessen vorgenommen werden kann. Das ist vom parteiischen Standpunkt des jeweiligen Widersachers nicht möglich. Damit ist das Verfahren des Rollentausches keine wirkliche Option zur Prüfung der situationsspezifischen Universalisierbarkeit von kritischen Prinzipien. (2) In Moral Thinking unterscheidet Hare dann die Allgemeinheit der intuitiven Moralprinzipien von der situationsspezifischen Universalisierbarkeit der kritischen Moralprinzipien. Die Moralprinzipien des intuitiven Denkens müssen nach Hare in der Weise allgemein sein, dass sie in einer »Vielzahl von Situationen« Gültigkeit beanspruchen können müssen, »die alle gewisse auffällige Merkmale gemeinsam haben« 92. Demgegenüber sollen die kritischen Moralprinzipien nach Hare auf ihre Universalisierbarkeit hin geprüft werden, indem sich der moralische Akteur die Frage stellt, ob sie für eine »jede andere genau ähnliche Situation« 93 ebenfalls Gültigkeit beanspruchen können sollten. (2.1) Das Problem dieser Anforderung liegt auf der Hand: Zwischen einer ›groben Ähnlichkeit mit Blick auf gewisse auffällige MerkHare 1962, 59. Hare 1981, 82. 93 Hare 1981, 89. In seinem Essay Universal Prescriptivism von 1991 hebt Hare »die sogenannte Universalisierbarkeit von ›sollte‹ Sätzen und von anderen normativen oder evaluativen Sätzen« sogar als die zentrale Überzeugung seiner Moralphilosophie hervor. Gemeint sei die Überzeugung, »dass in jeder ›sollte‹ Aussage implizit ein Prinzip enthalten ist, demzufolge die Aussage auf alle genau ähnlichen Situationen anwendbar ist«, Hare 1991, 40 f. 91 92
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male‹ und einer ›genauen Ähnlichkeit‹ gibt es eine Vielzahl von Abstufungen, die im konkreten Anwendungsfall eines moralischen Dilemmas beispielsweise einen viel zu großen Interpretationsspielraum lassen. Darauf könnte man nun antworten, dass eine ›genau ähnliche‹ Situation eine sei, die in allen Eigenschaften mit der Ursprungssituation identisch ist bis auf die eine Eigenschaft der numerischen Identität. (2.2) Lassen wir nun den Einwand beiseite, dass es zwei in allen Merkmalen identische Situationen nicht gibt, weil Hare schließlich immer wieder betont, dass es die Universalisierbarkeitsprüfung nicht stören würde, wenn es sich bei der Vergleichssituation um eine hypothetische Situation handelt. 94 Dann bleibt immer noch der Einwand der Überkomplexität der Situationsbeschreibung und der daraus resultierenden Überkomplexität sowohl der Universalisierungsprüfung als auch der kritischen Regel, welche als Resultat all dieser Bemühungen schließlich etabliert werden soll. Man nehme beispielsweise das Sterbehilfe-Dilemma des Dr. Jefferson. Um eine ›genau ähnliche‹ Situation zu beschreiben, müsste die Krankheit der Patientin sowie ihre psychische Verfassung sowie der Charakter von Dr. Jefferson sowie die allgemeine gesellschaftliche Einstellung zur Sterbehilfe erfasst werden. Schon das scheint in allen Details unmöglich zu sein, obwohl nur die Spitze des Eisbergs genannt ist: Jede auch nur annähernd adäquate Beschreibung der Situation des Dr. Jefferson würde überkomplex. Entsprechend überkomplex wäre die Universalisierbarkeitsüberprüfung eines in einer solchen Situation eventuell zur Disposition stehenden kritischen Moralprinzips. Geprüft werden müsste schließlich, ob eine Handlung X gewollt werden sollte, wenn unendlich viele, aber genau bestimmbare Umstände U1-n vorliegen. Damit wäre schließlich auch das Moralprinzip überkomplex, welches eine solche Prüfung erfolgreich überstanden hat. Es würde nämlich lauten ›wenn U1, und wenn U2 (…) und wenn Un, dann X‹. Den Einwand der Überkomplexität gibt Hare nun ohne weiteres zu. So findet sich in Moral Thinking beispielsweise die ironische Wendung, dass viele Moralphilosophen seltsamerweise so reden würden, »als würde kein anständiges Moralprinzip mehr als (sagen wir) ein Dutzend Wörter enthalten« 95 dürfen. Tatsächlich seien viele moralische Probleme zu kompliziert, als dass man mit simplen Prinzipien auskommen könne. Für Hare sind überkomplexe Moralprinzipien 94 95
Hare 1981, 89. Hare 1981, 78 f.
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kein Konstruktionsfehler einer Moralphilosophie, sondern vielmehr die angemessene Reaktion auf unsere komplexe moralische Praxis. Es ist nun geradezu die Ausgangsthese dieser Philosophie des moralischen Dilemmas, dass uns unsere moralische Praxis mit unglaublich schwierigen Situationen konfrontieren kann, die unsere moralischen Fähigkeiten in Einzelfällen vielleicht sogar überfordern. (2.3) Welchen pragmatischen Nutzen aber haben in solchen Situationen überkomplexe Moralprinzipien, mögen sie der Situation auch noch so angemessen sein? Im Essay Universal Prescriptivism von 1991 heißt es dann jedoch sogar ausdrücklich, dass kritische Prinzipien »möglicherweise sogar zu komplex für eine verbale Formulierung« 96 sein können. Wie soll man solche Moralprinzipien noch anwenden? In Albrecht Wellmers Abhandlung Ethik und Dialog von 1986 findet sich die Bemerkung, dass man die »Fiktion eines Erzengels (oder Gottes)« brauchen würde, »um die Allgemeinheit von Prinzipien auf Haresche Weise mit der Besonderheit von Situationen zusammenzudenken«: Nur wenn man »eine solche Fiktion als Fluchtpunkt unserer endlichen Denkbemühungen« voraussetze, könne man »das Problem der moralischen Ausnahmen oder Konflikte (d. h. der moralischen Problem-Situationen) durch den Hinweis auf die unbegrenzte Spezifizierbarkeit moralischer Normen zu lösen versuchen« 97. Wenn man nun den beckmesserischen Einwand beiseitelässt, dass Hare im vorliegenden Zusammenhang ausdrücklich nicht von ›Allgemeinheit‹, sondern von ›Universalität‹ spricht, trifft Wellmers Bemerkung natürlich ins Schwarze. Überkomplexe Moralprinzipien können nur Erzengel anwenden, während sich menschliche moralische Akteure (wieder einmal) auf ihre Intuitionen verlassen müssen, um zu entscheiden, welche Merkmale eine ›genau ähnliche‹ Situation ebenfalls aufweisen muss und welche nicht. Und auch den überkomplexen Prozess der UniverHare 1991, 41. Wellmer 1986, 33. Nach Wellmer sind die »kritischen Moralprinzipien« Hares durch Ausnahmeklauseln modifizierte prima-facie-Prinzipien von der Art »Man sollte nie eine Handlung tun, die G ist, es sei denn, sie ist notwendig, um eine Handlung zu vermeiden, die F ist und sie (die G-Handlung) hat die Eigenschaft H; ist die Handlung nicht H, so darf man es nicht«, wobei das nach Wellmer »erst der Anfang der kritischen Spezifikation eines prima-facie-Prinzips wäre«. A. a. O. 33. Meiner Lesart zufolge geht es allerdings weniger um Ausnahmen als um konditionale Modifizierungen: »Wenn Umstand x vorliegt, sollte Moralprinzip M1 in folgender Weise geändert werden« etc. Diese unterschiedlichen Lesarten sind für die Formulierung des Überkomplexität-Einwandes jedoch unwichtig.
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salisierbarkeitsprüfung solcher Moralprinzipien können nur Erzengel vollziehen, weil nur Erzengel alle Details einer ›genau ähnlichen‹ Situation vor Augen haben können. (3) Vielleicht zur Vermeidung solcher Schwierigkeiten ist im 3. Kapitel von Moral Thinking dann nicht mehr von einer ›genau ähnlichen Situation‹ die Rede, sondern nur noch von einer »relevanten Ähnlichkeit« 98 zwischen den Situationen. Offensichtlich kommt Hare damit jedoch vom Regen in die Traufe. Schließlich wird man erfahrungsgemäß kaum jemals zwei moralische Akteure finden, die in ein und derselben Situation dasselbe für relevant halten. Insofern präzisiert sich Hare eine Seite später dahingehend, dass es sich um ein moralisch relevantes Situationsmerkmal handeln müsse. Die Frage antizipierend, wie der moralische Akteur herausfinden kann, was in einer Situation moralisch relevant ist, antwortet Hare, dass sich das erschließe, sobald man »auf diese Situation ein Moralprinzip anzuwenden« versucht. Um seine These zu plausibilisieren, dass die Prinzipien »festlegen, was relevant ist«, führt er das Beispiel ins Feld, dass wir alle wissen, dass »die Hautfarbe als irrelevant für moralisches Urteilen zu behandeln« ist, weil wir uns einem moralischen Prinzip verpflichtet haben, dem zufolge es moralisch falsch ist, einen Menschen allein aufgrund der Hautfarbe« zu diskriminieren«. 99 Nun war das bekanntlich leider keinesfalls zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte moralischer Konsens. Es gab vielmehr Zeiten, in denen sich intuitive moralische Vorstellungen etabliert hatten, nach denen die Hautfarbe durchaus relevant für die Frage war, wie man mit einem Menschen umgehen durfte und welche Rechte er hatte. Bestimmt werden solche moralischen Vorstellungen einer Zeit durch intuitive Moralprinzipien. Eigentlich sollen intuitive Prinzipien nun durch kritische Prinzipien ausgewählt, begründet und gerechtfertigt oder verworfen werden (vgl. 4.a). Wenn es aber tatsächlich die moralisch relevanten Eigenschaften einer Situation sein sollen, die die Richtung der Prüfung der situationsspezifischen Universalisierbarkeit von kritischen Prinzipien vorgeben, bekämen die intuitiven Prinzipien im Zuge dieses Prüfungsverfahrens ein unangemessenes Gewicht, weil das, was als moralisch relevant erachtet wird, nach Hare
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Hare 1981, 112. Hare 1981, 113 f.
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ja immer von den jeweils etablierten intuitiven Moralprinzipien abhängig sein soll. (4) Im 2. Kapitel von Moral Thinking findet sich schließlich noch die Universalisierungsanweisung, dass der moralische Akteur »alle individuellen Bezüge« weglassen soll, bis er die moralisch problematische Situation schließlich so beschreiben kann, dass seine Beschreibung »gleichermaßen auf eine jede genau ähnliche Situation« zutreffen würde, »in der genau ähnliche Leute, Orte etc. involviert sind« 100. Aufgrund dieser von allen individuellen Bezügen gereinigten Situationsbeschreibung solle er dann entscheiden, ob das Moralprinzip in allen Situationen dieses Typs Gültigkeit haben soll. (4.1) Corradini erhebt in diesem Zusammenhang den Einwand der moralisch herausragenden Persönlichkeit, dem zufolge Hares Moralphilosophie die Tatsache nicht erfassen kann, dass es besondere Verpflichtungen »supererogatorischer Natur« geben könne, die eine Person gegebenenfalls nur aus dem einen Grund hat, »weil sie diese Person ist«, da solche Pflichten nicht universalisierbar seien. Ausdrücklich nicht gemeint seien diejenigen Pflichten, die sich an bestimmte Rollen oder Ämter knüpfen. Die Rede sei vielmehr von »Verpflichtungen«, die sich aus der individuellen »personalen Natur des Menschen« und seinen »natürlichen Eigenschaften« 101 ergeben sollen. Dem hält Hare (jenseits seiner Polemik gegen Corradinis unbelehrbaren Deskriptivismus) treffend entgegen, dass die individuellen Eigenschaften einer Person selbstverständlich berücksichtigt werden müssten, falls sie moralisch relevant seien. Sollte es beispielsweise darum gehen, »in einer bestimmten Situation ein moralisches Urteil« zu fällen, dass ihn selbst betrifft, so sei er selbstverständlich »verpflichtet, dasselbe Urteil auch betreffs eines jeden Individuums zu fällen, das genau wie ich ist und sich in einer exakt ähnlichen Situation befindet« 102. (4.2) Dagegen drängt sich natürlich der von Rawls prominent erhobene Einwand der ›verkappten Kennzeichnung‹ auf, dem zufolge von
Hare 1981, 89. Corradini 1995, 221–224. 102 Hare 1995e, 252. Dasselbe Argument bringt Hare vor gegen den komplementären Einwand, dass es auch Pflichten gegen einen individuellen Menschen geben könnte, die man (wie die Pflicht gegenüber der eigenen Mutter beispielsweise) gegenüber keinem anderen Menschen hat. Vgl. dazu Hare 1981, 203. 100 101
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einer Ausblendung aller individuellen Bezüge und Perspektiven keine Rede mehr sein kann, sobald eine Person auf so spezifische Weise beschrieben wird, dass die Beschreibung faktisch nur noch auf diese eine Person zutrifft. Diesem Einwand hält Hare entgegen, dass es für die Prüfung der Universalisierbarkeit eines Moralprinzips nicht wichtig sei, ob es die andere Person mit genau denselben moralisch relevanten Eigenschaften tatsächlich gibt. Es reiche aus, dass es sie geben könnte, damit ein Prinzip auf seine Universalisierbarkeit in dem Sinne geprüft werden kann, ob es prinzipiell auch für andere Personen mit genau gleichen Eigenschaften und Präferenzen in genau gleichen Situationen gelten soll. 103 (4.3) Der moralische Akteur soll im Zuge seiner Universalisierbarkeitsprüfung also hypothetische andere Personen konstruieren, die dieselben Eigenschaften und Präferenzen wie die in die tatsächliche Situation involvierten tatsächlichen Personen haben sollen, und gleichzeitig soll er von allen individuellen Bezügen abstrahieren. Dass die »Eigenschaften« der in eine Situation involvierten »Personen« und »ihre Wünsche und Motivationen« 104 ausdrücklich nicht zu den individuellen Eigenschaften gehören, die ausgeblendet werden sollen, stellt Hare unmissverständlich in seinem Essay Universal Preskriptivism von 1991 klar. Die Präferenzen der betroffenen und beteiligten Personen seien im Gegenteil sogar besonders zentrale universale Eigenschaften einer Situation und müssen unbedingt berücksichtigt werden. So sei es absurd, die Regel aufzustellen, dass man Kindern grundsätzlich die Zehen kitzeln solle, nur weil das den meisten Kindern gefällt, weil es schließlich durchaus denkbar sei, dass es ein Kind gibt, dem das nicht gefällt. Wenn jedoch die individuellen Präferenzen der beteiligten Personen keine individuellen Situationsmerkmale sein sollen – was bleibt dann überhaupt noch als Kandidat für ein individuelles Situationsmerkmal übrig? Diese Frage findet bei Hare keine klare Antwort, obwohl sie entscheidend ist, wenn ein moralischer Akteur im Zuge einer Universalisierbarkeitsprüfung von allen individuellen Bezügen abstrahieren soll.
103 Wie Hare betont, verlangt er nicht, dass es die Person mit den parallelen Eigenschaften »tatsächlich gibt oder geben könnte, sondern nur, dass dasselbe moralische Urteil über sie gefällt werden müßte, wenn es sie gäbe«. Hare 1995e, 252. Vgl. detaillierter auch Hare 1981, 114. Hare verweist hier auf Rawls 1971, 154. 104 Hare 1991, 41.
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(5) Solchen Einwänden ist nun entgegenzuhalten, dass Hares Ausführungen über die Universalisierung ein Ganzes bilden. Vermutlich ergibt es am meisten Sinn, zu sagen, dass sich die Universalisierbarkeitsprüfung vollziehen soll, indem der moralische Akteur eine Situation konzipiert, die von allen individuellen Bezügen bereinigt, aber in allen moralisch relevanten Punkten der vorliegenden Situation genau ähnlich ist. Es bedarf nun keiner weiteren Worte, dass damit weder das Problem der Überkomplexität noch das Problem der fehlenden moralischen Relevanzkriterien noch das Problem einer stringenten Unterscheidung von individuellen und universalen Situationsmerkmalen gelöst wäre. Tatsächlich würden sich die Probleme summieren. Damit ist insgesamt festzuhalten, dass die Forderung, auch die hochkomplexen und der Möglichkeit nach unendlich spezifischen kritischen Prinzipien auf ihre Universalisierbarkeit hin zu prüfen, zumindest menschliche Akteure schlicht überfordert. Wieder einmal müssen sie sich auf ihre Intuitionen verlassen, wenn sie entscheiden sollen, was nur individuelle Bezüge sind und was moralisch in welcher Weise relevant ist. Die Universalisierbarkeitsprüfung kann bei näherer Hinsicht also mit letzter Konsequenz wiederum nur von den Erzengeln geleistet werden. Damit kommt auch die kritische Prüfung von Hares Universalisierbarkeitsforderung zu dem Resultat, dass moralische Dilemmata mit Hares Methode letztlich nur von Erzengeln gelöst werden können.
(g) Der Einwand des Erzengels als deus ex machina Dem frühen Hare zufolge ist das moralische Dilemma eine ›Krankheit‹, die es auszumerzen gilt, falls eine Moralphilosophie davon befallen ist. 105 Von dieser Krankheit soll vor allem der moralische Intuitionismus befallen sein. 106 Zur endgültigen ›Heilung‹ entfaltet Hare in Moral Thinking dann das ›kritische Verfahren des moralischen Urteilens‹, das (insbesondere zur Entscheidung moralischer Dilemmata) zum Einsatz kommen soll, sobald das intuitive moralische Denken an seine Grenzen stößt. Die Anwendungsschwierigkeiten, von denen in den bisherigen Abschnitten 4.d bis 4.f dieses Kapitels die Rede war, können nun Zweifel aufkommen lassen, ob das kritische Verfahren Hares einen Praxis105 106
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Hare 1952, 43 ff. Hare 1972, 173–181.
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(g) Der Einwand des Erzengels als deus ex machina
test bestehen würde. Schließlich ist in den Abschnitten gezeigt worden, dass man sich anscheinend ausgerechnet an den entscheidenden Gelenkstellen des kritischen Verfahrens doch wieder auf seine moralischen Intuitionen verlassen muss, welche das kritische Verfahren ja eigentlich (nicht zuletzt um der Lösung aller moralischen Dilemmata willen) hinter sich lassen sollte. (1) Dem Einwand der Anwendungsschwierigkeiten ist nun mit dem Hinweis darauf zu begegnen, dass es bei Hare ja die Erzengel gibt, die die Anwendungsschwierigkeiten ausdrücklich nicht haben. Dieser Kunstgriff ist genial, weil Hare damit ohne weiteres zugeben kann, dass wegen der Anwendungsschwierigkeiten aus Menschenperspektive manche Dilemmata unlösbar scheinen können, ohne damit seinen Anspruch aufgeben zu müssen, das Problem des moralischen Dilemmas grundsätzlich gelöst zu haben. 107 Die Anwendungsschwierigkeiten, mit denen menschliche moralische Akteure zu kämpfen haben, betreffen die Erzengel nach Hare nicht, weshalb sie nicht grundsätzlicher Art sind, sondern in den Schwächen und Grenzen menschlicher moralischer Akteure begründet sind. Weil es die Figur des Erzengels gibt, kann das Argument der Anwendungsschwierigkeiten also zumindest auf den ersten Blick Hares Anspruch nicht erschüttern, mit dem kritischen Verfahren das intuitionistische Problem des moralischen Dilemmas gelöst zu haben. Das wiederum ist Grund genug, die Erzengel etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. (2) Die Erzengel sind perfekt. Sie überschauen moralisch problematische Situationen in all ihren Details und können unterscheiden, was moralisch wichtig und was unwichtig ist. Sie kennen die Präferenzen aller von einer Entscheidung Betroffenen sowohl in ihrer Art und Ausrichtung als auch in ihrer Intensität. Sie wissen, welche Akteure sie umerziehen und welche Präferenzen sie als dumme Präferenzen unberücksichtigt lassen sollten. Sie können die situationsspezifische Universalisierbarkeitsprüfung vollziehen, und das selbst unter den stressigen Bedingungen eines moralisches Dilemmas. Und sie sind niemals egoistisch oder müde. Erzengel sind Übermenschen ohne »menschliche Schwächen«, mit »übermenschlichen Geisteskräften« und mit »über-
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Hare 1981, 70 f.
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menschlichen Kenntnissen« 108. Ist mit dieser Charakterisierung nun aber tatsächlich gewährleistet, dass die Erzengel moralische Entscheidungen von ›vollendete[r] Rationalität‹ 109 fällen, die Hares kritisches Verfahren im Idealfall ja anvisieren soll? Thomas Nagel spricht in The View from Nowhere kritisch von der »Ultra-Objektivität« 110 der Erzengel. Gemeint ist, dass Wesen ohne jede Parteilichkeit keinen Erfahrungshintergrund haben, von dem aus sie Bewertungen vornehmen und moralische Urteile fällen können. (2.1) Tatsächlich könnte man ein erstes Problem darin sehen, dass Erzengel in keiner Weise egoistisch sein sollen. Falls das nämlich besagen soll, dass Erzengel keine individuellen Präferenzen haben, wären die Erzengel blutleere Wesen ohne jedes Charisma. 111 Vor allem aber würde sich das Folgeproblem stellen, wie die Erzengel die Präferenzen anderer angemessen berücksichtigen und gewichten können sollen, wenn sie selbst nicht wissen, was es bedeutet, eine Präferenz zu haben? Wie soll ein Wesen die Präferenzen eines Menschen für Schokolade nachvollziehen können, wenn es niemals selbst Schokolade gegessen hat? Darauf könnte man mit Hare nun darauf hinweisen, dass die Erzengel über »übermenschliches Wissen« verfügen würden, welches »die Kenntnis« über »all die Tatsachen über anderer Leute Präferenzen und deren Stärke« 112 einschließen soll. Schließlich müsse man sich kein Messer in den Bauch gestoßen zu haben, um wissen zu können, dass das ausgesprochen unangenehm ist. (2.2) Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass ein wirklich völlig erfahrungsunabhängiges Präferenzwissen schwer vorstellbar ist. Menschen können per Analogie wissen, dass es sehr schmerzhaft wäre, sich ein Messer in den Bauch zu rammen, weil sie andere Schmerzerfahrungen gemacht haben. Die Erzengel können über ein solches Wissen jedoch nicht verfügen, falls sie tatsächlich keine Präferenzen ausbilden Hare 1981, 91. Hare 1981, 285 ff. Vgl. 4.a.3. 110 Nagel 1986, 281. 111 Dem Einwand, dass die Erzengel in ihrer Perfektion zweifelsohne wenig sympathisch sind, möchte ich nicht weiter nachgehen. Ebenfalls ausblenden möchte ich den möglichen Einwand, dass Erzengel als Wesen ohne menschliche Schwächen eigentlich gar keine Moralphilosophie mehr brauchen, obwohl auch dieser Einwand schnell zu entkräften wäre mit dem Hinweis darauf, dass Hares Moralphilosophie nicht etwa für Erzengel, sondern für Menschen verfasst ist, denen die Erzengel als moralische Leitbilder angesonnen werden. 112 Hare 1981, (177–191) 183. 108 109
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können, weil ihnen dann ja die Erfahrungen fehlen würden, aufgrund derer sie entweder direkt oder aber indirekt per Analogie wissen könnten, warum Menschen gewisse Präferenzen in bestimmten Intensitäten haben. Man könnte nun antworten, dass Erzengel das Präferenzwissen vielleicht deshalb haben können, weil sie alle einschlägigen Erfahrungen gemacht haben, ohne deshalb jedoch selbst Präferenzen entfaltet zu haben. Das ist allerdings ebenfalls schwer vorstellbar. Wie soll ein Wesen verstehen können, warum viele Menschen eine Präferenz für Schokolade haben, wenn es zwar selbst Schokolade gegessen, aber keine Lust dabei empfunden hat? Zweifelsohne von solchen Einwänden irritiert, stellt Hare im letzten Kapitel von Moral Thinking Überlegungen an, denen zufolge er es vielleicht in Abrede stellen sollte, dass »moralische Urteile von einem unpersönlichen Standpunkt aus gefällt werden müssen«, um stattdessen (mit Thomas Nagel) zu sagen, dass sie »unparteiisch sein müssen« im dem Sinne, »dass sie als irrelevant zu behandeln haben, wer gerade in der zu beurteilenden Situation welche Rolle innehat«, weil ansonsten der Eindruck entstehen könne, »dass das Urteil nicht von einer Person, sondern von einer Unperson« gefällt werden solle. Ausdrücklich betont er im Folgenden, dass er mit dem Erzengel (obwohl es sich um einen »perfekten moralischen Entscheider« handeln soll, der moralische Urteile fällen kann, »ohne persönlich voreingenommen oder parteiisch zu sein«) eine »Person« vor Augen hatte! Schließlich würden ja auch die »Theisten« glauben, dass Gott sowohl »ein perfekter Richter« als auch »eine Person« 113 sei. (2.3) Der Erzengel soll also sowohl Person als auch vollkommen unparteiisch sein. Daraus ergibt sich allerdings das Folgeproblem, dass Personen wesentlich durch persönliche Beziehungen geprägt sind. Personen stehen wesentlich in Beziehungen, von denen manche moralisch anspruchsvoller sind als andere. So impliziert die Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind deutlich gewichtigere moralische Pflichten als die Beziehungen zwischen Nachbarn. Moralische Verpflichtungen, die sich aus persönlichen Beziehungen ergeben, nennt man ›Loyalitäten‹ : Loyalitäten sind Parteilichkeiten, zu denen menschliche Akteure aufgrund ihrer persönlichen Beziehungen verpflichtet sind. 114 Erzengel Hare 1981, 284. Verweis auf Nagel 1980, 77 ff. Die Frage nach dem Verpflichtungscharakter von Loyalitäten ist im Kontext einer Philosophie des moralischen Dilemmas von besonderer Brisanz, weil viele berühmte Dilemmata auf einem Loyalitätsproblem beruhen: Die Situation des Agamemnon wäre 113 114
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sind unparteilich, aber gleichzeitig sollen sie Personen sein, so dass man ihnen persönliche Beziehungen einschließlich der entsprechenden Loyalitäten wohl unterstellen muss. Ist beides jedoch gleichzeitig möglich? Im 8. Kapitel von Moral Thinking vertritt Hare zu dieser Frage die Auffassung, dass das kritische Denken des Erzengels Loyalitäten einen großen utilitaristischen Nutzen und Wert zusprechen würde, um Loyalitäten dann aber nicht in ausnahmslos jedem Falle den Vorrang einzuräumen. Was er meint, plausibilisiert er an einem Beispiel von Godwin, dem zufolge »die Tochter von Fénelons Kammerdienerin sich zwischen der Rettung des Erzbischofs und der Rettung ihrer Mutter aus einem Feuer entscheiden« muss. Hares Stellungnahme ist eindeutig: »Falls der Erzbischof« tatsächlich ein »außerordentlicher Wohltäter« 115 gewesen sein sollte, wie Godwin »durchblicken« lässt, müsste das kritische Denken zu der Lösung gelangen, dass der Erzbischof und nicht die eigene Mutter gerettet werden müsste. (2.4) Dem ist natürlich entgegenzuhalten, dass die meisten von uns jemanden für ein moralisches Monster halten würden, der statt seiner Mutter einen Erzbischof rettet, zu dem er keine persönliche Beziehung hat. Das räumt Hare sogar ohne weiteres ein! Allerdings beweist die Tatsache, dass die meisten von uns die Mutter retten würden, in seinen Augen keineswegs, »dass es eine unbezweifelbare Pflicht« wäre, die Mutter zu retten! Es beweist lediglich, dass in unserer Erziehung Loyalitäten eine große Rolle spielen. Nur ein »sehr abgehärteter Intuitionist« 116 könne nachhaltig an Loyalitäten festhalten. Das kritische Denken würde hingegen die ›moralisch richtige‹ Entscheidung treffen und sich gegen die Loyalität für die Rettung des Erzbischofs entscheiden. »Dass uns das gegen den Strich geht«, ist nach Hare ausdrücklich kein »Argument« 117. (2.5) Nun ist es zweifellos doch ein »Argument«, wenn eine moralische Entscheidung »gegen den Strich« geht. Moralische Entscheidungen müssen nicht unbedingt sympathisch sein, aber sie dürfen keine kein Dilemma, wenn nicht ausgerechnet die Opferung seiner Tochter gefordert würde, und selbst Sophies Situation wäre weniger entsetzlich, wenn es nicht ihre eigenen Kinder wären, zwischen denen sie entscheiden muss. 115 Hare 1981, 201 Anm. 1, Verweis auf Godwin 1971, II.2. 116 Hare 1981, 201. Obwohl er es für unrealistisch hält, diskutiert Hare hier ein paralleles Beispiel von Williams, demzufolge jemand nach einem Flugzeugabsturz vor der Entscheidung steht, seinen Sohn oder einen berühmten Chirurgen zu retten. 117 Hare 1981, 201, Anm. 1.
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(g) Der Einwand des Erzengels als deus ex machina
moralischen Intuitionen verletzen. Das müsste letztlich auch Hare bejahen: Schließlich plädiert er für die unendliche Spezifizierbarkeit von Moralprinzipien, damit es in speziellen Situationen nicht zu moralisch kontraintuitiven Entscheidungen kommen muss (vgl. 4.a). Wenn der Erzengel entscheidet, soll es ihn jedoch nicht kümmern müssen, ob er moralische Intuitionen verletzt. Er fällt seine moralischen Entscheidungen unabhängig von persönlichen Präferenzen und Loyalitäten, und falls dieses Prozedere zu einem moralisch kontraintuitiven Ergebnis führen sollte, soll er sich von den ›abgehärteten Intuitionisten‹ nicht irritieren lassen. Das ist nun zweifellos eine falsche 118 moralphilosophische Strategie, mit der der Einwand der kontraintuitiven Entscheidung wieder im Raum steht, den Hare ja mit Hinweis auf die Abwegigkeit der Beispiele aus dem Weg geräumt zu haben glaubte (vgl. 4.b.3). 119 118 Tatsächlich ließe sich sogar ein Dogmatismus-Einwand erheben mit dem Argument, dass kritische Prinzipien nicht revidierbar sind. Wie oben ausgeführt, unterscheidet Hare mit den intuitiven und den kritischen Moralprinzipien schließlich »zwei Teilklassen« von Moralprinzipien, wobei sich die Klasse der kritischen Moralprinzipien »aus denjenigen universell präskriptiven Prinzipien« zusammensetzt, »deren Unterordnung« ein moralischer Akteur »nicht erlaubt«, während die zweite Klasse aus den »prima-facie-Prinzipien« des intuitiven moralischen Denkens besteht, die »untergeordnet werden können«. Hare 1981, 110 ff. Dass kritische Prinzipien nicht untergeordnet werden dürfen, bedeutet, dass sie durch nichts außer Kraft gesetzt werden können. Das wiederum bedeutet, dass ein kritisches Prinzip für immer und ewig Bestand haben muss, wenn es einmal etabliert und errichtet wurde, und das auch dann, wenn es unseren moralischen Intuitionen noch so deutlich widersprechen mag. Man könnte das Problem nun zu beheben versuchen, indem man über Hare hinausgeht und eine dritte Stufe des moralischen Denkens bestimmt, welche unter bestimmten Bedingungen etablierte kritische Prinzipien zu intuitiven Prinzipien herabstufen darf, um sie dann eben doch einer kritischen Revision zu unterziehen. Das Problem dieses Verfahrens liegt jedoch unmittelbar auf der Hand: Es käme zu einem infiniten Regress, weil die Korrektur von kritischen Prinzipien nur mit Rekurs auf Prinzipien dritter Ordnung erfolgen könnte, die selbst wiederum als irrtumsanfällig betrachtet werden müssen, so dass Prinzipien vierter Ordnung eingeführt werden müssten usw. 119 Bestätigt sehe ich mich durch folgende Äußerung von Nida-Rümelin: »Auf kritischer Ebene kann es – nach Hare – gegen das von ihm vorgeschlagene Kriterium moralischer Entscheidungen keine intuitiven Einwände geben: Selbst wenn auf kritischer Ebene die Ermordung eines Unschuldigen geboten scheint, ist dies kein Einwand gegen das angewandte Kriterium, denn dieser Einwand stützt sich auf moralische Intuitionen, und Intuitionen können nur auf der intuitiven Ebene moralischen Denkens berücksichtigt werden. Das moralische Kriterium der kritischen Ebene kann – soweit man die Scheidung dieser beiden Ebenen akzeptiert – nicht durch Bezug auf moralische Intuitionen kritisiert werden.« Nida-Rümelin 1995, 44. Nida-Rümelin führt diesen Einwand
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4. Das moralische Dilemma als Herausforderung nach Hare
(3) Letztlich ist es aber müßig, lange Debatten über die moralischen Kompetenzen von Erzengeln zu führen, weil es Erzengel nicht gibt! Selbst wenn das kritische Verfahren zur vernünftigsten Entscheidung aller Dilemmata führen würde (was nach Argument 4.g.2.5 nicht zu erwarten ist), könnte Hare nicht beanspruchen, den Intuitionismus von der ›Krankheit moralisches Dilemma‹ geheilt zu haben, weil es faktisch niemanden gibt, der das Verfahren ohne Rekurs auf moralische Intuitionen anwenden kann. Im 3. Kapitel von Moral Thinking heißt es mit polemischem Unterton, dass den »Proleten« als eingeschworene »Intuitionisten« in Konfliktfällen nichts anderes übrig bliebe, als »einen Butlerschen Gott anrufen«, womit sie dann vor dem Problem stünden, dass sie nicht »zwischen der Stimme Gottes und der Stimme unseres Kindermädchens (so wir ein solches hatten) unterscheiden« 120 können. Tatsächlich scheint Hare mit den Erzengeln selbst einen Gottesstandpunkt eingeführt zu haben. 121 Zwar verweist er nur ein einziges Mal (im Kontext seiner Ausführungen zur Personalität der Erzhier jedoch nicht aus. Stattdessen fokussiert sich sein Essay dann auf die Plausibilisierung der These, dass Hare letztlich konsequentialistischer Akt-Utilitarist geblieben sei, weil die Erzengel auf der kritischen Ebene des moralischen Denkens ausschließlich konsequentialistisch argumentieren müssten. A. a. O. 42. Seine Ausführungen münden in dem Einwand, dass eine »Gesellschaft von Erzengeln« im »utilitaristischen Sinne keine gute Gesellschaft« wäre, weil »eine Gesellschaft konsequentialistischer Akteure kein Optimum der Präferenzerfüllung« erreichen würde. A. a. O. 44 f. Die Debatte über Aktund Regelutilitarismus möchte ich hier nicht führen; deshalb nur folgende kurze Bemerkung: Hare beansprucht, eine Synthese zwischen Akt- und Regelutilitarismus entwickelt zu haben. Sein Zugeständnis an den Regel-Utilitarismus lautet im Kern, dass ein »kluger Akt-Utilitarist« dem Nutzen von einfachen Regeln jederzeit zustimmen würde, »weshalb er von den auf sie zielenden Einwänden nicht getroffen« würde. Hare 1981, (82 ff.) 84. Vgl. zur Unterscheidung von Regel- und Aktutilitarismus auch Smart 1975, 121 ff. 120 Hare 1981, 93. 121 In diesem Sinne heißt es beispielsweise bei Marcus: »What is incredible in such solutions is the supposition that we could arrive at a complete set of rules, priorities, or qualifications which would, in every possible case, unequivocally mandate a single course of action; that where, on any occasion, doing x conflicts with doing y, the rules with qualifications or priorities will yield better clear reasons for doing one than for doing the other.« Marcus 1980, 191. Mit derselben Stoßrichtung heißt es bei Sinnott-Armstrong: »The implausibility and unjustificability of precise questions among distinct values do not depend on time limits of practical deliberations; on considerations of simplicity in pedagogy; or any uncritical use of intuitions. Consequently, utilitarians cannot avoid moral dilemmas simply by distinguishing a critical level from intuitive or practical levels of moral thinking, as Hare suggests«, Sinnott-Armstrong 1988, 79 f.
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engel nämlich) explizit auf Gott als das theistische Vorbild der Erzengel. 122 Dann aber nennt der den Erzengel sogar einen »Hellseher« 123. Stark gemacht wurde der Einwand des Gottesstandpunktes u. a. von Vogler. Für Vogler verkörpert der Gott des Descartes das Ideal vollkommener Rationalität, über welche die Erzengel verfügen sollen. Wie Vogler überzeugend ausführt, gibt es zwischen der unvollkommenen menschlichen und einer solchen idealen Rationalität jedoch einen qualitativen Sprung, weil eine vollkommene Rationalität niemals auch nur den geringsten logischen Fehler macht und weil sie zudem niemals zu komplexitätsreduzierenden Akzentsetzungen oder Ausblendungen gezwungen ist, so dass sie keine noch so komplexe Situation verfälscht betrachten würde. 124 In seiner Replik antwortet Hare, dass es gar nicht darum ginge, dass wir alle wie Erzengel denken sollen, sondern lediglich um eine Annäherung an die vollkommene Rationalität des moralischen Denkens der Erzengel, um »bei diesem Prozess unser moralisches Denken zu verbessern« 125. Mit dieser Antwort verfehlt er jedoch den Kern von Voglers Einwand. Vogler bezweifelt nämlich nicht, dass wir unser moralisches Denken durch eine Ausrichtung am Vorbild des idealen moralischen Denkens der Erzengel verbessern können. Ihr Einwand besagt vielmehr, dass es zwischen der idealen Rationalität eines Erzengels und der unvollkommenen menschlichen Rationalität eine qualitative »Kluft« 126 gäbe, die als solche niemals überwunden werden kann. Voglers Ausführungen gipfeln in der treffenden These, dass »jeder von uns« letztlich »dem Proleten viel mehr ähneln« wird »als dem Erzengel« 127, weil wir prinzipiell einfach nicht in der Lage sind, wie ein Erzengel zu denken. Natürlich können wir uns in gewissen Grenzen in andere einfühlen, aber das umfassende Wissen über die Präferenzen anderer, das der Erzengel wesentlich hat, können wir eben wesentlich nicht erreichen, zumal uns ja noch nicht einmal unsere eigenen vergangenen Erfahrungen vollständig präsent seien. Ebenso wenig könnten wir Menschen wirkliche Unparteilichkeit erreichen, weil wir immer in unserer jetzigen Situation mit unseren gegenwärtigen Vorlieben und Abneigungen gefangen blieben. An das ideale 122 123 124 125 126 127
Hare 1981, 284. Hare 1981, 91. Vogler 1995, 72 f. Hare 1995 f., 385. Vogler 1995, 75. Vogler 1995, 74.
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4. Das moralische Dilemma als Herausforderung nach Hare
moralische Denken der Erzengel werden wir aller möglichen Annäherung zum Trotz also niemals wirklich heranreichen können. Festzuhalten bleibt damit, dass sich zumindest menschliche moralische Akteure an den entscheidenden Gelenkstellen des kritischen moralischen Urteilsprozesses doch wieder auf ihre moralischen Intuitionen 128 verlassen müssen, weil nur fiktive Erzengel moralische Urteile ohne den behelfsmäßigen Rückgriff auf solche Intuitionen fällen können. Damit ist zweierlei festzuhalten. Wie zu Beginn dieses Kapitels zitiert, stellt Hare an eine ›vollständige‹ Moralphilosophie den Anspruch, das Problem des moralischen Dilemmas lösen zu können. 129 Sein Buch Moral Thinking entfaltet das kritische moralische Urteilsfindungsverfahren mit der erklärten Absicht, diesen Anspruch einzulösen: Weil das kritische Verfahren unter anderem auch ein Verfahren zur sicheren Auflösung aller Dilemmata sein soll, behauptet Hare seinen Universalen Präskriptivismus als die bessere Alternative gegenüber den intuitionistischen Moralphilosophien von Ross, Nagel oder Lemmon beispielsweise. Die Untersuchungen dieses Kapitels haben nun aber gezeigt, dass zumindest menschliche moralische Akteure ausgerechnet an den entscheidenden Gelenkstellen des kritischen moralischen Urteilsverfahrens auf ihre moralischen Intuitionen zurückgreifen müssen, weil sie zu reinem kritischen Denken anders als die fiktiven Erzengel nun einmal leider nicht in der Lage sind. Damit kann Hare nicht beanspruchen, den Intuitionismus von der ›Krankheit moralisches Dilemma‹ geheilt zu haben. Das moralphilosophische Problem moralischer Intuitionen liegt nun darin, dass Intuitionen gegenüber den Prinzipien des kritischen Denken deutlich unsicherer sind, weil sie nicht universalisierbar sind. Die Tatsache, dass zumindest menschliche moralische Akteure die Ebene der moralischen Intuitionen niemals wirklich hinter sich lassen können, bedeutet deshalb, dass für menschliche moralische Akteure
128 Treffend heißt es insofern bei Leist: »Die von Hare offiziell genannten zwei Elemente im Zylinder – Vorstellungsvermögen und Logik der Moralsprache – reichen nicht aus. Die bekannten vehementen Vorwürfe Hares gegen ›Intuitionisten‹ oder gegen ›die überlieferte Meinung‹ scheinen sich damit gegen ihn selbst zurückzubiegen. Ist Hare ein Intuitionist?« Leist 1995, 84. Vgl. mit ähnlicher Stoßrichtung auch Wellmer 1986, 35 f. 129 Hare 1981, 70. Vgl. Anm. 6 dieses Kapitels.
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dieselbe Restunsicherheit 130 nach einer Dilemma-Entscheidung wie im Intuitionismus bleiben muss. Das wiederum bedeutet, dass Hare gegebenenfalls nur beanspruchen kann, das Problem des moralischen Dilemmas aus der pragmatisch irrelevanten Perspektive einer theoretischen Kunstfigur gelöst zu haben, welche (wie in 5.g.2 gezeigt) als moralischer Akteur zudem höchst problematisch konstruiert ist. Für die menschlichen moralischen Akteure und die alltägliche moralische Praxis bietet Hares Moralphilosophie jedoch keine Lösung für das Problem des moralischen Dilemmas.
130 Bei Sinnott-Armstrong heißt es sogar »In conclusion, every version of utilitarianism either fails to exclude moral dilemmas or excludes them only by using implausible and unjustified stipulations.« Sinnott-Armstrong 1988, 81. Dem möchte ich mich mit meiner Rede von einer Restunsicherheit ausdrücklich nicht anschließen. Auf den wenigen Seiten, die er der Kritik der utilitaristischen Philosophie widmet, konnte Sinnott-Armstrong einen solchen Aufweis ebenfalls nicht erbringen. Vgl. A. a. O. 74–81.
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5. Die deontische Logik und das moralische Dilemma als Inkonsistenz der Moral
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhält das Problem des moralischen Dilemmas neue Brisanz in einem Bereich, von dem man das vielleicht am wenigsten erwarten würde: Im Bereich der Logik nämlich. Das Etikett ›deontische Logik‹ steht nicht zuletzt für den Versuch, einen Beweis für die logische Unsinnigkeit der Annahme moralischer Dilemmata zu entwickeln.
(a) Der Beweis der logischen Widersinnigkeit des moralischen Dilemmas in der deontischen Logik Der Begriff ›deontische Logik‹ bedeutet so viel wie ›Logik des Sollens‹. Dahinter verbirgt sich das Projekt, mit Hilfe von entsprechend adaptierten aussage- oder modallogischen Schlussregeln bzw. Prinzipien 1 aus einigen wenigen normativen Sätzen bzw. Axiomen ein System von allgemeingültigen und nicht mehr situationsabhängigen moralischen Sollens-Sätzen zu errichten. Als erster Beitrag gilt das Werk Grundgesetze des Sollens 2 von E. Malley aus dem Jahr 1926, das sich wegen gravierender Mängel jedoch nicht durchsetzen konnte. Als eigentliche ›Gründungsschrift‹ der deontischen Logik gilt deshalb geDie Schlussregeln werden als ›Regeln‹, als ›Gesetze‹ oder auch als ›Prinzipien‹ bezeichnet. Kutschera und Breitkopf sprechen beispielsweise von ›Regeln‹, wenn sie Schlussregeln erläutern. Sie unterscheiden Axiome bzw. Prinzipien als die »ersten grundlegenden Sätze« eines axiomatischen Systems von den »Regeln, die besagen, wie man aus diesen Axiomen die übrigen Sätze oder Theoreme der Theorie gewinnen kann«. Kutschera 1979, 56. Zoglauer nennt strittige deontische Regeln wie z. B. ›Aus Sollen folgt Können‹ in den entsprechenden Passagen zur deontischen Logik ›Prinzipien‹. Zoglauer 1998, 99–124. Im Anhang spricht Zoglauer dann auch von den ›Gesetzen der Normenlogik‹. A. a. O. 313 ff. Insgesamt hat dieses Kapitel von Zoglauers Rekonstruktionen sehr profitiert. 2 Malley 1926. 1
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(a) Die logische Widersinnigkeit … in der deontischen Logik
meinhin der Aufsatz Deontic Logic von G. H. von Wright aus dem Jahr 1951. Der hier skizzierte Entwurf stellt heute die Grundlage und den Ausgangspunkt der Debatten um die Möglichkeiten, Grenzen und Modifikationserfordernisse der deontischen Logik dar. 3 Zum moralischen Dilemma enthält der Essay jedoch noch nicht einmal eine knappe Nebenbemerkung. Er beschränkt sich vielmehr auf Analysen zu der Frage, welche aussage- und modallogischen Gesetze im Bereich des Sollens bzw. des Erlaubtseins ebenfalls Gültigkeit haben können und welche nicht, wobei zudem ein so zentrales Prinzip der deontischen Logik wie das Prinzip ›aus Sollen folgt Können‹ noch nicht einmal Erwähnung findet! 4 Meiner Rekonstruktion zufolge geriet von Wrights Projekt einer deontischen Logik dann aber dennoch in den Fokus der Aufmerksamkeit der angelsächsischen Debatte über die Möglichkeit des moralische Dilemmas, nachdem Richard M. Hare unter ausdrücklicher Berufung auf von Wrights Essay den gesamten ersten Teil seiner frühen Abhandlung Language of Morals von 1952 der Plausibilisierung der Auffassung gewidmet hatte, dass moralphilosophische Systeme widerspruchsfrei sein müssten, weil »Befehle, da sie 3 Vgl. zu dieser Einschätzung insb. Morscher 2002. Vgl. weiterhin auch Vossenkuhl 1997, 42; sowie Deontic Logic 1981; sowie Kalinowski 1973; sowie Kutschera 1973; sowie Normenlogik 1974; sowie Logik und Semantik 1974; sowie Stuhlmann-Laeisz 1983; sowie Nortmann 1989; sowie Logic and Ethics 1991; sowie Zoglauer 1997, Kapitel 9 insg. Die Ausführungen entsprechen hier weitestgehend dem Abschnitt 4.1 von Zoglauer 1998, 99–105. 4 Wright 1951; sowie Wright 1979; sowie Wright 1994. (1) In einem ersten Schritt unterscheidet von Wright drei »deontische Modalitäten von Verpflichtungen« (engl. deontic modes of obgligation), nämlich »the obligatory (that which we ought to do), the permitted (that which we are allowed to do) and the forbidden (that which we must not do)«. Wright 1951, 1. (2) In einem zweiten Schritt analysiert er die logischen Beziehungen im Bereich der Erlaubt-Seins, wobei er interessanterweise betont, dass man (i) aus der Tatsache, dass A erlaubt ist, nicht schließen könne, dass nicht-A verboten sei, und dass man (ii) aus der Tatsache, dass A und B erlaubt seien, ausdrücklich nicht (!) im Sinne des Agglomerationsprinzip schließen könne, dass sowohl A als auch B gleichzeitig erlaubt sind. Wright 1951, 6. (3) In einem dritten Schritt geht es um Sollen-Sätze. Hier wird das sogenannte ›Agglomerations-Prinzip‹ tatsächlich für gültig erklärt; es heißt: »O A&B is identical with (OA) & (OB)«. Wright 1951, 13. Vom umstrittenen (kantischen) Prinzip ›aus Sollen folgt Können‹ ist jedoch nicht die Rede. (4) Der Essay schließt mit dem Hinweis darauf, dass die deontische Logik über den konkreten Inhalt von moralischen Geboten oder Verboten ausdrücklich nichts sagen würde, weil das vom jeweiligen moralischen Code abhinge. Wright 1951, 15.
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5. Die deontische Logik und das moralische Dilemma als Inkonsistenz der Moral
wie Behauptungen wesentlich dazu bestimmt sind, von rational Handelnden gestellte Fragen zu beantworten, ebenso wie Behauptungen logischen Regeln unterliegen« 5 müssen. Der Zug gewinnt an Fahrt, nachdem prominente Gegner wie E. John Lemmon 6 und Bernard Williams Zweifel am Sinn und an der Möglichkeit einer ›Logik der Imperative‹ äußerten (vgl. 5.d). Eine Monographie von Sinnott-Armstrong 7 zum moralischen Dilemma sowie zwei Sammelbände 8 von Gowans und Mason aus den Jahren 1987 und 1996 taten ein Übriges, um die deontische Logik in den Fokus der angelsächsischen Debatte zum Problem des moralischen Dilemmas zu rücken (vgl. dazu auch 1.c). (1) Von wem nun der sogenannte ›Beweis‹ der logischen Unsinnigkeit der Annahme des moralischen Dilemmas stammt, der in der angelsächsischen Debatte als der ›Beweis der deontischen Logik‹ diskutiert wird, konnte ich nicht rekonstruieren. Bei Zoglauer heißt es zu dieser Frage nur, dass moralische Dilemmata »stets in einen normativen oder deontischen Widerspruch« 9 führen würden. Wie er klar herausgearbeitet hat, werden in der angelsächsischen Debatte unter dem Etikett ›Beweise der logischen Unmöglichkeit des moralischen Dilemmas der deontischen Logik‹ verschiedene Beweise von unterschiedlicher Gestalt diskutiert. 10 Die wichtigsten Säulen der Beweisgänge bilden neben den bekannten aussagenlogischen Prinzipien des modus ponens und des modus tollens das sogenannte ›Agglomerations-Prinzip‹ und das Prinzip ›aus Sollen folgt Können‹. 11 (1.1) Das ›Agglomerations-Prinzip‹ besagt, dass sich moralische Handlungsgründe summieren. Wenn sowohl die Pflicht zu einer Hare 1952, 36. Der ausdrückliche Verweis auf von Wrights Essay findet sich A. a. O. 48 f., Anm. 10. Hier heißt es unter anderem: »Es ist wichtig zu erkennen, daß die modale Imperativlogik von der Logik einfacher Imperative so verschieden ist wie die modale Indikativlogik von der Logik einfacher Indikative«. 6 Zu erwähnen ist insbesondere sein Essay Deontic Logic and the Logic of Imperatives aus dem Jahr 1965, in dem sich Lemmon in vier Schritten sowohl von Hares der deontischen Logik entlehnten Prämisse der Notwendigkeit der Konsistenz von Moralsystemen als auch vom Projekt einer ›Logik der Imperative‹ distanziert. Vgl. Lemmon 1965. 7 Sinnott-Armstrong 1988. 8 Moral Dilemmas 1987; sowie Moral Dilemmas and Moral Theory 1996. 9 Zoglauer 1998, 108. 10 Zoglauer 1998, 318–321. 11 Andere Prinzipien der deontischen Logik werden diskutiert in Brink 1994, 112 f.; sowie in Gowans 1987, 22. 5
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(a) Die logische Widersinnigkeit … in der deontischen Logik
Handlung a als auch die Pflicht zu einer Handlung b bestehen, gibt es dem Agglomerations-Prinzip zufolge also Pflichten sowohl zur Handlung a als auch zur Handlung b. Gemeint ist, dass man sich nicht zwischen der Pflicht zum Steuerzahlen und der Pflicht zum Wählen beispielsweise entscheiden kann, wenn es für einen Staatsbürger die Pflicht zum Steuerzahlen und die Pflicht zum Wählen gibt. Der Staatsbürger muss dem Agglomerationsprinzip zufolge beide Pflichten erfüllen. Wenn der Buchstabe ›O‹ ein Sollen ausdrückt, lässt sich das Agglomerationsprinzip in der formalisierten Symbolsprache der deontischen Logik folgendermaßen darstellen: O (a) & O (b) → = O (a&b). 12 (1.2) Das ›Aus-Sollen-folgt-Können-Prinzip‹ besagt, dass mit der Verpflichtung zu einer Handlung auch die Möglichkeit behauptet wird, dass sich der moralische Akteur für diese Handlung entscheiden kann. Wenn es also eine Pflicht zum Steuerzahlen gibt, folgt aus dem ›AusSollen-folgt-Können-Prinzip‹, dass man die Steuern auch bezahlen können muss. Wenn der Buchstabe K ein Können ausdrückt, könnte man das ›Aus-Sollen-folgt-Können-Prinzip‹ formalisiert so darstellen: O (a) → K (a). Dieses Prinzip findet sich nun bezeichnenderweise nicht bei von Wright. Es scheint seinen Ursprung vielmehr in Kants Moralphilosophie zu haben. Nach Gowans handelt es sich bei dem Unterfangen der deontischen Logik insgesamt um eine »Entfaltung einer kantischen Position« 13. Das scheint zumindest für das Prinzip ›Aus-Sollenfolgt-Können‹ deutlich der Fall zu sein. (2) Ein moralisches Dilemma ist für die deontische Logik eine Situation, in der zwei sich widersprechende Imperative zur Disposition stehen, denen man nicht beiden Folge leisten kann. Wie Zoglauer im Anhang seines Buches Normenkonflikte von 1998 gezeigt hat, gelangt man auf gleich mehreren Wegen zu logischen Widersprüchen, sobald man diese Prämisse (vgl. die Schritte 1–3 in den unten abgebildeten Formalisierungen) setzt. (2.1) So entsteht beispielsweise ein ›modaler Widerspruch‹ 14 (vgl. Obwohl der Name so nicht fällt, findet sich dieses Prinzip der Sache nach auch in Wright 1951, 13. 13 Im englischen Wortlaut heißt es: »The argument from the deontic principles is, in effect, an explication of the kantian Position«. Gowans 1987, 24. Besonders deutlich wird diese Verwurzelung in den rechtsphilosophischen Überlegungen zur deontischen Logik in Peterson 2014. 14 Dieser Beweis findet sich der Sache nach so in Zoglauer 1998, 319. Diskutiert wird 12
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die Schritte 7 versus 8), sobald man das Agglomerationsprinzip (vgl. Schritt 4), den modus ponens (Schritt 5 und 7) und das ›Aus-Sollenfolgt-Können-Prinzip‹ (vgl. Schritt 6) zur Anwendung bringt. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
O (a) O (b) : K (a&b) O (a) & O (b) → O (a&b) Daraus folgt: O (a&b) Daraus folgt: O (a&b) → K (a&b) Damit muss gelten: K (a&b) Es gilt aber gleichzeitig auch: : K (a&b) (vgl. 3.)
Mit den Konklusionen 7. und 8. entsteht aus der Prämisse des moralischen Dilemmas ein modaler Widerspruch der Form [K (a&b) & : K (a&b)]. Gemeint ist, dass aus der Annahme des moralischen Dilemmas eine Situation folgt, in der behauptet wird, dass man a und b gleichzeitig tun können als auch nicht tun können soll. (2.2) Bringt man im Schritt 7 stattdessen den modus tollens (in Anknüpfung an Schritt 3) zur Anwendung, ergibt sich ein normativer Widerspruch zwischen zwei sich ausschließenden moralischen Ansprüchen. 15 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
O (a) O (b) : K (a&b) O (a) & O (b) → O (a&b) Daraus folgt: O (a&b) Es gilt aber auch : K (a&b) (vgl. 3.) Daraus folgt: : K (a&b) → : O (a&b) Damit muss gelten: : O (a&b) Es gilt aber auch: O (a&b) (vgl. 4.)
der Beweis seiner Rekonstruktion zufolge in Gowans 1987, 20 ff.; sowie in Brink 1994, 109 f. 15 Auch dieser Beweis findet sich der Sache nach so in Zoglauer 1998, 319. Diskutiert wird der Beweis seiner Rekonstruktion zufolge in Williams 1965a, 272 f.; sowie in McConnell 1978, 155 ff.; sowie in Sinnott-Armstrong 1988, 109.
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Zwischen den Schritten 8. und 9. entsteht aus der Prämisse des moralischen Dilemmas die normativ widersprüchliche Situation [: O (a&b) & O (a&b)]. Gemeint ist, dass in ein und derselben Situation gleichzeitig ein Gebot existieren soll, dem zufolge man a und b tun soll, obwohl es gleichzeitig kein Gebot geben soll, dem zufolge man a und b tun soll. (2.3) Ein dritter Beweistyp mündet in einer Situation, die Zoglauer in Anknüpfung an Kutschera einen ›deontischen Widerspruch‹ nennt, wobei ein »deontischer Widerspruch« vorliegen soll, »wenn dieselbe Handlung sowohl geboten als auch verboten ist«. 16 Nach SinnottArmstrong 17 hat dieser Beweis (der sich unterschiedlich 18 führen lässt) in seinem wesentlichen Kern folgende Struktur: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
O (a) O (b) : K (a&b) [O (a) & : K (a&b)] → O (:b) (vgl. 1. und 3.) Daraus folgt: O (:b) (vgl. 4.) Es gilt aber auch: O (b) (vgl. 2.)
In der Literatur werden Beweise dieses Grundtyps auch unter dem Etikett ›Ought and Ought Not‹ diskutiert, weil die Beweise jeweils mit der Situation [O (b) & O (:b)] enden. 19 Gemeint ist, dass man in ein und derselben Situation etwas sowohl tun als auch nicht tun soll. (3) Mit diesen Formalisierungen sind jedoch jeweils nur die ›Herzstücke‹ der Argumentationsgänge benannt, die in der angelsächsischen Debatte gemeinhin unter dem Etikett ›Beweise der deontischen Logik für die Unmöglichkeit des moralischen Dilemmas‹ diskutiert werden. Tatsächlich sind die Beweisgänge sehr viel komplexer und voraussetKutschera 1973, 30. Zit. nach Zoglauer 1998, 145. Sinnott-Armstrong 1988, 136 f. 18 Zoglauer listet insgesamt drei Beweise auf, die in der Konklusion [O (b) & O (:b)] enden. Vgl. Zoglauer 1998, 320 f. Weil die Beweise jedoch auf anderen Prinzipien als den unter 5.a.2.1 und 5.a.2.2 skizzierten beruhen und es hier letztlich nur um die Konklusionen geht, werden diese beiden Beweise ausgeblendet. Diskutiert werden die zusätzlichen Beweisprinzipien z. B. in Brink 1994, 110 f. Das Prinzip ›Aus Sollen folgt Erlaubt-Sein‹ (engl. Ought implies Permitted) wird auch diskutiert in Sinnott-Armstrong 1988, 156–161. 19 Diskutiert wird der Beweis u. a. in Lemmon 1962 sowie in Sinnott-Armstrong 1988, 136–168. 16 17
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zungsreicher. Damit aus dem Aufweis, dass die Annahme der Möglichkeit des moralischen Dilemmas auf gleich mehreren Wegen zu einem logischen Widerspruch führen soll, geschlossen werden kann, dass die Annahme des moralischen Dilemmas unvernünftig bzw. unsinnig ist, muss nämlich zusätzlich auch die zentrale Annahme der klassischen Logik von der ›Widerspruchsfreiheit des Vernünftigen‹ gemacht werden, der zufolge entweder (mindestens) eine der ersten axiomatisch gesetzten Grundannahmen eines Systems falsch sein oder aber ein Fehler im Schlussverfahren vorliegen müssen, wenn aus einer Grundannahme unter Anwendung der Regeln des Systems (wie im Falle der Schlüsse 5.a.2) Widersprüchliches folgt. (3.1) Die Prämisse von der ›Widerspruchsfreiheit des Vernünftigen‹ basiert auf dem aristotelischen ›Satz vom Widerspruch‹, dem zufolge nichts »demselben und in derselben Beziehung« zugleich »zukommen und nicht zukommen« 20 kann. Aristoteles bezeichnet diesen Satz sogar als »Grund jedes Beweises« oder als »Prinzip aller anderen Axiome« 21, weil es in seinen Augen die elementare Regel jedes vernünftigen Schließens und Beweisens überhaupt darstellt, dass jemand schlicht Unsinn redet oder logische Fehler gemacht haben muss, wenn er sich Widersprechendes behauptet oder in seinen Beweisgängen zu sich widersprechenden Konklusionen gelangt. (3.2) Aus diesem Satz wiederum folgt die zentrale Grundannahme der klassischen Logik, dass axiomatische Systeme widerspruchsfrei sein müssen. Schließlich erhebt ein axiomatisches System ja den Anspruch, aus Regeln zu bestehen, mit deren Hilfe sich aus einigen ersten wahren Sätzen (Axiomen) weitere wahre Sätze (Theoreme) ableiten lassen. Dem aristotelischen Satz vom Widerspruch zufolge können zwei sich ausschließende Sätze nicht gleichzeitig wahr sein. Wenn es in einem axiomatischen System zu sich widersprechenden Sätzen kommt, muss also etwas faul sein mit dem System, wobei es nur zwei Möglichkeiten gibt. (3.2.1) Die eine Möglichkeit besteht darin, dass ein Fehler im Aristoteles 1871, 1005b22–29. Vgl. auch a. a. O. 1011b13–21; sowie 1005b26–34. In der Kategorienschrift heißt es mit ähnlicher Stoßrichtung, dass »kein Ding« jemals »Konträres zulassen« könne, wobei als ›konträr‹ näherhin das bestimmt wird, »was in derselben Gattung am weitesten voneinander absteht«. Schließlich könne nichts »zugleich krank und gesund« oder »weiß und schwarz zugleich« sein. Aristoteles 1925, 6a.1–17. 21 Aristoteles 1871, 1005b22 f., 1005b33 f. 20
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Schlussverfahren vorliegt, weil (mindestens) eine der logischen Regeln bzw. Prinzipien des Systems nicht gültig ist oder verletzt wurde. (3.2.2) Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass (mindestens) eine der ersten axiomatisch vorausgesetzten Annahmen falsch ist, aus denen die jeweiligen Ableitungen vorgenommen wurden. Benannt wird diese zweite Möglichkeit mit dem lateinischen Satz ›ex falso sequitur quodlibet‹, der besagt, dass aus falschen Annahmen Beliebiges (sprich: sowohl Wahres als auch Falsches als Widersprüchliches sowie als offensichtlich Falsches) folgen kann. 22 Weil also entweder in den Schlussregeln oder aber in den ersten axiomatisch vorausgesetzten Annahmen (oder auch in beidem) ein Fehler stecken muss, wenn es in einem axiomatischen System zu Widersprüchen kommt, besagt eine zentrale Grundannahme der klassischen Logik, dass axiomatische Systeme logisch widerspruchsfrei sein müssen in dem Sinne, dass es in dem System keinen Satz a gibt, von dem sowohl behauptet werden muss, dass er wahr ist (a), als auch, dass er nicht wahr ist (:a). 23 (3.3) Die deontischen Beweise der Unmöglichkeit von moralischen Dilemmata basieren ebenfalls auf dieser Grundannahme. Sie sind jedoch nur vollständig, wenn sie aus zwei Beweisschritten bestehen. In einem ersten Schritt muss gezeigt werden, dass aus der axiomatisch gesetzten Annahme des moralischen Dilemmas ein logischer Widerspruch entsteht (vgl. 5.a.2). Es muss jedoch ein zweiter Schritt folgen, in dem dann unter Rekurs auf die logische Grundannahme der ›Widerspruchsfreiheit des Vernünftigen‹ geschlossen wird, dass die axiomatisch gesetzte Annahme des moralischen Dilemmas unsinnig bzw. Bei Sellmaier heißt es in diesem Sinne zur »Grundstruktur der Argumentation« wie folgt: »Die Annahme genuiner moralischer Dilemmata erlaubt es, unter Rückgriff auf plausible und vertraute deontische Prinzipien einen Widerspruch herzuleiten. Widersprüchliche Theorien gestatten – auch das ist ein logischer Gemeinplatz – die Herleitung eines beliebigen und deshalb auch falschen Satzes. Wäre die skizzierte Argumentation haltbar und stichhaltig, dann wäre jede ethische Theorie (d. i. jede Moralphilosophie; Anm. d. Verf.in), die moralische Dilemmata einräumt, ungeeignet, da mit ihrer Hilfe jedes Handeln gerechtfertigt werden könnte.« Sellmaier 2008, 56. 23 Dazu heißt es bei Zoglauer: »Ein logisches System N heißt logisch widerspruchsfrei, wenn es keinen Satz A gibt, so daß sowohl A wie auch :A aus N folgt«. Zoglauer 1998, 99. Wörtlich zitiert wird hier Kutschera 1973, 29. An anderer Stelle heißt es bei Zoglauer: »Ein Axiomensystem heißt logisch widerspruchsfrei, wenn es keinen Satz a gibt, so daß sowohl a als auch :a aus folgt.« Weiterhin heißt es: »Jedes Axiomensystem muss logisch widerspruchsfrei sein, da sonst aus p & :p jeder beliebige Satz ableitbar wäre (ex falso sequitur quodlibet)«. Zoglauer 1997, 145. 22
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falsch sein muss, weil es keine andere Fehlerquelle in den Schlussfolgerungen gibt, die im ersten Beweisschritt zu den widersprüchlichen Konsequenzen geführt haben. Damit lässt sich der Standardbeweis der deontischen Logik für die logische Unmöglichkeit des moralischen Dilemmas folgendermaßen als Syllogismus skizzieren: P1: Die Prämisse von der ›Widerspruchsfreiheit des Vernünftigen‹ besagt, dass eine der ersten axiomatisch gesetzten Grundannahmen falsch sein oder ein Fehler im Schlussverfahren vorliegen muss, wenn in einem (dem Anspruch nach vernünftigen) System aus einer der axiomatisch gesetzten Grundannahmen durch die Anwendung der Regeln des Schlussverfahrens Widersprüchliches folgt. P2: Weil moralphilosophische Systeme vernünftig sein müssen, müssen moralphilosophische Systeme widerspruchsfrei sein. P3: Zentrale Schlussprinzipien aus dem Bereich der Indikative gelten auch im Bereich der Imperative. P4: Insbesondere das Agglomerationsprinzip ist unstrittig. P5: Dasselbe gilt für das ›Aus-Sollen-folgt-Können-Prinzip‹. P6: Aus der Annahme des moralischen Dilemmas leiten sich logische Kontradiktionen ab (vgl. 5.a.2 insg.). → Weil es zu logischen Kontradiktionen kommt (vgl. P6), obwohl es in den Ableitungen 5.a.2 keine Fehler gibt (vgl. P3, P4, P5), muss der ›Widerspruchsfreiheit des Vernünftigen‹ gemäß (vgl. P1) die Prämisse der Beweise in 5.a.2 (sprich: die axiomatisch gesetzte Annahme der Möglichkeit des moralischen Dilemmas) jeweils falsch sein, da ein moralphilosophisches System ebenfalls den Gesetzmäßigkeiten von vernünftigen Systemen gehorchen muss (vgl. P2). → Damit ist es unsinnig, wenn ein moralphilosophisches System die Möglichkeit des moralischen Dilemmas annimmt. Wie ich in diesem Kapitel zeigen möchte, sind sämtliche Prämissen P1– P6 des eigentlichen Beweises der logischen Widersinnigkeit der Annahme von moralischen Dilemmata zumindest strittig, womit der Beweis den eigenen Vorgaben der (deontischen) Logik zufolge insgesamt hinfällig wäre.
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(b) Die Widerspruchsfreiheit des Vernünftigen (P1)
(b) Die Widerspruchsfreiheit des Vernünftigen (P1) Die erste Prämisse der deontischen Beweise ist die Prämisse von der ›Widerspruchsfreiheit des Vernünftigen‹. Sie besagt, dass eine der ersten axiomatisch gesetzten Grundannahmen falsch sein oder ein Fehler im Schlussverfahren vorliegen müssen, wenn in einem dem Anspruch nach vernünftigen System aus einer der axiomatisch gesetzten Grundannahmen durch die Anwendung der Schlussregeln des Systems (wie im Falle der Schlüsse 5.a.2) Widersprüchliches folgt. Diese Prämisse hat unser (westliches) Denken zweifellos fundamental geprägt, und tatsächlich scheint an der Auffassung, dass Widersprüchliches auf Unvernünftigkeit hindeutet, wenig zu rütteln sein. Schließlich unterstellen wir tatsächlich ohne weitere Überlegung sofort, dass jemand entweder lügt oder Unsinn redet, wenn er sich in Widersprüche verwickelt. Jenseits dessen gibt es aber auch Anhaltspunkte dafür, dass vernünftige Systeme Widersprüche durchaus vertragen können. (1) So weist Zoglauer treffend darauf hin, dass sich in der »Wissenschaftstheorie« in »den letzten Jahrzehnten die Erkenntnis durchgesetzt« habe, »daß naturwissenschaftliche Theorien« keineswegs per se »widerspruchsfrei« seien. »Im Gegenteil« gäbe es »auch in den besten uns zur Verfügung stehenden physikalischen Theorien« beispielsweise »Widersprüche zwischen den hypothetischen Voraussagen der Theorie und den empirisch feststellbaren Beobachtungen oder Messungen«. Im Detail verweist er darauf, dass »die Newtonsche Mechanik die Periheldrehung der Merkur« (das ist eine »ungewöhnliche Irregularität in der Bahnbewegung der Planeten«) nicht »erklären« könne; dass die »Atomtheorie von Bohr« im »Widerspruch zur klassischen Elektrodynamik« stünde; und dass die Urknalltheorie Schwierigkeiten habe, das »hohe Alter der Galaxie zu erklären« 24. Er hätte natürlich auch auf den ersten Unvollständigkeitssatz des Mathematikers Kurt Gödel verweisen können, der ja sogar Zweifel an der Widerspruchsfreiheit der Mathematik hervorgerufen hat. 25 Solchen Beispielen muss naZoglauer 1998, 289. Für Beispiele wird verwiesen auf Zoglauer 1993, 98. Soweit ich den Satz aus meiner Perspektive eines mathematischen Laien verstanden habe, besagt er, dass es sich nicht beweisen lässt, dass aus den vertrauten Rechenoperationen des Multiplizierens und Addierens im System der natürlichen Zahlen kein Satz hervorgehen kann, von dem sich beweisen lässt, dass sich seine Negation nicht ebenfalls ableiten lässt, weil sich an jede mathematische Operation bis ins Unendliche hinein
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türlich entgegengehalten werden, dass Widersprüche in den Naturwissenschaften in aller Regel nicht als Resultat akzeptiert werden, sondern vielmehr als Impuls zu weiterer Forschung betrachtet werden, weil man aus der Widersprüchlichkeit ganz im Sinne der hier strittigen Prämisse schließt, dass vielleicht doch ein von Menschen verursachter Fehler in der Situationsanalyse oder in der Datenerhebung vorliegen könnte. (2) Interessanter ist damit die Frage, wie in der Theoretischen Philosophie als dem zweiten großen Bereich der Philosophie neben der Praktischen Philosophie mit Widersprüchen umgegangen wird. Kennt die Theoretische Philosophie unauflösbare Widersprüche? Diese Frage lässt sich schnell beantworten. 26 Schon in der Ersten Philosophie des Aristoteles hat das Ausbuchstabieren von Aporien einen großen methodischen Stellenwert; und vermutlich handelt es sich bei den Aporien des XII. Buches seiner Metaphysik um Aporien, die Aristoteles selbst (zumindest zum Zeitpunkt der Abfassung des Buches) nicht für lösbar hielt. 27 Auch die subtilen Überlegungen zur Zeit, die Augustinus unter dem Etikett »ungemein verwickelte Rätsel« (lat. implicatissimum aenigma) in seinen Confessiones anstellt, münden schließlich in unlösbare Widersprüche. 28 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind in diesem Zusammenhang natürlich auch noch die Antinomienlehre zu nennen, die Kant in dem Kapitel Antithetik der reinen Vernunft seiner Kritik der reinen Vernunft von 1781 entfaltet, sowie die philosophischen Aporien der Zeit, mit denen sich Paul Ricœur in seinem Buch Le temps raconté von 1985 befasst. (3) Damit steht nun freilich die Frage im Raum, inwieweit aus solchen Aporien der aristotelische Schluss gezogen werden muss, dass epistemische Mängel vorliegen müssen, weil es in vernünftig Durchdachtem keine Widersprüche geben kann. Es gibt nun zumindest einen namhafwieder neue mathematische Operationen anschließen können, so dass die fraglichen mathematischen Systeme entweder unvollständig oder aber nicht erwiesenermaßen widerspruchsfrei sind. Für Experten verweise ich auf Gödel 1931. 26 Vgl. dazu ausführlicher Raters 2011b. 27 Ob es sich bei den Aporien des XII. Buches der aristotelischen Metaphysik um lösbare oder um unauflösbare Aporien handelt, ist in der Literatur allerdings umstritten. Vgl. u. a. Aubenque 1962. 28 Augustinus 1955.
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ten Philosophen, der genau das wirkmächtig bestritten hat. Die wohl prominenteste Debatte über den Stellenwert von Antinomien für die Philosophie und das vernünftige Denken wurde wohl zwischen Kant und Hegel geführt. 29 Nach Kant entstehen Antinomien, sobald wir die »Vernunft nicht bloß zum Gebrauch der Vernunftgrundsätze, auf Gegenstände der Erfahrung verwenden, sondern jene über die Grenze der letzteren hinaus auszudehnen wagen« 30. Weil das Ausbuchstabieren von Vernunftantinomien demnach letztlich zu der Einsicht führen kann, dass die Unterscheidung zwischen dem Ding, wie es in der Erfahrung als Vorstellung gegeben ist, und dem Ding an sich ein fundamentum in re hat, erhebt Kant die »skeptische Methode« des Ausbuchstabierens von Antinomien schließlich sogar zu der Methode, welche »der Transzendentalphilosophie allein wesentlich eigen« 31 ist. In direkter Anknüpfung an die Antinomienlehre, die Kants Antithetik der reinen Vernunft seiner Kritik der reinen Vernunft entfaltet, würdigt Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften zunächst einmal, dass Antinomien in der Geschichte der Philosophie immer nur als »auf einem subjektiven Fehler im Schließen und Räsonieren« beruhende »zufällige Verirrung« betrachtet wurden, bis Kant gezeigt habe, dass es auch »in der Natur des Denkens selbst« liegen könnte, »in Widersprüche (Antinomien) zu verfallen, wenn dasselbe das Unendliche erkennen will«. Dann aber kritisiert er, dass Kant leider »bei dem bloßen Resultat der Nichterkennbarkeit des Ansich der Dinge stehengeblieben« sei, anstatt weiter »zur Erkenntnis der wahren und positiven Bedeutung der Antonomien« vorzudringen. Diese besteht nach Hegel darin, »daß alles Wirkliche entgegengesetzte Bestimmungen in sich enthält«, so dass »das ErkenVgl. dazu im Detail auch 3.f. Kant 1781, A477/B505, A466/B496, A560/B588, A481/B509, A509/B537. 31 Kant 1781, A424/B452. Wie Kant in der Kritik der Urteilskraft näher ausführt, nötigt das Ausbuchstabieren von Antinomien unser Denken nämlich »wider Willen«, über »das Sinnliche hinaus zu sehen und im Übersinnlichen den Vereinigungspunkt aller unserer Vermögen zu suchen; weil kein anderer Ausweg übrig bleibt, die Vernunft mit sich selbst stimmig zu machen«. Kant 1790, B239. Die Vernunft lässt sich nach Kant nur »mit sich selbst stimmig« machen, sobald man akzeptiert, »daß die durchgängige Zufälligkeit aller Naturdinge und aller ihrer (empirischen) Bedingungen, ganz wohl mit der willkürlichen Voraussetzung einer notwendigen, obzwar bloß intelligiblen Bedingung zusammenbestehen könne, also kein wahrer Widerspruch zwischen diesen beiden Behauptungen anzutreffen sei, mithin sie beiderseits wahr sein können«. Kant 1781, A562/B590. 29 30
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nen« eines Gegenstandes nichts anderes heißen könne, als »sich dessen als einer konkreten Einheit entgegengesetzter Bestimmungen bewusst zu werden« 32. Für Hegel sind Antinomien also nicht etwa in den Grenzen des (subjektiven) menschlichen Denkens begründet, sondern (objektive) Bestimmungen der Gegenstände des Denkens selbst, weil es in seinen Augen nun einmal der Fall ist, dass »alles Wirkliche entgegengesetzte Bestimmungen in sich enthält«. In einem berühmten Diktum aus Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts heißt es dann bekanntlich aber auch: »Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig« 33. Für Hegel sind ›Wirklichkeit‹ und ›Vernunft‹ also Synonyme, obwohl er gleichzeitig die Widersprüchlichkeit des Wirklichen anerkennt. Damit muss man also zumindest mit Hegel aus dem Vorliegen von Widersprüchen nicht per se auf einen Mangel an Vernunft oder gar auf Unvernunft schließen. Ja, Hegel betrachtet Konflikte, Widersprüche und Spannungen im Gegenteil sogar als Motor des Denkens bzw. der gesamten Wirklichkeit, weil von Widersprüchen (wie es in der Phänomenologie des Geistes heißt) in seinen Augen »ungeheure Energien« 34 ausgehen können, die zur Überwindung der schmerzlichen Gegensätze streben. Weiter ins Detail zu gehen, ist überflüssig: Zumindest für Hegel ist das Vernünftige keineswegs per se widerspruchsfrei. Weil es sich um ein bloßes Autoritätsargument handeln würde, kann natürlich der bloße Hinweis auf Hegels philosophische Grundhaltung die erste Prämisse von der Widerspruchsfreiheit nicht wirklich widerlegen. Sie hat jedoch deutliche Kratzer bekommen.
(c) Die notwendige Widerspruchsfreiheit moralphilosophischer Systeme (P2) Die Argumente zur Verteidigung der Notwendigkeit der Widerspruchsfreiheit von moralphilosophischen Systemen variieren das ArHegel 1830, Bd. 8, 126–129. Vgl. auch Hegel 1831, Bd. 5, 209 ff. Hegel 1821, 24. 34 Hegel 1807, 36. Es heißt weiter, dass der Geist »seine Wahrheit nur« gewinnt, »indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches vom Negativen wegschaut«, sondern »er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt«. A. a. O. 36. 32 33
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gument von Sir David Ross aus dem Jahr 1939, dem zufolge ein moralphilosophisches System seinen Anspruch auf vernünftige Orientierungsleistung für vernünftige moralische Akteure aufgeben muss, wenn es nicht im Sinne der aristotelischen klassischen Logik konsistent ist. (1) Bevor die angelsächsische Debatte dazu rekonstruiert werden kann, muss in Umrissen geklärt werden, was mit der ›Konsistenz‹ eines ›moralphilosophischen Systems‹ gemeint war. (1.1) Die Frage nach der Bedeutung von ›Konsistenz‹ im vorliegenden Zusammenhang hat schon E. J. Lemmon in seinem Essay Deontic Logic and the Logic of Imperatives von 1965 gestellt. Es heißt hier, dass es »unklar« sei, was »Konsistenz« in der vorliegenden Debatte über moralphilosophische Systeme eigentlich bedeuten soll, weil man es ja anders als in der Mathematik nicht mit »Axiomen und Inferenz-Regeln« zu tun habe, sondern mit »Prinzipien, Maximen und Vergleichbarem« 35. Unstrittig war in der angelsächsischen Debatte lediglich, dass sich die ersten Prinzipien einer Moralphilosophie nicht widersprechen dürfen, weil ein moralphilosophisches Systemgebäude schließlich den Anforderungen an eine philosophische Theorie genügen muss. Strittig war jedoch, ob es als Inkonsistenz eines moralischen Es heißt im englischen Wortlaut: »This argument is hard to rebut, partly because our notion of consistency for a code, containing as it does principles, maxims, and the like rather than axioms and rules of inference, is by no means as clear as the corresponding notion for a formal system«. Lemmon 1965, 46. Lemmon distanziert sich hier von Hares Konsistenzprämisse im Zuge einer Auseinandersetzung mit dem Prinzip O (A) = : O (:A), über das seiner Rekonstruktion zufolge in allen Lagern der deontischen Logik Konsens bestehen und das im Kern besagen soll, dass es verboten sein soll, eine Handlung nicht auszuführen, wenn es eine Verpflichtung gibt, sie auszuführen. Lemmons zentrales Argument gegen das Prinzip besteht in dem Hinweis auf die Möglichkeit von Sollenskonflikten: In seinen Augen kann das Prinzip nicht gültig sein in einer Situation, in der man sowohl A als auch B tun soll, wenn sich A und B gegenseitig ausschließen. A. a. O. 45. Vor diesem Hintergrund diskutiert er Hares Konsistenzprämisse. Es heißt im englischen Wortlaut zunächst: »It may further be argued that our being faced with this moral situation merely reflects an implicit inconsistency in our existing moral code; we are forced, if we are to remain both moral and logical, by the situation to restore consistency to our code by adding exception-clauses to our present principles, or by giving priority to one principle over another, or by some such device. The situation is as in mathematics: there, if an inconsistency is revealed by derivation, we are compelled to modify our axioms; here, if an inconsistency is revealed in application, we are forced to revise our principles.« A. a. O. 46.
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Systems angesehen wurde, wenn sich aus seinen ersten Sätzen oder Prinzipien ein moralisches Dilemma ableiten lässt. Das ist jedoch eine ganz andere Frage als die Leitfrage der deontischen Logik, ob sich die Annahme des moralischen Dilemmas als logischer Unsinn erweisen lässt durch den Aufweis, dass sich aus dieser Annahme verschiedene kontradiktorische Widersprüche ableiten (vgl. 5.a.2). (1.2) Diese Situation wird nicht klarer dadurch, dass man sich terminologisch nicht immer einig war, ob die strittige Konsistenzforderung an ›moralische Systeme‹ (engl. moral systems) näherhin 36 an die Moralphilosophie (engl. the moral theory) oder an die gewachsene Moral der alltäglichen moralischen Praxis (engl. the moral bzw. the existing moral code 37) gerichtet sein soll. 38 Als Ross 39 der angelsächsischen Debatte ihren Anstoß gab, hatte er zweifellos moralphilosophische Systeme im Auge, denn schließlich bezieht sich seine Kritik an der Möglichkeit widersprüchlicher moralischer Urteile ja auf die moralphilosophische Position der private-reaction-theories (vgl. 1.a). Als der frühe Hare in Language of Morals von 1952 die Debatte auf das Problem des moralischen Dilemmas fokussierte, führte er jedoch mit der Szene aus Cunninghams Autobiographie 40 ein Beispiel aus der moralischen Praxis an. McConnell beispielsweise spricht in seinem Essay Moral Dilemmas and Consistency in Ethics von 1978 dann wieder von der Moralphilosophie mit der These, dass »eine adäquate Moraltheorie die Möglichkeit von echten moralischen Dilemmata ausschließen können« 41 müsse. (1.3) Obwohl die Bedeutung von ›Konsistenz‹ und die eigentliche Stoßrichtung der Konsistenzforderung an moralische Systeme letztlich nicht wirklich geklärt worden sind, hat sich die angelsächsische Debatte irgendwann darauf konzentriert, die These des späten Hare zu dis-
Vgl. zur Unterscheidung von Moralphilosophie und gewachsener Moral 1.d.2 und 1.d.3. 37 Dieser englische Begriff fällt in Lemmon 1965, 46. 38 Auf dieses Problem bin ich während des von Anna Goppel veranstalteten Workshops Moralische Konflikte am Ethik-Zentrum in Zürich vom 7.–8. Dezember 2012 insb. durch Stephan Sellmaier aufmerksam geworden. 39 Ross 1939, 60. Vgl. 1.a. 40 Hare1952, 36. Vgl. ausführlicher 1.c. 41 Es heißt im englischen Wortlaut: »The conclusion is that I shall eventually argue for this that we have good grounds for supposing that an adequate moral theory must rule out genuine dilemmas.« McConnell 1978, 155. 36
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kutieren. Hare hatte in Moral Thinking von 1981 die Moralphilosophie darauf verpflichtet, Strategien zur Auflösung der moralischen Dilemmata zu entfalten, die in der alltäglichen moralischen Praxis auf der Ebene des intuitiven moralischen Urteilens auftreten. 42 Wenn die ›Notwendigkeit der Konsistenz moralischer Systeme‹ diskutiert wurde, ging es in der angelsächsischen Debatte also um moralphilosophische Systeme. Diskutiert wurde, ob es das Selbstverständnis einer Moralphilosophie als normative systematische Wissenschaft mit handlungsleitender Funktion berühren muss, falls es ihr nicht gelingen sollte, aus ihren ersten Axiomen und Prinzipien auch für diejenigen moralischen Konflikte eindeutige Lösungen abzuleiten, die sich in der alltäglichen moralischen Praxis als moralische Dilemmata darstellen. (2) Gegen eine solche Verpflichtung der Moralphilosophie zu einer systematischen Vermeidung des Problems des moralischen Dilemmas könnte man zunächst einmal generell bezweifeln, dass sich Konsistenz im Bereich der alltäglichen moralischen Praxis überhaupt herzustellen lässt. (2.1) Dagegen spricht beispielsweise der Einwand der Überkomplexität. Dazu heißt es in Lemmons Essays von 1965, dass es »undenkbar sei, daß irgendein »moralischer Code zwei Prinzipien« enthalten könne, die in der alltäglichen moralischen Praxis niemals zueinander in Widerspruch geraten, so dass eine unendliche Fülle von komplizierten »Ausnahmeklauseln und Ähnliches« 43 eingeführt werden müsste, um moralische Konsistenz auch nur annähernd zu erreichen. McConnell verteidigt die Konsistenzprämisse gegen diesen Einwand (der später auch von Beardsmore vorgebracht wurde) mit dem Hinweis darauf, dass sogar gewachsene Moralen Prinzipien der Über- und Unterordnung sowie Ausnahmeklauseln zur Auflösung von Inkonsistenzen kennen (und vertragen) würden. 44 Wie in 4.e gezeigt wurde, wird eine gewachsene Moral jedoch unübersichtlich und damit pragmatisch unbrauchbar, wenn durch eine Moralphilosophie zu
Hare 1981, 70. Vgl. zu diesem Anspruch 4.a. Es heißt im englischen Wortlaut: »Firstly, in the sense required, it is unlikely that any moral code containing at least two principles of conduct is consistent; i. e. that all possibilities of situations of conflict have been catered for by exhibition-clauses and the like.« Lemmon 1965, 46. 44 McConnell 1978, 159, 163. Verweis auf Beardsmore 1969, 111. 42 43
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viele Ausnahmeklauseln zur Vermeidung von Inkonsistenzen eingeführt werden. 45 (2.2) Ein weiterer möglicher Einwand ist der Einwand der kontingenten Umstände. Er besagt, dass sich Konsistenz im Bereich der alltäglichen moralischen Praxis schon deshalb nicht herstellen lässt, weil es hier unendlich viele mögliche Konstellationen von kontingenten Umständen gibt, durch die Imperative in Kraft gesetzt werden können, so dass jede noch so komplexe Moralphilosophie mit dem Anspruch überfordert wäre, alle denkbaren lebensweltlichen Konstellationen prophylaktisch berücksichtigen zu müssen. (2.2.1) Prominent entfaltet wird dieses Argument von Bernard Williams Essay Ethical Consistency von 1965. Das Argument basiert auf der Prämisse, dass Aussagen unabhängig von Umständen immer wahr oder falsch sind, während Imperative durch kontingente Umstände in Kraft gesetzt werden oder auch nicht. Zur Plausibilisierung führt Williams den Fall des Agamemnon an, der »zum einen seiner Verantwortung als Befehlshaber« nachkommen und »zum anderen seine Tochter nicht töten soll«. Wie Williams treffend bemerkt, geraten beide Handlungsgründe unter den meisten denkbaren Umständen in der alltäglichen moralischen Praxis nicht miteinander in Konflikt. Schließlich ist es hier in aller Regel durchaus möglich, einen Feldzug voranzutreiben, ohne seine Tochter zu töten. Agamemnons Dilemma hat Williams treffender Analyse zufolge seine Ursache darin, dass es unter der einmaligen Konstellation von Umständen ausnahmsweise einmal eben doch »keine Möglichkeit gibt, das Erstere ohne das Letztere zu tun« 46. Mit Hare müsste man nun den Einwand ins Feld führen, dass jetzt eine ausgefeilte Moralphilosophie zum Zuge kommen müsse, weil die intuitiv gestützte Alltagsmoral des Agamemnon unvollständig oder Zum Stellenwert von ›Ausnahmeklauseln‹ (Hare selbst spricht von unendlich spezifischen Moralprinzipien) in Hares spätem Universalen Präskriptivismus vgl. 4.e. 46 Williams 1965a, 288. (1) In dasselbe Horn wie Williams stößt später auch van Fraassen in seinem Essay Values and the Heart’s Command von 1973: Auch seine Zweifel an der Möglichkeit von Konsistenz in der Moral basieren auf der Prämisse, dass Imperative anders als Aussagen durch kontingente Umstände jeweils erst in Kraft gesetzt werden. Im englischen Wortlaut heißt es: »First, they are many conceivable imperatives, but only some are in force.« Fraassen 1973, 149. Im Zusammenhang dieses zweiten Arguments verweist van Fraassen auf seinen Entwurf einer konditionalen moralischen Logik in Fraassen 1972. (2) Noch einmal recycelt wird das Argument unter dem Etikett ›Argument der entgegengesetzten Tatsachen‹ (engl. counterfactuals) von Sinnott-Armstrong 1988, 40, 43. 45
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mangelhaft sei. Und damit wäre Williams Einwand der kontingeten Umstände einschlägig, dem zufolge die alltägliche moralische Praxis so viele Überraschungen und Unwägbarkeiten bereithält, dass keine Moralphilosophie für alle möglichen moralischen Konstellationen die eine eindeutige Handlungsanweisung bereithalten kann. (2.2.2) In ihrem Essay Moral Dilemma and Consistency von 1980 greift Ruth B. Marcus Williams Einwand mit dem Hinweis darauf auf, dass »die Konsistenz« eines moralphilosophischen »Systems moralischer Regeln« kein Garant dafür sei, dass es in der moralischen Praxis unter kontingenten Umständen nicht doch zu Widersprüchen zwischen den Regeln bzw. zu »moralischen Dilemmata« kommen könne. Marcus spricht von einem »inkonsistenten Regelsystem«, wenn es »keine denkbaren Umstände« gibt, unter denen »alle Regeln des Systems gleichzeitig befolgt werden können« 47. Sie belegt die Möglichkeit von Widersprüchen in einem in dieser Weise konsistenten System am Beispiel eines Kartenspiels für zwei Personen, in dem die Regeln gelten, dass die schwarzen Karten die roten und die hohen Karten ohne Rücksicht auf die Farbe die niedrigen übertrumpfen sollen und dass es zu einem Unentschieden im Falle von zwei Karten derselben Farbe und desselben Werts kommen soll. Obwohl das Regelsystem in sich konsistent sei, könne es nun zu einer Situation kommen, in der sich die Regeln widersprechen, wenn beispielsweise ein rotes Ass und ein schwarzer Bube aufeinander treffen. Dagegen hat Greenspan nun nachvollziehbarerweise eingewandt, dass Marcus’ Regelsystem nur ihrem »sehr großzügigen Begriff« von ›Konsistenz‹ zufolge ein »konsistentes System von allgemeinen Regeln« sei; dass es sich aber tatsächlich um ein »defizientes« System handele, weil es weder »eine Hierarchie von leitenden Prinzipien« noch eine »Rangfolge« des Gewichts möglicher »Verstöße gegen die Prinzipien« 48 gäbe. Tatsächlich ließe sich das Kartenspiel schnell ›konsistenter‹ machen, indem man die ReEs heißt im englischen Wortlaut: »The consistency of a set of moral rules, even in the absence of a complete set of priority rules, is not incompatible with the reality of moral dilemmas.« Marcus 1980, 199. »A set of rules is inconsistent if there are no circumstances, no possible world, in which all the rules are satisfiable.« A. a. O. 195. Vgl. mit demselben Argument auch Marcus 1996. 48 So heißt es beispielweise bei Greenspan: »The general rules of our moral code may be consistent in Marcus’s [sic] rather generous sense.« Greenspan 1981, 120. »But the code is surely deficient unless it provides, not just an ordering of principles, but also some single way of ranking violations of the same principle.« A. a. O. 120. 47
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gel einführt, dass im Zweifelsfall die schwarze Farbe dem höheren Kartenwert überlegen sein soll. Sobald solche Überordnungs-Regeln ins Gespräch gebracht werden, wird allerdings wiederum Lemmons Einwand der Überkomplexität der moralischen Regeln (vgl. 5.c.1.1) einschlägig. Festzuhalten bleibt damit, dass es gravierende Zweifel gibt, ob eine Moralphilosophie gegebenenfalls überhaupt in der Lage sein kann, Konsistenz auf der Ebene der alltäglichen moralischen Praxis herzustellen. (3) Ein zweiter möglicher Einwand gegen eine solche Verpflichtung der Moralphilosophie lautet, dass Konsistenz auf der Ebene der alltäglichen moralischen Praxis pragmatisch häufig unwichtig sei, weil sich die meisten Widersprüche in der moralischen Praxis (wobei ausdrücklich nicht vom echten moralischen Dilemma die Rede ist) leicht umgehen oder ignorieren lassen. (3.1) Entfaltet hat dieses Argument Bernard Williams in seinem Essay Consistency and Realism von 1966 im Rahmen eines Gefechtsganges gegen Hares Projekt einer konsistenten ›Logik der Imperative‹. Um seine Auffassung zu plausibilisieren, dass die »Bedeutsamkeit von Widerspruchsfreiheit und Widersprüchlichkeit« im Falle von Imperativen »auf einer radikal anderen Grundlage« 49 als im Falle von Indikativen stehen, zeigt Williams hier sechs Asymmetrien zwischen Indikativen und Imperativen auf. (i) Mit einer ersten ›Asymmetrie‹ greift Williams das zentrale Argument seines Essays Ethical Concistency von 1965 auf: Es lautet, dass sich widersprechende Aussagen niemals gleichzeitig wahr sein können, während sich widersprechende Imperative in aller Regel lediglich unter den kontingenten Umständen einer Situation nicht gleichzeitig befolgt werden können. 50 (ii) Eine zweite ›Asymmetrie‹ sieht Williams darin, dass es bei »Behauptungen im Indikativ« eine »absolut allgemeine Unterscheidung« zwischen Aufrichtigkeit und Lüge gäbe, während es letztlich »nicht klar« sei, »ob man bei Imperativen eine solche allgemeine Unterscheidung einführen kann« 51. (iii) Einen dritten Unterschied (mit dem sich die beiden bisWilliams 1966, 304 f. Williams 1966, 305 ff. Vgl. zu diesem Argument ausführlich 5.f. 51 Williams 1966, 308–311. (1) Ein erster Kandidat dafür könnte nach Williams das Unterlassen eines Befehls wie ›Halt die Klappe‹ gegenüber einer sehr langweiligen Person sein, weil sie entweder mitleiderregend oder sehr einflussreich ist. Wie Williams treffend betont, ist ein solcher 49 50
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lang aufgezeigten Asymmetrien erklären lassen) sieht Williams darin, dass im Bereich der Aussagen sehr viel klarer festgelegt ist als im Bereich der Imperative, was eine ›wirklich gute‹ Begründung ist und was nicht. Natürlich gibt es auch im Bereich der Imperative »so etwas wie Gründe, die für oder gegen die Äußerung eines bestimmten Imperativs sprechen«. Wie Williams treffend betont, »kann man diese Gründe« jedoch anders als im Bereich der Aussagen »nicht auf solche Weise systematisch anordnen, daß sich grundlegend verschiedenartige Beziehungen zwischen ihnen und dem Imperativ ergeben, wie es bei Behauptungen möglich ist.« Während sich im Bereich der Aussagen Gründe zu stringenten syllogistischen Begründungsketten anordnen lassen, kann es im Bereich der Moral immer nur eine »Ansammlung verschiedenartiger Gründe« geben, »die verschiedenn Fällen angemessen sind«, wodurch »der Begriff des ›bestmöglichen Grundes‹ für die Äußerung eines Imperativs zu einer recht unbestimmten Konzeption« wird. Das wiederum bedeutet nach Williams, dass zwei verschiedene Personen durchaus an ihrer Überzeugung festhalten können, für zwei sich widersprechende Imperative jeweils den ›bestmöglichen Grund‹ zu haben, während es im Bereich der Aussagen doch relativ sichere Strategien gibt, einen Irrtum (oder auch eine Lüge; vgl. 5.c.1.4) zu beweisen. 52 (iv) In einem vierten Schritt bestreitet Williams, dass man eine Person für verrückt halten würde, die widersprüchliche Befehle äußert, weil es schließlich auch sein könne, dass die Person ihr Gegen-
Fall kein Beispiel für einen ›unaufrichtigen Befehl‹, weil der Befehl nicht aus Unaufrichtigkeit unterlassen wird, sondern weil er in der Situation nicht angemessen wäre. (2) Als zweiten Kandidaten diskutiert Williams den Fall, dass jemandem einer anderen Person einen entgegengesetzten Befehl gibt, weil er weiß, dass die Person grundsätzlich das Gegenteil von dem tut, was ihr befohlen wird. Wiederum betont Williams treffend, dass auch ein solcher Befehl keine Parallele zur Lüge sei, weil der eigentliche Befehl nur sprachlich so verkleidet würde, dass er als Befehl erfolgreich sein kann. (3) Als wirkliche Parallelen kommen nach Williams nur Situationen infrage, in denen jemand seine Behauptungen absichtlich gegenüber einer Person modifiziert, von der er weiß, dass sie ihm sowieso niemals Glauben schenkt, oder wenn jemand einen Befehl gibt, der eigentlich seinen tiefsten Wünschen nicht entspricht (Williams’ Beispiel für letzteren Fall ist Wotans Befehl gegenüber Brünhilde, Siegmund nicht zu verteidigen). Beide Fälle seien allerdings so selten und so speziell, dass letztlich eben doch der Schluss gerechtfertigt sei, dass es im Bereich der Imperative keine »allgemeine Parallele zu unkomplizierten Fällen unaufrichtigen Behauptens« zu geben scheint. Williams 1966, 310. 52 Williams 1966, 312 f. Das moralische Dilemma
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über verwirren oder demütigen will. 53 (v) Einen fünften Unterschied sieht Williams darin, dass induktiv verallgemeinerte Aussagen als falsch gelten, sobald es nur einen einzigen widersprechenden Fall gibt, während moralische Regeln (d. h. verallgemeinerte Imperative) Ausnahmen manchmal sogar einfordern. 54 (vi) Den letzten und wichtigsten Unterschied sieht Williams schließlich darin, dass Aussagen auf Wahrheit zielen, während Imperative lediglich kontingente Situationen in Richtung auf einen gewünschten besseren Zustand gestalten sollen, weshalb sich Imperative nach Williams letztlich nur pragmatisch rechtfertigen lassen in dem Sinne, dass sie auf bestimmte gewünschte Wirkungen von Handlungen abzielen, deren Erfolg letztlich von kontingenten Umständen abhängt. 55 Auch ohne eine detaillierte Analyse der sechs Asymmetrien kann wohl festgehalten werden, dass sie davon überzeugen können, das wir mit sich widersprechenden Imperativen in unseren alltäglichen Handlungsbezügen in aller Regel (insofern es sich nicht um moralische Dilemmata im Sinne von 2.f handelt) tatsächlich sehr viel weniger Probleme haben als mit sich widersprechenden Indikativen. Dazu schreibt Williams in seinem Essay Conflict of Values von 1979 später noch einmal, dass er »wie Berlin« der »Auffassung« sei, »daß Wertekonflikte keineswegs pathologisch sind, sondern daß sie etwas darstellen, das notwendig in menschlichen Werten eingeschlossen ist und von einem angemessenen Verständnis davon in den Mittelpunkt gerückt werden muß«. Insofern sei die Notwendigkeit einer Überwindung von moralischen Konflikten auch »weder rein logischen Charakters« noch »ein Erfordernis reiner Rationalität, sondern vielmehr eine Art gesellschaftliches oder persönliches ›Muß‹, dessen Druck man eher unter diesen als jenen historischen Umständen verspürt« 56. (3.2) Für Williams’ Argument der pragmatischen Harmlosigkeit der meisten moralischen Widersprüche der alltäglichen Praxis spricht, dass der (von Hare ins Feld geführte) Steuermann aus Cunninghams Williams 1966, 314 ff. Wie Williams treffend betont, kann es im Bereich der Imperative »unter Umständen« das »Rationalste sein, eine bestimmte Schwierigkeit zu ignorieren und die früheren Regeln einfach beizubehalten«, während es im »Bereich der Aussagen« definitiv irrational bzw. falsch wäre, ein Gegenbeispiel »einfach außer Acht zu lassen«. Williams 1966, 319. 55 Williams 1966, 321 ff. 56 Williams 1979, 83. 53 54
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Autobiographie vor der Situation sich widersprechender Befehle wohl tatsächlich kaum schlicht kapitulieren würde. Schließlich gibt es in jedem militärischen Zusammenhang klare Hierarchien. Deshalb wird der Steuermann dem Befehl gehorchen, der von dem Befehlshaber mit dem höheren militärischen Rang gegeben wurde. Pragmatisch ist die Situation, in der er sich befindet, also wegen eindeutiger Über- und Unterordnungsregeln nicht wirklich problematisch, so widersprüchlich sie prima facie auch sein mag. Damit belegt Hares Beispiel das Gegenteil von dem, was es eigentlich belegen soll: Es belegt paradigmatisch, dass wir in unserer moralischen Praxis eine Vielzahl von pragmatisch wirkungsvollen Strategien entwickelt haben, um mit der durchaus alltäglichen Situation von widersprüchlichen moralischen Ansprüchen fertig zu werden. (3.3) Dagegen scheint man mit Connell auf die Praxis des Ratsuchens verweisen zu können. Um zu zeigen, dass »eine adäquate Moraltheorie die Möglichkeit von echten moralischen Dilemmata ausschließen können muß« 57, verweist McConnell in Moral Dilemmas and Consistency in Ethics von 1978 auf diese Praxis, die nach McConnell irrational wäre, wenn die Ratsuchenden nicht glauben würden, dass unsere Moral dem empirischen Anschein zum Trotz in der Weise konsistent ist, dass es für jedes moralische Problem die eine richtige Lösung gibt. Zur Plausibilisierung verweist er auf den Studenten, der Sartre seiner Schrift L’existentialisme est un humanisme von 1946 zufolge um Rat gefragt hat, ob er bei seiner Mutter bleiben oder in die Resistance eintreten solle. 58 Wenn der Student nicht geglaubt hätte, dass es jenseits der scheinbaren Inkonsistenz genau festgelegt ist, »was er tun sollte«, hätte er nach McConnell nicht »um Rat gefragt«, um »herauszukriegen, was das ist« 59. Vermutlich wäre Sartres Student jeEs heißt im englischen Wortlaut: »The conclusion is that I shall eventually argue for this that we have good grounds for supposing that an adequate moral theory must rule out genuine dilemmas.« McConnell 1978, 155. Vgl. Anm. 41. 58 Sarte 1946, 17 ff. Erzählt wird das Dilemma in Kap. 2 Anm. 5. 59 Es heißt im englischen Wortlaut: »His asking for advice indicates that he believes that there is some one thing that he ought to do and he is trying to find out what that is.« McConnell 1978, 164. Das zweite Argument in McConnells Essay von 1978 ist noch schwächer. Es besteht in dem phänomenologischen Hinweis darauf, dass nach manchen Dilemma-Entscheidungen Schuldgefühle auftreten, was nach McConnell ausschließlich dadurch zu erklären ist, dass der schuldbewusste Akteur voraussetzt, dass das zugrundeliegende Moralsystem in dem Sinne konsistent ist, dass es die eine richtige Lösung des Dilemmas vorgibt, die er mit seiner Entscheidung aber verfehlt zu haben glaubt. 57
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doch sehr verblüfft (wenn nicht sogar herb enttäuscht) gewesen, wenn Sartre versucht hätte, ihm die eine eindeutige Lösung seines moralischen Konflikts aus einigen wenigen moralischen ›Axiomen‹ herzuleiten! Genau das hat der Student mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erwartet, weil er als Sartres Student zweifellos wusste, dass Sartre mit seiner plakativen Formel, der Mensch sei ›zur Freiheit verurteilt‹, gerade nicht die moralphilosophische Position vertreten hat, die McConnell ihm zu unterstellen versucht. Für Sartre gibt es die eine richtige Lösung moralischer Konflikte ausdrücklich nicht, weshalb er seinem Student den Rat letztlich auch verweigert hat. 60 Der Student hat es nicht für irrational gehalten, Sartre um Rat zu fragen, obwohl er dessen Position kannte. Damit zeigt auch McConnells Beispiel das Gegenteil von dem, was es eigentlich zeigen sollte: Es zeigt, dass Ratsuchende nicht per se erwarten, dass sich die Ratgebenden auf ein einziges konsistentes System von Ratschlägen berufen, weil sie auch jenseits eines solchen Systems gute Ratschläge geben können. Damit hat sich auch das Argument der pragmatischen Überflüssigkeit der Herstellung einer widerspruchsfreien Alltagsmoral durch die Moralphilosophie als tragfähig erwiesen.
A. a. O. 165. Wie in Abschnitt 6.c noch ausführlich gezeigt wird, ist es auch dann rational, nach einer Dilemma-Entscheidung Schuldgefühle zu empfinden, wenn man nicht im Sinne von McConnell der Konsistenz-Prämisse glaubt. Damit kann McConnell folgendes Resümee also nicht ziehen: »We may conclude, then, at least with respect to the problem of moral dilemmas, that our basic ethical reasoning is not incoherent.« A. a. O. 171. 60 Wie er abschließend betont, hätte er zwar durchaus »einen Rat geben können«. Weil er aber überzeugt gewesen sei, dass sein Schüler »die Freiheit suchte«, hat er ihn »selbst entscheiden lassen«. Und es muss sich um eine authentische Entscheidung gehandelt haben, die Sartre als solche billigen konnte. Wie Sartre nämlich betont, hat er ahnen können, was sein Schüler letztlich »tun würde« – wobei der Schüler schließlich genau das »dann auch getan« hat. Sartre 1946, 51. In der angelsächsischen Debatte verortet, kritisch diskutiert und (aufgrund der Prämisse, dass es unlösbare moralische Dilemmata gibt) unter Rekurs auf Merleau-Pontys »Phänomenologie des Ausdrucks« in interessanter Weise weiterentwickelt wird Sartres Philosophie des moralischen Dilemmas in Lueck 2015. Lueck selbst fasst seinen Essay so zusammen: »I will begin by laying out the most important and influential arguments concerning the possibility of moral dilemmas, focusing on those that are most relevant to the theses I will advance. Next, I will examine the sharply different accounts of moral sense-bestowal suggested by R. M. Hare and Jean-Paul Sartre. Finally, calling upon Merleau-Ponty’s phenomenology of expression, I will advance what I take to be a more adequate account, and I will show how it supports the conclusion that moral dilemmas are possible.« A. a. O. 219.
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(4) Ein dritter möglicher Einwand gegen eine Verpflichtung der Moralphilosophie, Konsistenz auf der Ebene der alltäglichen moralischen Praxis herstellen zu müssen, lautet schließlich, dass eine zu strikte moralphilosophische Ausrichtung an einem Konsistenzideal in der moralischen Praxis sogar zu kontraintuitiven moralischen Urteilen führen kann. (4.1) In ihrem Essay Moral Dilemmas and Consistency macht Ruth B. Marcus die Seitenbemerkung, dass Konsistenz vielleicht eine »notwendige«, aber sicherlich »keine hinreichende Bedingung« einer praxistauglichen Moral sei, weil »moralische Regeln« ja vor allem anderen dazu anleiten müssten, »das Richtige tun, soweit das möglich« 61 ist. Tatsächlich sagt Konsistenz als solche nichts über die Qualität bzw. Güte einer Moral aus. So wäre beispielsweise eine konsistente Kannibalenmoral denkbar, in der es Regeln gibt wie »Würze Babyfleisch besonders vorsichtig« oder »Ziehe Beinfleisch dem Armfleisch vor«. Die Regeln würden (unter den normalen Umständen eines Kannibalen-Lebens) nicht miteinander in Konflikt geraten, aber dennoch würde man jenseits einer Gesellschaft von Kannibalen wohl kaum auf die Idee kommen, die Kannibalenmoral aller Konsistenz zum Trotz für eine gute Moral zu halten. (4.2) Ein ähnliches Beispiel, das aber noch eine weitere Pointe hätte, lässt sich aus Connees Essay Against Moral Dilemmas von 1982 ableiten. Der Essay entfaltet im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Williams, Marcus und van Fraassen unter anderem das DammbruchArgument, dass durch eine Preisgabe der Konsistenzprämisse die Gefahr bestünde, dass eine moralisch unzweideutige Situationen als moralisches Dilemma interpretiert werden könnte, sobald das dem moralischen Akteur pragmatisch passend zu sein scheint. Connees Beispiel ist die Situation eines »Henkers in einem schrecklichen Todeslager«, der vorgibt, sich in einem Dilemma zu befinden, weil er zum Töten verpflichtet sei, obwohl es sich bei der Pflicht eines Henkers lediglich um eine berufliche und eben nicht um eine »moralische Pflicht« 62 hanEs heißt im englischen Wortlaut: »But consistency in our sense is surely only a necessary but not a sufficient condition for a set of moral rules.« Marcus 1980, 196. »Our interest is not merely in having a playable game whatever the accidental circumstances, but in doing the right to the extent that is possible.« A. a. O. 196. 62 Es heißt im englischen Wortlaut: »Consider the executioner in some horrendous death camp. He has duties in virtue of being executioner. But they are not moral duties; they are merely part of the job.« Connee 1982, 240 f. 61
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deln würde. Nun ist aber zweifellos eine konsistente Henker-Moral denkbar, im Rahmen derer das Töten absolute Pflicht ist. Himmlers berüchtigte Reden in Posen am 4. Oktober 1943 vor den SS-Gruppenleitern und am 6. Oktober vor den Gauleitern dazu, wie ›anständig‹ die SS-Verbrecher bei ihren massenhaften Morden angeblich geblieben seien, ist das beste Beispiel dafür, dass eine solche zum Grauen pervertierte ›Moral‹ kein bloßes theoretisches Konstrukt ist. Damit zeigt auch Connees Beispiel, dass die Konsistenz einer Moral keine Garantie dafür ist, dass die richtigen (sprich: intuitiv einleuchtenden) moralischen Urteile gefällt werden. Das Beispiel hat gegenüber dem Beispiel der Kannibalen-Moral die zusätzliche Pointe, dass der von Connee angeführte Henker fatalerweise noch nicht einmal in einem Dilemma wäre, gerade weil seine Henker-Moral in dem Sinne konsistent ist, dass sie den barbarischen ›Gründen‹ für ein grausamen Töten eindeutigen Vorrang vor allen anderen möglichen Handlungsgründen (wie insbesondere dem des Mitleids) gibt. Damit lässt sich mit dem Henker-Beispiel letztlich sogar die These abstützen, dass eine allzu konsistente Moral unter Umständen eine moralische Gefahr sein kann, weil sie den moralischen Akteuren das moralische Denken abnimmt und eine scheinbar ›eindeutig richtige‹ moralische Entscheidungen auf dem silbernen Tablett serviert. Wenn man unter der in der Prämisse P2 des deontischen Beweisgangs behaupteten notwendigen Konsistenz moralischer Systeme also den Anspruch versteht, dass die Moralphilosophie die in der alltäglichen moralischen Praxis auftauchenden moralischen Widersprüche restlos beseitigen können muss (vgl. 5.c.1), dürfte sich die Prämisse P2 an dieser Stelle als gegenstandslos erwiesen haben, weil ein solcher Anspruch erstens nicht umfassend zu leisten (5.c.2), zweitens pragmatisch häufig überflüssig (vgl. 5.c.3) und drittens in Extremfällen sogar gar nicht wünschenswert (vgl. 5.c.4) ist. (5) Bevor ich auch die zweite Prämisse P2 des deontischen Beweisganges damit zu den Akten lege, möchte ich mich im Sinne eines Exkurses noch einmal anders mit der Frage befassen, ob die Moralphilosophie (bzw. ein bestimmtes moralphilosophisches Systemgebäude) widerspruchsfrei sein muss in dem Sinne, dass sich aus seinen Prinzipien und Sätzen keine moralischen Dilemmata ableiten lassen. (5.1) Stephan Sellmaier schreibt in seinem Buch Ethik der Konflikte von 2008, dass »das gängige Bild« der Moralphilosophie (Sellmaier spricht von einer »ethischen Theorie«) in »der Philosophie« das 200
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»einer abgeschlossenen, vollständigen Theorie« sei, die »für alle einfachen und komplexen Situationen, die normatives Überlegen herausfordern, angemessene und eindeutige Antworten entwickeln kann«. Sellmaier will »mit diesem Bild brechen«, weil »die Idee einer vollständigen und abgeschlossenen« Moralphilosophie, so »verführend« sie auch sein mag, das »philosophische Nachdenken über normative Konflikte unnötig« 63 einschränke. Damit trifft Sellmaier sicher einen wichtigen Punkt: Wer einer einzigen Moralphilosophie allzu linientreu folgt, riskiert zu übersehen, dass ein moralischer Konflikt mit einer anderen moralphilosophischen Strategie vielleicht eleganter und zufriedenstellender gelöst werden könnte. (5.2) Jenseits dessen glaube ich, dass ein ganz spezieller Typ des moralischen Dilemmas im Rahmen von moralphilosophischen Systemgebäuden sogar die ganz wichtige Funktion hat, die Grenzen der jeweiligen Moralphilosophie aufzuzeigen. Es ist in meinen Augen alles andere als ein Zufall, dass die Gegner von Moralphilosophien in schöner Regelmäßigkeit Dilemmata konstruieren, um die jeweilige Moralphilosophie ad absurdum zu führen. Bei diesen konstruierten Dilemmata lassen sich wiederum zwei Spielarten unterscheiden. (5.2.1) Ein erster Typ des konstruierten Dilemmas zeigt, dass ein moralischer Konflikt, für den es eine selbstverständliche Lösung zu geben scheint, im Rahmen der attackierten Moralphilosophie plötzlich ein Kandidat für ein moralisches Dilemma wird. (i) Ein Beispiel wäre das ›Lügendilemma‹, das Kant in seiner Spätschrift Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen von 1797 diskutiert. Der Gegenstand der Schrift ist das Aufrichtigkeitsgebot, bei dem es sich Kants moralphilosophischen Vorgaben zufolge um eine vollkommene Pflicht gegenüber anderen handeln soll, die unter keinen Umständen verletzt werden darf und keine Ausnahme duldet. Der Anlass der Schrift ist ein moralisches Dilemma, welches der französisch-schweizerische Philosoph Benjamin Constant in seiner 1793 erschienenen Schrift Über politisch Reaktion (franz. Des Réactions Politique) konstruiert hatte, um die moralphilosophische Auffassung eines nicht näher genannten ›deutschen Philosophen‹ (mit dem zweifelsohne Kant gemeint ist) infrage zu stellen, dass es eine bedingungslose Pflicht zur Aufrichtigkeit geben soll: Nach Constant kann man an dieser Pflicht nicht festhalten, wenn man von einem Mörder nach dem Aufenthaltsort seines Freun63
Sellmaier 2008, 119.
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des gefragt wird. Kants Entgegnungsschrift von 1979 verteidigt dann bekanntlich auch für dieses Beispiel die Auffassung, dass das Lügenverbot keine Ausnahmen kennen darf. 64 Entscheidend ist in meinen Augen nun, dass dieser moralische Konflikt nur im Rahmen von Kants Lehre von unbedingten Pflichten ein Kandidat für ein ›moralischen Dilemmas‹ ist, während man sich jenseits dieser Moralphilosophie wohl ohne langes Nachdenken selbstverständlich für die Lüge entscheiden würde. Bezeichnenderweise hat Kant selbst in seinen unveröffentlichten Vorlesungen über die Ethik von 1775 bis 1780 sein striktes moralphilosophisches Aufrichtigkeitsgebot mit dem Zugeständnis abmildert, dass man zumindest einem Räuber keine aufrichtige Auskunft über sein mitgeführtes Geld geben müsse. 65 Das kann in meinen Augen nur bedeuten, dass (zumindest der vorkritische 66) Kant selbst wusste, dass man nicht im ganz strengen Sinne ›Kantianer‹ sein kann, weil eine zu Vgl. Kant 1797. Von diesem Gebot kann es nach Kant noch nicht einmal unter den geschilderten Umständen eine Ausnahme geben. Und falls der Protagonist der Situation etwa meinen sollte, dass eine Kollision von Pflichten vorliegen könnte, weil schließlich gegenüber der Aufrichtigkeitspflicht nichts Geringeres als das Leben des Freundes auf dem Spiel steht, dann irrt der Protagonist nach Kant, weil es eine Kollision von Pflichten ja per definitionem nicht geben kann. Dem Einwand, dass man sich durch Aufrichtigkeit im vorliegenden Fall eventuell am Tod des Freundes schuldig machen würde, begegnet Kant mit dem Hinweis darauf, dass man nur für seine eigenen Entscheidungen verantwortlich sei, so dass für den Mord einzig der Mörder zur Rechenschaft zu ziehen sei. Wenn es nun kein Recht zur Lüge gibt, kann es nach Kant auch keine Pflicht zur Lüge geben, so dass der Freund im vorliegenden Falle nicht einfordern könnte, dass zum Schutz seines Lebens gelogen werde. 65 Kant 1990, 244. Vgl. dazu auch Donogan 1987, 274. 66 Man könnte sicherlich einwenden, dass es sich bei den Skizzen zu den Vorlesungen um nicht-autorisierte Überlegungen des vorkritischen Kant handelt. Dagegen könnte man mit Paton allerdings darauf verweisen, dass die Thesen in Kants Spätschrift von 1797 auch auf Altersstarrsinn zurückzuführen sein könnten: In einem Briefwechsel mit Ebbinhaus bezeichnet Paton das rigorose Lügenverbot als Anzeichen für Altersstarrsinn des mittlerweile 73-jährigen Kants mit dem Argument, dass Kant in seinen Ethik-Vorlesungen aus den Jahren 1775 bis 1780 ausdrücklich die Ausnahme vom Lügenverbot zulässt, dass man einem Räuber nicht aufrichtige Auskunft über sein mitgeführtes Geld geben müsse, um nicht bestohlen zu werden. Paton 1986, 58, Verweis auf Kant 1990, 274. Dem hält Ebbinhaus entgegen, dass die Lügenschrift autorisiert sei und die Vorlesungsmitschriften nicht. Vor allem aber sei das rigorose Lügenverbot im Gesamtkontext von Kants reifer Moralphilosophie stimmig, während die Vorlesungen zur Ethik aus der vorkritischen Zeit stammten. Ebbinhaus 1954. Es ist müßig, an dieser Stelle in die Debatte einzutreten – fest steht, dass die Vorlesungen zeigen, dass zumindest der frühe Kant selbst Zweifel an einer strikten Anwendbarkeit des Aufrichtigkeitsgebotes hatte. 64
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konsequente Ausrichtung an den Grundprinzipien gleich welcher Moralphilosophie zu kontraintuitiven moralischen Urteilen führen würde. (ii) Ein zweites Beispiel wäre Platons ›Waffendilemma‹ : Nachdem Sokrates’ Gesprächspartner Cephalus die ›Gerechtigkeit‹ als »Wahrheit reden und was man empfangen hat, wiederzugeben« definiert hat, fragt ihn Sokrates in Platons Politeia, ob man eine geliehene Waffe etwa auch dann zurückgeben müsse, wenn der Freund, von dem man die Waffe geliehen hat, dem Wahnsinn verfallen sei. 67 Auch dieser moralische Konflikt wäre in der alltäglichen moralischen Praxis kein Kandidat für ein ›moralisches Dilemma‹, sondern nur im Rahmen einer Moralphilosophie, die das Halten eines Versprechens unter allen Umständen als unbedingte Pflicht behauptet. (5.2.2) Der zweite Typ des konstruierten Dilemmas verfährt umgekehrt: Er zeigt die Grenzen einer Moralphilosophie durch den Aufweis auf, dass es sich bei manchen moralischen Konflikten, die sich vom Standpunkt der attackierten Moralphilosophie scheinbar eindeutig auflösen lassen, tatsächlich um Kandidaten für ein moralisches Dilemma handelt. (i) Ein Beispiel wäre das Jim-Dilemma, das Bernard Williams in einer Schrift Consequentialism and Integrity konstruiert, um die Grenzen der konsequentialistischen bzw. utilitaristischen Moralphilosophie aufzuzeigen. 68 Vom konsequentialistischen Standpunkt wäre das Erschießen des einen Indianers unzweideutig die richtige Lösung. Genau das scheint aber vom Standpunkt einer intuitiv gestützten Alltagsmoral gar keine einfache Entscheidung zu sein, weil der moralische Akteur mit dieser Entscheidung schließlich eigenhändig einen Menschen erschießen müsste, der ihm nichts zuleide getan hat. Im Unterschied zum Lügen-Dilemma handelt es sich beim Jim-Dilemma also nicht um ein moralisches Dilemma, das aus den Vorgaben einer Moralphilosophie erst entsteht, sondern um einen moralischen Konflikt, der im Rahmen der von Williams attackierten Moralphilosophie einfach zu lösen zu scheint, der aber jenseits dieser Moralphilosophie eben doch ein Kandidat für ein moralisches Dilemma ist. Die Funktion des JimDilemmas ist für die utilitaristische Moralphilosophie diesem Unterschied zum Trotz jedoch dieselbe wie die Funktion des Lügendilemmas für Kants Moralphilosophie: Es führt die utilitaristische Theorie der Moral an ihre Grenze. Wenn Hare sich also weigert, sich mit einem 67 68
Platon 1958b, 331c. Diskutiert wird dieses Dilemma u. a. in Boshammer 2008, 149 f. Williams 1988, 34. Vgl. den Beginn von Kapitel 2.
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alltagsfernen »bizarren« 69 Konflikt wie dem Jim-Dilemma zu befassen, ignoriert er die Tatsache, dass es bei solchen Dilemmata gar nicht um Strategien der Lösung konkreter moralischer Probleme 70 geht, sondern vielmehr um ein Abklopfen der Grenzen der Leistungsfähigkeit seiner moralphilosophischen Theorie. (ii) Ein weiteres Beispiel desselben Typs wäre das Dilemma des Abraham, dem Gott befiehlt, seinen einzigen Sohn Isaac zu opfern. Thomas von Aquin behandelt in der Quaestio 64.6 seiner Summa Theologica die Frage, ob Abraham seinen Sohn tatsächlich hätte töten müssen, wie es Gott von ihm verlangt hat, obwohl der Sohn unschuldig ist. Die Antwort des Moralphilosophen Thomas von Aquin fällt eindeutig aus: Wer auf »Gottes Befehl einen Unschuldigen töte, sündigt als solcher nicht«, weil er mit der Tötung kundtut, »daß er Gott fürchtet, indem er seinen Aufträgen gehorcht« 71. Die Situation ist ähnlich wie im Falle des Jim-Dilemmas: Während die Lösung des Konflikts in der christlich fundierten Moralphilosophie des Thomas von Aquin eindeutig auf der Hand liegt, erscheint der Konflikt jenseits dieser Moralphilosophie als Kandidat für ein moralisches Dilemma, weil man sich kaum vorstellen kann, dass Abraham mit ruhigem Gewissen zur Tagungsordnung übergehen könnte, weil er Gottes Willen gehorcht hat, indem er seinen Sohn tötete. 72 Zur Notwendigkeit der Konsistenz moralphilosophischer Systeme lässt sich damit zusammenfassend sagen, dass diese Frage im angelsächsischen Sprachraum zumeist so diskutiert wurde, dass gefragt wurde, ob die Moralphilosophie Konsistenz in der alltäglichen moralischen Praxis herstellen muss, indem sie Strategien zur Lösung aller hier auftretenden moralischen Dilemmata anbietet (vgl. 5.c.1). Das Resultat der Prüfung dieses Anspruchs lautet, dass es unsere moralische Praxis zwar zweifellos vereinfachen würde, wenn sich hier Widerspruchsfreiheit Hare 1981, 210, 96 f. Verweis auf Williams 1973b. Das allerdings bedeutet wiederum, dass Corinna Mieth zuzustimmen ist mit ihrer These, dass sich die Rechtsgebung nicht an extremen Dilemma-Fällen (engl. hard cases) ausrichten sollte. Vgl. Mieth 2010. Dem ist zuzustimmen, weil es in der Rechtsprechung ja ausdrücklich nicht um die Belange einer Theorie geht, sondern um eine alltägliche Praxis. 71 Aquin 1936, 308 f. Auf die komplexen theologischen Debatten dazu, warum Gott diesen Befehl gegeben hat (und ob er tatsächlich ursprünglich wollte, dass Abraham seinen Sohn opferte), kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. 72 Ein vergleichbarer Einwand wird auch vorgebracht in Sinnott-Armstrong 1988, 106. 69 70
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(d) Die Übertragbarkeit von aussagen- und modallogischen Schlussprinzipien (P3)
herstellen ließe; dass die Moralphilosophie aber vermutlich gar nicht in der Lage wäre, eine so verstandene Konsistenz im Bereich der alltäglichen moralischen Praxis herzustellen, weil moralische Handlungsgründe durch kontingente Umstände in Kraft gesetzt werden, die kein Moralsystem jemals antizipieren kann (vgl. 5.c.2). Das ist aber kein wirklich fatales Resultat, weil wir Widersprüche zwischen Imperativen in der alltäglichen moralischen Praxis in alle Regel nicht als logisches, sondern als pragmatisches Problem betrachten und durchaus brauchbare Strategien zur Umgehung der meisten Widersprüche entwickelt haben (vgl. 5.c.3). Gezeigt hat sich sogar, dass in der moralischen Praxis eine zu strikte Ausrichtung an einem moralphilosophisch aufoktroyierten Konsistenzideal sogar zu kontraintuitiven moralischen Entscheidungen, Haltungen und Urteilen führen kann (vgl. 5.c.4). Hinzuzufügen ist außerdem, dass bestimmte konstruierte Dilemmata zeigen, dass eine strenge Konsistenz von moralphilosophischen Systemen nur zum Preis von moralischen Urteilen erreicht werden kann, durch welche die moralischen Dilemmata entweder überhaupt erst entstehen (5.c.5.2.1) oder die gar nicht so eindeutig moralisch richtig sind, wie sie im Rahmen der jeweiligen Moralphilosophie zu sein scheinen (vgl. 5.c.5.2.2). Insgesamt ist damit festzuhalten, dass auch die zweite Prämisse P2 des deontischen Beweisganges von der Notwendigkeit der Widerspruchsfreiheit von moralphilosophischen Systemen nicht zu halten ist.
(d) Die Übertragbarkeit von aussagen- und modallogischen Schlussprinzipien in den Bereich der Moral (P3) Die drei in 5.a.2 skizzierten Widersprüche ergeben sich nur dann aus der Prämisse des moralischen Dilemmas, wenn man das Agglomerationsprinzip und das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ zur Anwendung bringt. Beide Prinzipien sind Adaptionen aus der Aussagen- bzw. Modallogik: Das Agglomerationsprinzip entspricht dem aussagelogischen Konjunktions-Prinzip, dem zufolge sowohl a als auch b wahr sind, wenn die Aussagen a und b jeweils für sich genommen beide wahr sind, 73 während das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ eine kantische
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Adaption des alten aristotelischen 74 Prinzips ist, dass ›das Wirkliche auch möglich‹ sein muss. Nachdem sich schon die Forderung nach der Widerspruchsfreiheit moralischer Systeme als nicht haltbar erwiesen hat, stellt sich nun die Frage, ob sich aussagen- und modallogische Prinzipien so bruchlos 75 in den Bereich der Moral übertragen lassen, wie die deontische Logik angenommen hat. (1) Obwohl die Übertragbarkeitsprämisse für das Projekt der deontischen Logik tragend ist, hat sich sogar von Wright als Begründer der deontischen Logik von dieser Prämisse schließlich distanziert. Wie Zoglauer klar herausarbeitet, hatte von Wright in seiner frühen Schrift Deontic Logic von 1951 Normsätze im Sinne der Übertragbarkeitsprämisse »als wahrheitsfähige Propositionen« angesehen und aufgrund dieser Überzeugung »sogar Wahrheitswerttabellen für deontische Ausdrücke« 76 entwickelt. Dann aber soll von Wright auf die Schrift Imperatives and Logic des Skandinaviers Jørgen Jørgensen aus dem Jahr 1937 gestoßen sein. Im Zentrum dieser Schrift stünde die These, dass Imperative im Gegensatz zu Aussagesätzen keine wahrheitsfähigen Sätze seien, so dass sich zwischen Imperativen auch nicht dieselben logischen Beziehungen wie zwischen Aussagesätzen herstellen lassen. Imperative lassen sich gegebenenfalls begründen und plausibilisieren, aber nicht im strengen Sinne als ›wahr‹ ausweisen. Also kann es nach Jørgensen auch nicht dieselben Ableitungsbeziehungen zwischen Imperativen geben wie zwischen Indikativen. 77 Laut Zoglauer soll Jørgensen versucht haben, dieses Problem »durch eine Transformation impeAristoteles 1871, 1047bff. Für Gowans ist diese Prämisse sogar der »wichtigste Faktor«, wenn es um eine Erklärung geht, warum ein so seltsames Projekt wie die deontische Logik überhaupt solche Beachtung von Seiten der etablierten angelsächsischen Moralphilosophie erhalten konnte. Es heißt im englischen Wortlaut: »The most important factor here, at least in the historical development of deontic logic, has been a purported analogy between respectively, the deontic modalities of obligation, prohibition, and permission, and the alethic modalities of necessity, impossibility and possibility«. Gowans 1987, 23. 76 Zoglauer 1998, 92. Zoglauer gibt hier insgesamt einen hervorragenden Überblick über die Entwicklung der deontischen Logik bei Weinberger und von Wright. Vgl. a. a. O. 92–97. Vgl. auch Kalinowski 1973, 138. 77 Es heißt im englischen Wortlaut dazu: »Imperative sentences are not only unable to be conclusions in inferences with indicative premises, but they are unable to function as part of any logical argument at all.« Jørgensen 1937, 289. Zit. nach Zoglauer 1998, 67. Verweis außerdem auf Weinberger 1986. 74 75
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(d) Die Übertragbarkeit von aussagen- und modallogischen Schlussprinzipien (P3)
rativer Sätze in indikative Sätze« 78 zu lösen. Von Wright habe sich davon jedoch nicht überzeugen lassen. Vielmehr habe er es bereits im Jahr 1957 als »Fehler« bezeichnet, »Normen als eine Art Proposition zu behandeln, die wahr oder falsch sein können« 79. In den achtziger Jahren soll von Wright dann sogar einen »normenlogischen Skeptizismus« vertreten und »die Existenz logischer Beziehungen zwischen Normen« 80 ganz bezweifelt haben. Auf von Wright kann man sich also nicht berufen, um die Übertragbarkeitsprämisse zu verteidigen. (2) In der angelsächsischen Debatte steht vor allem der frühe Richard M. Hare für die Übertragbarkeitsprämisse. Obwohl er schon früh auf Schwierigkeiten hingewiesen wurde 81, versuchte er unter dem Einfluss des Essays von von Wright im zweiten 82 Kapitel von The LanZoglauer 1998, 69. Zoglauer 1998, 92. Verweis auf Wright 1977, 4 (insb. Anm. 2); sowie auf Wright 1994, 9. 80 Zoglauer 1998, 92. Verweis auf Wright 1994, 39 f., 47 f. Die Moral soll von Wright zu diesem Zeitpunkt als »Theorie der Prinzipien des rationalen Gesetzgebers« betrachtet haben. Wie Zoglauer weiterhin erläutert, ist die deontische Logik für von Wright fortan »weder eine Logik der Normen noch eine Logik der deskriptiv interpretierten deontischen Sätze, sondern eine Sammlung von Regeln, die eine jede Normgebung befolgen muss, um als vernünftig angesehen werden zu können«, wodurch der »ursprüngliche Anspruch der Normenlogik, nämlich eine Sammlung objektiver normativer Gesetze zu sein, erheblich abgeschwächt« würde. Beim späten von Wright bleibt nur der Anspruch, dass »die normenlogischen Gesetze« vorführen, wie ein Normensystem beschaffen sein muss, »um als vernünftig (angemessen, sinnvoll) gelten zu können«. Damit behält die deontische Logik aber immerhin den »pragmatischen Sinn«, dass sie »Regel vernünftigen Argumentierens« im Bereich der Moral bzw. die »Prinzipien einer rationalen Gesetzgebung« beschreiben kann. Zoglauer 1998, 94–97. Verweis auf Wright 1994, 54 f. Wie Zoglauer betont, stammt der Ausdruck ›Theorie des rationalen Gesetzgebers‹ von Weinberger 1986, 66. Zoglauer 1998. A. a. O. 94. Binnenzitat Wright 1994, 10. 81 Vgl. dazu u. a. Ross 1941 sowie Prior 1954 sowie Chisholm 1963. Erwähnt in Gowans 1987, 23. 82 Im ersten Kapitel I.1 distanziert sich Hare von einigen anderen Versuchen der Rückführung von Imperativen auf Indikative. Im Detail werden folgende Möglichkeiten diskutiert: (1) Die Reduzierung von Imperativen auf Aussagen über den Bewusstseinszustand des Sprechers lehnt Hare mit dem Argument ab, dass eine Handlungsaufforderung kein Bewusstseinszustand sei. Hare 1952, 24 f. (2) Die Reduzierung auf die Androhung eines Zustandes, falls ein anderer Zustand nicht herbeigeführt wird, lehnt er u. a. deshalb ab, weil mit einem solchen Drohmodell Bitten nicht erklärt werden könnten. Hare 1952, 25–30. Verweis auf Bohnert 1945, 302. (3) Den Vorschlag der Reduzierung von Imperativen auf ein Ausdrücken von Wün78 79
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5. Die deontische Logik und das moralische Dilemma als Inkonsistenz der Moral
guage of Morals unter der Überschrift Imperative und Logik mit Hilfe einer Variante des sogenannten Neustika-Phrastika-Modells den Aufweis zu erbringen, dass es zu jedem imperativischen Satz einen komplementären indikativischen Satz desselben Inhalts gibt, den Hare als ›Phrastikon‹ bezeichnet. So hätten der imperativische Satz »Schließe die Tür« und der indikativische Satz »Du wirst die Tür schließen« den gemeinsamen Inhalt »Dein Schließen der Tür in unmittelbarer Zukunft«. Diejenigen grammatischen Elemente, die das Phrastikon in einen imperativischen oder einen indikativischen Satz verwandeln, bezeichnet Hare als ›Neustika‹. Seine zentrales Argument für die prinzipielle Gleichheit der logischen Folgebeziehungen zwischen imperativischen und indikativischen Sätzen (und damit für die hier strittige Übertragbarkeitsprämisse) lautet dann, dass Sätze ihre logischen Eigenschaften von der Bedeutung der verwendeten Wörter (dem Phrastikon) entlehnten, während das Neustikon jeweils nur »grammatischer Zufall« 83 sei. Deshalb liegt es nach Hare auf der Hand, dass die logischen »Folgebeziehungen unserer Wörter dieselben bleiben werden, solange wir unsere Wörter im selben Sinne gebrauchen« 84. Es ist nun überflüssig, die Details dieses Arguments näher zu beleuchten, weil sich mittlerweile alle einschlägigen Autoren einschließlich Richard M. Hare selbst vom Projekt einer an der Logik der Indikative orientierten ›Logik der Imperative‹ verabschiedet haben. Es reicht, die groben Stationen aufzuzeigen. (2.1) Ein früher Gegner von Hares Projekt war E. John Lemmon: schen lehnt er u. a. mit dem Argument ab, dass viele nüchterne Befehle nicht den emotionalen Sehnsuchtscharakter von Wünschen hätten. Hare 1952, 38 ff. Verweis auf Ayer 1936, 108 f.; sowie Ayer 1954, 231 ff. (4) Gegen eine Reduzierung auf Aussagen über moralische Einstellungen spricht er sich u. a. mit Hinweis darauf aus, dass viele konkrete Befehle nichts mit universalen moralischen Einstellungen zu tun hätten. Hare 1952, 30 f. Verweis auf Stevenson 1944. (5) Von der (sowohl von Carnap als auch von Ayer und Stevenson schließlich auch vertretenen) Auffassung, dass Imperative sich von Indikativen signifikant unterscheiden, weil Imperative wesentlich Handlungen bewirken sollen, distanziert sich Hare mit dem Argument, dass es dem »rationalen Charakter moralischer Rede« nicht gerecht würde, wenn man Imperative (die zumindest nach Kant ja mit moralischen Urteilen identisch sein sollen) als ›Beeinflussungen‹ auffasst. Hare 1952, 3. 83 Hare 1952, 37 f. Ausnahmsweise kann ich Zoglauer nicht folgen, wenn er sagt, dass es Hare mit dem Phrastik-Neustik-Modell primär um eine »sprachphilosophische und linguistische Fundierung des Unterschieds zwischen Aussagen und Normen« gegangen sei. Zoglauer 1998, 36. 84 Hare 1952, 48.
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(d) Die Übertragbarkeit von aussagen- und modallogischen Schlussprinzipien (P3)
In seinem Essay Deontic Logic and the Logic of Imperatives von 1965 distanziert sich Lemmon nicht nur von der Konsistenzprämisse (vgl. 5.c.1.1 und 5.c.2.1), sondern vor allem von Hares Projekt einer ›Logik der Imperative‹ insgesamt. 85 (2.2) Seinen vermutlich hartnäckigsten Gegner findet Hares Projekt in Bernard Williams. Den Auftakt zu einer jahrzehntelangen Debatte zwischen Hare und seinem ehemaligen Schüler 86 bildete Williams Essay Imperative Inference von 1963, in der Williams als Antwort auf einen Essay von Hector-Neri Castaneda 87 zum ›imperativen Schließen‹ die These zu plausibilisieren versucht, dass es »im allgemeinen nichts gibt, was man als Imperativ-Schluß bezeichnen kann«, weshalb der »Begriff des Schließens« 88 auf Imperative nicht anzuwenden sei. Es folgt der Essay Consistency and Realism von 1966, in dem Williams (neben seinen Argumenten für die unterschiedliche Bedeutung von Widersprüchen bei Indikativen und Imperativen; vgl. 5.c.3.1) auch zwei gewichtige Einwände gegen Hares Phrastik-Neustik-Modell von 1952 entwickelt. (2.2.1) Der erste Einwand lautet, dass das Modell nur plausibel sei, wenn man »das Phrastische mit der Proposition oder dem Fregeschen Gedanken gleichsetzt, und das Neustische des Indikativ mit dem Behauptungsstrich«. Gegen die Gleichsetzung einer Indikativ-Neustik mit dem Behauptungsstrich spricht nach Williams, dass es Sätze gibt, in denen Indikative vorkommen, die jedoch keine Behauptungen sind. Sein Beispiel ist der Satz »Wenn es regnet, zieh Deinen Mantel an«. Das Satzstück »es regnet« sei ein Indikativ, aber im vorliegenden Fall keine Behauptung. 89 (2.2.2) Williams’ zweiter Einwand lautet, dass es »Widerspruchsfreiheit und Widersprüchlichkeit« zwischen »bloßen phrastischen Inhalten« gar nicht geben könne. Das plausibilisiert Williams damit, dass der indikativische Satz ›Schmidt wird heute Nachmittag den Hof nicht fegen‹ und die Aufforderung ›Schmidt, feg doch bitte heute NachmitLemmon 1965. Vgl. 1.c Anm. 15. 87 Castaneda 1960. 88 Williams 1963, 244. Prominente Reaktionen waren u. a. Geach 1963 sowie Rescher 1964. Ein Überblick über die Diskussion findet sich in Bennett 1970. 89 Williams 1966, 300 f. Dem wäre natürlich entgegenzuhalten, dass das Satzstück im vorliegenden Fall ein Konjunktiv ist, der nicht mehr aussage-, sondern modallogisch betrachtet werden muss. 85 86
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tag den Hof‹ offensichtlich nicht in einem Widerspruch zueinander stehen, obwohl das für die jeweiligen phrastischen Gehalte eben doch der Fall ist: Der lautet schließlich im ersten Fall ›Schmidt fegt nicht‹ und im zweiten Fall ›Schmidt fegt‹. 90 (2.3) Hare antwortet in dem Essay Some Alleged Differences Between Imperatives and Indicatives von 1967 91, woraufhin Williams im Jahr 1981 den Essay Ought and Moral Obligation von 1981 92 folgen lässt. Eine Diskussion erübrigt sich jedoch, weil die Debatte meiner Rekonstruktion zufolge im selben Jahr 1981 noch mit Hares Moral Thinking ihren Abschluss findet. Zwar behauptet Hare hier immer noch, dass eine »Theorie der logischen Eigenschaften« der moralischen Wörter gleichbedeutend mit einer Theorie »der Regeln des vernünftigen Nachdenkens über moralische Fragen« sei. Allerdings schränkt er diesen Anspruch dann sofort wieder ein mit der Bemerkung, dass es »falsch« wäre »zu sagen, daß man, um über moralische Fragen gut. bzw. vernünftig nachzudenken, lediglich Logik bzw. Metaphysik zu betreiben braucht« 93. Der späte Hare betont stattdessen neben dem universal-präskriptiven Charakter aller moralischen Urteile den Stellenwert der Präferenzen aller Beteiligten als etwas, das mit den Mitteln der Logik nicht erfasst werden kann. Von einer weitgehenden logischen Gleichbehandlung von Imperativen und Indikativen kann beim späten Hare also keine Rede mehr sein, was dann auch Williams den Wind aus den Segeln genommen hat (vgl. zum späten Hare Kapitel 4). Zur Übertragbarkeitsprämisse weiter ins Detail zu gehen, ist überflüssig angesichts der Tatsache, dass selbst von Wright und Hare nicht an ihr festgehalten haben. Damit ist auch die dritte Prämisse P3 des deontischen Beweisgangs hinfällig. Allerdings kann aus der Tatsache, dass eine grundsätzliche und vollständige Übertragung von Prinzipien aus der Logik der Indikative und Konjunktive in den Bereich der Imperative im Sinne von P3 nicht möglich zu sein scheint, noch längst nicht geschlossen werden, dass einzelne Prinzipien ebenfalls keinen Sinn ergeben und also keine Gültigkeit beanspruchen können. Eine zentrale Stellung in den deontischen Beweisgängen haben das Agglomerations90 91 92 93
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Williams 1966, 300, 303. Hare 1967. Williams 1981b. Hare 1981, 42.
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(e) Das Agglomerationsprinzip (P4)
prinzip (P4) und das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ (P5). Deshalb müssen diese beiden Schlussprinzipien noch einmal gesondert unter die Lupe genommen werden.
(e) Das Agglomerationsprinzip (P4) Wie schon erwähnt, erklärt von Wright die Übertragung des Agglomerationsprinzips in den Bereich der Moral in seinem initialzündenden Essay von 1951 ausdrücklich für zulässig. 94 Das Prinzip behauptet eine deontische Gesetzmäßigkeit, der zufolge sowohl a als auch b getan werden müssen, wenn a und b getan werden müssen. Es kann nun nicht strittig sein, dass das Prinzip eine »intuitive Plausibilität« 95 hat, wie McConnell in seinem Essay Moral Dilemmas and Consistency in Ethics von 1978 betont. Spätestens seit den entsprechenden Einwände von Bernard Williams in seinem Essay Ethical Consistency von 1965 muss jedoch infrage gestellt werden, ob das Prinzip tatsächlich eine ›deontische Gesetzmäßigkeit‹ darstellt, die keine Ausnahmen duldet. (1) Einen eher schwachen Verteidigungsversuch unternimmt Alan Donogan in seiner Abhandlung Consistency in Rationalist Moral System von 1984 mit dem Argument, dass ein vernünftiger moralischer Akteur ein Moralsystem infrage stellen würde, falls sich das Agglomerationsprinzip nicht anwenden lässt. Sein Beispiel sind die Befehle des wahnsinnigen Kapitäns des Schiffs Caine in Hermann Wouks Roman The Caine Mutiny. »Wie ein Kriegsgericht einen Kommandanten als inkompetent aburteilen würde, wenn er Kommandos gibt, die sich nicht agglomerieren lassen«, so würde ein »autonomer moralischer Akteur« nach Donogan ein inkonsistentes Moralsystem als »krank« zurückweisen, dessen moralische Ansprüche sich nicht agglomerieren lassen. Das wiederum beweist, dass die »Aufgabe« des Agglomerationsprinzips lediglich für einen Verrückten ausnahmsweise einmal »Sinn zu machen scheint« 96. Wie oben schon erwähnt, heißt es hier: »O A&B is identical with (OA) & (OB)«. Wright 1951, 13. Gemeint ist nach heutiger Formalisierung: O (a&b) = O (a) & O (b). 95 McConnell 1978, 158. 96 Donogan 1984, 278 f. Es heißt im englischen Wortlaut: »And just as a court martial will judge a commander incompetent if he has made a practice of giving commands that must be ruled invalid when agglomerated, so autonomous moral agents will reject a 94
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(1.1) Nun ist erstens einzuwenden, dass man auch vermuten könnte, dass der Kapitän nicht verrückt ist, sondern seine Mannschaft schikanieren will. Dann würde man sein ›Moralsystem‹ allerdings ebenfalls zurückweisen. (1.2) Stichhaltiger ist deshalb der Einwand, dass wir in aller Regel keineswegs das Moralsystem infrage stellen, wenn sich moralische Ansprüche nicht agglomerieren lassen. Stattdessen fragen wir lediglich, welcher moralische Anspruch vor dem Hintergrund des Moralsystems wohl der wichtigere ist. Das heißt, dass die Agglomerierbarkeit moralischer Ansprüche in aller Regel pragmatisch ebenso verzichtbar wie die Konsistenzforderung an moralische Systeme ist: Sehr viel wichtiger ist hier, dass wir zu intuitiv überzeugenden Lösungen bzw. Entscheidungen moralischer Konflikte geführt werden. (2) Einen ebenfalls schwachen Angriffsversuch unternimmt van Fraassen in seinem Essay Values and the Heart’s Command von 1973. Um zu demonstrieren, dass das Agglomerationsprinzip im Bereich der Moral schlicht »absurd« sei, greift van Fraassen die Situation der griechischen Tragödie auf, dass ein Akteur einem himmlischen und einem irdischen Gesetz gehorchen soll, obwohl sich beide gegenseitig ausschließen. Wenn dieser Akteur vor Gericht gestellt würde, würde ihn der jeweilige Richter nach van Fraassen nicht etwa deshalb verurteilen, weil er nicht beiden moralischen Ansprüchen zugleich Folge leisten kann, sondern deshalb, weil er den moralischen Ansprüchen desjenigen Systems nicht nachgekommen ist, welches der jeweilige Richter vertritt, weil beide Richter sich darauf berufen würden, dass der Angeklagte dem Anspruch ja durchaus hätte Folge leisten können, wenn er sich nur gegen den konfligierenden Anspruch entschieden hätte. 97 Nun kann sicherlich nicht ausgeschlossen werden, dass viele Richter sich auf diesen Standpunkt stellen würden. Dennoch überzeugt van Fraassens fiktive Gerichtssituation nicht von der ›Absurdität‹ des Agglomerationsprinzip, weil man es mit unbarmherzigen (um nicht zu sagen: un-
moral system as ill constructed if there are situations to which its precepts apply, but in which their agglomeration would be invalid.« A. a. O. 279. »For this reason, the only semantics of ought-statements that appears to make sense of abandoning the agglomeration principle is ethical impossible.« A. a. O. 279. 97 Fraassen 1973, 146 f.
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(e) Das Agglomerationsprinzip (P4)
gerechten) Richtern zu tun hätte, wenn sie die Zwangssituation des Akteurs nicht berücksichtigen würden. (3) Einen (auf den ersten Blick) gewichtigeren modallogischen Einwand hat Bernard Williams in seinem Essay Ethical Consistency von 1965 vorgebracht. Weil er keine »weite Reise über das stürmische Meer der deontischen Logik« antreten möchte, skizziert Williams seinen ersten Einwand hier allerdings nur kryptisch mit der Bemerkung, dass ihm das Agglomerationsprinzip »in rein logischer Hinsicht alles andere als zwingend erscheint«, insofern es in einem »modalen Kontext« 98 angewandt wird. (3.1) Bei einer Überprüfung der Gültigkeit des Agglomerationsprinzips im Bereich der modalen Logik 99 ergibt sich nun ein zwiespältiges Bild. (3.1.1) Williams ist insofern Recht zu geben, dass das Agglomerationsprinzip für das Mögliche nicht zu verteidigen ist. Es würde besagen, dass sowohl a als auch b möglich sein müssen, wenn a und b für sich genommen möglich sind. In der modalen Logik steht das Zeichen } für ›möglich‹. Das Agglomerationsprinzip würde für den Bereich des Möglichen damit also behaupten, dass [} a & } b → } (a&b)]. Tatsächlich kann man das jedoch nicht behaupten. Schließlich ist es unter den Bedingungen einer monogamen Gesellschaft durchaus möglich, dass Thomas Susanna (} a) und Johanna (} b) heiratet. Damit ist es allerdings noch längst nicht möglich, dass Thomas sowohl Susanna als auch Johanna [} (a&b)] heiraten kann, womit das Agglomerationsprinzip im Bereich des Möglichen im Sinne der Formel [} a & } b → } (a&b)] offensichtlich nicht gültig ist. (3.1.2) Im Bereich des Notwendigen scheint das AgglomerationsWilliams 1965a, 287. Gegenstand der Modallogik sind Sätze vom Typ ›x ist möglicherweise wahr‹ oder ›x ist notwendigerweise wahr‹, während sich die Aussagenlogik auf Sätze des Typs ›x ist der Fall‹ konzentriert. Der sogenannten ›Kripke-Semantik‹ aus dem Jahr 1959 zufolge ist der Satz ›x ist der Fall‹ wahr, wenn es eine (zugängliche) Welt gibt, in der x der Fall ist, während der Satz ›x ist der Fall‹ notwendigerweise wahr ist, wenn x in allen möglichen Welten notwendigerweise der Fall sei muss. Nur möglicherweise wahr ist der Satz ›x ist der Fall‹ hingegen, wenn das Gegenteil von x nicht notwendigerweise (sprich: unabhängig von kontingenten Umständen in allen möglichen Welten) falsch ist. So ist der Satz ›10 � 10 = 100‹ beispielsweise notwendigerweise wahr, während der Satz ›Deutschland ist in zwei Staaten geteilt‹ nicht notwendigerweise wahr ist, obwohl er bis 1989 wahr war und also zumindest möglicherweise wahr ist.
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prinzip hingegen gültig zu sein. Es würde besagen, dass a und b notwendig der Fall sein müssen, wenn sowohl a als auch b notwendig der Fall sind; formalisieren lässt es sich als [& (a) & & (b) → & (a&b)]. Notwendig wahr ist der Satz ›10�10 = 100‹. Ebenso notwendig wahr ist der Satz ›alle Schimmel sind weiß‹. Offensichtlich ebenso notwendig wahr ist der Satz ›10�10 ist hundert, und außerdem sind alle Schimmel weiß‹. Falls sich daraus ein Widerspruch ergeben sollte, würde man unmittelbar schließen müssen, dass & (a) oder & (b) oder gar beide Sätze falsch sein müssen. (3.2) In seinem Essay Moral Dilemmas and Consistency in Ethics von 1978 behauptet McConnell nun unter Bezugnahme auf Williams’ Essay von 1965, dass sich zwar nicht ausnahmslos alle Prinzipien der Modallogik durch Ersetzung der entsprechenden Operatoren (& Notwendig → O Sollen/ } Möglich → P Erlaubtsein) in die Logik des Sollens übertragen ließen. Speziell die Übertragung des modallogischen Agglomerationsprinzips zum Notwendigen sei jedoch angemessen, weshalb McConnell das deontische Agglomerationsprinzip [O (a) & O (b) → O (a&b)] für gültig erklärt. 100 Damit lautet die entscheidende Frage, ob sich das Agglomerationsprinzip aus dem Bereich des Notwendigen so bruchlos in den Bereich der Moral übertragen lässt, wie McConnell behauptet. Diesbezügliche Zweifel meldet Ruth B. Marcus in ihrem Essay Moral Dilemma and Consistency von 1980 an, wobei ihr Argument allerdings nicht überzeugen kann. Aus der Tatsache, dass das Agglomerationsprinzip im Bereich des Möglichen nicht gilt, wird in dem Essay nämlich geschlossen, dass es im Bereich der Moral ebenfalls nicht gelten müsse. 101 Dieses Argument kann nicht überzeugen, weil von McConnell (und der deontischen Logik insgesamt) ja gar keine Analogie zwischen dem Möglichen und dem Sollen, sondern vielmehr zwischen dem Notwendigen und dem Sollen behauptet wird. Im Bereich des Notwendigen ist das Agglomerationsprinzip jedoch gültig. Damit kann der modallogische Einwand weder in Williams’ ursprünglicher noch in Marcus’ spezifizierter Variante von der Ungültigkeit des Agglomerationsprinzips im Bereich des Sollens überzeugen.
100 McConnell 1978, 158. Die Ausnahmen, die McConnell benennt, tun hier nichts zu Sache. 101 Marcus 1980, 200.
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(e) Das Agglomerationsprinzip (P4)
(4) Einschlägig ist diesbezüglich der zweite Einwand von Williams’ Essay Ethical Consistency gegen das Agglomerationsprinzip. Er besagt im Kern, dass es »auf dem allgemeinen Gebiet der Wertungen gewiss viele Handlungsbeschreibungen« gibt, »für die Agglomeration nicht gilt«. Williams konzentriert sich auf das Wünschen. So könne Thomas »eine Ehe mit Susanna und eine Ehe mit Johanna« vollziehen wollen, was aber sicherlich nicht bedeuten könne, dass Thomas »beide Dinge gleichzeitig tun« will. Obwohl er einräumen muss, dass er über eine ähnlich »schlüssige Widerlegung des Agglomerationsprinzips« 102 im Bereich des Sollens nicht verfüge, äußert Williams den Verdacht, dass das Agglomerationsprinzip im Bereich des Sollens vermutlich ebenso wenig gilt wie im Bereich des Wünschens. (4.1) Um einem verbreiteten Missverständnis zuvorzukommen: Mit diesem Argument bestreitet Williams nicht, dass es möglich ist, sich Unvereinbares zu wünschen. Insofern ist es irreführend, wenn Sinnott-Armstrong 1988 darauf verweist, dass es durchaus vorkommen könne, dass jemand sich zwischen zwei Frauen nicht wirklich entscheiden kann und am liebsten beide heiraten würde. 103 Dasselbe gilt für Zoglauers Hinweis, dass es möglich sei, »Widersprechendes zu wollen oder sich zu wünschen«, weil das Wünschen anders als das Sollen vom Können unabhängig sei: Es ist mit Williams Argument nämlich gar nicht strittig, dass es »dicke Menschen« geben kann, die »gerne gut und reichlich essen«, aber dennoch »abnehmen« wollen, oder dass jemand »heute Abend« sowohl ins Theater als auch ins Kino gehen will, obwohl er weiß, dass er »nicht beides tun« kann, »da die Theater- und Kinoaufführung zur gleichen Zeit stattfinden« 104. Die Pointe von Williams’ Argument lautet vielmehr, dass es im Feld der Wünsche zu Konstellationen kommen kann, unter denen es unvernünftig wäre, sich die gleichzeitige Erfüllung von zwei Wünschen zu wünschen, weshalb man sich eine solche gleichzeitige Erfüllung auch nicht wünschen würde. (4.2) Nun kann es unterschiedliche Gründe geben, aus denen man sich die gleichzeitige Erfüllung von zwei Wünschen nicht wünschen würde.
Williams 1965a, 289. Sinnott-Armstrong 1988, 127 f. Im englischen Wortlaut heißt es: »But if Tom has even a weak desire to marry both Susan and Joan, then Williams’ example fails to refute agglomeration for desires or wants.« A. a. O. 128. 104 Zoglauer 1998, 109. 102 103
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(4.2.1) Ein Grund könnte die Einsicht sein, dass es Wünsche gibt, von denen man weiß, dass sie unmöglich gleichzeitig erfüllt werden können, weil sie sich gegenseitig ausschließen. Dem wäre allerdings entgegenzuhalten, dass es nicht per se unvernünftig sein muss, Unmögliches bzw. Unerfüllbares zu wünschen: Wie Zoglauer treffend betont, wären viele Utopien wie beispielsweise die Sehnsucht, auf den Mond fliegen zu können, niemals erfüllt worden, wenn es nicht Menschen gegeben hätte, die an scheinbar unerfüllbaren Wünschen festgehalten haben. Dem könnte man wiederum entgegenhalten, dass sich ausschließende Wünsche anders als utopische Wünsche tatsächlich (sprich eben nicht nur scheinbar bzw. unter den gegebenen Umständen) unerfüllbar seien. Wie Williams 105 jedoch selbst ausdrücklich betont, können auch Konflikte zwischen sich ausschließenden Wünschen ihre Ursache in kontingenten Umständen haben, die sich als solche ändern lassen. In diesem Falle kann es wiederum vernünftig sein, sich der momentanen Unerfüllbarkeit zum Trotz dennoch die Erfüllung beider Wünsche zu wünschen, weil es ja sein kann, dass sich durch eine Veränderung der Umstände beide Wünsche doch noch erfüllen lassen. Vielleicht lässt sich ein Medikament entwickeln, welches die Kalorienverbrennung steigert, je mehr jemand isst? Dann könnte der Dicke weiterhin viel essen und trotzdem abnehmen. Festzuhalten bleibt gegen Williams damit, dass es nicht per se unvernünftig sein muss, an sich ausschließenden Wünschen festzuhalten, weil sich die kontingenten Bedingungen der Erfüllbarkeit der Wünsche ja ändern können. Damit ist festzuhalten, dass das Agglomerationsprinzip im Falle von sich ausschließenden Wünschen durchaus gilt. (4.2.2) In seinem Essay Moral Conflict von 1971 weist Trigg darauf hin, dass viele Wunschkonflikte entstünden, weil die Erfüllung von zwei Wünschen »zu viel des Guten« 106 wäre. Tatsächlich benennt 105 Williams’ Beispiel ist eine Person, die gleichzeitig sowohl den Wunsch nach einem Getränk verspürt als auch den Wunsch, träge in ihrem Sessel sitzen bleiben zu können. Sobald eine zweite Person den Raum betritt, könnte diese Person um das Getränk gebeten werden, und der Wunschkonflikt wäre gelöst. Williams 1965a, 265. 106 Im englischen Wortlaut heißt es: »To be presented with both Susan and Joan would be too much of a good thing.« Trigg 1971, 45. Triggs Essay geht insgesamt für die Auffassung in den Ring, dass Williams einen sachlich zutreffenden Einwand mit einer falschen Analogie zu begründen versucht habe, weil nach Trigg Wünsche dem Agglomerationsprinzip gehorchen, moralische Ansprüche jedoch nicht. Deshalb führt er das Argument ins Feld, dass unvereinbare Wünsche in aller Regel nicht logisch unvereinbar
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(e) Das Agglomerationsprinzip (P4)
Trigg damit einen sehr gewichtigen Grund für die Annahme, dass man nicht unbedingt die gleichzeitige Erfüllung von zwei Wünschen wollen muss, deren Erfüllung man jeweils einzeln für sich genommen wünscht. So wird Tom wohl tatsächlich nicht wünschen, sowohl Joan als auch Susan heiraten zu können, falls er allen Harems-Fantasien zum Trotz weiß, dass er schon Schwierigkeiten hätte, die Ansprüche zu erfüllen, die eine der beiden Frauen an ein Zusammenleben in der Ehe stellen würde. Festzuhalten ist damit zunächst einmal, dass es im Feld der Wünsche tatsächlich vorkommen kann, dass man die gleichzeitige Erfüllung von zwei Wünschen nicht will, obgleich man sich die Erfüllung jedes der Wünsche wünscht, weil das ein ›zu viel des Guten‹ sein könnte. (4.3) Damit stellt sich die Frage, ob es vergleichbar auch im Bereich des Sollens ein ›Zuviel des Guten‹ geben kann. (4.3.1) Nun scheint ausgerechnet Williams selbst einen solchen Analogieschluss mit dem Hinweis darauf ausgeschlossen zu haben, dass es im Bereich des Wünschens mit der Ataraxie eine Technik zur Abmilderung von Wünschen gibt, die ›des Guten zu viel‹ sind, deren Anwendung im Bereich des Sollens jedoch zynisch wäre. 107 (4.3.2) Wie die Diskussionen über Phänomene der moralischen Supererogation 108 beweisen, scheint es im Bereich des Sollens aber doch ebenfalls ein ›des Guten zu viel‹ zu geben. Von ›moralischer Supererogation‹ spricht man, wenn ein moralischer Akteur mehr moralischen Anforderungen nachkommt, als an ihn tatsächlich gestellt sind; Hare spricht auch von »Heiligen« 109. Wenn man über einen moralischen Akteur sagt, er handele supererogatorisch, behauptet man nun genau das, was hier strittig ist: dass er nämlich ›des Guten zu viel‹ tut, weil er dem Agglomerationsprinzip entsprechend schlicht allen moralischen Anforderungen nachkommt, von denen er glaubt, dass sie an ihn gerichtet sind. Daraus wiederum ist in meinen Augen zu schließen, dass das Agglomerationsprinzip in der moralischen Praxis zwar meistens gilt, dass wir es aber sofort bereitwillig aufgeben, wenn wir den Eindruck haben, dass es einen moralischen Akteur überfordern würde. seien, sondern darauf beruhen würden, dass die Erfüllung beider Wünsche ›des Guten zuviel‹ wäre. 107 Williams 1965a, 281–285. Vgl. im Detail 6.a.2.4. 108 Vgl. dazu Raters Forthcoming. 109 Hare 1981, 259–277. Das moralische Dilemma
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(5) In dieselbe Richtung deutet Williams’ dritter Einwand des vernünftigen Ratgebers. (5.1) Das Argument des vernünftigen Ratgebers nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Situation des Agamemnon, der sowohl dem Gebot nachkommen musste, seine Tochter nicht zu töten, als auch »seiner Verantwortung als Befehlshaber, den Feldzug voranzubringen«. Würde Agamemnon nun einen Ratgeber befragen, könnte dieser nach Williams vernünftigerweise nicht sagen, dass Agamemnon tatsächlich »beide Dinge tun« solle. Vielmehr müsse der vernünftige Ratgeber betonen, dass Agamemnon »jedes dieser Dinge tun« soll, weil er schließlich wisse, »daß er zwar nicht beide Dinge tun kann«, dass aber »von jedem einzelnen dieser Dinge« gilt, »daß er es tun kann«. Das zeigt Williams, dass das Agglomerationsprinzip im Bereich der Moral zumindest dann keine Gültigkeit haben kann, »insofern man es so versteht, dass ›beide Handlungen gleichzeitig‹ gemeint sind, und nicht jede für sich« 110, weil es Situationen gibt, in denen man dazu vernünftigerweise nicht raten kann. Der vernünftige Ratgeber muss nach Williams raten, dass Agamemnon einer der beiden Pflichten nachkommen muss, ohne dass er dabei jedoch den »Anschein« erwecken könnte, »das andere Sollen gelte« plötzlich »nicht« 111 mehr. Ein (pragmatisch) vernünftiger Ratgeber würde nach Williams das Agglomerationsprinzip in einer Situation sich ausschließender Imperative also aufgeben. Mit diesem Argument zeigt Williams also ebenfalls, dass das Agglomerationsprinzip in der moralischen Praxis zwar meistens gilt, dass wir es aber sofort bereitwillig aufgeben, wenn wir den Eindruck haben, dass seine Anwendung in einer konkreten moralisch prekären Situation kontraproduktiv oder sogar unsinnig wäre. (5.2) Dieselbe Stoßrichtung hat Sinnott-Armstrongs Argument der Nicht-Summierbarkeit von moralischen Handlungsgründen 112. Hier geht es um ein Szenario, in welchem ein Professor zwei Studenten A und B hat, die er auf eine am nächsten Tag anstehende Prüfung vorbereiten soll, obwohl er nur eine einzige Sprechzeit um 15 Uhr zur Verfügung hat. Eine gleichzeitige Beratung schließt sich aus, weil beide zu unterschiedlichen Themen geprüft werden sollen. Weil keiner von beiWilliams 1965a, 289 f. Williams 1965a, 296. 112 Wie in 2.a schon gesagt, versteht Sinnott-Armstrong unter ›Handlungsgründen‹ näherhin ›moralische Ansprüche‹ (moral requirements). Sinnott-Armstrong 1988, 7. 110 111
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(e) Das Agglomerationsprinzip (P4)
den die Prüfung bestehen würde, wenn der Professor die Beratungszeit gleichmäßig teilen würde, steht nach Sinnott-Armstrong fest, dass er zumindest einen von beiden gründlich vorbereiten sollte, womit er gezeigt zu haben glaubt, dass das Agglomerationsprinzip im Bereich des Sollens nicht per se Gültigkeit haben kann. 113 Nun bestreitet SinnottArmstrong mit seinem Argument wiederum nicht, dass der Professor eigentlich beide beraten sollte, so dass seine Verpflichtungen durch eine Entscheidung gegen das Agglomerationsprinzip nicht schlicht aufgehoben wären. Er bestreitet lediglich, dass es vernünftig wäre, in allen moralischen Entscheidungen an dem Agglomerationsprinzip im Sinne einer deontischen Gesetzmäßigkeit ausnahmslos immer festzuhalten. Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass das Agglomerationsprinzip in unserer alltäglichen moralischen Praxis zwar zweifellos zunächst einmal eine relativ selbstverständliche Geltung hat, dass wir 113 Sinnott-Armstrong 1988, 130 ff., 135. Zoglauer interpretiert Sinnott-Armstrongs Beispiel konsequentialistisch. In seinen Augen zeigt es, dass das Agglomerationsprinzip im Bereich des Handelns nicht per se gelten kann, weil Handlungen, die für sich genommen wünschenswerte Handlungsfolgen haben, in Kombination nicht per se wünschenswerte Folgen haben müssen. Zoglauer flankiert Sinnott-Armstrongs Beispiel mit dem Beispiel, dass eine Kombination der Medikamente A und B nicht per se gute Folgen haben müsse, der Tatsache zum Trotz, dass das Medikament A ebenso wie das Medikament B gute Folgen hätten. Zoglauer 1998, 110. Verweis auf Sinnott-Armstrong 1988, 130. Zoglauers Entgegnung lautet, dass »das Agglomerationsprinzip wieder gültig« würde, sobald man die »Einschränkung« aufhebt, dass »jede Handlung nur für sich betrachtet gute Folgen haben darf«, um stattdessen bei der »Beurteilung der Einzelhandlung alle möglichen Umstände« und damit auch »die Möglichkeit einer gleichzeitigen Durchführung der Handlungen A und B« in Betracht zu ziehen. Zoglauer 1998, 110. (1) Zum einen argumentiert Sinnott-Armstrong nicht konsequentialistisch, wobei ich allerdings einräumen muss, dass sein Argument konsequentialistisch gewendet noch stärker wird. (2) Zum anderen wechselt Zoglauer vom Bereich der Moral in den Bereich des Nützlichen bzw. Zweckmäßigen. (3) Sein Argument scheint mir aber vor allem deshalb keine Stoßkraft zu haben, weil man das Agglomerationsprinzip schon positiv behauptet haben muss, um sich verpflichtet zu sehen, bei der Bewertung der Handlungsfolgen von Handlung A auch die möglichen Handlungsfolgen einer Kombination von A&B berücksichtigen zu müssen. Insbesondere deshalb denke ich nicht, dass Zoglauers Wendung dieses Prinzip wirklich ›retten‹ könnte, wobei ich einräumen möchte, dass ich die Pointe seiner Entgegnung vielleicht nicht ganz verstanden habe.
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es aber sofort fallen lassen, falls es uns pragmatisch erforderlich zu sein scheint, weil wir wissen, dass ein starres Festhalten am Agglomerationsprinzip manchmal unvernünftig sein kann. 114 Das wiederum bedeutet, dass es sich bei dem Prinzip nicht um eine echte Gesetzmäßigkeit im Sinne der deontischen Logik 115 handelt, sondern lediglich um die Formalisierung einer nicht allzu stabilen Gewohnheit unserer moralischen Praxis.
(f) Das Aus-Sollen-folgt-Können-Prinzip (P5) Die fünfte Prämisse ist das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹. Bei von Wright wird das Prinzip nicht erwähnt. Ein oft strapaziertes Argument zur Vereidigung dieses Prinzips lautet, dass es als unstrittig gelten müsse, weil es sich um eine Formalisierung eines zentralen Lehrsatzes von Immanuel Kant handele. 116 Aber natürlich haben sich die Gegner der deontischen Logik von diesen Autoritätsargumenten nicht weiter beeindrucken lassen und eine Fülle von Einwänden vorgebracht. Eine Diskussion dieser Einwände sieht sich allerdings mit dem grundsätzlichen Problem konfrontiert, dass kein Konsens darüber besteht, was das Prinzip genau besagen soll. Treffend spricht Williams davon, dass sicherlich viel Klärendes gesagt werden müsse »über das nicht völlig kla-
114 Tatsächlich müsste man das Agglomerationsprinzip also nicht ganz aufgeben. In ihrem Essay Moral Dilemma and Consistency von 1980 schlägt Ruth B. Marcus vor, das Prinzip als »regulatives Prinzip zweiter Ordnung« aufzufassen, dem zufolge man so weit als möglich sowohl a als auch b tun sollte, wenn a und b gefordert sind, wobei das Prinzip aber sofort aufgegeben werden sollte, sobald das nicht möglich sein sollte. Im englischen Wortlaut heißt es: »But the second-order principles is regulative. This second-order ›ought‹ does not imply ›can‹.« Marcus 1980, 200. Das ist in meinen Augen die angemessene Sicht auf das strittige deontische Prinzip. 115 Nach Zoglauer kann das »Agglomerationsprinzip« als »zentrales Prinzip der Normenlogik« nicht »aufgegeben werden, sofern man nicht die ganze Normenlogik (zumindest die klassische Normenlogik) aufgeben will«. Zoglauer 1998, 109. Bei Sellmaier heißt es hingegen, dass »das Agglomerationsprinzip« ein »recht harmloses und deshalb tolerables, aber sicherlich nicht wichtiges Prinzip für den ethischen Diskurs« sei. Sellmaier 2008, 58. Tatsächlich ist es jenseits der deontischen Logik wohl nur im Kontext einer Diskussion über Phänomene der Supererogation wichtig (vgl. 5.e.4.2). 116 Vgl. stellvertretend McConnell 1978, 158. Die Konjunktur dieses Autoritätsarguments wird auch betont in Zoglauer 1998, 108.
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(f) Das Aus-Sollen-folgt-Können-Prinzip (P5)
re Prinzip ›sollen impliziert können‹« 117. Im groben Zugriff lassen sich vier Bedeutungen 118 unterscheiden. (1) Einer ersten trivialen Lesart zufolge könnte das Prinzip besagen, dass durch irgendeine Instanz (wie beispielsweise den sittlichen Weltherrscher) garantiert wird, dass der Mensch den moralischen Ansprüchen tatsächlich auch Folge leisten kann, die an ihn gestellt werden. Im Volksmund hat diese Lesart des Prinzips ihren Ausdruck in dem Motto ›Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg‹ gefunden. (1.1) Dieses Motto kann wiederum zum einen im Sinne eines moralischen Appells besagen, dass man aufrichtig und ernsthaft alle Möglichkeiten ausloten müsse, ehe man vor einer moralischen Herausforderung kapitulieren darf. In diesem appellativen Sinne ist gegen das Motto nichts einzuwenden, und tatsächlich wird das Motto im Volksmund in aller Regel so gebraucht. Als bloßer Appell kann es in einem deontischen Beweis allerdings keinen Stellenwert haben. (1.2) Einen Stellenwert in einem deontischen Beweis könnte das Williams 1965a, 288. (1) Sinnott-Armstrong unterscheidet drei mögliche Lesarten, die er dann als unplausibel zurückweist. Die kritisierten Lesarten sind (i) ein semantisches zur-Folge-haben, (ii) ein semantisches zur-Voraussetzung-haben und (iii) eine Bedingungsrelation in einem universalen moralischen Sinne, der zufolge es nicht sein kann, dass etwas geboten ist, was man nicht befolgen kann. Sinnott-Armstrong 1988, 112. Zurückgewiesen werden die Argumente a. a. O. 112–120. Wenn einschlägig, sind Sinnott-Armstrongs Überlegungen in den Gedankengang dieses Abschnitts mit eingeflossen. (2) Sinnott-Armstrong selbst plädiert für eine gesprächsabhängige Gültigkeit. (2.1) Im Kontext eines Rates solle das Prinzip beispielsweise Anwendung finden, weil es sinnlos wäre, jemandem einen Rat zu geben, den er nicht erfüllen kann. (2.2) Im Falle eines Tadels solle es Anwendung finden, weil es ungerecht sei, jemanden zu tadeln, wenn einem moralischen Anspruch nicht genügt werden konnte. (2.3) Nicht anwenden solle man das Prinzip jedoch, sobald man Pläne für die Zukunft macht. (2.4) Auch im Falle des moralischen Dilemmas kann das Prinzip nach Sinnott-Armstrong keine Anwendung finden, weil man aus der Tatsache, dass sich zwei widersprüchliche moralische Ansprüche nicht erfüllen lassen, in seinen Augen gerade nicht schließen kann, dass man sie (im Sinne Hares beispielsweise) auch gar nicht erfüllen soll. Sinnott-Armstrong 1988, 121–126. Für den Begriff der »gesprächsabhängigen Implikation« von Begriffen und Sätzen (engl. conversational implication) wird verwiesen auf Grice 1975, 67. Bei Zoglauer heißt es: »Sinnot-Armstrong plädiert für eine Abschwächung des Prinzips: er glaubt nicht, dass ein Sollen ein Können semantisch impliziere; dennoch hält er an einer umgangssprachlichen Geltung des Prinzips fest«, Zoglauer 1998, 112. 117 118
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trivial verstandene Prinzip nur haben, wenn es im Sinne eines platten Automatismus versprechen soll, dass sich bei ausreichend gutem Willen ausnahmslos alle Hindernisse ausräumen lassen, die sich einem moralischen Akteur im Zuge der Erfüllung eines moralischen Anspruchs eventuell entgegenstellen können. Das wäre allerdings schon deshalb unglaubwürdig bzw. inakzeptabel, weil sich unzählige Beispiele für Situationen auflisten lassen, in denen ein moralischer Akteur nicht tun kann, was er eigentlich tun sollte. So führt der Essay Moral Conflicts von Michael Stoecker aus dem Jahr 1987 das Beispiel eines Schuldners ins Feld, der seine Schulden natürlich nicht schon allein deshalb zurückzahlen kann, weil er sie zurückzahlen sollte. 119 Ein amüsantes Beispiel findet sich bei Sinnott-Armstrong: Diesem Beispiel zufolge sollte man über den neuen Haarschnitt seines Freundes eigentlich nicht lachen – aber selbstverständlich kann man sich gerade deshalb das Lachen nicht verkneifen. Ein ähnliches Beispiel findet sich in dem Film Monty Python’s Life of Brian aus dem Jahr 1979: Obwohl der Tod am Kreuz droht, kann keiner das Lachen über den Sprachfehler des römischen Statthalters Pontius Pilatus unterdrücken. Die Beispiele zeigen, dass das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ in der trivialen Lesart definitiv nicht zutrifft, der zufolge jeder moralische Akteur jedem moralischen Anspruch in jeder Situation auch Folge leisten können soll. (2) In einem zweiten Sinne könnte das Prinzip auch so interpretiert werden, dass es besagen soll, dass ein Moralsystem ein schlechtes Moralsystem ist, sobald es mit moralischen Ansprüchen konfrontiert, die nicht zu erfüllen sind. (2.1) Verteidigen lässt sich das Prinzip in einer solchen metamoralischen Lesart sicherlich mit dem Hinweis darauf, dass es unmoralisch und grausam wäre, wenn ein Moralsystem die Akteure zu etwas verpflichten würde, was sie nicht leisten können. In diesem Sinne heißt es bei Sellmaier treffend, dass das »Prinzip Sollen impliziert Können« einen »plausiblen« und »wichtigen Kern« habe, weil eine »normative Theorie, die Handlungen fordert, die menschliche Wesen aus prinzipiellen oder physikalischen Gründen nicht zu tun im Stande sind«, nicht als »angemessene« Theorie »akzeptiert werden« 120 könne. Als Beispiel könnte wieder die von Donogan angeführte Situation in Her119 120
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Stoecker 1987. Sellmaier 2008, 58. Vgl. mit derselben Lesart des Prinzips auch Fraassen 1973, 146.
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(f) Das Aus-Sollen-folgt-Können-Prinzip (P5)
mann Wouks Roman The Caine Mutiny angeführt werden: 121 Das Verhalten des Kapitäns ist nicht nur verrückt (wie Donogan betont), sondern aus der Sicht seiner Untergebenen sicherlich auch grausam. In der metamoralischen Lesart ergibt das Prinzip also zweifellos ebenso Sinn wie in der appellativen Variante des Volksmunds. (2.2) Auch als metamoralisches Prinzip ist das Prinzip nach Sellmaier jedoch nur sinnvoll, sobald ein Unterschied zwischen »prinzipiell möglich« und »in jeder Situation möglich« gemacht wird. Sollte diese Unterscheidung hingegen nicht gemacht werden, würde von vornherein »die Vorstellung« ausgeschlossen, dass »es Situationen gibt, in denen von einem Akteur mehr gefordert wird, als er zu tun imstande ist«, so dass die »Möglichkeit genuiner moralischer Dilemmata« von vorneherein ausgeschlossen sei. Weil also eine petitio principii vorliegen würde, wenn man das Prinzip als »deontisches Prinzip auf der Ebene des konkreten normativen Diskurses« diskutieren würde, will Sellmaier das Prinzip lediglich als »ein Prinzip zweiter Ordnung auf der Ebene prinzipiell möglicher Handlungsalternativen« akzeptieren, das es »gestattet, alle plausiblen Handlungsalternativen für das jeweilige Entscheidungsproblem auszuwählen« 122. Dieser Vorschlag ist pragmatisch zweifellos vernünftig. Allerdings würde das Prinzip (wenn man einmal annimmt, dass Sellmaiers Vorschlag in der deontischen Logik Akzeptanz finden könnte) seinen logischen Charakter so sehr verändern, dass es für die Zwecke des deontischen Beweisverfahrens unbrauchbar wäre. Im Beweis der deontischen Logik erscheint es in der Form O (a) → K (a). Als Prinzip zweiter Ordnung im Sinne Sellmaiers hätte es jedoch die Form [O (a) & O (b) & :K (a&b)] → O (a) _ O (b). Wenn man dieses Prinzip an der 6. Stufe der Herleitung des modallogischen Widerspruchs beispielsweise (vgl. 5.a.2.1) zur Anwendung bringt, entstünde folgende Situation: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 121 122
O (a) O (b) : K (a&b) O (a) & O (b) → O (a&b) Daraus folgt: O (a&b) Es gilt: [O (a) & O (b) & :K (a&b)] → O (a) _ O (b) Donogan 1984, 278 f. Sellmaier 2008, 59.
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5. Die deontische Logik und das moralische Dilemma als Inkonsistenz der Moral
7. 8.
Es gilt auch: O (a) & O (b) & :K (a&b) (vgl. 1 und 2 und 3) Damit gilt: O (a) _ O (b) (vgl. 6)
Das, was auf der 8. Stufe gefolgert wird, steht nun in keiner Weise zu irgendeiner zuvor gemachten Behauptung im Widerspruch. Es wird vielmehr gefolgert, dass man im Falle eines moralischen Dilemmas zumindest eine der beiden sich ausschließenden Handlungen vollziehen muss, was ja tatsächlich eine vernünftige Forderung ist. Weil es hier jedoch nicht um eine Verteidigung des ›Aus-Sollen-folgt-KönnenPrinzips‹ als solches geht, sondern um eine Verteidigung dieses Prinzips, wie es in den Beweisen der deontischen Logik zur Anwendung gekommen ist, ist die Einsichtigkeit des nach Sellmaier modifizierten Prinzips hier irrelevant. Aus der Prämisse des moralischen Dilemmas lässt sich unter Anwendung des Prinzips ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ kein modallogischer Widerspruch mehr herleiten, wenn man es im Sinne Sellmaiers als metamoralisches Prinzip zweiter Ordnung auffasst. Dasselbe ließe sich für die anderen Widersprüche ebenfalls zeigen. Damit ist Sellmaiers Modifizierung zwar vielleicht eine Rettung für das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹, aber keine Rettung für das Beweisverfahren der deontischen Logik. (2.3) Entscheidend ist nun, dass dasselbe gilt, wenn man das Prinzip als metamoralisches Prinzip erster Ordnung betrachten würde, das eine prinzipielle Anforderung an Moralsysteme stellt: Auch dann würde das Prinzip in der metamoralischen Lesart gegenüber der Weise, wie es im deontischen Beweis eingesetzt wurde, seinen logischen Charakter in einer Weise ändern, dass es für das deontische Verfahren unbrauchbar wäre. Hier erscheint es in der deskriptiven Form O (a) → K (a). Diese Formel beschreibt ein Folgeverhältnis, dem zufolge man (a) auch tatsächlich tun kann, wenn man (a) tun soll. In der Lesart als metamoralisches Prinzip erster Ordnung hätte das Prinzip keinen deskriptiven Charakter mehr, sondern normativen Charakter, weil es besagen würde, wie ein Moralsystem beschaffen sein soll, weshalb es eigentlich das ›Aus-Sollen-sollte-Können-folgen-Prinzip‹ genannt werden müsste. Formalisieren müsste man das Prinzip dann als O [O (a) → K (a)]. Entscheidend ist nun, dass die Annahme des moralischen Dilemmas wiederum zu keinem Widerspruch führen würde, wenn man das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ als metamoralisches Prinzip erster Ordnung interpretieren würde. Der Beweis sähe vielmehr folgendermaßen aus: 224
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(f) Das Aus-Sollen-folgt-Können-Prinzip (P5)
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
O (a) O (b) :K (a&b) O (a) & O (b) → O (a&b) Daraus folgt: O (a&b) Es gilt: O [O (a) → K (a)] Daraus folgt: O [O (a&b) → K (a&b)] Es gilt: O (a&b) (vgl. 5) Damit folgt: O [K (a&b)] (vgl. 7) Es gilt aber auch: : K (a&b) (vgl. 3).
Zwischen den Schritten 9 und 10 (bzw. 3) besteht offensichtlich kein logischer Widerspruch mehr: Es mag misslich und vielleicht sogar grausam (vgl. 5.f.2.2) sein, wenn etwas gefordert wird, was nicht erfüllbar ist, aber noch nicht einmal im Kontext der deontischen Logik ist jemals behauptet worden, dass eine solche Situation eine logische Kontradiktion im Sinne der klassischen aristotelischen Logik wäre. Das wiederum bedeutet, dass das Prinzip ›Sollen impliziert Können‹ auch als metamoralisches Prinzip (erster oder zweiter Ordnung) hier keine weitere Beachtung finden muss, weil es für die Beweisgänge der deontischen Logik nicht brauchbar wäre. (3) Einer dritten transzendentalen Lesart zufolge kann das Prinzip auch besagen, dass sich aus unserem unmittelbaren Vernunftwissen vom unbedingten (sprich: nicht-empirischen) Verpflichtungscharakter des moralischen Gesetzes (vom Sollen) notwendig die Freiheit unseres Willens (das Können) ableitet, weshalb wir ein Nicht-Können vor unserem Gewissen selbst unter den widrigsten empirischen Umständen als Entschuldigungsgrund letztlich nicht akzeptieren können. Tatsächlich soll das Prinzip ›ultra posse nemo obligatur‹ dem Anhang: Über die Mißhelligkeit zwischen der Moral und der Politik, in Absicht auf den ewigen Frieden in Kants Schrift Zum ewigen Frieden von 1795 zufolge besagen, dass es eine »offenbare Ungereimtheit« sei, gegenüber einem moralischen Anspruch »sagen zu wollen, daß man es doch nicht könne«, nachdem man der Moral schon zugestanden hat, »an sich selbst eine Praxis in objektiver Bedeutung« zu sein »als Inbegriff von unbedingt gebietenden Gesetzen, nach denen wir handeln sollen«. Näher entfaltet wird die zugrundeliegende Auffassung in einer Anmerkung von Kants Kritik der Praktischen Vernunft. Die Überlegungen hier Das moralische Dilemma
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basieren auf der Prämisse, dass wir von der Freiheit unseres Willens kein Erfahrungswissen haben können, weil Erfahrung auf den »Erscheinungen« und mithin auf »den Mechanismen der Natur« beruhe, welche »gerade Widerspiel der Freiheit« sei. »Unmittelbar bewusst« werden wir uns nach Kant jedoch des moralischen Gesetzes, »sobald wir uns Maximen des Willens entwerfen«: Dass es das moralische Gesetz gibt, schreibt uns die praktische Vernunft nach Kant jenseits aller Erfahrungen mit derselben »Notwendigkeit« vor, wie sich die reine Vernunft der »reinen theoretischen Grundsätze bewusst« ist. Entscheidend ist nun, dass die »Vernunft« nach Kant unmittelbar zum »Begriff der Freiheit« geführt wird, sobald sich ihr das moralische Gesetz als »einen durch keine sinnliche Bedingungen zu überwiegenden, ja davon gänzlich unabhängigen Bestimmungsgrund darstellt« 123. Die Freiheit des Willens besagt bei Kant nämlich, dass sich der Mensch (insofern er vernünftig ist) ausnahmslos immer für das entscheiden kann, was er als moralisch geboten begriffen hat. Damit besagt das Prinzip ›AusSollen-folgt-Können‹ in der transzendentalen Lesart Kants, dass aus dem nichtempirischen Wissen um den unbedingten Verpflichtungscharakter des Sittengesetzes unmittelbar auch das Wissen folgt, dass diesem Sittengesetz wegen seines nicht-empirischen Verpflichtungscharakters selbst unter den ungünstigsten empirischen Umständen gegen alle empirisch-zufälligen Interessen, Bedürfnisse und Triebe Folge zu leisten ist, weshalb das Gewissen als der innere Gerichtshof des Menschen jedes ›ich konnte ihm nicht folgen‹ als Entschuldigungsgrund vor sich selbst nicht anerkennen kann. 124 (3.1) Wie Kant selbst antizipiert hat, könnte man dem nun den Fall eines Triebtäters entgegenhalten, der »von seiner wollüstigen Neigung vorgibt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich«. Nach Kant kann es jedoch keinen Zweifel geben, dass der Triebtäter seine »Neigung bezwingen würde«, wenn er wüsste, dass er unmittelbar »nach genossener Wollust« am »Galgen« aufgehängt würde. Darauf könnte man entgegnen, dass die Androhung von Strafen Triebverbrechen erfahrungs123 Kant 1781, 139–140. Wie Kant ausdrücklich betont, wäre er »niemals zu dem Wagstücke gekommen«, die »Freiheit in die Wissenschaft einzuführen, wäre nicht das Sittengesetz und mit ihm praktische Vernunft dazu gekommen, und hätte uns diesen Begriff nicht aufgedrungen«. A. a. O. 140. 124 Vgl. zum nicht-korrumpierbaren Gewissen als innerer Gerichtshof Kant 1797a; sowie Kant 1788, 223 f.
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(f) Das Aus-Sollen-folgt-Können-Prinzip (P5)
gemäß nicht wirklich verhindern kann. Tatsächlich spricht Kant jedoch gar nicht vom Abschreckungscharakter von Strafe, sondern von unserem unbezweifelbaren Wissen über den unbedingten Verpflichtungscharakter des moralischen Gesetzes. Gemeint ist, dass der Triebtäter »unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe« zumindest »zögern« würde, ein »falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann« abzulegen, weil er weiß, dass das moralisch falsch wäre. Entscheidend ist das Zögern: Es beweist nach Kant nämlich, dass selbst der verderbteste Verbrecher unter den drohensten Umständen die Einsicht nicht ganz verdrängen kann, »daß er etwas kann«, weil »er sich bewußt ist, daß er es soll«. Und das zeigt nach Kant, dass selbst ein äußerst verdorbener Mensch in »sich die Freiheit« erkennt, »die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre« 125. (3.2) Gegen eine Verwendung des Prinzips in der transzendentalen Lesart im deontischen Beweis spricht jedoch, dass es sich im Falle eines moralischen Dilemmas um eine ganz andere Art von Nicht-Können handelt als im Falle von übermächtigen Trieben und Neigungen. Schließlich ist es etwas ganz anderes, wenn es einem Akteur schwer fällt, sich wegen übermächtiger Triebe für das moralische Richtige zu entscheiden, als wenn er gar nicht weiß, was das moralisch Richtige ist, weil er sowohl a als auch b tun soll, obwohl sich a und b gegenseitig ausschließen. Dass eine solche Kollision von Pflichten nach Kant ausgeschlossen ist, tut hier nichts zur Sache (vgl. dazu 1.b). Entscheidend ist hier, dass das Prinzip in der transzendenten Lesart ein spezielles Können behauptet, das im Zuge einer Dilemma-Entscheidung gar nicht gefragt ist und somit im Kontext des deontischen Beweisverfahrens gar keinen Platz hat. Das wiederum bedeutet, dass die mögliche transzendentale Lesart des Prinzips hier irrelevant ist, weil es die Situation verfälschen würde, wenn man das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ in der transzendentalen Lesart im Kontext eines Beweises für oder wider die Annahme der Möglichkeit moralischer Dilemmata zur Anwendung bringen würde. (4) Eine vierte Lesart der Aufhebung eines moralischen Sollens durch ein Nicht-Können verteidigt Richard M. Hare in dem Kapitel ›Ought‹ and ›Can‹ seines frühen Buchs Freedom and Reason von 1963. (i) Eine erste Prämisse besagt, dass Menschen, »anders als Steine«, wesentlich 125
Kant 1788, 139 f.
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praktische »Entscheidungen treffen müssen«. (ii) Eine zweite Prämisse lautet, dass praktische Entscheidungen wesentlich Entscheidungen zwischen Alternativen seien. (iii) Die dritte (entscheidende) Prämisse lautet schließlich, dass die Tatsache, dass wir auf diese oder auch auf andere Weise »handeln können«, die Voraussetzung dafür darstellt, dass wir fragen, »wie wir handeln sollen«, um auf diese Frage dann wiederum Antworten von der Form ›ich sollte x tun‹ zu geben. Dieser dritten Prämisse zufolge ist ein Handeln-Können im Spielraum gewisser Alternativen also die notwendige Voraussetzung dafür, dass die Frage nach dem Handeln-Sollen überhaupt sinnvoll wird. Daraus zieht Hare den Schluss, dass das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ auf »ziemlich rohe Weise« den Gedanken formuliere, dass in manchen Fällen des »Nicht-Könnens« der zur Disposition stehende »Imperativ völlig aufgehoben« würde, weil er »inkonsistent mit dem Zugeständnis des Nicht-Könnens« 126 sei. Zwar beziehen sich die Ausführungen des frühen Hare lediglich auf ein physisches Nicht-Befolgen-Können, ein Nicht-Befolgen-Können wegen Unkenntnis des moralischen Anspruchs sowie ein Nicht-Befolgen-Können aus Willensschwäche 127. 126 Es heißt im englischen Wortlaut: »These reasons are connected with the fact, that we, unlike stones, have to make choices and decisions about what to do.« Hare 1963, 51. »It is because I can act in this way or that, that I ask ›Shall I act in this way or that?‹ ; and it is typically, in my deliberations about this ›Shall I‹ question that I ask the further, but related question ›Ought I to do this or that‹.« A. a. O. 51. »Thus it is because they are prescriptive that moral words possess that property which is summed up, perhaps overcruelty, in the slogan ›Ought implies Can‹.« A. a. O. 51. »Physical impossibility (and also such allied cases as impossibility due to lack of knowledge or skill) causes an imperative to be withdrawn altogether, as inconsistent with the admission of impossibility«. A. a. O. 80. 127 Spitzley 1992, 125. Folgende Einwände bringt Spitzley anschließend gegen Hares Theorie der Willensschwäche vor. (1) Erstens würde Hare seinen Begriff der ›moral weakness‹ nicht hinreichend ins Verhältnis zur ›Akrasia‹ von Sokrates oder Aristoteles oder zur ›inkontinentia‹ des Thomas von Aquin setzen. Spitzley 1992, 125. (2) Zudem sei Hares Identifikation von psychischer/physischer Unfähigkeit mit psychischer/physischer Unmöglichkeit vorschnell. A. a. O. 136. (3) Wie das Phänomen der Drogensüchtigen z. B. zeige, sind psychische und physische Unfähigkeit nicht immer so strikt zu trennen, wie es Hare suggeriert. A. a. O. 131. (4) Außerdem äußert Spitzley den Verdacht der Zirkularität. Im Wortlaut heißt es: »Psychische Unfähigkeit ist das, was einem Menschen in einem Fall von Handeln wider besseres Wissen nicht so handeln lässt, daß er handeln sollte, und der Grund dafür, daß jemand in einem Fall von Handeln wider besseres Wissen nicht so handelt, wie er glaubt, daß er handeln sollte, liegt darin, daß er dazu psychisch unfähig ist.« A. a. O. 132.
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(f) Das Aus-Sollen-folgt-Können-Prinzip (P5)
Unmissverständlich betont jedoch der späte Hare in Moral Thinking von 1981, dass das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ in der Lesart der Aufhebung eines Sollens durch ein Nicht-Können, gerade auch im Falle des moralischen Dilemmas, einschlägig sei. 128 (4.1) Gegen diese Lesart führt Trigg treffend den Einwand ins Feld, dass es überhaupt keine »Veranlassung für eine Entschuldigung« mehr gäbe, falls moralische Ansprüche durch ein Nicht-Können im Sinne Hares tatsächlich schlicht aufgehoben würden. Dass wir »normalerweise das Bedürfnis nach einer Entschuldigung« 129 haben, wenn wir einem moralischen Anspruch nicht gehorchen konnten, zeige vielmehr, »daß der Anspruch noch in Kraft« ist, wenn wir uns entschuldigen. Mit derselben Stoßrichtung verweist Sinnott-Armstrong darauf, dass es umgekehrt keine Außerkraftsetzung eines moralischen Anspruchs bedeute, wenn wir einen Akteur im Falle eines moralischen Versagens wegen eines Nicht-Könnens nicht tadeln. 130 Selbstverständlich kann ein Nicht-Können ein guter Entschuldigungsgrund sein, aber gerade indem wir jemanden wegen eines Nicht-Könnens entschuldigen, beweisen wir, dass der moralische Anspruch durch das Nicht-Können keineswegs außer Kraft gesetzt ist: Schließlich verstehen wir ja, (5) Insgesamt zeigt nach Spitzley insbesondere ein Vergleich mit den klassischen Positionen von Sokrates und Aristoteles, dass Hare die Diskussion über Handeln wider besseres Wissen kaum bereichert habe, wobei die späteren Ausführungen in Moral Thinking deutlich überzeugender seien als die früheren Überzeugungen in Freedom and Reason. Ein Hinweis auf den Stellenwert der Willensschwäche in der Philosophie des moralischen Dilemmas findet sich auch bei Zoglauer 1998, 112. 128 Hare 1981, 70 f. Wie Hallich in seinen erhellenden Ausführungen zum Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ in Richard Hares Moralphilosophie von 2000 pointiert formuliert, »sollen wir« Hares Lesart dieses Prinzips zufolge »eben auch nicht beide ausführen«, wenn wir »nicht beide Handlungen gleichzeitig ausführen können«, Hallich 2000, 129. 129 Im englischen Wortlaut heißt es: »If the principle were valid, it is difficult to see on what basis someone would be considered to need an excuse for not doing something when they were unable to.« Trigg 1971, 46. »The need we usually feel to apologise and make amends indicates an awareness of a continuing moral demand upon us.« A. a. O. 47. Um Missverständnisse zu vermeiden: Triggs Essay attackiert Hares zweistufigen Utilitarismus nicht, sondern verteidigt ihn gegen den (beispielsweise von Lyons erhobenen) Standardeinwand, dass (intuitive) Regeln ihren Charakter als Regel verlieren würden, wenn man sie im Zuge von kritischem moralischen Denken methodisch zur Disposition stellt. Vgl. dazu im Detail das Kapitel 3.4. 130 Sinnott-Armstrong 1988, 237 f. Nach Sinnott-Armstrong findet sich das Entschuldigungsargument bei Austin 1970, 176. Für das Tadel-Argument verweist er auf Martinich 1986. Das moralische Dilemma
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warum sich jemand im Falle eines Nicht-Könnens entschuldigt, was nicht der Fall wäre, wenn derjenige überhaupt keinen Anlass zu einer Entschuldigung hätte, weil sich der strittige moralische Anspruch durch sein Nicht-Können in Luft aufgelöst hätte. Das bedeutet, dass das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ in Hares Lesart einer Aufhebung von moralischen Ansprüchen im Falle eines echten Nicht-Könnens etwas behauptet, was in unserer moralischen Praxis keine Entsprechung hat, womit das Prinzip ungültig wäre. (4.2) Tatsächlich ist mit Trigg auch der weiterführende Einwand ins Feld zu führen, dass die quälende Brisanz des moralischen Dilemmas geleugnet würde, falls die konkurrierenden moralischen Ansprüche schlicht schon dadurch außer Kraft gesetzt würden, dass sie nicht beide gleichzeitig erfüllt werden können. Wie Trigg treffend bemerkt, erklärt derjenige, dem zufolge »zu einem moralischen Anspruch nichts weiter zu sagen ist«, sobald man sich gegen ihn entschieden hat, das ursprüngliche Dilemma damit rückwirkend zu einer »Illusion«. Wenn einer der beiden unvereinbar konfligierenden moralischen Ansprüche im moralischen Dilemma im Nachhinein im Sinne Hares für ungültig erklärt würde, würde das moralische Dilemma behandelt, als hätte es »nie existiert« 131. Das wird dem tragischen Charakter, mit dem moralische Dilemmata in der moralischen Praxis in aller Regel erlebt werden, sicherlich nicht gerecht. Unsere beklemmenden Erfahrungen mit dilemmatischen Entscheidungen scheinen mir der deutlichste Hinweis darauf zu sein, dass das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ in Hares Lesart der Sinnlosigkeit eines Sollens ohne Können in unserer moralischen Praxis nicht gilt. (4.3) Hinzukommt, dass das Prinzip in Hares Lesart im Kontext eines Beweises für oder wider die Möglichkeit moralischer Dilemmata ebenso wenig Verwendung finden kann wie in der transzendentalen Lesart (vgl. 5.f.3.2), weil wiederum von einem anderen Nicht-Können die Rede ist. In Hares Lesart behauptet das Prinzip, dass sich ein moralischer Anspruch als moralischer Anspruch in Luft auflöst, sobald ein Akteur ihn trotz einer Aufbietung aller Kräfte nicht erfüllen kann. Wie
131 Im englischen Wortlaut heißt es: »To suggest that because I make my decision one way there is nothing still to be said for the other is to suggest that the dilemma was illusory in the first place.« Trigg 1971, 52. »It would be insinuate that one of my conflicting beliefs about what ought to be done in this situation had never really existed.« A. a. O. 52.
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(f) Das Aus-Sollen-folgt-Können-Prinzip (P5)
Marcus treffend betont, kann von einem solchen Nicht-Können im Falle eines moralischen Dilemmas jedoch keine Rede sein, weil der Akteur schließlich jeden der beiden konfligierenden moralischen Ansprüche erfüllen könnte, »bevor die Entscheidung« gegen einen der beiden Ansprüche »getroffen wurde« 132. Man kann im Falle eines moralischen Dilemmas nicht beiden moralischen Anforderungen entsprechen, weil sie sich gegenseitig ausschließen. Jedem der beiden Ansprüche für sich genommen kann man jedoch sehr wohl entsprechen. Damit ist das Nicht-Können, das Hares Lesart zufolge einen moralischen Anspruch aufheben soll, im Falle des moralischen Dilemmas nicht gegeben. Und das heißt wiederum, dass das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ in Hares Lesart im deontischen Beweis für oder wider die Möglichkeit moralischer Dilemmata keine Verwendung finden kann, weil es ein anderes Nicht-Können voraussetzt als im Falle eines moralischen Dilemmas. 133 132 Es heißt im englischen Wortlaut: »If we interpret the ›can‹ of the precept as ›having the ability in this world to bring about‹, then, as indicated above, in a moral dilemma, ›ought‹ does imply ›can‹ for each of the conflicting obligations, before either one is met.« Marcus 1980, 199. 133 Für Marcus’ Einwand hat vermutlich Bernard Williams Pate gestanden. (1) Im Zuge seiner Attacken gegen das Agglomerationsprinzip (s. o.) entfaltet Williams nämlich eine Lesart des Prinzips, welche zentral berücksichtigten soll, dass von einem ›Nicht-Können‹ im Falle eines moralischen Dilemmas wesentlich erst nach der dilemmatischen Entscheidung die Rede sein kann, aber nicht vorher. Sobald man das Agglomerationsprinzip aufgibt, lässt sich das Prinzip ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ nach Williams auf die Formel bringen, dass es, »falls ich b tue, dann nicht richtig sein wird, zu behaupten, ich sollte (dann) a tun«. Williams 1965a, 292. Gemeint ist offensichtlich, dass ich nicht mehr sagen kann, dass ich a tun soll, nachdem ich mich für b entschieden und es dadurch ausgeschlossen habe, dass ich a überhaupt noch tun kann. (2) Wie Williams (zweifellos gegen Hare, obwohl der Name nicht fällt) betont, handelt es sich bei dieser »Anwendung von ›sollen impliziert können‹« ausdrücklich nicht um eine Anwendung, »die bei rückwirkender Betrachtung unbedingt das eine oder das andere der ursprünglichen Sollens tilgt«. Zwar räumt Williams ein, dass es »einige Fälle« geben mag, »in denen die Auffindung eines moralischen Grundes für die Entscheidung tatsächlich eines der Sollen tilgt«. Allerdings verhielte es sich »nicht immer so«. Insofern betrachtet Williams seine Lesart des Prinzips lediglich als »Notmaßnahme«, um »mit dem Entscheidungskonflikt fertig zu werden«, wodurch letztlich die »Möglichkeit ›zum Besten zu handeln‹ gegeben« sei. Das sei jedoch ausdrücklich »nicht dasselbe wie eine Korrektur oder ein Überdenken der Gründe für die [sic] ursprünglichen Sollen«. Und es sei auch nicht die »Überlegung verfügbar: ›Hätte ich das von vorneherein gewußt, so hätte es keinen Konflikt zu geben brauchen‹. A. a. O. 293. (3) Dass eine solche ›Notmaßnahme‹ keine zentrale Gelenkstelle in einem Beweisgang der logischen Unmöglichkeit von moralischen Dilemmata mehr sein kann, bedarf kei-
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Zusammenfassend bleibt damit festzuhalten, dass das Prinzip ›AusSollen-folgt-Können‹ in der trivialen Lesart eines quasi automatischen Könnens im Falle eines Sollens (5.f.1) schlicht falsch ist; in den beiden möglichen metamoralischen Lesarten als Prinzip erster und zweiter Stufe im deontischen Beweisgang zu keinem Widerspruch führen würde (5.f.2); in der transzendentalen Lesart in einer Philosophie des moralischen Dilemmas nicht einschlägig ist (5.f.3); und in der Lesart der Aufhebung des Sollens durch ein Nicht-Können den quälenden Charakter einer Dilemma-Entscheidung nivellieren würde. Damit kann auch dieses Prinzip nicht als eines gelten, das eine unstrittig etablierte Regel unserer moralischen Praxis angemessen erfassen würde.
(g) Die logischen Kontradiktionen (P6) Zu guter Letzt stellt sich nun die schwierige Frage, an der sich letztlich alles entscheidet: die Frage nämlich, ob es sich bei den Widersprüchen, die sich der deontischen Logik zufolge aus der Prämisse des moralischen Dilemmas ableiten lassen sollen, tatsächlich um logische Kontradiktionen handelt (vgl. 5.a.2). Um es noch einmal zu betonen: Damit ist ausdrücklich nicht gefragt, ob das moralische Dilemma selbst eine Kontradiktion im Sinne der klassischen aristotelischen Logik darstellt! Nachdem Hare 1952 behauptet hatte, dass es sich bei der Situation der widersprechenden Befehle des Steuermanns in Cunninghams Autobiographie um eine Kontradiktion »im eigentlichen Aristotelischen Sinn« 134 handele, wurde diese Frage in der angelsächsischen Debatte zwar auch diskutiert. Im Kontext der Diskussion der Beweisgänge der deontischen Logik ist sie jedoch fehl am Platz, weil hier gar nicht behauptet wurde, dass es sich bei der Situation [O (a) & O (b) & : K (a&b)] um eine logische Kontradiktion handelt. Behauptet wurde vielmehr, dass sich aus der Prämisse des moralischen Dilemmas logische Kontradiktionen ableiten lassen. So offensichtlich das auf den ersner weiteren Hinweise. Deshalb habe ich im vorliegendem Zusammenhang auch auf jede Debatte über Plausibilitäten und Reichweiten von Williams’ Lesart des Prinzips ›Aus-Sollen-folgt-Können‹ verzichtet. 134 Hare 1952, 43 f. Verweis auf Cunningham 1951, 162; sowie auf Aristoteles 1925, 6. a17. Anschließend kommt Hare noch auf den Satz vom Ausgeschlossenen Dritten sowie auf die logische Prozedur des Verallgemeinerns zu sprechen. Hare 1952, 45 f. Das ist im vorliegenden Kontext aber nicht von Interesse.
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ten Blick zu sein scheint, so zweifelhaft wird diese These jedoch, sobald man die angeblichen Widersprüche einmal etwas näher unter die Lupe nimmt. (1) So scheint der modallogische Widerspruch [K (a&b) und : K (a&b)] beispielsweise zweifellos eine logische Kontradiktion zu sein. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass man entweder zwei Dinge a und b gleichzeitig tun oder nicht gleichzeitig tun kann. Bei näherer Hinsicht ist die Situation aber gar nicht mehr so klar, weil es von der Bedeutung des Operators K abhängt, ob wirklich ein logischer Widerspruch vorliegt. (1.1) Wenn die Formel [K (a&b) und : K (a&b)] besagen soll, dass eine Person X (nennen wir sie Xaver) in ein und derselben Situation zwei Dinge a und b nicht sowohl tun kann als auch nicht tun können soll, liegt zweifellos ebenso logischer Unsinn vor, als wenn Xaver im Sinne von [c & :c] behaupten würde, dass c der Fall und nicht der Fall sein soll. 135 (1.2) Genauso eindeutig stellt sich die Situation dar, sobald mit dem Operator K etwas über die generelle Ausführbarkeit von Tätigkeiten gesagt werden soll. In diesem Falle würde [K (a&b)] nämlich bedeuten, dass die Tätigkeiten a und b in allen denkbaren Welten miteinander zu vereinbaren sind, während [: K (a&b)] besagen würde, dass die Tätigkeiten a und b in allen denkbaren Welten nicht miteinander zu vereinbaren sind. So sind beispielsweise die Tätigkeiten Tauchen und Schwimmen per se miteinander vereinbar, während Tauchen und Fliegen grundsätzlich unvereinbar sind. Falls a für Tauchen steht und b für Fliegen, wäre demnach also in allen denkbaren Welten [: K (a&b)] wahr und [K (a&b)] falsch, während es umgekehrt wäre, wenn a für Tauchen und b für Schwimmen stünde. Das wiederum bedeutet, dass man mit der Formel [K (a&b) und : K (a&b)] tatsächlich logischen Un135 Zwar könnte man in diesem Falle einwenden, dass Xaver nicht per se auch pragmatischen Unsinn reden müsse, weil eine Beobachterin Y der logischen Widersprüchlichkeit von Xavers Behauptung zum Trotz dennoch Hypothesen entwickeln kann, nach denen sich das Verhalten von Xaver als sinnvoll darstellt. So könnte Yvonne (insofern sie ihren psychologisch geschulten gesunden Menschenverstand und nicht nur die Logik zu Rate zieht) vielleicht vermuten, dass Xaver Angst vor einer Herausforderung hat und sich seiner Fähigkeiten unsicher ist oder dass er sich schlicht vor einer Aufgabe drücken will, ohne das offen sagen zu wollen. Dieser Einwand ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht einschlägig, weil es auch dann dabei bleibt, dass sich jemand in einem logischen Sinne widerspricht, wenn es für die widersprüchlichen Aussagen gute pragmatische Gründe geben sollte.
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sinn behaupten würde, wenn der Operator K die prinzipielle Ausführbarkeit einer Tätigkeit behaupten würde. (1.3) Das Problem einer logischen Auswertung des Satzes [K (a&b) und : K (a&b)] besteht jedoch darin, dass man von einem ›Können‹ eigentlich nur unter Einbeziehung einer bestimmten Instanz des Könnens sprechen kann. Wenn jemand sagt, dass etwas ›gekonnt‹ wird, muss er sagen, wer bzw. was dasjenige kann, von dem er behauptet, dass es gekonnt wird. Er muss also immer sowohl etwas über eine bestimmte Tätigkeit als auch etwas über eine Instanz (die in der Regel eine Person ist) sagen, die die Tätigkeit ausführen kann, damit das, was er sagt, sinnvoll ist. Das unterscheidet den Operator des Könnens vom modallogischen Operator } des Möglichen, der in der deontischen Logik offensichtlich nicht nur für das Erlaubtsein P, sondern auch für das Können K Pate 136 gestanden hat: Ob a möglich oder unmöglich ist oder nicht, lässt sich unabhängig davon behaupten, ob a einer bestimmten Instanz X möglich ist oder nicht, während es in aller Regel (wenn es nicht um eine generelle Vereinbarkeit zweier Tätigkeiten beispielsweise im Sinne von 5.g.1.2 geht) unsinnig wäre, ein Können a unabhängig von einer Instanz X zu behaupten, die a können soll. Das wiederum bedeutet, dass die Wahrheit oder Falschheit eines Satzes, in dem der Operator K vorkommt, immer auch davon abhängt, von welcher Instanz behauptet wird, dass sie eine Tätigkeit ausführen kann oder nicht. Weil das im Operator K (zumindest so, wie ihn die deontische Logik zu verwenden scheint) nun aber nicht näher spezifiziert wird, schließt der Satz [K (a&b) und : K (a&b)] auch die Möglichkeit ein, dass das Können K nicht (wie in 5.g.2.1) von einer einzigen Instanz X behauptet wird, sondern von zwei Instanzen X und Y. Sollte sich der Operator K in der Formel [K (a&b) und : K (a&b)] nun auch auf verschiedene Personen (bzw. Instanzen des Könnens) beziehen können, würde man mit dem Satz [K (a&b) und : K (a&b)] keinesfalls etwas Sinnloses oder per se Falsches im Sinne einer logischen Kontradiktion sagen. Ich nehme jetzt einmal an, dass sich hinter a die Tätigkeit der Hausaufgabenbeaufsichtigung verbirgt und hinter b die Tätigkeit des Windeln-Wechselns. Ich nehme weiterhin an, dass der Vater Xaver völlig überfordert wäre, wenn er gleichzeitig sowohl die Hausaufgaben seines älteren Sohnes 136 Wie in 5.d.1.1 schon gesagt wurde, wird in der deontischen Logik das Notwendige φ in aller Regel wie das Sollen O behandelt, und das Mögliche } wie das Erlaubte P. Vgl. dazu z. B. McConnell 1978, 158.
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beaufsichtigen als auch die Windel seiner kleinen Tochter wechseln müsste, während die Mutter Yvonne beides eben doch gleichzeitig tun kann: Mit Blick auf eine solche Situation wäre es sowohl sinnvoll als auch wahr, wenn jemand behaupten würde ›es ist der Fall, dass man in ein und derselben Situation a und b gleichzeitig tun kann als auch nicht gleichzeitig tun kann‹, weil eine Person Y a und b gleichzeitig tun kann, aber eine Person X nicht. Dieser Einwand benennt nun das generelle Problem der deontischen Logik insgesamt: Während etwas im Bereich des Faktischen im Sinne der aristotelischen Logik schlicht der Fall oder nicht der Fall bzw. schlicht möglich oder unmöglich ist, hängt ein Können nicht nur von der Tätigkeit a ab, von der behauptet wird, dass sie gekonnt wird, sondern immer auch davon, von welcher Instanz das Können jeweils behauptet wird. Damit bleibt hier festzuhalten, dass es von der Bedeutung des Operators K bzw. vom Kontext seiner Verwendungsweise abhängt, ob es sich bei der Formel [K (a&b) und : K (a&b)] um einen logischen Widerspruch handelt oder nicht. (2) Dasselbe gilt für den deontischen Widerspruch [O (a) & O (:a)]. 137 Er liegt vor, wenn dieselbe Handlung a sowohl getan als auch unterlassen werden bzw. verboten sein soll. 138
137 Wie Zoglauer zeigt, lässt sich aus einem deontischen Widerspruch folgendermaßen ein normativer Widerspruch ableiten: »Denn aus O (:p) folgt :O (p). Daher gilt die Implikation O (p) & O (:p) → O (p) & :O (p)«. Zoglauer 1997, 148. Das wiederum bedeutet: »Wenn ein Normensystem normativ widerspruchsfrei ist, dann ist es auch deontisch widerspruchsfrei.« Umgekehrt kann »ein Normensystem nicht normativ widerspruchsfrei und zugleich deontisch widerspruchsvoll sein.« A. a. O. 148. Weil das Problem wiederum hier nicht von Interesse ist, sollen die Beziehungen zwischen den verschiedenen Widersprüchen, die sich aus der Prämisse des moralischen Dilemmas ableiten lassen sollen, hier nicht diskutiert werden. 138 Nicht einschlägig ist hier auch die Frage, ob es sich bei der Situation [O (a) & O (:a)] um ein moralisches Dilemma handelt bzw. ob sich die Situation des moralischen Dilemmas generell auch als [O (a) & O (:a)] formalisieren lässt. Letzteres wurde beispielsweise von Lemmon in seinem Essay Deontic Logic and the Logic of Imperatives von 1965 erwogen: Hier heißt es, dass O (b) immer auch O (:a) bedeuten würde, falls die Handlungen a und b sich gegenseitig ausschließen, so dass sich jede Situation eines konfligierenden Sollens als deontischer Widerspruch [O (a) & O (:a)] formalisieren ließe. Lemmon führt das als Argument gegen das deontische Prinzip: O (a) = : O (:a) an. Es heißt: »It is surely natural to describe this as a situation where I am both under an obligation to do A and under an obligation to do not-A, since not-A follows from B, so that it provides a counterexample.« Lemmon 1965, 45. Vgl. mit ähnlichen Überlegun-
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(2.1) Wiederum scheint es auf der Hand zu liegen, dass es sich ebenso um einen logischen Widerspruch wie bei dem Satz [c & :c] handelt, und tatsächlich haben die meisten der Autoren der angelsächsischen Debatte diese Auffassung verteidigt. Selbst Bernard Williams als entschiedener Gegner der deontischen Logik führt in seinem Essay Ethical Consistency von 1965 für die Auffassung, dass ein deontischer Widerspruch »widersprüchlich« sei, das Argument ins Feld, »daß man in keiner denkbaren Welt« nach beidem Sollen »handeln könnte«. Sein Beispiel ist eine Person, die glaubt, sie »solle sich an Hetzjagden (als solche) nicht beteiligen«, während sie »gleichzeitig glaubt«, sie solle sich »für die Fuchsjagd (als solche) begeistern«. Weiter befassen will er sich mit den deontischen Widersprüchen jedoch nicht, weil er sie für so selten hält, dass ihm keine »interessanten Fragestellungen« 139 dazu einfallen würden, die es vom Standpunkt der Moral zu diskutieren gäbe. Zoglauers Argument lautet, dass »Normadressaten« durch deontische Widersprüche in »eine ausweglose Lage« manövriert würden, weil sie sich (wie Berkemann nach Zoglauer treffend betont) »nicht normgerecht verhalten« können, »wie immer« sie sich auch verhalten. Deshalb sollten Normensysteme nach Zoglauer so »aufgebaut sein, daß keine deontischen Widersprüche aus ihm ableitbar sind« 140. (2.2) Eine entgegengesetzte Auffassung vertritt allerdings van Fraassen in seinem Essay Values and the Heart’s Command von 1973. Die (richtige) Prämisse seines Arguments lautet, dass Aussagen unabhängig von den Umständen wahr oder falsch seien, während Imperative durch die jeweiligen Umstände erst in Kraft gesetzt werden oder auch nicht. Es mag »die unterschiedlichsten Imperative« geben, von denen aber »nur manche« durch die jeweiligen Unterschiede »in Kraft sind«, und ob wir einem Imperativ nachkommen müssen oder nicht, das ist nach van Fraassen ausschließlich von den Umständen abhängig, die ihn jeweils in Kraft gesetzt haben. Das heißt nach van Fraassen zwar zum einen, dass man nur dann »a tun soll, wenn ein Imperativ in Kraft ist, der durch :a nicht erfüllt wäre«, womit er die Schwierigkeit eines deontischen Widerspruchs zunächst einmal grundsätzlich zugibt. Aus der Tatsache, dass Imperative durch Umstände in Kraft gegen auch Hare 1981, 72. Weil es um die Frage nach dem Dilemma-Charakter des deontischen Widerspruchs hier jedoch nicht geht, werden solche Debatten ausgeblendet. 139 Williams 1965a, 271. 140 Zoglauer 1997, 146. Hinweis auf Berkemann 1974, 188.
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setzt werden, schließt van Fraassen dann aber vor allem, dass sowohl O (a) als auch O (:a) unabhängig voneinander gültig sein können, insofern es denkbare Umstände gibt, »durch die sowohl O (a) als auch O (:a) in Kraft gesetzt werden« 141, ohne dass deshalb auf einen Fehler im Moralsystem im Sinne einer Inkonsistenz geschlossen werden müsste. (2.3) Dieses Argument ist stichhaltig, und es zeigt, dass auch bei der logischen Auswertung des Satzes [O (a) & O (:a)] letztlich wiederum alles davon abhängt, wie man den Operator O versteht. (2.3.1) Von einer Kontradiktion kann nur vor dem Hintergrund der moralphilosophischen Überzeugung eines monistischen moralischen Realismus die Rede sein. Innerhalb einer solchen Moralphilosophie muss der Operator O nämlich ein objektives Sollen bedeuten, das genauso ein Faktum ist wie ein Sachverhalt, über den wahre oder falsche Aussagen gemacht werden können. Vor dem Hintergrund einer solchen Moralphilosophie (wie sie die deontische Logik ja auch vertreten hat) ist der deontische Widerspruch [O (a) & O (:a)] zweifellos eine logische Kontradiktion: Wenn man von einem objektiven Sollen ausgeht, wäre man zwischen zwei moralischen Ansprüchen quasi ›eingeklemmt‹, falls die Situation [O (a) & O (:a)] entstehen sollte. (2.3.2) Ganz anders stellt sich die Lage jedoch vor dem Hintergrund eines pluralistischen moralischen Realismus im Sinne von Thomas Nagel und E. J. Lemmon oder im Rahmen eines moralischen Subjektivismus im Sinne von Bernard Williams dar. Ein deontischer Widerspruch läge vor, wenn ein Protagonist in einem Staat lebt, der den Dienst an der Waffe unbedingt vorschreibt, obwohl er gleichzeitig der religiösen Überzeugung ist, dass jeder Kriegsdienst eine Sünde ist. Es handelt sich um einen deontischen Widerspruch, weil der Protagonist sowohl mit dem Gebot ›werde Soldat‹ als auch mit dem ausdrücklichen Verbot ›werde auf keinen Fall Soldat‹ konfrontiert ist. Ein moralischer Monist würde aus einer solchen Situation schließen, dass entweder das Gebot oder das Verbot falsch bzw. ungültig sein muss. Für einen moralischen Pluralisten kann es jedoch mehrere moralische Autoritäten geben. Insofern würde er die Situation damit erklären, dass
141 Es heißt im englischen Wortlaut: »First there are many conceivable imperatives, but only some are in force.« Fraassen 1973, 149. »This means, less formally, that it ought to be A exactly if some imperative in force would not be fulfilled if not-A.« A. a. O. 149. »With this definition [O (A) & O (:A)] could be true, namely if there were two conflicting imperative in force«. A. a. O. 149.
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eigentlich nicht zwei konkurrierende moralische Ansprüche, sondern zwei konkurrierende moralische Autoritäten zur Disposition stehen, so dass er sich letztlich für das entscheiden wird, was von der in seinen Augen gewichtigeren moralischen Autorität geboten bzw. verboten wird. Nun kann eine solche Situation für den Protagonisten natürlich pragmatisch ungeheuer schwierig sein; das soll nicht in Abrede gestellt werden. Entscheidend ist jedoch, dass es sich nicht mehr um ein logisches Problem handeln würde, sondern um das praktische Problem der Entscheidung zwischen zwei moralischen Autoritäten. Wiederum ist es überflüssig, ins Detail zu gehen, weil deutlich geworden sein dürfte, dass es wiederum von der Bedeutung des Operators O und damit letztlich von der zugrundeliegenden Moralauffassung abhängt, ob der Satz [O (a) & O (:a)] eine logische Kontradiktion zum Ausdruck bringt oder nicht. (3) Zu dem normativen Widerspruchs [: O (a) & O (a)] haben die einschlägigen Autoren nun in seltener Einstimmigkeit die Auffassung vertreten, dass es sich um keine logische Kontradiktion handele. 142 (3.1) Pars pro Toto sei das Argument der Zwangsläufigkeit der Ereignisse von E. J. Lemmons Essay Moral Dilemmas von 1962 rekonstruiert. Das Argument lautet im Kern, dass im Falle von [: O (a) & O (a)] von einer logischen Kontradiktion keine Rede sein könne, weil die geforderten Handlungen aus einem Sollen nicht mit derselben Zwangsläufigkeit wie aus einem Müssen folgen würden. Deshalb würde jemand, der »angekündigt« hat, »etwas tun zu müssen«, ohne es dann später tatsächlich zu tun, im Nachhinein stattdessen sagen, dass er »etwas hätte tun sollen«. Zur Veranschaulichung erfindet er das Beispiel eines Partygastes, der sagt, dass er bald gehen müsse, ohne dann tatsächlich zu gehen. Die Tatsache, dass er faktisch nicht gegangen ist, 142 Nicht einschlägig sind hier alle Debatten darüber, ob es sich bei einem normativen Widerspruch um ein moralisches Dilemma handelt. Dem widerspricht beispielsweise Sinnott-Armstrong mit seinem sogenannten ›conversational argument‹. Das Argument besagt, dass es zu unserer Gesprächskultur gehöre, dass man im Falle eines moralischen Dissenses zwar nicht unbedingt die Position des anderen anerkennen müsse, dass man aber immerhin doch würdigen müsse, dass der andere ebenfalls gute Gründe für seine abweichende Auffassung haben kann. Unter dieser Voraussetzung würde sich eine Situation [: O (c) & O (c)] nicht mehr als moralisches Dilemma darstellen, sondern lediglich als eine Situation, in der es um ein Abwägen von stärkeren und schwächeren Gründen geht. Sinnott-Armstrong 1989, (136–168) 161 ff.
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beweist nach Lemmon, dass er tatsächlich nicht im strengen Sinne gehen musste, weshalb er besser gesagt hätte, dass er eigentlich gehen sollte. Das Beispiel zeigt in seinen Augen, dass sich aus »der Behauptung, daß jemand etwas muß und nicht muß«, eine »explizite Kontradiktion herleitet«, während sich eine »vergleichbare Kontradiktion« aus der »Behauptung, dass jemand etwas soll und nicht soll, nicht herleite«, weil nach Lemmon »aus dem Faktum, daß jemand etwas soll, nicht zwangsläufig auch folgen muß, daß das Gesollte auch tatsächlich getan wird« 143. (3.2) Mit einem anderen Argument stößt Zoglauer in dasselbe Horn. Zur Veranschaulichung eines normativen Widerspruchs führt er ein Beispiel von Weinberger an, dem zufolge ein normativer Widerspruch vorliegt, wenn die Katholische Kirche die Wiederverheiratung Geschiedener verbietet, während es von Seiten des Staates ein solches Verbot nicht gibt. Ausgehend von diesem Beispiel hebt Zoglauer dann hervor, dass es sich nicht um einen logischen Widerspruch handele (obwohl er in der »Literatur« häufig »fälschlicherweise« so »behandelt« würde), weil »normative Widersprüche für den Normadressaten durchaus lösbar« seien. Die Lösung eröffne sich, weil mit [: O (a)] lediglich gesagt würde, dass es kein Sollen gäbe, demzufolge a getan werden muss, so dass es als erlaubt gelten könne, a zu tun im Sinne von [O (a)]. Insofern gäbe es in Weinbergers Fall beispielsweise die Chance zu normgerechtem Verhalten, indem sich ein Normadressat dem Gebot der Kirche O (a) unterwirft und sich nicht wiederverheiratet, weil die Wiederverheiratung von staatlicher Seite ja lediglich nicht verboten, aber nicht explizit gefordert sei. »Der rational handelnde Normgeber« sollte das Postulat der normativen Widerspruchsfreiheit« nach Zoglauer jedoch »beachten«, weil normative Widerspruchsfreiheit (wie Berkemann nach Zoglauer treffend festhält) zwar »keine logische Not-
143 Es heißt im englischen Wortlaut: »A man both ought to do something and ought not to do something.« Lemmon 1962, 105. »A man announces that he must do something, but it later emerges that he has not done that thing. Then he will now repeat his earlier claim, not in the form that he had to do it, which would suggest falsely that he had done it, but in the form he ought to have done it.« A. a. O. 106. »Hence an explicit contradiction is derivable from the assumption that a man both must and must not do something.« A. a. O. 106. »But not a similar contradiction is derivable from the assumption that someone both ought and ought not to do something; for it certainly does not follow from the fact that a man ought to do something that he will do.« A. a. O. 106.
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5. Die deontische Logik und das moralische Dilemma als Inkonsistenz der Moral
wendigkeit«, aber immerhin doch »die notwendige Folge der Idee eines vernünftigen, durchgängig praktikablen Rechtssystems« 144 sei. (3.3) Tatsächlich hängt es jedoch wiederum von der Situation bzw. von der zugrundeliegenden Auffassung von Moral ab, ob ein normativer Widerspruch für den Normadressaten lösbar ist. Wenn [: O (a)] und [O (a)] aus verschiedenen Quellen stammen, gibt es für den Normadressaten tatsächlich die Lösung, die Zoglauer aufgezeigt hat, dass er sich für [O (a)] entscheidet. Sobald [: O (a)] und [O (a)] aber aus derselben Quelle stammen, wird die Situation in dem Sinne sinnlos, dass sich die befehlende bzw. normgebende Instanz als solche selbst infrage stellt. Um Weinbergers Beispiel noch einmal aufzugreifen: Es würde eine sinnlose Situation entstehen, wenn die Kirche Wiederverheiratung verbieten und gleichzeitig einräumen würde, dass es gar kein Gebot gäbe, sich nicht wiederzuverheiraten. Die Schwierigkeiten der logischen Bewertung des normativen Widerspruchs sind nun ebenso in der unscharfen Bedeutung des Operators O begründet wie im Falle des deontischen Widerspruchs. Würde ein monistischer moralischer Realist den Satz [: O (a)] und [O (a)] äußern, würde er sich im Sinne einer logischen Kontradiktion widersprechen, weil es für einen moralischen Monisten ja per definitionem nur eine einzige moralische Autorität geben kann. Ein moralischer Pluralist jedoch, der verschiedene moralische Autoritäten bzw. normgebende Instanzen annimmt, würde sich mit dem Satz [: O (a)] und [O (a)] nicht widersprechen, weil er lediglich zum Ausdruck gebracht hätte, dass die eine Instanz X die Handlung a vorschreibt und die andere Instanz Y nicht. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es von der präzisen Bedeutung der jeweiligen Operatoren K und O und damit zumindest im Falle des deontischen und des normativen Widerspruchs letztlich von der zuZoglauer 1997, 146 f. Verweis auf Berkemann 1974, 183; sowie auf Weinberger 1992, 147. (1) Zoglauer verwendet die Variablen p und q, um hervorzuheben, dass es einen Unterschied mache, ob man über Normen p und q oder über Fakten a und b spricht. Ich habe die Variablen den Üblichkeiten der angelsächsischen Debatte entsprechend angeglichen, ohne damit den Unterschied zwischen Normen und Fakten aufheben zu wollen. (2) Zudem vertritt Zoglauer die Auffassung, dass eine »leichtfertige Übertragung des Substitutionsprinzips« der Grund sei, warum normative Widersprüche fälschlicherweise als logische Widersprüche behandelt worden seien. Zoglauer 1997, 146. Vgl. auch Zoglauer 1998, 103. Dieses Argument werde ich ausblenden, weil es hier nicht darum gehen kann, logische Grundprinzipien zu diskutieren.
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(h) Die Unzulänglichkeit der deontischen Beweise
grundeliegenden Moralauffassung abhängt, ob es sich bei den Widersprüchen, die sich der deontischen Logik zufolge aus der Prämisse des moralischen Dilemmas ableiten lassen sollen, um logische Kontradiktionen handelt oder nicht.
(h) Die Unzulänglichkeit der deontischen Beweise Guter scholastischer Tradition zufolge muss entweder auf Fehler im Schlussverfahren oder auf die Falschheit der Prämissen rückgeschlossen werden, wenn eine Schlussfolgerung kontradiktorisch oder offensichtlich falsch ist, weil den Grundannahmen dieser Tradition zufolge nur aus Falschem oder Fehlerhaftem wiederum Fehlerhaftes, Falsches, Beliebiges oder Unsinniges folgen kann. Die deontische Logik hatte aus der Tatsache, dass sich aus der Prämisse des moralischen Dilemmas (angeblich) logische Widersprüche ableiten, die Falschheit dieser Prämisse gefolgert, weil sie davon ausgegangen ist, dass es keine Fehler in den jeweiligen Schlussverfahren gibt. (1) Nun hat die Prüfung der Prinzipien und Grundannahmen dieser Schlussverfahren jedoch zu dem desaströsen Resultat geführt, dass ausnahmslos alle Prinzipien und Grundannahmen entweder explizit falsch oder zumindest strittig sind. Damit kann nun zum einen der Verdacht aufkommen, dass das Projekt der deontischen Logik wegen offensichtlicher Praxisferne am besten gleich ganz aufgegeben werden sollte: Es wäre schön, wenn wir unsere moralischen Urteile fein säuberlich aus einigen ersten Axiomen ableiten könnten, aber erstens wäre es zweifellos strittig, wie diese ersten Axiome lauten sollten, und zweitens funktioniert Moral nun einmal nicht nach den glatten Regeln der scholastischen Logik. 145 Tatsächlich sollte man diese Schlussfolgerung
145 Mit derselben Stoßrichtung bestreitet auch Nair 2014 die Möglichkeit eines sicheren Konfliktlösungsverfahrens auf der Grundlage der deontischen Logik. Es heißt: »For this strategy to be successful, we would need to find a deontic logic that claims that the reasoning in Smith’s case and the speeding law case correspond to valid inferences, but explosive reasoning does not.« Weiter heißt es: »In this section, I argue that this seemingly promising strategy is actually hopeless: no deontic logic could say that the reasoning in Smith’s case and the speeding law case correspond to valid inferences while the explosive reasoning does not.« Nair 2014, 757.
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5. Die deontische Logik und das moralische Dilemma als Inkonsistenz der Moral
wohl ziehen. Allerdings wird sie hier nicht gezogen, weil das weitere Schicksal der deontischen Logik hier nicht weiter von Interesse ist. 146 (2) Hier interessiert nur, ob es sich mit Mitteln der Logik beweisen lässt, dass es unsinnig wäre, die Möglichkeit von moralischen Dilemmata anzunehmen. Die Antwort auf diese Frage ist nun eindeutig zu geben. Weil sich sämtliche Prämissen der ›Beweise‹ als falsch oder zumindest als strittig erwiesen haben, kann das abschließende Urteil über die deontischen Beweise nur lauten, dass es sich mit den Mitteln der Logik offensichtlich nicht beweisen lässt, dass die Annahme der Möglichkeit von moralischen Dilemmata eine unsinnige Annahme wäre, weil sie ins logisch Widersinnige, Sinnlose und Absurde führen würde. 147 Das beweist umgekehrt natürlich nicht, dass es das moralische Dilemma tatsächlich gibt bzw. geben muss. Es lässt sich aber immerhin schlussfolgern, dass von der Möglichkeit des moralischen Dilemmas weiterhin ausgegangen werden muss. Nicht mehr, aber auch nicht weniger scheint sich zur ersten Leitfrage der angelsächsischen Debatte nach der Möglichkeit des moralischen Dilemmas nun insgesamt sagen zu lassen, nachdem die Untersuchungen der letzten beiden Kapitel zum selben Ergebnis geführt haben.
146 Es ist wohl überflüssig zu betonen, dass diese Konsequenz natürlich immer wieder gezogen worden ist. (1) Die Warnung, dass das Projekt der deontischen Logik insgesamt aufgegeben werden muss, wenn die Möglichkeit des moralischen Dilemmas nicht ausgeschlossen werden kann, wird schon ausgesprochen in Føllesdal u. a. 1971, 13. Der Hinweis auf Føllesdals Warnung findet sich in McConnell 1978, 156. (2) Sie wird noch einmal reformuliert in Fraassen 1973 sowie in Sinnott-Armstrong 1988, 163. (3) Mit dem Hinweis darauf, dass »Normenkonflikte« im »Alltag« sogar »sehr häufig« auftreten würden, stellt schließlich auch Zoglauer Überlegungen an, ob man das Projekt der Normenlogik als »nicht adäquat« nicht vielleicht schlicht aufgeben sollte. Zoglauer 1997, 148 f. Zustimmend zitiert wird hier Weinberger 1992, 431. Vgl. mit ähnlichem Tenor auch Zoglauer 1998, 18 f. 147 Es heißt zu dieser nun zwangsläufigen logischen Schlussfolgerung bei Mothersill beispielsweise: »Since consistency can also be preserved by dropping one of the axioms, the deontic argument cuts across party lines«, Mothersill 1996, 70. Ihrer generellen Auffassung, dass die Debatte über die Lösbarkeit von Dilemmata insgesamt uninteressant ist (a. a. O. 84), kann ich mich (wie diese Abhandlung beweist) allerdings überhaupt nicht anschließen.
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(h) Die Unzulänglichkeit der deontischen Beweise
Mit diesem Resultat drängt sich nun die zweite Leitfrage der angelsächsischen Debatte in den Vordergrund: Die Frage nämlich, was es für das Selbstverständnis der Moralphilosophie bedeuten muss, dass die Möglichkeit des moralischen Dilemmas moralphilosophisch offensichtlich nicht wirklich ausgeschlossen werden kann. Muss sie ihren Anspruch auf vernünftige Orientierung für vernünftige moralische Akteure tatsächlich aufgeben, wie erst Ross und deutlicher noch dann auch Hare behauptet hatten? Obwohl sie beide die Möglichkeit des moralischen Dilemmas einräumen, geben Thomas Nagel und Bernard Williams auf diese entscheidende Frage zwei diametral entgegengesetzte Antworten. Damit befassen sich die nächsten beiden Kapitel 6 und 7.
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6. Das moralische Dilemma als tragische Verkettung übler Umstände nach Sir Bernard Williams
Der Name von Bernard Williams steht in der angelsächsischen Debatte vor allem für das sogenannte ›phänomenologische Argument des moralischen Restbestands‹ 1, mit dem er von der Möglichkeit des moralischen Dilemmas zu überzeugen versucht hat.
(a) Das phänomenologische Argument des moralischen Restbestands Entfaltet wird das Argument in dem Essay Ethical Consistency von 1965. Dabei ist es nicht leicht zu rekonstruieren, weil Williams einige wichtige Voraussetzungen des Arguments nicht explizit macht. 2 Im Kern scheint es mir auf folgenden Prämissen zu beruhen. Williams selbst hat dieses Etikett meines Wissens nicht verwandt. Vom »phänomenologischen Argument« (engl. phänomenological argument) mit Bezug auf den »moralischen Restbestand« (engl. moral residue) ist die Rede in McConnell 2006, 9 ff. SinnottArmstrong übernimmt dieses Etikett zur Kennzeichnung der Positionen von Williams und Ruth B. Marcus. Sinnott Armstrong 1988, 44. 2 Das Argument ist zudem auch deshalb nicht leicht zu rekonstruieren, weil Williams immer wieder abschweift. Philippa Foot urteilt schlicht: »The form of this argument is surely strange«. Foot 1983, 382. Ganz so rigide beurteilen andere Autoren die Form des Arguments allerdings nicht. (1) McConnell rekonstruiert das Argument folgendermaßen: »In these cases, proponents of the argument (for dilemmas) from moral residue must claim that four things are true: (1) when the agent acts, she experiences remorse or guilt; (2) that she experiences these emotions are appropriate and called for; (3) had the agent acted on the other of the conflicting requirements, she would also have experienced remorse or guilt; and (4) in the latter case these emotions would have been equally appropriate and called for. In these situations, then, remorse or guilt will be appropriate no matter what the agent does and these emotions are appropriate only when the agent has done something wrong. Therefore, these situations are genuinely dilemmatic.« McConnell 2006, 9. Ich habe diese Rekonstruktion aus zwei Gründen nicht übernommen. Zum einen ist sie (das 1
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(a) Das phänomenologische Argument des moralischen Restbestands
(1) Eine erste emotivistische Prämisse P1 lautet, dass die »Gefühle«, die »jemand in verschiedenen Situationen« empfindet, »sehr viel damit zu tun« haben, »ob er ein bewundernswerter Mensch ist oder nicht« 3. (2) Eine zweite phänomenologische Prämisse P2 verweist auf das empirische Faktum, dass viele moralisch bewunderungswürdige Menschen nach der Entscheidung eines moralischen Dilemmas 4 ein Bedauern artikulieren, obwohl sie ihre Entscheidungen sorgfältig abgewogen haben. Diese beiden ersten Prämissen begründet Williams im Essay von 1965 nicht weiter. (3) Ausführlich plausibilisiert er hingegen eine dritte Prämisse P3, die besagt, dass sich moralische Dilemmata allen in der angelsächsischen Debatte vorgeschlagenen Strategien zum Trotz weder »systematisch vermeiden« noch »restlos lösen« 5 lassen. (3.1) Um von der ›systematischen Unvermeidbarkeit‹ moralischer Dilemmata zu überzeugen, lässt sich Williams zunächst zum Schein auf die Prämisse der deontischen Logik ein, dass moralische Konflikte »im Normalfall« ebenso beschaffen sein sollen wie »Überzeugungen, die einander widerstreiten«. Mit der Begründung dieses Zugeständnisses distanziert er sich jedoch gleich wieder von der deontischen Logik: Die Begründung lautet nämlich, dass es (von moralphilosophisch uninteressanten Ausnahmefällen einmal abgesehen) eben nicht durch »die Logik«, sondern durch »die Welt« (sprich: durch kontingente Umzeigt insb. Prämisse 3) McConnells monistischer Strategie der Widerlegung des Arguments geschuldet. Und zum anderen fehlt mir die entscheidende subjektiv-emotivistische Prämisse, dass Gefühle moralphilosophische Aussagekraft haben sollen. (2) Sinnott-Armstrong fasst das Argument so zusammen: »The general argument is that there are some situations where such moral residue is justified after every choice, but there is no justification for this residue except that a moral requirement was violated, and this is the evidence that each alternative does violate a moral requirement.« Sinnott Armstrong 1988, 44. 3 Williams 1965a, 263 f. 4 Die Rede ist ausdrücklich nur vom reinen moralischen Dilemma gemäß der in 2.f entfalteten Terminologie. Williams schließt nämlich ausdrücklich alle »Konflikte zwischen einem Moralurteil und einem nichtmoralbezogenen Wunsch« aus, weil damit »eine wesentlich größere Klasse von Konflikten« in den Blick geraten würde, nachdem schon Platon gezeigt habe, dass »ein moralischer Wunsch und ein nichtmoralischer Wunsch, die einander widerstreiten, offenkundig auf genau dieselben Merkmale einer Situation gerichtet sein können«. Williams 1965a. Verweis auf Platon 1958b, VI. Buch. 5 Williams 1965a, 285. Das moralische Dilemma
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6. Das moralische Dilemma als Verkettung übler Umstände nach Williams
stände) verhindert würde, dass ein moralischer Akteur zwei unterschiedlichen moralischen Ansprüchen gleichzeitig nachkommen kann oder dass zwei Überzeugungen gleichzeitig wahr sein können. (3.1.1) Nach Williams beruhen auch die meisten Überzeugungskonflikte nicht auf einem »logischen Widerspruch«. Sie entstünden vielmehr ebenfalls, wenn eine Person »zwei Überzeugungen vertritt«, die lediglich aus einem kontingenten »empirischen Grund nicht beide wahr sein können«. Williams’ Beispiel ist eine Situation, in der jemand überzeugt ist, dass »eine bestimmte Person« 1971 ein Amt als »Bundesminister« innehatte und dass diese Person »Christdemokrat« gewesen sei, obwohl zufälligerweise »kein solcher Minister« jemals »Christdemokrat« 6 gewesen ist. Entscheidend ist, dass es vom Standpunkt der Logik durchaus der Fall sein kann, dass jemand sowohl Christdemokrat als auch Bundesminister ist. Das Beispiel zeigt nach Williams, dass die meisten Überzeugungskonflikte nicht in logischen Unvereinbarkeiten gründen. (3.1.2) Dasselbe gilt nach Williams für die meisten Konflikte zwischen moralischen Ansprüchen. So bestünde beispielsweise zwischen den beiden Sollensansprüchen, zwischen denen sich Agamemnon entscheiden musste, kein logischer Widerspruch, weil es unter den meisten denkbaren Umständen keineswegs ausgeschlossen ist, sowohl ein guter Feldherr zu sein als auch seine Tochter nicht zu töten. Sein Dilemma sei entstanden, weil es für Agamemnon »beim gegebenen Stand der Dinge keine Möglichkeiten« gegeben habe, beiden moralischen Ansprüchen entsprechend zu handeln. Damit wäre der erste Teil der dritten Prämisse P3 plausibilisiert: Moralische Dilemmata entstehen ebenso wie Überzeugungskonflikte in aller Regel durch eine ungünstige Konstellation kontingenter Umstände; kontingente Umstände sind logisch nicht beherrschbar; deshalb sind alle moralphilosophischen Versuche einer systematischen Vermeidung moralischer Dilemmata von vorneherein zum Scheitern verurteilt. (3.2) Besonders ausführlich wird Williams’ Essay gegen mögliche moralphilosophische Strategien zur ›Auflösung‹ moralischer DilemWilliams 1965a, 264–268. Dieselbe Abhängigkeit von kontingenten Tatsachen behauptet Williams auch von Wunschkonflikten. Sein Beispiel ist eine Person, die gleichzeitig den Wunsch nach einem Getränk verspürt als auch den Wunsch, träge in ihrem Sessel sitzen bleiben zu können. Sobald eine zweite Person den Raum betritt, könnte diese Person um das Getränk gebeten werden, und der Wunschkonflikt wäre gelöst. Williams 1965a, 265. Vgl. Kap. 5, Anm. 105.
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(a) Das phänomenologische Argument des moralischen Restbestands
mata zur Plausibilisierung des zweiten Teils der Prämisse P3. Im Kern artikuliert er folgende Zweifel: (3.2.1) Die sogenannten ›kognitivistischen Strategien‹ würden dem Wesen des moralischen Konflikts »nicht gerecht«, weil sie so tun, als ließe sich »das Sollen, nach dem nicht gehandelt wird«, nach einer richtigen moralischen Entscheidung schlicht »vom Schauplatz entfernen«. Damit wird nach Williams »ein Muster, das Überzeugungskonflikten angemessen ist«, unangemessenerweise auf »den moralischen Fall projiziert«, wodurch der falsche Anschein erweckt würde, als ließe sich ein moralischer Konflikt lösen, indem man sich »von einer verkehrten Ansicht befreit«, die »eine Zeitlang die Lage verwirrt hat« 7. (3.2.2) Dem Intuitionismus von Sir David Ross (vgl. Kapitel 3) hält Williams »den tapferen Versuch« zugute, »den Tatsachen« durch die Lehre nähergekommen zu sein, die »prima facie Pflichten seien nicht nur scheinbare Verpflichtungen«, sondern »eher wie ein Anspruch beschaffen, der Restverpflichtungen erzeugen kann, wenn er nicht erfüllt wird«. Williams’ Einwand bleibt dann jedoch leider etwas kryptisch: Es heißt lediglich, dass »dunkel« bliebe, wieso eine Pflicht ihren Anspruch als Pflicht behalten soll, wenn »dieser Anspruch in einer Konfliktsituation in einem Handlungsverlauf nicht erhärtet wird« 8. (3.2.3) Besonders ausführlich attackiert Williams Hares Präskriptivismus (vgl. Kapitel 4), den er so wiedergibt, dass man im Falle eines moralischen Konfliktes lediglich eines seiner »moralischen Prinzipien modifizieren« müsse, um den Konflikt lösen zu können. Laut Williams ist diese Position »in zweifacher Weise ungenügend«. Zum einen würde »hiermit rückblickendes Bedauern einzig und allein« damit erklärt, dass der moralische Akteur »unvorbereitet« in die Situation »hineingeraten« sei, und nicht etwa damit, dass er »dasjenige nicht getan« hat, was er »in der letztlichen Entscheidung abgelehnt« hat. Zudem kann Williams nicht glauben, dass »keine ähnliche Situation« später »einen Konflikt bereiten« soll, wenn ich in einer vorliegenden Situation einmal eine gut begründete Entscheidung getroffen habe, die ich auf die nächste Situation übertragen kann. Insgesamt kommt er zu dem Schluss, dass es falsch ist, »den Ursprung des Konflikts« damit zu erklären, »als sei ich gleichsam ungenügend vorbereitet in diese Situation 7 8
Williams 1965a, 279. Williams 1965a, 279 f. Hinweis auf Ross 1939, 84 ff.
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6. Das moralische Dilemma als Verkettung übler Umstände nach Williams
geraten, weil meine moralischen Prinzipien zu einfach waren« 9. Mit diesem pars pro toto Durchmarsch meint Williams, auch den zweiten Teil der dritten Prämisse plausibilisiert zu haben, nach der es keine sichere moralphilosophische Strategie zur Auflösung moralischer Dilemmata gibt. (4) Aus der Nichtauflösbarkeits-Prämisse folgert Williams die für sein Argument insgesamt entscheidende vierte Prämisse P4, dass nach jeder Dilemma-Entscheidung ein ›moralischer Restbestand‹ (engl. moral residue) im Sinne eines immer noch bestehenden moralischen Anspruchs bleiben soll. 10 (4.1) Williams plausibilisiert diese Prämisse mit dem Hinweis darauf, dass moralische Dilemmata in »bestimmten wichtigen Aspekten eher Wunsch- als Überzeugungskonflikten gleichen« würden. Während sich Überzeugungskonflikte nämlich restlos auflösen lassen, indem man herausfindet, welche der beiden konfligierenden Überzeugungen falsch ist, lassen sich Wunschkonflikte nur durch das Zurückdrängen eines Wunsches entscheiden. Dasselbe gilt nach Williams aufgrund ihrer Nicht-Auflösbarkeit (vgl. 6.a.3.2) auch für moralische Dilemmata: Während es in Überzeugungskonflikten möglich ist, »die richtige Überzeugung zu finden« und »die falsche Überzeugung loszuwerden«, kann man sich im »Falle des moralischen Konfliktes« lediglich für »das bestmögliche Handeln« 11 unter Zurückweisung der alternativen Option entscheiden. (4.2) Dass manche moralische Konflikte nur entschieden, aber nicht aufgelöst werden können, bedeutet nach Williams jedoch, dass der zurückgestellte moralische Anspruch lediglich zurückdrängt, aber nicht aufgelöst wird. Durch ein bloßes Zurückdrängen verlieren moralische Ansprüche ebenso wenig ihren Anspruchscharakter wie Wünsche ihren Wunschcharakter. Das wiederum bedeutet nach Williams, dass nach jeder moralischen Entscheidung ein ›moralischer RestWilliams 1965a, 280 f. Diese Prämisse findet sich schon in Lemmons Essay Moral Dilemmas von 1962. Lemmon betont hier drei Jahre vor Williams Essay, dass ein moralischer Anspruch seinen Verpflichtungscharakter durch eine vernünftige moralische Entscheidung (sei diese nun an einer Hierarchie von moralischen Anforderungen orientiert oder an leitenden Prinzipien im Sinne des Utilitarismus) nicht verlieren würde. Lemmon 1962, 108. 11 Williams 1965a, 273 f. 9
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bestand‹ im Sinne eines immer noch bestehenden moralischen Anspruchs bleibt, der durch die Entscheidung lediglich zurückgedrängt, aber in seinem Anspruchscharakter nicht wirklich aufgelöst wurde. (5) Aus dem ›moralischen Restbestand‹ folgt nach Williams wiederum, dass es rational (im Sinne von ›gut begründet‹) ist, wenn ein Akteur nach einer Dilemma-Entscheidung ein quälendes Bedauern (engl. regret) empfindet, weil er mit seiner Entscheidung ja tatsächlich einem moralischen Anspruch zuwiderhandeln muss, der seinen Charakter als moralischer Anspruch durch die moralische Entscheidung nicht verloren hat. Damit lautete eine fünfte Prämisse P5, dass es nach einer Dilemma-Entscheidung einen rationalen »Grund des Bedauerns« gibt. Das gilt nach Williams ausdrücklich auch dann, wenn der Akteur glaubt, mit seiner »Entscheidung so gut wie möglich gehandelt zu haben«. Auch in dieser Hinsicht »verhält« es sich nach Williams bei den moralischen Dilemmata »ebenso wie bei den Wünschen«, wobei es sich »natürlich um eine andere Art von Bedauern« handele. Charakteristisch für die Entscheidung eines moralischen Dilemmas ist nach Williams also, dass der Akteur das »Nichtgetane bedauert«, obwohl er gleichzeitig »überzeugt« 12 ist, diejenige Entscheidung getroffen zu haben, für welche situativ die besten Gründe gesprochen haben. (6) Eine sechste Prämisse P6 lautet schließlich, dass es im Bereich der moralischen Konflikte keine Strategien der Abmilderung von zurückgedrängten moralischen Ansprüchen geben kann, weil es zynisch wäre, das Bedauern nach einer Dilemma-Entscheidung ausblenden oder abtöten zu wollen. Diese Prämisse plausibilisiert Williams, indem er moralische Konflikte von Wunschkonflikten und Überzeugungskonflikten unterscheidet. (6.1) Im Falle von Überzeugungskonflikten ist es zweifellos rational, herausfinden zu wollen, ob eine Überzeugung falsch ist, damit man sich von dieser Überzeugung gegebenenfalls verabschieden kann. Vergleichbar gibt es nach Williams einen »Begriff praktischer Rationalität«, dem zufolge man sich im Falle eines Wunschkonfliktes rational verhält, indem man sich »Gedanken darüber macht«, wie man »die Enttäuschung seiner Wünsche verhindern kann«. Beide Formen von Rationalität können nach Williams nun ins ›Irrationale‹ übertrieben 12
Williams 1965a, 273 f.
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6. Das moralische Dilemma als Verkettung übler Umstände nach Williams
werden. Die Rede ist von der Ataraxie-Ethik des Altertums einerseits, die »das Wünschen« auf »ein Mindestmaß reduzieren« wollte, und von der »Skepsis« andererseits, die sich aus Angst vor Irrtümern nach Williams weigert, die Möglichkeit von Wissen überhaupt anzuerkennen. (6.2) Williams kommt auf diese beiden ›Vermeidungsstrategien‹ zu sprechen, weil es in seinen Augen im Falle von moralischen Konflikten ausdrücklich nicht freisteht, ihnen mit »Gleichgültigkeit« im Sinne einer theoretischen »Skepsis« oder im Sinne der »Ataraxie« der antiken Ethik zu begegnen, da mit »dem Begriff des moralischen Anspruchs« schließlich »etwas gemeint« sei, das man »nicht einfach ignorieren« kann. Es widerspräche dem verpflichtenden Charakter von moralischen Handlungsgründen, wenn jemand »seine moralische Anteilnahme an Situationen«, die »Konflikte hervorbringen«, einfach nur »zurückziehen« würde. Deshalb kann Gleichgültigkeit gegenüber moralischen Konflikten nach Williams für einen moralischen Akteur zumindest »so lange« keine situationsadäquate Reaktion sein, wie er »die erlebten Konflikte als Konflikte mit einer echten moralischen Grundlage betrachtet«. Damit ist es uns nach Williams »nicht anheimgestellt, ein konfliktfreies Leben zu führen, indem ich solchen Konflikten« einfach »mein Interesse entziehe« 13. (7) Aus den genannten Prämissen zieht Williams drei Schlussfolgerungen. (7.1) Im Essay Ethical Consistency von 1965 lautet die Schlussfolgerung K1, dass das Bedauern von moralisch bewunderungswürdigen Menschen (nachdem es als rational ausgewiesen wurde) nach einer Dilemma-Entscheidung beweist, dass es das (unauflösbare) moralische Dilemma tatsächlich gibt, weil das Faktum dieses Bedauerns beweist, dass es den Konsistenzbemühungen der angelsächsischen Debatte zum Trotz keine moralphilosophische Strategie gibt, durch welche die durch eine Dilemma-Entscheidung zurückgedrängten moralischen Ansprüche ausgemerzt oder auch nur abgemildert werden könnten. So in etwa könnte man Williams’ ›phänomenologisches Argument des moralischen Restbestandes‹ zusammenfassen. (7.2) In dem Essay Consistency in Rationalist Moral Systems von 1984 zieht Williams dann außerdem die provozierende Schlussfolgerung K2, dass der moralische Realismus offensichtlich »falsch« sei, weil 13
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(a) Das phänomenologische Argument des moralischen Restbestands
er nicht anerkennen könne, dass ein moralisches Dilemma »nicht unbedingt« bedeuten müsse, dass mit dem moralischen Akteur »etwas nicht stimmt«, weil der moralische Konflikt auch in »der betreffenden Situation« 14 begründet liegen könnte. (7.3) Zuvor hatte Williams in seinem Essay Conflict of Values von 1977 noch die dritte Schlussfolgerung K3 gezogen, dass die Moralphilosophie ihre Grenzen angesichts der Unvermeidbarkeit moralischer Dilemmata einsehen und sich nicht mehr als normative systematische Wissenschaft verstehen sollte, sondern nur noch als vermittelnde Instanz, die dafür Sorge trägt, dass »das private Empfinden und die Regeln der öffentlichen Ordnung nicht zu weit auseinandertreiben« 15. Als Syllogismus dargestellt, sieht Williams’ Position damit etwa folgendermaßen aus: P1: Die Gefühle, die jemand in verschiedenen Situationen empfindet, sagen etwas darüber aus, ob er ein moralisch bewundernswerter Mensch ist. P2: Moralisch bewunderungswürdige Menschen artikulieren mit signifikanter Häufigkeit nach einer Dilemma-Entscheidung ein Bedauern, obwohl sie ihre Entscheidung sorgfältig abgewogen haben. P3: Die Moralphilosophie kann moralische Dilemmata weder systematisch vermeiden noch restlos lösen. P4: Deshalb bleibt nach jeder Entscheidung eines Dilemmas ein ›moralischer Restbestand‹. P5: Wegen des ›moralischen Restbestandes‹ ist es rational (im Sinne von ›gut begründet‹), wenn moralisch bewunderungswürdige Menschen nach einer Dilemma-Entscheidung ein quälendes Bedauern empfinden. P6: Es gibt keine Strategie, durch welche sich dieses Bedauern abmildern ließe. → K1: Es gibt das moralische Dilemma. → K2: Der moralische Realismus ist falsch. → K3: Die Moralphilosophie kann keine systematische normative Wissenschaft sein.
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6. Das moralische Dilemma als Verkettung übler Umstände nach Williams
Die Prämisse P2 scheint sich nicht sinnvoll bestreiten zu lassen: Wenn moralisch bewunderungswürdige Menschen sagen, sie hätten nach einer wohlabgewogenen Entscheidung Gefühle des Bedauerns empfunden, wird man ihnen das wohl glauben müssen, zumal die Erfahrung ja auch vertraut ist. Wie die Diskussionen in den Kapiteln 3–5 gezeigt haben, sollte Prämisse P3 zugegeben werden, obwohl der knappe Durchmarsch in Williams’ Essay von 1965 davon nicht überzeugen kann. Weil sich Prämisse P4 unmittelbar aus der Prämisse P3 ableitet, muss auch P4 zugegeben werden, nachdem P3 zugegeben wurde, zumal der ›moralische Restbestand‹ in der angelsächsischen Debatte auch nicht strittig war. 16 Zu diskutieren bleiben damit die Prämissen P1, P5 und P6 sowie die Konklusionen K1, K2 und K3.
(b) Der Einwand der bloßen Subjektivität von Gefühlen (P1) Der erste Prämisse P1 besagt, dass die »Gefühle«, die »jemand in verschiedenen Situationen« empfindet, »sehr viel damit zu tun« hätten, »ob er ein bewundernswerter Mensch ist oder nicht« 17. (1) Die Prämisse ist vordergründig plausibel, weil wir tatsächlich schnell bereit sind, Menschen zu bewundern, die in einer moralisch brisanten Situation bewunderungswürdigen moralischen Gefühlen Ausdruck geben. Deshalb trauern viele Personen des öffentlichen Lebens öffentlich. (1.1) Dem Einwand, dass solche Gefühlsausdrücke geheuchelt sein können, begegnet Williams in dem Essay Morality and Emotions von 1965 mit der Präzisierung, dass nur ein aufrichtiger Gefühlsausdruck So gibt Foot diese Prämisse beispielsweise ausdrücklich zu, wenn sie auch abschwächend von ›reminder‹ (Denkzettel) statt von ›residue‹ (Restbestand) spricht. Vgl. 6.c.8.2. 17 Williams 1965a, 263 f. Eine nähere Entfaltung findet die erste Prämisse hier nicht. Der Essay wird nach dem Motto ›Angriff ist die beste Verteidigung‹ mit der Bemerkung eingeleitet, dass »die Vernachlässigung der Moralpsychologie und insbesondere der Rolle der Gefühle in der Moral« einen »großen Teil der neueren Diskussionen irregeleitet und unrealistisch gemacht« hätte. Die Gegner sind zweifellos Hare und die deontische Logik. Williams 1965a, 263. Ebenfalls mit dem Mittel der Abgrenzung arbeitet der Essay Sittlichkeit und Gefühl von 1965. Bevor dieser Essay zwei eigene Thesen zum Stellenwert des Gefühls für die Moralphilosophie entfaltet, grenzt er sich sowohl von der sprachanalytischen Philosophie als auch von der Moralphilosophie Kants als den beiden großen Gegner des Subjektivismus ab. Williams 1965b. 16
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(b) Der Einwand der bloßen Subjektivität von Gefühlen (P1)
im wörtlichen Sinne ein ›Gefühlsausdruck‹ sei, weil jemand, der »etwas Unaufrichtiges sagt«, gerade nicht seine Gefühle »zum Ausdruck« 18 bringt, sondern diese im Gegenteil verberge. Drängender ist jedoch der Einwand, dass wir Menschen nicht wegen ihrer Gefühle, sondern wegen ihren Taten bewundern. Williams gibt diesen Einwand zu, wenn er in seinem Essay Morality and Emotions von 1965 betont, dass moralisch bewunderungswürdige Gefühle nur dann Anzeichen für moralische Bewunderungswürdigkeit sein können, wenn sie in einem entsprechenden Verhalten ihren adäquaten Ausdruck finden. 19 (1.2) Es ist nun allerdings müßig, den Zusammenhang von Gefühlsausdrücken und moralischer Bewunderungswürdigkeit weiter zu diskutieren, weil dieser Zusammenhang – und mit ihr die gesamte erste Prämisse in Williams Formulierung – im vorliegenden Kontext unerheblich ist. Im vorliegenden Zusammenhang ist es nämlich offensichtlich nicht wichtig, ob sich aus den Gefühlen eines Menschen ableiten lässt, dass er moralisch bewunderungswürdig ist oder nicht. Im Kontext des Arguments des moralischen Restbestands muss das nicht interessieren. Interessieren muss jedoch, ob sich aus den Gefühlsreaktionen von Menschen (gleich, ob sie nun moralisch bewunderungswürdig sind oder nicht) irgendetwas über die Beschaffenheit der Situationen ableiten lässt, auf welche die Menschen mit ihren Gefühlen reagieren. Nur, wenn das bejaht werden kann, wären die Gefühlen des Bedauerns von moralisch bewunderungswürdigen Menschen nämlich im Sinne von Williams’ Argument eine phänomenologische Bestätigung für seine moralphilosophischen Prämissen P3 und P4, denen zufolge nach jeder Dilemma-Entscheidung ein ›moralischer Restbestand‹ bleiben soll, weil sich moralische Dilemmata weder systematisch vermeiden noch vollständig auflösen lassen. Damit muss im vorliegenden
Williams 1965b, 344. Williams knüpft in den hier einschlägigen Passagen an namentlich nicht näher verortete »neuere Debatten« an, in denen »immer wieder hervorgehoben worden ist, daß Vereinbarkeit bzw. Angemessenheit des Handelns das Kriterium moralischer Aufrichtigkeit« sei. Die »Aufrichtigkeit« wird dieser Debatte zufolge nach Williams dadurch »belegt«, dass der Akteur in vergleichbaren Situationen immer nach demselben Muster handelt. Nach Williams sollte »das Muster«, dem die moralischen »Urteile und Handlungen« eines Menschen folgen, wiederum in einer »Gefühlsstruktur« wurzeln, die »diesen Urteilen und Handlungen zugrunde liegt«. Der Essay vertritt insofern in seinem wesentlichen Kern die These, dass »jedes Verhalten« in eine gewisse »Gefühlsstruktur« eingebettet und der adäquate »Ausdruck« davon sei. Williams 1965b, 352 ff.
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Kontext überprüft werden, ob sich mit Williams anstelle seiner ursprünglichen Prämisse P1 auch eine Prämisse P1(1) behaupten lässt, die besagen würde, dass die Gefühle von moralisch bewunderungswürdigen Menschen etwas darüber aussagen, wie eine moralisch problematische Situation tatsächlich beschaffen ist. (2) Die so modifizierte Prämisse bezweifelt Philippa Foot in Moral Realism and Moral Dilemma aus dem Jahr 1983 mit der Äußerung, dass man von der »Existenz eines Gefühls« wohl kaum »auf die Wahrheit der Aussage« schließen könne, die mit dem Gefühl »begrifflich verbunden« 20 ist. Schließlich könnten subjektive Gefühle eine subjektive Ursache haben, die mit der objektiven Lage wenig zu tun haben müssen. So könne man beispielsweise Schuldgefühle haben, wenn man die Sachen eines Verstorbenen verschenkt, obwohl man damit tatsächlich gar nichts Verächtliches bzw. Unmoralisches tut. Mit derselben Stoßrichtung heißt es bei Gowans 1987, dass man »mit Williams sicherlich hinsichtlich der Bedeutung der Emotionen für die Moralität übereinstimmen« kann und dass ein moralisches »Bedauern sicherlich etwas moralisch Bewunderungswürdiges sei«, dass es »jedoch auf einem anderen Blatt stünde, ob man von dem bloßen Faktum eines Bedauerns« schließen könne, dass »es tatsächlich etwas zu bedauern gibt« 21. (2.1) Solchen Zweifeln lässt sich entgegenhalten, dass moralische Gefühle nicht im luftleeren Raum entstehen, sondern immer auch Gründe in der äußeren Situation haben. Die Gefühle, von denen Williams spricht, sind schließlich keine willkürlichen Stimmungen oder Launen, sondern emotionale Reaktionen auf Menschen oder Entscheidungen oder Ereignisse. Dem muss allerdings wiederum entgegengehalten werden, dass unterschiedliche Menschen auf dieselben äußeren Ereignisse und Konstellationen erfahrungsgemäß unterschiedlich reagieren. So verweist schon der frühe Kant darauf, dass manche Menschen »ein leidendes Kind« oder ein »unglückliches und artiges Frauenzimmer« sehr bedauern, aber gleichzeitig »die Nachricht von einer groEs heißt im englischen Wortlaut; »It is impossible to move from the existence of the feeling to the truth of the proposition conceptually connected with it, or even to the subject’s acceptance to the proposition.« Foot 1983, 383. 21 Es heißt im englischen Wortlaut: »We can agree with Williams about the importance of emotions for morality, for example, that regret is sometimes morally admirable. But it is another matter to suppose that the mere fact of regret itself evidences, or even tends to evidence, that something is regrettable«. Gowans 1987, 15. 20
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(b) Der Einwand der bloßen Subjektivität von Gefühlen (P1)
ßen Schlacht mit Kaltsinn vernehmen« 22. Es ist nun müßig, den Einwand der Subjektivität von moralischen Gefühlen mit Blick auf Williams weiterhin zu diskutieren, weil diese Überzeugung (im Verein mit der sich daraus unmittelbar herleitenden Überzeugung von der Subjektivität moralischer Urteile) geradezu den Dreh- und Angelpunkt von Williams’ eigener Moralphilosophie bildet. Schon in dem Essay Morality and Emotions von 1965 heißt es, dass die kantische Vorstellung einer gefühlsunabhängigen »Unvoreingenommenheit« in der Moral nur eine »Phantasievorstellung« 23 sei. In Morality von 1972 knüpft Williams daran mit der Bemerkung an, dass schon Kant treffend darauf hingewiesen hätte, dass »die Menschen sich hinsichtlich ihrer gefühlsmäßigen Artung stark unterscheiden«. Ausdrücklich heißt es hier dann auch, dass nicht nur »moralische Meinungen und moralische Kant 1764, 844. Der frühe Kant hat insbesondere drei Einwände gegen eine Fundierung von Moral in Gefühlen erhoben, die mittlerweile zu den Standardeinwänden zählen. (1) Der erste Vorbehalt des frühen Kants lautet, dass Gefühle anders als die nüchterne Vernunft zu moralisch falschen Entscheidungen führen könnten. So sei beispielsweise die »gutartige Leidenschaft« des Mitleids im Unterschied zur ›wahren Tugend‹ »schwach und jederzeit blind«. Zur Plausibilisierung erfindet Kant das Beispiel eines Menschen, der durch die »Empfindung« des Mitleids dazu bewegt wird, »einem Notleidenden aufzuhelfen«, obwohl er selbst durch seine Hilfe »außer Stand« gesetzt wird, seine eigenen Schulden gegenüber einem Dritten zu bezahlen: Nach Kant darf man die »höhere Verbindlichkeit« einer unabgeleisteten Schuld der »blinden Bezauberung« durch das Mitleid nicht aufopfern. Kant 1764, 843 ff. Beim späten Kant heißt es mit derselben Stoßrichtung: »Selbst dies Gefühl des Mitleids und der weichherzigen Teilnehmung, wenn es vor der Überlegung, was Pflicht sei, vorhergeht und Bestimmungsgrund wird, ist wohldenkenden Personen selbst lästig, bringt ihre überlegte Maximen in Verwirrung, und bewirkt den Wunsch, ihrer entledigt und allein der gesetzgebenden Vernunft unterworfen zu sein.« Kant 1788, 248. (2) Ein zweiter Vorbehalt des frühen Kant lautet, dass von einem bloßen Gefühl erfahrungsgemäß kein Handlungsimpuls ausgeht. Dem zum Mitleid neigenden Menschen möge zwar der »Busen vor jedes Menschen Anteil von Zärtlichkeit aufschwellen und bei jeder fremden Not in Wehmut schwimmen«. Wer jedoch »in mitleidigen Tränen« aufgelöst ist, ist nach Kant »bei aller dieser Gutherzigkeit gleichwohl nichts weiter als ein weichmütiger Müßiggänger«. Kant 1764, 844. Der wirklich Tugendhafte hingegen sei immer auch tatkräftig. (3) Ein dritter Vorbehalt des späten Kant lautet, dass das Mitleid eine zufällige Gefühlsregung sei. Dazu heißt es beim späten Kant, dass es im Feld der moralischen Gefühle anders als im Bereich der Sittengesetze keine »Verbindlichkeit« gäbe, weil es von kontingenten Umständen abhinge, ob sich solche Gefühle entwickeln oder nicht. Kant 1797, 593 f. 23 Williams 1965b, 361 ff. 22
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6. Das moralische Dilemma als Verkettung übler Umstände nach Williams
Anschauungen bloß subjektiv« seien, sondern auch »moralische Urteile« 24. Hier vertritt Williams also ausdrücklich die Auffassung, die man in Ethical Consistency noch vergeblich sucht: Die Auffassung nämlich, dass der Protagonist eines moralischen Konflikts letztlich nur auf der Basis seiner subjektiven Gefühle beurteilen kann, wie seine Situation beschaffen ist. Im Zuge einer ausführlichen AuseinandersetWilliams 1972, 363, 20. (1) Obwohl Williams im Vorwort betont, dass die Abhandlung »keinerlei theoretisches System« entfalten wolle, weil es in seinen Augen »keinen Grund« gibt, warum die Moralphilosophie »überhaupt eine einigermaßen interessante, in sich geschlossene Theorie ergeben sollte«, entwirft Williams seinen Subjektivismus hier erstmals in einem relativ geschlossenen systematischen Zugriff. A. a. O. 7. In einem ersten Kapitel kennzeichnet Williams den Subjektivisten, indem er ihn im Gegensatz zum Amoralisten als eine »Figur« bezeichnet, die »selbst eine Moral besitzt«, aber gleichzeitig »hervorhebt«, dass »andere Menschen andere Moralen haben – und daß es keine Möglichkeit gibt, sich verbindlich für eine Moral aus der Vielzahl der Moralen zu entscheiden«. A. a. O. 20. (2) Zum Kern der Sache gelangt er im zweiten Kapitel, indem er drei zentrale Thesen zur Untermauerung der zentralen Überzeugung seines Subjektivismus exponiert, der zufolge »moralische Meinungen, moralische Urteile oder moralische Anschauungen ›bloß subjektiv‹« sind. (2.1) Die erste These lautet, dass »die moralischen Urteile eines Menschen« lediglich »seine eigenen Einstellungen zum Ausdruck« bringen. Damit sollen moralische Urteile ausdrücklich nicht mit »autobiographischen Behauptungen« gleichgesetzt werden, weil es ansonsten keine moralischen Debatten geben könne, da man die Aussage ›ich habe die Einstellung, dass‹ ebenso wenig bestreiten kann wie die Aussage ›ich bin seekrank‹ beispielsweise. Uninteressant (weil nach Williams auch jenseits des Subjektivismus unstrittig) wäre auch die Lesart, dass es moralische Einstellungen zum Ausdruck bringt, wenn jemand »aufrichtig ein moralisches Urteil fällt«. Gemeint sei vielmehr die Überzeugung, dass »sich bei den in moralischen Urteilen zum Ausdruck gebrachten Einstellungen« im ausdrücklichen Gegensatz zu Tatsachenurteilen »die Frage nach der Richtigkeit oder Falschheit« gar nicht erst stellen soll. (2.2) Mit dieser Präzisierung ist die zweite These angesprochen, der zufolge »moralische Urteile« dem Subjektivismus gemäß nicht »in derselben Weise bewiesen, bestätigt oder als wahr ausgewiesen werden wie wissenschaftliche Aussagen«, weil es sich beim moralischen Urteil dem Subjektivismus zufolge letztlich »lediglich um jeweils individuelle Meinungen« handelt. (2.3) Begründet wird diese These wiederum durch die (vermutlich insbesondere gegen Ross gerichtete) dritte These, dass es »keine moralischen Tatsachen« gibt, sondern nur »jene Tatsachen, die durch wissenschaftliche oder normale Beobachtung entdeckt werden können, und daneben die Werte, die diesen Tatsachen von Menschen beigelegt werden«. Williams 1972, 24. (3) In den folgenden beiden Kapiteln verteidigt sich Williams dann gegen einige zentrale Einwände (Williams 1972, 28–46), bevor er sich in den letzten fünf Kapitel von der sprachanalytischen (a. a. O. 47–64) und der utilitaristischen Moralphilosophie (a. a. O. 84–111) sowie vom moralischen Realismus (a. a. O. 57–84) abgrenzt.
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(b) Der Einwand der bloßen Subjektivität von Gefühlen (P1)
zung mit der Universalisierbarkeitsforderung an moralische Urteile bei Kant in Ethics and the Limits of Philosophy von 1985 bezeichnet es Williams dann sogar als ›beängstigend‹, wenn es einen Einheits- und Konsensdruck in der Moral gäbe, wie er in seinen Augen von Kants Kategorischem Imperativ ausgeht. 25 Es ist überflüssig, weitere Belege anzuführen, weil es keinen Zweifel geben kann, dass Williams die Subjektivität der moralischen Reaktionen nicht nur zugibt, sondern sogar immer wieder verteidigt. (3) Das bedeutet allerdings, dass sich mit Williams die gerade modifizierte Prämisse P1(1) nicht halten lässt, dass sich von den Gefühlen moralisch bewunderungswürdiger Menschen ausgehend etwas darüber aussagen lassen soll, wie eine moralisch problematische Situation tatsächlich beschaffen ist. Mit der These von der Subjektivität moralischer Gefühle wird schließlich die Überzeugung ausgedrückt, dass unterschiedliche moralische Akteure auf dieselben äußeren Ereignisse mit unterschiedlichen Gefühlen reagieren. Insofern kann man mit Williams von den subjektiven Gefühlen eines individuellen moralischen Akteurs lediglich schließen, wie sich die betreffende Situation für den Akteur anfühlt, aber nicht darauf, wie sie sich für andere anfühlen würde oder wie die Situation tatsächlich beschaffen ist, womit die Einwände von Foot und Gowans zugegeben wären. Damit lässt sich mit Williams also lediglich die Prämisse P1(2) verteidigen, dass sich von den subjektiven Gefühlen von moralisch bewunderungswürdigen Akteuren Rückschlüsse ziehen lassen, wie sich die Situation für die moralisch bewunderungswürdigen Akteure darstellt. (3.1) Jetzt könnte man einwenden, dass es sich nicht zwangsläufig um die Gefühle von moralisch bewunderungswürdigen Menschen handeln muss, wenn man aus den Gefühlen eines Menschen Rückschlüsse darauf ziehen will, wie sich die Situation für den Menschen darstellt. Dieser Einwand ist einerseits zuzugeben, weil die subjektiven Gefühle von moralisch unempfindlichen Menschen natürlich genauso gut etwas darüber sagen, wie sich eine Situation für diese Menschen darstellt: nämlich als moralisch unproblematisch. Anderseits lässt sich jedoch die Auffassung verteidigen, dass moralisch sensible Menschen mit besonders intensiven moralischen Gefühlen reagieren, aus denen sich besonders deutliche Rückschlüsse ziehen lassen. Damit ist es letzt25
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lich nachvollziehbar, dass Williams solche Menschen in den Fokus seines Arguments stellt. (3.2) Dem könnte man wiederum entgegenhalten, dass moralische Sensibilität nicht per se mit moralischer Bewunderungswürdigkeit gleichzusetzen ist. Weil damit aber die oben schon als irrelevant zu den Akten gelegte Debatte über die Kriterien moralischer Bewunderungswürdigkeit wieder aufgegriffen werden müsste, möchte ich es möglichen Zweifeln zum Trotz Williams schlicht zugestehen, dass er moralische Bewunderungswürdigkeit mit moralischer Sensibilität gleichsetzt und dass er sich für moralische Sensibilität besonders interessiert, weil sich aus den Reaktionen von moralisch sensiblen Akteuren besonders deutlich Rückschlüsse ziehen lassen, wie sich die Situation für den Akteur darstellt. Damit komme ich zu dem Schluss, dass mit Williams eine Prämisse P1 (2) verteidigt werden kann, der zufolge sich aus den subjektiven Gefühlen eines moralisch bewunderungswürdigen Akteurs besonders deutliche Rückschlüsse ziehen lassen, wie sich die Situation für den bewunderungswürdigen moralischen Akteur darstellt.
(c) Der Einwand der Irrationalität eines moralischen Bedauerns (P5) Die fünfte Prämisse P5 behauptet, dass es wegen des ›moralischen Restbestandes‹ (vgl. P3 und P4) rational im Sinne von ›gut begründet‹ sei, wenn moralisch bewunderungswürdige Menschen nach einer Dilemma-Entscheidung ein quälendes Bedauern (engl. regret) empfinden. Den entscheidenden Einwand gegen diese Prämisse antizipiert Williams in seinem Essay von 1965 selbst mit der Bemerkung, dass es vielleicht als »irrational« angesehen werden könnte, ein »Bedauern zu empfinden«, wenn man »überzeug« ist, »zum Besten« 26 gehandelt zu haben. (1) Der gemeinsame Bezugspunkt der diesbezüglichen Debatte ist der Abschnitt 67 in John Rawls Theory of Justice von 1971. Der hier entwickelten Terminologie zufolge lässt sich der Begriff des ›Bedauerns‹ (engl. regret) »beim Verlust fast jeder Art von Gut« verwenden. Die 26
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(c) Der Einwand der Irrationalität eines moralischen Bedauerns (P5)
›Scham‹ (engl. shame) ist nach Rawls ein Spezialfall des Bedauerns, der auf die Verletzung oder den Verlust der Selbstachtung gerichtet ist, wobei näherhin moralische und natürliche Scham unterschieden werden. Die ›natürliche Scham‹ tritt wegen des »Fehlens oder der Nichtausübung bestimmter guter Eigenschaften oder Fähigkeiten« (engl. excellences) im Falle eines Versagens beispielsweise auf, während die ›moralische Scham‹ bei einem schmerzlich empfundenen Mangel an Tugenden wie »Selbstbeherrschung«, »Willenskraft«, »Mut« oder »Selbstdisziplin« in Fällen von Feigheit oder Geiz beispielsweise auftritt. Schuldgefühle (engl. feeling of guilt) empfindet man nach Rawls schließlich, wenn man »seinem Sinn für das Rechte und das Gerechte zuwidergehandelt hat« 27 hat. Graphisch stellen sich die Unterscheidungen so dar: Schuldgefühle bzw. Reue
Bedauern
natürliches Bedauern (Ereignisse)
Scham (Selbstachtung)
natürliche Scham
moralische Scham
(1.1) Aufgrund dieser Terminologie 28 reitet Trigg in seinem Essay Moral Conflict von 1971 dann eine erste Attacke gegen die Rationalität eines Bedauerns nach einer Dilemma-Entscheidung. Trigg unterscheidet hier unter Berufung auf Hares zweistufigen Utilitarismus zwischen der »Verletzung einer Regel« und der begründeten »Modifizierung einer Regel«, weil eine Regel durch begründete Modifizierung als ReRawls 1971, 479–485. Trigg verweist indirekt auf Rawls, indem er auf Hares Terminologie verweist, der sich wiederum auf Rawls bezieht. Trigg 1971, 49. Triggs Essay intendiert insgesamt eine Verteidigung von Hares zweistufigem Utilitarismus gegen Lyons Verdacht, dass im kritischen Denken Hares moralische Ansprüche beliebig zur Disposition gestellt würden. Vgl. dazu Lyons 1965, 21.
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gel bekräftigt, durch eine Verletzung hingegen zerstört würde. Wer im Straßenverkehr beispielsweise links fährt, um einem Kind auszuweichen, wisse genau, dass er fortan nicht beliebig auf die linke Seite wechseln darf bzw. sollte. Triggs zweiter Prämisse zufolge sind Gefühle von Schuld und Reue nur bei der Zerstörung einer moralischen Regel angebracht. Weil eine moralische Regel durch eine Dilemma-Entscheidung lediglich modifiziert, aber nicht zerstört würde, seien Schuldgefühle und Reue (engl. remorse) nach einer Dilemma-Entscheidung jedoch »inadäquat«. Angebracht sei lediglich ein »Bedauern« über die schlimmen Folgen, für die der Akteur zwar moralisch »nicht verantwortlich« ist, die ihn aber doch »betreffen« sollten: Ist der moralische Akteur nicht völlig abgestumpft, so sollte er nach Trigg nach einer Dilemma-Entscheidung »wenigstens ein Bedauern« empfinden und »wünschen, daß er es nicht tun muß« 29. (1.2) Gegen Triggs Argument würde Williams nun zweifellos einwenden, dass er den utilitaristischen Unterschied zwischen einer Regel-Zerstörung und einer Regel-Zuwiderhandlung nicht nachvollziehen könne. Tatsächlich würde das, was Trigg mit Rawls ›Gefühle der Schuld und der Reue‹ nennt und was er selbst als ›Bedauern‹ bezeichnet, erfahrungsgemäß in gleicher Weise sowohl bei der Zerstörung einer als auch bei der Zuwiderhandlung gegen eine moralischen Regel auftreten. Und zweifellos würde er hinzufügen, dass diese Gefühle in beiden Fällen in gleicher Weise rational seien. (2) Mit dieser Antwort würde sich jedoch die Frage aufdrängen, warum Williams so seltsam undeutlich von einem ›Bedauern‹ nach einer Dilemma-Entscheidung spricht, anstatt die Sache beim Namen zu nennen und die moralischen Begriffe ›Reuegefühl‹ und ›Schuldgefühl‹ zu verwenden. In seinem Essay Ethical Consistency von 1965 führt Williams dafür den Grund ins Feld, dass er die Unterscheidung von natürlichen und moralischen Gefühlen nicht nachvollziehen könne, die Rawls’ Unterscheidungen zugrundeliege. Wenn man jemand anderem Leid zugeEs heißt im englischen Wortlaut: »The point is that the modification of a rule is different from the breaking of a rule.« Trigg 1971, 48. »›Guilt‹ and ›remorse‹ are inappropriate concepts to introduce here. If I do not blame myself I cannot be feeling remorse.« A. a. O. 48. »Regret involves the thought that what I regret is in some respect bad.« A. a. O. 49. »Unlike remorse, regret can clearly be about events for which I am not responsible, even though I care about them« A. a. O. 49. »I must at the very least regret what I am doing. I must wish that I did not have to do it.« A. a. O. 49.
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fügt hat, ließe sich wohl kaum unterscheiden, ob man ›natürlich bedauert‹, dass man Leid zugefügt hat, oder ob man ›moralisch bedauert‹, dass man gegen einen moralischen Anspruch verstoßen hat, der verbietet, dem anderen Leid zuzufügen. 30 (2.1) Diese Bedenken sind nun wenig einsichtig, weil sich das moralisch neutrale ›natürliche Bedauern‹ nach einer Naturkatastrophe beispielsweise von Schuldgefühlen nach einer Zuwiderhandlung gegen den eigenen ›Sinn für das Rechte und das Gerechte‹ sehr wohl unterscheiden lassen. Tatsächlich kann es wohl keinen Zweifel geben, dass es sich bei den Gefühlen, die sich nach einer Dilemma-Entscheidung einstellen, nicht nur um ein ›natürliches Bedauern‹ im Sinne von Rawls handelt, sondern vielmehr um das, was Rawls ›Gefühle der Schuld und der Reue‹ nennt. Vermutlich als Reaktion auf derartige Einwände führt Williams in seinem Essay Moral Luck von 1976 dann ein sogenanntes ›Täter-Bedauern im engeren Sinne‹ ein, welches nach einer DilemmaEntscheidung rational sein soll. (2.1.1) Dem hier entfalteten Vorschlag zufolge soll sich die Gefühlsregung des ›Bedauerns‹ (engl. regret) ganz im Sinne von Rawls und Trigg generell einstellen, sobald etwas Schlimmes geschieht. Kennzeichnend ist der Wunsch, »daß die Dinge anders gewesen wären«. (2.1.2) Im Feld des Bedauerns unterscheidet Williams dann das ›bloße Bedauern‹ vom ›Täterbedauern‹. Ein ›bloßes Bedauern‹ empfindet der unbeteiligte Zuschauer eines Unfalls beispielsweise. Das ›Täterbedauern‹ soll demgegenüber drei Merkmale haben. Erstens solle es sich anders als das ›bloße Bedauern‹ nicht auf ›Sachverhalte‹ richten, sondern auf eigene Handlungen. Darüber hinaus wird das Täter-Bedauern durch einen »bestimmten psychologischen Gehalt« gekennzeichnet, womit zweifelsohne das hier strittige Gefühl der Schuld angesprochen ist. Drittens geht mit dem Täter-Bedauern nach Williams in aller Regel der Wunsch nach »Wiedergutmachung« als »adäquater Ausdruck« 31 dieses Bedauerns einher. (2.1.3) Das Täter-Bedauern soll sich wiederum in zwei Spielarten teilen, nämlich zum einen in das hier einschlägige ›Täter-Bedauern im engeren Sinn‹ und zum anderen in die ›Reue‹. Reue ist nach Williams ein Täter-Bedauern, welches »das Freiwillige« zur Voraussetzung hat. Das heißt, dass sich ›Reue‹ nach Williams’ Terminologie nur nach 30 31
Williams 1965a, 276 f. Williams 1976, 37 f.
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6. Das moralische Dilemma als Verkettung übler Umstände nach Williams
einem freiwilligen Verstoß gegen einen moralischen Handlungsgrund in explizit böser Absicht einstellt. Das ›Täter-Bedauern im engeren Sinne‹ soll sich hingegen bei sensiblen moralischen Menschen einstellen, wenn sie (als Fahrer eines Unfallautos beispielsweise oder auch im Falle einer Dilemma-Entscheidung) unter unfreiwilligen Entscheidungsbedingungen einen Verstoß gegen einen gewichtigen moralischen Anspruch begehen müssen. Insgesamt stellen sich Williams’ Unterscheidungen folgendermaßen dar: Bedauern
Bloßes Bedauern
Täterbedauern
Täterbedauern im engeren Sinne (unfreiwillig)
Reue (freiwillig)
(2.2) Der Einwand gegen Williams’ Vorstoß liegt auf der Hand: Wenn man die Unfreiwilligkeit einer Dilemma-Entscheidung derart betont, kann man von der strittigen Rationalität des ›Täter-Bedauerns im engeren Sinne‹ gerade nicht überzeugen, weil sich der Einwand des moralischen Zwangs aufdrängt. Schließlich könnte man einwenden, dass sich der Protagonist eines Dilemmas mit einem Täterbedauern nicht quälen müsse, weil er gar kein ›Täter im engeren Sinne‹ war, da ihm die Situation (und damit die Tat bzw. die Zuwiderhandlung gegen einen gewichtigen moralischen Handlungsgrund) aufgezwungen wurde. Dieser Einwand wird noch zu diskutieren sein (vgl. 6.d.4). Dass es diesem Einwand zum Trotz nämlich gleichwohl zielführend sein kann, das hier strittige Gefühl nach einer Dilemma-Entscheidung von der ›Reue‹ zu unterscheiden, das lässt sich in Anknüpfung an McConnells Essay Moral Dilemmas and Consistency in Ethics von 1978 demonstrieren. (3) Laut McConnell kann die moralische Empfindung der Scham (engl. shame) nach einer moralischen Entscheidung nur einen rationalen 262
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(c) Der Einwand der Irrationalität eines moralischen Bedauerns (P5)
Grund haben, wenn der Akteur weiß, dass er eigentlich eine andere Entscheidung hätte treffen sollen. Im Falle einer wohlüberlegten Dilemma-Entscheidung hingegen sei nur ein moralisch aussageloses Bedauern (engl. regret) als Anerkennung der Tatsache angemessen, dass moralische Konflikte nun einmal eine schwierige Herausforderung darstellen. 32 Zur Herausarbeitung der Pointe von McConnells Überlegung sind wiederum terminologische Klärungen notwendig. (3.1) Versteht man unter der ›moralischen Scham‹ im Sinne von Rawls das ›moralische Bedauern‹, das auftritt, wenn man charakterschwach (sprich: geizig, feige, entschlusslos o. Ä.) war, wäre ›moralische Scham‹ nach einer Dilemma-Entscheidung tatsächlich irrational, weil es ja sogar ein hohes Maß an Charakterstärke erfordert, eine schwierige Dilemma-Entscheidung zu treffen. Man muss Agamemnon vorwerfen, dass er seine Tochter getötet hat. Charakterschwäche kann man ihm sicherlich nicht vorwerfen. (3.2) Allerdings verwendet McConnell den Begriff ›Scham‹ anders als Rawls, weil sich für McConnell mit ›Scham‹ das Wissen verbindet, dass man eine andere Entscheidung hätte treffen sollen. Auch von ›Schuldgefühlen‹ im Sinne von Rawls scheint nicht die Rede zu sein, weil sich nach Rawls mit Schuldgefühlen ja nicht per se die Einsicht verbinden soll, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. (3.2.1) Wenn McConnell von ›Scham‹ spricht, scheint er vielmehr von einem Gefühl zu sprechen, dass man im Deutschen wohl am treffendsten mit dem Begriff ›Reue‹ (engl. remorse) bezeichnet. Gemeint sind die Gefühle, welche das Wissen oder die dumpfe Ahnung begleiten, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, die man rückgängig machen würde, wenn das möglich wäre. Wenn man etwas bereut, wünscht man, dass man sich anders entschieden 33 und anders gehandelt hätte. Dabei sind Reuegefühle nicht identisch mit moralischer Scham im Sinne von Rawls. Weil falsche moralische Entscheidungen jedoch oft aus Motiven der Feigheit oder Entschlusslosigkeit und ähnlichen charakterlichen Schwächen getroffen werden, beeinträchtigen falsche moralische Entscheidungen in vielen Fällen auch die Selbstachtung, so dass Reuegefühle häufig mit moralischer Scham einhergehen. McConnell 1978, 167. Vgl. mit derselben Stoßrichtung auch McConnell 2006, 9 ff. Weil ein solcher Wunsch einen gewissen Entscheidungsfreiraum voraussetzt, betont Williams treffend, dass man eine Verfehlung gegen einen moralischen Anspruch freiwillig begangen haben muss, um sie hinterher bereuen zu können (vgl. 6.c.2.1.3).
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6. Das moralische Dilemma als Verkettung übler Umstände nach Williams
(3.2.2) ›Reue‹ ist nun zweifellos eine Spielart des Gefühls, welches das Wissen begleitet, dem eigenen ›Sinn für das Rechte und das Gerechte‹ zuwidergehandelt zu haben. Rawls nennt dieses Gefühl ein ›Schuldgefühl‹ (vgl. 6.c.1.1). In Ermangelung eines besseren (sprich: weniger metaphysikbelasteten und weniger metaphorischen) Begriffs werde ich stattdessen von ›Gewissensbissen‹ sprechen, wenn ich die quälenden Gefühle meine, die erfahrungsgemäß das Wissen begleiten, einem gewichtigen moralischen Handlung zuwidergehandelt zu haben. Diesen Begriff führe ich ein, um ›Schuldgefühle‹ und ›Reuegefühle‹ als zwei Spielarten von ›Gewissensbissen‹ unterscheiden zu können. (3.2.3) Entscheidend ist in meinen Augen nämlich, dass die quälenden Gefühle nach einer Dilemma-Entscheidung zwar einerseits zweifellos Gewissensbisse sind, weil sie ja aus dem Wissen entstehen, dem ›eigenen Sinn für das Rechte und Gerechte‹ zuwidergehandelt zu haben; dass sie aber andererseits etwas anderes als Reuegefühle sein müssen, weil es irrational wäre, eine Dilemma-Entscheidung rückgängig machen zu wollen, nachdem die Dilemma-Entscheidung wohl überlegt war. Das heißt, dass es Gewissensbisse gibt, die keine Reuegefühle sind, weil der Akteur zwar weiß, dass er gegen einen gewichtigen moralischen Anspruch verstoßen hat; weil er aber gleichzeitig auch weiß, dass er die Entscheidung genauso noch einmal treffen würde. Diese Spielart von Gewissensbissen, die keine Reuegefühle sind, möchte ich ›Schuldgefühle‹ nennen. Damit treffe ich folgende Unterscheidungen: Bedauern (Verletzung eines nichtmoralischen Guts)
natürliches Bedauern
Scham (Selbstachtung)
natürliche Scham
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Gewissensbisse (Verletzung eines moralischen Anspruchs)
Reuegefühle (Freiwillige falsche Entscheidung)
(Subjektive) Schuldgefühle (Aufgezwungene Entscheidung)
moralische Scham
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(4) Diese Unterscheidung ist für die Debatte über die Rationalität quälender Gefühle nach einer Dilemma-Entscheidung wichtig, weil es zwar gleich zwei rationale Gründe geben mag, nach einer moralischen Entscheidung Reue-Gefühle zu empfinden, aber immerhin noch einen Grund, nach einer Dilemma-Entscheidung Schuldgefühle zu empfinden. 34 (4.1) Reuegefühle haben die beiden rationalen Gründe, dass der Akteur weiß, dass er einem gewichtigen moralischen Handlungsgrund zuwidergehandelt hat und dass er eine falsche Entscheidung getroffen hat, die man so nicht noch einmal treffen würde. Nach einer DilemmaEntscheidung ist eine dieser beiden Bedingungen für die Rationalität von Reue-Gefühlen offensichtlich nicht erfüllt, weil man eine wohlüberlegte Dilemma-Entscheidung ja genauso noch einmal treffen würde. (4.2) Gegeben ist jedoch die zweite Bedingung, dass man einem gewichtigen moralischen Handlungsgrund zuwidergehandelt hat. Das bedeutet, dass es zwar tatsächlich irrational (im Sinne von: nicht ausreichend begründet) wäre, wenn Agamemnon nach seiner Entscheidung Reuegefühle empfunden hätte. Schließlich kann er im Nachhinein ja nicht wünschen, eine andere Entscheidung getroffen zu haben, weil er die Entscheidung so gut abgewogen hat, dass er genau weiß, dass er dieselbe Entscheidung noch einmal treffen würde. Es ist aber durchaus rational, wenn er Schuldgefühle empfindet, weil er sich für eine Handlung entschieden hat, mit der er einem gewichtigen moralischen Handlungsgrund zuwidergehandelt hat. 35 Festzuhalten ist Anders als ich interpretiert Sachs das unangenehme Gefühl (engl. moral residue), das nach der Entscheidung mancher moralischer Konflikte auftritt, jedoch nicht als ›Schuldgefühl‹, von dem man (im Sinne von Williams) auf ein unlösbares moralisches Dilemma rückschließen könnte: Für Sachs erklären sich diese Gefühle hinreichend damit, dass mit jeder Entscheidung moralischer Konflikte gewichtigen Handlungsgründen zuwidergehandelt würde. Das sei auch bei eindeutig richtigen Entscheidungen der Fall, weshalb der Rückschluss auf ein unlösbares moralisches Dilemma nicht zulässig sei. Sachs 2015, 707f. 35 Ich kann mich also terminologisch Sinnott-Armstrong nicht anschließen, wenn er Williams’ Argument mit Blick auf das Liz-Dilemma folgendermaßen verteidigt: »Even if Liz knows this, if she tortures the child, it would not be inappropriate for her to feel remorse.« Sinnott-Armstrong 1988, 44. (Im Liz-Dilemma geht es um die Polizistin Liz, die entscheiden muss, ob sie das Kind eines Terroristen foltern darf, der die Wasserspeicher einer Großstadt vergiftet hat, damit der Terrorist gesteht, von welchen Wasserspeichern die tödliche Gefahr ausgeht.) Sinnott-Armstrong verwendet den Begriff 34
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damit, dass es zwar irrational wäre, nach einer Dilemma-Entscheidung Reue zu empfinden; dass es aber keineswegs irrational ist, Schuldgefühle zu empfinden. (5) Plausibilisieren lässt sich diese These nun ausgerechnet an drei Beispielen, die Hare in Moral Thinking von 1981 ins Feld führt, um sich gegen Williams’ Überzeugung von der Rationalität eines Bedauerns nach einer Dilemma-Entscheidung zu positionieren. (i) Einem ersten Beispiel zufolge hat jemand seinen Kindern eine »Bootsfahrt mit Picknick auf dem Fluß bei Oxford versprochen«, als ein »alter Freund aus Australien« auftaucht, »der nur noch heute hier ist« und möchte, dass ihm und seiner Frau das College gezeigt wird. Natürlich müsse die Entscheidung für den alten Freund ausfallen, weil die Bootsfahrt ja nachgeholt werden könne (vgl. 4.a.3). Sollte der Akteur nach dieser wohlüberlegten Entscheidung behaupten, Reue zu empfinden, weil er den Kindern die Bootsfahrt schließlich versprochen habe, verwechselt er nach Hare »Reue und Bedauern«, weil der Begriff ›Reue‹ ja »den Gedanken« enthielte, dass man das, was man getan hat, »in Anbetracht aller Umstände« tatsächlich nicht »hätte tun sollen«. Genau diesen Gedanken habe man aber nicht, insofern die Entscheidung gegen die Bootsfahrt wohlüberlegt war. Deshalb wäre es nach Hare »irrational« im Sinne von ›unangemessen‹, hier »Reue zu empfinden«. Vielleicht wäre in der »beschriebenen Situation« ein »Bedauern am Platz«, weil man die Kinder enttäuscht habe, aber sicherlich »keine Reue«. (ii) Hares zweites Beispiel ist dem Film The Cruel Sea entlehnt. Der Befehlshaber steht vor der Entscheidung, ob er die Seeleute von angeschossenen eigenen Schiffen retten oder die feindlichen U-Boote mit Unterwasserbomben zerstören soll, was das Ertrinken der eigenen Schiffbrüchigen zur Folge hätte. Er entscheidet sich für die Wasserbomben, um anschließend Zeit seines Lebens unter dem Ertrinken der ihm anvertrauten Männer zu leiden. Wie Hare betont, kann es sich bei diesen »Qualen« nur um ein moralisch neutrales »extrem starkes Bedauern« handeln, weil sich »der Kapitän ja dafür entschieden« hatte, dass er die »über Bord Gegangenen ertrinken lassen sollte«, während »Reue« dem Sprachgebrauch Hares zufolge »implizieren würde, daß er ›Reue‹ ausdrücklich anders als ich: Seinem Sprachgefühl zufolge impliziert Reue (engl. remorse) nicht den Wunsch, die Entscheidung rückgängig machen zu können. Vgl. a. a. O. 50. Sinnott-Armstrong stützt sich diesbezüglich auf Phillips u. a. 1967, 18 ff.
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denkt, daß er ihn nicht hätte ertrinken lassen sollen«. Genau das habe er aber »ex hypothesi« nicht gedacht, weshalb er den Begriff ›Reue‹ zur Kennzeichnung der Gefühle des Kapitäns für unangemessen erklärt. (iii) In einem dritten Beispiel wird Hare persönlich, indem er von einer Reise in die CSSR zur Zeit des Kalten Krieges berichtet, bei der er sich entschieden habe, »beim Übertritt in die CSSR« zu lügen, sobald er »von den Grenzbeamten nach dem Zweck« seiner Reise gefragt würde, weil ihn die Grenzbeamten »höchstwahrscheinlich ausgewiesen« hätten, wenn sie den wahren Zweck der Reise (Hare wollte »dort mit ein paar Philosophen reden«) gekannt hätten. Wie Hare bekennt, hat er allen guten Gründen für diese Entscheidung zum Trotz in der Situation dann »nicht nur Furcht empfunden«, durchschaut zu werden, sondern zudem auch »ein Gefühl von Schuld in Anbetracht dessen«, dass er gelogen hatte. Anstatt diese Schuldgefühle nun aber ernst zu nehmen, distanziert sich Hare von diesen Gefühlen, indem er mit der Erklärung aufwartet, dass sie ausschließlich seiner moralischen Erziehung zu verdanken seien, der zufolge man nicht lügen darf. (5.1) Hare ist nun ausdrücklich Recht zu geben, wenn er betont, dass Reue in der vorliegenden Situation irrational gewesen wäre, weil er ja »nicht im Zweifel darüber gewesen« sei, dass er in der vorliegenden Situation »lügen sollte« 36. Dasselbe gilt für die anderen Beispiele. Es wäre ebenso irrational, wenn der Kapitän seine Entscheidung bereuen würde, wie es irrational wäre, wenn der Vater seine Entscheidung für den Kollegen bereuen würde, weil es keinen Grund gibt zu glauben, dass die jeweils wohlüberlegten Entscheidungen anders ausfallen würden, wenn sie noch einmal getroffen werden könnten. (5.2) Es wäre allerdings offensichtlich zynisch, wenn der Kapitän tatsächlich nur ein moralisch neutrales ›Bedauern‹ im Sinne Hares empfunden hätte, so stark dieses Bedauern auch gewesen sein mag. Es scheint vielmehr angemessen zu sein, dass er schreckliche Schuldgefühle empfunden hat, wie der Film erzählt. Vergleichbar ist es rational nachvollziehbar, wenn ein Vater Schuldgefühle gegenüber seinen Kindern verspürt, nachdem er ein ihnen gegebenes Versprechen gebrochen hat, weil ein gebrochenes Versprechen auch bei noch so guten Gründen ein gebrochenes Versprechen bleibt. Dasselbe gilt schließlich für die schützende Lüge an der Grenze: In der vorliegenden Situation haben zweifellos gute Gründe für eine schützende Lüge vorgelegen, aber auch 36
Hare 1981, 71–76. Verweis auf Rawls 1971, 479–485.
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eine gut begründete schützende Lüge ist nun einmal eine Lüge. Damit bleibt festzuhalten, dass die einschlägigen Beispiele in Moral Thinking zwar einerseits tatsächlich im Sinne Hares veranschaulichen können, dass Reue-Gefühle nach einer wohlüberlegten Dilemma-Entscheidung irrational wären, weil man weiß, dass man die Entscheidung genauso noch einmal treffen müsste. Sie veranschaulichen aber gegen Hares Intention auch, was hier strittig ist: Sie veranschaulichen, dass Schuldgefühle nach einer Dilemma-Entscheidung rational sind, weil man mit einer Dilemma-Entscheidung einem gewichtigen moralischen Anspruch zuwiderhandeln muss. (6) Für die Rationalität von Schuldgefühlen nach einer Dilemma-Entscheidung lässt sich mit Williams natürlich vor allem das Argument des ›moralischen Restbestands‹ ins Feld führen, dem zufolge sich moralische Ansprüche nicht einfach in Luft auflösen, wenn sich ein moralischer Akteur (mögen die Gründe auch noch so tragfähig sein) gegen sie entscheidet (vgl. P4), so dass Gewissensbisse in der Spielart der Reue zwar nicht gerechtfertigt zu sein scheinen, aber immerhin doch Gewissensbisse in der Spielart von Schuldgefühlen. Zwei weitere Argumente lassen sich aus der Debatte entlehnen. (6.1) Ein wichtiges Argument ist zweifellos das Argument der Angemessenheit von Entschuldigungen. Es klingt in Williams’ Essay Morality and Emotions von 1965 an, in dem die »schöpferischen Aspekte des Schuldgefühls« mit dem Hinweis darauf hervorgehoben werden, dass Schuldgefühle ein wichtiger Impuls dafür sein können, »die Dinge wieder in Ordnung zu bringen« 37. Marcus springt in ihrem Essay Moral Dilemma and Consistency auf diesen Zug auf, indem sie betont, dass Schuldgefühle Impulse für »Entschuldigungen und Erklärungen« sein können, die sie auch dann für adäquat hält, wenn »die Prioritäten« einer moralischen Entscheidung klar auf dem Tisch liegen. Plausibilisierend verweist sie auf den »tragischen Fall« des Franzosen, der in Jean Paul Sartres Essay L’existentialisme est un humanisme von 1946 (vgl. Kapitel 2, Anm. 5) geschildert wird: Gleich, ob sich der Franzose letztlich gegen sein Land oder gegen seine »absolut abhängige Mutter« entscheiden wird, wäre es »inadäquat«, wenn er gegenüber der »zurückgewiesenen Alternative« keine »Schuldgefühle« 38 empfinden würde. In 37 38
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Williams 1965b, 354 f. »Even where priorities are clear and overriding and even though the burden of guilt
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dasselbe Horn stößt schließlich auch Monika Betzler in ihrem Essay Sources of Practical Conflicts and Reasons for Regret von 1999, wenn sie betont, dass Schuldgefühle dazu »motivieren, sich zu entschuldigen und Wiedergutmachungen anzubieten« 39. So überzeugend das Argument der Angemessenheit von Entschuldigungen in vielen Fällen auch sein kann, so ist ihm doch entgegenzuhalten, dass es gerade in den besonders ›teuflischen‹ Fällen des moralischen Dilemmas (vgl. 2.f.3) unmöglich sein kann, die Folgen der Dilemma-Entscheidung wiedergutzumachen, so dass Entschuldigungen unter Umständen taktlos oder sogar zynisch wirken könnten. (6.2) Dieser Einwand muss wohl zugegeben werden. Damit gerät ein zweites wichtiges Argument für die Rationalität von Schuldgefühlen in den Blick. Es lautet, dass es rational im Sinne von ›lebensklug‹ sei, wenn man die subjektiven Schuldgefühle, die sich durch eine Dilemma-Entscheidung einstellen können, deutlich empfindet und bewusst durchlebt. (6.2.1) Eine eher schwache Begründung für dieses Argument entfaltet Marcus in ihrem Essay Moral Dilemma and Consistency von 1980. Der Essay warnt davor, die nach einer Dilemma-Entscheidung auftretenden Schuldgefühle zu verdrängen, weil von solchen Gefühlen der wichtige Impuls ausgehen würde, sein Leben so zu gestalten, dass Dilemmata in der Zukunft gar nicht erst entstehen. 40 Mit dieser Begründung widerspricht sich Marcus selbst. Ihr Essay will nämlich insgesamt davon überzeugen, dass sich Dilemmata selbst in konsistenten moralischen Systemen nicht vermeiden lassen. Wenn sie von Schuldgefühlen den Impuls erwartet, das eigene Leben in Zukunft so zu arrangieren, dass Dilemmata vermieden werden, erwartet sie von Schuldgefühlen also etwas, was man ihren eigenen Ausführungen zufolge nicht erwarten kann. (6.2.2) Eine bessere Begründung lässt sich mit Betzler entwickeln. may be appropriately small, explanations and excuses are in order. But in such a tragic case as that described by Jean-Paul Sartre where the choice to be made by the agent is between abandoning a wholly dependent mother and not becoming a freedom fighter, it is inadequate to insist that feeling of guilt about the rejected alternative are mistaken and that assumption of guilt is inappropriate.« Marcus 1980, 197. 39 Es heißt im englischen Wortlaut: »For example, regret motivates us to make excuses, to provide compensation, and to express our continuing evaluation.« Betzler 1999, 216. 40 Marcus 1980. Auf Williams wird verwiesen a. a. O. 203, Anm. 8. Derselbe Argumentationsgang wird noch einmal entfaltet in Marcus 1996. Das moralische Dilemma
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Schuldgefühle sind Begleiterscheinungen des Wissens, einem gewichtigen moralischen Anspruch zuwidergehandelt zu haben. Durch ein moralisches Dilemma wird man gezwungen, einem gewichtigen moralischen Anspruch zuwiderzuhandeln, der seinen Charakter als moralischer Anspruch durch diese Entscheidung nicht verliert. Deshalb sind Schuldgefühle rational im Sinne von ›gut begründet‹. Schuldgefühle sind darüber hinaus aber auch rational im Sinne von ›lebensklug‹, weil es für die eigene moralische Orientierung wichtig sein kann, sich mittels seiner Schuldgefühle der Tatsache zu vergewissern, dass der Anspruch noch in Kraft ist, gegen den man mit seiner Dilemma-Entscheidung verstoßen musste. Wie Betzler überzeugend zeigt, signalisieren Schuldgefühle, dass der moralische Anspruch, gegen den der Protagonist einer Dilemma-Entscheidung verstoßen musste, für den Protagonisten selbst ausdrücklich immer noch in Kraft ist. Schuldgefühle sind das Anzeichen dafür, dass wir den Anspruch, gegen den wir uns entscheiden mussten, der Entscheidung zum Trotz immer noch anerkennen, und das ausdrücklich nicht nur gegenüber anderen (wie im Falle der Entschuldigungen), sondern auch gegenüber uns selbst. Damit sind Schuldgefühle wichtige Hilfsmittel zur Selbstverständigung über und zur Bekräftigung von moralischen Überzeugungen. 41 Das wiederum bedeutet, dass es irrational wäre, wenn man die Schuldgefühle nach einer Dilemma-Entscheidung schlicht verdrängen oder im Sinne der utilitaristischen Tradition als störendes Relikt einer zu strengen Moralerziehung abtun würde. (7) Nun sind in der angelsächsischen Debatte natürlich auch Argumente gegen die von mir hier verfochtene These der Rationalität von Schuldgefühlen nach einer Dilemma-Entscheidung diskutiert worden. Ein erster Einwand lautet, dass Gewissensbisse generell (und damit auch die hier strittigen Schuldgefühle) lediglich irrationale Relikte der moralischen Erziehung seien. Bei Hare klingt dieses Argument in der Schilderung der CSSR-Reise an (vgl. 6.c.5.3). Und sogar Williams bemerkt in seinem Essay von 1965, dass durch »liberale und utilitaristische« Hinweise auf »besonders sadistische Erziehungsmethoden« leider das »destruktive Gewicht« 42 von Schuldgefühlen in den Fokus der Debatte um die Rationalität von Schuldgefühlen gerückt sei. Tatsäch41 42
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Betzler 1999, 215 f. Williams 1965b, 354.
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lich hat es sich in der utilitaristischen Tradition von John Stuart Mill 43 gut etabliert, Gewissensbisse psychologisch als restriktive Überbleibsel einer rigiden moralischen Erziehung zu erklären. (7.1) Dieses genetische Argument lässt sich allerdings nur gegen die Rationalität von Schuldgefühlen nach einer Dilemma-Entscheidung ins Feld führen, falls sich die moralische Entscheidung gegen einen moralischen Anspruch richten sollte, den der Protagonist des Dilemmas zum Zeitpunkt seiner Entscheidung längst hinter sich gelassen hat. Wenn jemand einem moralischen Anspruch zuwiderhandelt, den er längst nicht mehr für gewichtig hält, wäre es tatsächlich irrational, wenn er Schuldgefühle empfinden würde. (7.2) Dieser Fall dürfte jedoch selten sein. In aller Regel konfrontieren moralische Dilemmata mit moralischen Ansprüchen, die für den Protagonisten aktual großes Gewicht haben, insofern es sich nicht um ein banales Dilemma (vgl. 2.f.4) handelt. Damit ist der Hinweis auf einen möglichen genetischen Zusammenhang von moralischer Erziehung und Schuldgefühlen (bzw. Gewissensbissen) hier nicht einschlägig. (8) Deutlich gewichtiger ist das Argument der Irrationalität von Schuldgefühlen nach einer richtigen moralischen Entscheidung, das Philippa Foot in ihrem viel diskutierte Essay Moral Realism and Moral Dilemma von 1983 entfaltet. Foots Überlegungen basieren auf einer Unterscheidung von zwei Ebenen 44 des Sollens O1 und O2, der zufolge 43 Vgl. insb. das 3. Kapitel Of the Ultimate Sanction of the Principle of Utility in Mill 1861, 80–103. (1) Zur These, dass Schuldgefühle Überreste einer internalisierten Moral sind, vgl. u. a. Hare 1981, 267 ff.; sowie Kohlberg 1968, 35–38. (2) Zur These, dass ›moralische Reue‹ eine Form der Selbstbestrafung ist, vgl. u. a. Strasse 1987, 133–146; sowie Sinnott-Armstrong 1988, 50 f.; sowie Walzer 1973. 44 Obwohl Foot die Unterscheidung von verschiedenen Bedeutungen von ›Sollen‹ für die Lager von moralischem Realismus und Kognitivismus reklamiert, hat sich in der angelsächsischen Debatte diesbezüglich schon vor ihrem Essay ein weitgehender Konsens entwickelt. (1) Die Unterscheidung hat ihren Ursprung vermutlich in der Unterscheidung von prima facie Pflichten und aktualen Pflichten bei Sir David Ross (vgl. 3.a). Unter ausdrücklicher Anknüpfung daran unterscheidet Trigg in seinem Essay Moral Conflict von 1971 ein Sollen O1, das miteinander konfligieren kann, von einem wirklichen und letztendlichen Sollen O2, dem man letztendlich wirklich Folge leisten sollte. Trigg 1971, 52. Diese Unterscheidung nimmt Foot in ihrem Essay auf. Es heißt im englischen Wortlaut: »Type 2 ought statements tell us the right thing to do, and that this means the thing
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moralische Dilemmata entstehen, wenn zwei O1-Sollen in konkreten Situationen in Konflikt geraten. Als O2-Sollen bezeichnet Foot dann dasjenige, was unter Berücksichtigung aller Umstände (engl. all things considered) tatsächlich getan werden sollte. Wenn jemand das Versprechen gegeben hat, als Trauzeuge bei einer Hochzeitsfeier pünktlich zu erscheinen, auf dem Weg dahin aber Zeuge eines Unfalls wird, konfligiert der moralische Anspruch O1a, das Versprechen zu halten, mit dem Anspruch O1b, die Unfallverletzten ins Krankenhaus zu bringen, wobei es nach Foot jedoch letztlich keinen Zweifel geben kann, dass der Protagonist eigentlich O2 tun und die Verletzten ins Krankenhaus bringen sollte. Wenn ein Akteur »a tut in einer Situation, in der ~a noch schlechter wäre«, hat er nach Foot die richtige Entscheidung O2 getroffen, so dass ihm die moralische Fehlleistung a »nicht angelastet werden« und man nicht von »Schuld« 45 (engl. guilt) sprechen könne. Warum sollte man sich schuldig fühlen, wenn man sich (auf der O2Ebene) richtig entschieden hat? So lautet Foots Argument der richtigen Entscheidung im Kern. (8.1) Foots Argument basiert auf der Prämisse, dass Schuldgefühle that is best morally speaking, or speaking from whatever other point of view may be in question«, Foot 1983, 385. (2) Allerdings hat auch Williams (obwohl er sich vom moralischen Realismus ja ausdrücklich distanziert) schon 1965 in seinem Essay Ethical Consistency darauf hingewiesen, dass man offensichtlich etwas anderes meint, wenn man eine Situation so analysiert: ›jemand soll sowohl a und b‹ tun, als wenn man den Rat gibt: ›du solltest eigentlich c tun‹. Williams 1965a, 296. Vgl. zu der Unterscheidung von zwei Bedeutungen von ›Sollen‹ ausführlicher später auch Williams 1981b. (3) Searle führt die Debatte der deontischen Logik über konfligierendes Sollen als Inkonsistenz der Moral im Jahr 1978 dann sogar insgesamt darauf zurück, dass in der Debatte die verschiedenen Arten des ›Sollens‹ nicht unterschieden werden. Konkrete moralische Ansprüche würden durch kontingente Umstände in Kraft gesetzt, so dass man gar nicht auf die Idee kommen könnte, dass es sich bei zwei moralischen Ansprüchen, die durch kontingente Umstände zufällig einmal miteinander in Konflikt geraten sind, um eine logische Kontradiktion handeln würde, wenn man die Abhängigkeit der moralischen Ansprüche von konkreten Umständen in den logischen Formalisierungen gleich mit berücksichtigen würde. Searle 1978, (81–91) 88 f. (4) Auch der späte Hare unterscheidet zwei Arten des Sollens, nämlich einmal das ›Sollen‹ in einer konkreten Situation, für das man sich entschieden hat, und dann das allgemeine ›Sollen‹, das Gegenstand der moralischen Codices und Normensysteme ist. Hare 1981, 7. 45 Es heißt im englischen Wottlaut: »What I am arguing is that if ~a is worse than a, then there is a kind of fault that cannot be imputed to an agent who does a. Nor does it seem reasonable to deny this kind of faultiness the name of guilt.« Foot 1983, 387.
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nur angemessen sind, wenn objektive Schuld in dem Sinne vorliegt, dass ein Akteur eine falsche moralische Entscheidung getroffen hat, für die er von moralischen Urteilsinstanzen wie dem eigenen Gewissen oder einem weltlichen Gericht beispielsweise in einem objektiven Sinne schuldig gesprochen werden müsste. (8.1.1) Diese Prämisse lässt sich jedoch mit Ruth B. Marcus beispielsweise bestreiten, die treffend hervorhebt, dass eine »moralische Verpflichtung« nicht allein schon dadurch »ausradiert« würde, dass der Protagonist einer moralischen Entscheidung davon überzeugt ist, »das Beste aus der misslichen Lage gemacht« 46 zu haben. Tatsächlich handelt es sich bei den Schuldgefühlen, von denen hier die Rede ist, um subjektive Schuldgefühle, die durch das Wissen begründet sind, gegen einen gewichtigen moralischen Handlungsgrund verstoßen zu haben, die aber ausdrücklich keine Rückschlüsse auf objektive Schuld im Sinne einer von außen zu verurteilenden moralischen Fehlhandlung zulassen. (8.1.2) Dass solche subjektiven Schuldgefühle nach einem Verstoß gegen einen gewichtigen moralischen Handlungsgrund auch dann rational begründet sind, wenn der Akteur insgesamt (engl. all things considered) die bestmögliche Entscheidung getroffen hat, vermag vielleicht eine einfache Analogie zu plausibilisieren. Wer die Wahl zwischen Kopf- und Magenschmerzen hat, hat ebenfalls die Wahl zwischen zwei Übeln. Wenn er sich für Kopfschmerzen entscheidet, wird es ihm schlecht gehen, ungeachtet der Tatsache, dass die Magenschmerzen vielleicht noch quälender gewesen wären. Genauso ist es im Bereich der Moral: Wer die Wahl zwischen zwei moralischen Vergehen hat und sich für eines der beiden Vergehen entscheidet, um nicht das andere Vergehen begehen zu müssen, weil dieses vielleicht noch verwerflicher wäre, hat dennoch ein moralisches Vergehen begangen, weshalb subjektive Schuldgefühle rational im Sinne von ›gut begründet‹ sind, wenn man ihn auch vielleicht nicht in einem objektiven Sinne ›schuldig‹ sprechen würde (vgl. zum Hiat zwischen subjektiven Schuldgefühlen und objektiver Schuld ausführlicher 6.d.5.4). (8.2) Diese mögliche Antwort hat Foot nun in gewisser Weise anEs heißt im englischen Wortlaut: »But, if we do make the best of a predicament, and make a choice, to claim that one of the conflicting obligations has thereby been erased is to claim that it would be mistaken to feel guilt or remorse about having failed to act according to that obligation.« Marcus 1980, 197.
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tizipiert. Zumindest räumt sie explizit ein, dass selbst bei der »klarsten Entscheidung« eines moralischen Konfliktes auf der Ebene O2 auf der Ebene O1 ein moralischer »Denkzettel« (engl. moral reminder 47) bleibe. Allerdings wäre es »ausgesprochen närrisch«, deswegen »Gewissensqualen« 48 (engl. distress) zu empfinden. Eine schwacher »Denkzettel« an den zurückgedrängten Handlungsgrund soll also rational begründet sein, während Gewissensqualen nur rational sein sollen, wenn auf der Ebene O2 eine falsche Entscheidung getroffen wurde. Dagegen ist einzuwenden, dass es erfahrungsgemäß vom Gewicht des zurückgedrängten Anspruchs abhängig ist, wie quälend bzw. wie intensiv die Schuldgefühle nach einer Dilemma-Entscheidung tatsächlich sind, und nicht davon, ob man »all things considered« eine wohlüberlegte Entscheidung getroffen hat, die man als solche nicht bereut (vgl. 6.c.4.1). Nach der Entscheidung eines banalen Dilemmas kann man ohne Schuldgefühle zur Tagesordnung übergehen, und es mag tatsächlich nur ein ›moralischer Denkzettel‹ bleiben. Nach der Entscheidung eines teuflischen Dilemmas (vgl. 2.f.4) wäre das jedoch zynisch, mag die Entscheidung auch noch so wohlüberlegt gewesen sein. Wie Williams treffend betont, hat Agamemnon »zweifellos« das getan, was er selbst für das »Bessere« hielt und wozu ihm andere »rationale Personen« sicher auch geraten haben, wenn sie ihn »auf seine Verantwortung als Befehlshaber«, auf »die große Anzahl der Beteiligten« oder auf »seine Ehre« beispielsweise hingewiesen haben. Es ist jedoch ebenso zweifellos unter allen Umständen verboten, seine eigene Tochter zu töten. Deshalb betont Williams ebenfalls treffend, dass nur ein »recht oberflächlicher Moralist« im »Sinne einer Kritik« einwenden könne,
Es heißt im englischen Wortlaut: »We have now seen one definite way in which even the clearest solution of a moral conflict, expressed in a type 2 ought statement which nobody doubts, nevertheless can leave reminder.« Foot 1983, 386. Im Essay von 1983 ist also statt von ›residue‹ schwächer von ›reminder‹ die Rede. Ausführliche terminologische Überlegungen gegen den Begriff ›moralischer Restbestand‹ (engl. moral residue) finden sich in Foot 1995, 199–207. Es handelt sich um einen Beitrag zu einer Festschrift für R. B. Marcus, mit dem Foot an ihren Beitrag von 1983 anknüpfen will. Foot verteidigt hier außerdem gegen Williams’ Idee der unausweichlich falschen Handlung ihre Überzeugung, dass es immer eine richtige Lösung im Sinne der besseren Lösung gibt. A. a. O. 208–212. 48 Es heißt im englischen Wortlaut: »Our case is one in which neither bad consequences nor wickedness, is there to be regretted. Someone who nevertheless felt distress would seem for many of us rather foolish.« Foot 1983, 387. 47
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»er müsse unvernünftig sein, wenn er nachts wach läge, nachdem er seine Tochter getötet hat« 49. (8.3) Dem würde Foot vermutlich entgegenhalten, dass sie keineswegs von einer wohlüberlegten und gut begründeten Entscheidung gesprochen hätte, sondern im Sinne eines monistischen moralischen Realismus von der jeweils besten Entscheidung im superlativischen Sinne. Mit dieser Antwort würde Foot allerdings das zentrale Problem ihres Arguments benennen: Es beruht auf der starken metaphysischen Voraussetzung, dass es die eine ›beste‹ Entscheidung für jeden moralischen Konflikt tatsächlich zweifelsfrei gibt. Erfahrungsgemäß ist es allerdings leider nicht der Fall, dass in jedem moralischen Konflikt »eindeutig« gesagt werden kann, ob »a oder ~a schlechter ist« 50, wie Foot behauptet. In der angelsächsischen Debatte sind vielmehr (nicht zuletzt von Williams selbst; vgl. P3) viele starke Argumente gegen die Annahme der einen ›besten‹ Entscheidung ins Feld geführt worden. Solange jedoch nicht feststeht, dass es die eine ›beste‹ Entscheidung jedes moralischen Konflikts tatsächlich gibt, ist Foots Argument die Basis entzogen. Eine ›beste‹ Entscheidung scheint es insbesondere für teuflische Dilemmata wie dem von Sophie nicht zu geben. Wenn man wie Sophie zwischen zwei extrem bösen Alternativen steht, werden sich moralisch sensible Akteure bei keiner der möglichen Entscheidungen einreden können, es habe sich um die ›beste‹ Lösung gehandelt. (8.4) Gegen diesen Einwand der bösen Alternativen hat Foot ihre Position mit dem Argument der moralischen Zwangssituation verteidigt. Es besagt, dass sich die Akteure eines teuflischen moralischen Dilemmas nicht objektiv schuldig machen können, weil sie keinen Entscheidungsfreiraum hätten. Plausibilisierend vergleicht Foot die »moralische Notwendigkeit« eines teuflischen moralischen Dilemmas mit einer physischen Zwangssituation. Schließlich würde man niemanden Williams 1965a, 274 ff. Williams verteidigt seinen Rückgriff auf die Tragödie als Beispiel für das moralische Dilemma mit dem Argument, dass sich die Konstellationen der Tragödie auch unter gegenwärtigen Umständen wiederholen können. Es heißt im Wortlaut: »Mancher mag sagen, die Mythologie von Agamemnon und seiner Entscheidung sei ohne Belang für uns, da wir uns nicht in einer Welt befinden, in der irrationale Götter den Menschen befehlen, ihre eigenen Kinder umzubringen. Aber es bedarf keiner irrationalen Götter, um Kinder umzubringen«. Williams 1965a, 276. 50 Es heißt im englischen Wortlaut: »Since we are still dealing with cases in which moral conflicts are resolvable, i. e., where it can be said that a is worse than ~a or vice versa, and since this can be said no less in grave situations than in others, either a is worse than ~a or the other way around.« Foot 1983, 389. 49
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objektiv schuldig sprechen, der unter physischem Zwang eine moralische Verfehlung begeht. Dasselbe müsse gelten, wenn sich der Protagonist eines moralischen Dilemmas gezwungen sieht, gegen einen gewichtigen moralischen Handlungsgrund zu verstoßen, um nicht gegen einen noch gewichtigeren moralischen Handlungsgrund verstoßen zu müssen. Die Analogie zum physischen Zwang scheint prima facie sehr stark zu sein. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied. Physischer Zwang ist ein Grund, sich von Schuld auch subjektiv entlastet zu fühlen (vgl. 6.d.4), weil man kein moralischer Akteur ist, wenn man physisch zu etwas gezwungen wird, da man keine Entscheidungen treffen kann. Unter den Bedingungen von physischem Zwang ist man nicht verantwortlich, weil man kein Akteur ist, sondern das Werkzeug der Instanz, von der der Zwang ausgeht. Genau das ist im Falle des moralischen Zwangs einer Dilemma-Situation nicht der Fall. Der Akteur eines Dilemmas hat schließlich durchaus eine Wahl, und er hat auch Entscheidungsfreiheit (wenn auch nur zwischen zwei sehr üblen Alternativen). Das bedeutet, dass er Gründe hat, sich verantwortlich zu fühlen, wenn er eine Entscheidung gefällt hat, und zwar auch dann, wenn er zwischen zwei schweren moralischen Verstößen wählen muss. Und das wiederum bedeutet, dass er (anders als im Falle von physischem Zwang) durchaus einen rationalen Grund für subjektive Schuldgefühle hat, auch wenn er in einem objektiven Sinn nicht schuldig sein mag. (9) Foots Argument der moralischen Zwangssituation findet sich der Sache nach schon in Greenspans Essay Moral Dilemmas and Guilt von 1981, in dem sie auf Marcus’ Essay Moral Dilemma and Consistency von 1980 reagiert. Dilemmata wie Platons Waffendilemma oder Kants Lügendilemma beispielsweise, in denen die eine richtige Lösung offen zu Tage liegt, blendet Greenspan als ›schwache Dilemmata‹ (engl. weak dilemmas) gleich aus. Sie interessiert sich nur für die ›teuflischen Dilemmata‹ (engl. diabolical dilemmas), die Greenspan auch als ›Dilemmata mit bedrückenden Verboten‹ (engl. dilemmas of exhaustive prohibition) kennzeichnet. Im Falle solcher Dilemmata wird der Protagonist »moralisch fehlhandeln, für welche Option er sich auch entscheidet, weil alle möglichen Optionen vom Moralsystem (nicht etwa geboten), sondern verboten sind«. Die Pointe von Greenspans Essay besteht darin, dass sie die moralischen Fehlleistungen in solchen Fällen dem Moralsystem anlastet, weil der Akteur keine »vernünftige Ent276
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(c) Der Einwand der Irrationalität eines moralischen Bedauerns (P5)
scheidung« 51 treffen konnte. In dasselbe Horn stößt schließlich auch Zoglauer. In seinem Buch Normenkonflikte von 1998 heißt es, dass »die Meinung« zu Unrecht »weit verbreitet« sei, dass »wir in einem moralischen Dilemma zwangsweise Schuld auf uns laden«, weil man nur »schuldig« werden könne, »wenn man die Freiheit hat, zwischen Gut und Böse zu wählen, aber trotzdem das Böse wählt«. Hat man aber »nur die Alternative zwischen zwei gleich schweren Übeln«, so kann man laut Zoglauer »für seine Handlung nicht zur Rechenschaft gezogen werden« 52. Nicht die Wahlmöglichkeit per se, sondern ausschließlich die Möglichkeit einer Wahl zwischen »Gut und Böse« sollte laut Zoglauer (der sich mit seiner Position auf Kants Moralphilosophie stützt) die Bedingung der Zuschreibbarkeit von moralischer Schuld sein. (9.1) Der entscheidende Einwand gegen das Argument der moralischen Zwangssituation wurde schon genannt: Solange ein Akteur eine Entscheidung fällen kann, wird er sich subjektiv auch dann für die Entscheidung verantwortlich fühlen, wenn ihm die Alternativen der Entscheidung durch physischen Zwang (vgl. 6.4.4), durch das Schicksal (vgl. 6.4.2), durch böse Umstände (vgl. 6.d.5) oder auch durch das Moralsystem (vgl. 6.c.8.4) aufgezwungen werden. Treffend heißt es dazu bei Kant, dass ein »Selbsttadel« als Schuldspruch des Gewissens unausweichlich sei, wenn der Akteur »zu der Zeit, als er das Unrecht verübte, nur bei Sinnen, d. i. im Gebrauche seiner Freiheit war« 53. (9.2) Damit kann es auch keine Option sein, im Sinne Greenspans die Verantwortung für eine Dilemma-Entscheidung auf ein Moralsystem abzuwälzen. Moralsysteme mögen defizitär sein, aber sie können nicht schuldig werden, weil sie nicht intentional handeln können, sondern lediglich die Richtlinien für intentionales Handeln bereitstellen. Dem allgemeinen Verständnis zufolge können nur menschliche moralische Akteure schuldig werden. Alles andere (wie beispielsweise die Unzulänglichkeit eines Moralsystems) kann man hingegen lediglich als mögliche ›Ursache‹ und damit gegebenenfalls als möglichen Entlastungsgrund (vgl.6.d) einer moralischen Verfehlung ansehen. Ein MoEs heißt im englischen Wortlaut: »There is another sort of dilemma, however, where the agent really is at fault for what he does – no matter what he does – since all his options are ruled out (rather than favoured) by the moral code«. Greenspan 1981, 118. »Given her responsibilities, I think she made a reasonable choice.« A. a. O. 120. 52 Zoglauer 1998, 123 f. 53 Kant 1788, 223 f. 51
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ralsystem mag noch so defizitär sein, aber es bleiben die menschlichen Akteure, welche die Last der Verantwortung einer moralischen Entscheidung tragen müssen, weil sie diejenigen sind, die entscheiden und handeln. (9.3) Deshalb muss sogar Greenspan selbst letztendlich zugestehen, dass es ›nachvollziehbar‹ sei, wenn Akteure subjektive Schuldgefühle nach der Entscheidung eines teuflischen moralischen Dilemmas empfinden, obwohl ja nicht sie, sondern das Moralsystem nach Greenspan in einem objektiven Sinne schuldig sein soll. Mehr behauptet die hier strittige Prämisse in Williams’ subjektivistischem Argument nun allerdings ebenfalls nicht. Vom Standpunkt von Williams’ Subjektivismus betrachtet, kann man schließlich nicht behaupten, dass es ein objektives Indiz dafür ist, dass ein Akteur in einem objektiven Sinne moralisch zu verurteilen ist, wenn er nach einer teuflischen DilemmaEntscheidung Schuldgefühle empfindet. Man kann aber immerhin behaupten, dass ein Akteur einen guten (sprich: rationalen) Grund hat, sich subjektiv schuldig zu fühlen, weil er mit einer Dilemma-Entscheidung tatsächlich einem moralischen Handlungsgrund zuwiderhandeln musste. Damit ist an dieser Stelle zweierlei festzuhalten. Zum einen ist die fünfte Prämisse P5 von Williams’ Argument so zu modifizieren, dass sie im Sinne einer Prämisse P5(1) lauten sollte: Während es irrational wäre, nach einer Dilemma-Entscheidung Reue zu empfinden, sind Schuldgefühle in zweifacher Weise rational, weil man mit einer Dilemma-Entscheidung tatsächlich gegen einen moralischen Handlungsgrund verstoßen hat und weil man sich durch Schuldgefühle der Tatsache vergewissert, dass der zurückgedrängte moralische Handlungsgrund weiterhin Gewicht hat. Weil im Folgenden nicht mehr von einem ›Bedauern‹ im Sinne Williams’ die Rede sein wird, sondern deutlicher von ›Schuldgefühlen‹ (womit dann ›subjektive Schuldgefühle‹ gemeint sein werden), muss auch der Wortlaut der zweiten Prämisse P2 geändert werden. Terminologisch angeglichen, muss die Prämisse P2(1) lauten, dass moralisch bewunderungswürdige Menschen mit signifikanter Häufigkeit nach einer Dilemma-Entscheidung subjektive Schuldgefühle artikulieren, obwohl sie ihre Entscheidung sorgfältig abgewogen haben.
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(d) Der Einwand möglicher Entlastungsgründe (P6)
(d) Der Einwand möglicher Entlastungsgründe (P6) Die sechste Prämisse P6 lautet, dass es im Falle einer Dilemma-Entscheidung anders als im Falle von Wunschkonflikten keine Strategien wie die Ataraxie gibt, durch die sich das Bedauern ausblenden oder abtöten ließe. Im letzten Abschnitt wurde das ›Bedauern‹, von dem Williams spricht, näherhin als ›subjektive Schuldgefühl‹ im Gegensatz zu Gefühlen der Reue und zu einem ›natürlichen Bedauern‹ über den angerichteten Schaden identifiziert. Damit steht jetzt die Prämisse P6(1) zur Debatte, dass es im Falle einer Dilemma-Entscheidung anders als im Falle von Wunschkonflikten keine Strategien wie die Ataraxie gibt, durch die sich die subjektiven Schuldgefühle ausblenden oder abtöten ließen. (1) Schnell ist festzustellen, dass die wichtigsten der klassischen moralischen Entlastungsgründe, die sogar Thomas von Aquin und Kant gelten lassen, im Falle eines moralischen Dilemmas nicht einschlägig sind. (1.1) Ein erster objektiver Entlastungsgrund wären starke Affekte, durch die die Urteilsfähigkeit eingeschränkt wird. Dazu heißt es in Kants Metaphysik der Sitten, dass der »Grad der Zurechnungsfähigkeit« einer Handlung »subjektiv« nach »der Größe der Hindernisse zu schätzen« sei, die im Zuge einer Handlung »überwunden werden müssen«. Als Beispiele für solche »Naturhindernisse«, welche den »Grad der Zurechnungsfähigkeit« von Schuld nach Kunst »subjektiv« mindern können, nennt Kant insbesondere den »Gemütszustand« eines Akteurs: In seinen Augen macht es für die subjektive »Zurechnung« einer Tat einen großen Unterschied, »ob das Subjekt die Tat im Affekt, oder mit ruhiger Überlegung verübt« hat. Insgesamt gilt nach Kant, dass eine »Übertretung« aus subjektiver Perspektive »desto mehr« als »Verschuldung« anzurechnen ist, je kleiner das »Naturhindernis (der Sinnlichkeit)« 54 im Vergleich zur moralischen Pflicht ist. So wichtig dieser objektive Entlastungsgrund in der Praxis des moralischen Urteilens auch sein mag, so unwichtig ist er im Falle des moralischen Dilemmas, weil die Situation des moralischen Dilemmas ja nicht wesentlich dadurch gekennzeichnet ist, dass Affekte die Urteilsfähigkeit des Entscheidungsträgers stören. (1.2) Ein zweiter klassischer Entlastungsgrund wäre der Irrtum 54
Kant 1785, 335.
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über die Umstände der moralischen Entscheidung. Das Beispiel des Thomas von Aquin ist wieder einmal der Beischlaf: Diese Handlung ist ihrer Art nach gut, weil sie der Zeugung von menschlichem Leben dient. Sie wird aber schlecht, wenn die Beischlafenden nicht im heiligen Stand der Ehe stehen. Sollte ein Akteur jedoch aufrichtig der Überzeugung sein, dass die Frau, der er beiwohnt, die eigene Ehefrau ist, macht er sich nach Thomas von Aquin nicht der Sünde des Ehebruchs schuldig, falls es sich (wie immer das auch vorstellbar sein mag) tatsächlich um eine fremde Frau handelt, weil »ja dieser Irrtum nur aus der Unkenntnis eines Umstandes« herrührte, »welche entschuldigt und etwas Unwillentliches zur Folge hat« 55. Auch dieser Entlastungsgrund ist im vorliegenden Zusammenhang nicht einschlägig, weil moralische Dilemmata in aller Regel (Ausnahmen bestätigen diese Regel) nicht aus einer falschen Situationsanalyse entstehen. (1.3) Ein dritter klassischer Entlastungsgrund wäre die physische Unfähigkeit, etwas zu tun, was man tun sollte. Dazu heißt es bei Kant, dass »der gute Wille« sogar wie »ein Juwel doch für sich selbst glänzen« würde »als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat«, falls es durch »eine besondere Ungunst des Schicksals« oder auch »durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen«, insofern alle »Mittel« aufgeboten werden, die in der »Gewalt« 56 des moralischen Akteurs liegen. Wiederum ist ein physisches Unvermögen zweifellos tatsächlich ein starker objektiver Entlastungsgrund, der aber im Falle eines moralischen Dilemmas in aller Regel nicht einschlägig ist. Wie in 5.f.4.3 mit Marcus schon betont wurde, ist schließlich nicht gemeint, dass ein Akteur a oder b für sich genommen in einem physischen Sinne nicht tun kann, wenn man sagt, dass er im Falle eines moralischen Dilemmas nicht sowohl a als auch b tun kann, obwohl sowohl a als auch b gefordert sind. (2) Wenn solche klassischen Entlastungsgründe wegfallen, könnte man als moralischer Akteur versucht sein, vor sich selbst eine metaphysische Instanz wie das Schicksal als Entlastungsgrund ins Feld zu führen. (2.1) Der griechischen Tragödie zufolge ist der gesamte Lebensweg eines Menschen vorherbestimmt. Deshalb könnte ein Protagonist eines 55 56
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Aquin 2001, 113. Kant 1785, 19.
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(d) Der Einwand möglicher Entlastungsgründe (P6)
Dilemmas auf den Gedanken kommen, sich mit dem Hinweis darauf entlasten zu wollen, dass das Schicksal die Dilemma-Entscheidung erzwungen habe. Allerdings lässt der Mythos niemals auch nur den Hauch eines Zweifels daran zu, dass die Last der Entscheidung (und damit auch der Schuld) mit ihrem gesamten Gewicht auf den Schultern des menschlichen Protagonisten liegt. Ödipus muss die Schuld schwer sühnen, die er auf sich geladen hat, obwohl er zuvor doch alles daran gesetzt hatte, seinem Schicksal zu entgehen. Das Grundnarrativ der griechischen Tragödie lässt es grundsätzlich nicht zu, dass sich ein Akteur mit Hinweis auf die Macht der Moiren entlastet, zumal ein metaphysischer Entlastungsgrund wie der des Schicksals jenseits des religiösen Raums der antiken Tragödie heute sowieso keine Überzeugungskraft hätte. Mit Hinweis auf die Macht des Schicksals lassen sich die subjektiven Schuldgefühle nach einer Dilemma-Entscheidung also nicht abtöten. (2.2) In seinem Essay Values and the Heart’s Command von 1973 zitiert van Fraassen (gegen Robert Stalnaker) eine Passage, die Gott als gerechten Gott verteidigt, obwohl er die Menschen mit der Erbschuld belastet hat. 57 Diese Passage stellt den Gedanken in den Raum, dass sich die Schuldgefühle nach einer Dilemma-Entscheidung durch den Hinweis darauf abmildern lassen könnten, dass man zur Schuld verdammt sei, nachdem Gott alle Menschen nach Adams Sündenfall mit der Last der Erbschuld belegt hat. Diesen Gedanken möchte ich nun besonders schnell zu den Akten legen. Erstens kann es nicht entlasten, dass Gott die Möglichkeit zum Bösen geschaffen haben soll, weil er den Menschen der christlichen Morallehre zufolge auch das Wissen über das Gute sowie die Freiheit gegeben hat, sich für das Gute zu entscheiden. Zweitens können sich Christen von ihren Sünden nur entlasten, indem sie Sühne tun und bereuen. Dazu müssen sie zuvor aber besonders intensiv ihre Schuld empfunden haben. Vor allem aber hat die Erbschuldlehre mit der Zwangssituation eines Dilemmas schlichtweg nichts zu tun, weil diese Lehre keine Determination zum Schuldig-Werden nach dem Vorbild der antiken Schicksalslehre behauptet, sondern eine
Van Fraassen zitiert in seinem Essay von 1973 folgende Passage aus dem Fünften Artikel der Synode von Dordrecht (1618–1619): »Since all men have sinned in Adam, and have ›thus‹ become so guilty as to deserve damnation and eternal death, God would have treated no one with injustice had He left the whole human race in sin and damnation and dammed it because of sin«. Fraassen 1973, 147.
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Schuldenlast, die der Mensch qua Geburt mit sich herumträgt und von der er nur durch die Gnade Gottes befreit werden kann. (3) Ein weiterer möglicher Entlastungsgrund wäre die Selbsterhaltung. Der Novelle Sophie’s Choice von 1979 zufolge soll Sophie ihr jüngeres Kind geopfert haben. 58 Gründe werden nicht genannt. Greenspan hält es nun für möglich, dass Sophies Entscheidung letztlich von der Überlegung geprägt war, dass das jüngere Kind abhängiger von ihr wäre als das ältere, womit Sophies eigener Überlebenswille den Ausschlag gegeben hätte. Viel zu schnell urteilt Greenspan dann, dass das »selbst dann falsch wäre«, wenn man ihre Entscheidung »positiv« 59 mit dem Hinweis darauf begründen würde, dass sie ihr eigenes Leben und das Leben ihres älteren Kindes retten wollte. Hinter Greenspans Urteil steht natürlich die kantische Überzeugung, dass die eigenen ethischen Interessen per se hinter den moralischen Interessen anderer zurückzustellen sind. Es gibt allerdings so etwas wie ›ethische Unzumutbarkeit‹, nämlich eine Grenze, in der die berechtigten Interessen anderer die eigenen Interessen in einer Weise berühren, dass man seine eigenen moralischen Ansprüche gegenüber anderen aufgeben müsste, um sie zu erfüllen. 60 Wenn sich ein moralischer Anspruch eines anderen nur um den Preis des eigenen Lebens erfüllen lässt, ist diese Grenze sicherlich erreicht. Selbsterhaltung ist also zweifellos ein Entlastungsgrund, und niemand sollte Sophie objektiv schuldig sprechen, falls sie ihre Entscheidung tatsächlich aus dem Grund gefällt hat, den Greenspan ihr unterstellt. Aus Sophies Innenperspektive wird ihr der Entlastungsgrund allerdings wenig nutzen, ihre quälenden Schuldgefühle abzumildern. Selbsterhaltung ist nämlich lediglich ein objektiver Entlastungsgrund, der ins Feld geführt werden kann, damit andere ihr Urteil abmildern. Sie taugt aber nicht zum subjektiven Entlastungsgrund, um das eigene Urteil über sich selbst abzumildern, und nur um dieses Urteil geht es im vorliegenden Zusammenhang. Damit ist die Selbsterhaltung nur ein sehr unzulänglicher Entlastungsgrund für subjektive Gefühle der Schuld.
Styron 1979; 541. Im Roman opfert sie ihre Tochter und behält den Jungen, ohne dass dafür aber Gründe angegeben werden. 59 Es heißt im englischen Wortlaut: »It might be wrong even if expressed positively.« Greenspan 1981, 119. 60 Vgl. dazu auch Raters 2006b sowie Raters Forthcoming. 58
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(4) Ein sehr gewichtiger Entlastungsgrund scheint nun vorzuliegen, wenn jemand physisch zu einer moralisch verwerflichen Tat gezwungen wird. Allerdings gibt es zwei Arten von physischem Zwang. (4.1) Im wörtlichen Sinne wird ein Akteur zu einer moralisch verwerflichen Handlung gezwungen, wenn beispielsweise seine Hand so geführt wird, dass sie ein Messer in die Brust eines anderen stößt. In diesem Fall ist der Akteur kein moralischer Akteur in dem Sinne, dass er verantwortlich gemacht werden könnte, weil er nur ein Werkzeug bzw. ›der verlängerte Arm‹ dessen ist, der ihn zwingt (vgl. 6.c.8.4). (4.2) Anders stellt sich die Sachlage jedoch im Fall einer DilemmaEntscheidung dar. Sophie wird von einem Nazi-Verbrecher gezwungen, sich zu entscheiden, welches ihrer Kinder leben darf und welches ins Gas geschickt wird. Damit ist in einem objektiven Sinne ohne jeden Zweifel der Nazi-Verbrecher schuld am Tod des Kindes, gegen das sich Sophie entschieden hat. Weil sie aber trotzdem die Freiheit der Wahl hatte, ist sie dennoch moralische Akteurin und als solche dennoch verantwortlich für ihre Entscheidung (wenn auch nicht für die Tatsache, dass sie eine Entscheidung treffen musste). Deshalb ist es ihrer totalen Zwangssituation zum Trotz rational, wenn Sophie subjektive Schuldgefühle gegenüber dem getöteten Kind empfindet, obwohl sie in einem objektiven Sine natürlich nicht schuldig ist. Und weil das Zulassen der Tötung eines eigenen Kindes eines der schlimmsten moralischen Vergehen überhaupt ist, werden ihre Schuldgefühle so intensiv sein, dass sie sie auch dann immer noch quälen, wenn sich Sophie mit allem Recht der Welt sagt, dass eigentlich nicht sie, sondern der Nazi-Verbrecher schuld ist am Tod ihres Kindes. Es stellt also sicherlich einen Entlastungsgrund dar, durch den sich die Schuldgefühle abmildern lassen, wenn der Akteur einer Dilemma-Entscheidung zu der Entscheidung durch andere Menschen gezwungen wurde. Sind die subjektiven Schuldgefühle allerdings (wie es im Fall von Sophies Dilemma wahrscheinlich ist) intensiv genug, werden sie dieser Abmilderung zum Trotz dennoch sehr quälend sein. (5) Mit dem physischen Zwang, dem Sophie ausgesetzt war, ist ein anderes Entlastungsargument angesprochen: Das ›Argument der bösen Umstände‹ (engl. argument of moral luck) nämlich, welches besagt, dass der Protagonist eines moralischen Dilemmas für die gefällte Entscheidung nicht verantwortlich sein soll, insofern er nichts willentlich dazu beigetragen hat, dass das Dilemma entstanden ist. Ein Bigamist Das moralische Dilemma
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hätte diesem Argument zufolge keinen abmildernden Entlastungsgrund. Wenn ein Bigamist vor der Entscheidung steht, welche seiner Frauen er zu Weihnachten mit seiner Anwesenheit beglücken soll, hat er sein Dilemma selbst verursacht, als er zwei Frauen heiratete. Sophies Fall liegt jedoch deutlich anders. Tatsächlich wird die vierte Prämisse P4 von Williams’ ›Argument des phänomenologischen Restbestandes‹ vor allem mit dem Argument bestritten, dass zweifellos ein deutlicher Entlastungsgrund vorläge, falls der Akteur eines moralischen Dilemmas (wie Sophie) ohne eigenes, willentliches Zutun in die DilemmaSituation geraten sein sollte. (5.1) Williams begegnet diesem Einwand in seinem Essay Moral Luck von 1976 mit dem Beispiel eines Lastwagenfahrers, der »ohne eigenes Verschulden ein Kind überfährt«. Dieser Lastwagenfahrer wird Williams’ eindringlicher Schilderung zufolge trotzdem so starke Schuldgefühle empfinden, so dass einem Beobachter »der Fahrer« vermutlich sogar »leid« tun wird, weil er als Fahrer des Lastwagens in einer besonderen Beziehung zu dem »Ereignis« des Kindestodes steht, welche »nicht einfach durch die Erwägung getilgt werden kann, da es nicht seine Schuld war«. Nach Williams lässt sich an diesem Beispiel demonstrieren, dass Schuldgefühle 61 keineswegs »auf freiwilliges Tätigsein beschränkt« 62 sind, sondern sich bei moralisch sensiblen Akteuren erfahrungsgemäß auch dann einstellen, wenn man unverschuldet in eine Situation geraten ist, in der man etwas moralisch Verbotenes tut (wie der Lastwagenfahrer) oder tun muss (wie der Protagonist eines moralischen Dilemmas). (5.2) Dem könnte man nun den in 6.c schon diskutierten Einwand entgegenhalten, dass die Schuldgefühle des Fahrers irrational seien, weil er sich objektiv nicht schuldig gemacht habe. Angemessen seien deshalb nur natürliche Gefühle des Bedauerns über den angerichteten Schaden. Auf diesen Einwand antwortet McConnell in seinem Lexikonartikel zum moralischen Dilemma in der Stanford Encyclopedia of Philosophy in der Internet-Fassung vom 16. Mai 2006, dass es ein mitleidiger Beobachter vermutlich ausgesprochen seltsam finden würde, wenn der Lastwagenfahrer (er trägt bei McConnell den Namen Bill) nach dem Unfall sagen würde, er habe keinen Grund, »sich schuldig Williams spricht nicht von ›Schuldgefühlen‹, sondern vom ›reueähnlichen Gefühl des Täter-Bedauerns‹. Vgl. dazu 6.c.2.1.2. 62 Williams 1981a, 37–40. 61
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zu fühlen, und er würde sich bei den Eltern nicht entschuldigen«, weil er schließlich »keinen Fehler gemacht habe«, obwohl er den Tod des Kindes als »schreckliches Ereignis« natürlich »bedauern« würde. Würde der Autofahrer seine Rolle in dem Unfall in dieser Weise »objektiv« beurteilen, würde man ihn für einen moralisch abgestumpften Zyniker halten, weil wir »Schuldgefühle« eben doch irgendwie für »angemessen« 63 halten, wenn jemand ein Kind überfahren hat. Der Tod des Kindes ist aus der Perspektive des Lastwagenfahrers nämlich nicht einfach nur ein ›Ereignis‹, das er wie ein unbeteiligter Zuschauer einfach nur bedauern dürfte. Schließlich hat der Lastwagenfahrer den Lastwagen gesteuert, der den Jungen überfahren hat, und jeder Lastwagenfahrer weiß, dass man mit seinem Lastwagen keine Menschen überfahren darf. Der Lastwagenfahrer war Akteur, und deshalb würden wir wohl tatsächlich auf moralische Abgestumpftheit rückschließen, wenn er den Tod des Kindes einfach nur als ›schreckliches Ereignis‹ bedauern, aber keine subjektiven Schuldgefühle empfinden würde. (5.3) Nun würde der mitleidige Beobachter dem Lastwagenfahrer allerdings genau das sagen: Er würde vermutlich nicht sagen, dass sich der Fahrer bei den Eltern nicht entschuldigen müsse, aber er würde immerhin sagen, dass er objektiv keine Schuld habe, weil der Tod des Jungen ein schreckliches Unglück gewesen sei, für das er sich nicht mit Schuldgefühlen quälen müsse. Diesem Einwand ist zuzustimmen: Es ist tatsächlich so, dass ein Beobachter von dem Lastwagenfahrer subjektive Schuldgefühle erwarten und ihn gleichzeitig objektiv entschuldigen würde. Daraus lassen sich drei Schlussfolgerungen ziehen. (5.3.1) Die Tatsache, dass wir es als seltsam abgestumpft erleben würden, wenn der Lastwagenfahrer überhaupt keine Schuldgefühle hätte, bedeutet wohl, dass wir es in einem sehr schwachen normativen Sinne von moralischen Akteuren quasi erwarten, dass sie sich auch dann subjektiv schuldig fühlen, wenn sie unfreiwillig eine moralische Verfehlung begangen haben und also in einem objektiven Sinne nicht schuldig zu sprechen sind. Das gilt insbesondere für die moralischen Konflikte, die unter dem Etikett ›Problem der schmutzigen Hände‹ dis-
Es heißt im englischen Wortlaut: »Suppose that Bill had said ›I regret Johnny’s death. It is a terrible thing. But it certainly was not my fault. I have nothing to feel guilty about and I don’t owe his parents any apologies.‹ Even if Bill is correct intellectually, it is hard to imagine someone being able to achieve this sort of objectivity about his own behavior.« McConnell 2006, 10.
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kutiert werden (vgl. 2.e.3). Wenn sich ein politischer Verantwortungsträger beispielsweise gezwungen sieht, Folter anzuordnen, um eine Millionenstadt vor einem Anschlag zu retten, wollen seine Wähler, dass ihm eine solche Anordnung nicht leicht fällt, weil er sich subjektiv schuldig fühlt, obgleich er so gute Gründe für diese Anordnung hat, dass man ihn in einem objektiven Sinne nicht schuldig sprechen würde. 64 Dass es diesen schwachen normativen Anspruch gibt, zeigt sich auch daran, dass wir eher bereit sind, jemanden objektiv zu entlasten, je intensiver seine subjektiven Schuldgefühle zu sein scheinen. In seinem Essay Moral Luck von 1976 spricht Thomas Nagel diesbezüglich von einer »Paradoxie der Verantwortung«. Zwar sei es »intuitiv plausibel«, dass »niemand moralisch angeklagt werden kann für etwas, das nicht seine Schuld war, oder für etwas, das auf Faktoren zurückgeht, die sich seiner Kontrolle entziehen«. Dagegen aber steht nach Nagel das Faktum, dass wir uns auch dann wegen eines moralischen Vergehens subjektiv schuldig fühlen, wenn wir in Abhängigkeit »von Faktoren« handeln und entscheiden müssen, »die eben nicht unserer Kontrolle unterliegen«. Nach Nagel lässt sich dieses Paradox moralischer Kontingenz nicht auflösen, weil wir es mit einem echten »philosophischen Problem« zu tun haben und nicht mit einer »absurden Konsequenz einer womöglich grob vereinfachenden« 65 moralphilosophischen Theorie. 66 Tatsächlich handelt es sich jedoch nicht um ein ›Paradox‹ im Dieses Argument verdanke ich Corinna Mieth während des von Anna Goppel veranstalteten Workshops Moralische Konflikte am Ethik-Zentrum in Zürich vom 7.–8. Dezember 2012. 65 Nagel 1976, 45–49. Verweis auf den berühmten Anfang von Kant 1785. Williams reagiert auf Nagels Essay in Williams 1981a, 45 ff. 66 Der Hauptteil des Essays besteht in dem Aufweis, dass keine der großen Moralphilosophien die »Tatsache« mit einbeziehen kann, dass »die natürlichen Objekte moralischer Wertung in vielerlei Hinsichten entweder nicht unserer eigenen Kontrolle unterliegen oder doch durch Fakten beeinflusst werden, die wir nicht unter Kontrolle haben«, weil sie nach Nagel durch eine solche Einbeziehung »die Möglichkeit« einbüßen würden, an der Möglichkeit von »moralischen Wertungen festzuhalten«. Nagel 1976, 48 f. (1) Besondere Probleme sieht Nagel in der utilitaristischen Position. So scheint ein Utilitarist einen Lastwagenfahrer, der aus Versehen ein Kind überfahren hat, zunächst einmal freisprechen zu müssen, weil er ja nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann, wenn ihm ein Kind vor den Laster rennt. Allerdings sähe die Situation sofort anders aus, falls sich der Fahrer »nur im mindesten der Fahrlässigkeit schuldig gemacht« haben sollte – was man ganz wohl nie ausschließen kann! Obwohl der tödliche Unfall auch dann noch von kontingenten Faktoren abhängig wäre (schließlich hat Nach64
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(d) Der Einwand möglicher Entlastungsgründe (P6)
Sinne einer letztlich unverständlichen und nicht erklärbaren Situation (vgl. 2.d.3.3), sondern schlicht um eine Situation, die sich aus einer subjektiven Innenperspektive anders als aus einer objektiven Außenperspektive darstellt. Schuldgefühle sind die Begleiterscheinung des Wissens, einem gewichtigen moralischen Anspruch zuwidergehandelt zu haben. Der Lastwagenfahrer hat einem gewichtigen moralischen Anspruch zuwidergehandelt, weil durch sein Handeln ein Kind getötet wurde. Insofern ist es nicht nur rational begründet, sondern auch in einem schwachen normativen Sinne in seiner Situation adäquat, dass er sich subjektiv schuldig fühlt, auch wenn er in einem objektiven Sinne nicht schuldig ist. (5.3.2) Festzuhalten ist jedoch auch, dass subjektive Schuldgefühle keinen unmittelbaren Rückschluss auf objektive Schuld zulassen, weil der moralische Akteur selbst als die Instanz, in der sich die subjektiven Schuldgefühle gründen, mögliche Entlastungsgründe nicht in dem Maße wie eine objektive Instanz (ein Gericht beispielsweise) berücksichtigen kann. Ein Richter würde den Lastwagenfahrer nicht verurteilen, weil er objektiv durch die Umstände seiner Handlung nahezu vollständig entlastet wird, so intensiv seine subjektiven Schuldgefühle auch sein mögen. Damit ist schließlich auch festzuhalten, dass Umstände mildernde Umstände sein oder sogar objektiv von einer Schuld entlasten können. Als subjektiver Entastungsgrund taugt der Hinweis auf üble Umstände allerdings wiederum nur bedingt. Es ist ein Unterlässigkeit nur unter bestimmten Umständen einen Unfall zur Folge), wäre der Lastwagenfahrer dem Konsequentialismus zufolge jetzt plötzlich schuldig zu sprechen. Nagel 1976, 50 f. (2) Vergleichbar müssen nach Nagel eigentlich auch die »Charakter- und Persönlichkeitseigenschaften« als zufällige biographische Gegebenheiten behandelt werden. Nagel 1976, 55 f. (3) Wie das Beispiel von dem »Durchschnittsbürger in Nazideutschland« zeigt, der durch kontingente Umstände sowohl die »Gelegenheit« zum »Widerstand gegen sein Regime« als auch die »Möglichkeit, sich schlecht zu verhalten« hatte, scheint sich nach Nagel drittens auch der Weg der absolutistischen Moral zu verbieten, eine Handlung schlicht danach zu bewerten, ob sie im einen absoluten Sinne geboten oder verboten ist, weil sich »Bürger anderer Staaten« einer solchen »Prüfung« schließlich »erst gar nicht unterziehen mußten«. Nagel 1976, 57 ff. (4) Viertens unterliegen nach Nagel auch die Absichten (die nach Kant moralisch zu bewerten sind) kontigenten Faktoren: Schließlich könne man einen potentiellen Mörder allen bösen Absichten zum Trotz wohl kaum des Mordes verurteilen, falls er faktisch keinen Mord begangen haben sollte, weil er aus kontingenten Gründen keine Möglichkeit zum Morden hatte. Nagel 1976, 58. Das moralische Dilemma
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6. Das moralische Dilemma als Verkettung übler Umstände nach Williams
schied, ob andere über uns urteilen oder ob unser Gewissen über uns selbst spricht. Der Lastwagenfahrer und Sophie werden trotz aller objektiven Schuldlosigkeit weiterhin subjektive Schuldgefühle haben, die vermutlich allen möglichen Abmilderungen zum Trotz auch sehr stark sein werden. Das hat seinen Grund darin, dass der Hinweis auf objektive Unschuld wegen böser Umstände, wegen des Zwangs zur Selbsterhaltung oder wegen physischem Zwang subjektive Schuldgefühle gegebenenfalls zwar abmildern, aber nicht ganz abtöten können, so dass die subjektiven Schuldgefühle bei moralisch sensiblen Akteuren auch bei relativ gewichtigen Abmilderungsgründen noch sehr stark sein können, wenn die Dilemma-Entscheidung zu einem Verstoß gegen einen gewichtigen moralischen Anspruch geführt hat. Damit muss die modifizierte Prämisse P6(2) besagen, dass sich die subjektiven Schuldgefühle nach einer Dilemma-Entscheidung durch Entlastungsgründe wie Selbsterhaltung, physischer Zwang oder böse Umstände nicht abtöten, sondern lediglich abmildern lassen.
(e) Das modifizierte Argument Williams’ ›phänomenologisches Argument des moralischen Restbestands‹ basierte auf sechs Prämissen. Wie in 6.a festgehalten wurde, sind neben den Konklusionen die Prämissen P1, P5 und P6 nicht auf den ersten Blick einsichtig, während sich P2 nicht bestreiten lässt und P3 und P4 schlicht zugegeben werden sollten. Die Prüfung der strittigen Prämissen hat nun ergeben, dass das Argument zwar in Details präzisiert werden, aber insgesamt doch verteidigt werden sollte. Als tragbar erwiesen hat sich eine modifzierte erste Prämisse P1(2), der zufolge sich von den subjektiven Gefühlen eines bewunderungswürdigen moralischen Akteurs Rückschlüsse ziehen lassen, wie sich die Situation, in der er sich befindet, für ihn darstellt. Die fünfte Prämisse P5(1) wurde dahingehend verändert, dass es zwar irrational wäre, wenn ein moralischer Akteur nach einer wohlerwogenen Dilemma-Entscheidung Reuegefühle empfinden und die Entscheidung rückgängig machen wollen würde; dass es aber durchaus rational sei, wenn er sich mit subjektiven Schuldgefühlen plagt, weil subjektive Schuldgefühle aus der dumpfen Ahnung oder auch dem expliziten Wissen entstehen, 288
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(e) Das modifizierte Argument
gegen eine gewichtige moralische Entscheidung verstoßen zu haben. Modifiziert besagt die sechste Prämisse P6(2) schließlich, dass sich die subjektiven Schuldgefühle nach einer Dilemma-Entscheidung durch objektive Entlastungsgründe wie Zwang zur Selbsterhaltung, physischer Zwang oder böse Umstände nicht abtöten, sondern lediglich abmildern lassen. Nach den entsprechenden Modifikationen stellt sich das Argument des phänomenologischen Restbestands folgendermaßen dar: P1(2): Von den Gefühlen von moralisch bewunderungswürdigen Akteuren lassen sich besonders deutliche Rückschlüsse ziehen, wie sich die Situation für die moralisch bewunderungswürdigen Akteure jeweils darstellt. P2(1): Moralisch bewunderungswürdige Menschen artikulieren mit signifikanter Häufigkeit nach einer Dilemma-Entscheidung subjektive Schuldgefühle, obwohl sie ihre Entscheidung sorgfältig abgewogen haben. P3: Das moralische Dilemma lässt sich weder systematisch vermeiden noch restlos lösen. P4: Deshalb bleibt nach jeder Entscheidung eines moralischen Dilemmas ein ›moralischer Restbestand‹. P5(1): Während es irrational wäre, nach einer Dilemma-Entscheidung Reue zu empfinden, sind subjektive Schuldgefühle nach einer Dilemma-Entscheidung in zweifacher Weise rational im Sinne von ›gut begründet‹, weil man mit einer Dilemma-Entscheidung tatsächlich gegen einen moralischen Handlungsgrund verstoßen hat und weil man sich durch Schuldgefühle der Tatsache vergewissert, dass der zurückgedrängte moralische Handlungsgrund weiterhin Gewicht hat. P6(2): Die subjektiven Schuldgefühle nach der Entscheidung eines moralischen Dilemmas lassen sich durch objektive Entschuldigungsgründe ggfs. abmildern, aber nicht völlig abtöten oder ausblenden. Strittig ist nun, inwieweit sich aus diesen Prämissen noch schließen lässt, was Williams geschlossen hat: Dass es das moralische Dilemma tatsächlich gibt (K1), dass der moralische Realismus falsch ist (K2) und dass die Moralphilosophie nur noch eine Mittlerin zwischen privaten Intuitionen und öffentlichem Regelwerk ohne eigenen systematischen normativen Anspruch sein kann (K3). Das moralische Dilemma
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(f) Gibt es das moralische Dilemma (K1)? Es bedarf keiner weiteren Erläuterungen, dass insbesondere wegen der Änderung von P1 in P1(2) aus den modifizierten Prämissen nicht gefolgert werden kann, was Williams gefolgert hat: Es kann nicht gefolgert werden, dass es das moralische Dilemma tatsächlich gibt (K1). Es lässt sich aber immerhin schließen, dass es selbst in der moralischen Praxis von moralisch bewunderungswürdigen Menschen Situationen gibt, die sich ihnen als moralisches Dilemma darstellen, ohne dass diese Menschen ihren moralischen Kompetenzen zum Trotz eine Möglichkeit sehen würden, mit dem Dilemma so umzugehen, dass sich nach der Entscheidung keine quälenden Schuldgefühle einstellen würden. Meine erste Schlussfolgerung K1(1) aus den modifizierten Prämissen von Williams’ phänomenologischem Argument des moralischen Restbestands lautet demnach also, dass sich die Erfahrung des moralischen Dilemmas und die damit verbundenen subjektiven Gefühle der Schuld selbst aus der moralischen Praxis von moralisch bewunderungswürdigen Menschen nicht ausmerzen lassen. (1) Demgegenüber drängt sich natürlich der Einwand auf, dass die Möglichkeit der Erfahrung des moralischen Dilemmas im Lager des moralischen Realismus ja nie bestritten worden ist. Im Gegenteil scheint die Erfahrung des moralischen Dilemmas ja geradezu der Ausgangsimpuls von Ross’ Unterscheidung zwischen prima facie Pflichten und aktualen Pflichten zu sein (vgl. 3.a). Dementsprechend wurde gegen Williams schnell der sogenannte ›Einwand der epistemischen Fehlleistung‹ laut, der besagt, dass man aus der Erfahrung eines moralischen Dilemmas nicht schließen kann, dass es sich tatsächlich um ein moralisches Dilemma handelt, weil es ja sein könnte, dass der Akteur den glücklichen dritten Ausweg oder die Lösung des Dilemmas schlicht noch nicht gefunden hat. Stellvertretend für viele andere möchte ich Alan Donogan zu Wort kommen lassen, der sich in seiner Abhandlung Consistency in Rationalist Moral Systems von 1984 verwundert darüber äußert, dass die Befürworter der Möglichkeit des moralischen Dilemmas die moralischen Dilemmata für »genuine Entdeckungen« halten, anstatt sie zu »bloßen Illusionen« zu erklären, wie sie für »Fehler des Denkens symptomatisch« 67 seien. 67
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Es heißt im englischen Wortlaut: »Why does it seem to them that some moral con-
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(f) Gibt es das moralische Dilemma (K1)?
(1.1) In einem ersten Schritt behauptet Donogan in expliziter Anlehnung an Thomas von Aquin und Kant (vgl. 1.b), dass es eine einzige, vernünftige, in sich konsistente sittliche Weltordnung gibt, aus der sich die eine richtige Lösung für jeden moralischen Konflikt herleitet (D1). (1.2) Seine zweite Prämisse lautet, dass diese ersten Prinzipien bzw. Ansprüche erkennbar seien, weil wir über Vernunft verfügen (D2). (1.3) Gegenüber seinen Vorbildern gewinnt Donogan mit einer kasuistischen dritten Prämisse Kontur, der zufolge wir der Begrenztheit der ersten Prinzipien zum Trotz aufgrund unserer Vernunft für alle moralischen Konflikte die eine richtige Lösung kasuistisch herleiten können sollen, indem wir den Konflikt aus dem Geist dieser Prinzipien bzw. Ansprüche heraus beurteilen (D3). Aus diesen drei Prämissen folgert Donogan, dass es keine moralischen Dilemmata gibt, weil die Erfahrungen des moralischen Dilemmas mit einem epistemischen Versagen der moralischen Akteure erklärt werden müssten, die entweder die grundsätzlichen Prinzipien selbst oder aber ihren ›Geist‹ nicht richtig erkannt hätten. (2) Es ist müßig, über die erste realistische Prämisse D1 zu diskutieren, weil es sich um eine metaphysische Prämisse handelt, die als solche weder bewiesen noch widerlegt werden kann. 68 Offensichtlich nur eingeschränkt ist jedoch die zweite rationalistische Prämisse D2 zu halten. flicts, at least, are not illusions symptomatic to the failure of thought but genuine discoveries?« Donogan 1984, 281. Weiterhin heißt es: »Most rationalist theories of the present day area deeply indebted to Aquinas or Kant or both.« A. a. O. 273. Donogan selbst bringt seine grundsätzlichen rationalistischen Überzeugungen folgendermaßen auf den Punkt: »The chief formal characteristics of such theories are five: (1) they rest on a few fundamental principles, sometimes one, which are advanced as true without exception; (2) each of those principles lays down some condition upon all human action as being required by practical reason; (3) those principles do not constitute a set of axioms, from which all the remaining moral precepts of the theory can be deduced; but rather, (4) the remaining moral precepts are deduced from the fundamental principles by way of additional premises specifying further the conditions those principles lay down as required of all human action; and (5) both principles and additional premises are adopted on the basis of informal dialectical reasoning.« A. a. O. 273. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Donogans simplifizierender Rekonstruktion der Moralphilosophie des Thomas von Aquin findet sich in Dougherty 2011, 132–146. 68 So habe ich mit dem Hinweis auf den metaphysischen Charakter der Prämisse in 3.2 ja auch Sir David Ross zugegeben, dass es immerhin möglich ist, dass ein konsistentes pluralistisches Systems von prima facie Pflichten existiert. Das moralische Dilemma
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Donogan beruft sich vor allem auf Thomas von Aquin, bei dem (dasselbe gilt für Kant 69) die Überzeugung von der prinzipiellen Erkennbarkeit der Weltordnung mittels der Vernunft tatsächlich eine zentrale Stellung einnimmt. Ausdrücklich heißt es, dass das »Gewissen« in »gewissen Dingen« »niemals irren« könne, weil es »aus göttlicher Einsenkung« in »demselben Sinn« wie »alle Erkenntnis der Wahrheit, die in uns ist«, stammt. 70 Aufgrund dieser Prämisse lastet Aquin eine »Unkenntnis des Rechts selbst« einem menschlichen Akteur »schuldhaft« an, weil es ja auch »vor dem weltlichen Richter nicht als Entschuldigung« gelten könne, »wenn man Unkenntnis des Rechts anführt, das man zu kennen verpflichtet ist« 71. Anders als Thomas kann Kant das Gewissen nicht unmittelbar auf Gott zurückführen, weil die Existenz eines gütigen Gottes in seinem System wegen der Unbeweisbarkeit ja lediglich den Status eines Postulats hat. Dass sich das Gewissen nicht grundsätzlich irren kann, betont Kant jedoch ebenfalls. (i) Weil ausgeschlossen werden könne, dass »der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe Person vorgestellt werde«, sollte man das Gewissen nach Kant wie eine separate »idealische Person« betrachten, »welche die Vernunft sich selbst schafft«. (ii) Es sollte zudem als Instanz gedacht werden, die »zugleich alle Gewalt (im Himmel und auf Erden) haben muß, weil es sonst nicht (was doch zum Richteramt notwendig gehört) seinen Gesetzen den ihnen angemessenen Effekt verschaffen könnte«. (iii) Weil »ein solches über alles machthabende moralische Wesen aber Gott heißt«, wird das Gewissen nach Kant schließlich als »subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden müssen«. Damit ist das Gewissen nach Kant also eine »dunkle Idee« in »jedem moralischen Selbstbewusstsein«, die »unvermeidlich« zur Idee eines richtenden höchsten Wesens »leitet«, wobei er allerdings ausdrücklich betont, dass diese Idee nur etwas über die Macht des Gewissens aussage, aber keinesfalls dazu berechtige, »ein solches höchste Wesen außer sich als wirklich anzunehmen«. Kant 1785, 574. (iv) Dann aber betont Kant ebenso unmissverständlich wie Thomas, dass man sich zwar über die Umstände einer moralischen Entscheidung irren könne, dass ein grundsätzlich »irrendes Gewissen« jedoch »ein Unding sei«. A. a. O. 532. Vgl. auch Kant 1793a, 860 f. 70 Weiter heißt es, dass das moralische Wissen aus Gottes Gnade genauso in uns »hineingelegt« sei wie »die Erkenntnis der ersten Prinzipien in unsere Natur«. Aquin 1955, 464 ff. Vgl. zur Interpretation auch Edith Stein a. a. O. 475. 71 Aquin 1955, 472. Weiter heißt es, dass das »irrende Gewissen« zum »Lossprechen« nicht ausreiche, »wenn es mit dem Irrtum selbst sündigt«, indem es »im Irrtum ist über Dinge, die es wissen müßte«. A. a. O. 470. Dem könnte man nun die Frage entgegenhalten, warum Gott es zulässt, dass man sich grundsätzlich über das irren kann, was die sittliche Weltordnung gebietet, da doch immerhin das ewige Seelenheil auf dem Spiel steht. Diesem möglichen Einwand begegnet Aquin mit dem insgesamt wohl tröstenden Hinweis darauf, dass es sich bei einem prinzipiellen Irrtum nicht um dieselbe Art von Sünde handeln würde, die ein Mord oder ein vorsätzlicher außerehelicher Beischlaf 69
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(2.1) Die Überzeugung von der prinzipiellen Erkennbarkeit der sittlichen Weltordnung basiert bei Thomas nun auf der religiösen Prämisse, dass ein sittlicher Weltherrscher existiert, der nicht nur gerecht, sondern auch so gnädig ist, uns an seinem Wissen über die sittliche Weltordnung durch die Vernunft Anteil haben zu lassen. Das ist offensichtlich eine starke metaphysische Prämisse, die man nicht notwendigerweise glauben muss. Treffend heißt es bei Hare, dass »noch nicht einmal alle Christen glauben, daß Gott die Dinge auf diesem Weg festgelegt hat« 72. (2.2) Nun lassen sich religiöse Prämissen allerdings ebenso wenig wie metaphysische Prämissen beweisen oder widerlegen. Beweisen lässt sich jedoch, dass selbst unter den Experten für die christliche sittliche Weltordnung in manchen Fragen keine Einigkeit darüber hergestellt werden kann, was diese Weltordnung fordert. So spricht sich die Katholische Sozialethik beispielsweise in aller Regel gegen jede Form der Sterbehilfe aus, weil Aquin im Artikel 64.6 seiner Summe Theologica explizit sagt, dass das natürliche Gesetz die Tötung unschuldiger Menschen unter allen Umständen verbiete. 73 Ebenfalls unter Berufung auf Aquin 74 erlauben andere Katholische Sozialethiker die nach Thomas beispielsweise bedeuten würde. Mit einem prinzipiellen Irrtum »verstrickt« sich der moralische Akteur nämlich »nicht schlechthin«, sondern lediglich »in gewisser Weise«, weil er »die irrige Gewissensmeinung« ja »ablegen« kann. A. a. O. 473. 72 Hare 1981, 80. 73 So gelangt beispielsweise die Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben, die Josef Kardinal Ratzinger im Namen der Kongregation für die Glaubenslehre am 24. November 2002 veröffentlich hat, ohne jeden Zweifel zu dem Ergebnis, dass das menschliche Leben von der Empfängnis an bis zum natürlichen Tod sowohl gegen Abtreibung als auch gegen Sterbehilfe unbedingt zu schützen sei. Ratzinger u. a. 2002. Die Frage, ob man Unschuldige töten darf, stellt sich für Thomas, weil Gott dem Alten Testament zufolge von Abraham ja verlangt haben soll, seinen Sohn Isaac zu töten. Zunächst einmal gibt Thomas die Antwort, dass nur »die Tötung des Sünders« erlaubt sei, weshalb es »in keiner Weise gestattet« sei, einen »Unschuldigen zu töten«. Weil jedoch Gott die »Herrschaft über Tod und Leben« besitze, folgert Thomas in einem zweiten Schritt dann aber auch, dass derjenige nicht sündige, »der auf Gottes Befehl einen Unschuldigen« tötet. Im Gegenteil würde »kundgetan, daß er Gott fürchtet, indem er seinen Aufträgen gehorcht.« Aquin 1936, 308 f. 74 In Quaestio 64.7 der Summa Theologica stellt Aquin die Frage, ob es dem generellen Tötungsverbot zum Trotz erlaubt sein kann, »bei der Selbstverteidigung einen anderen zu töten, um das eigene Leben zu erhalten«. Schließlich hieße es im Buch Exodus, dass man keine Schuld auf sich laden würde, wenn man einem Einbrecher eine tödliche Das moralische Dilemma
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Sterbehilfe unter gewissen Umständen jedoch als ›Doppelwirkung‹. 75 Selbst falls es die sittliche Weltordnung geben sollte, scheint es gegen Donogans rationalistische Prämisse also (um mit Williams zu sprechen) in Einzelfällen durchaus schwierig zu sein, zu erkennen, was der Wille Gottes genau fordert. 76 (3) Nun hat Donogan allerdings genau deshalb das kasuistische Verfahren als dritte Prämisse D3 ins Spiel gebracht: Laut Donogan soll sich der begrenzten Erkennbarkeit der sittlichen Weltordnung zum Trotz mittels unserer Vernunft für alle moralischen Konflikte die eine richtige Lösung herleiten lassen, indem sie aus dem Geist der jeweils einschlägigen Prinzipien kasuistisch hergeleitet werden. 77 Zur Veranschaulichung führt Donogan Kants unveröffentlichte Vorlesungen über die Ethik von 1775 bis 1780 an, in denen Kant, seinem Aufrichtig-
Wunde beibringt. Thomas beantwortet die Frage aufgrund der Prämisse, dass ein »Wirkgeschehen zwei Wirkungen« haben könne, »wovon bloß die eine in der Absicht lag, die andere aber unbeabsichtigt« eingetreten sei. Mit dem Argument, dass es »naturhaft« sei, »sich in seinem Sein« so lange wie möglich zu erhalten, kommt Thomas dann zu dem Schluss, dass »eine derartige Handlung« nicht »die Berede von Unerlaubt« habe, weil sie schließlich allein »aus der Absicht der eigenen Lebenserhaltung« heraus und nicht aus der Absicht der Tötung des Angreifers vollzogen worden sei. Aquin 1936, 309. Die Bibelstelle findet sich in Exodus 22.2. Die einschlägige Kritik hinterfragt die Doppelwirkungslehre dahingehend, ob es wirklich über Schuld und Unschuld entscheide, ob ein Tod lediglich billigend in Kauf genommen oder absichtlich im Sinne eines primären Handlungsziels herbeigeführt worden ist. So fragt beispielsweise Philippa Foot in ihrem Essay The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect von 1967, ob der »Unterschied zwischen etwas anstreben und es indirekt beabsichtigen für moralische Entscheidungen als solcher relevant ist«. Foot 1967, 201. 75 So unterscheidet der katholische Ethiker Adrian Holderegger beispielsweise zwischen einem »willentlich herbeigeführten und einem in Kauf genommenen Tod«. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung wird die Gabe einer tödlichen Dosis von Schmerzmitteln für moralisch legitim erklärt, insofern die »Schmerzfreiheit« das »eigentliche Ziel der Handlung« ist, aber ausdrücklich nicht »der Tod«. Holderegger 1999, 134. Mit demselben Argument erlaubt die Katholische Ethik auch eine Abtreibung, wenn nur dadurch das Leben der Mutter gerettet werden kann. 76 Williams 1972, 83. 77 Im englischen Wortlaut heißt es: »The fundamental methodological idea of rationalism is the nonformal idea that no revision of a premise may be ad hoc, merely intended to obviate an obnoxious implication; each must also turn out either to accord better with the dialectical considerations on the basis of which the unrevised premise was accepted, or to follow from a line of dialectical reasoning that is intrinsically superior«. Donogan 1984, 273.
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keitsgebot zum Trotz, schreibt, dass man zumindest einem Räuber keine aufrichtige Auskunft über sein mitgeführtes Geld geben müsse. 78 Laut Donogan ist »diese neue Vorschrift« (der zufolge das Verbot der »Unaufrichtigkeit nur unter Bedingungen freier Kommunikation« gelten soll, »in denen Gewalt weder aktual ausgeführt noch angedroht wird«) nicht »ad hoc« als bloße Abweichung vom prinzipiellen kantischen Lügenverbot entstanden, sondern dadurch, dass es »vom selben Grundsatz abgeleitet wurde, aus dem auch die ursprüngliche Vorschrift« der unbedingten Aufrichtigkeit herstammt, »wenn auch ergänzt durch zusätzliche Prämissen, für die mehr sprach als für die Prämissen, in denen sich die verworfene Vorschrift gründete«. Schließlich würden Menschen durch Gewaltandrohung »zum Mittel reduziert« 79, und das sei der ursprüngliche Grundsatz, den Kant bewahren wollte, indem er die genannte Ausnahme vom Lügenverbot für zulässig erklärte. (3.1) Gegen Donogans kasuistische Lesart von Kants Moralphilosophie spricht natürlich die Tatsache, dass Kant seine frühe kasuistische Aufhebung des Lügenverbots in seiner Spätschrift Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen von 1797 ausdrücklich wieder mit der These zurücknimmt, dass es »ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot« darstelle, »in allen Erklärungen wahrhaftig (ehrlich) zu sein« 80.
Kant 1990, 244. Es heißt im englischen Wortlaut: »But the new precept to which this example leads, namely that falsehood is wrong only in conditions of free communications where violence is neither done or threatened to anybody concerned, is not ad hoc. It is derivable from the same principle as the unrevised one, but by the way of an additional premise for which the dialectical grounds are stronger than those for the premise by which the rejected precept was derived. For the latter premise, that all falsehood reduce those to whom they are told have resorted to violence. It is, after all, a main theme in Kantian moral theory that not even the use of force restrain those who use or threaten violence reduces them to mere means.« Donogan1984, 274. 80 Anlass der Schrift ist eine Nachfrage des französischen Philosophen Benjamin Constant, ob die bedingungslose kantische Pflicht zur Aufrichtigkeit nicht doch eine Ausnahme zulassen müsse, falls man beispielsweise von einem Mörder nach dem Aufenthaltsort eines Freundes gefragt wird. Kant entscheidet sich dagegen mit dem Argument, dass bei einer Generalisierung der Lügenrechtes »Aussagen (Deklarationen) überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen« würden, welches wiederum »ein Unrecht« sei, »das der Menschheit überhaupt zugefügt wird«. Kant 1797b, 638. 78 79
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(3.1.1) Tatsächlich könnte man beim Lesen der Schrift fast meinen, die einschlägigen kasuistischen Einwände zu hören. ›Wäre ich denn nicht für den Tod meines Freundes verantwortlich, wenn ich seinen Aufenthaltsort seinem Mörder verrate?‹, lautet einer dieser Einwände. Kant antwortet, dass man gegebenenfalls für die eigene Lüge, nicht aber für den Mord an dem Freund verantwortlich gemacht werden könne, weil den Mord schließlich der Mörder begangen hätte. ›Hat mein Freund denn nicht ein Recht darauf, dass ich für ihn lüge, um sein Leben zu schützen?‹, lautet ein weiterer Einwand, den Kant wiederum schnell abtut mit dem Hinweis darauf, dass niemand ein Recht darauf habe, dass ein anderer zu seinem Nutzen ein moralisches Vergehen begeht. 81 (3.1.2) Über diesen scheinbaren Einstellungswechsel ist nun viel spekuliert worden. So bewertet Paton in seinem Briefwechsel mit Ebbinhaus das rigorose Lügenverbot beispielsweise als Anzeichen des beginnenden Altersstarrsinn des mittlerweile 73-jährigen, während der ›wirkliche‹ Kant in seinen Vorlesungen zwischen 1775 bis 1780 eine ›sanftere‹ Auffassung vertreten habe. 82 Dem hält Ebbinhaus allerdings überzeugend entgegen, dass die Lügenschrift anders als die Vorlesungsmitschriften autorisiert sei, und dass das rigorose Lügenverbot im Gesamtkontext von Kants reifer Moralphilosophie stimmig sei, während die Vorlesungen zur Ethik aus der vorkritischen Zeit stammten. 83 Als Anzeichen für Altersstarrsinn ist Kants späte Schrift also nicht so einfach zu den Akten zu legen. (3.1.3) Näher scheint mir die Erklärung zu liegen, dass das Problem der schützenden Lüge die Grenzen von Kants Pflichtenmoral so deutlich aufzeigt, dass sogar der späte Kant selbst nur unter größter
Treffend kommentiert John Stuart Mill: Sobald Kant es »unternimmt, aus seinem kategorischen Imperativ »einige konkrete moralische Pflichten herzuleiten, misslingt ihm in geradezu grotesker Weise der Nachweis, daß darin, daß alle vernünftigen Wesen nach den denkbar unmoralischen Verhaltensnormen handeln, irgendein Widerspruch, irgendeine logische (oder auch nur physische) Unmöglichkeit liegt. Was er zeigt, ist lediglich, daß die Folgen einer allgemeinen Befolgung dieser Normen derart wären, daß jedermann von ihnen verschont bleiben wollte«, Mill 1861, 15. Mit ähnlicher Stoßrichtung weist Zoglauer auf James Morros Science-Fiction-Roman City of Truth hin, der die Schrecken einer konsequenten »Wahrheitsdiktatur« beschreibt. Zoglauer 1998, 158. Verweis auf Morrow 1993. Vgl. mit demselben Einwand auch Ross 1930, 28. 82 Paton 1986, 58. Verweis auf Kant 1990, 244. 83 Ebbinhaus 1954. 81
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Anstrengung kompromisslos am Aufrichtigkeitsgebot festhalten könnte, um nicht einer Kasuistik Raum geben zu müssen, die seiner Lehre von den absoluten Pflichten als einem zentralen Baustein seiner Moralphilosophie widersprechen würde. Für diese Erklärung spricht in meinen Augen, dass selbst der ganz späte Kant noch das Für und Wider einer Kasuistik abgewogen hat, ohne sich allen Vorbehalten zum Trotz definitiv gegen die Kasuistik entscheiden zu können. In der Schrift Zum ewigen Frieden von 1795 ist von der Kasuistik im Rahmen einer »Afterpolitik« die Rede, welche »böse Absichten« gegenüber »anderen zu erklügeln« versucht, wenn sie beispielsweise aus einer Position des »Übergewichts« heraus das »Verschlingen eines kleinen Staats« damit rechtfertigt, dass das zum »Weltbesten« sei, um eine solch erheuchelte Rechtfertigung dann auch noch für »eine leicht-verzeihliche Kleinigkeit zu halten« 84. Die Metaphysik der Sitten in zwey Theilen von 1797 räumt der Kasuistik als »Übung, wie die Wahrheit solle gesucht werden« 85, dann aber doch einen gewissen Stellenwert ein, um allerdings gleich darauf zu verweisen, dass die Kasuistik einer gewissen Hintertürchen-Mentalität Tür und Tor öffne. Solche Widersprüche sollten in meinen Augen nun nicht im Sinne Patons auf eine Demenzerkrankung des späten Kants zurückgeführt werden, weil sie nämlich ein zentrales Problem von Kants Moralphilosophie widerspiegeln. Als Kantianer kann man eigentlich kein Kasuist sein, weil man als Kantianer an absoluten Pflichten festhalten muss. Dennoch aber hat anscheinend sogar Kant selbst die Augen nicht ganz davor verschließen können, dass eine zu strikte Orientierung an seiner Pflichtenmoral ohne jede Kasuistik in manchen Fällen zu seltsamen moralischen Urteilen führen würde (vgl. dazu 5.c.5.2). Das gibt Donogans Projekt einer kasuistischen Abwandlung der Moralphilosophie von Kant (und Thomas) also ein gewisses Recht. Kant 1795, 249. Insgesamt heißt es hier, dass die »Ethik« wegen »des Spielraums, den sie ihren unvollkommenen Pflichten verstattet, unvermeidlich dahin« führe, Reflexionen darüber anzustellen, »wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei«, wodurch sie »in eine Kasuistik« geraten könne, die Kant dann allerdings wegen ihrer unsystematischen Vorgehensweise nicht als »eine Wissenschaft« betrachtet wissen will, sondern lediglich als »Übung, wie die Wahrheit solle gesucht werden«. Kant 1797a, 543 f. Mit ähnlicher Stoßrichtung bezeichnet Kant die Kasuistik schon in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 als »eine Art von Dialektik des Gewissens«. Kant 1793, 860.
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(3.2) Aus dem Zugeständnis, dass letztlich sogar Kant der Kasuistik nicht ganz ablehnend gegenüberstehen konnte, lässt sich allerdings nicht schließen, was hier strittig ist, dass sich im Sinne von Donogans dritter Prämisse P3 nämlich kasuistisch für jeden moralischen Konflikt eine Lösung herleiten lässt. Von entscheidender Bedeutung für Donogans Argument des epistemischen Irrtums ist vielmehr die Tatsache, dass auch ein kasuistisches Verfahren vor Fehlleistungen nicht schützen kann. Wenig einschlägig ist im vorliegenden Zusammenhang zwar der von Albrecht Wellmer in seinem Essay Eine Kantische Exposition von 1986 formulierte Einwand, dass das, was ein formales Moralprinzip wie der Kategorische Imperativ beispielsweise gebiete, wesentlich davon abhänge, wie ein Akteur seine Situation beschreibt und welche Frage er an das Moralprinzip stellt. 86 (3.2.1) Diesem Einwand könnte Donogan nämlich schnell entgegengehalten, dass er deshalb nicht die wörtliche Befolgung der ersten Moralprinzipien, sondern eine Orientierung an ihrem jeweiligen ›Geiste‹ empfohlen habe. Damit käme Donogan allerdings vom Regen in die Traufe, weil eine Orientierung am ›Geist‹ eines Prinzips noch vager ist als eine Orientierung am Wortlaut. So hat der scheinbar so schlichte und eindeutige moralische Anspruch ›Du sollst nicht töten‹ in der Geschichte so unterschiedliche Interpretationen erfahren, dass es jenseits seines Wortlauts schier unmöglich zu sein scheint, anzugeben, was der ›Geist‹ dieses Anspruchs sein soll. So hat es in den verschiedenen Epochen der Geistesgeschichte beispielsweise durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber gegeben, wer von dem Verbot erfasst sein sollte. In der Antike beispielsweise standen Sklaven auf derselben Stufe wie das Vieh, und auch im Mittelalter des Thomas von Aquin gab es rechtlose Leibeigene. Noch in Mark Twains Roman Die Abenteuer des Huckelbery Finn findet sich folgende bezeichnende Episode: Huck berichtet Tante Sally von einer Explosion auf einem Mississippi-Dampfer. »Ach Du meine Güte. Wurde jemand verletzt?«, So hätte sich Kant nach Wellmer für die Lüge aussprechen müssen, wenn in dem in der Schrift Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen beschriebenen Szenarium nicht etwa die Maxime ›Du darfst nicht lügen‹ auf den Prüfstein des kategorischen Imperativs gestellt worden wäre, sondern die Maxime »Du sollst unschuldig Verfolgte notfalls durch eine Lüge zu retten versuchen«. Wellmer 1986, 26 f. Insgesamt richten sich Wellmers Ausführungen gegen den kantischen Anspruch, »daß die durch den Kategorischen Imperativ ausgezeichneten Normen allgemeingültig, d. h. ohne Ausnahme verbindliche praktische Gesetze sind«. A. a. O. 26.
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fragt sie erschrocken. »Nein, Madam«, lautet Hucks Antwort, »Hat einen Nigger getötet«. Worauf Tantchen erwidert: »Ein Glück. Manchmal werden auch Leute bei so was getötet« 87. (3.2.2) Eine weitere Fehlerquelle liegt darin, dass ein Akteur die Umstände einer moralischen Entscheidung genau kennen muss, um das kasuistische Verfahren richtig anwenden zu können. Weiter ins Detail zu gehen, ist überflüssig, weil an der Fehleranfälligkeit des kasuistischen Verfahrens insgesamt kein Zweifel bestehen dürfte. Die Tatsache, dass selbst das kasuistische Verfahren (welches Donogan als Rettungsanker anbietet) fehleranfällig ist, scheint nun noch einmal Williams’ süffisante Kritik zu bestätigen, dass es schwierig sei, zu erkennen, was der Wille Gottes genau fordert. 88 (4) Vor allem aber kann Donogan wegen der Fehleranfälligkeit dieses Verfahrens nicht davon überzeugen, dass es keine moralischen Dilemmata gibt. Falls es die eine richtige Lösung jedes moralischen Konflikts im Sinne von Donogans erster monistisch-realistischer Prämisse D1 geben sollte, gibt es nämlich gegen seine zweite rationalistische Prämisse D2 kein Verfahren, das sicher zu der einen richtigen Lösung führen würde. Das kasuistische Verfahren ist entgegen Donogans dritter Prämisse D3 jedenfalls kein solches Verfahren. Das wiederum heißt, dass sich die Behauptung nicht beweisen lässt, dass es keine moralischen Dilemmata gibt, weil es jenseits unserer epistemischen Fähigkeiten angeblich für alle moralischen Konflikte die eine richtige Lösung geben soll. (4.1) Daraus lässt sich nun allerdings ausdrücklich nicht der entgegengesetzte Schluss ziehen, dass es das moralische Dilemma gibt! Es kann schließlich im Sinne des Arguments des epistemischen Irrtums ja tatsächlich immer der Fall sein, dass eine Erfahrung eines moralischen Dilemmas auf einem epistemischen Irrtum des Akteurs beruht. Tatsächlich lässt es sich weder beweisen, dass eine Erfahrung eines moralischen Dilemmas ein fundamentum in re hat, noch dass sie bloß auf einem Irrtum beruht. (4.2) Damit führt die Prüfung des Arguments der epistemischen Fehlleistung (die stellvertretend an Donogans rationalistischer Kasuis-
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Twain, Mark: Die Abenteuer des Huckelbery Finn. 23. Kapitel. Williams 1972, 83.
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6. Das moralische Dilemma als Verkettung übler Umstände nach Williams
tik vorgenommen wurde) also letztendlich in eine Patt-Situation. Es ist möglich, dass alle Erfahrungen moralischer Dilemmata auf epistemischen Irrtümern beruhen, weil die Akteure die moralphilosophischen Möglichkeiten der Konfliktlösung falsch angewandt oder nicht wirklich ausgeschöpft haben. Es ist aber ebenso möglich, dass manche Erfahrungen des moralischen Dilemmas eben doch ein fundamentum in re haben und tatsächlich moralische Dilemmata in dem Sinne sind, dass es keine moralisch ›eindeutig richtige‹ Lösung und keinen glücklichen Ausweg gibt. Damit kann ein Fazit für die angelsächsische Debatte gezogen werde. Aus der Tatsache, dass moralisch bewunderungswürdige Menschen nach einer Dilemma-Entscheidung häufig quälende Schuldgefühle artikulieren, lässt sich im Sinne von Williams’ erster Schlussfolgerung K1 nicht ableiten, dass es das moralische Dilemma wirklich gibt. Ableiten lässt sich lediglich die vom moralischen Realismus gar nicht bestrittene These K1(1), dass die Erfahrung des moralischen Dilemmas zur moralischen Praxis sogar von moralisch bewunderungswürdigen Menschen gehört. Allerdings können der moralische Realismus und der moralische Rationalismus nicht davon überzeugen, dass diese Erfahrungen ausnahmslos alle auf einem epistemischen Irrtum beruhen und insofern per se kein fundamentum in re haben sollen. Das heißt wiederum nicht, dass die Möglichkeit des moralischen Dilemmas bewiesen wäre. Dennoch ist für die angelsächsische Debatte daraus der Schluss K1(2) zu ziehen, dass metamoralisch wegen der Unbeweisbarkeit der Lösbarkeit aller moralischen Konflikte und wegen der Alltäglichkeit der Erfahrung des moralischen Dilemmas weiterhin mit der Möglichkeit des moralischen Dilemmas gerechnet werden muss.
(g) Ist der moralische Realismus falsch (K2)? Eine regelrechte Bombe zündet Williams dann mit seinem Essay Consistency and Realism von 1966. Aus der Alltäglichkeit der Erfahrung des moralischen Dilemmas folgert er hier, dass der moralische Realismus »falsch« sei, weil er der Erfahrung des moralischen Dilemmas zum Trotz an der Konsistenzprämisse festhalte und deshalb nicht zugeben könne, dass ein moralisches Dilemma »nicht unbedingt« bedeuten müsse, dass mit dem moralischen Akteur »etwas nicht stimmt«, weil 300
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das Problem auch in »der betreffenden Situation« 89 liegen könne. Attackiert wird damit nun nicht die in 5.c schon diskutierte normative Überzeugung, dass ein Moralsystem als vernünftiges System konsistent sein sollte. Williams greift vielmehr die sehr viel stärkere deskriptive Überzeugung an, dass die Moral tatsächlich konsistent ist. Angesprochen fühlten sich von Williams Essay von 1966 deshalb über die verschiedenen Lager hinweg sämtliche Autoren, die der Erfahrung des moralischen Dilemmas zum Trotz an der Überzeugung festhalten wollten, dass die Moral konsistent ist. (1) Zur Verteidigung der Überzeugung, dass es tatsächlich ein konsistentes System der Moral gibt, wurde in der angelsächsischen Debatte besonders häufig das in 6.f schon diskutierte rationalistische Argument des epistemischen Irrtums angeführt. Im vorliegenden Kontext besagt es im Kern, dass die Erfahrungen des moralischen Dilemmas die deskriptive Konsistenzprämisse nicht tangieren würde, weil diese Erfahrungen nicht notwendig auch ein fundamentum in re haben müssten, da sich die Erfahrung des moralischen Dilemmas als epistemischer Irrtum der moralischen Akteure hinreichend erklären ließe. So reagierten beispielsweise Donogan und Brink. 90 (1.1) Einzuwenden ist zunächst einmal, dass man das quälende Gewicht der Erfahrung eines moralischen Dilemmas nicht wirklich ernst nimmt, wenn man den moralischen Akteur in Haft nimmt für etwas, was genauso gut dem Moralsystem angelastet werden könnte, was ihm aber nur deshalb nicht angelastet wird, weil ansonsten die Konsistenzprämisse aufgegeben werden müsste. (1.2) Gegen das Argument ist mit 6.f.2.2 vor allem einzuwenden, dass der moralische Rationalismus seiner Überzeugung von der Erkennbarkeit der sittlichen Weltordnung zum Trotz offensichtlich kein Verfahren hat, mit dem sich die eine richtige Lösung jedes moralischen Konflikts dann auch tatsächlich sicher erkennen lässt. Warum aber sollte man an die Existenz einer konsistenten moralischen Weltordnung glauben, die für jeden moralischen Konflikt eindeutig die richtige Lösung bereithält, wenn noch nicht einmal der moralische Rationalismus selbst ein Verfahren entwickeln kann, mit dem sich diese eine richtige Lösung sicher auffinden lässt? Solange es kein solches Verfah89 90
Williams 1966, 325 ff. Vgl. stellvertretend Donogan 1984 sowie Brink 1994.
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ren gibt, scheint es klüger zu sein, der eigenen Erfahrung zu trauen, und das wäre die Erfahrung des moralischen Dilemmas als Hinweis auf die Inkonsistenz der Moral. (2) In ihrem Essay Moral Realism and Moral Dilemma von 1983 bestreitet Philippa Foot allerdings, dass wegen der Mangelhaftigkeit der rationalistischen Strategien zur Erfassung der konsistenten Weltordnung Zweifel daran aufkommen müssen, dass es diese Weltordnung tatsächlich gibt. Zur Entfaltung ihres Arguments positioniert sich Foot zunächst als moralische Realistin mit der These, dass Aussagen über Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen (engl. statements about engagements and obligations) anders als Wünsche Behauptungen über die Welt (engl. assertions about the world) seien, weil es ein nachprüfbares Faktum sei, ob jemand ein Versprechen beispielsweise gegeben hat oder nicht. 91 Wie in 6.c.8 schon skizziert, unterscheidet Foot dann ein O1-Sollen, das in konkreten Situationen miteinander in Konflikt geraten kann, von einem O2-Sollen, das man unter Berücksichtigung aller Umstände tatsächlich tun solle. Moralische Dilemmata betrachtet sie als Konflikte auf der O1-Ebene. Foots Essay erreicht dann seine hier entscheidende Pointe, wenn er betont, dass O1-Ansprüche ihre Gültigkeit behielten, wenn man sich im Falle eines moralischen Konflikts auf der O2-Ebene gegen sie entscheidet. Weil den Gesetzen der Logik zufolge aus sich kontradiktorisch widersprechenden Aussagen nämlich gefolgert werden muss, dass (mindestens) eine der beiden Aussagen falsch ist, kann das nach Foot nur heißen, dass moralische Dilemmata keine logischen Kontradiktionen seien. Moralische Dilemmata sind nach Foot lediglich Konflikte zwischen Aussagen auf der O1-Ebene, aber keine logischen Kontradiktionen, weil O1-Aussagen zur Unterklasse derjenigen ›Aussagen über die Welt‹ gehören, die »in Konflikt geraten können«, obwohl sie »beide in gleicher Weise wahr« 92 bzw. gültig sind. Und weil moralische Dilemmata als Konflikte auf der O1Foot 1983, 390 f. Es heißt im englischen Wortlaut: »But the whole point about statements about what is desirable and what ought to be done is (for both) that there is a class of statements which conflict, in that they give conflicting guidance for action, but which nevertheless both can be true.« Foot 1983, 391. Foot weist ausführlich darauf hin, dass sich ihre Position von der von Sir David Ross (und Trigg) dahingehend unterscheiden würde, dass das O1-Sollen in ihren Augen keine Scheinpflicht sei, die sich im Zuge einer Entscheidung für das O2-Sollen auflösen würde. A. a. O. 386 f. Diese Ausführlichkeit ver-
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Ebene keine Kontradiktionen sind, muss die Erfahrung des moralischen Dilemmas die Konsistenzprämisse des moralischen Realismus nach Foot auch nicht in Zweifel ziehen. (2.1) Damit drängt sich natürlich sofort der Einwand auf, dass Foot allen terminologischen Finessen zum Trotz letztlich doch das rationalistische Argument des epistemischen Irrtums vertritt (vgl. 6.g.1). Das, was Foot einen Konflikt auf der O1-Ebene nennt, ist schließlich dasselbe, was der Rationalist Donogan als ›scheinbaren moralischen Konflikt‹ bezeichnet, für den die sittliche Weltordnung die eine richtige Lösung bereithalten soll. Diese eine richtige Lösung behauptet Foot genauso, wenn sie behauptet, dass sich die O1-Sollenskonflikte lösen lassen, indem man unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände insgesamt (engl. all things considered) die eine richtige O2-Entscheidung trifft. Das wiederum bedeutet, dass gegen Foot derselbe Einwand wie gegen das rationalistische Argument des epistemischen Irrtums (vgl. 6.g.1) einschlägig zu werden scheint, dass sie nämlich ihre starke metaphysische Prämisse einer einzigen konsistenten Ordnung von richtigen O2Entscheidungen nicht beweisen kann, solange es keine sichere Strategie zur Erfassung dieser einen richtigen Lösung gibt, während die Erfahrung des moralischen Dilemmas gegen die Annahme einer konsistenten moralischen Ordnung von O2-Entscheidungen spricht (vgl. 6.g.1.2). (2.2) Diesen möglichen Einwand wehrt Foot allerdings schon im Vorfeld ab, indem sie betont, dass lediglich der Rationalismus wegen seiner Erkennbarkeitsprämisse Probleme mit der Tatsache haben müsse, dass manche moralische Konflikte auch nach ausgiebiger Reflexion noch als scheinbare Inkonsistenz der Moral erfahren werden. Als moralische Realistin würde sie jedoch lediglich die Existenz, nicht aber die prinzipielle Erkennbarkeit von Lösungen für alle moralischen Konflikte auf der O2-Ebene behaupten, weshalb sie ein Verfehlen dieser Lösung als epistemisches Versagen des moralischen Akteurs erklären könne, ohne deshalb von einer zentralen eigenen moralphilosophischen Prämisse wie der Erkennbarkeit der von der sittlichen Weltordnung vorgeschriebenen Konfliktlösungen (vgl. 6.f.1) abweichen zu müssen. Foot beendet ihren Argumentationsgang mit der bissigen Bemerkung, dass Williams anscheinend den »Kognitivismus« gemeint wundert, weil die prima facie Pflichten für Ross (wie in 3.c gezeigt) ja ausdrücklich keine Scheinpflichten sind. Das moralische Dilemma
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habe, als er den »Realismus« kritisierte, weil Foot meint gezeigt zu haben, dass »sein Argument gegen den Realismus nicht stichhaltig ist« 93. (2.2.1) Dagegen mag sich nun der beckmesserische Einwand aufdrängen, dass die Grenzlinie der Erkennbarkeit natürlich nicht zwischen Kognitivismus und Realismus verläuft, sondern zwischen einem kognitivistischen bzw. rationalistischen moralischen Realismus einerseits und einem intuitionistischen moralischen Realismus andererseits als zwei Varianten des moralischen Realismus. (2.2.2) Wichtiger aber scheint mir zu sein, dass Foot mit ihrer Abgrenzung vom Rationalismus ein Eigentor schießt, indem sie die Irrtumsanfälligkeit der professionellen moralphilosophischen Strategien zur Auflösung moralischer Dilemmata nicht nur eingesteht, sondern regelrecht zum Programm macht. Bei näherer Hinsicht unterschreibt sie damit nämlich genau die Kapitulationserklärung für die Moralphilosophie, für deren Abwendung der moralische Realismus in der angelsächsischen Debatte nach Ross’ Diktum von 1939 (vgl. 1.c) ja eigentlich angetreten war! Der moralische Realismus verteidigt die Konsistenz moralischer Systeme aufgrund der Überzeugung, dass die Moralphilosophie ihren Anspruch auf vernünftige Orientierungsleistung aufgeben müsse, wenn sie die Konsistenz des moralischen Systems nicht beweisen kann, auf das sie sich beruft. Wenn Foot nun für eine Moralphilosophie in den Ring steigt, welche die Existenz von eindeutigen Lösungen aller moralischen Konflikte grundsätzlich behauptet und gleichzeitig programmatisch zugesteht, dass es keine moralphilosophische Möglichkeit geben kann, diese Lösung auch aufzufinden, gibt Foot mit diesem Zugeständnis für ihre Moralphilosophie genau den Anspruch auf vernünftige Orientierungsleistung auf, der mit der Verteidigung der Konsistenzprämisse in der angelsächsischen Debatte eigentlich verteidigt werden soll. Von der Konsistenz der Moral kann Foot wegen dieses performativen Widerspruchs sicherlich nicht überzeugen. (3) Von Autoren wie Donogan und McConnell wird zur Verteidigung der deskriptiven Konsistenz-Prämisse das Argument ins Feld geführt, dass von einer Inkonsistenz des Moralsystems keine Rede sein könne, wenn ein moralisches Dilemma durch eine vorangegangene moralische Es heißt im englischen Wortlaut: »Williams seems to have meant by ›realism‹ not this but rather cognitivism. Whichever we understand realismus I think this argument fails.« Foot 1983, (396 ff.) 398.
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Fehlleistung des Akteurs verursacht wurde. So argumentiert McConnell in seinem Essay Moral Dilemmas and Consistency in Ethics von 1978 gegen Williams beispielsweise mit einer Situation, in der jemand zwei Versprechen gegeben hat, die er nicht beide gleichzeitig halten kann: Das Dilemma, das so »durch einen Fehler des Akteurs« entstünde, sei offensichtlich kein »genuines moralisches Dilemma«, das auf eine Inkonsistenz des zugrundeliegenden Moralsystem hinweisen würde, sondern ein kontingentes Dilemma, das durch das moralische Fehlverhalten eines sorglosen Versprechens entstanden ist, für das das Moralsystem nicht verantwortlich zu machen sei. 94 In seinem Essay Consistency in Rationalist Moral System von 1984 führt Allan Donogan unter Berufung auf die Unterscheidung von primären und sekundären moralischen Konflikten (perplexity simpliciter vs. perplexity secundum quid) des Thomas von Aquin dasselbe Argument ins Feld, um zu betonen, dass ausschließlich solche Moralsysteme »inkonsistent« seien, in denen »unlösbare primäre Konflikte entstehen«, während »logisch nichts falsch« 95 sei mit Moralsystemen, in denen sekundäre Konflikte nicht ausgeschlossen werden können. (3.1) Das Argument der vorangegangenen moralischen Fehlleistung hat auf den ersten Blick große Plausibilität, weil es tatsächlich viele der Dilemmata zu erklären scheint, die in den einschlägigen Debatten als Beispiele diskutiert werden. 96 Sophie steht vor der schrecklichen Wahl zwischen ihren beiden Kindern, weil ein widerlicher NaziScherge sie zu dieser Wahl zwingt. Jim muss sich entscheiden, ob er einen Indianer töten soll, weil er von einem sadistischen Sheriff zu dieser Entscheidung gezwungen wird. Vergleichbar stellt sich die Frage nach dem finalen Rettungsschuss erst, wenn zuvor ein Flugzeug entführt oder sonst ein Verbrechen begangen wurde. Wirklich überzeugen kann das Argument jedoch nur in den Fällen, in denen derjenige im Es heißt im englischen Wortlaut: »I shall, therefore, use the term ›genuine moral dilemma‹ to refer only to those quandaries, if there are any, which arise through no fault of the agent himself.« McConnell 1978, 160 f. 95 Es heißt im englischen Wortlaut: »For reasons already given, Aquinas must held that any moral system that allows perplexity simpliciter must be inconsistent«, Donogan 1984, 284 f. Weiter heißt es: »With regard to perplexity secundum quid Aquinas remarked that there is nothing logically wrong (inconveniens) with a moral system.« A. a. O. 285. Verweis auf Aquin 1955, Q 17, art. 4–8. Vgl. auch Aquin 2001, I.–II, Q 19. art 6 ad 3; II.–II. Q 62, 2. Einwand 2; III. Q 64 art 6 ad 3. 96 Vgl. dazu den Anfang von Kapitel 1. 94
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moralischen Dilemma steckt, der das Dilemma auch verursacht. In Donogans Beispiel ist genau das der Fall: Sein Protagonist hat ein Versprechen gegeben, das er wegen eines anderen Versprechens nicht halten kann. In fast allen Beispielen, die in der Literatur prominent diskutiert werden, haben jedoch irgendwelche Dritte die moralische Fehlleistung begangen! 97 Sophie hat ihre Situation nicht verursacht, sondern der brutale Naziverbrecher. Diejenigen, die über den finalen Rettungsschuss entscheiden müssen, haben das Flugzeug nicht entführt. Und Jim hat offensichtlich ebenfalls niemandem etwas zu Leide getan! Das Problem des Arguments der vorangegangenen moralischen Fehlleistung besteht also darin, dass die Gerechtigkeit der Moral auf dem Altar der Konsistenz geopfert wird. Das kann nicht überzeugen, weil ein inkonsistentes Moralsystem einem ungerechten Moralsystem zweifelsfrei vorzuziehen wäre. (3.2) Nun könnte man einwenden, dass ein inkonsistentes Moralsystem per se ungerecht sei. Das ist jedoch schlicht nicht der Fall. Eingeräumt werden muss zwar, dass ein inkonsistentes Moralsystem einen gewissen Spielraum für Willkür lässt. Wenn es einen Widerspruch zwischen zwei moralischen Ansprüchen gibt, steht es dem Akteur schließlich frei, sich für den Anspruch zu entscheiden, der ihm angenehmer zu sein scheint. Ein solcher Spielraum ist jedoch nicht per se ein Einfallstor für Ungerechtigkeit, weil es nicht ungerecht sein muss, wenn ein Akteur sich für das ihm Angenehmere entscheidet, zumal ein solcher Spielraum ja auch Raum für gute moralische Intuitionen lässt. Damit scheint es nicht gerechtfertigt zu sein, die Forderung der Gerechtigkeit eines Moralsystems zugunsten seiner Konsistenz aufzugeben. Das wiederum bedeutet, dass auch das Argument der vorangegangenen moralischen Fehlleistung die Konsistenz-Prämisse des moralischen Realismus nicht verteidigen kann. (4) Die deskriptive Konsistenzprämisse scheint angesichts der Alltäglichkeit der Erfahrung des moralischen Dilemmas also nicht zu verteidigen zu sein. Man mag es sich zwar wünschen, dass es jenseits der moralischen Fähigkeiten die eine richtige Lösung jedes moralischen Dilemmas gibt, aber wirklich überzeugen können die einschlägigen ArguDieser Einwand findet sich in Sinnott-Armstrong 1988, 103. Zudem wird darauf verwiesen, dass ein moralisches Dilemma natürlich auch dann ein moralisches Dilemma bleibe, wenn es durch eine vorangegangene moralische Fehlleistung entstanden ist.
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mente aus den Lagern sowohl des intuitionistischen als auch des rationalistischen moralischen Realismus nicht. Aber muss man deshalb mit Williams die Konsequenz ziehen, dass ›der moralische Realismus‹ falsch sei? Ich habe im Laufe dieses Abschnitts schon zwischen einem intuitionistischen und einem rationalistischen moralischen Realismus unterschieden. Für eine grundsätzliche Verteidigung des moralischen Realismus möchte ich jetzt eine andere Unterscheidung treffen, nämlich die zwischen einem monistischen und einem pluralistischen moralischen Realismus. (4.1) Donogan, McConnell und Foot vertreten einen monistischen moralischen Realismus, der sich jenseits aller Differenzen im Detail auf den gemeinsamen Nenner bringen lässt, dass es in einem ontologisch harten Sinne eine einzige sittliche Weltordnung gibt. Für diese Spielart des moralischen Realismus muss die Erfahrung des moralischen Dilemmas eine Bedrohung darstellen, weil sie auf eine Inkonsistenz in dem einen Moralsystem hinweisen könnte, was aufgrund der Prämisse der Widerspruchsfreiheit des Vernünftigen (vgl. 5.b) wiederum eine Bedrohung des Anspruchs der Vernünftigkeit dieses Moralsystems darstellen würde. (4.2) Daneben gibt es aber auch den pluralistischen Realismus, der davon ausgeht, dass moralische Akteure unabhängig von ihren privaten bzw. subjektiven moralischen Überzeugungen und Interessen immer mit mehreren Systemen von moralischen Ansprüchen konfrontiert sind, die nicht aufeinander zu reduzieren sind. In der angelsächsischen Debatte wurde ein solcher Standpunkt prominent von Lemmon in seinem Essay Moral Dilemmas von 1962 vertreten. Im Zentrum des Essays steht die These, dass es moralische Dilemmata gäbe, weil es (mindestens) drei grundsätzlich verschiedene Typen von Gründen für moralisches Handeln gibt, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen und insofern durchaus auch einmal miteinander in Konflikt geraten können, ohne dass deshalb eine Inkonsistenz vorliegen müsse. 98 EntfalLemmon 1962. (1) Im Detail nennt Lemmon erstens Pflichten (duties), welche sich aus der sozialen Rolle ergeben, zweitens Verpflichtungen (obligations), welche Vertragscharakter haben und drittens moralische Regeln (moral rules), welche ihren Geltungsgrund in kulturellen Vereinbarungen haben. Im englischen Wortlaut heißt es: »Our duty may conflict with our obligations, our duty may conflict with our moral principles, or our obligations may conflict with our moral principles.« Lemmon 1962, 107. Einen zweiten Grund für die Entstehung moralischer Dilemmata sieht Lemmon darin, dass moralische Akteure
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tet wurde diese Position von Thomas Nagel in seinem Essay The Fragmentation of Value von 1977. Um den Ausführungen im nächsten Kapitel 7 dieser Abhandlung nicht unnötig vorzugreifen, möchte ich hier nur hervorheben, dass der pluralistische moralische Realismus weder die Erfahrung des moralischen Dilemmas auf eine Inkonsistenz der Moral zurückführen noch die deskriptive Prämisse der Konsistenz der Moral verteidigen muss, weil er im wesentlichen Kern in der Überzeugung besteht, dass es unabhängig von dem moralischen Akteur mehrere Systeme von moralischen Ansprüchen (bzw. Handlungsgründen) gibt, die nicht aufeinander zu reduzieren sind und also miteinander in Konflikt geraten können, ohne dass ein Inkonsistenz-Problem entstehen würde. Das wiederum bedeutet, dass sich ein pluralistischer moralischer Realismus anders als ein monistischer moralischer Realismus von der Erfahrung des moralischen Dilemmas in seinen Prämissen nicht bedroht sehen muss, weil er die deskriptive Konsistenzprämisse des monistischen moralischen Pluralismus gar nicht erst verteidigt und sich deshalb auch nicht mit den Fragen konfrontiert sieht, ob das moralische Dilemma vielleicht eine Inkonsistenz der Moral ist und ob die Erfahrung des moralischen Dilemmas eventuell auf eine solche zugrundeliegende Inkonsistenz hinweist. Meine Schlussfolgerung K2(1) lautet somit, dass sich die Erfahrung des moralischen Dilemmas vielleicht als Argument für die ›Falschheit‹ eines monistischen moralischen Realismus ins Feld führen lässt, aber manchmal mit unvorhergesehenen Situationen konfrontiert werden. So sei für Chamberlain vor seiner Begegnung mit Hitler im Jahr 1938 nicht vorhersehbar gewesen, dass Hitler ein Mensch ohne jede Moral war. Als er ihm dann begegnen sollte, habe er deshalb vor einem Dilemma gestanden. Dieser zweite Entstehungsgrund moralischer Dilemmata tut hier aber nichts zur Sache. (2) Insgesamt hält Lemmon das Problem des moralischen Dilemmas nicht für ein logisches, sondern für ein pragmatisches Problem. Insofern schließt sein Essay mit der Bemerkung, dass er »eine traditionelle logische Herangehensweise« an das Problem moralischer Konflikte im Sinne einer »Logik der Imperative« oder »der deontischen Logik« für wenig fruchtbar hält. Stattdessen plädiert Lemmon für eine Rückbesinnung auf die »gute alte sokratische Frage ›Wie soll ein Mensch leben?‹«. Es heißt im englischen Wortlaut »I do not believe that this is an area of total irrationality, though I do not believe that a traditional logical approach (the logic of imperatives, deontic logic, and whatnot) will do either.« Lemmon 1962, 113. It »will bring the moral philosopher out from his corner, where I think he has been too long, and back into the familiar but forgotten Socratic position of trying to answer the ever-present but ever-changing question: how should man live?« A. a. O. 113 f.
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(h) Kann die Moralphilosophie keine Wissenschaft mehr sein (K3)?
sicherlich nicht für die ›Falschheit‹ eines pluralistischen moralischen Realismus, wie er im nächsten Kapitel 7 zur Diskussion steht.
(h) Kann die Moralphilosophie keine Wissenschaft mehr sein (K3)? Für Williams gibt es das moralische Dilemma (vgl. K1), und daraus zieht er schließlich auch die Schlussfolgerung, für deren Vermeidung seine Gegner in der angelsächsischen Debatte eigentlich angetreten waren: Die Schlussfolgerung nämlich, dass die Moralphilosophie keine systematische normative Wissenschaft sei, sondern sich lediglich als Mittlerin zwischen privaten moralischen Intuitionen und dem öffentlichen moralischen Regelwerk verstehen könne. Konsequent leitet Williams seine Abhandlung Morality von 1972 mit der Bemerkung ein, dass das Buch »kein Lehrbuch, ja nicht einmal ein einführender Abriss der Moralphilosophie« sei und »kein theoretisches System« enthalten würde, weil es »keinen Grund« gäbe, »warum die Moralphilosophie oder die sogenannte ›Werttheorie‹« überhaupt »eine einigermaßen interessante in sich geschlossene Theorie ergeben sollte« 99. Einen ausdrücklichen Zusammenhang zwischen dieser ›systematischen Bescheidenheit‹ und dem Problem des moralischen Dilemmas stellt der kurze Essay Conflict of Values von 1979 her. (1) Der Essay nimmt seinen Ausgangspunkt bei Isaiah Berlins »liberalem Pluralismus«, den Williams in groben Umrissen so kennzeichnet, dass es »eine Pluralität von Werten gibt«, die »nicht aufeinander reduzierbar« ist, so dass es zu »Wertekonflikten« kommen kann, die sich weder »beseitigen« noch »restlos auflösen« lassen. Williams’ leitende Frage lautet dann, ob eine solche Moralphilosophie »mit radikalem gesellschaftlichen Handeln verbunden werden« kann oder ob sie sich darauf beschränken muss, »wehmütiger Zuschauer eines politischen Wandelns« zu sein. In einem ersten Schritt betont Williams, dass er Berlins Auffassungen teile, »daß Wertekonflikte keineswegs pathologisch sind«, sondern »etwas darstellen, daß notwendig in menschlichen
Williams 1972, 8. Vgl. mit derselben Stoßrichtung auch Williams 1985a, insb. das 8. Kapitel.
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Werten eingeschlossen ist«; dass das Problem unauflösbarer moralischer Konflikte kein Problem der Logik, sondern ein »gesellschaftliches oder persönliches« Problem ist; und dass es keine Hoffnung auf eine »Welt« gibt, in der sich kein Handelnder jemals »in einer Situation befinden« kann, »in der alles, was er täte, falsch« wäre, weil eine solche Welt nur durch einen »ziemlich interventionistischen Gott« gewährleistet werden könnte. (2) Seine eigentlichen Pointen entfaltet der Essay, wenn Williams vier Folgerungen zur Diskussion stellt, die Berlin seiner Rekonstruktion zufolge aus seinem Wertepluralismus zieht. Williams’ besondere Zustimmung findet die dritte dieser Schlussfolgerungen, der zufolge es nicht zutreffen soll, »daß es für jeden Wertkonflikt einen (unabhängigen oder nicht unabhängigen) Wert gibt, auf den man sich zur rationalen Lösung des Konflikts berufen kann«. Ausführlich verteidigt Williams diese Schlussfolgerung gegen den moralischen Rationalismus und vor allem gegen seinen Lieblingsgegner Richard M. Hare. Spannend wird es, wenn sein Argumentationsgang schließlich in der Äußerung mündet, dass es insgesamt »ein verfehltes Unterfangen« sei, »nach einer Reduzierung unserer Konflikte dadurch zu trachten«, dass man »eine philosophische ethische Theorie (im Sinne einer Systematisierung moralischer Überzeugung) konstruiert«. Nach Williams ist das Bedürfnis nach einer rationalen Lösung von moralischen Konflikten ausdrücklich kein logisches Bedürfnis, sondern vielmehr ein pragmatisches Erfordernis der »öffentlichen Ordnung«, weil moralische Entscheidungen zumindest dann, wenn sie eine breite Öffentlichkeit betreffen, ja rational einsehbar sein müssen, um kommunizierbar und zustimmungsfähig zu sein. Insofern führt es nach Williams grundsätzlich in die Irre, wenn die Moralphilosophie die »Konflikte in der moralischen Überzeugung« den »theoretischen Widersprüchen« anzugleichen versucht und »ein Modell theoretischer Rationalität und Angemessenheit auf das moralische Verstehen« überträgt. Ein solches Verfahren müsse scheitern, weil moralische Überzeugungen nun einmal den Gesetzen der Logik nicht entsprechen würden. (3) Williams’ Konsequenz lautet schließlich, dass sich die Moralphilosophie endlich von der Idee verabschieden müsse, Überzeugungen zu sammeln, auszuwerten und systematisch bzw. hierarchisch so anordnen zu wollen, dass sich im Idealfall für alle moralischen Konflikte 310
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eindeutige Lösungen ergeben. Ein solches Unterfangen wäre nach Williams nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern ginge auch an dem vorbei, was die Moralphilosophie in seinen Augen eigentlich leisten sollte: Nach Williams soll die Moralphilosophie dem Bedürfnis nach rationaler Konfliktlösung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nämlich gerecht werden, indem sie sich als Mittlerin zwischen dem privaten moralischen »Empfinden« und den »Regeln der öffentlichen Ordnung« versteht, damit die privaten moralischen Intuitionen und das öffentliche Regelsystem »nicht zu weit auseinandertreiben« 100. Wie in 1.c skizziert, hieß es in Davidsons How is Weakness oft the Will Possible von 1970, dass wir »unsere gesamte bisherige Auffassung vom Wesen der praktischen Vernunft aufgeben« müssten, wenn wir »nicht die Position vertreten können, daß es bei moralischen Prinzipien zu keinen Anwendungskonflikten kommen« könne, weil man schließlich kaum noch an die »Wahrheit (oder Gültigkeit) von Prämissen« glauben könne, wenn sie zu »Widersprüchen« führen. 101 Für Williams gibt es das moralische Dilemma, und tatsächlich zieht er aus dieser Überzeugung in seinem Essay von 1977 dann die Konsequenz, die er laut Davidson ziehen muss: Die Konsequenz nämlich, das Projekt einer Moralphilosophie als systematische normative Wissenschaft aufzugeben, um sie stattdessen auf eine bloße Mittlerfunktion zwischen privaten Intuitionen und öffentlichem Regelwerk zu reduzieren. Muss diese Schlussfolgerung tatsächlich gezogen werden? Muss sich die Moralphilosophie wirklich im Sinne von Ross (vgl. 1.a), Hare (vgl. 1.c), Davidson (vgl. 1.c) und Williams (vgl. 6.h) drastisch in ihrem systematischen Anspruch beschränken, weil sich im Laufe dieser Abhandlung (vgl. 6.f) erwiesen hat, dass sich nicht nachweisen lässt, dass es das moralische Dilemma nicht gibt, so dass angesichts der Alltäglichkeit der Erfahrung des moralischen Dilemmas weiterhin von der Möglichkeit des mora-
Williams 1979. Es heißt im englischen Wortlaut: »But then unless we take the line that moral principles cannot conflict in application to a case, we must give up the concept of the nature of practical reason we have so far been assuming. For how can premises, all of which are true (or acceptable), entail a contradiction? It is astonishing that in contemporary moral philosophy this problem has received little attention, and no satisfactory treatment.« Davidson 1980, 34. 100 101
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6. Das moralische Dilemma als Verkettung übler Umstände nach Williams
lischen Dilemmas ausgegangen werden muss (vgl. K1(1))? Wie das nächste Kapitel 7 darlegt, zeigt Thomas Nagels pluralistischer moralischer Realismus der Moralphilosophie einen gangbaren Ausweg aus dieser scheinbar fatalen Lage auf.
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7. Das moralische Dilemma als Expertenproblem mit Restrisiko nach Thomas Nagel
Thomas Nagel 1 entfaltet in seinem Essay The Fragmentation of Value von 1977 eine Position, die jenseits aller metaphysischen Debatten das Problem des moralischen Dilemmas anerkennen kann, ohne die Moralphilosophie 2 deshalb zu den Akten legen zu müssen.
(a) Der Hiat zwischen persönlicher und unpersönlicher Perspektive als Entstehungsgrund für moralische Dilemmata Einleitend hält der Essay fest, dass unter einem praktischen Konflikt »nicht einfach nur eine schwierige Entscheidung« unter »Bedingungen der Ungewissheit« wie beispielsweise die Entscheidung »zwischen einer Chemotherapie und einem chirurgischen Eingriff« verstanden werden soll, sondern ein »Konflikt unter Werten«, die »aus Gründen inkommensurabel sind, die mit Ungewissheit in Bezug auf empirische Fakten nichts zu tun« haben. »Echte Dilemmata« stellen nach Nagel die »härtesten« dieser »Konfliktfälle« dar: Von einem ›echten Dilemma‹ Gowans rückt Nagels wertepluralistische Position in die Nähe der Positionen von van Fraassen und Lemmon und verwurzelt sie insgesamt im Britischen Hegelianismus. Gowans 1987, 16. Die Affinität zum Britischen Intuitionismus sowie auch zur Philosophie der Antike ist zweifellos auf Nagels Studienjahre von 1958–1960 als Fullbright-Stipendiat in Oxford zurückzuführen. Methodisch ist Nagel (durch Einflüsse von Rogers Albritton und dem Wittgensteinianer Norman Malcolm während seiner Studienzeit in New York sowie von Strawsons Lehrer Paul Grice und J. L. Austin während seiner Zeit in Oxford) am ehesten der Analytischen Philosophie zuzurechnen. Seine Dissertation The Possibility of Altruism von 1970 hat er jedoch bei John Rawls verfasst. Vgl. zu diesen Angaben Gebauer 1984, 369. 2 Nagel spricht im englischen Original von ›ethics‹, aber ich habe den Begriff entgegen der deutschen Übersetzung in meiner Abhandlung mit ›Moralphilosophie‹ übersetzt, um meine Ausführungen zu Nagel meiner Terminologie anzugleichen. Vgl. dazu Abschnitt 1.d. 1
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7. Das moralische Dilemma als Expertenproblem nach Nagel
will er sprechen, sobald »zwingende Gründe« für »zwei inkompatible Handlungsalternativen (oder gegebenenfalls für mehr als zwei)« sprechen, »zu denen auch gehören kann, daß wir nichts unternehmen«, in denen aber dennoch »eine Entscheidung unausweichlich« ist, für die »Gründe dringend benötigt werden«, obwohl »beide Alternativen aus sowohl triftigen als auch zureichenden Gründen jede für sich angezeigt« 3 wäre. (1) Um zu erklären, warum sich praktische Konflikte zu echten moralischen Dilemmata auswachsen können, ohne dass im Sinne der angelsächsischen Debatte deshalb ein ›Fehler‹ des zugrundeliegenden Moralsystems vorliegen muss, unterscheidet Nagels Essay fünf »Grundtypen eigenständiger Werte«, wobei »als sechster« Typus »eigentlich noch unser Eigeninteresse« hinzukommen müsste. Letzteres will Nagel allerdings ohne weitere Begründung »außer Betracht« lassen, obwohl es in seinen Augen »auf der Hand liegt«, dass das Eigeninteresse durchaus mit Werten »einer jeden der folgenden Kategorien in Konflikt geraten« kann. (1.1) »Der erste Grundtyp« besteht nach Nagel »in besonderen Schuldigkeiten gegenüber bestimmten Menschen oder Institutionen«, die aus »einer bestimmten Beziehung des Subjekts zu anderen« resultieren. Gemeint sind persönliche »Pflichten« wie die Pflichten »gegenüber seinen Eltern oder seiner Familie« oder der »Universität« beispielsweise. (1.2) Zur »zweiten Kategorie« gehören »Handlungsauflagen, die auf allgemeine Rechte zurückgehen, auf Rechte, die es entweder jemandem gestatten, bestimmte Dinge zu tun, oder ihn davor schützen, dass mit ihm auf die eine oder andere Weise verfahren wird«. Ein Beispiel wäre die Pflicht eines Arztes, jeden Kranken »auf bestimmte Weise zu behandeln«. (1.3) Zur »dritten Kategorie« gehören alle »Überlegungen« darüber, »welche Auswirkungen das eigene Handeln auf das Glück und Wohlergehen aller haben wird«. (1.4) Zur »vierten Kategorie gehören an Vollkommenheit orientierte Ziele und Werte«, wie beispielsweise »der Eigenwert« von »wissenschaftlichen Entdeckungen« oder »künstlerischen Schöpfungen«. (1.5) Die »letzte Kategorie« bilden schließlich die Bindungen »an 3
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(a) Der Hiat zwischen persönlicher und unpersönlicher Perspektive
die eigenen Projekte und Unternehmungen« wie beispielsweise der Plan, den Mount Everest besteigen zu wollen. Solche »Bindung an eigene Projekte« sind nach Nagel »nicht mit Eigennutz« zu verwechseln, weil man solche »Verbindlichkeiten« nicht per se aus »eigennützigen Gründen eingegangen« 4 sein muss. (2) Entscheidend ist nun die Tatsache, dass Konflikte zwischen Werten »innerhalb einer der Kategorien« oder auch zwischen Handlungsgründen »unterschiedlichen Typs« nach Nagel in der »medizinischen Forschung, in der Politik, im persönlichen Leben und überall« auftreten können, »wo die Grundlagen des Handelns nicht künstlich eingeschränkt werden« 5. Konflikte zwischen Werten der verschiedenen Kategorien oder auch innerhalb einer Kategorie gehören nach Nagel also zur alltäglichen moralischen Praxis vernünftiger menschlicher Akteure. Wirklich auflösen lassen sich solche Konflikte laut Nagel nicht, weil es für sein Dafürhalten kein überzeugendes moralphilosophisches »System von Prioritäten« gibt. (2.1) Die (beispielsweise in der christlichen Tradition der Zehn Gebote fest verankerte) Möglichkeit einer Lösung von moralischen Konflikten »mit Hilfe einer kurzen Liste klarer Verbote und Gebote« hält Nagel für »unangemessen« wegen der Heterogentität der verschiedenen Typen von Werten, die miteinander in Konflikt geraten können. (2.2) Desweiteren könnte versucht werden, die verschiedenen Typen von Werten »in eine Ordnung zu bringen«, der zufolge »allgemeine Rechte« eine unbedingte Priorität vor kollektiven Nutzenerwägungen haben könnten, denen wiederum persönliche Präferenzen und Bindungen untergeordnet werden könnten. Einen solchen Versuch (die Rede ist zweifellos von der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls) erklärt Nagel für »absurd« wegen der »Absolutheit« eines solchen »Entscheidungsverfahrens«. (2.3) Eine dritte Möglichkeit bestünde nach Nagel in einer »einheitlich Skala, auf der sich all diese augenscheinlich disparaten Erwägungen irgendwie messen« lassen würden, wobei »der Utilitarismus« in seinen Augen »das beste Beispiel für eine Theorie dieser Art« darstellt. Nagel hat nun weniger Bedenken wegen des Standardeinwan4 5
Nagel 1977, 182–185. Nagel 1977, 185.
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des, dass der Utilitarismus »intuitiv unannehmbare moralische Implikationen« haben kann, weil er es für »denkbar« hält, »daß durch eine weitere Optimierung dieser Theorie viele dieser Unstimmigkeiten nivelliert werden könnten«. Seine »Skepsis« ist vielmehr »theoretischer Natur« dergestalt, dass es ihm »nicht einleuchten« will, »daß die Herkunft« unserer Werte »einheitlich« sein soll, und dass »nur ihre Anwendung auf die Wirklichkeit« sie »vielfältig erscheinen lassen«. In seinen Augen trifft es »schlicht nicht zu«, dass sich alle Werte auf ein »Streben nach einem einzigen Guten« im Sinne des Utilitarismus reduzieren lassen. Nagel ist vielmehr der Überzeugung, dass die Werte »selbst sich auf mehrere grundverschiedene Ursprünge zurückführen lassen und dass sich dies« in seiner »Einteilung« von fünf (bzw. sechs) verschiedenen Typen von Handlungsgründen »niederschlägt« 6. (3) Nach Nagel muss also von der Möglichkeit moralischer Dilemmata ausgegangen werden, weil es keine moralphilosophische Methode gibt, mit der sich die grundsätzlich verschiedenen Typen von Werten aufeinander reduzieren lassen. Bis hierhin scheint Nagel ganz im Fahrwasser von Bernard Williams zu schwimmen, der seine Überzeugung von der Möglichkeit des moralischen Dilemmas in seinem Essay Ethical Consistency von 1965 ja ebenfalls mit dem Argument begründet hatte, dass es keine moralphilosophische Strategie zur eindeutigen Auflösung aller moralischen Dilemmata geben kann. Während Williams die Begrenztheit moralphilosophischer Strategien wiederum mit der Kontingenz der Umstände begründet, aus denen heraus moralische Konflikte entstehen (vgl. 6.a.2), begründet Nagel dieselbe Überzeugung mit der Heterogenität von moralischen Werten, die miteinander in Konflikt geraten können. Während Williams bei dieser Diagnose jedoch stehen bleibt, geht Nagels Essay deutlich weiter mit der These, dass das Versagen der philosophischen Strategien seinen Grund in den unterschiedlichen Ursprüngen der Werte und damit letztlich in der Beschaffenheit der menschlichen Vernunft hat und deshalb unausweichlich ist. Nach Nagel lassen sich die fünf bzw. sechs Typen von Werten, die er im ersten Teil seines Essay von 1977 unterscheidet, nämlich auf eine grundsätzlichere Unterscheidung von personalen und impersonalen Werten zurückführen, 7 womit nach Nagel ein Hiat 6 7
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Nagel 1977, 185 ff. Es heißt dazu bei Sinnott-Armstrong: »Nagel distinguishes ›personal‹ or ›agent cen-
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(a) Der Hiat zwischen persönlicher und unpersönlicher Perspektive
offensichtlich wird, der sich durch keine philosophische Strategie je wird überwinden lassen, weil der Hiat für die Praktische Vernunft ebenso konstitutiv wie für die Theoretische Vernunft ist. Personale Werte liefern nach Nagel personale Handlungsgründe, und impersonale Werte liefern impersonale Handlungsgründe (vgl. zu diesem Zusammenhang Einwand 7.b.1). Und Nagels Philosophie des moralischen Dilemmas besagt in ihrem wesentlichen Kern, dass es das moralische Dilemma immer geben wird, weil es keine moralphilosophische Strategie geben kann, mit der der Hiat zwischen personalen und impersonalen Handlungsgründen überwunden werden könnte. (3.1) Bei den personalen Handlungsgründe, die aus personalen Werten hervorgehen, handelt es sich um »Gründe«, die »einen potentiellen Akteur« dazu motivieren, seinen »Verpflichtungen nachzukommen«. (3.1.1) Ein erster Typ von personalen Handlungsgründen entsteht aus den personalen Werten der Schuldigkeiten gegenüber anderen Personen. Aus solchen Gründen kümmert man sich nach Nagel beispielsweise um seine Kinder. (3.1.2) Obwohl sie »in vergleichsweise geringem Maße auf bestimmte Personen bezogen« sind, rechnet Nagel auch die Handlungsgründe, die aus allgemeinen Rechten hervorgehen, formal den personalen Handlungsgründen zu mit dem Argument, dass die allgemeinen Rechte »handelnden Personen« Gründe geben würden, die »in erster Linie für Individuen« gelten, »deren Handlungen Gefahr laufen, diese allgemeinen Rechte zu verletzen«. Allgemeine Rechte liefern Gründe »dagegen«, dass wir anderen »gewisse Dinge« antun. Deshalb handelt es sich bei allgemeinen Rechten Nagels Kategorisierung zufolge um personale Werte, aus denen personale Handlungsgründe hervorgehen, und wiederum widerspricht es dieser generellen Zuordnung nicht, dass wir es auch jenseits der personalen Perspektive für richtig halten, dass »Rechte nicht verletzt werden«. (3.1.3) Ebenfalls personale Handlungsgründe entstehen schließlich aus den personalen Werten der Bindungen an eigene Projekte und Unternehmungen, weil sich solche Handlungsgründe »in noch höhe-
tered values‹ from ›impersonal‹ or ›outcome-centered‹ values. The former include specific obligations, commitments to one’s own projects and general rights. The latter include utility and perfectionist end.« Sinnott-Armstrong 1988, 60. Das moralische Dilemma
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rem Maße auf den Akteur« beziehen als die Handlungsgründe, die aus allgemeinen Rechten oder Schuldigkeiten hervorgehen. (3.2) Die Handlungsgründe hingegen, die aus »Nutzenerwägungen oder aus Zielen erwachsen, die an der Vollkommenheit von Leistungen orientiert sind«, haben laut Nagel einen »überpersonalen Charakter«, weil sie sich an »Handlungsfolgen« orientieren und insofern »nicht mehr in erster Linie« das betreffen, »was eine bestimmte Person tut, sondern etwas, das geschieht«. 8 Dasselbe gilt für den Handlungsgrund, das Wohl aller steigern zu wollen. (4) Entscheidend für Nagels Philosophie des moralischen Dilemmas ist nun, dass der »Abgrund« zwischen den »personalen und impersonalen, zwischen am Akteur und an den Folgen orientierten« Gründen Nagels philosophischen Grundüberzeugungen zufolge so »fundamental« ist, dass »er jede reduktive Vereinheitlichung der Ethik zur Implausibilität verdammt«. Die personale und die impersonale Perspektive sind nach Nagel »zwei grundsätzlich verschiedene Sichtweisen«, die »beide wichtig sind, sich aber prinzipiell nicht auf einen gemeinsamen Grund zurückführen lassen«, womit eine »bestimmte Art der Lösung« von moralischen Konflikten als »von vorneherein aufgeschlossen« gelten muss. Die impersonalen Handlungsgründe entstehen nach Nagel, »sobald wir von unserer persönlichen Lebenslage und konkreten Beziehungen zu anderen absehen«. Dadurch entsteht eine Sichtweise, die sich »zutiefst von jener Perspektive« unterscheidet, aus »der heraus der Mensch auf seine Schuldigkeit gegenüber Freunden, Kollegen oder seiner Familie Rücksicht nimmt«. »Der Gegensatz zwischen persönlichen und überpersönlichen Ansprüchen an uns« ist nach Nagel »allgegenwärtig«. Er »lässt sich nicht beseitigen, indem der Standpunkt dem jeweils anderen oder beide einem dritten untergeordnet wird«, weil »unser eigentümliches Vermögen, die Welt in einem Augenblick sowohl aus der Perspektive der eigenen Beziehung zu anderen, aus der Perspektive des je eigenen Lebens in der Zeit, aus der Perspektive aller Individuen zugleich und schließlich auch aus jener radikal distanzierten Perspektive einzufangen, die man oft sub specie arternitatis genannt hat«, in Nagels Augen »ein Grundzug unserer Humanität« 9 ist.
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(b) Einige weiterführende Fragen
Es ist »dieses komplexe Vermögen des Menschen« 10, das Nagels Philosophie des moralischen Dilemmas als Argument gegen die moralphilosophische Hoffnung ins Feld führt, jedes Dilemma mit der richtigen moralphilosophischen Strategie lösen zu können.
(b) Einige weiterführende Fragen So klar Nagels Begründung der Möglichkeit moralischer Dilemmata in der Doppelperspektivität der menschlichen Vernunft auf den ersten Blick auch sein mag, so ergeben sich bei näherer Hinsicht doch eine Reihe weiterführender Fragen. (1) So irritiert der Essay The Fragmentation of Value von 1977 sicherlich zunächst einmal dadurch, dass erst von Konflikten zwischen Werten und dann relativ übergangslos von Konflikten zwischen Handlungsgründen die Rede ist. Geklärt wird der intrinsische Zusammenhang von Werten und Gründen im Kapitel Liberty von The View from Nowhere von 1986. Diesem Kapitel zufolge sind Werte weder als Eigenschaften der Wirklichkeit noch als metaphysische Gegenstände zu betrachten, sondern als »Urteile aus einer uns selbst gegenüber externen Perspektive« darüber, »wie wir sein oder leben sollten«, wobei diese Urteile (weil sie von einer externen Perspektive gefällt werden) »nicht bloß für die Person« gelten, »die ich kontingenterweise nun einmal bin«, sondern »allgemein« in dem Sinne sind, dass sie angeben, »wie ich leben sollte, da sie angeben, wie schlechterdings jeder leben sollte« Weiterhin heißt es, dass »insbesondere ethische Werte« aus »der Kombination zahlloser Leben und Interessengruppen zu einem einheitlichen System des Urteilens« 11 resultieren würden. Urteile basieren bekanntlich auf Gründen. Jeder Wert »liefert« 12 nach Nagel immer auch ein Set von Gründen. Wegen dieses genetischen Zusammenhangs stellt es also weder ein Versehen noch einen Kategorienfehler dar, wenn Nagel im Essay von 1977 das moralische Dilemma sowohl als Werte- als auch als Begründungskonflikt behandelt (vgl. auch 2.a.2.4). 10 11 12
Nagel 1977, 189. Nagel 1986, 232–235. Nagel 1986, 274.
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(2) Jenseits dessen mag es vielleicht verwundern, dass Nagel in seinem Essay von 1977 die Handlungsgründe, die aus allgemeinen Rechten hervorgehen, als ›personale Handlungsgründe‹ etikettiert, obwohl allgemeine Rechte doch eigentlich per definitionem unabhängig von der individuellen Person Gültigkeit haben sollen. (2.1) Nagel trägt diesem möglichen Einwand Rechnung, indem er in dem Kapitel Ethics des Buchs The View from Nowhere von 1986 eine neue Terminologie einführt und statt von personalen und impersonalen Handlungsgründen (bzw. Werten) von relativen und neutralen Handlungsgründen (bzw. Werten) spricht. 13 Neutrale Gründe sollen dieser Unterscheidung zufolge unabhängig vom Akteur mit Blick auf einen bestimmten Weltzustand angeben, »was geschehen soll«, während relative Gründe solche sind, die Menschen vorschreiben, was sie in bestimmten Situationen »tun sollen oder tun dürfen«. Auch die Binnenunterscheidungen innerhalb der zwei grundsätzlichen Typen von Gründen werden 1986 gegenüber dem Essay von 1977 sowohl terminologisch als auch inhaltlich neu gefasst. (2.1.1) Die Werte des Wohlergehens aller sowie der an Vollkommenheit orientierten Ziele, die im Essay von 1977 als impersonale Werte etikettiert werden, werden 1986 als neutrale Handlungsgründe zusammengefasst. (2.1.2) Dem personalen Wert der besonderen Schuldigkeiten gegenüber bestimmten Menschen und Institutionen von 1977 entsprechen 1986 dann die die relativen Gründe der persönlichen Verpflichtungen, welche »von den besonderen Pflichten« herrühren sollen, die wir Personen gegenüber haben, zu denen eine enge Bindung besteht« 14. An die Stelle der Bindungen an eigene Projekte treten die relativen Gründe der Autonomie, welche »aus den individuellen Wünschen, Vorhaben, Pflichten und persönlichen Bindungen eines Subjekts« erwachsen. Anstatt von allgemeinen Rechten ist 1986 schließlich von ›deontologischen Gründen‹ die Rede, wobei deontologische Gründe diejenigen relativen Gründe sein sollen, die aus den »legitimen Ansprüchen anderer« hervorgehen, »nicht auf bestimmte Weisen (im weitesten Sinne des Wortes) falsch behandelt zu werden«. (2.2) Damit liegt nun natürlich der Einwand nahe, dass die deonNagel betont, dass er die Etikette ›neutral versus relativ‹ von Derek Parfit übernommen habe. Nagel 1986, 263 f., Anm. 9. Verweis auf Parfit 1984, 143. 14 Nagel 1986, 284. 13
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(b) Einige weiterführende Fragen
tologischen Handlungsgründe ebenso wenig dem Typus der (nur) relativen Handlungsgründe zugerechnet werden sollten, wie die allgemeinen Rechte nicht unter die Rubrik der (nur) personalen Handlungsgründe gehören. Unter ›deontologischen Handlungsgründen‹ könne man schließlich nur die Pflichten im Sinne von Kant oder die absoluten Verbote und Gebote des sogenannten ›Naturrechts‹ verstehen, und die sind zumindest dem Anspruch nach nicht nur allgemein, sondern sogar absolut gültig. Diesem möglichen Einwand begegnet Nagel mit dem Hinweis darauf, dass mit der Zuordnung der deontologischen Gründe nichts über ihre relative oder absolute Gültigkeit gesagt sei. Hervorgehoben werden solle vielmehr, dass sich deontologische Gründe anders als die neutralen Gründe eben nicht auf einen »Weltzustand« richten würden, »in dem niemand falsch behandelt wird«. Es handele sich vielmehr um »Gründe, die ein Akteur dafür« haben kann, »nicht selbst andere, mit denen er zu tun hat, falsch zu behandeln (indem er beispielsweise ihre Rechte verletzt oder seine Versprechen ihnen gegenüber bricht)« 15, und deshalb seien die ›deontologischen Gründe‹ relative Gründe. (3) Sehr viel schneller abhandeln lässt sich nun der vielleicht ebenfalls naheliegende Einwand, dass Nagels Listen von Werten bzw. Handlungsgründen weder in dem Essay von 1977 noch in The View from Nowhere vollständig seien. Dass es Nagel um Vollständigkeit nicht geht, beweist die Bemerkung in The View from Nowhere, dass das »Ensemble autonomer, verpflichtender, neutraler und deontologischer Gründe« lediglich »einen Großteil des Territoriums der unhinterfragten bürgerlichen Moral« 16 abdecke: Wer von einem ›Großteil‹ spricht, beansprucht keine Vollständigkeit. (4) Von ungleich höherem Stellenwert ist jedoch die Frage nach dem ontologischen Status von Nagels Ensemble von Handlungsgründen. So stellt es beispielsweise ein gravierendes Missverständnis dar, wenn Gowans behauptet, dass Nagel eine relativ strikte »Form des SkeptizisNagel 1986, 284. In anderem Zusammenhang betont Nagel dann allerdings auch, dass deontologische Gründe keinesfalls per se »als absolut begriffen werden« müssten; man könne sie sich vielmehr »auch als relative Gründe denken, die immer ein bestimmtes Gewicht haben und zu den Quellen der Moral hinzuzurechnen sind – ohne diese zu erschöpfen«. A. a. O. 318. 16 Nagel 1986, 285. 15
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mus« vertreten würde mit der Behauptung, dass es wegen der »Inkommensurabilität« der Handlungsgründe »überhaupt keine Lösung« für moralische Dilemmata geben könne, »die gegebenenfalls entdeckt werden könnte« 17. Tatsächlich distanziert sich Nagel in The View from Nowhere nämlich ausdrücklich von allen skeptizistischen oder relativistischen Tendenzen in der Moralphilosophie. 18 Stattdessen verteidigt er eine Position, die er ›Normativen Realismus‹ nennt und die im Kern in der dezidiert nicht-skeptischen Auffassung besteht, dass »die Welt von Gründen, auch der Gründe, die ich mitbringe, nicht nur von meinem eigenen Standpunkt aus besteht« 19. (4.1) Weil sich »die Möglichkeit des Realismus« allerdings »durch schlechterdings nichts beweisen läßt«, beschränkt sich Nagel auf die Widerlegung der in seinen Augen wichtigsten drei antirealistischen Argumente. (4.1.1) Der wertenihilistischen Auffassung hält Nagel relativ knapp entgegen, dass die »wahre Schwierigkeit« der Debatte über Werte gerade nicht darin bestünde, dass »plötzlich alle Werte zu verschwinden scheinen«, sondern dass es »offenbar viel zu viele Werte« gibt. (4.1.2) Dem nun naheliegenden Relativismus-Einwand begegnet Nagel mit dem Hinweis darauf, dass »die Tatsache, daß Gültigkeit auch immer etwas mit Machtstrukturen zu tun« habe, kein Argument gegen die werterealistische Position sei, weil schließlich auch andere »Erkenntnisbereiche« von »sozialen Machtmitteln« dominiert seien, wobei es aber immer wieder »historische Beispiele« gäbe, dass sich »soziale Vorurteile« durch starke sachliche Zwänge »transzendieren« lassen. Deshalb habe sich beispielsweise die Evolutionstheorie durchgesetzt, während die sogenannte ›Rassenlehre‹ des Nationalsozialismus dem wohlverdienten wissenschaftlichen Vergessen anheimgegeben worden sei. (4.1.3) Am aussagekräftigsten für das Verständnis von Nagels Normativem Realismus ist Nagels Reaktion auf John Leslie Mackis ArEs heißt im englischen Wortlaut: »A stronger form of scepticism, however, is suggested by Nagel’s claim that some values are ›incommensurable‹ : For this implies that it is impossible in principle to resolve conflicts among them. It is not simply that we cannot discover the resolution: there is no resolution to be discovered«. Gowans 1987, 18. 18 Nagel 1986, 245. 19 Nagel 1986, 243. Vgl. zu Nagels Realismus auch a. a. O. 157–90. Auch in Realismus 2000, 53–67. 17
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gument der Überbevölkerung der Welt durch Werte als »exotische« Gegenstände. Nagel begegnet diesem Einwand mit dem Hinweis darauf, dass er Werte keineswegs für »reale okkulte Wesenheiten oder Qualitäten« halte. Wie er explizit betont, will Nagel nicht mit dem »unangemessenen metaphysischen Modell« in »Verbindung gebracht werden«, welches Werte als Tatsachen oder Qualitäten der Außenwelt betrachtet. Wie oben schon skizziert, sind Werte für Nagel Urteile, die Menschen in einer bestimmten Umgebung und unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen darüber gefällt haben, wie Menschen insgesamt leben sollten. Solche Urteile basieren auf Gründen, die etwas mit der Welt zu tun haben, in der die Menschen leben. Vor diesem Hintergrund erklärt sich Nagels Äußerung, dass sein Normativer Realismus gegen jeden metaphysischen moralischen Realismus die sehr viel schwächere Auffassung vertreten würde, dass unsere Urteile »über die Gründe, die Menschen für ihr Wirken haben, auch unabhängig von unseren Überzeugungen oder Neigungen wahr sein oder falsch« 20 sein können. (4.2) Als stärksten Konkurrenten seines Normativen Realismus betrachtet Nagel die psychologische Auffassung, der zufolge »allgemeine Gründe« nichts ›mit der Welt‹ zu tun haben, sondern »auf den Wünschen des Handelnden« beruhen sollen. In Anlehnung an Derek Parfit bezeichnet Nagel diese Position (die in Grundzügen schon von David Hume und später von Bernard Williams vertreten wurde) als »Instrumentelle Theorie« 21. Nagel nimmt diese Auffassung besonders gründlich unter die Lupe, weil er glaubt, dass die zentrale Prämisse seines Normativen Realismus, »daß es objektive Werte wirklich« gibt, wohl immer »kontrovers« bleiben wird »aufgrund der Leichtigkeit«, mit der »Werte und Gründe sich offenbar verflüchtigen«. Insbesondere das würde für die psychologische Auffassung sprechen, dass alle moralischen Handlungsgründe letztlich auf »Personen mit ihren eigentümlichen Motiven, Neigungen und Abneigungen« zurückzuführen sind. (4.2.1) Unter Berufung auf Donald Davidson erklärt Nagel die »rein psychologische Lesart« dann aber erstens mit Hinweis darauf für einen »Irrtum«, dass ein moralisches Urteil schließlich »auch aus einer Außenperspektive anerkennbar und akzeptierbar« sein müsse,
20 21
Nagel 1986, 247–257. Verweis auf Mackie 1977, 43 f. Nagel 1986, 243, 258. Verweis auf Parfit 1984, 117.
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was nur gewährleistet sei, wenn es letztlich »unabhängig von den Präferenzen und Wünschen« ist, »die wir faktisch haben«. (4.2.2) Ein zweites Argument lautet, dass selbst aus der Innenperspektive eines Menschen längst nicht alle Wünsche per se auch schon gute Handlungsgründe sind, während es umgekehrt »Klugheitserwägungen« gibt, aus denen gute Handlungsgründe hervorgehen, obwohl sie nicht auf Wünschen beruhen müssen. (4.2.3) Ein drittes Argument besagt schließlich, dass wir von Handlungsgründen nur sprechen, wenn wir glauben, dass sie etwas mit der Welt zu tun haben, während Wünsche von gegenwärtigen Weltzuständen erfahrungsgemäß ja sehr abweichen können. Nagels plastisches Beispiel ist eine Situation, in der ich ein Schmerzmittel gegen meine Zahnschmerzen einnehme: Wie Nagel treffend betont, tue ich das nicht nur aus dem Wunsch heraus, dass meine Zahnschmerzen verschwinden, sondern vor allem aus der Überzeugung heraus, dass das Mittel jenseits meiner Wünsche tatsächlich wirkt und meine Schmerzen lindert. Zumindest dieses dritte Argument ist unbestreitbar schlagkräftig. Insgesamt ist Nagel nur zuzustimmen, wenn er gegen den psychologischen Standpunkt darauf verweist, dass wir, insofern wir nicht »künstlich blind sind«, nicht nur »Menschen« sehen würden, »die von ihren Wünschen zu ihren Handlungen getrieben werden, sondern Menschen, die begründet handeln und aus guten oder schlechten Gründen Absichten und Wünsche ausbilden« 22, wobei sich die Gründe immer auch auf Weltzustände beziehen müssen, um wirklich gute Gründe zu sein. (5) Von entscheidender Bedeutung für Nagels Philosophie des moralischen Dilemmas ist natürlich die Frage, ob der Hiat zwischen personalen und impersonalen bzw. relativen und neutralen Handlungsgründen wirklich so grundsätzlich ist, wie Nagel es darstellt. Strittig scheint zunächst einmal die Möglichkeit einer Reduzierung von neutralen auf relative Handlungsgründe zu sein. Relative Handlungsgründe gehen aus relativen Werten hervor, wobei das Urteil, »daß etwas einen relativen Wert hat«, nach Nagel darauf festlegt, »zu glauben, daß einer einen Grund hat, dieses Etwas zu wollen oder auszuführen, sofern es zu ihm in der richtigen Beziehung steht« 23. Relative Handlungsgründe 22 23
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Nagel 1986, 246, 259–262. Verweis auf Davidson 1936. Nagel 1986, 266.
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sind also Gründe, die bestimmte Personen in bestimmten Situationen unter bestimmten Umständen haben. Ein neutraler Handlungsgrund liegt hingegen vor, sobald es um etwas geht, für das »jeder« in allen Situationen »einen Grund mitbringt« 24, dass es geschehen oder realisiert werden soll. Beispiele für neutrale Werte sind die Abwesenheit von Schmerz, aber auch bestimmte elementare Güter. (5.1) Dass (so verstandene) neutrale Werte nicht auf die relativen Werte des Typs der persönlichen Verpflichtung zu reduzieren sind, ist offensichtlich: Ich kann nicht nur dann ein Welt wollen, in der niemand hungert, wenn ich zu den betroffenen Menschen in einer engen persönlichen Beziehung stehe. (5.2) Vergleichbar lassen sich neutrale Werte nicht auf die relativen Werte des Typs der Autonomie reduzieren: Ich kann auch dann eine Welt wollen, in der niemand hungert, wenn ich kein Missionar beispielsweise bin, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, gegen den Hunger in der Welt anzukämpfen. (5.3) Auf relative Werte des deontologischen Typs lassen sich die neutralen Werte schließlich auch nicht reduzieren. Wenn ich eine Welt will, in der niemand hungert, muss ich mich deshalb nicht per se auch unmittelbar persönlich verpflichtet fühlen, dafür zu sorgen, dass tatsächlich niemand mehr hungert. Eine Reduzierung von neutralen auf relative Werte ist also so offensichtlich nicht möglich, dass Nagel sich mit dieser Möglichkeit nicht lange aufhält. (6) Alles andere als abwegig ist jedoch die Möglichkeit, »das Relative auf das Neutrale zu reduzieren« 25. Gegen Autoren wie Richard M. Hare und Thomas Scanlon widmet sich deshalb fast das gesamte Kapitel Ethics von Nagels The View from Nowhere dem Aufweis, dass die »parteiliche und perspektivische Rücksicht auf die Interessen anderer« keiner Strategie der »neutralen Rücksicht« 26 jemals vollständig wird »weichen können«, weil beide Perspektiven nun einmal nicht aufeinander zu reduzieren seien. (6.1) Nagel beginnt mit den relativen Gründe der persönlichen
Nagel 1986, 266. Nagel 1986, 286. Verweis auf Hare 1981 sowie auf Scanlon 1978. Zusätzlich verwiesen wird auf die Diskussion von Hare 1981 in Nagel 1982 sowie auf Hare and Critics 1988, 101–112, 247–255. 26 Nagel 1986, 311 f. 24 25
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Verpflichtungen, die er schnell abhandelt, weil sich die Frage einer Reduzierbarkeit dieser Gründe auf neutrale Gründe (wie Nagel treffend betont) gar nicht erst stellt. Persönliche Verpflichtungen sind schließlich per definitionem relative Gründe, weil es sich ja um ›persönliche‹ Verpflichtungen handelt, die sich als solche nur an ganz bestimmte Personen richten. (6.2) Die relativen Gründen der Autonomie sollen »aus den individuellen Wünschen, Vorhaben, Pflichten und persönlichen Bindungen eines Subjekts« erwachsen. Ein Präferenzutilitarist könnte solche Gründe nun umfassend als ›Präferenzen‹ bezeichnen. Für eine Reduzierung solcher Gründe auf neutrale Gründe könnte er dann das Argument ins Feld führen, dass die generelle Möglichkeit der Präferenzerfüllung als neutraler Handlungsgrund anzusehen sei, weil man schließlich unabhängig von den eigenen individuellen Präferenzen einen Weltzustand wollen sollte, in dem Präferenzerfüllungen möglichst umfassend möglich sind. Nagel begegnet diesem Argument, indem er zwei Arten von Präferenzen unterscheidet. (6.2.1) »Sinnliche Erlebnisse, die wir intensiv schützen oder verabscheuen«, haben nach Nagel zweifelsohne tatsächlich »einen eigenen und neutralen Wert« 27. Sein Argument entfaltet Nagel am Beispiel des Schmerzes: Jemand, der Schmerzen aus der Eigenperspektive heraus kennt, würde relativ schnell zu der Einsicht gelangen, dass ein solches »Erlebnis« nicht »andauern« sollte, »wer auch immer es hat«. Damit sind die Schmerzen eines anderen keine Aufforderung an eine konkrete Person im Sinne der relativen Handlungsgründe mehr. Sie betreffen vielmehr einen bestimmten Weltzustand, weshalb aus Schmerzen nach Nagel neutrale Handlungsgründe hervorgehen können, wenngleich es »zusätzlich auch rein relative Gründe« dafür geben mag, »eigene Lust zu suchen und eigene Schmerzen zu meiden«. Dasselbe gilt nach Nagel auch für Freude und »andere elementare menschliche Güter und Übel« 28. (6.2.2) Der »überwiegende Teil des von uns Erstrebten« wird nach Nagel allerdings »von uns selbst gewählt« nach Maßgabe unserer persönlichen Interessen und Vorlieben, weshalb die Erfüllung solcher Präferenzen »nicht den mindesten neutralen Wert« hat. Nagels Beispiele sind der Wunsch nach Nachruhm, der Besteigung des Kilimandscharos 27 28
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Nagel 1986, 289. Nagel 1986, (270–280) 278 f.
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und des Erlernens des Klavierspielens. Solche Präferenzen sind nach Nagel genuin persönliche Präferenzen, die keine neutralen Handlungsgründe gerieren können, weil durch ihre Erfüllung kein Weltzustand verändert würde. Nun mag es zwar durchaus der Fall sein, dass »ein anderer« einen »Grund« haben mag, sich um die »Erfüllung« solcher Präferenzen »zu kümmern«, wenn er beispielsweise »ein besonderes Interesse an der betreffenden Person hat«. Dann aber wäre der Handlungsgrund dieses ›anderen‹ immer noch kein neutraler Handlungsgrund, sondern vielmehr ebenfalls ein relativer Grund aus der Kategorie der Gründe der Verpflichtungen, weil es jetzt um persönliche Bindungen ginge. Damit kommt Nagel zu dem Schluss, dass »kein absolut genereller und unpersönlicher Wert der Erfüllung von Präferenzen« 29 existiere, womit sich die Handlungsgründe, die aus dem Wunsch nach individuellen Präferenzerfüllungen resultieren, auch nicht per se auf neutrale Handlungsgründe zurückführen lassen. (6.3) Relative Gründe des deontologischen Typs lassen sich nach Nagel »nicht einfach durch neutrale Werte erklären«, weil es sich bei deontologischen Gründen »nicht um unpersönliche Ansprüche« handeln würde, »die von den Interessen anderer sich herleiten, sondern um persönliche Forderungen, denen unsere Beziehungen zu anderen unterworfen sein sollen«. Deontologische Gründe wenden sich nach Nagel anders als neutrale Handlungsgründe »nicht dagegen, daß etwas geschieht«, sondern »dagegen, daß man selbst etwas tut«. Was gemeint ist, plausibilisiert Nagel am Beispiel eines Autounfalls, bei dem ein Protagonist vor der Entscheidung steht, ob er dem Enkel einer alten Dame »brutal den Arm umdrehen« darf, damit die alte Dame ihm verrät, wo sich der Schlüssel zu ihrem Auto befindet, damit der Protagonist seinen schwerverletzten Freund mit diesem Auto ins Krankenhaus transportieren könnte, um sein Leben zu retten. Die Lage ist für den Protagonisten nach Nagel ein »ernstes Dilemma«, weil er weiß, dass er (ganz persönlich) nicht foltern darf. Stünden im vorliegenden Fall jedoch ausschließlich neutrale Handlungsgründe zur Disposition, gäbe es kein Dilemma, weil es dann nach Nagel keinen Zweifel geben könne, dass der Protagonist »das kleinere Übel wählen und dem Kind den Arm umdrehen« 30 sollte. Das beweist nach Nagel, dass im vorliegenden Fall
29 30
Nagel 1986, 289–294. Nagel 1986, 303 f.
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zwei Typen von Handlungsgründen zur Disposition stehen, die grundsätzlich nicht aufeinander zu reduzieren sind. (6.3.1) Gegenüber dem Einwand, dass es seltsam sei, dass es mit den deontologischen Gründen »relative Gründe geben« soll, »die Ansprüche anderer zu respektieren«, räumt Nagel zunächst ein, dass viele »deontologischen Restriktionen« (wie beispielsweise das Verbot, anderen zu schaden) tatsächlich »einen beträchtlichen gesellschaftlichen Nutzen« haben und »einen Großteil ihrer moralischen Anziehungskraft einbüßen« würden, »wäre dieser Nutzen nicht mehr gegeben« 31. Deshalb seien deontologische Gründe aber nicht auf die Interessen anderer zu reduzieren, weil man schließlich in aller Regel selbst dann nicht zu einem Mord bereit sei, wenn man dadurch »den akzidentellen Tod mehrerer anderer Personen verhindern« 32 könnte. Tatsächlich würde sich das Problem des Tyrannenmordes beispielsweise ebenso wenig stellen wie das Problem der schmutzigen Hände, wenn sich das deontologische Tötungsverbot auf das Gebot der Herstellung eines optimalen Weltzustandes für möglichst viele reduzieren ließe. (6.3.2) Gegen eine Reduzierung von deontologischen Gründen auf neutrale Gründe spricht nach Nagel zudem, dass bei der Bewertung von Zuwiderhandlungen gegen deontologische Gründe immer auch die Absicht des Akteurs mit berücksichtigt würde, was unangebracht wäre, wenn deontologische Gründe auf den Schutz bestimmter kollektiver Interessen oder die Realisierung bestimmter Weltzustände abzielen würden. So sei es aus neutraler Perspektive völlig unerheblich, ob jemand bei einem Unfall getötet oder ermordet wurde, weil es »für das Opfer« offensichtlich »nicht wenig schlimm« ist, »absichtlich getötet zu werden, als durch einen Unfall« umzukommen«. Weil ein Mord jedoch aus böser Absicht geschieht und ein Unfall nicht, macht es laut Nagel trotz aller Gleichgewichtigkeit der Folgen eben doch einen erheblichen Unterschied, ob jemand einen Unfall verursacht oder einen Mord begangen hat. Wie Nagel treffend betont, muss man »einen anNagel 1986, 305 ff. Nagel 1986, 307. Dem möglichen utilitaristischen Gegeneinwand, dass unsere Tötungshemmungen auf »krude, aber nützliche moralische Indoktrination« zurückgehen könnten, begegnet Nagel mit dem phänomenologischen Argument, dass wir gerade das Tötungsverbot niemals als bloße »psychische Hemmschwelle« erfahren würden, die sich durch Reflexion überwinden ließe, sondern vielmehr »in jedem einzelnen Fall« als einen »außerordentlich mächtigen relativen Grund« im Sinne einer »normativen Wahrheit«. A. a. O. 308.
31 32
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deren absichtlich falsch behandelt« haben, um »wirklich gegen ein deontologisches Verbot verstoßen zu haben«, wobei es nach Nagel (wie er ebenfalls treffend bemerkt) letztlich keinen Unterschied macht, ob wir in wörtlichem Sinne selbst absichtlich handeln oder ob wir »ein Übel mit Absicht zulassen« 33. (6.3.3) Nagels drittes Argument gegen eine Reduzierbarkeit lautet, dass deontologische Handlungsgründe immer auch verbieten, sich »schlecht[er] Mittel« zu bedienen, um »ein gutes Ziel zu erreichen« 34, während es aus neutraler Perspektive ausschließlich auf den zu erreichenden Zweck bzw. den zu realisierenden Weltzustand ankäme. So würde es aus neutraler Perspektive keine Rolle spielen, dass man sich des Mittels der Folter bedienen müsste, um den Freund retten zu können, während genau das aus der relativen Perspektive deontologischer Gründe sogar von entscheidender Bedeutung sei. (6.3.4) In einem vierten Schritt wechselt Nagel von der Täter- zur Opferperspektive. Läge dem Tötungsverbot beispielsweise tatsächlich letztlich ein neutraler Handlungsgrund zugrunde, dürfte man ohne alle Vorbehalte »einen Unschuldigen« töten, »um fünf andere Menschen zu retten«. Tatsächlich wäre man darin aus neutraler Perspektive so eindeutig »gerechtfertigt«, dass selbst »das jeweilige Opfer« kein »Recht« hätte, »Einwände dagegen zu erheben«, während »die anderen fünf Personen gerechtfertigt« wären, »mir einen Strick daraus zu drehen, dass ich den Betreffenden nicht umbringe, um sie zu retten«. Nagels letztes Argument gegen eine Reduzierbarkeit lautet also, dass sich »in einer absolut unpersönlichen Moral« nicht nur »die Akteure, sondern auch ihre Patienten in der Beurteilung, wie andere mit ihnen verfahren sollen, völlig unpersönlichen und neutralen Werten« unterwerfen müssten, während ein »deontologisches Gebot« dem »Opfer jederzeit« erlauben würde, »denjenigen Akteur anzuklagen, der es darauf abgesehen hat, es zu schädigen« 35. (7) Nagels Philosophie des moralischen Dilemmas besteht dann im Kern in der These, dass es zu Konflikten zwischen impersonalen und personalen bzw. zwischen neutralen und relativen Handlungsgründen kommen kann, die unlösbar sind, weil sich in dem Konflikt zwischen 33 34 35
Nagel 1986, 307–310. Nagel 1986, 311–316. Nagel 1986, 317.
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den Handlungsgründen ein Hiat widerspiegelt, der konstitutiv für unsere Praktische (wie Theoretische) Vernunft als die Instanz des moralischen Problemlösens ist. (7.1) Damit basiert Nagels Philosophie des moralischen Dilemmas auf drei zwar starken, aber insgesamt doch nachvollziehbaren Prämissen. (7.1.1) Nagels Philosophie des moralischen Dilemmas steht und fällt mit der Prämisse, dass unsere Vernunft ein »komplexes Vermögen« ist, das »die Welt in einem Augenblick sowohl aus der Perspektive der eigenen Beziehung zu anderen« bzw. »aus der Perspektive des je eigenen Lebens in der Zeit« als auch »aus der Perspektive aller Individuen zugleich« und schließlich sogar »aus jener radikal distanzierten Perspektive« betrachten kann, die »man oft sub specie arternitatis genannt hat«. So, wie die Dinge nun einmal liegen, ist der »Gegensatz zwischen persönlichen und überpersönlichen Ansprüchen an uns« im Sinne Nagels »allgegenwärtig« 36, sobald unsere Vernunft zum Einsatz und zum Zuge kommt. (7.1.2) Die zweite Prämisse lautet, dass der »Gegensatz zwischen persönlichen und überpersönlichen Ansprüchen an uns« unüberwindbar ist. Offensichtlich gibt es hier einen Abgrund, der sich als Wesensmerkmal unserer Vernunft durch keine philosophische Strategie »beseitigen« 37 lässt. (7.1.3) Die dritte Prämisse lautet, dass aus diesem unüberwindbaren Gegensatz mehrere unterschiedliche Typen von Werten bzw. Handlungsgründen hervorgehen, die der ganz frühe Nagel (die Rede ist jetzt von Nagels Dissertation The Possibility of Altruism) noch als ›subjektive versus objektive Werte‹ unterscheidet, die in dem Essay The Fragmentation of Value von 1977 als ›personale versus impersonale Werte‹ unterschieden werden und die in The View from Nowhere von 1986 schließlich ›relative versus neutrale‹ Werte genannt werden. (7.2) Aus diesen drei Prämissen folgt schließlich, dass es echte moralische Dilemmata geben muss, weil es zu Konflikten zwischen verschiedenen Typen von Werten bzw. Handlungsgründen kommen kann, die sich auch nach reiflicher Überlegung noch als gleichgewichtig darstellen, weil sie wegen ihrer grundsätzlich unterschiedlichen Her-
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Nagel 1977, 188 f. Nagel 1977, 188 f.
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kunft nicht aufeinander zu reduzieren und auch nicht wirklich gegeneinander abzuwägen sind. (7.2.1) Nagels Philosophie des moralischen Dilemmas überzeugt nicht zuletzt deshalb, weil sich die moralischen Konflikte, die in der Literatur als Kandidaten für moralische Dilemmata gehandelt werden, bei genauerer Hinsicht tatsächlich als Konflikt zwischen personalen und impersonalen bzw. zwischen relativen und neutralen Gründen erweisen. Ganz deutlich ist das bei den Dilemmata der Fall, die konstruiert wurden, um die Grenzen des Utilitarismus aufzuzeigen. Man denke beispielsweise an das Jim-Dilemma 38: Aus impersonaler bzw. neutraler Perspektive gäbe es keinen Zweifel, dass Jim einen Indianer erschießen muss, aber aus personaler Perspektive ist das eine schwere moralische Zumutung. Aber auch Sophies Dilemma 39 (das kein antiutilitaristisches Konstrukt ist) lässt sich so beschreiben: Aus impersonaler bzw. neutraler Perspektive läge es auf der Hand, dass sie eines der Kinder opfern muss, aber aus personaler Perspektive würde das bedeuten, dass eine Mutter eines ihrer Kinder ins Gas schickt. (7.2.2) Es mag sich zwar die Frage aufdrängen, wie es nach Nagel zu unlösbaren Konflikten zwischen Handlungsgründen desselben Ursprungs kommen kann: Wie kann es beispielsweise zu Konflikten zwischen einem deontologischen Handlungsgrund und einem Handlungsgrund der Autonomie kommen, wenn doch beide Typen von Handlungsgründen als relative Handlungsgründe denselben Ursprung haben? Oder wie kann es gar zu unlösbaren Konflikten zwischen Werten »innerhalb einer der Kategorien« 40 kommen, was Nagel in seinem Essay von 1977 ja auch ausdrücklich für möglich erklärt? Obwohl ich solche Fragen für wichtig halte, möchte ich sie hier jedoch beiseitelassen, weil Nagel meines Erachtens die Möglichkeit moralischer Dilemmata insgesamt überzeugend aufgrund der empirisch unmittelbar nachvollziehbaren Prämisse von der Doppelperspektivität unserer Vernunft begründet hat. Damit erübrigen sich alle weiteren abgründigen und letztlich fruchtlosen metaphysischen Debatten über die Konsistenz oder Inkonsistenz unserer Moral für mein Dafürhalten. Sobald sich ein praktischer Konflikt als Konflikt zwischen impersonalen und personalen Handlungsgründen erweist, besteht (wie Nagel überzeugend ge38 39 40
Vgl. Kapitel 2, Anm. 6. Vgl. Kapitel 2, Anm. 2. Nagel 1977, 185.
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zeigt hat) die Gefahr, dass es sich um ein echtes moralisches Dilemma handeln könnte, insofern beide Gründe annähernd gleichgewichtig zu sein scheinen, weil beide Typen von Handlungsgründen mit keiner vernünftigen Strategie aufeinander zu reduzieren sind, da der Hiat zwischen personaler und impersonaler bzw. zwischen neutraler und relativer Perspektive das Konstituens unserer Vernunft ist. Damit ist die Möglichkeit (echter teuflischer realer reiner) moralischer Dilemmata meines Erachtens überzeugend begründet. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Nagel mit dem Hinweis auf die Grundverfasstheit der menschlichen Vernunft einen überzeugenden Grund für die moralphilosophische Unvermeidbarkeit moralischer Dilemmata geliefert hat.
(c) Die objektive Entscheidung aus der überpersönlichen Perspektive Das »Faktum, dass uns keine einheitliche reduktive Methode und kein eindeutiges Prioritätensystem als Dezisionshilfe zur Verfügung steht«, befreit uns nach Nagel allerdings nicht »von der Notwendigkeit«, moralische Dilemmata zu entscheiden. Zwar muss Nagel insgesamt einräumen, dass »es ihm schwerfällt, zu erklären, worin die Alternative« zu einer bloßen Willkürentscheidung »bestehen soll«. Dennoch aber will er »im vorliegenden Essay« die »Position vertreten«, dass »fundiertes Werten selbst dort möglich ist, wo eine implizite oder explizite rationale Rechtfertigung nicht vollständig gegeben werden kann«. Aus der »Tatsache, daß wir, wenn einander widersprechende Gründe sich die Waage halten, nicht mehr angeben können, warum eine bestimmte Entscheidung die richtige ist«, kann nach Nagel nicht geschlossen werden, »daß es in einem solchen Fall schlechterdings sinnlos geworden ist, auf Richtigkeit Anspruch zu erheben.« Vielmehr könne der moralische Akteur durchaus den Anspruch erheben, »nicht irrational« gehandelt zu haben, wenn er »den Prozeß praktischer Rechtfertigung tatsächlich so weit getrieben« hat, wie es »auf dem Weg, der zu dem Konflikt geführt hat, überhaupt nur möglich« ist. Die »Bedingung der Möglichkeit hierfür« ist nach Nagel »die Urteilskraft, die Aristoteles als praktische Weisheit bezeichnet hat« und welche sich im »Laufe der Zeit« weniger »in der Verkündung allgemeiner Prinzipien« als in »zahllosen Einzelentscheidungen« offenbart habe. Es gibt nach Nagel 332
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(c) Die objektive Entscheidung aus der überpersönlichen Perspektive
also »echte praktische Dilemmata, die unmöglich gelöst werden können«. Damit wir solche Dilemmata aber wenigstens mit guten Gründen entscheiden können (wenn wir sie schon nicht auflösen können), rät Nagels Essay, sich »auf die Urteilskraft« 41 zu verlassen. (1) In Nagels Essay von 1977 bleibt es allerdings ziemlich im Dunkeln, wie das rationale Entscheiden eines moralischen Dilemmas vor sich gehen soll. Nachdem Nagel eingeräumt hat, dass er die Grenze zu einer ›Willkürentscheidung‹ nur schwer ziehen könne, verzichtet er tatsächlich auf die Entwicklung von konkreten Orientierungshilfen oder Prinzipien, an denen sich die ›rationale Entscheidung‹ wenigstens näherungsweise ausrichten könnte. 42 Die aristotelisierende Redeweise legt jedoch den Gedanken nahe, dass Nagel unter der ›praktischen Urteilskraft‹ etwas Ähnliches wie Sir David Ross und E. J. Lemmon verstanden wissen will. Insbesondere zu der in Lemmons Essay Moral Dilemmas von 1962 vertretenen Auffassung 43 gibt es deutliche Parallelen. (1.1) Wie Nagel erklärt auch Lemmon die Möglichkeit moralischer Dilemmata mit (mindestens) drei Typen moralischer Gründe, 44 die nicht aufeinander zu reduzieren sein und insofern miteinander konfligieren können sollen, ohne dass damit eine Inkonsistenz 45 der Moral im Sinne der deontischen Logik vorliegen muss. 46 Nagel 1977, 190. Ein entsprechender Vorschlag wird in Abschnitt 8.d entfaltet. 43 Ein explizit zustimmender Verweis auf E. J. Lemmons Philosophie des moralischen Dilemmas findet sich in Nagel 1971, 109. Auch Gowans rückt Nagels wertepluralistische Position in die Nähe von Lemmon. Gowans 1987, 16. Vgl. Kapitel 7, Anm. 1. 44 Im Detail nennt Lemmon (1) Pflichten (engl. duties), welche sich aus der sozialen Rolle ergeben; (2) Verpflichtungen (engl. obligations) mit Vertragscharakter; sowie (3) moralische Regeln (engl. moral rules), welche ihren Geltungsgrund in kulturellen Vereinbarungen haben sollen. Lemmon 1962, 102 ff. 45 In ihrem Essay Moral Coherence and Value Pluralism von 2013 unterscheidet Marino (nicht zuletzt mit Bezug auf Nagels Wertepluralismus) zwischen den Anforderungen von »minimal coherence, rich coherence, and systematicity« an moralphilosophische Systeme. Marino 2013, 122 ff. In dem Essay Moral Coherence and Principle Pluralism von 2014 vertritt sie dann folgende Auffassung: »The aim of this paper is to develop and defend a conception of moral coherence that is appropriately compatible with the possibility of principle pluralism.« Marino 2014, 727. 46 Es heißt im englischen Wortlaut: »It seems to me that ›ought‹ and ›ought not‹ may well both be true, and that this description in fact characterizes a certain class of moral dilemma«. Lemmon 1962, 107. Was er meint, plausibilisiert Lemmon ausführlich an Beispielen. 41 42
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(1.2) Und wie Nagel glaubt auch Lemmon nicht an die Auflösbarkeit aller moralischen Konflikte. Sein erstes Argument lautet, dass ein moralischer Anspruch seinen Charakter als moralischen Anspruch durch eine vernünftige moralische Entscheidung nicht verlieren würde. Sein zweites Argument lautet, dass viele Dilemmata durch Umstände entstünden, die es so vorher noch nie gab, so dass ein fester Kanon von moralischen Lösungsregeln nicht hilfreich zur Auflösung eines solchen völlig neuen und unvorhersehbaren Dilemmas sein könne. Lemmons Beispiel ist die Situation von Chamberlain gegenüber Hitler im Jahr 1938, in welcher der englische Premierminister entgegen allem, was auf dem diplomatischen Parkett bis dahin bekannt und üblich war, mit einen völlig unmoralischen Staatschef konfrontiert war. 47 (1.3) Obwohl er an auflösende Strategien nicht glaubt, beharrt Lemmon schließlich wie Nagel auf der Meta-Regel, dass »das moralische Dilemma als solches zu akzeptieren und die bestmögliche Entscheidung zu fällen« 48 sei. So liegt es nach Lemmon beispielsweise auf der Hand, dass ein Westeuropäer im 20. Jahrhundert im Falle von Platons Waffendilemma sein Versprechen brechen und die Waffe nicht (1) Ein erstes Beispiel lautet, dass es möglich sei, dass man ein und denselben kommunistischen Kandidaten bei einer Wahl wählen und nicht wählen sollte, wenn man es beispielsweise einerseits als seine Pflicht betrachtet, einen Kommunisten grundsätzlich nicht zu wählen, aber sich andererseits zuvor durch einen Vertrag zu seiner Wahl verpflichtet hat. Lemmon 1962, 104. (2) Auch Platons Waffen-Dilemma lässt sich nach Lemmon damit erklären, dass hier zwei Typen von moralischen Handlungsgründen konfligieren: Schließlich sei in dem von Platon konstruierten Dilemma die Pflicht gegenüber dem Freund mit einer durch ein Versprechen eingegangenen Verpflichtung abzuwägen. Lemmon 1962, 105 ff. (3) Einen besonders deutlichen Beleg sieht er schließlich im Dilemma von Sartres Student. Vgl. Sartre 1946. Nach Lemmon ist die Situation von Sartres Student mit Sartres Redeweise von der moralischen ›Verlassenheit‹ nicht adäquat beschrieben, weil der Student in seinen Augen nämlich moralisch gerade nicht völlig auf sich selbst verwiesen ist. Nach Lemmon steht er vielmehr zwischen zwei konfligierenden Systemen von moralischen Ansprüchen, nämlich dem System der persönlichen Verpflichtungen (gegenüber der Mutter) einerseits und dem System der Verpflichtungen, die sich aus den politischen Überzeugungen des jungen Mannes als Kommunist, Franzose und Antifaschist herleiten, andererseits. Lemmon 1962, 109. Vgl. zu dem Dilemma Kap. 2 Anm. 5. 47 Lemmon 1962,108. 48 Es heißt im englischen Wortlaut: »If, however, we are to act here in good faith, we shall recognize that the dilemma is what it is and make the best decision we can.« Lemmon 1962, 108. Dieselbe Position vertritt Lemmon (wiederum ausdrücklich gegen Sir David Ross und seine Auffassung, dass im Gewirr der prima facie Pflichten die eigentliche Pflicht identifiziert werden müsse) auch in Lemmon 1965, 45 f.
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(c) Die objektive Entscheidung aus der überpersönlichen Perspektive
zurückgeben sollte, weil in unserer westlichen Kultur (in anderen Kulturen könne das anders sein) ein Menschenleben nun einmal einen höheren moralischen Wert als ein Versprechen hat. (1.4) Die Weichen zwischen beiden Positionen stellen sich, wenn Lemmon im letzten Absatz seines Essays (in deutlicher, wenn auch nicht expliziter Anlehnung an entsprechende Äußerungen von Sir David Ross; vgl. 3.a.2) für eine »Analogie zur Ästhetik« plädiert, wie sie »Sartre und andere« schon »vorsichtig gezogen haben« 49 sollen. Angesichts der Dynamik unserer moralischen Praxis kann es nach Lemmon zu Situationen kommen, in denen die bewährten moralischen Kriterien nicht weiterhelfen, so dass der moralische Akteur kreativ wie ein Künstler werden müsse, was für Lemmon in extremen Fällen sogar bedeuten kann, dass der moralischer Akteur »gezwungen« ist, eine »neue Moralität« 50 zu entfalten. Die Frage, wie die Entfaltung einer solchen Moralität vonstattengehen soll, lässt Lemmon offen. Allerdings betont er ausdrücklich, dass sich das nicht »in einer Sphäre von Irrationalität« abspielen würde, wenngleich er sich vom »traditionellen logischen Zugang (der Logik der Imperative, der deontischen Logik usw.)« ebenfalls distanzieren will. Stattdessen plädiert er ganz im Fahrwasser des Britischen Intuitionismus für das »vertraute, aber leider in Vergessenheit geratene Sokratische Verfahren«, am Leitfaden der »immer gegenwärtigen, aber sich immer verändernden Frage danach, wie der Mensch leben soll«, zu entscheiden, was jeweils »gute und schlechte Gründe für eine moralische Entscheidung« 51 sind. (2) Nagel distanziert sich von einer solchen intuitionistischen Auffassung vom moralischen Urteil mit der Äußerung, dass man sich durch das »Fehlen einer allgemeinen Theorie« nicht zu einem »Rückzug auf
»Here the analogy with aesthetics, which Sartre and others cautiously have drawn, may be useful.« Lemmon 1962, 113. 50 »The main point of this variety of moral dilemma is that, at least if correctly resolved, it forces a man to develop a new morality.« Lemmon 1962, 113. 51 Es heißt im englischen Wortlaut: »I do not believe that this is an area of total irrationality, though I do not believe that a traditional logical approach (the logic of imperatives, deontic logic, and whatnot) will do either. This will entail saying what constitutes a good and a bad moral reason for making a moral decision, and so will bring the moral philosopher out from his corner, where I think he has been too long, and back into the familiar but forgotten Socratic position of trying to answer the ever-present but ever-changing question: how should man live?« Lemmon 1962, 113 f. 49
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das unsystematische und intuitive Urteil« 52 verleiten lassen solle. Die Grundlinien seiner eigenen Theorie des moralischen Urteils skizziert Nagel im Kapitel Values seines Buches The View from Nowhere von 1986. Seinen Ausgangspunkt kann der Prozess der moralischen Urteilsfindung nach Nagel nur von einer subjektiven, »parteilichen und ungenauen Auffassung« bei den »Gründen« nehmen, die dem moralischen Akteur aus seiner »Eigenperspektive« einschlägig zu sein scheinen. Allerdings können wir diesen Standpunkt nach Nagel transzendieren und quasi »neben uns treten«, indem wir auch diejenigen »Gründe ins Visier« nehmen, die es aus den »Perspektiven anderer Individuen zu geben scheint«. Indem wir uns so »von unserer individuellen Perspektive und den Werten und Gründen lossagen«, sollen wir zu einem »neuen Standpunkt« gelangen können, »der einige der ursprünglichen Gründe beglaubigt, andere jedoch als einen falschen subjektiven Schein zurückweist und der vor allem neue Motive erschließt und hinzufügt«. Von diesem »unpersönlichen Standpunkt« aus soll in einem dritten Schritt schließlich die moralische Entscheidung gefällt werden, die (wie Nagel ausdrücklich betont) im Einzelfall sehr »komplex ausfallen« kann, weil die überpersonale Perspektive nicht nur den überpersönlichen, sondern auch den subjektiven Handlungsgründen »einen Platz einräumen« muss. Pointiert fasst Nagel seine Theorie des moralischen Urteils in dem Diktum zusammen, dass die »Grundfrage« der moralischen Urteilsfindung nicht lauten solle: ›Was soll ich tun?‹, sondern vielmehr, was »diese Person« 53, die ›Ich‹ ist, in der vorliegenden Situation tun soll. (3) Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich hervorheben, dass es sich bei dem anzuvisierenden ›überpersönlichen Standpunkt der Objektivität‹ nicht um einen Standpunkt handelt, bei dem ausschließlich neutrale bzw. impersonale Handlungsgründe berücksichtigt werden. (3.1) Eine Rekonstruktion von Nagels Philosophie des moralischen Dilemmas ist aller inhaltlichen Überzeugungskraft zum Trotz schwierig, weil Nagel mehrmals seine einschlägige Terminologie gewechselt hat. Im Essay The Fragmentation of Value von 1977 ist von personalen und impersonalen Handlungsgründen die Rede. In The View from Nowhere von 1986 werden mit derselben Stoßrichtung 52 53
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(c) Die objektive Entscheidung aus der überpersönlichen Perspektive
neutrale und relative Werte unterschieden. Die terminologische Verwirrung wird komplett angesichts der Tatsache, dass Nagel in seiner Dissertation The Possibility of Altruism von 1970 noch ›subjektive und objektive Werte‹ unterschieden hatte. 54 Ausdrücklich heißt es in The View from Nowhere dann, dass er »diese Prädikate« nun »für andere Zwecke benötige« 55. (3.2) Tatsächlich kann man den ›objektiven Standpunkt‹ (der laut The View form Nowhere in einer moralischen Entscheidungssituation anvisiert werden soll) nicht mit einem ›impersonalen‹ bzw. ›neutralen‹ Standpunkt identifizieren. Zwar muss eingeräumt werden, dass ein nur subjektiver Standpunkt ausschließlich relative bzw. personale Handlungsgründe berücksichtigt, so dass eine ›Objektivierung‹ des Standpunkts zunächst einmal so vonstattengeht, dass einschlägige neutrale bzw. impersonale Handlungsgründe sukzessive immer mehr Berücksichtigung finden. Deshalb ist der objektive Standpunkt aber nicht auf einen neutralen bzw. impersonalen Standpunkt zu reduzieren, weil auf dem Standpunkt der Objektivität ja auch personale bzw. relative Handlungsgründe und sogar individuelle (um nicht zu sagen: egoistische Interessen) Berücksichtigung finden sollen (vgl. 7.c.2). Dementsprechend spricht Nagel (leider terminologisch wiederum nicht sehr deutlich) von »zwei Ebenen der Objektivierung« 56 von Werten: Auf der ersten Ebene wird der Standpunkt objektiviert, wenn neutrale bzw. impersonale Handlungsgründe sukzessive immer in den Blick genommen werden. Eine echte Objektivierung findet jedoch erst statt, wenn auf einer zweiten Ebene dann sowohl neutrale bzw. impersonale als auch relative bzw. personale Handlungsgründe in den Blick genommen werden. Objektive Handlungsgründe sind also diejenigen (relativen bzw. personalen und neutralen bzw. impersonalen) Handlungsgründe, die jemand vom überpersönlichen Standpunkt der Objektivität aus für gewichtig und vernünftig hält. (3.3) Genauso sind subjektive Handlungsgründe nicht mit relativen bzw. personalen Handlungsgründen gleichzusetzen. Relative Handlungsgründe gehen aus relativen Werten hervor, wobei das Urteil, »daß etwas einen relativen Wert hat«, nach Nagel einen darauf festlegt, »zu glauben, daß einer einen Grund hat, dieses Etwas zu wol54 55 56
Vgl. Nagel 1970. Nagel 1986, 263 f., Anm. 9. Nagel 1986, 296
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len oder auszuführen, sofern es zu ihm in der richtigen Beziehung steht« 57. Relative Handlungsgründe sind also Gründe, die bestimmte Personen in bestimmten Situationen unter bestimmten Umständen haben. Subjektive Handlungsgründe sind hingegen die eingeschränkten Gründe, die jemand so lange hat, wie er noch nicht in den Prozess der Objektivierung seines Standpunkts eingetreten ist und die Situation ausschließlich aus seiner eigenen subjektiven Perspektive betrachtet. (4) Ein weiteres mögliches Missverständnis könnte sich darin begründen, dass sich Nagel in seiner Theorie des moralischen Urteils als Normativer Realist manifestiert, wenn er von der objektiven ›Falschheit‹ mancher subjektiver Handlungsgründe spricht. Das sollte jedoch nicht dazu verleiten, in Nagel einen metaphysischen Realisten zu sehen. (4.1.1) Auf diesen Verdacht könnte man kommen, wenn Nagel in seinem späten Essay Ethics in dem Sammelband Last Words von 1997 gegen Williams’ Subjektivismus das berühmte kantische Beispiel von dem Delinquenten ins Feld führt, der weiß, dass man niemanden verleumden darf, obwohl er durch die Verleumdung der Todesstrafe entkommen könnte: Nach Nagel soll das Beispiel beweisen, dass es im Bereich der Moral nicht nur objektiv bessere und schlechtere Gründe, sondern in »unmittelbarer Analogie zum Wirken der theoretischen Vernunft« sogar so etwas wie »die Wahrheit« 58 gibt. Vergleichbar heißt es in The View from Nowhere, dass es »in der Dimension der Moral« schlicht »nicht denkbar« sei, »daß uns die Wahrheit auf eine Art und Weise grundsätzlich entzogen bleiben könnte, wie dies im Falle der Wahrheit über die physikalische Welt« tatsächlich möglich ist, weil der »Zweck« der moralischen Wahrheit schließlich darin läge, »menschliches Verhalten zu regulieren«. Insofern darf die Moralphilosophie nach Nagel gar nicht darauf verzichten, nach ›objektiver Wahrheit‹ zu streben. (4.1.2) Dann aber distanziert er sich vom Metaphysischen Realismus mit der Bemerkung, dass er unter der ›objektiven Wahrheit‹ keine metaphysische Wahrheit verstünde, sondern eine Wahrheit, die auf Gründen beruht, die von unseren subjektiven »Überzeugungen un-
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Nagel 1986, 266. Nagel 1997, 173 f.
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(c) Die objektive Entscheidung aus der überpersönlichen Perspektive
abhängig« 59 ist. Damit ist die ›objektive moralische Wahrheit‹, die man mit einer Dilemma-Entscheidung nach Nagel anstreben soll, ausdrücklich keine metaphysische Wahrheit, sondern vielmehr diejenige Überzeugung, auf die wir uns aufgrund der objektiven Gegebenheiten der äußeren Wirklichkeit einigen würden, wenn wir personale und impersonale Gründe in gleich angemessener Weise berücksichtigen könnten. (4.2) Vergleichbar meint Nagel keine metaphysischen Werte mit der Äußerung, dass es keine Alternative zur »Anerkennung« wenigstens einiger weniger »objektiver Werte« 60 gäbe. Die Rede ist vielmehr von moralischen Urteilen, auf die wir uns angesichts unserer tatsächlichen Lebensumstände einigen würden, wenn wir personale und impersonale Gründe in gleich angemessener Weise berücksichtigen könnten. In diesem Sinne werden objektive moralische Werte im Kapitel Liberty von The View from Nowhere als der »Ausdruck« eines »objektiven Willens« definiert, der sich in einem »einheitlichen System des Urteilens« artikulieren würde, welches wiederum aus der Kooperation »zahlloser Leben und Interessengruppen« 61 entstanden sein soll. (4.3) Moralische Entscheidungen sind nach Nagel »objektiv richtig«, wenn sie »auch aus einer Außenperspektive anerkennbar und akzeptierbar« 62 sind. Wenn Nagel es in Anknüpfung an ein berühmtes Beispiel von Hume also für »objektiv« falsch hält, wenn jemand »lieber die Zerstörung der ganzen Welt in Kauf nimmt, als sich am kleinen Finger zu ritzen« 63, ist keine metaphysische Richtigkeit im Sinne einer eindeutigen Lösbarkeit aller moralischen Konflikte gemeint. Gemeint ist vielmehr, dass jeder vernünftige moralische Akteur der Rettung der Welt den Vorrang geben würde, sobald er den vorliegenden Konflikt vom überparteilichen Standpunkt der Objektivität aus betrachtet. (4.4) Ein weiteres mögliches Missverständnis könnte aus der Tatsache resultieren, dass Nagel dasselbe, was er für Humes trivialen Konflikt behauptet, auch für echte moralische Dilemmata behauptet: Auch für solche Konflikte gibt es nach Nagel eine ›objektiv richtige Entscheidung‹ im Sinne einer Entscheidung, dass ihr alle vernünftigen mora-
59 60 61 62 63
Nagel 1986, 320 f. Nagel 1986, 268. Nagel 1986, 234 f. Nagel 1986, 259 f. Nagel 1986, 266.
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lischen Akteure zustimmen würden, wenn sie vollständig von ihrer subjektiven Perspektive abstrahieren könnten. Damit könnte sich nämlich die Frage aufdrängen, ob diese Position nicht doch metaphysikverdächtig sei, weil sich schließlich die Frage aufdrängen würde, inwieweit die ›objektive Entscheidung‹ jenseits aller kulturellen und moralischen Wandlungen im metaphysischen Sinne ›eine einzige‹ sein müsse oder nicht. Weil ich mich nicht in irgendwelchen metaphysischen Abgründen verlaufen möchte, werde ich diesen Einwand jedoch nicht weiter verfolgen und Nagels Normativen Realismus als nicht-metaphysischen Realismus akzeptieren. (5) Einige Worte verlieren möchte ich allerdings über den von Bernard Williams immer wieder vorgebrachten Einwand, dass es im Bereich der Moral die »Perspektive der Unparteilichkeit« nicht geben könne, weil man zu »seinen Wünschen und Überzeugungen« letztlich nicht wirklich »auf Distanz gehen« könne, da sich »praktische Überlegungen« anders als epistemische Überlegungen nun einmal »grundlegend auf die erste Person« beziehen und »ein Ich« beinhalten würden, »das auf sehr viel intimere Weise das Ich meiner Wünsche sein muß« 64, als es Autoren wie Rawls, Kant, Hare oder auch Thomas Nagel beispielsweise zugestehen würden. (5.1) In The View from Nowhere von 1986 verteidigt Nagel die Möglichkeit des objektiven Standpunkts der Unparteilichkeit nur relativ knapp mit dem Argument, dass man sich nicht darauf beschränken könne, seine »praktischen Überlegungen« im Sinne des Subjektivismus ausschließlich »in der Begrifflichkeit der Wünsche und Neigungen« anzustellen, weil es in der Moralphilosophie nicht »lediglich darum ginge, zu entscheiden, was man selbst soll«, sondern vielmehr darum, was »objektiv richtig« in dem Sinne ist, dass es »auch aus einer Außenperspektive anerkennbar und akzeptierbar« ist, weshalb es eben doch »nötig« sei, zu der »Allgemeinheitsebene« des objektiven Standpunkts »hinaufzusteigen« 65. (5.2) Ausführlicher verteidigt Nagel seine Auffassung, dass das moralische Urteil als Äußerung von »bloß subjektiven Reaktionen« nicht befriedigen könne und als Äußerung von »Überzeugungen in Be-
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Williams 1985a, 98 f. Nagel 1986, 259 f.
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zug auf das Richtige« verstanden werden müsse, weshalb die Moralphilosophie »zu den Gebieten« der impersonalen und überparteilichen »Vernunft« 66 gehöre, in dem späten Essay Ethics von 1997. (5.2.1) Gegen einen Subjektivismus Hume’scher Prägung wendet Nagel hier zunächst ein, dass es keine Klugheitsentscheidungen gegen unsere Wünsche geben könne, wenn tatsächlich alle praktischen Entscheidungen ohne Beteiligung einer unpersönlichen Rationalität allein auf unseren subjektiven Wünschen basieren würden. Weil es nicht per se klug sei, allen Wünschen nachzugeben, gäbe man (wenn man eine kluge Entscheidung treffen will) seinen Wünschen nicht einfach nach, sondern versuche vielmehr, »zu entscheiden, was man unter Voraussetzung der gegebenen inneren und äußeren Umstände tun sollte«, womit die Ebene des reinen Wünschens verlassen und die Ebene praktischer Rationalität erreicht sei. Dem könne man mit Hume zwar entgegenhalten, dass »diese Empfindung, es gebe ein unbedingtes, nicht relatives Urteil«, eine »Illusion« sei, weil wir es auch dann lediglich mit einer »Äußerung unserer individuellen und sozialen Natur« und nicht mit der »Bekundung der unpersönlichen Vernunft« zu tun hätten, wenn wir im Sinne Nagels »einen Schritt zurück tun und uns selbst als Gegenstände der Betrachtung auffassen«. Wie Nagel treffend antwortet, müsste der Subjektivist (um diese These halten zu können) jedoch zeigen können, dass ausnahmslos »alle vermeintlich rationalen Urteile über das nach Ansicht der Betreffenden begründete Tun in Wirklichkeit Äußerungen rational unmotivierter Wünsche oder Neigungen des Urteilenden seien« 67. Nachvollziehbarerweise hält Nagel das für nicht durchführbar. (5.2.2) Gegen Williams’ Überzeugung, dass es eine Illusion sei, zu glauben, dass man die »akteur-relative Position« hinter sich lassen kann, aus der »sich alle Gründe einer Person von ihren eigenen Interessen, Wünschen und Bindungen« herleiten, führt Nagel das Argument ins Feld, dass man dann letztlich »keinen Grund« hätte, sich um »das zu kümmern, was anderen Menschen widerfährt«. Außerdem müsste man dann auch »akzeptieren« 68, dass man selbst andere nicht interessieren muss, insofern man nicht in besonderen Beziehungen zu ihnen steht. Vor allem aber führt Nagel das Argument ins Feld, dass die 66 67 68
Nagel 1997, 184 f. Nagel 1997, 157–163. Nagel 1997, 179 f.
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Fähigkeit, den impersonalen überparteilichen Standpunkt der Objektivität einnehmen und sich so »sehen« zu können, wie man selbst »von anderen gesehen« 69 wird, spätestens seit Kant als die Bedingung der Möglichkeit von Moral überhaupt gesehen wird. Dieses Argument ist in meinen Augen schlagend. Gegen das Argument, dass das Projekt der Moralphilosophie insgesamt sinnlos wäre, wenn man diese Fähigkeit nicht postulieren würde, könnte man zwar einwenden, dass man diese Konsequenz schmerzhafterweise dann wohl ziehen müsse – und tatsächlich hat Williams genau das ja dann auch getan. Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch der Hinweis auf die alltägliche moralische Praxis, die (wie schon Schopenhauer treffend hervorgehoben hat) immer wieder Situationen kennt, die beweisen, dass Menschen tatsächlich in der Lage sind, ihre subjektive Perspektive zu überwinden und ihre eigenen Interessen zugunsten der berechtigten Interessen anderer hinten anzustellen. Die alltägliche Praxis zeigt, dass menschliche moralische Akteure von ihrer subjektiven Perspektive abstrahieren können. Deshalb halte ich eine Annäherung an den unparteiischen Standpunkt moralischer Objektivität mit Nagel ausdrücklich für möglich. (6) Auf einem ganz anderen Blatt steht jedoch die Frage, ob man diesen Standpunkt der Objektivität als individueller moralischer Akteur im Zuge einer Dilemma-Entscheidung immer auch sicher erreichen kann. (6.1) Angesichts der Tatsache, dass individuelle moralische Akteure häufig die Tendenz haben, »persönliche Vorlieben und Vorurteile in den Rang kosmischer Werte« zu heben, drängt sich vielmehr der Einwand der »Gefahr der verfehlten Objektivität« 70 auf, den Nagel bezeichnenderweise auch zugibt. Zwar mag er zu Recht darauf hinweisen können, dass man in aller Regel eben doch unterscheiden könne, welche der eigenen Wünsche objektiv zu rechtfertigen und welche »allzu gebunden« an die eigenen »idiosynkratrischen Neigungen, Einstellung und Ziele« 71 sind. Jenseits dessen aber muss Nagel einräumen, dass die »Autorität eines Individuums« in vielen Fällen nicht ausreiche, um den »objektiven Wert der Erfüllung seiner Wünsche und Präferenzen beurteilen zu können« 72. 69 70 71 72
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Nagel 1997, 178. Nagel 1986, 247. Nagel 1986, 269. Nagel 1986, 289.
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(d) Nagels Vision einer neuen Moralphilosophie
(6.2) Ja, letztendlich räumt Nagel sogar ein, dass er »nicht sicher« sei, ob echte Unparteilichkeit für »individuelle Entscheidungsprozeduren« überhaupt möglich ist. Tatsächlich scheint ihm »interpersonale Unparteilichkeit, sowohl gegenüber anderen als auch zwischen anderen und uns selbst«, nämlich selbst zur Kategorie der neutralen Werte zu gehören, was bedeuten würde, dass wir uns »eine gewisse Parteilichkeit gegenüber uns selbst und unseren eigenen Anliegen und Bindungen gegenüber« immer zugestehen sollten, während »jedwede stärkere Unparteilichkeit« erst auf der »höheren Ebene« des gesamtgesellschaftlichen Ganzen gefordert und insofern von »sozialen und politischen Institutionen« 73 und insbesondere durch die Moralphilosophie zu gewährleisten wäre. Nachdem er die erste Frage der angelsächsischen Debatte zur Möglichkeit moralischer Dilemmata ausdrücklich bejaht hat (vgl. 7.b.7), kommt Nagels Essay mit dieser Wendung also schließlich auch auf die zweite zentrale Frage, der nach den Konsequenzen der Möglichkeit des moralischen Dilemmas für die Moralphilosophie, zu sprechen.
(d) Nagels Vision einer neuen Moralphilosophie Nach Nagel ist das moralische Dilemma nicht nur nicht auszuschließen, sondern sogar unvermeidbar, weil sich der Hiat zwischen der relativen und der neutralen Perspektive als Konstituens der menschlichen Vernunft durch keine vernünftige Strategie je wird überwinden lassen (vgl. 7.a). Für Ross und andere müsste diese Diagnose bedeuten, dass die Moralphilosophie als vernünftige philosophische Disziplin aufgegeben wird (vgl. Kapitel 1 insgesamt). Spannenderweise zieht Nagel genau die entgegengesetzte Konsequenz: In seinen Augen wird die Moralphilosophie nämlich gerade dadurch unverzichtbar, dass individuelle moralische Akteure mit der Entscheidung moralischer Dilemmata (die laut Nagel ja getroffen werden muss; vgl. 7.c) überfordert sind. Wie in 7.a dargestellt, gehören moralische Dilemma zur moralischen Praxis, weil unsere Handlungsgründe aus so heterogenen Quellen 73
Nagel 1986, 296–299.
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7. Das moralische Dilemma als Expertenproblem nach Nagel
stammen und sich formal so grundsätzlich voneinander unterscheiden, dass sie nicht aufeinander reduziert werden können, so dass es niemals ein einheitliches Lösungsverfahren für alle moralischen Dilemmata geben kann. Vergleichbar glaubt Nagel nicht an eine »generelle Theorie der Ethik«, weil eine solche Theorie voraussetzen würde, »daß alle Werte auf genau einem Fundament aufruhen« und sich »in einem einzigen Gesamtsystem vereinheitlichen lassen« 74. Deshalb muss die Moralphilosophie aber vor der Herausforderung des moralischen Dilemmas nicht kapitulieren. Das Gegenteil ist der Fall: Je unüberschaubarer und komplexer ein moralischer Konflikt ist, umso dringender braucht der vernünftige moralische Akteur nach Nagel Entscheidungshilfen und professionelle Beratung durch die professionelle Moralphilosophie. Um dieser Berater-Rolle gerecht zu werden, muss sich die Moralphilosophie nach Nagel allerdings von ihrem traditionellen Anspruch verabschieden, ein »Entscheidungsverfahren« (im Sinne von Hare beispielsweise) bereitstellen zu können. Sie solle sich vielmehr als eine Instanz verstehen, die dem moralischen Akteur eine »wichtige Hilfe« sein kann, »um Entscheidungen herbeizuführen, nicht anderes, als dies auch für Physik, Ökonomie und Demographie gilt«. Nach Nagel kann die Moralphilosophie moralische Dilemmata nicht lösen. Stattdessen sollte sie individuellen moralischen Akteuren oder Institutionen helfen, »zu einer wirklich vernünftigen Entscheidung« zu gelangen, indem sie »systematisch die besten Argumente durchmustert, die von den relevanten Wissenschaften und sonstigen Disziplinen angeboten werden«, damit sich die entscheidende Instanz schließlich auf ihre »gesunde Urteilskraft« 75 verlassen kann. Aus der Möglichkeit des moralischen Dilemmas zieht Nagel also gerade nicht die Konsequenz, dass die Moralphilosophie als systematische Disziplin am Ende ist: Nach Nagel muss die Moralphilosophie der Herausforderung des moralischen Dilemmas vielmehr offensiv begegnen, indem sie ihr Selbstverständnis ändert und sich von einer Entscheidungsdisziplin in eine Beraterdisziplin wandelt, die ihre Autorität nicht mehr in dunklen metaphysischen Urgründen, sondern in Expertise und breitem moralphilosophischem Verfahrenswissen begründet.
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Nagel 1977, 193 f. Nagel 1977, 199.
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(d) Nagels Vision einer neuen Moralphilosophie
(1) Ausführlich setzt sich Nagels Essay von 1977 mit dem möglichen Einwand auseinander, dass man die »Hoffnung auf eine systematische Ethik« aufgeben müsse, sobald man bezweifelt, dass sich eine jemals »vollständig generalisierbare« moralphilosophische »Theorie des rechten Handelns« entwickeln lassen wird. Nagel begegnet diesem Einwand mit dem Hinweis darauf, dass es in seinen Augen ebenso »irrational« wäre, das Projekt einer systematischen Moralphilosophie aufzugeben, »wie es unsinnig wäre, die wissenschaftliche Forschung einzustellen, weil wir kein allgemeingültiges Verfahren besitzen, mittels dessen sich ausschließlich wahre Meinungen gerieren lassen«. In allen Wissenschaften gäbe es »Fälle«, in denen man »vernünftigerweise Entscheidungen treffen muß, ohne daß man die Entscheidung bis ins letzte begründen könnte«. Das »beste Beispiel« sei der Bereich des Rechts: Auch hier müsse allen Systematisierungsversuchen zum Trotz manchmal eine »fragmentierte Sichtweise in Kauf« genommen werden, ohne dass deshalb der Gedanke im Raum stünde, alle Versuche der »Entwicklung systematischer Theorien und die Suche nach generellen Prinzipien und Methoden« 76 aufzugeben. (2) Gegen ein solches Projekt vertritt Bernard Williams in dem Kapitel Knowledge, Science, Convergence von Ethics and the Limits of Philosophie von 1985 die Auffassung, dass moralischer Fortschritt aus zwei Gründen nicht möglich sei. (2.1) Sein erstes Argument lautet, dass Fortschritt nur in solchen Wissenschaften möglich sei, die sich auf objektive Fakten berufen können, weil nur dann ein idealer Konvergenzpunkt aller reflexiven Bemühungen angenommen werden könne. So könne es Fortschritt in den Naturwissenschaften beispielsweise nur geben, weil falsche Hypothesen immer wieder durch objektive Fakten korrigiert würden. (2.2) Sein zweites Argument lautet, dass im Bereich der Moral jeder Konsens erfahrungsgemäß durch moralphilosophische Reflexionen sofort immer wieder zerstört würde, so dass es keinen ›idealen Konsens‹ geben könne, auf den der Fortschrittsprozess in der Moral zulaufen würde. 77 Obwohl es auch für Nagel keine moralischen Fak-
Nagel 1977, 192. Vgl. zu diesem Argument Williams 1985c. Diskutiert wird die Auffassung u. a. in Hookway 1995 sowie in Jardine 1995.
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ten 78 gibt, äußert er in dem Essay von 1977 dennoch die Überzeugung, dass sich »in einzelnen Bereichen der Ethik und der Theorie der Werte durchaus Fortschritte erzielen« 79 lassen. (3) Tatsächlich ist die Weiterentwicklung der Moralphilosophie Nagel ein großes Anliegen. Wie er in The View from Nowhere betont, befindet sich die Moralphilosophie unserer Zeit in seinen Augen »in einem noch sehr primitiven moralischen Entwicklungsstadium«, weil selbst »zivilisiertere menschliche Wesen« lediglich über »Daumenregeln« verfügen würden, sobald sie »befragt« werden, wie »zu leben, mit anderen zu verfahren, eine Gesellschaft zu organisieren sei« 80. In Fragmentation of Value von 1977 deutet er an, in welche Richtung die Moralphilosophie weiterentwickelt werden müsste. (3.1) Zunächst müsse ein Verfahren entwickelt werden, mit dem möglichst umfassend alle moralphilosophisch relevanten Positionen zu einem konkreten moralischen Problem berücksichtigt werden können. Im Wortlaut heißt es bei Nagel, dass die von ihm vorgeschlagene »Strategie« voraussetzen würde, »daß man an den Entscheidungsprozess dereinst einmal so heranzugehen beginnt, daß die verfügbaren ethischen Einsichten auch wirklich überall dort einbezogen werden, wo sie relevant sind« 81. (3.2) In einem zweiten Schritt müssten die relevanten Erkenntnisse anderer beteiligter Wissenschaften herangezogen werden. Wie Nagel treffend betont, braucht die Moralphilosophie »am dringlichsten« ein »Verfahren«, welches »erlaubt, praktische Probleme zu analysieren; sie in Teilprobleme zu gliedern, um ermitteln zu können, welche evaluativen Prinzipien jeweils in welcher »Weise wirksam sind«. Schließlich könne man wohl »davon ausgehen, daß wichtige öffentliche Dezisionen von ökonomischen, politischen und ökologischen Fakoren« abhängig sind, während »Fragen medizinischer Sicherheit oder des In seinem späten Essay Ethics räumt Nagel Williams gegenüber ausdrücklich ein, dass es im Bereich der Moral anders als in den Naturwissenschaften »kein Universum moralischer Fakten« gäbe, »die kausal auf uns einwirken, so dass es auch keine »vergleichbar unstrittige und ausgefeilte Methoden des Nachdenkens über die Moralität« wie in den Naturwissenschaften geben könne, die uns sicher zur richtigen moralischen Entscheidung führen würden. Nagel 1997, 149. Vgl. auch a. a. O. 167. 79 Nagel 1977, 193. Verwiesen wird auf Rawls 1971, 65–73. 80 Nagel 1986, 320 f. 81 Nagel 1977, 196. 78
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wissenschaftlichen Fortschritts, militärischer Sicherheit oder des wissenschaftlichen Fortschritts« beispielsweise immer auch von einer »Einschätzung der technologischen Vorteile und von einer Reihe anderer Faktoren abhängig sein können« 82. Die Beratung der Moralphilosophie muss nach Nagel auf also auch auf Sachinformationen beruhen. (3.3) Damit muss drittens auch geklärt werden, »welche wichtigen ethischen und sonstigen werteabwägenden Gesichtspunkt in Betracht zu ziehen sind«, sobald »eine politische Dezision in verantwortlicher Weise getroffen werden soll«. (3.3.1) Im Zuge seiner Überlegungen zur adäquaten Ausgestaltung eines solchen Verfahrens distanziert sich Nagel zunächst einmal von der Idee, »in Anlehnung an die Rechtsprechung eine Art Gerichtsverfahren einzuführen, dessen Funktion es wäre, Dezisionen in sämtlichen politischen Fragen herbeizuführen«, die eine moralische »Dimension« haben. Die Einrichtung eines Gerichtshofes hält Nagel für »nicht angemessen«, weil sich im Zuge eines Gerichtsverfahren nur »klare und abgegrenzte Fragen« entscheiden ließen, »für die nur eine relativ geringe Anzahl von Gründen relevant ist«, so dass die zentralen Probleme der Angewandten Ethik in aller Regel viel zu komplex und zu vielschichtig für ein solches Verfahren seien. »Die meisten praktischen Fragen« stellen sich nach Nagel »als wesentlich verwickelter dar« als die Fragen, die ein Gerichtshof angemessen entscheiden könnte, und ihre moralischen »Dimensionen« sind in aller Regel »sehr viel komplexer«. (3.3.2) Statt dessen benötigt man nach Nagel zur Entscheidung moralischer Konflikte ein »Verfahren, das verbürgen kann, daß die relevanten Erkenntnisse überall dort, wo sie existieren, auch wirklich zum Tragen kommen, und man in den Fällen, in denen ein Problem einen bestimmten Gesichtspunkt enthält, von dem sich noch niemand ein rechtes Bild machen kann, wenigstens dies begreift« 83. Zwar muss Nagel wiederum einräumen, dass er mit solchen Bemerkungen noch »kein solches Verfahren hergeleitet« habe. Fest steht für ihn jedoch, dass es »klarerweise« dafür »zu sorgen« hätte, »daß unter anderem die folgenden Faktoren zu ihrem Recht kämen: ökonomische, politische und persönliche Freiheit – Gleichheit – Gerechtigkeit – Schutz der Privatsphäre – prozedurale Fairneß – intellektueller und ästhetischer Fort82 83
Nagel 1977, 196 f. Nagel 1977, 197 f.
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schritt – Gemeinschaftlichkeit und Brüderlichkeit – Nutzen für die Allgemeinheit – der Verdienst menschlicher Leistungen – die Vermeidung von Willkür und Zufall – die Akzeptabilität von Risiken – die Interessen künftiger Generationen – sowie ein wohlbestimmtes Maß an Bereitschaft, auch im Interesse anderer Nationen und anderer Staaten tätig zu werden«. Zudem räumt er ein, dass »das Verfahren« vermutlich »relativ detailliert« konzipiert werden müsse, damit es »von Nutzen« sein könne. (3.4) Nachdem Nagel solche Probleme zugeben hat, äußert er jedoch Zuversicht darüber, dass die professionelle Moralphilosophie allen »radikalen Meinungsverschiedenheiten in Grundlegungsfragen der Ethik« zum Trotz einen breiten Konsens darüber herstellen könne, »wo und inwieweit die Ethik für politisches Handeln Relevanz beanspruchen kann« und sollte. Ein solcher Konsens wäre Nagel wichtig. Sollte diesem »Konsens, der unter Moraltheoretikern« Nagels Einschätzung zufolge ja »schon längst gegeben ist«, nämlich eine »breitere Zustimmung in der Öffentlichkeit und konkretere Beachtung durch unsere Entscheidungsträger und Politiker zuteil werden«, würde es »Entscheidungsträgern nicht mehr ganz so leicht fallen, bestimmte Fragen einfach zu ignorieren.« Falls »die verfügbaren ethischen Überlegungen später doch nicht in Betracht gezogen oder sogar verworfen würden, fänden damit doch wenigstens die Gründe – oder gegebenenfalls das Fehlen solcher Gründe – in die Rechtfertigung aller Entscheidungen Eingang, die aktuell gefällt werden«, und das wäre in Nagels Augen schon ein großer Fortschritt. Wie Nagel treffend bemerkt, muss die Moralphilosophie also gar nicht in die Position versetzt werden, dass sie alle Entscheidungen mit moralischer Dimension schließlich auch wirklich treffen darf bzw. sollte. In seinen Augen kann der Moralphilosophie vielmehr auch dadurch »ein bescheidenes Minimum an Macht und Einfluß« gesichert werden, dass man gewährleistet, dass sie zu den einschlägigen Fragen und Problemen »wenigstens einmal ihre Prima-facie-Gründe geltend« 84 machen kann. (4) Die Moralphilosophie soll sich nach Nagel zu einer professionellen Beraterdisziplin entwickeln, welche der Gefahr verfehlter Objektivität entgegensteuern soll, indem sie Akteuren und Institutionen beratend zur Seite steht, damit deren moralische Entscheidung möglichst ver84
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Nagel 1977, 197 f.
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nünftig und mit möglichst guten Gründen, sprich: möglichst objektiv, ausfällt. Diese Vision ist so faszinierend, dass beckmesserische Einwände wenig ins Gewicht fallen. (4.1) So könnte man beispielsweise nach dem Motto ›Schuster bleib bei deinen Leisten‹ den Einwand erheben, dass der einzelne Moralphilosoph mit der Rolle als Berater völlig überfordert wäre, weil man einen Politiker beispielsweise nur kompetent beraten kann, wenn man etwas von Politik versteht, während man etwas von Medizin verstehen muss, wenn man einen Arzt beraten will. Diesem Einwand ist zwar stattzugeben. Allerdings führt er Nagels Vision einer neuen Moralphilosophie deshalb nicht ad absurdum, weil Spezialisierungen als Angewandter Ethiker für einzelne Teilbereiche möglich sind, so dass nicht jeder Moralphilosoph für ausnahmslos alle moralischen Konflikte zuständig sein müsste. (4.2) Dem Einwand, dass die Moralphilosophie dann in verschiedene kleine Teildisziplinen zerfallen würde, ist entgegenzuhalten, dass das eine Entwicklung ist, die ja gerade zu den verschiedenen Disziplinen der Angewandten Ethik geführt hat, ohne dass die Moralphilosophie insgesamt deshalb an Kontur oder Ansehen verloren hätte. Es scheint vielmehr mit der Angewandten Ethik dasselbe zu passieren, was in der Geschichte der Philosophie auf anderen Ebenen immer schon passiert ist. Im Mittelalter haben sich die Disziplinen Theologie und Philosophie unterschieden. Spätestens seit Kant werden die Theoretische und die Praktische Philosophie innerhalb der Philosophie unterschieden. Die Praktische Philosophie wird wiederum in die Teildisziplinen Metamoral, Moralphilosophie, Ethik (im aristotelischen Sinne der Lehre von einem geglückten Leben) und die Angewandte Ethik unterschieden, wobei sich die Angewandte Ethik dann wiederum in einzelne Spezialgebiete wie die Medizinethik, die Umweltethik etc. unterteilt. Ein Automechaniker kann sich schließlich auch auf Autos der Marke Audi beispielsweise spezialisieren, ohne dass der Beruf des Automechanikers dadurch diskreditiert würde. Genauso ist es bei der Angewandten Ethik: Ein Angewandter Ethiker kann durchaus Spezialgebiete haben, ohne seine allgemeineren Qualifikationen als Moralphilosoph und Angewandter Ethiker damit zu verlieren. (5) Drängend ist jedoch die Frage, wie eine moralphilosophische Beratung im Falle eines moralischen Dilemmas denn nun konkret aussehen soll. Die Frage stellt sich so drängend, weil Nagel (vgl. 7.a) das Faktum Das moralische Dilemma
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moralischer Dilemmata ja damit erklärt, dass die Praktische Vernunft den Hiat zwischen der relativen und der neutralen Perspektive auf moralische Konflikte nicht überwinden kann, weil dieser Hiat das Konstituens der menschlichen Vernunft überhaupt ist. Wie also kann die Hilfestellung der Moralphilosophie im Falle eines moralischen Dilemmas aussehen? In seinem Essay War and Massacre von 1971 exerziert Nagel vor, was gemeint sein könnte. Es geht um das ›Problem der schmutzigen Hände‹ (vgl. 2.e.3) ausgehend von den Fragen, ob sich ein militärischer Verantwortungsträger durch »das Foltern eines Gefangenen« die »nötigen Informationen« beschaffen darf, um »eine Katastrophe« zu verhindern, und ob er durch »das Flächenbombardement einer Siedlung einen terroristischen Feldzug zum Stillstand« bringen darf. (5.1) In einem ersten Schritt stellt Nagel die Diagnose, dass der Befehlshaber »in ein Dilemma« gerät, falls er »fest davon überzeugt« sein sollte, »daß der Nutzen einer Maßnahme ihrer Nachteile klar und deutlich überwiegt«, obwohl er andererseits auch davon überzeugt ist, »daß er die Maßnahme nicht ergreifen darf«. Im Essay von 1971 beschreibt Nagel das Dilemma näherhin als »Konflikt zweier disparater Kategorien« von utilitaristischen und absolutistischen Handlungsgründen. In die ausgereiftere Terminologie von The View from Nowhere übersetzt, handelt es sich um einen Konflikt zwischen neutralen und deontologisch-relativen Handlungsgründen. (5.2) In einem zweiten Schritt untersucht Nagel das Gewicht beider Typen von Handlungsgründen. (5.2.1) Dabei handelt er die »utilitaristische Komponente« des Dilemmas relativ schnell mit dem Hinweis darauf ab, dass sie »vergleichsweise unkompliziert« sei, weil es »jedem, der kein totaler Skeptiker in Fragen der Ethik ist«, wohl »irgendwie« unmittelbar einleuchtet, warum in den vorliegenden Fällen die Überlegungen im Raum steht, den Gefangenen zu foltern und die Siedlung zu bombardieren, weil durch diese Maßnahmen schließlich sehr viel Schlimmeres verhindert werden würde. (5.2.2) »Eine absolutistische Überzeugung« würde diesem utilitaristischen Argument nach Nagel jedoch entgegenhalten, »daß bestimmte Handlungsalternativen« wie beispielsweise das Foltern von Gefangenen oder die »absichtliche Tötung harmloser Menschen« durch ein Bombardement von zivilen Siedlungen »auch ohne jedes Ansehen der Folgen einfach nicht zu rechtfertigen seien«. Im Detail gibt es Nagels Rekonstruktion zufolge »zwei Typen absolutistischer Ein350
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(d) Nagels Vision einer neuen Moralphilosophie
schränkungen jeder Kriegsführung«, die sich »einstweilen unter dem einen Grundsatz zusammenfassen« lassen, dass »jederlei Feindseligkeit gegenüber einem Menschen durch etwas an diesem Menschen gerechtfertigt sein muß«, das »die Feindseligkeit angemessen sein läßt«. Aus diesem Grundsatz folgt nach Nagel, dass man im Kriegsfall erstens keine Zivilisten töten und dass man zweitens weder »besonders grausame Waffen« noch Mittel wie »Aushungern, Vergiften, Infizieren mit Krankheitserregern« einsetzen darf, woraus wiederum folgt, dass das Foltern eines Gefangen oder das Bombadieren von Siedlungen in Vietnam als Verbrechen 85 angesehen werden muss. (5.3) Wer nun allerdings in einem dritten Schritt eine Lösung des Dilemmas durch ein eindeutiges Plädoyer entweder für die utilitaristische oder absolutistische Position erwartet, der wird enttäuscht! Eine explizite Lösung entfaltet der Moralphilosoph Thomas Nagel in seiner Beraterrolle in seinem Essay nicht. Im Gegenteil betont er zum Schluss seines Essays, dass er nicht glaubt, dass die eingangs geschilderten Dilemmata »aufgelöst« werden können. Letztendlich beinhaltet der Essay zwar (wie Nagel schon ganz zu Beginn hervorhebt) eine »Verteidigung der absolutistischen Position«. Gleichzeitig betont das Ende seines Essays jedoch, dass der jeweilige Befehlshaber trotz aller guten absolutistischen Gründe für seine Weigerung, »eine ethisch verbotene Maßnahme zu ergreifen«, genau wisse, dass der »utilitaristische Preis, den er für diese Weigerung zu zahlen hat, immens hoch« sei, weshalb er schwerlich »das Gefühl haben« könne, das moralische Dilemma »befriedigend gelöst« zu haben. Das sei nach Nagel allerdings auch der Fall, wenn man ihm raten würde, sich den »absolutistischen Auflagen« zu widersetzen und den utilitaristischen »Weg mit den am ehesten akzeptablen Folgen« einzuschlagen. Dahinter steht Nagels Überzeugung, dass es sich bei den vorliegenden moralischen Konflikten um echte moralische (sprich: nicht lösbare) Dilemmata handelt, weil utilitaristische Zum selben Schluss kommt der Essay übrigens auch bei der Frage nach der moralischen Berechtigung des Abwurfs der Atombomben über japanische Städte. Die diesbezügliche Seitenbemerkung erklärt sich wohl aus der Tatsache, dass die absolutistische Position für Nagel insbesondere durch die katholische Moraltheologin G. E. M. Anscombe repräsentiert wird, während er in seinen utilitaristischen Überlegungen zweifellos vor allem an R. M. Hare anknüpft. Nagels Essay verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf Anscombe, die sich wegen des Abwurfs der Atombombe gegen die Verleihung der Ehrendoktorwürde von Oxford an den amerikanischen Präsidenten Truman ausgesprochen hatte. Vgl. Nagel 1971, 89. Verweis auf Anscombe 1958.
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und absolutistische Handlungsgründe zur Disposition stehen, die als neutrale und relative Handlungsgründe nicht aufeinander zu reduzieren sind. Im frühen Essay War and Massacre heißt es in den Endpassagen zwar noch, dass es irgendwann vielleicht »gewisse, bis in unsere Tage noch nicht kodifizierte Prinzipien« geben könnte, die »es uns gestatten würde, derartige Dilemmata aufzulösen.« Wahrscheinlicher sei es jedoch, dass es solche Prinzipien nicht geben könne, weshalb die Moralphilosophie schon dem frühen Nagel zufolge vermutlich »der pessimistischen Alternative ins Auge sehen« muss, dass immer wieder »Lebenslagen« entstehen, »in denen es für einen Menschen keinen ehrbaren oder moralischen Ausweg mehr gibt, keinen Ausweg frei von Schuld und Verantwortung für Unrecht«. Tatsächlich hält es Nagel für »reichlich naiv, anzunehmen, daß es für jedes moralische Problem, vor das uns die Welt stellen kann, eine Lösung geben muß«. Düster endet der Essay in folgendem Diktum: »Wir wussten es ja seit jeher: Die Welt ist schlecht. Nun sieht es gar so aus, als könnte sie obendrein noch böse sein.« 86 (6) So überzeugend Nagels Position zweifellos ist, so deutet sich mit dem Diktum doch an, wo ihr zentrales Problem liegt. (6.1) Zwar deutet es auf ein schlichtes Missverständnis hin, wenn Richard M. Hare in seinem Essay Rules of War and Moral Reasoning von 1972 kritisch einwendet, dass Nagel die absolutistische Auffassung nicht überzeugend vertreten könne, weil er »zwischen den beiden moralphilosophischen Positionen Utilitarismus und Absolutismus hinund hergerissen« 87 sei. Dieser Einwand geht ins Leere, weil Nagels Essay ja gar keine absolutistische Position entfalten soll. 88 Er soll vielNagel 1971. Verweis auf Lemmon1962, 150. Es heißt im englischen Wortlaut über Nagel: »This real person seems to be torn between two ways of moral thinking which he dubs ›utiltarian‹ and ›absolutist‹.« Hare 1972, 167. 88 Der Essay legt so deutlich den Finger in die Wunde der absolutistischen Position, dass es in meinen Augen keinen Zweifel daran geben kann, dass Nagels Essay nicht etwa für die absolutistische Position argumentieren, sondern vielmehr vorführen will, wie der professionelle Angewandte Ethiker zu einer Entscheidung im Falle eines unlösbaren moralischen Dilemmas kommen kann. (1) Nagel gesteht zu, dass (i) dem Absolutisten die Folgen einer Entscheidung nicht gleichgültig sein können (Nagel 1971, 90 f.); dass (ii) das absolutistische »Prinzip der Doppelwirkung« wenig überzeugend ist (a. a. O. 92 f.); dass (iii) sich der moralische Absolutismus schwerlich abschwächen lässt, ohne ihn aufzugeben (a. a. O. 84). Schließlich 86 87
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mehr vorexerzieren, wie Nagel als Moralphilosoph einem fiktiven Entscheidungsträger einen professionellen Rat geben würde, der vor der Entscheidung steht, ob er im Kriegsfall Verbrechen begehen muss oder nicht. Weil Nagel gerade nicht an eine eindeutige Lösung des vorliegenden Dilemmas durch ein eindeutiges Plädoyer für die absolutistische Position glaubt, muss er auch die Argumente für die utilitaristische Option stark machen. Gleichzeitig muss er die absolutistische Position, für die sich der Entscheidungsträger ja letztlich entscheiden soll, ungleich ausführlicher als die utilitaristische diskutieren, damit der Entscheidungsträger seine Entscheidung im Nachhinein gegen Einwände verteidigen kann. Das bedeutet aber nicht, dass Nagel deshalb Absolutist wäre. Vielmehr betont er zu Beginn seines Essays ja ausdrücklich, dass es ihm nur so lange »fraglos richtig zu sein« scheint, an »absolutistischen Restriktionen« festzuhalten, bis »die Utilitätsgründe, von ihnen abzurücken«, von so »erdrückendem Gewicht und zwingender Zuverlässigkeit sind«, dass es »unmöglich« wird, »noch weiter an der absolutistischen Restriktion festzuhalten« 89. Mit Unentschiedenheit hat die Haltung Nagels in seinem Essay von 1971 also nichts zu tun. Sie ergibt sich vielmehr konsequent aus Nagels Philosophie des moralischen Dilemmas und seiner daraus resultierenden Auffassung davon, was die professionelle Moralphilosophie leisten kann und tatsächlich auch leisten muss. (6.2) Das zentrale Problem von Nagels zukünftiger Moralphilosophie besteht jedoch darin, dass sie die Verantwortung für die DilemmaEntscheidung völlig auf den moralischen Akteur abwälzt, indem sie sich auf die Beraterrolle zurückzieht. Die professionelle Moralphilosound endlich betont Nagel sogar, dass es (iv) auch für den Absolutisten manchmal »Extremfälle geben« kann, in »denen es uns verunmöglicht wird, noch einen absolutistischen Standpunkt einzunehmen«, weil man »feststellen« muss, »daß einem schlicht keine andere Wahl bleibt, als etwas Schreckliches zu tun« (a. a. O. 110). Einschränkend betont er dann jedoch, dass der »Absolutismus« auch unter solchen Umständen »noch sein Gewicht« behielte, weil sich ein »Verstoß« gegen ein absolutistisches Verbot gegenüber anderen lediglich erklären, aber nicht »rechtfertigen« ließe. Schließlich könne man, wenn man einen Gefangenen foltert, diesem nicht sagen: »Versteh doch bitte, ich muß dir nun einmal die Fingernägel ausreißen, weil es unbedingt notwendig für uns ist, die Namen deiner Komplizen zu erfahren.« (A. a. O. 100 f.) (2) Wirklich verteidigt wird die absolutistische Position von Nagel lediglich gegen den Einwand des »moralischen Eigennutzes«, der in seinen Augen nicht stichhaltig ist. Nagel 1971, 95 f. 89 Nagel 1971, 87. Das moralische Dilemma
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phie kann das moralische Dilemma laut Nagel nicht lösen. Sie kann dem Akteur lediglich erklären, warum es per se unauflösbar ist, wobei sie dann aber ebenfalls betonen muss, dass die Unauflösbarkeit des moralischen Dilemmas vor der Notwendigkeit einer Entscheidung nicht bewahrt. Bei dieser Entscheidung kann die professionelle Moralphilosophie dem individuellen Akteur dann (wie Nagel in War and Massacre ja vorexerziert) zwar ratend zur Seite stehen. Allerdings soll sie im Zuge ihrer Beratertätigkeit ausdrücklich nicht eine mögliche Entscheidung als die einzig richtige ausweisen. Im Gegenteil soll sie auch gegenüber der Entscheidung Restzweifel und mögliche Gegeneinwände artikulieren, die aus der Sicht der Moralphilosophie die unter den jeweiligen Umständen bestmögliche Entscheidung ist, welche der Akteur letztlich treffen sollte. Moralische Restzweifel sind aber etwas grundsätzlich anderes als epistemische Restzweifel: Sie bedeuten nämlich nicht bloß eine intellektuelle Verwirrung, sondern Handlungshemmung (vgl. 8.c.2) und vor allem quälende Schuldgefühle. 90 (6.2.1) Hare hält Nagels Position für »gefährlich«, weil moralische Akteure in seinen Augen »glauben könnten«, dass sie sich über mögliche Schuld keine Gedanken machen müssten, weil »sich nur Neurotiker darüber sorgen würden«, wenn man ihnen erkläre, »daß es keinen Weg gibt, der Schuld zu entfliehen« 91. In meinen Augen ist das Gegenteil der Fall: Wie die Schlusswendungen von War and Massacre ja deutlich belegen, führt Nagels professionelle Moralphilosophie dem moralischen Akteur sogar vor Augen, warum er allen Grund hat, Schuldgefühle zu empfinden! Ausdrücklich betont er, dass die Befehlshaber auch nach einer noch so gut begründeten Entscheidung nicht »das Gefühl haben« können, das moralische Dilemma »befriedigend gelöst« zu haben. Die Tatsache, dass es nach Nagel mit dem moralischen Dilemma Situationen gibt, in denen es »für einen Menschen« nun einmal »keinen ehrbaren oder moralischen Ausweg mehr gibt, keinen Ausweg frei von Schuld und Verantwortung für Unrecht« 92, entlastet den Akteur ja nicht wirklich (vgl. 6.d). (6.2.2) Nagels Moralphilosopie der Zukunft belastet die indiviEin Vorschlag zum Umgang mit den handlungshemmenden Restzweifeln wird in 8. e.10. entfaltet. 91 Es heißt im englischen Worlaut: »It is dangerous to talk like this, because many people will think that, if there is no way of escaping guilt, only the neurotic will worry about it.« Hare 1972, 179. 92 Nagel 1971, 108 f. 90
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duellen moralischen Akteure also im Falle eines moralischen Dilemmas mit Schuld. Das ist nun allerdings alles andere als banal, weil Schuldgefühle in aller Regel etwas sehr viel Übleres als eine intellektuelle Verwirrung sind. Schuldgefühle können im Einzelfall sehr quälend sein und außerdem handlungshemmend wirken. Zu den Schuldgefühlen, von denen individuelle moralische Akteure auch nach einer wohlüberlegten Dilemma-Entscheidung gequält werden können, nimmt Nagel in seinem Essay Moral Luck von 1976 dann zwar durchaus Stellung (vgl. 6.d.5.3), indem er die Auffassung vertritt, dass es so etwas wie eine »Paradoxie der Verantwortung« 93 gibt, der zufolge wir uns auch dann schuldig fühlen, wenn wir mit einer Entscheidung etwas Furchtbares bewirkt haben, wenn wir genau wissen, dass wir zu der Entscheidung durch üble Umstände gezwungen worden sind. Diese phänomenologische Analyse mag zwar zutreffen. Aus der Sicht des moralischen Akteurs stellt sie jedoch keine Hilfe dar. 94 Festzuhalten bleibt damit, dass Nagel der Moralphilosophie gerade wegen der Möglichkeit des moralischen Dilemmas die interessante Rolle einer Entscheidungshelferin zuspricht, was jedoch zur Konsequenz hat, dass der individuelle Akteur mit seiner Verantwortung und seinen Schuldgefühlen allein gelassen wird. Nagels Vision einer neuen Moralphilosophie stellt sich dem, was metamoralisch nicht zu leugnen ist: der Möglichkeit des moralischen Dilemmas nämlich. Sie ist faszinierend und zukunftsweisend, weil sie die Möglichkeit des moralischen Dilemmas als Chance und nicht als Niederlage begreift. Es fehlen jedoch Strategien der Hilfestellung für die moralischen Akteure beim Umgang mit Restzweifeln und Schuld.
Nagel 1976. Strategien gegen das Problem der quälenden subjektiven Schuldgefühle werden in 8. f. und 8.e.12. zur Diskussion gestellt.
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8. Das moralische Dilemma als pragmatisches Problem
Wie in Kapitel 1 dargestellt, wurde im angelsächsischen Sprachraum des ausgehenden 20. Jahrhunderts die metamoralische Frage diskutiert, ob die Moralphilosophie ihren Anspruch als handlungsleitende normative Wissenschaft aufgeben muss, falls die Möglichkeit moralischer Dilemmata nicht systematisch ausgeschlossen werden kann. Dahinter stand die Überzeugung, dass die Moralphilosophie nur dann vernünftige Handlungsorientierungen für vernünftige moralische Akteure leisten kann, wenn sie ein konsistentes Systemgebäude in dem Sinne ist, dass sich aus ihren ersten Axiomen und Prinzipien keine widersprüchlichen moralischen Anforderungen ableiten lassen. 1 Ein moralisches Dilemma lässt sich nun als eine Situation beschreiben, in der etwas gefordert wird, das zugleich (aufgrund derselben situativen Voraussetzungen und vom selben moralischen Akteur) nicht erfüllt werden darf, weil die entgegengesetzte Handlung mit vergleichbarem Nachdruck gefordert wird. Deshalb wurde diskutiert, inwieweit der Anspruch einer Moralphilosophie als systematische Wissenschaft infrage gestellt werden muss, wenn sich aus ihren ersten Prinzipien und Axiomen nicht eindeutige Lösungen auch für diejenigen moralischen Konflikte herleiten lassen, die sich in der alltäglichen moralischen Praxis als moralische Dilemmata darstellen. Obwohl sicherlich nicht alle zu Gehör gekommen sind, die im Zuge der angelsächsischen Debatte Der Darstellung dieses Problems ist das 1. Kapitel gewidmet. Im deutschen Sprachraum wird das Problem von Boshammer in pointierter Formulierung folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Verfolgt man den philosophischen Streit um die DilemmaFrage«, so sieht es »ein bisschen so aus, als führe dieses Problem die Moralphilosophie selbst in eine Art Dilemma: Entweder anerkennt sie zum Preis ihrer theoretischen Stimmigkeit, dass moralische Pflichten gelegentlich nicht erfüllbar sind und moralische Schuld unausweichlich sein kann; oder sie verweigert dieses Eingeständnis auf Kosten ihrer phänomenologischen Glaubwürdigkeit und Erfahrungsnähe.« Boshammer 2008, 173.
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(a) Sind moralische Dilemmata systematisch vermeidbar?
Interessantes 2 zu sagen hatten, ist es jetzt an der Zeit, ein Resümee zu ziehen. Sind moralische Dilemmata denn nun systematisch vermeidbar? Und muss die Moralphilosophie ihren Anspruch als systematisch-handlungsleitende normative Wissenschaft aufgeben, wenn sie die Möglichkeit des moralischen Dilemmas nicht systematisch ausschließen kann? Und was würden unlösbare moralische Dilemmata schließlich pragmatisch für die Angewandte Ethik und die individuellen moralischen Akteure bedeuten?
(a) Sind moralische Dilemmata systematisch vermeidbar? Zur Frage, ob moralische Dilemmata systematisch vermeidbar sind, wurden in der angelsächsischen Debatte insgesamt drei Positionen verteidigt. (1) Eine erste Position besagt, dass die Moralphilosophie gar keine Strategien zur systematischen Vermeidung moralischer Dilemmata bereitstellen muss, weil es das moralische Dilemma eigentlich gar nicht gibt. Zuzuordnen ist diese Position dem Lager des monistischen (intuitionistischen oder rationalistischen) moralischen Realismus. Das zentrale Problem dieser Position besteht darin, dass sie von der Überflüssigkeit von moralphilosophischen Strategien zur systematischen Vermeidung moralischer Dilemmata nur überzeugen kann, wenn sie davon überzeugen kann, dass es das moralische Dilemma tatsächlich nicht gibt. Dagegen spricht jedoch, dass uns die alltägliche moralische Praxis immer wieder mit moralischen Konflikten konfrontiert, die (unlösbare) moralische Dilemmata zu sein scheinen. In der angelsächsischen Debatte sind deshalb große Anstrengungen unternommen worden, um gegen den empirischen Anschein von der Nichtexistenz des moralischen Dilemmas zu überzeugen. Die wichtigsten diesbezüglichen Argumente sind das Argument der logischen Widersinnigkeit (vgl. 8.a.1.1), das Argument des epistemischen Irrtums (vgl. 8.a.1.2) und das Argument der vorangegangenen Fehlleistung (vgl. 8.a.1.3). Diese Bemerkung zielt vor allem auf die Position von Davidson, aber auch auf die Positionen einiger Autoren, die Gowans und Mason in ihren Bänden versammelt haben. Vgl. Davidson 1980 sowie Moral Dilemmas 1987 sowie Moral Dilemmas and Moral Theory 1996. 2
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8. Das moralische Dilemma als pragmatisches Problem
(1.1) Bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein wurde die angelsächsische Debatte von dem Versuch der sogenannten ›deontischen‹ Logik dominiert, von der Nichtexistenz des moralischen Dilemmas mit dem Argument der logischen Widersinnigkeit zu überzeugen. Zur Plausibilisierung dieses Arguments wurden verschiedene Beweise konstruiert, die aus der Annahme der Möglichkeit des moralischen Dilemmas in vorgeblichen logischen Kontradiktionen mündeten. Daraus wurde mit Hilfe des Prinzips ›ex falso quodlibet‹ geschlossen, dass die Annahme des moralischen Dilemmas unsinnig bzw. falsch sein muss (vgl. Kapitel 5.a). So elegant diese Lösung des Problems des empirischen Anscheins gewesen wäre, so kläglich ist das Projekt der deontischen Logik gescheitert. (1.1.1) Wie in Kapitel 5 gezeigt wurde, ist es zum einen schon strittig, ob es sich bei den jeweiligen Konklusionen der deontischen ›Beweise‹ tatsächlich um Widersprüche im Sinne der aristotelischen Logik handelt (vgl. 5.g). (1.1.2) Vor allem aber kommen im Zuge der Beweisverfahren Schlussprinzipien zur Anwendung, die aus der klassischen Aussagenund Modallogik ohne nennenswerte Modifikationen in den Bereich des Sollens übertragen wurden, obwohl es zweifelhaft zu sein scheint, dass im deontischen Bereich dieselben Gesetzmäßigkeiten wie im Bereich der Aussagen- und Modallogik herrschen (vgl. 5.d–f). Die deontischen Beweise können nicht von der Unsinnigkeit der Annahme des moralischen Dilemmas überzeugen. Damit kann die deontische Logik auch nicht von der Überflüssigkeit moralphilosophischer Strategien zur systematischen Vermeidung moralischer Dilemmata überzeugen. (1.2) Besonders hohe Konjunktur hatte das Argument des epistemischen Irrtums. Es besagt, dass man aus dem Anschein eines moralischen Dilemmas nicht auf ein tatsächliches Vorliegen eines moralischen Dilemmas schließen kann, weil sich ein solcher Anschein durch epistemische Fehlleistungen der menschlichen moralischen Akteure erklären lässt, welche die eine eindeutige Lösung des moralischen Konflikts nicht erkannt haben. Die Geister von intuitionistischem und rationalistischem (monistischen moralischen) Realismus schieden sich an der Frage, wie sich die Möglichkeit einer solchen Fehlleistung erklären lässt. (1.2.1) Für den intuitionistischen (monistischen) moralischen Realismus stehen in der angelsächsischen Debatte vor allem Sir David Ross, aber auch David O. Brink (vgl. 3.e.2) oder Philippa Foot (6.g.2) 358
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beispielsweise. 3 Der Kürze halber beschränke ich mich in diesem zusammenfassenden Überblick auf die Position von Ross. Wie in 3.a dargestellt, gibt es für Ross im Gemenge der durch situative Umstände aktivierten prima facie Pflichten immer eine aktuale Pflicht, die durch die jeweiligen Umstände gewichtiger als die konkurrierenden prima facie Pflichten in Kraft gesetzt wird. Das heißt, dass es moralische Dilemmata für Sir David Ross nicht gibt. Den empirischen Anschein moralischer Dilemmata erklärt Ross mit Fehlleistungen menschlicher moralischer Akteure, wobei die Möglichkeit solcher Fehlleistungen damit erklärt wird, dass unser intuitiver »Sinn für die aktuale Pflicht unter den gegebenen Umständen« im »höchsten Grade fehlbar« 4 sei. (i) Nun kann man mit dem Hinweis auf die Fehlbarkeit des moralischen Sinnes zwar gegebenenfalls erklären, warum wir manchmal glauben, mit einem moralischen Dilemma konfrontiert zu sein, obwohl es moralische Dilemmata nicht gibt. Man kann mit dem Hinweis aber nicht davon überzeugen, dass es tatsächlich keine moralischen Dilemmata gibt. (ii) Tatsächlich lässt sich Ross’ moralphilosophischer Begründung dieser Annahme sogar entgegenhalten, dass es prinzipiell möglich ist, dass zwei konkurrierende prima facie Pflichten durch situative Umstände mit genau gleichem Gewicht in Kraft gesetzt werden. Damit kann die Möglichkeit moralischer Dilemmata noch nicht einmal dann sicher ausgeschlossen werden, wenn man Ross seine starken moralphilosophischen Prämissen zugibt (vgl. 3.d.2). Das aber bedeutet, dass man nie sicher ist, ob man es mit einer eigenen epistemischen Fehlleistung (die zu korrigieren wäre) oder mit einem tatsächlichen moralischen Dilemma zu tun hat. Das wiederum bedeutet, dass Ross’ intuitionistische Variante des Arguments des epistemischen Irrtums nicht überzeugen kann, dass moralphilosophische Strategien zur systematischen Vermeidung moralischer Dilemmata überflüssig sind, weil es moralische Dilemmata nicht gibt. (1.2.2) Der rationalistische (monistische moralische) Realismus begründet die Überzeugung, dass es eigentlich keine moralischen Dilemmata gibt, mit dem Hinweis auf den Ursprung der sittlichen Weltordnung in einer vollkommenen vernünftigen Instanz. So kann es für Vgl. Ross 1930 sowie Brink 1994 sowie Foot 1983. Es heißt im englischen Wortlaut: »This sense of our particular duty in particular circumstances, preceded and informed by the fullest reflection we can do bestow on the act in all its bearings, is highly fallible.« Ross 1930, 42.
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Aquin moralische Dilemmata nicht geben, weil die sittliche Weltordnung ihren Ursprung im vollkommen vernünftigen Geist Gottes hat, während Kant Pflichtenkollisionen mit dem analytischen Argument ausschließt, dass eine ›Pflicht‹ etwas Absolutes ist, das nicht durch eine konkurrierende Pflicht außer Kraft gesetzt werden kann (vgl. 1.b). Anders als für den intuitionistischen Realisten ist die sittliche Weltordnung (und damit auch die eindeutige Lösung für jeden moralischen Konflikt) für einen rationalistischen Realisten prinzipiell durch die Vernunft erkennbar. Deshalb wird die Möglichkeit der epistemischen Fehlleistung mit einem menschlichen Versagen erklärt, dass schuldhaft angelastet werden muss. (i) Mit Blick auf die angelsächsische Debatte besteht das zentrale Problem dieser Position in der Unzuverlässigkeit der gängigen rationalistischen Verfahren. Diese Unzuverlässigkeit manifestiert sich zum einen darin, dass es in der Praxis durchaus auch zwischen Anhängern derselben rationalistischen Strategie zu Dissensen über ein und dasselbe moralische Problem kommt (vgl. 6.f.2.2). Sie manifestiert sich zweitens darin, dass eine allzu konsequente Anwendung moralphilosophischer Prinzipien zu kontraintuitiven moralischen Urteil führt (vgl. 6.c.5.2.1 und 8.a.3.6). Wenn ich aber keine Strategie habe, die mich eindeutig zu einer Lösung meines moralischen Konflikts führt, die ich als die eine richtige Lösung auch akzeptieren kann, habe ich gute Gründe, daran zu zweifeln, dass es diese Lösung tatsächlich gibt. (ii) Damit gerät das Problem in den Blick, dass der rationalistische Realismus auf starken metaphysischen Prämissen beruht. Schließlich lässt es sich gegen den empirischen Anschein nicht beweisen, dass es tatsächlich eine einzige sittliche Weltordnung gibt, die für jeden moralischen Konflikt eine eindeutige Lösung hat. Das ist letztlich eine Sache des Glaubens. (1.3) Alan Donogan verteidigt die Nichtexistenz des moralischen Dilemmas gegen den empirischen Anschein mit dem Argument der vorangegangenen moralischen Fehlleistung. Dieses Argument besagt, dass moralische Dilemmata keine Inkonsistenz der Moralphilosophie seien, weil sie ausnahmslos immer durch eine vorangegangene moralische Fehlleistung zustande kämen, die dem moralphilosophischen System nicht anzulasten sei. 5 (1.3.1) Donogans Argument hat eine gewisse Plausibilität, weil es viele der Dilemmata zu erklären scheint, die in den einschlägigen De5
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Vgl. Donogan 1984, 4. Diskutiert wird dieses Argument in 6.g.3.
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batten als Beispiele diskutiert werden. Wo aber sollte beispielsweise die Fehlhandlung im Falle des Sterbehilfe-Dilemmas (vgl. Kapitel 2, Anm. 12) liegen? (1.3.2) Zudem ist auch in den einleuchtenden Fällen der Protagonist des moralischen Dilemmas nicht immer identisch mit der Instanz, die das moralische Dilemma verschuldet hat. Sophies Dilemma beruht auf der dreckigen Grausamkeit der Nazi-Schergen, aber eben nicht auf einer eigenen moralischen Fehlleistung. Das bedeutet, dass mit dem Argument der vorangegangenen moralischen Fehlleistung die Gerechtigkeit eines Moralsystems auf dem Altar der Konsistenz geopfert wird, was nicht überzeugen kann, weil ein inkonsistentes Moralsystem einem ungerechten Moralsystem allemal vorzuziehen ist (vgl. 6.g.3.2). (1.3.3) Vor allem aber ändert es an der Diagnose ›moralisches Dilemma‹ nichts, ob das Dilemma durch eine vorangegangene moralische Fehlleistung durch wen auch immer verursacht worden ist oder nicht. Entscheidend für diese Diagnose ist schließlich allein die Frage, ob es sich um einen lösbaren moralischen Konflikt handelt oder nicht (vgl. 2.f.6). 6 Dafür ist die Frage nach dem Verursacher völlig unerheblich. Donogan muss also letztlich selbst zugeben, dass es moralische Dilemmata gibt. Das heißt, dass auch Donogan nicht von der Überflüssigkeit moralphilosophischer Strategien zur Lösung des Problems des moralischen Dilemmas überzeugen kann. (2) In der angelsächsischen Debatte wurde zur Frage der systematischen Vermeidbarkeit zweitens auch die Auffassung vertreten, dass die Moralphilosophie dem Problem des moralischen Dilemmas offensiv begegnen sollte, indem sie Strategien zur sicheren Auflösung bzw. zur systematischen Vermeidung moralischer Dilemmata entwickelt. Diskutiert wurde neben dem kasuistischen Verfahren von Donogan (vgl. 8.a.2.1 und 6.f) vor allem das kritische Verfahren von Richard M. Hare (vgl. 8.a.2.2 und Kapitel 4 insgesamt). (2.1) Nachdem er mit dem Argument der vorangegangenen moralischen Fehlleistung (vgl. 8.a.1.3) zugegeben hat, dass es moralische Dilemmata gibt, entwickelt Donogan mit dem kasuistischen Verfahren konsequenterweise eine Strategie zur ihrer sicheren Auflösung. Von Ross distanziert er sich bezeichnenderweise mit der Bemerkung, dass es »selbstmörderisch« sei, moralische Konflikte ohne feste »formale 6
Vgl. mit diesem Argument auch Feldman 1986, 204 ff.
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Strategien« 7 lösen zu wollen. Solche Strategien lassen sich nach Donogan ausgehend von den Moralprinzipien von Aquin und Kant entwickeln. Gegen den Einwand der kontraintuitiven Entscheidung (vgl. 8.a.1.2.2.i und 6.c.5.2.1 und 8.a.3.6) macht Donogan den weiterführenden Vorschlag, dass diese Prinzipien den moralischen Konfliktsituationen angepasst werden sollen, indem nicht dem Wortlaut, sondern dem ›Geist‹ der Prinzipien zufolge entschieden wird. Den empirischen Anschein des moralischen Dilemmas erklärt er dann mit einem epistemischen Versagen der moralischen Akteure (vgl. 8.a.1.2), die entweder die grundsätzlichen Prinzipien selbst oder aber ihren ›Geist‹ nicht richtig erkannt hätten. Das Problem dieses kasuistischen Verfahrens liegt auf der Hand: Es ist im Einzelfall keineswegs eindeutig klar, was der ›Geist‹ eines moralphilosophsichen Prinzips jeweils sein soll. Damit ist das kasuistische Verfahren Donogans keine sichere Strategie zur Auffindung der einen richtigen Lösung jedes moralischen Konflikts (vgl. 6.f). (2.2) Dasselbe gilt für das kritische Verfahren, das Richard M. Hare zur Lösung des Problems des moralischen Dilemmas anbietet. Wie im 1. Kapitel dargestellt, hatte Sir David Ross zwar der angelsächsischen Debatte ihren ersten Anstoß durch eine beiläufig geäußerte Kritik an den sogenannten ›private recation theories‹ gegeben (vgl. 1.a). Das Bedrohungspotential des moralischen Dilemmas für das Selbstverständnis der Moralphilosophie als systematische normative Wissenschaft hat jedoch erst Hare gesehen. Unter dem doppelten Einfluss von Sir David Ross und Georg H. von Wright hatte er das moralische Dilemma in seiner Abhandlung Language of Morals von 1952 als »Krankheit« 8 bezeichnet, die es zu heilen gilt. In Moral Thinking von 1981 heißt es dann programmatisch, dass diejenigen, welche die Möglichkeit des moralischen Dilemmas zuließen, damit »zugeben« würden, dass ihr moralisches Denken »noch unvollständig« sei, weil eine ausgereifte Moralphilosophie eine »Lösung solcher Konflikte« 9 anbieten können müsse. Seitdem steht in der angelsächsischen Debatte vor allem Hare für die Auffassung, dass das moralische Dilemma ein Pro-
7 Es heißt im englischen Wortlaut: »There are no formal procedures.« Donogan 1984, 272. »This theoretical strategy is suicidal.« A. a. O. 272. 8 Hare 1952, 43 ff. Der ausdrückliche Hinweis auf von Wright findet sich a. a. O. 48 f., Anm. 10. 9 Hare 1981, 70.
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blem für die Moralphilosophie ist, dem sie offensiv durch die Entfaltung entsprechender Strategien begegnen sollte. Bei dem kritischen moralischen Denken, welches Hare als den moralphilosophischen Königsweg zur Lösung des Problems des moralischen Dilemmas anbietet (vgl. 4.a)., handelt es sich jedoch um ein Verfahren, das nur fiktive ›Erzengel‹ präzise und ohne Fehler anwenden können. Nur Erzengel können die Präferenzen aller Beteiligten sicher erkennen und gerecht gewichten, und nur Erzengel wissen, was in einer Situation wirklich von moralischem Gewicht ist und was nicht. Menschliche moralische Akteure hingegen sind durch Hares Verfahren überfordert, so dass ihnen letztlich nur ihre moralischen Intuitionen bleiben, die Hare gegen Ross ja mit seinem kritischen Verfahren hinter sich lassen wollte. Das wiederum bedeutet, dass das kritische Verfahren nur für Erzengel eine sichere Strategie zur systematischen Auflösung aller moralischen Dilemmata ist, aber nicht für menschliche moralische Akteure, womit Hare sein Ziel der Absicherung der Moralphilosophie gegen die Bedrohung durch die Möglichkeit des moralischen Dilemmas nicht wirklich erreicht hat (vgl. 4.g.3). (3) In der angelsächsischen Debatte wurde drittens die Position vertreten, dass sich die Moralphilosophie mit dem Problem des moralischen Dilemmas arrangieren muss, weil sich moralische Dilemmata nicht systematisch vermeiden lassen. Für diese Auffassung stehen vor allem Bernard Williams (vgl. Kapitel 6) und Thomas Nagel (vgl. Kapitel 7). Die wichtigsten Argumente für diese Auffassung waren in der angelsächsischen Debatte das phänomenologische Argument des moralischen Restbestands (vgl. 8.a.3.1 und 6.a), das Argument der kontingenten Umstände (vgl. 8.a.3.2 und 5.c.2.2) und das Argument des Hiats zwischen personalen und impersonalen Handlungsgründen (vgl. 8.a.3.3 und 7.a). Zusätzlich stützen lässt sich diese Position durch Masons Argument der sozialen Rollen (vgl. 8.a.3.4), durch das pragmatistische Argument der Dynamik unserer Realität (vgl. 8.a.3.5) und durch das Argument des moralischen Dilemmas als Grenzstein des moralphilosophischen Systemdenkens (vgl. 8.a.3.6). (3.1) Das phänomenologische Argument des moralischen Restbestands 10 wurde vor allem von Bernard Williams, aber auch von Vgl. u. a. Williams 1965a sowie Marcus 1980 sowie Sinnott-Armstrong 1988. Das Argument wird im 6. Kapitel diskutiert.
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Ruth B. Marcus und Walter Sinnott-Armstrong verteidigt. Es verweist darauf, dass nach einer Dilemma-Entscheidung häufig Schuldgefühle auftreten, was seinen Grund nur darin haben könne, dass nach der Entscheidung ein ›moralischer Restbestand‹ (engl. moral residue) im Sinne eines immer noch bestehenden moralischen Anspruchs geblieben ist (vgl. 6.a). 11 (3.1.1) Der meistdiskutierte Einwand gegen dieses Argument besagt, dass es irrational wäre, nach einer wohlüberlegten Dilemma-Entscheidung Schuldgefühle zu empfinden, weil man wissen könne, dass man dieselbe Entscheidung unter vergleichbaren Umständen genauso wieder treffen würde. Wie in 6.c ausführlich gezeigt wurde, basiert dieser Einwand jedoch auf einer Verwechselung von Schuldgefühlen und Gefühlen der Reue. Der angelsächsischen Terminologie zufolge sind ›Schuldgefühle‹ (engl. feelings of guilt) emotionale Reaktionen auf das Wissen, einem gewichtigen moralischen Handlungsgrund zuwidergehandelt zu haben, während diejenigen Gefühle ›Reue‹ (engl. remorse) genannt werden, die mit dem Wissen oder der dumpfen Ahnung verbunden sind, dass man eine falsche Entscheidung getroffen hat, die man rückgängig machen würde, falls das möglich wäre. Mit einer Dilemma-Entscheidung muss man nun tatsächlich einem gewichtigen moralischen Handlungsgrund zuwiderhandeln, aber gleichzeitig weiß man, dass man sie nicht rückgängig machen würde, wenn man es könnte, weil man dieselbe Entscheidung so wieder treffen würde. Also wären lediglich Gefühle der Reue nach einer Dilemma-Entscheidung irrational, während Schuldgefühle alles andere als irrational sind (vgl. 6.c). (3.1.2) Einer solchen Verteidigung von Williams’ Argument hält Feldman in seinem Essay Doing the Best We Can von 1986 entgegen, dass es einen »großen Unterschied« gäbe zwischen den »Schuldgefühlen«, die man empfindet, wenn man selbst »etwas Schlimmes verursacht« hat, und denen, die man nach einer wohlbegründeten Dilemma-Entscheidung empfindet, mit der man sich gegen etwas entscheiden muss, »was man moralisch eigentlich tun sollte« 12. Dem ist zuzugestehen, dass es selbstverständlich einen Unterschied macht, ob man einem Diese Prämisse findet sich schon in Lemmon 1962, 108. Es heißt im englischen Wortlaut: »There is a big difference between feeling guilt because you have caused something bad to happen, and feeling guilt because you have failed to do something you morally ought to have done.« Feldman 1986, 203.
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moralischen Handlungsgrund aus freier Entscheidung oder unter dem Druck einer Dilemma-Situation zuwiderhandelt. 13 Es ist vom Standpunkt eines außenstehenden Beobachters schließlich etwas ganz anderes, ob jemand (wie im Falle einer Dilemma-Entscheidung beispielsweise) unabsichtlich und von der Situation gezwungen einem gewichtigen moralischen Handlungsgrund zuwiderhandelt oder ob er das aus freien Stücken und mit voller (böser) Absicht tut. Im ersten Falle wäre der Beobachter wohl bereit, den Akteur zu entschuldigen, und im zweiten nicht (vgl. 6.d). Entgegenzuhalten wäre allerdings, dass der Ausgangspunkt des hier strittigen Arguments nicht objektive Schuld, sondern subjektive Schuldgefühle sind. Diese wiederum sind in ihrer Intensität erfahrungsgemäß weniger davon abhängig, ob jemand freiwillig einem moralischen Handlungsgrund zuwiderhandelt oder nicht, sondern sehr viel mehr davon, wie gewichtig der moralische Handlungsgrund jeweils ist (vgl. 6.d.5.3.1) und wie empfänglich ein individueller moralischer Akteur für Schuldgefühle ist. Deshalb bezweifle ich, dass es vom subjektiven Standpunkt des betroffenen moralischen Akteurs wirklich so einen »großen Unterschied« macht, ob man absichtlich etwas Böses getan hat oder ob man ein Dilemma entscheiden musste. (3.1.3) Den Gegnern 14 des Arguments ist jedoch zuzugeben, dass man aus einem Vorliegen von subjektiven Schuldgefühlen weder schließen kann, dass der moralische Konflikt in einem objektiven Sinne tatsächlich nicht aufgelöst wurde, noch dass sich der Protagonist der Dilemma-Entscheidung objektiv schuldig gemacht hätte (vgl. 6.d.5.3.2). Die von Williams eigentlich (gegen Hare) anvisierte Schlussfolgerung, dass es allen noch so ausgefeilten moralphilosophischen Strategien zum Trotz tatsächlich (unauflösbare) moralische Dilemmata gibt, lässt sich ausgehend vom Faktum der subjektiven Schuldgefühle nach einer Dilemma-Entscheidung also nicht ziehen. Schlussfolgern lässt sich aber immerhin, dass es moralische Konflikte gibt, die sich aus der subjektiven Perspektive der betroffenen moralischen Akteure auch nach gründlichen moralphilosophischen Lösungsversuchen noch als (unlösbare) moralische Dilemmata darstellen (vgl. 6.f). 13 Um solchen Einwänden Rechnung zu tragen, hatte Williams in dem Essay Moral Luck von 1976 eine Unterscheidung zwischen ›Reue nach einer willentlichen moralischen Verfehlung‹ und einem ›Täter-Bedauern im engeren Sinne nach einem Unfall oder nach einer Dilemma-Entscheidung‹ zu etablieren versucht. Williams 1976. Vgl. im Detail 6.c.2.1. 14 Vgl. zu diesem Einwand Foot 1983, 383.
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(3.2) Einem solchen schlagkräftigen Einwand nicht ausgesetzt ist Williams’ zweites prominentes Argument der kontingenten Umstände. Dieses Argument basiert auf der realistischen Prämisse von Sir David Ross, dass moralische Ansprüche »durch bestimmte Umstände« mit »moralischer Bedeutung« 15 in Kraft gesetzt würden. Es besagt, dass moralische Dilemmata unvermeidlich seien, weil die möglichen Konstellationen von Umständen, die moralische Ansprüche in Kraft setzen können, durch kein noch so ausgefeiltes Moralsystem jemals vollständig antizipiert werden können, so dass es moralphilosophisch nicht verhindert werden kann, dass sich widersprechende Ansprüche mit vergleichbarem Gewicht in Kraft gesetzt werden können. 16 Wenn man die realistische Prämisse teilt (und es gibt keinen Grund, sie nicht zu teilen), ist das Argument zweifellos überzeugend (vgl. 3.e.2 sowie 5.c.2.2 sowie 5.c.2.3). (3.3) Thomas Nagel begründet die moralphilosophische Unvermeidbarkeit moralischer Dilemmata mit dem Argument des grundsätzlichen Hiats zwischen personaler und überpersonaler Perspektive (vgl. 7.a). Dieses Argument basiert auf der Prämisse, dass unsere Handlungsgründe aus so heterogenen Quellen stammen und sich formal so grundsätzlich voneinander unterscheiden, dass sie sich weder aufeinander reduzieren noch nach einheitlichem Maßstab gegeneinander abwägen lassen. Das wiederum führt Nagel darauf zurück, dass unsere Praktische Vernunft so konstituiert ist, dass wir zum selben Problem sowohl einen persönlichen (auf unsere eigenen Interessen und Sichtweisen bezogenen) als auch einen überpersönlichen Standpunkt (der die Interessen anderer so berücksichtigt, als wären es unsere eigenen) einnehmen können, wobei wir zwar zwischen beiden Standpunkten hin- und herwechseln, aber beide Standpunkte niemals wirklich ineinander überführen können. Wegen der Heterogenität von Handlungsgründen (die letztlich ihre Ursache in der Verfasstheit unserer Vernunft hat) kann es nach Nagel keine Verfahren geben, die in ausnahmslos allen Fällen des moralischen Konfliktes zu der zweifellos vernünftigsten Entscheidung oder gar zu einer Auflösung des Konflikts führen würden. Das wiederum bedeutet, dass sich das moralische DiEs heißt im englischen Wortlaut: »Each rests on a definite circumstance which cannot seriously be held to be without moral significance«. Ross 1930, 20. Vgl. im Detail 3.a.1. 16 Vgl. zu diesem Argument Williams 1965a sowie Fraassen 1973 sowie Sinnott-Armstrong 1988, 43. 15
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lemma aus unserer alltäglichen moralischen Praxis nicht ausmerzen lässt. Meines Erachtens muss diese Erklärung überzeugen, weil sie auf einer Erfahrung aufruht, die zum wesentlichen Repertoire der Erfahrungen aller selbstkritischen moralischen Akteure gehört: Auf der Erfahrung nämlich, dass sich ein moralischer Konflikt in aller Regel vom Standpunkt meiner persönlichen Interessen und Verpflichtungen grundsätzlich anders als vom überpersönlichen Standpunkt der Berücksichtigung der Interessen und Pflichten von anderen moralischen Akteuren darstellt und dass sich diese Standpunkte in den seltensten Fällen wirklich zur Deckung bringen lassen. Die philosophische Reflexion mag noch so große Fortschritte in Richtung Objektivität machen: Wir können letztlich nicht aus unserer Haut und werden eine Situation immer anders beurteilen, wenn wir persönlich betroffen oder gefordert sind oder wenn die Interessen von Menschen berührt sind, die uns nahestehen und uns eng verbunden sind. Mit Blick auf die Wahrung sozialer Beziehungsgeflechte und Gemeinschaften ist eine solche Parteilichkeit nun auch durchaus angebracht. Gleichzeitig aber wissen wir, dass grundsätzlich alle vom Standpunkt der Moral als gleichwertig zu behandeln sind. Und wie sich an den meisten (wenn nicht sogar an allen) der prominent diskutierten Beispiele für moralische Dilemmata belegen lässt, können aus dieser unüberwindbaren Doppelperspektive unlösbare moralische Konflikte entstehen, die man als solche ›moralische Dilemmata‹ nennen sollte. (3.4) Ein Abkömmling des Arguments der kontigenten Umstände ist Masons Argument der sozialen Rollen. 17 So erklärt Mason das Dilemma des Agamemnon beispielsweise dadurch, dass Agamemnon sowohl Feldherr als auch Vater war. Normalerweise kommen sich diese beiden Rollen nicht ins Gehege, weil man ohne weiteres sowohl Feldherr als auch Vater sein kann. Sobald vom Feldherrn Agamemnon jedoch etwas verlangt wird, was der Vater Agamemnon unter keinen Umständen tun darf, steckt der moralische Akteur Agamemnon in einem moralischen Dilemma. Ein ebenso deutliches Beispiel ist der Fall von Sartres Student. Auch sein moralisches Dilemma erklärt sich aus einer kontingenten Unvereinbarkeit seiner Rollen als französischer Patriot und als Sohn. Nun lassen sich sicherlich nicht alle moralischen Dilemmata als Rollenkonflikte erklären. Dennoch aber liefert Mason eine überzeugende Erklärung zumindest für viele moralische Dilem17
Vgl. dazu Williams 1965a, 288; sowie Mason 1996.
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mata, weil es für die heterogenen Rollen, die wir in verschiedenen Kontexten spielen müssen, ja tatsächlich nicht die eine ›Bezugsrolle‹ gibt, auf die sich die übrigen Rollen reduzieren ließen. (3.5) Mit dem Argument der Schuldgefühle, dem Kontingenzargument, dem Argument der Doppelperspektive und dem Argument der sozialen Rollen sind die vier wichtigsten Argumente der angelsächsischen Debatte für die Annahme der Möglichkeit des moralischen Dilemmas genannt. Im Sinne des amerikanischen Pragmatismus möchte ich fünftens auch das Argument der Dynamik unserer Realität ins Feld führen. Für den Pragmatismus befindet sich die Welt, in der wir leben und handeln, durch menschliche und natürliche Einflüsse in ständiger Veränderung. Insofern gehört es für den Pragmatismus einem prinzipiellen Fallibilismusvorbehalt zufolge zu den Grundregeln moralischer Klugheit, dass unsere moralischen Überzeugungen nicht statisch verstanden werden dürfen, weil sie sich als Regeln unseres Handelns dynamisch den sich verändernden Kontexten unseres Handelns anpassen müssen. Wir leben heute in sozialer, ökonomischer und technischer Hinsicht grundsätzlich anders, als die Menschen im Mittelalter oder der Antike gelebt haben, und ein Europäer lebt grundsätzlich anders als ein Asiate, weil sich die jeweiligen Lebenswelten unterscheiden. Moralsysteme müssen den Lebenswirklichkeiten entsprechen, und wenn sich die Lebenswirklichkeiten ändern (so lautetet der Grundgedanke der pragmatistischen Moralphilosophie 18), dann müssen sich auch unsere Moralsysteme ändern. Das wiederum heißt, dass es im Zuge solcher Anpassungs- und Änderungsprozesse zu moralischen Dilemmata kommen kann, weil das neue und das alte Moralsystem noch nicht wieder miteinander in harmonischen Einklang gebracht worden sind. 19 (3.6) Für die systematische Unvermeidbarkeit moralischer Dilemmata durch entsprechende moralphilosophische Strategien spricht schließlich auch die paradoxe Tatsache, dass ausgerechnet dann moralische Dilemmata zu entstehen scheinen, wenn an bestimmten moralphilosophischen Prinzipien mit letzter systematischer Konsequenz festgehalten wird. Zur Stützung dieses Arguments des moralischen Di-
Vgl. zur pragmatistischen Moralphilosophie pars pro toto James 1904 sowie Mead 1908 sowie Mead 1923 sowie Dewey 1891 sowie Dewey 1908a sowie Rorty 1994. 19 Der pragmatistische Fallibilismusvorbehalt bedeutet nicht unbedingt einen moralischen Relativismus, weil es auch in einem dynamischen Realismus einen stabilen Kern von moralischen Überzeugungen geben kann. 18
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(b) Die Konsequenz für die Moralphilosophie
lemmas als Grenzstein des moralphilosophischen Systemdenkens lässt sich vor allem Kants Schrift Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen von 1797 ins Feld führen. Wie in 5.c.5 ausführlich gezeigt wird, schafft Kant hier ein Dilemma, das es aus der Perspektive unserer alltäglichen moralischen Intuitionen gar nicht geben würde, indem er den Kategorischen Imperativ mit letzter systematischer Konsequenz stur zur Anwendung bringt. Tatsächlich käme ja niemand auf die Idee, dass man einem potentiellen Mörder den Aufenthaltsort seines Freundes mitzuteilen hat! Das seltsame Dilemma, das Kant in seiner Spätschrift diskutiert, entsteht überhaupt nur deshalb, weil der späte Kant keinen Zentimeter von seinem systematischen moralphilosophischen Programm abzuweichen bereit ist, zu dem nun einmal auch ein striktes Aufrichtigkeitsgebot gehört. Denselben Stellenwert als Grenzstein eines moralphilosophischen Systemdenkens hat beispielsweise das Jim-Dilemma, welches Williams gegen den Utilitarismus konstruiert hat. 20 Die Tatsache, dass manche moralische Dilemmata durch ein allzu striktes moralphilosophisches Systemdenken überhaupt erst entstehen, zeigt in meinen Augen besonders deutlich, dass ein striktes moralphilosophisches Systemdenken sicherlich keine Lösung für das Problem des moralischen Dilemmas sein kann. Damit komme ich abschließend zu dem Resultat, dass es tatsächlich keine Strategien zu geben scheint, mit denen sich alle moralischen Dilemmata systematisch vermeiden bzw. sicher auflösen ließen. Daraus lässt sich zwar sicherlich nicht schließen, dass es moralische Dilemmata in einem objektiven Sinne tatsächlich gibt. Es könnte schließlich sein, dass die sichere Strategie schlicht noch nicht gefunden worden ist. Schließen lässt sich aber immerhin, dass das Problem des moralischen Dilemmas für das Selbstverständnis der Moralphilosophie weiterhin besteht. Die Moralphilosophie tut also gut daran, mit der Möglichkeit moralischer Dilemmata weiterhin zu rechnen.
(b) Die Konsequenz für die Moralphilosophie In der angelsächsischen Debatte wurden vor allem zwei Auffassungen zur der metamoralischen Frage vertreten, was es für das Selbstver20
Williams 1988, 34.
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ständnis der Moralphilosophie als systematische normative Wissenschaft bedeuten muss, dass es keine sicheren moralphilosophischen Strategien zur systematischen Vermeidung moralischer Dilemmata zu geben scheint. (1) In seinem Essay Ethical Consistency von 1965 hatte Williams die Überzeugung verteidigt, dass sich moralische Dilemmata weder »systematisch vermeiden« noch »restlos lösen« 21 lassen (vgl. 6.a.3). In den Abhandlungen Morality von 1972 und Conflict of Values von 1979 zieht er dann auch genau die Konsequenz, die er laut Ross, Hare und Davidson (vgl. 1.a und 1.c) ziehen sollte: die Konsequenz nämlich, dass die Moralphilosophie wegen des Problems des moralischen Dilemmas den Anspruch einer systematischen normativen Wissenschaft aufgeben und sich stattdessen nur noch als Mittlerin zwischen privaten moralischen Intuitionen und den öffentlichen Regelsystemen verstehen sollte (vgl. 6.h). 22 Zu einer anderen Konsequenz kommt Thomas Nagel. (2) Nagels Philosophie des moralischen Dilemmas (vgl. Kapitel 7) sticht aus der angelsächsischen Debatte heraus, weil er die Möglichkeit des moralischen Dilemmas zugesteht, aber dennoch nicht zu einer defätistischen Kapitulationserklärung der Moralphilosophie gelangt. Wie Williams, Marcus, Sinnott-Armstrong und andere, so ist Nagel einerseits ebenfalls von der grundsätzlichen systematischen Unvermeidbarkeit moralischer Dilemmata überzeugt (vgl. 7.a und 8.a.3.3). Anderseits steht Nagel mit Hare und anderen auf dem Standpunkt, dass die Moralphilosophie das Problem bei den Hörnern packen und eine Strategie des adäquaten Umgangs mit der Bedrohung durch das moralische Dilemma entwickeln muss (vgl. 7.c), damit die Moralphilosophie den ihr wesentlichen Anspruch auf systematische Handlungsorientierung für vernünftige Akteure nicht aufgeben muss. Dabei erwartet Nagel von der Moralphilosophie allerdings deutlich weniger als Hare. Hares kritisches Denken zielt auf die systematische Vermeidung des Problems des moralischen Dilemmas ab, indem es letztlich die bestmögliche Lösung jedes moralischen Konflikts aus der metaphysischen Perspektive des Erzengels anvisiert. Nagels Methode hingegen zielt nur 21 22
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Williams 1965a, 285. Vgl. Williams 1972 sowie Williams 1979.
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(b) Die Konsequenz für die Moralphilosophie
auf das ab, was Menschen tatsächlich leisten können, nämlich auf eine möglichst gut begründete Entscheidung auch derjenigen Konflikte, die sich in der moralischen Praxis als moralische Dilemmata darstellen. Dabei beansprucht Nagels Methode ausdrücklich nicht, moralische Dilemmata systematisch vermeiden und alle moralischen Konflikte eindeutig lösen zu können. (2.1) Die wichtigste Pointe von Nagels Moralphilosophie besteht damit darin, dass er den Anspruch der Moralphilosophie auf systematische normative Orientierungsleistungen für vernünftige moralische Akteure aufrechterhält, obwohl er nicht glaubt, dass eine Moralphilosophie möglich ist, welche die Lösungen für alle moralischen Konflikte aus einigen ersten Axiomen und Prinzipien deduktiv herleiten könnte. (2.1.1) Für Autoren wie Ross und Hare sind die beiden Ansprüche der strengen deduktiven Konsistenz eines moralphilosophischen Systems einerseits und der vernünftigen normativen Orientierungsleistung für moralische Akteure andererseits zwei Seiten einer Medaille. Wie in 1.c skizziert, kann die Moralphilosophie solchen Autoren zufolge ihren Anspruch einer systematisch handlungsleitenden Wissenschaft nur aufrechterhalten, wenn sie erste Axiome und Prinzipien bereitstellt, aus denen sich eindeutige Lösungen für alle Konflikte deduzieren lassen. Wenn es hingegen mit dem moralischen Dilemma moralische Konflikte gibt, für die sich widersprechende moralische Handlungsanweisungen ableiten lassen, muss die Moralphilosophie diesen Anspruch aufgeben, weil sie die moralischen Akteure verwirrt. Insbesondere Hare hatte deshalb gefordert, dass eine Moralphilosophie die ›Krankheit‹ des moralischen Dilemmas heilen können müsse. (2.1.2) Nagel trennt die beiden Ansprüche, indem er den deduktivsystematischen Charakter der Moralphilosophie aufgibt, aber dennoch den Anspruch der systematischen Orientierung für moralische Akteure verteidigt. Für Nagel kann eine Moralphilosophie kein deduktivkonsistentes Systemgebäude sein, weil die Quellen unserer Handlungsgründe zu verschiedenartig sind (vgl. 7.a), als dass sie sich aufeinander reduzieren oder mit einem einheitlichen Maßstab gegeneinander abwägen ließen. Tatsächlich muss sie nach Nagel aber auch keine deduktive Wissenschaft sein, um den Anspruch einer systematischen Orientierung aufrechtzuhalten. Eine systematische Orientierung findet nämlich auch statt, wenn die Moralphilosophie die moralischen Akteure durch die Methode der sukzessiven Objektivierung in Das moralische Dilemma
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die Lage versetzen kann, möglichst gut begründete Entscheidungen auch für diejenigen moralischen Konflikte zu treffen, die sich in der moralischen Praxis als moralische Dilemmata darstellen. Wie in 7.d gezeigt, setzt sich Nagel in seinem Essay Fragmentation of Value ausführlich mit der Frage auseinander, ob man die »Hoffnung auf eine systematische Ethik« aufgeben müsse, sobald man bezweifelt, dass sich eine jemals »vollständig generalisierbare« moralphilosophische »Theorie des rechten Handelns« 23 entwickeln lassen wird. Wie Nagel mit Hinweis auf die Rechtswissenschaft überzeugend zeigt, kann der Anspruch einer systematisch handlungsleitenden normativen Wissenschaft durchaus auch dann aufrechterhalten werden, wenn eine Wissenschaft nicht in dem Sinne ein ›normatives System‹ ist, dass sich aus einigen ersten Prinzipien und Axiomen für alle konkreten Einzelfälle eindeutig herleiten lässt, was getan werden soll. (2.2) Eine zweite Pointe besteht darin, dass Nagels Moralphilosophie die individuellen Akteure nicht supererogatorisch überfordert, weil die Einbeziehung der personalen Perspektive im Zuge der sukzessiven Objektivierung des Standpunkts ausdrücklich gefordert ist. Wie Kants Schrift Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen ja zeigt, kann eine streng deduktive Methode in der Moralphilosophie zu moralischen Urteilen führen, welche nicht nur kontraintuitiv sind (vgl. 8.a.3.6), sondern welche die moralischen Akteure auch moralisch überfordern. 24 Es ist nicht nur falsch, sondern auch eine Zumutung, wenn einem Akteur durch eine Moralphilosophie ›bewiesen‹ wird, dass er seinen Freund opfern muss, um am Aufrichtigkeitsgebot festhalten zu können. Genauso ist es eine moralische Zumutung, wenn der Utilitarismus darlegt, dass Jim natürlich einen Indianer töten muss, um die übrigen Indianer zu retten. Nagels Moralphilosophie kann zwar das Jim-Dilemma nicht lösen. Aber dafür befiehlt sie auch nicht, dass etwas in einem metaphysisch-eindeutigen Sinne getan werden müsste, was die moralischen Akteure moralisch überfordern würde. Hares Erzengel sind in keiner Weise egoistisch oder parteiisch. Deshalb können sie die Handlungsanweisungen eines strengen moralphilosophischen Systemdenkens auch dann befolgen, falls diese HandlungsanweisunNagel 1977, 192. Es ist deshalb in meinen Augen alles andere als ein Zufall, dass sich Hare in Moral Thinking so ausführlich mit dem Problem der moralischen Supererogation befasst. Vgl. Hare 1981, 269–277 sowie Raters Forthcoming. 23 24
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(b) Die Konsequenz für die Moralphilosophie
gen supererogatorischer Natur sind. Nagels Moralphilosophie vermeidet diese Zumutungen für menschliche Akteure durch die Einbeziehung ihrer personalen Perspektive. (2.3) Eine dritte Pointe besteht darin, dass Nagels Moralphilosophie handlungsfähiger macht, weil sie auch epistemisch nicht überfordert. Das wird ebenfalls im Vergleich zur Hares Moralphilosophie deutlich. Mit Hare muss man den metaphysischen Standpunkt von Erzengeln anstreben, um im Idealfall die bestmögliche Entscheidung treffen zu können. Weil menschliche moralische Akteure diesen Standpunkt jedoch per definitionem nicht erreichen können, sind menschliche Akteure zumindest von denjenigen Konflikten epistemisch überfordert, die sich in der moralischen Praxis als moralische Dilemmata darstellen. Das aber heißt, dass menschliche moralische Akteure gegenüber solchen Konflikten niemals zu einem moralischen Urteil gelangen können, das sie dann auch in die Tat umsetzen können. 25 Mit Nagel müssen die menschlichen moralischen Akteure hingegen lediglich eine möglichst gut begründete Entscheidung treffen. Das heißt, dass sie nur etwas leisten müssen, was sie (Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel) leisten können. Und das wiederum heißt, dass sie auch gegenüber den hier strittigen moralischen Konflikten irgendwann zu einem moralischen Urteil gelangen können, das sie in die Tat umsetzen können, die sich in der alltäglichen moralischen Praxis als moralische Dilemmata darstellen. Damit ist Nagels Moralphilosophie also auch pragmatisch denjenigen Moralphilosophien vorzuziehen, welche die eindeutigen Lösungen aller moralischen Konflikte aus ersten Axiomen deduktiv herleiten wollen, weil Nagels Moralphilosophie die moralischen Akteure epistemisch nicht überfordert, indem sie lediglich eine wohlbegründete Entscheidung eines moralischen Konflikts einfordert. (2.3.1) Dem lässt sich mit Feldmann und Foot nun entgegenhalten, dass jenseits eines Gottesstandpunkts aus der Perspektive menschlicher moralischer Akteure eine gut begründete Entscheidung eines moralischen Konflikts seiner Auflösung gleichzusetzen sei. 26 Der Unterschied ist jedoch schnell benannt: Hare und andere setzen voraus, dass es die bestmögliche Entscheidung jedes Konflikts gibt. Eine solche im superlativischen Sinne ›bestmögliche Entscheidung‹ kann man wohl Dasselbe epistemische Überforderungsproblem weisen die Strategien des monistischen moralischen Realismus auf (vgl. 8.a.1.2). 26 Vgl. Foot 1983 sowie Feldmann 1986. 25
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tatsächlich als solche mit der Auflösung eines Konflikts gleichsetzen. Wenn Nagel hingegen nur von einer ›gut begründeten‹ Entscheidung spricht, lässt er die Möglichkeit offen, dass es andere mögliche Entscheidungen gibt, die sich ebenfalls gut begründen ließen. Damit macht Nagel im Gegensatz zu Autoren wie Ross und Hare keinen Hehl daraus, dass auch eine noch so gut begründete Entscheidung eines moralischen Konflikts anders als eine Auflösung nicht eindeutig und zweifelsfrei sein wird. Das wiederum entspricht der Erfahrung mit denjenigen moralischen Konflikten, die sich auch nach reiflicher moralphilosophischer Abwägung als Kandidaten für moralische Dilemmata behaupten. Es entspricht der Erfahrung, dass es moralische Konflikte zu geben scheint, für die es keine Auflösung im Sinne einer ›bestmöglichen Entscheidung‹ gibt, weil alle möglichen Entscheidungen falsch zu sein scheinen (vgl. 6.c.8.3) oder weil es vergleichbar gewichtige Gründe für entgegengesetzte Entscheidung zu geben scheint (vgl. 2.a). (2.3.2) Dem könnte man mit Robin Celikates entgegenhalten, dass der Begriff ›moralisches Dilemma‹ inflationär verwendet würde, wenn alle moralischen Konflikte als ›moralische Dilemmata‹ bezeichnet würden, die sich zwar entscheiden, aber nicht restlos auflösen lassen. 27 Diesem wichtigen Einwand ist entgegenzuhalten, dass es im vorliegenden Zusammenhang der verkürzten Redeweise vom ›moralischen Dilemma‹ zum Trotz eigentlich um ›echte teuflische reale reine moralische Dilemmata‹ geht (vgl. 2.f.6). Solche Dilemmata verlieren ihren fatalen Dilemma-Charakter nämlich auch dann nicht, wenn sie mit guten Gründen entschieden werden. So könnte man beispielsweise annehmen, dass eines von Sophies Kindern durch eine schwere Infektion geschwächt ist. In einem solchen Fall müsste sich Sophie wohl für das gesunde Kind entscheiden, weil es im Lager die größeren Überlebenschancen hätte. Diese Entscheidung wäre zweifellos die richtige Entscheidung im Sinne des Arguments der bestmöglichen Entscheidung. Das bedeutet aber nicht, dass Sophies Situation deshalb kein Dilemma mehr wäre. Sophies Entscheidung wäre zwar gut begründet, aber trotzdem wäre sie moralisch falsch, weil es unter allen denkbaren Umständen moralisch verboten ist, sein Kind ins Gas zu geben. Damit bleibt Sophies Situation aller guten Entscheidbarkeit zum Trotz ein ›moralisches Dilemma‹ im hier einschlägigen teuflischen Sinne des Begriffs. Diesen möglichen Einwand verdanke ich Robin Celikates während der Tagung Was tun, wenn alles falsch ist? am KWI (Essen) am 15. 7. 2011.
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(c) Die pragmatischen Konsequenzen für die Angewandte Ethik
Insbesondere das macht den Unterschied zwischen einer systematischen Vermeidung bzw. Auflösung aller moralischen Dilemmata im Sinne Hares und einer gut begründeten Entscheidung im Sinne Nagels aus. Das metamoralische Problem der angelsächsischen Debatte bestand in der Frage, welche Konsequenzen für das Selbstverständnis der Moralphilosophie als systematische normative handlungsleitende Disziplin gezogen werden müsse, falls es sich erweisen sollte, dass sich moralische Dilemmata nicht prinzipiell lösen bzw. nicht systematisch vermeiden lassen. Wie die angelsächsische Debatte gezeigt hat, scheint man genau das zugestehen zu müssen: Allem Anschein nach lassen sich moralische Dilemmata tatsächlich nicht systematisch vermeiden. Es gibt moralische Dilemmata, die man nicht auflösen kann (vgl. 8.a.3). Thomas Nagel hat der Moralphilosophie einen alternativen dritten Weg gegenüber dem aussichtslosen Versuch einer systematischen Vermeidung bzw. Auflösung aller moralischen Dilemmata einerseits (vgl. 8.a.1 und 8.a.2) und der Kapitulation der Moralphilosophie vor dem Problem des moralischen Dilemmas andererseits (vgl. 8.b.1) mit der Auffassung aufgezeigt, dass die Moralphilosophie dem Zugeständnis der systematischen Unvermeidbarkeit moralischer Dilemmata zum Trotz ihren Anspruch auf systematische normative Handlungsorientierung aufrechterhalten kann, wenn sie dazu anleitet, moralische Konflikte systematisch mit möglichst guten Begründungen zu entscheiden. Damit hat Thomas Nagel der Moralphilosophie einen Weg aufgezeigt, wie sie im Falle eines moralischen Dilemmas zwar nicht ihren Anspruch auf strenge deduktive Konsistenz, aber immerhin doch den eigentlich wichtigen Anspruch auf vernünftige systematische Orientierungsleistung für moralische Akteure aufrechterhalten kann, ohne deshalb gegen die alltägliche moralische Erfahrung die Möglichkeit moralischer Dilemmata ableugnen zu müssen.
(c) Die pragmatischen Konsequenzen für die Angewandte Ethik und die moralischen Akteure Mit diesem dritten Weg hat Nagel die Moralphilosophie vor der Kapitulation vor dem Problem des moralischen Dilemmas bewahrt, ohne dass er die falsche Illusion geweckt hätte, dass die Moralphilosophie Das moralische Dilemma
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8. Das moralische Dilemma als pragmatisches Problem
das Problem des moralischen Dilemmas systematisch ausmerzen könnte. Das bedeutet aber nicht, dass damit schon alle Probleme gelöst wären, die die Möglichkeit des moralischen Dilemmas für die Praktische Philosophie aufwirft. Wie in 1.d hervorgehoben wurde, bedroht die Möglichkeit des moralischen Dilemmas schließlich nicht nur die Moralphilosophie in ihrem Selbstverständnis als systematische normative Disziplin, sondern auch die Angewandte Ethik und die individuellen moralischen Akteure, die bei der professionellen Angewandten Ethik Rat und Orientierung suchen. (1) Die Angewandte Ethik ist diejenige philosophische Disziplin, welche dem traditionellen 28 Verständnis zufolge die von der Moralphilosophie entwickelten Strategien zur Konfliktlösung anwendet, um konkrete moralische Probleme zu lösen. Nachdem nun aber festzustehen scheint, dass es moralische Dilemmata gibt, die sich mit keiner moralphilosophischen Strategie sicher lösen lassen, muss eine deutliche Leistungsgrenze für die Angewandte Ethik eingezogen werden. Sie kann auf keinen Fall als eine normative Disziplin verstanden werden, die für alle konkreten moralischen Probleme eindeutig sagen könnte, was zu tun und zu lassen ist. Zumindest gegenüber den unlösbaren moralischen Dilemmata würde sie sich mit einem solchen Anspruch etwas anmaßen, was sie der angelsächsischen Debatte zufolge nicht leisten kann: Wenn die Moralphilosophie keine sicheren Strategien zur systematischen Vermeidung aller moralischen Dilemmata und Auflösung aller moralischen Konflikte anbieten kann, kann die Angewandte Ethik auch nicht beanspruchen, für jedes konkrete moralische Problem mit Hilfe solcher Strategien eindeutig sagen zu können, was zu tun ist. Ich bin mir bewusst, dass ich mit meinem Plädoyer für Nagels Auffassung von Angewandter Ethik als einer ›Beratungs-Disziplin‹ spätestens seit Beauchamp u.a. 1989 offene Türen einrennen werde. Tatsächlich beanspruche ich auch gar nicht, ein ›neues Berufsbild für die Angewandte Ethik‹ entwickelt zu haben, wenn ich Nagels Etikett übernehme. Ich denke aber immerhin, mit dem Hinweis auf die Möglichkeit unlösbarer moralischer Dilemmata ein neues Argument geliefert zu haben, warum die Angewandte Ethik gerade bei den besonders kniffligen moralischen Konflikten ›nur‹ beraten sollte, die Kandidaten für unlösbare moralische Dilemmata sind. Das wiederum halte ich für wichtig, weil Entscheidungsträger (wie beispielsweise Ärzte in einem Krankenhaus) an die Angewandte Ethik erfahrungsgemäß eben doch (auch heute noch) häufig den Anspruch stellen, dass ihnen die Entscheidung ihres moralischen Konflikts quasi ›abgenommen‹ oder zumindest von professioneller Seite deutlich als die bestmögliche Entscheidung nahegelegt wird.
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(c) Die pragmatischen Konsequenzen für die Angewandte Ethik
Thomas Nagel hat in seinen kurzen Skizzen zu einer ›Moralphilosophie der Zukunft‹ (vgl. 7.d) jedoch einen gangbaren Ausweg aus dieser Sackgasse aufgezeigt. Im Kern sieht dieser Weg vor, dass die ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ erst sorgfältig prüfen muss, ob die Diagnose ›moralisches Dilemma‹ zu stellen ist. Anschließend soll sie dem verantwortlichen moralischen Akteur sukzessive zu einer möglichst weitreichenden Objektivierung (vgl. 7.c) seines moralischen Standpunkts verhelfen, indem sie sowohl die einschlägigen moralphilosophischen Argumente als auch die einschlägigen wissenschaftlichen Fakten auf den Tisch bringt, bis der Akteur schließlich in der Lage ist, eine eigene gut begründete Entscheidung zu treffen. Die Pointe gegenüber dem traditionellen Verständnis von ›Angewandter Ethik‹ besteht dabei darin, dass Nagels ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ ausdrücklich die Möglichkeit moralischer Dilemmata zugesteht, weshalb sie nicht mehr nach ›der besten‹ Entscheidung sucht, sondern lediglich nach der Entscheidung, die für die individuellen moralischen Akteure am besten zu verkraften ist. Seine ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ gibt keine Lösungen vor. Sie wiegt die betroffenen moralischen Akteure ausdrücklich nicht in der Illusion, dass es im Falle moralischer Dilemmata eindeutig bessere Gründe für oder wider die eine oder die andere Option geben könnte, so dass der einen oder der anderen Entscheidung schlichtweg jeder vernünftige moralische Akteur zustimmen müsste. Im Gegenteil muss sie in solchen Fällen sogar explizit darauf verweisen, dass auch die Gegenoption gute Gründe auf ihrer Seite hat. (1.1) Ein Vorteil eines solchen eingeschränkten Verständnisses davon, was Angewandte Ethik leisten kann, ist sicherlich darin zu sehen, dass nichts versprochen wird, was nicht gehalten werden kann. Insgesamt würde sich die Angewandte Ethik, wenn sie sich der hier vorgeschlagenen Funktion verpflichten würde, auf ähnliche Weise im Feld der Praktischen Philosophie verorten, wie sich Sokrates dem Platonischen Dialog Charmenides zufolge in der Erkenntnistheorie verortet hat. Diesem Dialog zufolge soll Sokrates die Auffassung vertreten haben, dass der wirklich Wissende auch ein Wissen darüber haben sollte, »was er weiß« und »was er nicht weiß« 29. Im Anschluss daran besagt mein Charmenides-Argument, dass der Angewandte Ethiker die Grenzen seiner Möglichkeiten vielleicht sogar noch besser kennen sollte als der Theoretische Philosoph, damit er (den oft ja sehr drängenden Bit29
Platon 1958c, 175a–c.
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ten der Ratsuchenden zum Trotz) gar nicht erst in die Gefahr gerät, stellvertretend für die Entscheidungsträger nach der einen richtigen Entscheidung zu suchen, wo es die eine richtige Entscheidung von der Sachlage her schlicht nicht geben kann: In Fällen von unlösbaren moralischen Dilemmata nämlich, in denen jede mögliche Handlung moralisch falsch wäre. Das moralische Dilemma gehört zu unserer alltäglichen moralischen Praxis, und sobald sich die Angewandte Ethik mit einem moralischen Dilemma konfrontiert sieht, stößt sie an ihre Grenzen. Es ist wichtig, diese Grenze offen zu benennen, damit die Angewandte Ethik aus dieser Einsicht heraus nicht beansprucht, eindeutige Lösungen benennen zu können, um stattdessen Strategien zur vernünftigen Entscheidungsfindung durch die betroffenen Entscheidungsträger selbst zu entwickeln. (1.2) Ein Problem könnte jedoch darin gesehen werden, dass die ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ zwangsläufig in viele kleine Teildisziplinen zerfallen würde, weil im Prozess der Entscheidung eines moralischen Dilemmas ja nicht nur moralphilosophische Prinzipien und moralische Positionen, sondern auch Fachwissen aus so unterschiedlichen Bereichen wie der Medizin, der Gesetzgebung, der Kriegsführung oder der Politik beispielsweise berücksichtigt werden sollen. Einzelne Angewandte Ethiker sind mit den Ansprüchen überfordert, die von einer solchen Fülle von spezialisiertem Fachwissen ausgeht. Und weil Angewandte Ethik immer von einzelnen Angewandten Ethikern betrieben wird, wird sich die ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ wohl tatsächlich deutlich spezialisieren müssen. Das sollte aber nicht weiter dramatisch gesehen werden, weil es einem Trend entspricht, den die Philosophie bei genauerer Hinsicht eigentlich schon seit ihren Anfängen in der griechischen Antike zeigt. Hier war sie die Universalwissenschaft par excellence, die (zumindest laut Aristoteles) die ersten Prinzipien und Ursachen des Seienden erforschte und deshalb beanspruchte, über Wissen zu jedem Bereich des Seienden zu verfügen. Später wurde die Philosophie dann der Theologie im Sinne einer vernünftigen Hilfswissenschaft untergeordnet. Es folgte spätestens seit Kant eine Aufteilung in Praktische und Theoretische Philosophie. Heute werden innerhalb der Praktischen Philosophie (mindestens) die Bereiche der Metamoral, der Angewandten Ethik, der Moralphilosophie und der Ethik im Sinne einer Lehre vom geglückten Leben unterschieden, wobei im Feld der Angewandten Ethik hochgradige Spezialisierungen zu verzeichnen sind. Betrieben wird unter dem Etikett ›Angewandte 378
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Ethik‹ heute so Unterschiedliches wie Medizinethik, Technikethik, Tierethik und Umweltethik beispielsweise, ohne dass das übergreifende Etikett ›Angewandte Ethik‹ deshalb zu den Akten gelegt würde. Wenn von der hier anvisierten ›Angewandten Ethik der Zukunft‹ also ein hoher Grad an Spezialisierung gefordert wird, scheint nur etwas explizit ausgesprochen zu werden, was schon lange ein genereller Trend der Philosophie im Allgemeinen und der Praktischen Philosophie im Besonderen ist. (1.3) Schwerer fällt ins Gewicht, dass es bislang nur Andeutungen dazu gibt, wie die von Nagel anvisierte ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ genau vorgehen soll. (1.3.1) So begründet Nagel als Moralphilosoph zwar ausführlich, warum zur Entscheidung eines moralischen Dilemmas der ›überpersönliche Standpunkt der Objektivität‹ eingenommen werden sollte, der personale und impersonale Handlungsgründe gleichermaßen mit einbezieht (vgl. 7.c). In seinem Essay The Fragmentation of Value betont Nagel zudem, dass im Entscheidungsfindungsprozess neben den einschlägigen moralphilosophischen und fachwissenschaftlichen Argumenten auch politische und soziokulturelle Aspekte möglichst breite Berücksichtigung finden sollten, weil die Entscheidungen der Angewandten Ethik immer in Wechselwirkungsverhältnissen zu übergreifenden gesellschaftlichen Entscheidungsfindungsprozessen stünden (vgl. 7.d.2). Dann aber bleibt offen, wie solch ein hochkomplexer Prozess des Changierens zwischen dem personalen und dem impersonalen Standpunkt unter zusätzlicher Einbeziehung von moralphilosophischen, fachwissenschaftlichen, politischen und soziokulturellen Aspekten konkret aussehen könnte? Ohne Strategie scheint die Gefahr zu bestehen, dass sich der professionelle Angewandte Ethiker im dichten Urwald der vielen zu berücksichtigenden Aspekte verlaufen wird. Die betroffenen Entscheidungsträger (die ja in aller Regel moralphilosophische Laien sind) wird er dann eher zusätzlich verwirren als unterstützen können. (1.3.2) Vor allem aber scheint man sich mit Nagel schlicht darauf verlassen zu müssen, dass der Entscheidungsträger schon irgendwie ein deutliches intuitives Wissen haben wird, wie ›die Person, die er nun einmal ist‹ das vorliegende moralische Dilemma entscheiden sollte, sobald der ›überpersönliche Standpunkt moralischer Objektivität‹ mit Hilfe des Angewandten Ethikers wenigstens näherungsweise erreicht ist. Das stellt im Rahmen von Nagels Moralphilosophie ein deutliches Das moralische Dilemma
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Manko dar, weil es hier ja zentral zwar nicht um die eine richtige Entscheidung, aber immerhin doch um eine möglichst gut begründete Entscheidung geht, die für andere nachvollziehbar und transparent sein und für die sich der Entscheidungsträger im Nachhinein vor sich und anderen rational rechtfertigen können sollte. Deshalb stellt es eine besonders schmerzliche Lücke dar, dass noch nicht einmal ein Hinweis darauf gegeben wird, welche Art von Überlegungen letztlich den Ausschlag zur Entscheidung eines unauflösbaren Dilemmas geben könnten, sobald der überpersönliche Standpunkt moralischer Objektivität näherungsweise erreicht zu sein scheint. So lässt Nagel in seinem Essay War and Massacre zwar deutlich durchklingen, dass er selbst sich bei aller Einsicht in das Gewicht der entgegengesetzten utilitaristischen Position letztlich für die absolutistische Position entscheiden würde. Was aber für diese Entscheidung letztlich den Ausschlag gegeben hat, bleibt bis in die letzten Zeilen des Essays hinein im Dunkeln. Nagels Überlegungen zu einer ›Ethik der Zukunft‹ sind vor allem deshalb eine noch vorläufige Skizze, weil Nagel zwar ausdrücklich betont, dass unlösbare moralische Dilemmata wegen des Handlungsdrucks mit möglichst guten Gründen entschieden werden müssen, aber dann keinerlei Hinweise gibt, woran sich eine solche Entscheidung orientieren könnte, damit der Entscheidungsträger im Nachhinein wenigstens erklären kann, warum er sich in seiner Dilemma-Situation für die eine und nicht für die andere Handlungsoption entschieden hat, wenn er sich schon der fatalen Tatsache stellen muss, dass er sich mit einem entscheidungsgemäßen Handeln in jedem Fall schuldig machen muss, weil für die entgegengesetzte Handlungsoption vergleichbar gewichtige moralische Gründe gesprochen hätten. Die Vorläufigkeit seiner Überlegungen zur ›Ethik der Zukunft‹ betont Nagel nun ausdrücklich selbst mit dem Diktum, dass sich die »Ethik« unserer Zeit »in einem noch sehr primitiven moralischen Entwicklungsstadium« 30 befände, die einer präzise gerichteten Weiterentwicklung unterzogen werden müsse, ehe sie tatsächlich vernünftige Orientierung für moralische Akteure in Fällen des moralischen Dilemmas leisten kann. 31 Meine Vorschläge zur Weiterentwicklung von Nagels Konzept einer ›Angewandten Ethik der Zukunft‹ werden in den abschließenden Abschnitten 8.d und 8.e meines Buchs unter den Überschriften Das pragmatische Prinzip der 30 31
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Nagel 1986, 320 f. Vgl. im Detail dazu 7.d.2.
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(c) Die pragmatischen Konsequenzen für die Angewandte Ethik
subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung und Eine pragmatistische Nagelprobe am Beispiel des Neugeborenendilemmas vorgestellt. Zuvor aber möchte ich auf zwei Probleme hinweisen, die bei der Entfaltung sowohl des Entscheidungsprinzips als auch der Entscheidungsstrategie für unlösbare moralische Dilemmata berücksichtigt werden müssen. (2) Die schwerwiegendsten Folgen zieht die angelsächsische Diagnose der systematischen Unvermeidbarkeit unlösbarer (und teuflischer und realer und reiner) moralischer Dilemmata nämlich nicht für die Moralphilosophie oder die Angewandte Ethik nach sich, sondern für die moralischen Akteure. Ich möchte das Problem seinem Gewicht zum Trotz mit einem leichten Augenzwinkern das ›Baumarkt-Problem‹ nennen. Es besteht darin, dass die ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ die gesamte Verantwortung für die Entscheidung moralischer Dilemmata den individuellen moralischen Akteuren aufbürden muss, wenn sie sich im Sinne Nagels als Beraterdisziplin versteht. Der traditionellen Auffassung zufolge kann die Angewandte Ethik mit einem Handwerksbetrieb verglichen werden, der bestimmte Reparaturen und Baumaßnahmen zu einem relativ hohen Preis durchführt, ohne dass der Bauherr über alle Einzelheiten informiert würde, wobei der Betrieb im Nachhinein auch die Haftung übernimmt. Nagels Angewandte Ethik gleicht hingegen einem Baumarkt, in dem man das Material und die Einzelteile für seine Bauvorhaben kaufen und eventuell auch einen kurzen Crash-Kurs über die Grundlagen der adäquaten Handhabung des einschlägigen Werkzeugs und Materials absolvieren kann, der einen dann aber sowohl mit der eigentlichen Ausführung des Bauvorhabens als insbesondere auch mit den eventuell angerichteten Schäden allein lässt. (2.1) Dem könnte man nun entgegenhalten, dass auch die traditionelle Angewandte Ethik dem Akteur die Verantwortung nicht abgenommen habe. Obwohl dem zuzustimmen ist, konnte sie dem Akteur aber doch zumindest das schlechte Gewissen und die subjektiven Schuldgefühle ersparen, wenn sie vorexerzieren konnte, warum eine Entscheidung alternativlos und in einem metaphysischen Sinne richtig und geboten sein soll. Die ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ hingegen muss nicht nur auf eine solche Entlastung der moralischen Akteure in vielen Fällen völlig verzichten. Nein, sie muss ihm im Gegenteil in einigen Fällen sogar erklären, dass er sich unausweichlich schuldig machen muss, weil es für seinen Konflikt keine Lösung gibt, mit der er Das moralische Dilemma
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sich nicht in gewissem Maße schuldig machen würde, und noch nicht einmal die eindeutig bestmögliche Entscheidung. (2.2) Der Unterschied zwischen einer von der Angewandten Ethik definitiv als Lösung oder als bestmögliche Entscheidung behaupteten und einer nur relativ gut begründeten Entscheidung eines moralischen Dilemmas ist aus der Sicht des moralischen Akteurs alles andere als banal. Während es für ihn bei einer durch eine äußere professionelle Instanz vorgegeben Lösung oder bestmöglichen Entscheidung keinen Grund gibt, daran zu zweifeln, dass er die richtige Entscheidung getroffen hat, sind solche Zweifel bei einer lediglich gut begründeten Entscheidung mit Hilfe der Angewandten Ethik im Gegenteil sogar zu erwarten, weil die Angewandte Ethik den Akteur ja ausdrücklich darüber aufklären soll, dass es für die entgegengesetzte Entscheidung ebenfalls sehr gewichtige moralische Gründe gibt. Im Sinne Nagels könnte die ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ dem Akteur redlicher Weise keine Sekunde lang die Illusion lassen, dass seine Entscheidung die einzig richtige Entscheidung sein könnte, weil es zu ihren Aufgaben gehört, den Akteur über seine fatale Dilemma-Situation einschließlich ihrer Konsequenzen in vollem Umfang aufzuklären. Damit wird der Akteur geradezu darauf gestoßen, dass er allem Ringen zum Trotz am Ende eben doch die falsche Entscheidung bzw. nicht die beste aller möglichen Entscheidungen treffen könnte. Das wiederum heißt, dass er auch nach einem noch so gründlichen Abwägungsprozess noch Restzweifel haben muss, ob er sich tatsächlich so richtig wie eben möglich entschieden hat. (2.2.1) Solche Restzweifel des moralischen Akteurs sind vom Standpunkt der ›Angewandten Ethik der Zukunft‹ zum einen ernst zu nehmen, weil sie handlungshemmend wirken. Wer nicht sicher ist, dass er die bestmögliche Entscheidung getroffen hat, wird zögern, die Entscheidung in die Tat umzusetzen. Das wiederum wäre nicht nur für den Akteur selbst, sondern auch für die ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ fatal, weil es der explizite Anspruch der Angewandten Ethik ist, zum richtigen Handeln und nicht nur zum komplexen moralphilosophischen Abwägen anzuleiten. (2.2.2) Die Restzweifel sind auch deshalb ein Problem für die moralischen Akteure, weil sie die subjektiven Schuldgefühle verstärken, die nach einer Dilemma-Entscheidung bei moralisch sensiblen Akteuren erfahrungsgemäß als Begleiterscheinung des Wissens auftreten, einem gewichtigen moralischen Handlungsgrund zuwidergehandelt zu haben. Die Fragen nach der Rationalität von Schuldgefühlen nach 382
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(d) Subjektive Minimierung der moralischen Verfehlung
einer Dilemma-Entscheidung und nach möglichen Entlastungsgründen sind ausführlich diskutiert worden (vgl. 6.c und 6.d). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir in einem schwachen normativen Sinne von einem moralisch sensiblen Akteur tatsächlich subjektive Gefühle der Schuld nach einer Dilemma-Entscheidung erwarten, weil er ja tatsächlich einem gewichtigen moralischen Handlungsgrund zuwiderhandeln musste. Wir würden es als seltsam abgestumpft erleben, wenn ein Akteur nach der Entscheidung eines (teuflischen) moralischen Dilemmas keine subjektiven Schuldgefühle empfinden würde, obgleich man vom Vorliegen solcher subjektiver Schuldgefühle im Falle einer Dilemma-Entscheidung nicht auf objektive Schuld rückschließen kann (vgl. 8.a.3.1.1). Subjektive Schuldgefühle können im Einzelfall allerdings äußerst quälend sein und im Extremfall zu Depressionen und Traumatisierungen führen. Deshalb sind die subjektiven Schuldgefühle, mit denen bei sensiblen moralischen Akteuren zu rechnen ist, von der ›Angewandten Ethik der Zukunft‹ ebenso ernst zu nehmen wie das Problem der Handlungshemmung. Aus den Problemen der Handlungshemmung und der subjektiven Schuldgefühle ist die Konsequenz zu ziehen, dass die ›Angewandten Ethik der Zukunft‹ ihre Aufgabe nicht nur darin sehen sollte, nach sorgfältiger Prüfung gegebenenfalls die Diagnose ›moralisches Dilemma‹ zu stellen, um im Dialog daran anschließend dann den moralischen Akteur sukzessive zu einer möglichst weitreichenden Objektivierung (vgl. 7.c) seines moralischen Standpunkts zu verhelfen, bis dieser eine eigene gut begründete Entscheidung zu treffen vermag (vgl. 8.c.1). Die ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ muss vielmehr auch Strategien entwickeln, um den Entscheidungsträgern im Umgang sowohl mit den handlungshemmenden Restzweifeln als auch mit den subjektiven Schuldgefühlen zu helfen.
(d) Das pragmatische ›Prinzip der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung‹ Gegen das Problem der subjektiven Schuldgefühle könnte die Angewandte Ethik ein moralphilosophisches Prinzip zum Einsatz bringen, welches ich das ›Prinzip der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung‹ nennen möchte. Das moralische Dilemma
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(1) Unter einem ›moralphilosophischen Prinzip‹ verstehe ich eine allgemeine Regel, mit der moralische Handlungsgründe (wie beispielsweise kulturell etablierte Normen und Werte 32) überprüft werden können, sobald es um ihre generelle Akzeptanz geht oder sobald ein moralisches Urteil gefällt werden muss, weil sie mit anderen moralischen Handlungsgründen in Konflikt stehen. 33 Die prominentesten moralphilosophischen Prinzipien sind wohl Kants Kategorischer Imperativ in seinen verschiedenen Formulierungen und die diversen Varianten des utilitaristischen Prinzips der Maximierung des allgemeinen Wohls. (1.1) Diese beiden Arten von Prinzipien können gegenüber unlösbaren moralischen Dilemmata jedoch nicht sinnvoll zum Einsatz gebracht werden, weil sie jeweils in moralphilosophischen Kontexten entstanden sind, in denen (wie im Falle der Kantischen Moralphilosophie) alle moralischen Konflikte als auflösbar gelten oder denen zufolge sich (wie im Utilitarismus) alle moralischen Konflikte eindeutig entscheiden lassen sollen, weil es ein objektives Ungleichgewicht zwischen konfligierenden moralischen Anforderungen geben soll. Wie ich gezeigt habe, halten diese Prinzipien jedoch nicht, was sie versprechen: Tatsächlich gibt es keine moralphilosophischen Prinzipien, mit denen sich alle moralischen Konflikte zuverlässig auflösen oder eindeutig entscheiden ließen (vgl. zusammenfassend 8.a). Das heißt, dass der Anspruch des hier gesuchten Prinzips geringer sein muss: Es wird kein Dilemma auflösen oder eindeutig entscheiden, sondern den betroffenen moralischen Akteuren lediglich eine pragmatische Hilfestellung bei der persönlichen Entscheidung ihres unlösbaren moralischen Dilemmas leisten können, die sie wegen des unmittelbaren Handlungsdrucks der Dilemma-Situation nun einmal treffen müssen. (1.2) Bei aller Anspruchsreduzierung sollte dieser Anspruch aus pragmatistischer Sicht jedoch unbedingt aufrechterhalten werden: Wenn es schon nicht zur Lösung oder eindeutigen Entscheidung führen kann, kann ein moralphilosophisches Prinzip nur Berechtigung haben, wenn seine Anwendung das Leben von betroffenen moralischen
Vgl. dazu Anm. 14 in Kapitel 2. Damit hat ein ›moralphilosophisches Prinzip‹ in meinem Sprachgebrauch ziemlich genau die Funktion, welche Hare dem ›kritischem Denken‹ zuspricht. Vgl. Hare 1981, 90–114. Erhellende Erläuterungen der beiden zentralen Funktionen des kritischen Denkens finden sich in Hallich 2000, 135–142.
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Akteuren erleichtern kann. Es sollte sich also um ein pragmatisches Prinzip in dem Sinne handeln, dass es eine echte Lebenshilfe für diejenigen moralischen Akteure darstellt, die ein unauflösbares moralisches Dilemma entscheiden müssen. (1.3) Wie in 8.c.1 zusammenfassend dargelegt wurde, werden die Protagonisten unauflösbarer moralischer Dilemmata vor allem durch subjektive Schuldgefühle belastet und gequält. Wenn das Prinzip dem pragmatistischen Anspruch genügen soll, eine Lebenshilfe für die betroffenen Akteure zu sein, muss es also sich also in irgendeiner Weise dem Problem der drohenden subjektiven Schuldgefühle stellen. Wie ebenfalls gezeigt wurde, lassen sich die subjektiven Schuldgefühle nach einer Dilemma-Entscheidung jedoch nicht vermeiden, weil der moralische Akteur ja tatsächlich einem gewichtigen moralischen Handlungsgrund zuwiderhandeln und eine moralische Verfehlung begehen muss, sobald er seine Dilemma-Entscheidung in die Tat umsetzen will. Das bedeutet, dass sich die subjektiven Schuldgefühle im Bestfall vielleicht vermindern, aber nicht verhindern lassen. Das heißt, dass das hier gesuchte Prinzip der pragmatischen Entscheidungshilfe für unlösbare moralische Dilemmata nur ein ›Prinzip der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung‹ sein kann. (2) Es ist hier nicht der Ort, das Prinzip aus den moralphilosophischen Prämissen meiner Philosophie des moralischen Dilemmas detailliert herzuleiten und in seinen Facetten zu entfalten. In aller Vorläufigkeit lässt sich jedoch sagen, dass das pragmatische Prinzip der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung in etwa besagen würde, dass sich ein moralischer Akteur für die Handlungsoption entscheiden sollte, die für ihn persönlich prima facie die etwas weniger schlimme moralische Verfehlung zu sein scheint, sobald er sich mit einer Situation konfrontiert sieht, in der für zwei sich ausschließende Handlungsoptionen jeweils vergleichbar gewichtige moralische Gründe sprechen. Das Prinzip leitet die betroffenen Akteure dazu an, ganz ausdrücklich auch ihre persönlichen moralischen Prioritäten, Fokussierungen und Erfahrungen mit in die Waagschale der Dilemma-Entscheidung zu werfen. Weil erfahrungsgemäß dasjenige am intensivsten erlebt wird, was die größere Abneigung evoziert, könnte der Angewandte Ethiker das Prinzip zur Anwendung bringen, indem er dem betroffenen Akteur die entgegengesetzte Frage stellt, mit welcher der beiden Entscheidungen er persönlich vermutlich schlechter weiterleben würde? Welche Das moralische Dilemma
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Entscheidung hätte in seinen Augen die schlimmeren Folgen? Für welche würde er sich vor sich selbst und vor den Menschen seines Lebensumfelds im Nachhinein vermutlich mehr schämen? Im Erfolgsfall kann der moralische Akteur diese Frage relativ eindeutig beantworten, woraufhin er sich für die entgegengesetzte Option entscheiden sollte. (2.1) Man könnte nun einwenden, dass moralphilosophische Prinzipien wesentlich zu verallgemeinerbaren moralischen Urteilen führen sollten, so dass von einem ›moralphilosophischen Prinzip‹ nicht die Rede sein könne, wenn es ausdrücklich nur zu der Entscheidung anleiten kann, die aus der persönlichen Perspektive eines individuellen moralischen Akteurs als die weniger schlimme Entscheidung erlebt wird. Tatsächlich tragen die betont subjektiven Fragen des Angewandten Ethikers an den betroffenen moralischen Akteur jedoch der Tatsache Rechnung, dass es nun einmal kein Verfahren zur objektiven Minderung der moralischen Verfehlung bei unlösbaren moralischen Dilemmata gibt. Ein solches Verfahren könnte es nur geben, wenn es auch für diese Härtefälle moralischer Konflikte einen objektiven Maßstab zur Unterscheidung der weniger schlimmen von der schlimmeren moralischen Verfehlung gäbe. Wie gezeigt wurde, gibt es einen solchen Maßstab jedoch nicht. Nachdem der Angewandte Ethiker die Betroffenen (so umfassend wie unter dem Zeitdruck der Dilemma-Situation eben möglich) über ihre Situation aufgeklärt hat, bleibt ihm deshalb nur übrig, den Entscheidungsträger zu einer betont persönlichen Einschätzung der Lage zu ermutigen mit den Fragen, welche der beiden Optionen ihm subjektiv die schlimmere zu sein scheint und gegenüber welcher sich bei ihm der größere moralische Widerwillen eingestellt hat. (2.2) Mit der Formulierung, dass sich der Akteur für die Option entscheiden sollte, mit der ihm ›prima facie‹ die weniger schlimme moralische Verfehlung verbunden zu sein scheint, wird zudem berücksichtigt, dass die individuellen Akteure in realen Dilemmata in aller Regel keine Zeit für echte Abwägungen haben. Während der Angewandte Ethiker durch seine professionelle Spezialisierung (vgl. 8.c.1.2) auf die Dilemma-Situation vorbereitet ist, weil er die wissenschaftliche Faktenlage sowie die wichtigsten moralphilosophischen Positionen (vgl. 8.e.3 und 8.e.5) zum vorliegenden Problem gut kennt, werden die moralischen Akteure durch Dilemma-Situationen unvorbereitet überfallen. Trotzdem müssen sie sich schnell entscheiden, weil ein Herauszögern ihrer Entscheidung einer Entscheidung gleichkäme (vgl. 8.e.10). 386
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Das bedeutet, dass das ›Prinzip der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung‹ eine betont grobe Überschlagsrechnung zulassen muss, wenn es darum geht, dass der Akteur herausfinden soll, bei welcher der beiden möglichen Handlungsoptionen er sich vermutlich im Nachhinein subjektiv etwas weniger schuldig fühlen würde. Würde das Prinzip vom Akteur eine sorgfältige Prüfung der beiden Optionen fordern, würde es dem Handlungsdruck der Dilemma-Situation nicht gerecht. (3) Weil es nur zu einer betont subjektiven und betont groben Einschätzung der Lage anleitet, hat das Prinzip offensichtliche Grenzen. (3.1) Dass es weder zu einer eindeutig richtigen Entscheidung noch zu einer Auflösung führen kann, wurde mehrfach betont. Das Prinzip kommt zum Einsatz, nachdem durch den Angewandten Ethiker eine professionelle Dilemma-Diagnose gestellt wurde, welche besagt, dass der vorliegende Konflikt weder aufgelöst noch eindeutig richtig entschieden werden kann (vgl. 8.e.9). Und dann leitet es den Entscheidungsträger lediglich zu einer betont subjektiven prima facie Einschätzung darüber an, welche der beiden Optionen ihm persönlich als individuellem moralischen Akteur in seiner individuellen moralischen Verfasstheit und seinen individuellen moralischen Erfahrungen mit der weniger schlimmen moralischen Verfehlung verbunden zu sein scheint. (3.1.1) Damit kann die Entscheidung offensichtlich nicht beanspruchen, dass alle moralischen Akteure sie genau so treffen müssten. Im Gegenteil kann selbst im Bestfall einer erfolgreichen Anwendung des Prinzips nur eine betont akteursrelative Entscheidung erreicht werden – aber wie gezeigt wurde, wäre es sinnlos, eine objektiv richtige Entscheidung in Fällen von unlösbaren moralischen Dilemmata anvisieren zu wollen. (3.1.2) Tatsächlich kann das Prinzip noch nicht einmal zu einer Entscheidung führen, die der individuelle Akteur selbst im Nachhinein eine ›gute Entscheidung‹ nennen könnte. Eine Dilemma-Entscheidung kann per definitionem keine ›gute Entscheidung‹ sein, weil die moralische Verfehlung, die der Akteur subjektiv für weniger schlimm hält, eine schlimme moralische Verfehlung bleibt. Insofern kann das Prinzip nicht zu einer ›guten‹ Entscheidung führen, sondern lediglich zu einer Entscheidung, die aus der Sicht des Akteurs etwas weniger schlecht ist als die Alternative. Das moralische Dilemma
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(3.2) Man könnte es für unangemessen halten, dass ein moralisches Dilemma mit der Frage entschieden werden soll, bei welcher der beiden Handlungsoptionen sich der Entscheidungsträger in seiner individuellen moralischen Verfasstheit im Nachhinein vermutlich weniger mit Schuldgefühlen quälen muss. Tatsächlich beruht das Prinzip auf der Überzeugung, dass sich ein Akteur für das eigene bessere (bzw. weniger schlechte) Leben entscheiden darf, wenn alle anderen moralischen Kriterien zu einer Patt-Situation führen: Das Prinzip macht die Sorge des Entscheidungsträgers um das eigene zukünftige Wohlergehen zum Zünglein an der Waage. Deshalb ist das Prinzip aber keineswegs ein Einfallstor für moralischen Egoismus oder Amoralismus. Schließlich besagt es ja mit keiner Silbe, dass ein Akteur seine eigenen Interessen in den Vordergrund stellen oder die berechtigten Interessen der betroffenen Anderen gar schlicht ausblenden sollte. Wie schon gesagt wurde, kommt das Prinzip ausschließlich dann zur Anwendung, nachdem von professioneller Seite die extreme Diagnose ›unlösbares moralisches Dilemma‹ gefällt wurde (vgl. 8.e.9). Eine solche Diagnose bedeutet, dass ein moralischer Konflikt auch durch noch so sorgfältiges und langwieriges Abwägen der berechtigten Interessen aller Betroffenen und Beteiligten nicht eindeutig entschieden werden kann. In solchen Fällen (und ausdrücklich nur in solchen Fällen) scheint es sowohl moralisch vertretbar als auch lebensklug zu sein, wenn sich ein Entscheidungsträger für diejenige Option entscheidet, mit der er selbst in seiner eigenen Zukunft vermutlich etwas weniger schlecht wird weiterleben können, weil sie ihm selbst subjektiv die etwas weniger schlimme, die etwas weniger abstoßende und die moralisch etwas weniger bedrohliche Situation zu sein scheint. (3.3) Zuzugestehen ist allerdings, dass für das Prinzip keine Erfolgsgarantie gegeben werden kann. Es wird nicht bei allen moralischen Akteuren sicher zu einer Entscheidung für eine der beiden Handlungsoptionen führen. Dem Prinzip zufolge sollen sich die moralischen Akteure fragen, welche der beiden Optionen ihnen in der Situation selbst prima facie subjektiv moralisch weniger verwerflich zu sein scheint. Es kann vorkommen, dass der Akteur die Frage nicht beantworten will, weil er die Antwort vom Angewandten Ethiker erwartet. Vor allem aber kann es Fälle geben, in denen der Akteur die Frage nicht beantworten kann, weil ihm persönlich beide Optionen prima facie gleich furchtbar zu sein scheinen. Das wäre eine fatale Situation, weil in diesen Fällen die handlungshemmenden Restzweifel durch eine Anwen388
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dung des Prinzips verstärkt würden (vgl. 8.e.10). Spätestens dann stößt das Prinzip an seine Grenzen. (4) In vielen Fällen wird der Entscheidungsträger aber doch in sich hineinhorchen und eine Antwort geben können, die zwar letztlich nur auf einer intuitiven moralischen Abneigung beruht, die aber dennoch eine wichtige Orientierungshilfe für seine persönliche Entscheidung seines moralischen Dilemmas sein kann, weil sie seine individuelle moralische Verfasstheit, seine moralischen Intuitionen und seine einschlägigen Erfahrungen widerspiegelt. Sobald ein Akteur explizit einen Satz der Form ›die Handlung x scheint mir zumindest gerade jetzt die schlimmere Handlung gegenüber der alternativen Handlung y zu sein‹ aussprechen oder aufschreiben kann, hat er sich selbst in der DilemmaSituation als individueller moralischer Akteur positioniert. Und damit wäre pragmatisch viel gewonnen. (4.1) Erstens hätte das Prinzip dann mit der groben prima-facieEinschätzung des moralischen Konflikts zumindest zu dem Minimum an moralischer und moralphilosophischer Reflexion angeleitet, das betroffene moralische Akteure (das gilt ausdrücklich nicht für den Angewandten Ethiker; vgl. 8.f.2.2) unter dem Zeit- und Handlungsdruck von Dilemma-Situationen überhaupt leisten können. 34 (4.2) Zudem hätte der Akteur durch die intuitive Verständigung mit sich selbst zumindest einen Anhaltspunkt, wie er selbst seine moralischen Dilemmata entscheiden könnte. Er wird sich zwar nicht der Illusion hingeben können, die eine objektiv richtige Entscheidungsmöglichkeit gefunden zu haben. Aber er wird zumindest eine Idee haben, welche Entscheidung ihm persönlich prima facie die moralisch schlechtere Entscheidung zu sein scheint. Mehr als diese Orientierungshilfe kann die Angewandte Ethik betroffenen Akteuren in der Entscheidungsphase nicht geben, da gegenüber einem unauflösbaren moralischen Dilemma nun einmal per definitionem alle anderen Entscheidungskriterien versagen. (4.3) Eine Entscheidung für die prima facie subjektiv weniger schlimme Handlungsoption hätte aus Sicht des betroffenen Akteurs
Das könnte den Nebeneffekt haben, dass jede Art von Reflexion (mag sie auch noch so gedrängt, oberflächlich und unzureichend sein) erfahrungsgemäß ein gutes Gegenmittel ist, um nicht in Panik oder Paralyse zu verfallen.
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viertens auch den Gewinn, dass er sich im Nachhinein gegenüber sich selbst und anderen zumindest damit rechtfertigen könnte, diejenige Entscheidung getroffen zu haben, die ihm in der Situation selbst die moralisch weniger schlimme Entscheidung gewesen zu sein schien. Er wird zwar nicht sagen können ›ich habe das getan, was ich für das Beste hielt‹, aber er wird immerhin sagen können ›ich habe getan, was ich für das weniger Schlimme hielt‹ – und wenn alle anderen Rechtfertigungsmöglichkeiten fehlen, ist eine solche Rechtfertigung offensichtlich besser als gar keine Rechtfertigung, weil sie das Ringen des Akteurs um eine verantwortbare Entscheidung für sich und andere nachvollziehbar zum Ausdruck bringt. (4.4) Das Prinzip ist aber vor allem deshalb ein pragmatisches moralphilosophisches Prinzip, weil es zumindest zu einer Minderung der quälenden subjektiven Schuldgefühle beitragen kann, die sensible moralische Akteure nach der Entscheidung eines unauflösbaren moralischen Dilemmas unabhängig von ihrer objektiven Schuld oder Unschuld erfahrungsgemäß oft empfinden. Zwar kann die Angewandte Ethik für das Prinzip nicht die Erfolgsgarantie geben, dass der Akteur wirklich zu der für ihn am wenigsten schlechten Entscheidung gelangt, weil prima-facie-Entscheidungen nun einmal besonders fehleranfällig sind. Aber dennoch macht es eine Orientierung der Entscheidung am Prinzip der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung etwas wahrscheinlicher, dass die Entscheidung des Akteurs letztendlich tatsächlich diejenige Entscheidung ist, die ihn im Nachhinein etwas weniger mit subjektiven Schuldgefühlen belasten wird. Sollte das gelingen, wäre das ein großer Gewinn für den Akteur, welcher allein schon den Einsatz des Prinzips in der Praxis der Angewandten Ethik seinen Unzulänglichkeiten zum Trotz pragmatisch rechtfertigen würde.
(e) Die pragmatistische Nagelprobe am Beispiel des Neugeborenen-Dilemmas Es ist hier nun offensichtlich nicht mehr der Raum, um Nagels Strategieskizzen (vgl. 8.c.1.3) für eine ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ im Detail zu entwickeln oder gar die Probleme der handlungshemmenden Restzweifel (vgl. 8.c.2.1) und der subjektiven Schuldgefühle (vgl. 8.c.2.2 und 8.d) wirklich zu lösen. Um im Sinne eines Ausblicks jedoch zumindest aufscheinen zu lassen, wohin die Reise in zukünftigen An390
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(e) Die pragmatistische Nagelprobe am Beispiel des Neugeborenen-Dilemmas
schlussprojekten zur Angewandten Ethik vielleicht einmal gehen könnte, möchte ich dennoch kurz ein Schema vorstellen, mit dem die ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ vielleicht die Aufgabe einer Hilfestellung zur Auffindung einer möglichst gut begründeten Dilemma-Entscheidung erfüllen kann. Ich habe das Schema eine ›pragmatistische Nagelprobe‹ 35 genannt, weil es die Grundidee von Nagels ›Angewandter Ethik der Zukunft‹ als Berater-Disziplin pragmatistisch gewendet aufnimmt. (i) Nagels Idee von der Angewandten Ethik als Beraterdisziplin habe ich dahingehend aufgegriffen, dass ein professioneller Angewandter Ethiker 36 die Entscheidungsträger mit seiner professionellen Expertise so unterstützen sollte, dass die letztendlich getroffene Entscheidung eine möglichst objektive Entscheidung im Sinne einer rational möglichst gut abgewogenen Entscheidung sein kann, obwohl gerade die besonders brisanten moralischen Konflikte erfahrungsgemäß ja häufig unter enormem Zeitdruck entschieden werden müssen. Während die betroffenen Akteure in aller Regel unvorbereitet und plötzlich von einer Dilemma-Situation überfallen werden, ist der professionelle Angewandte Ethiker in dem Sinne vorbereitet, dass er im Vorfeld schon Erfahrungen mit ähnlich gelagerten moralischen Konflikten gemacht haben wird und die Zeit hatte, sich einschlägiges Fachwissen anzueignen und die wichtigsten moralphilosophischen Positionen zu dem Konfliktfeld zu durchdenken. Insbesondere die (für sich genommen besonders zeit- und arbeitsaufwändigen) Phasen 3 und 5 des unten skizzierten Schemas wird der einschlägig spezialisierte Angewandte Ethiker im Laufe seiner Berufstätigkeit schon so oft durchlaufen haben, dass er für konkrete Anwendungsfälle zumeist nur ein knappes Update brauchen wird. Dadurch hat er eine professionelle Expertise, aufgrund derer der professionelle Angewandte Ethiker dem Zeit-und Handlungsdruck der Dilemma-Situation entgegenwirken kann, indem er die einschlägigen Fakten vorsortiert und einschlägige moralphilosophische Prinzipien und Argumente übersichtlich und auf ihren wesentlichen Kern reduziert ins Spiel bringt. 37 (ii) Ein genuin Die schöne doppeldeutige Formulierung ›Nagel-Probe‹ verdanke ich Ludger Heidbrink während der Tagung Was tun, wenn alles falsch ist? am KWI (Essen) am 15.7.2011. Wichtige Impulse zur Präzisierung des Schemas in der 2. Auflage verdanke ich Susanne Boshammer und Sebastian Laukötter. 36 Wenn ich im Folgenden in der maskulinen Form vom ›Angewandten Ethiker‹ spreche, meine ich selbstverständlich männliche und weibliche Kollegen und Kolleginnen. 37 Damit drängt sich der Einwand auf, dass der Angewandte Ethiker durch ein ›Vor35
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pragmatistisches Verfahren ist die ›pragmatistische Nagelprobe‹ zum einen deshalb, weil moralphilosophische Überzeugungen und Prinzipien als eine Art ›Werkzeug‹ aufgefasst werden, die in bestimmten Konfliktfällen geeigneter sein können als in anderen. Das basiert auf der in der pragmatistischen Ethik schon früh getroffenen methodischen Grundsatzentscheidung, moralphilosophische Prinzipien und Überzeugungen nicht als ›Alleinherrscher‹ im Feld der moralischen Entscheidungen zu betrachten, sondern als situativ mehr oder weniger geeignete Mittel zur Analyse und Bewältigung von moralisch kniffligen Situationen. 38 Im Rahmen einer pragmatistisch gewendeten ›Nagelprobe‹ bestünde die professionelle Expertise des Angewandten Ethikers damit also nicht zuletzt in dem Wissen, welche moralphilosophischen ›Werkzeuge‹ in welchen Situationen hilfreich sind und wo sie ihre Grenzen haben. Der Angewandte Ethiker sollte demnach in möglichst vielen verschiedenen Moralphilosophien zu Hause sein und utilitaristische Prinzipien ebenso anwenden können wie Kants Kategorischen Imperativ beispielsweise, falls die Situation das erfordert. 39 Weitere Grundlagen seiner Beratertätigkeit sind einschlägige Erfahrungen mit ähnlich gelagerten moralischen Konflikten, eine ausgeprägte Kommunikations- und Moderationsfähigkeit und ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen. (iii) Neben diesem ›Werkzeuggedanken‹ ist schließlich auch der Grundgedanke der pragmatistischen Theorie der intellektuellen Problemlösung von John Dewey 40 eingeflossen, dass es in allen Reflexions- und Entscheidungsprozessen immer auch Phasen des kurzen selbstkritischen Rückblicks geben sollte, in denen gegebenenfalls eine Selbstkorrektur vorgenommen werden
sortieren‹ der einschlägigen Fakten und moralphilosophischen Prinzipien die Entscheidung der Entscheidungsträger beeinflussen kann. Dieser Einwand ist berechtigt. Der Angewandte Ethiker kann einem einseitigen Vorsortieren jedoch entgegenzuwirken, indem er sich im Zuge seiner professionellen Vorbereitung immer wieder auch um eine Objektivierung seines Standpunktes bemüht. 38 Vgl. dazu schon Dewey 1891. 39 Die pragmatistische Flexibilität gegenüber verschiedenen moralphilosophischen Prinzipien und Überzeugungen scheint mir eine gute Möglichkeit der Konkretisierung von Nagels moralphilosophischer Kernidee zu sein, dass ein annähernd objektiver moralischer Standpunkt durch ein Changieren zwischen personalem und impersonalem Standpunkt erreicht werden kann. Vgl. 7.c. und 8.e.6. 40 Vgl. dazu insb. Dewey 1908a sowie die Vorstudien in Dewey 1903. Vgl. außerdem Dewey 1916 sowie Dewey 1891 sowie Dewey 1908b sowie Dewey 1925.
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kann. Diesem Grundgedanken verdankt das Schema seine zyklische Struktur 41. Insgesamt könnte die Pragmatistische Nagelprobe zum adäquaten Umgang mit denjenigen moralischen Konflikten, die prima facie ein Kandidat für ein unlösbares moralisches Dilemma zu sein scheinen, etwa so aussehen: 1. Phase der ersten Annäherung 1.1 Vertrauensverhältnis 1.2 Verständigung über die personale Perspektive der Entscheidungsträger 2. Phase der Situationsanalyse 3. Phase der Folgefragen an die beteiligten Wissenschaften 4. Phase der ersten Auswertung 4.1 keine moralischen Probleme → gehe zu 11 4.2 moralische Probleme → gehe zu 5 5. Phase der Sichtung der moralphilosophisch einschlägigen Positionen 6. Phase der gezielten Objektivierung unter Rückbezug auf 1.2 6.1 Lösung → Entscheidung → gehe zu 11 6.2 Weiterer Klärungsbedarf → gehe zu 1.2 oder zu 3 6.3 Dilemma-Verdacht → gehe zu 7 7. Phase der Suche nach einem glücklichen Ausweg 7.1 Ausweg → Entscheidung für den Ausweg → gehe zu 11 7.2 kein Ausweg → gehe zu 8 8. Phase der Dilemma-Diagnose 9. Phase der Entscheidung durch den betroffenen Akteur unter Zuhilfenahme des ›Prinzips der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung‹ 9.1 Entschluss → gehe zu 11 9.2 Handlungshemmung → gehe zu 10 10. Phase des Pontius-Pilatus-Arguments 10.a Entschluss → gehe zu 11 10.b unüberwindbare Restzweifel → gehe zu 3 11. Phase des Handelns 11.a Keine subjektiven Schuldgefühle → Abschluss des Prozesses 11.b Subjektive Schuldgefühle → gehe zu 12 12. Phase der Rituale Vgl. zur zyklischen Struktur der pragmatistischen Problemlösungsmethode Raters 2003a sowie Raters 2003b.
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Erläutern möchte ich das Schema am Beispiel des sogenannten ›Neugeborenen-Dilemmas‹. Dabei geht es um das moralische Problem des adäquaten Umgangs mit denjenigen Säuglingen, die geistig und körperlich so schwer behindert geboren werden, dass ihr Leben von sehr starken Schmerzen und quälendem Leid geprägt wäre, würde man sie mit den heute technisch möglichen Mitteln der Tatsache zum Trotz am Leben halten würde, obwohl zu befürchten ist, dass sie entweder über kurz oder lang dennoch sterben oder aber ein extrem qualvolles Leben mit schweren Behinderungen führen müssen. Es handelt sich um ein Problem, das mit zunehmendem technischen Fortschritt immer drängender zu werden droht. Das begründet sich zum einen darin, dass immer mehr künstliche Befruchtungen (IVF) vorgenommen werden können, was ein erhöhtes Risiko einer Frühgeburt in sich birgt. Ein weiterer Grund ist, dass es immer bessere technische Möglichkeiten gibt, auch sehr schwer behinderte Neugeborene am Leben zu halten. (1) Um das Neugeborenen-Dilemma anschaulich werden zu lassen, möchte ich den Fall des kleinen Simon ins Feld führen, wie er in der Abhandlung An der Schwelle zum eigenen Leben des medizinethischen Arbeitskreises Neonatologie des Universitätsspitals Zürich im Jahr 2002 geschildert wird. Nachdem Simons 28-jährige Mutter schon zwei gesunde Kinder problemlos geboren hat, wird Simon in der 34. Schwangerschaftswoche nach plötzlichen Blutungen mit einem Kaiserschnitt notfallmäßig zur Welt gebracht, weil im Ultraschall keine kindlichen Herztöne mehr feststellbar sind. Simon lebt, aber seine Herztöne sind schwach. Zudem muss er künstlich beatmet werden, er bewegt sich kaum, »sein Gesicht« ist »ausdruckslos, seine Haut fahlblass«. Insofern sind dem Bericht zufolge »bereits die ersten Lebensstunden dieses Kindes« von »einem Maximum an medizinischen Maßnahmen, von viel Stress und Hektik« geprägt. Dennoch wird den Eltern ermöglicht, »den ersten wichtigen Kontakt« zu Simon herzustellen, »das heißt, ihn zu streicheln, mit ihm zu sprechen und ihn spüren zu lassen, daß sie da sind«. Am nächsten Morgen »verschlechtert« sich Simons Zustand »trotz aller Intensivmaßnahmen« jedoch noch einmal deutlich. Nachdem alle verfügbaren technischen Möglichkeiten ausgereizt sind, stellen sich Simons »Überlebenschancen« schließlich als »sehr gering« dar; im »Überlebensfall« wäre »aufgrund des schweren Krankheitsbildes (Sauerstoffmangel, tiefer Blutdruck, Funktionsver-
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sagen sämtlicher Organe)« mit »irreversiblen neurologischen Schäden zu rechnen« 42. (1.1) In einer ersten Phase der Annäherung sollte der ›Angewandte Ethiker der Zukunft‹ ein Vertrauensverhältnis zu den Entscheidungsträgern bzw. zu den verantwortlichen moralischen Akteuren herstellen. Das sind im vorliegenden Fall vor allem die Eltern von Simon, aber auch die beteiligten Ärzte. (1.2) Damit soll die Basis gelegt werden, dass der Angewandte Ethiker die Entscheidungsträger fragen kann, welche Vorerfahrungen sie an die Situation herantragen. Das ist wichtig, damit er weiß, welche personalen Handlungsgründe (vgl. 7.d.7.) zu berücksichtigen sind, wenn es in der sechsten Phase um eine gezielte Objektivierung des Standpunkts der Entscheidungsträger gehen wird. Haben die Entscheidungsträger vielleicht schon einen behinderten Menschen in der Familie? Stellen sich bei ihnen deshalb bestimmte Reaktionen auf die Situation mit besonderer Intensität ein (Dewey spricht vom ›unmittelbaren Werterleben‹)? Die erste Aufgabe des Ethikers muss darin bestehen, den Entscheidungsträgern solche Voreinstellungen deutlich bewusst 43 zu machen, damit die Voraussetzungen dafür geschaffen sind, dass ihre personalen Interessen (vgl. 7.d.7) bei der anvisierten Verobjektivierung ihres Standpunkts nicht aus dem Blick geraten. (2) Moralische Urteile basieren nicht nur auf normativen, sondern auch auf deskriptiven Prämissen. Deshalb sollte eine zweite Phase des Prozesses einer möglichst detaillierten Situationsanalyse gewidmet sein. Weil sich der Angewandte Ethiker professionell spezialisiert hat, ist ihm die Struktur der vorliegenden Situation vertraut, sodass er wissen wird, welche Art von Fragen zu stellen und welche Faktoren zu berücksichtigen sind. (2.1) Mit Unterstützung des Angewandten Ethikers müssen die Entscheidungsträger vor allem ein möglichst klares Bild davon bekommen, welche Handlungsoptionen es prima facie zu geben scheint. Weil der Angewandte Ethiker über eine einschlägige Expertise verfügt, wird
Erzinger-Manea 2002, 73 f. Sollte das Mittel des persönlichen Gesprächs zwischen Entscheidungsträgern und dem professionellen Angewandten Ethiker an seine Grenze stoßen, bietet sich als alternatives Mittel für eine solche Bewusstmachung die autobiographische Narration an. Vgl. dazu Raters 2012.
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er diese Optionen in den meisten Fällen klar auflisten können. Im Falle von Simon scheinen drei Optionen offenzustehen. Eine erste Option bestünde darin, alle intensivmedizinischen Maßnahmen abzubrechen, damit der Säugling rasch eines ›natürlichen Todes‹ stirbt. Eine zweite Option wäre, den Säugling durch ein schnell wirkendes Gift gezielt zu töten, um ihn von seinen Qualen zu erlösen. Eine dritte Option wäre, mit allen verfügbaren intensivmedizinischen Mitteln weiter um das Überleben des Säuglings zu kämpfen. (2.2) Geklärt werden müsste auch, wer von der Entscheidung auf welche Weise betroffen ist. Im Falle von Simon sind Simon selbst sowie seine Eltern und Geschwister unmittelbar betroffen. Betroffen sind aber auch Ärzte und Pflegekräfte sowie die Klinikleitung, welche die zu fällende Entscheidung öffentlich vertreten muss. Betroffen ist letztlich auch die gesamte soziale Gemeinschaft, weil jede Einzelentscheidung über menschliches Leben die allgemeine Wertschätzung des menschlichen Lebens mitprägt. (3) Aus der ersten Situationsanalyse werden sich in aller Regel Folgefragen für die betroffenen Akteure ergeben, die der Angewandte Ethiker in einer dritten Phase teilweise selbst beantworten kann, wenn er sich einschlägig spezialisiert hat (vgl. 8.c.1.2). Für alle weitergehenden Fragen kann sich der Angewandte Ethiker an die beteiligten Fachleute wenden, wobei er wegen seiner einschlägigen Professionalisierung wiederum gezielt wissen wird, welche Fragen zu stellen sind. (3.1) So steht im Falle von Simon sicherlich die Frage im Raum, wie die Chancen stehen, dass der Säugling irgendwann einmal von der Intensivstation in ein Leben mit seinen Eltern entlassen werden kann. Gefragt ist hier die Neonatologie. Den einschlägigen Veröffentlichungen zufolge scheinen sich die Chancen im Einzelfall allerdings kaum abschätzen lassen. Zumindest heißt es bei dem Neonatologen Diego Mieth, dass »die Auffassungen oder Definitionen von Lebensfähigkeit« in höchstem Maße »unterschiedlich« und zudem in signifikantem Maße »vom Zeitgeist und seinen Möglichkeiten« 44 abhängig seien. (3.2) Desweiteren stellt sich die Frage, wie das Leben des betroffenen Säuglings im Bestfall eines Überlebens aussehen würde. Diese Frage richtet sich ebenfalls an die Neonatologie. Falls der Säugling schwere neurologische Schäden davongetragen hat, gibt es die traurige Gewiss44
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heit, dass er ein Leben mit einer schweren Behinderung wird führen müssen. Unsicher sind die Prognosen jedoch in den Fällen, in denen es zum Zeitpunkt der Entscheidung über das weitere Schicksal des Neugeborenen noch zu keinen (schwerwiegenden) neurologischen Schädigungen gekommen ist. Manchmal (und glücklicherweise immer häufiger) entwickeln sich die Frühgeborenen nach einigen Monaten völlig normal; in anderen Fällen kommt es jedoch zu Entwicklungsrückständen, die bis ins Erwachsenenalter zu spüren sind. 45 Dem Neonatologen Kurt von Siebenthal zufolge weiß man lediglich, dass »das Risiko einer beeinträchtigenden Entwicklung« umso »höher« ist, »je früher das Kind geboren wird« 46. Aber selbst dieser Zusammenhang scheint keine unumstößliche Gesetzmäßigkeit zu sein. Nach von Siebenthal kann es auch »riesige Überraschungen« mit Kindern geben, »die eine leidensvolle Zeit mit vielen Komplikationen hinter sich hatten und sich trotzdem prächtig entwickelten«. Zwar sei er immer wieder auch Kindern mit »schweren Entwicklungsbeeinträchtigungen begegnet«. Häufiger habe er beobachten müssen, dass die betroffenen Kinder später »scheu, ängstlich und ohne Selbstverstrauen« gewesen seien. »Viele der überlebenden Frühgeborenen« hätten jedoch nur »geringe entwicklungsneurologische Auffälligkeiten« 47 gezeigt. Wie sich das Schicksal von Frühgeborenen entwickelt, kann also in vielen Fällen nur die Zeit zeigen. (3.3) Wenn es eine Überlebenschance gibt und wenn zudem davon ausgegangen werden muss, dass es durch die Frühgeburt zu Schädigungen des Säuglings gekommen ist, stellt sich die Frage nach der Qualität, die das Leben des Säuglings im Falle eines Überlebens hätte. Wie der Neonatologe Gabriel Duc eingesteht, beurteilen neonatologische Studien allerdings nahezu ausschließlich »das neurologische Ergebnis und Mieth berichtet sogar von einer schwedischen Studie, die einen Zusammenhang zwischen einem »anhaltenden Rückgang der neonatalen Sterblichkeit« und einer »Zunahme der Zerebralparese (zerebrale Kinderlähmung)« in Schweden festgestellt haben will und diesen Zusammenhang mit dem niedrigen Geburtsgewicht von Frühgeborenen erklärt. Mieth 2002, 51. Verwiesen wird auf die Studie Hagberg u. a. 1996. 46 Siebenthal 2002, 97. Weiter heißt es, dass einer »bereits älteren Studie« zufolge bei ca. 50 % der »Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 750 g« später mit »Schulproblemen« sowie mit »motorischen Auffälligkeiten, Beeinträchtigungen beim Sehen und Hören« sowie mit »Verhaltensauffälligkeiten« zu rechnen sei, »worunter ein hoher Anteil dieser Kinder« dann auch »leiden« würde. A. a. O. 97. Verweis auf die Studie Hack u. a. 1994. 47 An der Schwelle zum eigenen Leben 2002, 33. 45
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weniger den Gesamtverlust an Lebensqualität« 48 der Menschen, die einer extremen Frühgeburt zum Trotz das Erwachsenenalter erreicht haben. Insofern muss die Angewandte Ethik jetzt in die Arbeits- und Forschungsgebiete der Psychologie eindringen. Überraschenderweise zeigen einschlägige Studien, dass es keine eindeutige Korrelation zwischen der Schwere einer Behinderung und einer Minderung der subjektiven Lebensqualität zu geben scheint. Christian Kind zufolge gibt es zwar nur »sehr wenige Untersuchungen« darüber »wie ehemalige extrem kleine Frühgeborene selbst sowie ihre Eltern die in der Adoleszenz erreichte Lebensqualität bewerten«. Diese wenigen Untersuchungen würden jedoch zeigen, dass die Betroffenen selbst ihre Lebensqualität in aller Regel »im Vergleich zu einer gleichaltrigen Kontrollgruppe« als »recht gut« bewerten würden, während »Ärzte und Schwestern die Lebensqualität bei ausgeprägter Behinderung deutlich schlechter bewerten« würden als »die ehemaligen Frühgeborenen oder ihre Eltern« 49. Diesen Forschungsstand sollte der Angewandte Ethiker zumindest kurz erwähnen, damit die Tatsache allein, dass Simon im Bestfall eines Überlebens vermutlich ein behindertes Leben führen muss, nicht den Ausschlag für die zu treffende Entscheidung gibt. Das wäre irrational, weil man nicht per se davon ausgehen kann, dass ein behindertes Leben von den Betroffenen als ein nicht lebenswertes Leben empfunden wird. (3.4) Weil von einer Behinderung jedoch in aller Regel auch die Angehörigen betroffen sind, muss das soziale Umfeld und die familiäre Situation des Babys analysiert werden. Hier scheint sich die Situation leider düster darzustellen. Zumindest verweist Max Baumann darauf, dass »empirische Untersuchungen« eine »stark erhöhte Scheidungshäufigkeit« nach der Geburt eines behinderten Kindes sowie signifikant »häufige Störungen bei Geschwistern von behinderten Kindern« sowie »eine starke Einschränkung der freundschaftlichen Beziehungen außerhalb der Familie« 50 belegen würden. Obgleich man solche Faktoren letztlich gegen den Wert eines menschlichen Lebens natürlich nicht in die Waagschale werfen kann, müssen die Entscheidungsträger doch auch über solche Fakten durch den Angewandten Ethiker aufgeklärt werden. 48 49 50
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Duc 2002, 53. Kind 2002, 153. Verwiesen wird auf die Studie Saigal 2000. Baumann 2002, 127 Anm. 5. Verweis auf Zimmermann 1997, 162 f.
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(3.5) Das gewichtigste Entscheidungskriterium sollte darin gesehen werden, inwieweit der Säugling unter seiner Situation generell und unter den intensivmedizinischen Maßnahmen speziell leidet. Wiederum befindet sich die Angewandte Ethik in einem Graubereich der persönlichen Abschätzung, weil es weder gesicherte Untersuchungen darüber gibt, ob schwerstbehinderte Säuglinge unter der relativen Isolation in einem Brutkasten leiden, noch darüber, wie schmerzhaft bestimmte intensivmedizinische Maßnahmen wie beispielsweise das künstliche Beatmen von frühgeborenen Säuglingen erlebt werden. Nach Kurt von Siebenthal und Ruth Baumann-Hölzle sind solche Fragen »vor allem« an das »Pflegepersonal« zu stellen, weil »die betreuenden Schwestern« einen »engeren Kontakt zum Kind als die Ärzte« hätten und »dessen Reaktionen auf die medizinischen Massnahmen« deshalb »besser beurteilen« 51 könnten. Dieses Argument ist zumindest prima facie überzeugend: In einem Fall wie dem von Simon sollte also das Pflegepersonal nach seinem Eindruck befragt werden, ob der Säugling leidet. (3.6) Mit der Rechtsabteilung des Krankenhauses muss der Angewandte Ethiker außerdem die rechtliche Situation prüfen. Das stellt im vorliegenden Fall kein unerhebliches Problem dar, weil es zur Frage nach dem adäquaten Umgang mit schwerstbehinderten Säuglingen noch keine fest etablierte Rechtspraxis gibt. 52 Wie Baumann in seinem Essay Probleme der Neoantologie aus rechtlicher Sicht hervorhebt, stellt sich die Frage nach dem adäquaten Umgang mit schwerstbehinderten Neugeborenen zumindest in denjenigen »Rechtsordnungen« mit besonderer Brisanz, die »eine Fristenlösung oder eine großzügige Indikationenlösung kennen«, da sich »die Grenzen zwischen einer sozial indizierten Abtreibung und der Tötung einer extremen Frühgeburt zu verwischen beginnen« 53. (3.7) Auch die Klinikleitung sollte vom Angewandten Ethiker einbezogen werden, weil geklärt werden muss, welche medizinisch noch Siebenthal u. a. 2002, 84. Vgl. zu einer europaweiten Abhandlung über rechtliche Entscheidungen vergleichbarer Fälle Zimmermann 1997. 53 Baumann 2002, 126, Anm. 3. Verweis auf Scheußliches Problem 1999. Zitiert wird in der Anmerkung auch folgende Passage: »Es ist meines Erachtens inkonsistent, daß eine Frühgeburt in der 26. Woche bereits eine Person mit vollem Personenschutz sein soll; ein entsprechend alter Fötus, der sich aber noch im Mutterleib befindet, nicht.« Zimmermann 1997, 131. 51 52
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möglichen Intensivmaßnahmen finanzierbar sind. Dabei kann es natürlich nicht darum gehen, den Wert eines menschlichen Lebens in Geld aufzurechnen. Ökonomische Überlegungen sind jedoch spätestens dann relevant, wenn die Ressourcen knapp sind und die Überlegung im Raum steht, inwieweit man anderen bedürftigen Menschen Hilfen oder Maßnahmen vorenthalten muss, um einen Säugling wie Simon am Leben zu halten. Die Klinikleitung muss schließlich auch deshalb einbezogen werden, weil sie die getroffene Entscheidung sowohl vor der Politik als auch vor der Öffentlichkeit wird verantworten müssen. (4) In einem nächsten Schritt prüft der Angewandte Ethiker, ob sich nach der ersten expertengestützten Situationsanalyse (vgl. 8.e.3) unter Einbeziehung der personalen Perspektive der Betroffenen (vgl. 8.e.2.1) schon eine eindeutige Lösung des moralischen Konflikts ergibt. (4.1) Sollte sich eine solche Lösung ergeben, kann der Angewandte Ethiker eine konkrete Handlungsempfehlung aussprechen. Natürlich müssen die Entscheidungsträger dieser Empfehlung nicht Folge leisten. Falls sie die Empfehlung jedoch annehmen, kann der Prozess in die elfte Phase der Handlung eintreten (vgl. 8.e.11). (4.2) Da der Angewandte Ethiker allerdings nur in kniffligen Fällen herangezogen wird, dürfte dieser Fall in der Praxis höchst selten eintreten. In den meisten Fällen wird die Methode deshalb in die fünfte Phase der moralphilosophischen Prüfung der Handlungsoptionen eintreten müssen (vgl. 8.e.5). Im Falle von Simon spricht der Neonatologe Gabriel Duc von einem »unvermeidlichen Zusammentreffen« zwischen Moralphilosophie und Neonatologie, weil die Frage im Raum steht, ob »man eine maschinelle Beatmung abbrechen und das Kind sterben lassen« darf, »wenn sich eine schwere (wahrscheinlich irreversible) zerebrale Schädigung zeigt« 54. (5) In der fünften Phase der Nagelprobe sollen die »verfügbaren moralphilosophischen Einsichten« daraufhin untersucht werden, inwieweit sie für das vorliegende Problem »relevant« 55 sind. Dabei besteht die Duc 2002, 42 f. Nagel 1977, 196. In der deutschen Übersetzung steht nicht ›moralphilosophisch‹, sondern ›ethisch‹. Es ist allerdings unzweideutig das gemeint, was in dieser Abhandlung mit dem Adjektiv ›moralphilosophisch‹ gekennzeichnet wird. Vgl. 1.d.1.
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eigentliche ›Kunst‹ des professionellen Angewandten Ethikers darin, im Sinne des pragmatistischen ›Werkzeuggedankens‹ möglichst zielsicher zu wissen, welche moralphilosophische Strategie für welches Problem geeignet ist und welche nicht. So ist es in aller Regel wenig zielführend, wenn man zu Fragen der Verteilungsgerechtigkeit deontologische Standpunkte heranzieht, welche jedoch absolut zentral sind, wenn es (wie im vorliegenden Falle) um die Entscheidung über ein menschliches Leben geht. Dieser Beschränkungsmöglichkeit zum Trotz besteht das zentrale Problem der moralphilosophischen Prüfungsphase aber dennoch darin, dass sie sich im konkreten Anwendungsfall sehr komplex gestalten kann, weil es zu jedem Problem der Angewandten Ethik eine schier unübersichtliche Vielzahl von Veröffentlichungen gibt, die der Angewandte Ethiker im Vorfeld eigentlich möglichst umfassend gesichtet und ausgewertet haben müsste. Weil eine wirklich umfassende Sichtung natürlich unmöglich ist, bleibt dem Angewandten Ethiker hier nur ein ›pragmatischer Mut zur Lücke‹. Die nun folgende paradigmatische Sichtung einiger einschlägiger Positionen kann einen Eindruck von dieser Schwierigkeit verschaffen, weil sie natürlich keineswegs auch nur näherungsweise Vollständigkeit beansprucht. (5.1) Für ein gezieltes Töten lassen sich vor allem präferenzutilitaristische Argumente ins Feld führen. (5.1.1) So würde sicherlich schnell das Argument des nur bewussten Lebens in den Blick geraten, das Peter Singer in seiner Practical Ethics 56 von 1979 entfaltet. Das Buch unterscheidet unbewusstes, bewusstes und personales Leben. Nichtbewusst ist nach Singer das Lebendige, das (wie Gemüse oder Garnelen beispielsweise) weder Schmerzen noch Genuss empfinden kann. Bewusste Lebewesen wie Kanarienvögel, Ratten und Kamele, aber auch menschliche Föten im Singer 1979. Die zweite Ausgabe weicht von der ersten Ausgabe teilweise erheblich ab. Das ist aber nicht in Passagen der Fall, die hier relevant wären. Die Verortung von Singers Präferenzutilitarismus im weiten Feld des Utilitarismus kann hier nicht diskutiert werden. Treffend scheint mir jedoch die Einschätzung von Ralf Stoecker zu sein, dem zufolge Singer in seinen Ausführungen über das bewusste Leben als klassischer (hedonistischer) Utilitarist und in seinen Ausführungen über das personale Leben als Präferenzutilitarist spricht. Kritisch konstatiert Stoecker ein »Nebeneinander von verschiedenen Utilitarismen«, weil es Singer nicht gelungen sei, in Nachfolge von Richard Hare »den klassischen Utilitarismus in den Präferenzutilitarismus zu integrieren«. Stoecker 1999, 262 f.
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fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft sowie »Neugeborene und einige Geisteskranke« zeichnen sich nach Singer dadurch aus, dass sie »Lust und Schmerz« erleben können. Unter personalem Leben versteht Singer schließlich Lebewesen, die über »Selbstbewusstsein, Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft, Sinn für Vergangenheit« sowie über »die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen, sich um andere zu kümmern, Kommunikation und Neugier« verfügen. Dazu zählt zum einen der erwachsene Mensch, aber auch »einige nichtmenschliche Lebewesen« 57 wie Affen beispielweise. Weil das unbewusst Lebendige weder Schmerzen empfindet noch bewusst weiterleben will, muss ihm laut Singer keinerlei Schutz gewährt werden. Weil die bewussten Lebensformen Schmerzen und Lust empfinden, aber keine bewusste Entscheidung für ein Weiterleben treffen können, soll man sie nach Singer gegebenenfalls töten dürfen, insofern das schmerzfrei geschieht. 58 Ein intrinsisches Recht auf Lebensschutz hat nach Singer nur das personale Leben, weil nur das personale Leben explizit weiterleben wollen kann. 59 Säuglinge siedelt Singer (gleich, ob behindert oder nicht) auf dem Niveau des nur bewussten Lebens an, womit er das Lebensrecht neugeborener Babys generell von den Interessen derjenigen abhängig macht, die ein Interesse an dem Säugling haben könnten. In dem von Kuhse und Singer gemeinsam verfassten Buch Should this baby live von 1985 heißt es demzufolge, dass »Neugeborene« kein »inhärentes Lebensrecht« besäßen, weshalb man »von ihren Eltern abgelehnte Neugeborene« nur dann »am Leben erhalten« solle, wenn sich »Adoptiv- und Pflegefamilien« für sie finden lassen, wobei man im Falle von schwerstbehinderten Neugeborenen jedoch »angenehm überrascht« wäre, »wenn es genug solcher Familien für diese Kinder gäbe« 60. Insgesamt plädieren Singer und Kuhse deshalb für ein gezieltes schmerzfreies Töten von Säuglingen, die von ihren Eltern nicht gewollt werden. 61 (5.1.2) Ein weiteres präferenzutilitaristisches Argument für ein aktives Töten von schwerbehinderten Säuglingen wäre das ›Geschwisterargument‹. Es basiert auf der Prämisse einer relativen Wertlosigkeit Singer 1979, 17, 104, 117, 130, 134. Singer 1979, 143, 118–122. 59 Singer 1979, 109–117. Ausführlicher diskutiert wird Singers Position in Raters 2006a sowie in Stoecker 1999, 260. 60 Kuhse u. a. 1985, 245 f. 61 Kuhse u. a. 1985. Vgl. mit einer ähnlichen Position auch Harris 1981. Einwände werden entwickelt in Anscombe u. a. 1981. 57 58
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von behindertem menschlichen Leben und besagt im Kern, dass ein schwerstbehinderter Säugling seiner Tötung selbst zustimmen müsse, weil ein fiktives Geschwisterkind ein ungleich erfüllteres Leben als er selbst führen würde. 62 (5.2) Im Zuge einer moralphilosophischen Prüfung der Option des Sterbenlassens muss zunächst einmal hervorgehoben werden, dass man Simon auf (mindestens) zwei Weisen sterben lassen könnte. Man kann ihn erstens sterben lassen, indem man alle pflegerischen und medizinischen Maßnahmen einstellt. Man kann Simon aber auch sterben lassen, indem man nur die medizinischen Maßnahmen einstellt. (5.2.1) Für ein Sterbenlassen spricht vor allem das Mitleidsargument. So berichtete unter der Überschrift »Theraphieende aus Mitleid« die Süddeutsche Zeitung vom 13. November 2006, dass der anglikanische Bischof Tom Butler die Auffassung vertreten habe, dass »schwerstbehinderte frühgeborene Babys« nach »Auffassung der anglikanischen Kirche Englands nicht um jeden Preis am Leben erhalten werden« müssen. In »Ausnahmefällen« könne es vielmehr »angebracht sein, die medizinische Behandlung ›aus Mitleid‹ abzubrechen« 63. (5.2.2) Ein zweites ökonomisches Argument für ein Sterbenlassen würde sich ausgehend von der Tatsache ergeben, dass Simon eine geringe Überlebenschance hat und dass »im Überlebensfall« mit »irreversiblen neurobiologischen Schäden zu rechnen« 64 wäre. Intensivmedizinische Maßnahmen zur Lebenserhaltung sind teuer und pflegeaufwändig. Falls Simon überleben würde, bliebe er zudem Zeit seines Lebens ein Pflegefall, was ebenfalls sehr teuer und sehr aufwändig wäre. (5.3) Moralphilosophisch zu prüfen wäre drittens auch die Option einer Fortführung der intensivmedizinischen Behandlung. (5.3.1) Für diese Option spricht erstens die schon erwähnte Tatsache, dass behinderte Menschen ihr eigenes Leben in aller Regel keineswegs als wertlos empfinden. (5.3.2) Oft wird der Lebenswille des Säuglings ins Feld geführt. Auffällig häufig findet sich in Berichten von Ärzten und Pflegekräften von neonatologischen Stationen die Formulierung, dass man es mit Hare 1976. Therapieende aus Mitleid 2006. Das Binnenzitat ›aus Mitleid‹ wird Bischof Butler wörtlich zugeschrieben. 64 Erzinger-Manea 2002, 75. 62 63
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Säuglingen zu tun habe, die ›um ihr Leben kämpfen‹ würden. Nun kann man zweifellos in den vorliegenden Fällen nur in einem metaphorischen Sinne von einem ›Willen‹ zum Leben sprechen, weil man eigentlich die physische Widerstandskraft eines Säuglings und nicht eine bewusste Willensentscheidung für ein Weiterleben meint. Weil es aber zweifellos von Belang ist, ob ein Säugling den drastischen intensivmedizinischen Maßnahmen eine starke physische Widerstandskraft entgegenzusetzen hat oder nicht, wäre der ›Überlebenswille‹ eines Säuglings dennoch ein gewichtiges Argument für die Fortsetzung der intensivmedizinischen Maßnahmen. (5.3.3) Das wichtigste Argument für eine Fortsetzung der Behandlung ist das Argument des intrinsischen Werts jedes menschlichen Lebens. Vorgebracht wird dieses Argument beispielsweise in der Lehrmäßigen Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben, die unter der Leitung von Papst Benedikt XVI. (damals noch Josef Kardinal Ratzinger) von der Kongregation für die Glaubenslehre am 24. November 2002 veröffentlich wurde. Unter Berufung auf das Sittengesetz stellt die Note klar, dass menschliches Leben von der Empfängnis an bis zum natürlichen Tod sowohl gegen Abtreibung als auch gegen Sterbehilfe zu schützen sei. 65 (6) Nachdem einschlägige moralphilosophische Positionen in angemessener Komplexität gesichtet wurden, sollte der Prozess in die Phase der Objektivierung des Standpunkts der Entscheidungsträger eintreten. Wie Nagel im Kapitel Values seines Buches The View from Nowhere von 1986 ausführt, kann das geschehen, indem ein Entscheidungsträger diejenigen »Gründe ins Visier« nimmt, die es aus den »Perspektiven anderer Individuen zu geben scheint«, um seine subjektive »Eigenperspektive« sukzessive zu transzendieren. Indem er sich so von seiner »individuellen Perspektive« lossagt, soll er zu einem »neuen Standpunkt« gelangen können, »der einige der ursprünglichen Gründe beglaubigt, andere jedoch als einen falschen subjektiven Schein zurückweist, und der vor allem neue Motive erschließt und hinzufügt« 66. Der Angewandte Ethiker könnte die Entscheidungsträger bei ihrer Annäherung an einen solchen Standpunkt unterstützen, indem er sie in einem ersten Schritt dazu anleitet, sich mit ihrer personalen Perspek65 66
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Ratzinger u. a. 2002. Nagel 1986, 239–243.
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tive (vgl. 8.e.2.1) im professionellen moralphilosophischen Diskurs (vgl. 8.e.5) zu positionieren. Daran anschließend kann der Angewandte Ethiker zu einem Changieren zwischen verschiedenen möglichen Standpunkten mit dem Ziel einer sukzessiven Objektivierung des Standpunkts der Entscheidungsträger anregen (vgl. 7.c). Seine Aufgabe besteht in dieser Phase weniger in einem moralphilosophischen Reflektieren als in einem psychologisch-einfühlsamen Strukturieren des Reflexionsprozesses der Entscheidungsträger. (6.1) Sollte sich im Zuge des Changierens für die Entscheidungsträger eine eindeutige Entscheidung herauskristallisieren, kann der Angewandte Ethiker die Entscheidung aufgreifen und eine konkrete Handlungsempfehlung aussprechen. Dann könnte der Prozess wiederum in die elfte Phase des Handelns übergehen. (6.2) Im Zuge der Objektivierungsbemühungen können aber auch neue Fragen zur Situation oder zum personalen Standpunkt der Entscheidungsträger auftreten. Dann würde der Prozess erstmals seine zyklischen Struktur entfalten und auf die dritte Phase der Fragen an Experten und Betroffene (vgl. 8.e.3) oder auf die erste Phase der Verständigung der Entscheidungsträger über ihre personale Perspektive (vgl. 8.e.2.1) zurückverweisen. (6.3) Es kann aber auch die Situation entstehen, dass sich im Zuge der Objektivierung des Standpunkts sukzessive immer deutlicher herausstellt, dass keine der möglichen Optionen moralisch wirklich eindeutig zu verantworten wäre. Durch die Einbeziehung dieser Möglichkeit unterscheidet sich die ›Nagelprobe‹ von anderen Verfahren der Angewandten Ethik (vgl. 8.c.2). In diesem Falle würde der Prozess zur siebten Stufe übergehen. Tatsächlich halte ich es von meinem eigenen Standpunkt als professionelle Angewandte Ethikerin im Falle von Simon für wahrscheinlich, dass sich eine solche Situation ergeben wird. Weil hier jedoch nicht der Raum für eine echte Abwägung der einschlägigen moralphilosophischen Argumente ist, müssen knappe Andeutungen genügen. (6.3.1) Zwar müssen die präferenzutilitaristischen Argumente für eine aktive Tötung im Fortgang der Abwägung als Produkt eines systematisch viel zu strikten 67 Präferenzutilitarismus (vgl. 8.a.3.6) meines Erachtens keine weitere Beachtung finden. (i) So besteht das zentrale Vgl. mit einem gleichlautenden Vorbehalt gegen Hares Thesen zur Angewandten Ethik auch Anm. 59 in Kapitel 1.
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Problem von Singers Argument des nur bewussten Lebens sicherlich darin, dass wir menschliche Säuglinge gemeinhin eben nicht als ›nur bewusstes Leben‹ betrachten, dessen Lebensrecht von den Interessen von personalem Leben abhängig sein soll. Menschliche Säuglinge sind Menschen, und als solche haben sie intrinsischen Wert. (ii) Dieser Überzeugung würde Singer natürlich seinen berühmten Speziesismus-Einwand entgegenhalten, dem zufolge die Zugehörigkeit zu einer Spezies ebenso wenig moralisch relevant sein soll wie die Zugehörigkeit zu einer Rasse oder einem Geschlecht. Tatsächlich geht dieser Einwand jedoch ins Leere, weil in unserem Kulturkreis glücklicherweise kein Zweifel daran sein kann, dass Menschen unabhängig von Rasse, Geschlecht oder auch davon, ob ihr Leistungsvermögen durch eine Behinderung eingeschränkt ist oder nicht, eben doch als Menschen per se intrinsisch wertvoll sind. (iii) Damit wäre auch dem Geschwisterargument entgegenzuhalten, dass behindertes Leben nicht per se wertlos (engl. not worth of living) ist, wenn es auch von Leiden, Einschränkungen und Schmerzen beherrscht und höherrangige Geistes- und Bewusstseinstätigkeiten nicht möglich sein mögen. Das belegen nicht zuletzt die einschlägigen Studien, denen zufolge behinderte Menschen ihre Lebensqualität statistisch gesehen keineswegs geringer einschätzen als nicht behinderte Menschen (vgl. 8.e.3.3). Wie hoch die Qualität eines menschlichen Lebens ist, kann nur derjenige beurteilen, der das Leben führt. Das Geschwisterargument ist also schon deshalb nicht überzeugend, weil es auf der falschen Prämisse basiert, dass ein fiktiver Bruder ein glücklicheres Leben als der schwerstbehinderte Säugling führen würde, weil er (was zudem nicht wirklich sicher gestellt ist) vermutlich ohne Behinderungen geboren würde. (iv) Das Geschwisterargument überzeugt auch deshalb nicht, weil man niemanden davon überzeugen kann, dass er auf sein eigenes Leben zugunsten eines anderen Menschenlebens verzichten soll, zumal man den Wert des einen menschlichen Lebens generell nicht mit dem Wert eines anderen menschlichen Lebens verrechnen kann. (v) Zudem wirft das Argument das Lebensrecht eines Menschen gegenüber dem Lebensrecht eines anderen Menschen in die Waagschale, der noch nicht einmal geboren wurde und der vielleicht auch niemals geboren werden wird. (vi) Gegen ein gezieltes Töten spricht (gerade vom präferenzutilitaristischen Standpunkt) außerdem, dass auch die Präferenzen des Arztes berücksichtigt werden müssen, der die Tötung gegebenenfalls vornehmen muss. Eine gezielte Tötung schließt sich auch deshalb aus, weil so etwas 406
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keinem Arzt zugemutet werden darf. (vii) Schließlich und endlich wird das Slippery-slope-argument einschlägig, dass eine Grenze nicht mehr zu ziehen ist, wenn gezieltes Töten erst einmal gängige Praxis ist. Weiter ins Detail zu gehen, ist hier nicht möglich. Es bleibt lediglich zu konstatieren, dass sich ein gezieltes Töten im Falle von Simon moralphilosophisch nicht wirklich rechtfertigen ließe. (6.3.2) Anders stellt sich die Situation jedoch dar, wenn es um die Optionen des Behandlungsabbruchs einerseits und der Fortführung der Behandlung andererseits geht. (i) Im Zuge einer Prüfung der Option eines Behandlungsabbruchs ist lediglich das ökonomische Argument relativ schnell abzuhandeln, dem zufolge die aufwändigen medizinischen Maßnahmen im Falle von Simon nur dazu führen können, Simon mit schweren Behinderungen notdürftig am Leben zu halten. Dieses Argument ist nur von Gewicht, wenn anderen Patienten lebenswichtige Maßnahmen aus ökonomischen Gründen vorenthalten werden müssten (vgl. 6.d.5.2.2). Ansonsten lassen sich ökonomische Gründe nicht gegen ein Menschenleben in die Waagschale werfen. (ii) Für einen Behandlungsabbruch scheint jedoch die Tatsache zu sprechen, dass keinem Arzt ein aktives Töten zugemutet werden müsste (vgl. 8.e.6.3.1.vi). Wie Birnbacher 68 allerdings überzeugend gezeigt hat, verschwimmt die Grenze zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe schnell, sobald man handlungstheoretisch ins Detail geht. So kann es im Falle von Simon keinen Zweifel geben, dass die Ärzte sowohl beim Einstellen der schon begangenen intensivmedizinischen Behandlungen als auch beim Einstellen der Versorgungsmaßnahmen ›aktiv‹ werden müssten. Das ist hier relevant, weil der Angewandte Ethiker die Entscheidungsträger damit nicht in der falschen Illusion wiegen könnte, mit einer Entscheidung für einen Behandlungsabbruch ›nichts tun‹ zu müssen. (iii) Wie oben gesagt, spricht für einen Behandlungsabbruch vor allem das Argument des Mitleids (vgl. 8.e.5.2). Dieses Argument ist im vorliegenden Kontext zweifellos von sehr hohem Gewicht. (iii.1) Gegen das Mitleidsargument ließe sich zwar das Dammbruch-Argument anführen, dass man nicht jeden sterben lassen sollte, mit dem man Mitleid hat. (iii.2) Ein anderes Dammbruch-Argument besagt, dass ein Sterbenlassen aus Mitleid in Fällen wie denen von Simon die Tore öffnen würde, schwerbehinderte Menschen auch dann sterben zu lassen, wenn Mitleidsgründe kein fundamentum in re 68
Vgl. Birnbacher 1995 insg.
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haben. 69 (iii.3) Ein weiteres mögliches Gegenargument wäre das Argument des ›tödlichen‹ bzw. des ›paternalistischen Mitleids‹ 70, dem zufolge es moralisch nicht gerechtfertigt ist, einen leidenden Menschen aufgrund einer eigenen Mitleidsregung sterben zu lassen, weil es ja durchaus möglich ist, dass der leidende Mensch trotz seines Leidens gar nicht sterben will. 71 (iii.4) Gegen das Mitleidsargument spricht schließlich auch, dass ein Behandlungsabbruch für Simon ja auch mit Qualen verbunden wäre. Würde man sich für ein Einstellen aller Maßnahmen einschließlich der Versorgungsmaßnahmen entscheiden, würde Simon zwar relativ schnell sterben. Allerdings würde man Simon faktisch verhungern und verdursten lassen müssen, was barbarisch zu sein scheint. Würde man sich hingegen nur für einen Abbruch der intensivmedizinischen Maßnahmen entscheiden, würde Simon zwar nicht verhungern und verdursten, aber dafür würde sein Sterben länger dauern. (iii.5) Für das Mitleidsargument spricht jedoch, dass Mitleidsintuitionen die stärksten moralischen Intuitionen sind, über die wir verfügen. Einschlägige neurologische Untersuchungen zeigen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung von Moralität und der Fähigkeit zum Mitleiden gibt. Mangelnde Empathiefähigkeit ist das wichtigste Kriterium für die Diagnose ›Antisoziale Persönlichkeitsstörungen‹ (ASPD) 72; Sadisten fehlt es nicht an moralischem Wissen, sondern an der Fähigkeit zum Mitleid; und schon die Parzival-Sage zeigt, dass wir einen Menschen nicht als ausgereifte moralische Person betrachten, wenn er kein Mitleid empfinIn diesem Sinne heißt es in der schon erwähnten Verlautbarung der Bischöfe, dass die »Gefahr« bestünde, »daß eine Rechtsordnung, die aktive Sterbehilfe zuließe, den Lebensschutz zum Schaden aller mindert und Schleusen zur Vernichtung von angeblich sinnlosem oder unnützem Lebens öffnet«. Ratzinger u. a. 2002, 210 f. 70 Vgl. zu diesem Einwand z. B. Guale 1999, 154. 71 Dieser Einwand ist in Fällen wie den vorliegenden besonders gewichtig, weil schwerbehinderte Säuglinge ja nicht nach ihrem Willen gefragt werden können. Ausgerechnet das Kriterium des Patientenwillens (das eigentlich ausschlaggebend sein sollte, sobald es um Sterbehilfe- oder Lebensverlängerungsentscheidungen geht) kann in Fällen wie denen von Simon nicht sinnvoll zu Rate gezogen werden, weil Simon eine bewusste Willensentscheidung weder treffen noch artikulieren kann. Anders als in Fällen von sehr alten und/oder demenzkranken Patienten lassen sich noch nicht einmal Spekulationen darüber anstellen, was er vermutlich wollen würde, weil er noch keine Zeit hatte, eine ausgereifte Persönlichkeit zu entfalten, von der man auf sein Wollen rückschließen könnte. 72 Vgl. zum Zusammenhang von neurologischen Störungen und mangelnder Moralität beispielsweise Schmidt-Felzmann 2006 sowie Pauen u. a. 2008, 156–162. 69
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den kann oder seinen Mitleidsregungen keine Bedeutung beimisst. Das wiederum heißt, dass sich Mitleidsintuitionen allen rationalistischen Bedenken 73 zum Trotz als wichtige moralische Regung behaupten können. (iii.6) Zuzugestehen ist lediglich, dass Mitleidsgründe natürlich nur einschlägig sind, wenn der schwerbehinderte Säugling tatsächlich schwer leidet. Wenn er nicht schwer leidet, ist Mitleid nicht angebracht. 74 Falls ein Säugling jedoch schwer leidet, ist Mitleid allen schon geäußerten Bedenken zum Trotz (vgl. 8.e.5.3.2) ein moralischer Handlungsgrund, der dem Handlungsgrund des intrinsischen Werts jedes menschlichen Lebens gleichgewichtig gegenüberzustehen scheint. (iii.7) Unter grundsätzlicher Anerkennung des Mitleidarguments verweisen die deutschen evangelischen Bischöfe in ihrer Abhandlung Gott ist ein Freund des Lebens darauf, dass »die moderne Schmerztherapie« heute »eine weitgehende Schmerzlinderung möglich« 75 mache. Dem halten Dworkin und andere jedoch treffend entgegen, dass es nicht möglich sei, tatsächlich »allen Schmerz einem Patienten zu nehmen« 76. Weil das bei Simon ebenfalls der Fall sein dürfte, bleibt das Mitleidsargument in unserem Beispielsfall einschlägig. Das Mitleidsargument erweist sich bei eingehender moralphilosophischer Prüfung damit als starkes Argument für einen Behandlungsabbruch. (6.3.3) Gegen einen Behandlungsabbruch spricht jedoch, dass die Entscheidungsträger mit einer Entscheidung für diese Option eine Entscheidung treffen würden, mit der sie Simons Tod herbeiführen würden. Damit ist das Argument des intrinsischen Werts jedes menschlichen Lebens als das gewichtigste Argument für eine Fortführung sowohl der pflegerischen als auch der möglichen medizinischen Maßnahmen angesprochen. Wer einen schwerbehinderten Säugling sterben lässt, lässt einen Menschen sterben. Es mag zwar durchaus Schon der vorkritische Kant bezeichnete die »gutartige Leidenschaft« des Mitleids als »schwach und jederzeit blind«. So dürfe man die »höhere Verbindlichkeit« einer unabgeleisteten Schuld z. B. niemals der »blinden Bezauberung« durch das Mitleid aufopfern, indem man einem Notleidenden hilft. Kant 1764, 843 ff. Der Kritik der praktischen Vernunft zufolge können »Gefühle des Mitleids und der weichherzigen Teilnehmung« jeder »wohldenkenden Personen« nur »lästig« sein, weil solche »ihre überlegten Maximen in Verwirrung« bringen. Kant 1788, 248. 74 Deshalb ist das Mitleidsargument nicht einschlägig, falls ein Säugling ein DownSyndrom hat. 75 Freund des Lebens 1989, 210 f. 76 Dworkin u. a. 1977, 227. 73
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sein, dass die hohe Wertschätzung des menschlichen Lebens in unserer Kultur tatsächlich etwas mit den christlichen Wurzeln dieser Kultur sowie mit einem speziesistischen Gattungsvorurteil zu tun haben, wie Singer beispielsweise behauptet. 77 Zu konstatieren bleibt dennoch, dass
Peter Singer ist wohl der bekannteste Gegner dieses Arguments, welches er unter dem Etikett ›Argument der Heiligkeit des menschlichen Lebens‹ diskutiert. (1) So mag es im Sinne Singers zwar zutreffen, dass man »zur Zeit der Griechen und Römer« noch keinen »Respekt vor Sklaven, Barbaren und behinderten Neugeborenen« hatte, weshalb »Platon und Aristoteles« beispielsweise »der Meinung« gewesen seien, »der Staat sollte die Tötung missgestalteter Kinder durchsetzen.« Singer 1979, 107. Für unsere heutige Situation ist der Einwand nicht einschlägig, weil wir Respekt vor ›Sklaven‹, ›Barbaren‹ und eben auch vor behinderten Neugeborenen haben. (2) Dem könnte man mit Singer nun entgegenhalten, dass das Argument der ›Heiligkeit des menschlichen Lebens‹ auf dezidiert religiösen Prämissen beruhe, die als solche nicht allgemein akzeptiert werden müssten. (Singer spricht im vorliegenden Kontext von einer »moralischen Orthodoxie europäischer Zivilisation«, deren »Lehren« keineswegs »allgemein anerkannt« seien. Singer 1979, 108.) Wiederum ist dieser Einwand zuzugestehen: Tatsächlich beruht das Argument auf der Prämisse der »Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens«, der zufolge nur Gott das Recht haben soll, über menschliches Leben und menschliches Sterben zu entscheiden. Freund des Lebens 1989, 210 f. Entgegenzuhalten ist allerdings, dass die Auffassung von der Heiligkeit des menschlichen Lebens auch außerhalb von christlichen Glaubensgemeinschaften in unserer Kultur so fest verwurzelt ist, dass auch viele nicht-religiöse Menschen das menschliche Leben spontan als den höchsten Wert bezeichnen würden. (3) Dem würde Singer wiederum entgegenhalten, dass diese Menschen Speziesisten seien, die bei näherer Hinsicht nicht etwa das Leben generell, sondern nur das menschliche Leben für ›heilig‹ erklären. Dem hält Singer entgegen, dass »die biologischen Fakten, an die unsere Gattung gebunden ist«, keine »moralische Bedeutung« habe. Singer 1979, 107 Wiederum ist Singer zuzugeben, dass die Menschen in unserem Kulturkreis vermutlich tatsächlich überwiegend Speziesisten sind, denn tatsächlich hat die Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung in unseren kulturell geprägten moralischen Intuitionen sogar eine sehr hohe Bedeutung. Allerdings wäre seinem Speziesismus-Einwand damit die Spitze genommen, weil es schließlich abwegig wäre, Moralprinzipien zu verteidigen, die den meisten Mitgliedern einer Kultur fremd sind. (4) Ein letzter Einwand lautet schließlich, dass man sich nicht als ›Freund des Lebens‹ etikettieren dürfe, wenn man nicht auch tierisches Leben zu schützen bereit ist. In Singers Augen beweist die Tatsache, dass Verfechter des Prinzips der ›Heiligkeit des menschlichen Lebens‹ »regelmäßig das Fleisch von Hühnern, Schweinen und Kälbern verspeisen« würden, dass sie »nur ein vordergründiges Interesse am Leben von Wesen« hätten, die nicht »zu unserer Spezies gehören«. Singer 1979, 162. Dem ist entgegenzuhalten, dass man sich ja durchaus für Tiere einsetzen kann (wie es viele Vertreter des Arguments des intrinsischen Werts menschlichen Lebens mit dem Hinweis auf den intrinsischen Wert von Gottes Schöpfung bzw. von Gottes Geschöpfen dann auch tatsächlich tun), ohne deshalb manchen Menschen wie schwer behinderten Menschen oder
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das Argument des intrinsischen Werts jedes menschlichen Lebens in unserer Kultur heute (neben dem Argument der Menschenwürde) eines der gewichtigsten moralischen Argumente überhaupt ist. (7) Weitere Abwägungen würden hier zu weit führen. Zweierlei dürfte aller Knappheit zum Trotz im Zuge der Objektivierungsbemühungen der sechsten Phase deutlich geworden sein. Festzustehen scheint erstens, dass die angeführten präferenzutilitaristischen Argumente nicht von der ›Wertlosigkeit‹ von Simons Leben überzeugen können, so dass seine aktive Tötung nicht mehr als echte Option im Raum stehen dürfte. Festzuhalten ist aber auch, dass für die beiden übrigen Handlungsoptionen des Behandlungsabbruchs und der Fortsetzung der Behandlung im Falle von Simon mit dem Mitleid einerseits und dem intrinsischen Wert jedes menschlichen Lebens andererseits jeweils sehr gewichtige moralische Gründe sprechen würden. Damit steht nun die Möglichkeit im Raum, dass sich diejenigen, die über Simons Schicksal entscheiden müssen, eventuell in einem moralischen Dilemma befinden könnten. Das wiederum heißt, dass der Prozess in eine siebente Phase eintreten müsste, in welcher der Angewandte Ethiker die Frage zu klären hätte, ob ein moralisches Dilemma vorliegt. Ein moralisches Dilemma ist eine Situation, in der sich ein Akteur zwischen zwei sich ausschließenden Handlungsalternativen entscheiden muss, für die jeweils vergleichbar gewichtige moralische Gründe sprechen, ohne dass es einen glücklichen Ausweg im Sinne einer dritten Handlungsoption gäbe (vgl. 2.f.1). Bevor die Diagnose ›moralisches Dilemma‹ gefällt werden kann, muss also überprüft werden, ob es einen ›glücklichen Ausweg‹ gibt. (7.1) Die Züricher Ethikkommission, die über das Schicksal von Simon zu entscheiden hatte, hat als eine mögliche Handlungsoption benannt, andere Expertenmeinungen heranzuziehen und ihnen gegebenenfalls die Entscheidung zu überlassen. 78 Nun ist es natürlich immer ratsam, um Rat zu fragen, wenn man nicht weiter weiß. Als Ausweg aus einem Dilemma taugt diese Maßnahme allerdings nicht, weil mit der Entscheidung einer Zurateziehung fremder Experten die Dilemma-Entscheidung faktisch nur hinausgeschoben wird. SpätesSäuglingen beispielsweise den intrinsischen Wert und das intrinsische Recht auf Leben absprechen zu müssen. 78 Siebenthal u. a. 2002, 85. Das moralische Dilemma
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tens die herangezogenen Experten werden die Entscheidung treffen müssen. (7.2) Einen tatsächlichen Ausweg scheint auf den ersten Blick jedoch diejenige Strategie zu bieten, die in der Moralphilosophie unter dem Etikett ›Doppelwirkungsstrategie‹ diskutiert wird. Für eine Doppelwirkungsstrategie würde man sich im vorliegenden Falle entscheiden, wenn Simon sehr starke Medikamente verabreicht würden, um seine Qualen zu lindern, obwohl man weiß, dass die Medikamente Simons Tod herbeiführen oder beschleunigen würden. Im Sinne einer solchen Doppelwirkungsstrategie vertritt der katholische Sozialethiker Adrian Holderegger in seinem Essay Zur Euthanasie-Diskussion in den USA aus dem Jahr 1999 die Auffassung, dass die Gabe von sehr starken Schmerzmitteln im Falle von schwerstbehinderten Säuglingen erlaubt sei, insofern die eigentliche Absicht der Medikamentengabe die Schmerzlinderung sei und die Tötung des Säuglings lediglich mit in Kauf genommen würde. 79 Man kann eine Doppelwirkungsstrategie zum einen verfolgen, um das Leiden zu lindern, dem Simon bei einer Fortsetzung der intensivmedizinischen Maßnahmen ausgesetzt wäre. Man kann die Doppelwirkungsstrategie aber auch verfolgen, wenn man die Behandlung abbricht: In diesem Falle würden Simon die tödlichen Medikamente verabreicht, um die Qualen zu lindern, die ein Abbruch der intensivmedizinischen Maßnahmen mit sich bringen würde. So gnädig eine solche Maßnahme im Einzelfall auch sein mag, so handelt es sich bei näherer Hinsicht aber dennoch um keinen glücklichen Ausweg aus der Dilemma-Situation. Der Grund liegt auf der Hand: Weil jeder Arzt über die tödliche Dosis eines Schmerzmittels informiert ist, kann er sich über seine ›eigentliche Absicht‹ nicht belügen, wenn er diese Dosis verabreicht. Dasselbe gilt für die Eltern, wenn sie einer aggressiven Medikamentierung zustimmen. Wer sich für die Doppelwirkungsstrategie entscheidet, weiß genau, dass er sich faktisch für ein aktives Töten entscheidet, wenn auch nicht aus dem präferenzutilitaristischen Grund der Nichtwertschätzung von behindertem menschlichen Leben, sondern aus Mitleid. Deshalb kann der Angewandte Ethiker die Möglichkeit einer solchen Vorgehensweise zwar durchaus ins Spiel bringen, aber nicht als ›glücklichen dritten Ausweg‹ behaupten.
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(8) Wenn es keinen glücklichen Ausweg gibt, muss der Angewandte Ethiker die fatale Diagnose ›moralisches Dilemma‹ stellen. (8.1) Im Falle von Simon gibt es mit dem Abbruch und der Fortsetzung der intensivmedizinischen Maßnahmen zwei Handlungsoptionen, wobei der moralische Grund des Mitleids für einen Abbruch und der moralische Grund des intrinsischen Werts jedes menschlichen Lebens für eine Fortsetzung der Behandlung spricht. Beide Optionen schließen sich gegenseitig aus, wobei die Gründe für beide Optionen jeweils vergleichbar gewichtig zu sein scheinen. Einen glücklichen Ausweg gibt es nicht. (8.2) Tatsächlich handelt es sich sogar um einen Kandidaten für ein teuflisches echtes reines reales moralisches Dilemma als den Supergau der Moralphilosophie. (i) Wenn ein Säugling mit so schweren Behinderungen geboren wird, dass sein Leben nur Schmerz bedeutet, bis er dann nach wenigen Monaten allen schmerzhaften Operationen zum Trotz sowieso sterben wird, stehen die Entscheidungsträger vor einem ›echten Dilemma‹, weil sich beide Optionen gegenseitig ausschließen, wobei gleichzeitig für beide Optionen vergleichbar gewichtige Gründe sprechen (vgl. 2.a.5 und 8.e.8.1). (ii) Es handelt sich zudem um ein reines moralisches Dilemma, weil für beide Optionen dezidiert moralische Gründe sprechen: Sowohl der Handlungsgrund des Mitleids als auch der Handlungsgrund der Heiligkeit des menschlichen Lebens sind dezidiert moralischer Natur (vgl. 2.e.2). (iii) Es handelt sich um ein teuflisches Dilemma, weil die moralischen Handlungsgründe jeweils äußerst gewichtig sind (vgl. 2.e.3). Für beide Optionen sprechen moralische Gründe, denen die Entscheidungsträger niemals zuwiderhandeln 80 würden, wenn sie nicht zur der Dilemma-Entscheidung gezwungen würden. (iv) Aus der Sicht der betroffenen Ärzte und Eltern (wenn auch nicht aus meiner Sicht als Autorin dieser Abhandlung oder aus der Sicht der geschätzten Leserin) handelt es sich zudem um eine reales Dilemma (vgl. 2.e.4). Damit stecken die Ärzte und Eltern, die über Simons Schicksal entscheiden müssen, in der schlimmsten und schwierigsten Situation, die die Moralphilosophie überhaupt kennt: In diesem Sinne spricht der einleitenden Essay von Baumann-Hölzle zum Buch An der Schwelle zum eigenen Leben davon, dass »die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und die Pflegenden« in der »neonatalen Intensivmedizin« oft »vor der Situation« stünden, »daß ihr Tun so oder so mit Leiden verbunden« sei, ohne dass es feste »Kriterien« gäbe, mit denen die Entscheidungsträger »Entscheidungen im Namen eines Kindes fällen« könnten. Baumann-Holzle 2002, 13.
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Sie stecken in einem teuflischen realen reinen moralischen (echten) Dilemma. 81 (9) Bei einer solchen Diagnose können die Entscheidungsträger in einem Fall wie dem von Simon allerdings nicht stehenbleiben: Weil sie nun einmal die verantwortlichen moralischen Akteure sind, müssen sie eine Entscheidung treffen. Wie aber sollen die Verantwortlichen »entscheiden, wenn Gewissen gegen Gewissen steht?« 82, fragt treffend Kati Hübner in ihrer Abhandlung Gratwanderung zwischen Wissen und Gewissen. Der ›Angewandte Ethiker der Zukunft‹ kann den Entscheidungsträgern allem Wissens- und Erfahrungsvorsprung zum Trotz ihre Entscheidung nicht abnehmen. Er kann den Verantwortlichen allerdings dabei helfen, auch tatsächlich eine Entscheidung zu treffen, indem er ihnen klar macht, dass ihnen im Falle einer Dilemma-Diagnose gar nichts anderes übrig bleibt als ein Sprung in das eiskalte Wasser einer moralischen Entscheidung gegen sehr gewichtige moralische Handlungsgründe. Um die Entscheidungsträger zu unterstützen, wird er ihnen erklären, wie er zur Dilemma-Diagnose gelangt ist und was sie bedeutet. Er wird außerdem die wichtigsten Argumente für und wider die möglichen Handlungsoptionen noch einmal zusammenfassen. Vor allem aber wird er jetzt das ›Prinzip der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung‹ zur Anwendung bringen, indem er die Fragen stellt, von denen in Abschnitt 8.d.2. schon die Rede war. »Alle möglichen Optionen sind schrecklich«, wird er sagen. »Daran gibt es leider keinen Zweifel. Aber welche Option scheint Ihnen persönlich in Ihrer gegenwärtigen Verfassung prima facie die schrecklichere zu sein? Welche Entscheidung würde Sie vermutlich in Zukunft mehr belasten? Welche macht Ihnen mehr Angst? Und gegen welche der beiden Entscheidungen empfinden Sie den größeren Widerwillen?« (9.1) Es besteht nun die Möglichkeit, dass sich in den Entscheidungsträgern allen moralphilosophisch gewichtigen Zweifeln zum Trotz durch eine erneute Fokussierung auf die personale Perspektive (vgl. 8.e.1.2) durch das ›Prinzip der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung‹ doch relativ klar eine Entscheidungsmöglichkeit In diesem Sinne bezeichnet der Neonatologe Duc die Frage nach dem adäquaten Umgang mit schwerstbehinderten Neugeborenen als »das schwerste ethische Dilemma« seines Berufslebens. Duc 2002, 42. 82 Hübner 2002, 120. 81
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abzeichnet. Das kann vor allem dann der Fall sein, wenn es sich um Eltern handelt, für die entweder ein Sterbenlassen oder auch ein Leben mit einem behinderten Kind prinzipiell überhaupt nicht infrage kommt. Sollte sich eine solche klare Entscheidung herausschälen, sollte der Ethiker dem Abwägen ein Ende setzen, indem er die Entscheidung aufgreift und den Prozess in die elfte Phase der Handlung lenkt. (9.2) Es kann aber auch die Situation eintreten, dass das Prinzip seine Wirkung verfehlt und die Entscheidungsträger sich faktisch nicht entscheiden können, weil ihr Widerwillen gegen jede der beiden möglichen Optionen zu stark ist. In diesem Fall sollte der Prozess in die zehnte Phase des Pontius-Pilatus-Arguments eintreten. (10) In der zehnten Phase muss der Angewandte Ethiker dem Problem der Handlungshemmung durch Restzweifel begegnen (vgl. 8.c.2.2.1). Weil die Restzweifel nach einer Dilemma-Entscheidung tatsächlich ein fundamentum in re haben, wäre es wenig aussichtsreich, die Restzweifel mit dem Hinweis darauf beseitigen zu wollen, dass es sich bei dem Entscheidungsvorschlag doch um einen gut begründeten und wohl abgewogenen Vorschlag handeln würde. Tatsächlich ist ja Folgendes der Fall: Je umfassender der Angewandte Ethiker Einblick in seine moralphilosophischen Abwägungen gewährt, umso deutlicher dürfte es den Verantwortungsträgern geworden sein, dass sie gute Gründe für ihre Restzweifel haben. Der Angewandte Ethiker kann dem Problem der Handlungshemmung durch Restzweifel in meinen Augen letztlich nur begegnen, indem er den Akteuren klar macht, in welcher speziellen Entscheidungssituation sie sich als Protagonisten eines (echten teuflischen realen reinen) moralischen Dilemmas befinden: Sie stecken in einem realen Dilemma. Das bedeutet, dass sie ihre Entscheidung anders als im Falle eines hypothetischen Dilemmas nicht verweigern können, weil jedes Hinauszögern der Entscheidung selbst den Status einer Entscheidung hätte. Jedes Hinauszögern der Entscheidung wäre in Simons Fall faktisch eine Entscheidung für eine Verlängerung seines Leidens. Von diesem Wissen aus dürfte es nun nur ein kleiner Schritt zu der Einsicht sein, dass ein Verweigern einer Entscheidung moralisch verächtlich wäre, weil ein Verweigern der Entscheidung faktisch einer Entscheidung gleichkommt, ohne dass der Akteur die Entscheidung in Übernahme seiner Verantwortung für die Situation ausdrücklich getroffen hätte. Plausibilisieren lässt sich das am Beispiel der biblischen Figur des Das moralische Dilemma
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Pontius Pilatus. Pontius Pilatus ist in die Geschichte eingegangen als jemand, der eine Entscheidung eines moralischen Dilemmas verweigert hat, obwohl er sich darüber im Klaren sein musste, dass diese Verweigerung faktisch einer Entscheidung mit gravierenden Konsequenzen für andere gleichkam. 83 Wie die Bibel berichtet, verweigerte Pilatus die Entscheidung mit einer Geste des Händewaschens. Bis heute steht die metaphorische Redeweise ›seine Hände in Unschuld waschen‹ für hilflos-erbärmliche Versuche des Abwälzens von Verantwortung. Auf ganz andere Reaktionen stößt jedoch derjenige, der der ganzen Tragweite einer Entscheidung zum Trotz eben doch bewusst und dezidiert eine Entscheidung trifft: Er wird in aller Regel zwar nicht unbedingt auf Zustimmung, aber immerhin doch auf Respekt stoßen. 84 Das hat seinen Grund darin, dass derjenige, der bewusst und überlegt eine Entscheidung fällt, diese Entscheidung im Nachhinein rational begründen und verantworten kann. Mit diesem ›Pontius-Pilatus-Argument‹ könnte die ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ vielleicht den Entscheidungsträgern den Impuls zu einer Entscheidung trotz Restzweifeln geben. (10.1) Falls das gelingen sollte, kann der Prozess in die elfte Phase des Handelns übergehen. (10.2) Sollte das nicht gelingen (und in vielen Fällen wird das Pontius-Pilatus-Argument als nur intellektuelles Argument keinen unmittelbaren Entscheidungsimpuls geben) muss der Prozess wegen un-
Als Statthalter Roms im besetzen Jerusalem war Pilatus für die Entscheidungen über Hinrichtungen zuständig. An Jesus von Nazareth konnte Pilatus keine Schuld finden. Insofern befand sich Pilatus in einem moralischen Dilemma. Wenn er seinen Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechend Jesus freigesprochen hätte, hätte er einen vom Hohen Rat angezettelten Aufstand riskiert. Wenn er Jesus jedoch hinrichten ließ, würde er gegen seine Gerechtigkeitsvorstellungen verstoßen. 84 So hätte Pontius Pilatus vermutlich ein ganz anderes Bild in der Geschichte hinterlassen, wenn er eine dezidierte Entscheidung für oder wider die Kreuzigung getroffen hätte. Zwar wäre er mit keiner Entscheidung auf die Zustimmung aller Betroffenen gestoßen. Um das Urteil des Hohen Rates zu bestätigen, hätte er seine eigenen Überzeugungen über Bord werfen und einen in seinen Augen Unschuldigen zum Tode verurteilen müssen. Hätte er Jesus jedoch freigesprochen, hätten die Anhänger des Hohen Priesters Kaiaphas sicherlich lautstark protestiert, und vielleicht wäre es sogar zu einem Aufstand gekommen. Beide Entscheidungen wären mit hohen Kosten verbunden gewesen. Wenn er sie jedoch zu tragen bereit gewesen wäre, hätte sich Pontius Pilatus den Respekt der Geschichte eingehandelt, in der er wegen seiner Entscheidungsverweigerung als verächtliche Figur gehandelt wird. 83
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überwindbarer Restzweifel zur dritten Phase zurückgeführt werden, indem eine erneute Situationsanalyse vorgenommen wird. (11) In der elften Phase des Handelns wird die (in welcher Phase des Prozesses auch immer) getroffene Entscheidung in die Tat umgesetzt. Das Züricher Klinik-Team hat der Abhandlung An der Schwelle zum eigenen Leben zufolge in einer »ethischen Besprechung« schließlich die Entscheidung getroffen, »die intensivmedizinischen Maßnahmen zu sistieren«. Nachdem die Eltern über diese Entscheidung informiert 85 und eine Nottaufe abgehalten wurde, wird Simon »von sämtlichen lebenserhaltenden Leitungen und Schläuchen« abgetrennt und »in die Arme seiner Eltern« 86 gelegt, wo er nach einer halben Stunde stirbt. Ich vermute nun, dass mit der Entscheidung für einen Behandlungsabbruch gleichzeitig auch die Entscheidung für die Vergabe starker Schmerzmittel zur Abmilderung des Sterbeprozesses verbunden war (wobei davon in der Abhandlung An der Schwelle zum eigenen Leben wohl aus rechtlichen Gründen jedoch keine Rede ist). 87 Sobald die Entscheidung in eine Handlung umgesetzt wurde, sollte der Angewandte Ethiker sein Augenmerk auf die Frage richten, ob sich bei den Entscheidungsträgern im Nachhinein subjektive Gefühle der Schuld einstellen. (11.1) Falls sich solche Gefühle nicht einstellen, kann der Prozess als beendet gelten. Die Arbeit des ›Angewandten Ethikers der Zukunft‹ als Entscheidungshelfer wäre getan. Hier wurde also offensichtlich eine paternalistische Entscheidung durch ein Team von Ethikern und Ärzten getroffen. Meinem pragmatistischen Modell zufolge hätten die Eltern die Entscheidung treffen müssen, insofern sie kognitiv dazu in der Lage sind. 86 Erzinger-Manea 2002, 73 f. 87 Wenn ich mich selbst an der Stelle der Entscheidungsträger (sprich: der Eltern von Simon) versetze, würde ich den Behandlungsabbruch unter Verabreichung starker leidensmindernder Medikamente dem ›Prinzip der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung‹ zufolge für die am wenigsten schlimme moralische Verfehlung halten. Wäre ich jedoch in der Rolle eines beratenden Angewandten Ethikers, könnte ich diese Vorgehensweise keinesfalls jedem Betroffenen nahelegen, weil nicht davon auszugehen ist, dass die Verabreichung von viel zu starken Medikamenten in Fällen wie dem vorliegenden tatsächlich für alle moralischen Akteure die subjektiv am wenigstens schlimme moralische Verfehlung wäre. Dagegen sprechen beispielsweise die empirischen Untersuchungen von Rydvall u.a. 2014, denen zufolge es in der schwedischen Ärzteschaft ebenso wie in der schwedischen Durchschnittsbevölkerung umstritten ist, ob zu den lindernden Maßnahmen nach einem Behandlungsabbruch bei schwer hirngeschädigten Neugeborenen auch Medikamente gehören dürfen, die den Tod beschleunigen oder gar herbeiführen würden. 85
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(11.2) Sollten sich aber derartige Gefühle einstellen, sollte der Prozess in eine zwölfte Phase der Rituale eintreten. (12) Mit der zwölften Phase der Rituale stellt sich die ›Angewandte Ethik der Zukunft‹ dem Problem der subjektiven Schuldgefühle (vgl. 8.c.2.2.2), die durch das Prinzip der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung ja (wie betont) lediglich etwas verringert, aber nicht vermieden werden können. (i) Wichtig wäre in meinen Augen zunächst einmal, dass der Angewandte Ethiker die Rationalität der subjektiven Schuldgefühle gegenüber den Entscheidungsträgern ausdrücklich anerkennt. Er könnte ihnen auseinandersetzen, dass subjektive Schuldgefühle nach einer Dilemma-Entscheidung rational sind, weil man mit einer Dilemma-Entscheidung einem gewichtigen moralischen Handlungsgrund zuwiderhandeln muss. Irrational wären lediglich Gefühle der Reue, insofern man unter ›Reue‹ den Wunsch versteht, die Entscheidung rückgängig machen zu können (vgl. 6.c). (ii) Genauso sollte er auch die Berechtigung der Restzweifel anerkennen, die sich nach der quasi erzwungenen Handlungsentscheidung ja nicht in Luft aufgelöst haben. Der Prozess der Entscheidung eines unlösbaren moralischen Dilemmas ist ein hoch komplexer Prozess, mit dem letztlich sogar der professionelle Angewandte Ethiker (seinem einschlägigen Fachwissen und seiner Vorbereitungszeit zum Trotz) überfordert wäre, wenn er tatsächlich alle moralisch relevanten Aspekte berücksichtigen müsste. Vor diesem Hintergrund sollte er ausdrücklich anerkennen, dass die Entscheidungsfindungsprozesse in Fällen unlösbarer moralischer Dilemmata nicht zuletzt wegen des enormen Zeitdrucks der konkreten Dilemma-Situationen fehleranfällig sind, so dass die Restzweifel der Entscheidungsträger dieselbe rationale Berechtigung wie ihre subjektiven Schuldgefühle haben. (iii) Gleichzeitig sollte der Angewandte Ethiker den Entscheidungsträgern aber auch erläutern, dass es in ihrer Entscheidungssituation zu viele Entlastungsgründe (vgl. 6.d) gegeben hat, als dass ein objektiver Schuldspruch gerechtfertigt wäre. Das bedeutet nämlich, dass subjektive Schuldgefühle nach einer Dilemma-Entscheidung als Anzeichen einer besonderen moralischen Sensibilität anzusehen sind, für die sich die betroffenen moralischen Akteure ausdrücklich nicht zu schämen brauchen. Nur moralisch abgestumpfte Menschen würden nach einer Entscheidung wie der getroffenen keine subjektiven Schuldgefühle empfinden. Deshalb sollte der Angewandte Ethiker darauf hinarbeiten, dass die Ent418
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scheidungsträger ihre subjektiven Schuldgefühle als Anzeichen dafür akzeptieren können, dass sie bewunderungswürdige Persönlichkeiten von ausgereifter moralischer Sensibilität sind. (12.1) Solche Tröstungen können von den subjektiven Schuldgefühle erfahrungsgemäß jedoch in aller Regel nicht wirklich entlasten. Das könnte nur durch eine Entschuldigung oder besser noch durch eine Wiedergutmachung des angerichteten Schadens geschehen. In vielen Fällen des moralischen Dilemmas sind diese Wege tatsächlich gangbar. (12.2) Wie Williams treffend betont, kann es jedoch gerade in den hier strittigen ›teuflischen‹ Fällen des moralischen Dilemmas passieren, dass der angerichtete Schaden »jenseits aller angemessenen Wiedergutmachungshandlungen« 88 liegt. Fälle wie die von Simon sind wie eine letzte Tür, die nicht wieder geöffnet werden kann, wenn sie einmal zugeschlagen wurde. Eine Wiedergutmachung ist nicht möglich, und entschuldigen können sich die Ärzte und Eltern bei Simon auch nicht. In solchen Fällen sollte der Angewandte Ethiker vorschlagen, Rituale zu entwickeln. Der Fantasie sollten dabei nur durch die Erfordernisse des Taktes Grenzen gesetzt sein. (12.2.1) Sollte die Entscheidung im Falle eines Neugeborenen-Dilemmas für eine Fortsetzung der Behandlung ausfallen, sollten Rituale entwickelt werden, die den täglichen Umgang mit dem schwerbehinderten Säugling regeln und das Baby aus seiner Isolation holen. Es sollten Rituale erfunden werden, durch die die Eltern den Tages- und Wochenablauf ihres Lebens mit einem schwer behinderten Kind gestalten könnten. Um die Isolation aufzubrechen, die Familien mit einem schwer behinderten Familienangehörigen leider oft droht, sollten in die Rituale auch Menschen mit einbezogen werden, die nicht zur Familie gehören. (12.2.2) In Simons Falle hat man sich für einen Abbruch der Behandlung und ein Sterbenlassen entschieden. In solchen Fällen ist es angebracht, dem Kind einen Namen zu geben. Außerdem sollten Rituale etabliert werden, durch die das Kind in der Zeit, in der es noch lebt, die Nähe der Eltern spüren kann. Außerdem sollte es eine Beerdigung und einen Grabstein geben. Vor allem aber sollte ein das Sterben begleitendes Ritual der Verabschiedung erfunden werden, aus dem ein Ritual der Erinnerung hervorgehen kann, das von den Eltern in genau 88
Williams 1979, 85.
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geregelten Zeitabständen regelmäßig wiederholt werden könnte. Simons Eltern haben ihren Sohn im Rahmen einer Nottaufe durch die Spitalseelsorgerin noch taufen lassen: Er ist also nicht als namenloses Frühchen gestorben, sondern als ein Kind, dem seine Eltern den Namen ›Simon‹ gegeben haben. Es wurden Fotos gemacht, und es gab auch eine Taufkerze. Und schließlich wurde Simon begraben, so dass es einen Ort gibt, zu dem die Eltern gehen können, um an ihren Sohn zu denken. 89 Gegen die Traurigkeit werden solche Rituale wenig ausrichten können, aber Simon wird der Respekt entgegengebracht, der einem leidenden kleinen Menschen zusteht, und das kann wenigstens die subjektiven Schuldgefühle etwas abmildern. Die Besonderheiten der ›pragmatistischen Nagelprobe‹ bestehen also in (i) ihrer zyklischen Struktur zur Vertiefung des Prozesses und zur Selbstkorrektur aller Beteiligten, im (ii) moralphilosophisch übergreifenden ›Werkzeuggedanken‹ der pragmatistischen Ethik, in (iii) einer gelenkten Interaktion zwischen professioneller Angewandter Ethik und den Entscheidungsträgern, in (iv) der prinzipiellen Möglichkeit der Diagnose ›unauflösbares moralisches Dilemma‹, im (v) ›Prinzip der subjektiven Minimierung der moralischen Verfehlung‹ als Entscheidungshilfe gegen das pragmatische Problem der fehlenden objektiven Maßstäbe zur Gewichtung von prima facie vergleichbar gewichtigen moralischen Handlungsgründen, im (vi) Pontius-PilatusArgument gegen das pragmatische Problem der Handlungshemmung durch Restzweifel und schließlich in (vii) der Phase der Rituale zur Linderung der quälenden subjektiven Schuldgefühle nach der Dilemma-Entscheidung. Dem Plädoyer zur Entwicklung von Ritualen könnte man nun entgegenhalten, dass Rituale den ›Tätern‹ (sprich: den Protagonisten einer Dilemma-Entscheidung) mehr nützen als den Opfern. Ja, man könnte sogar die Gefahr von Aufdringlichkeit und Taktlosigkeit am Horizont sehen. Beide Einwände müssen zugestanden werden. Nicht zuletzt deshalb sollte die Entfaltung von Ritualen ja ebenfalls zu den Aufgaben einer ›Angewandten Ethik der Zukunft‹ in Nagels Sinne gehören und nicht dem individuellen moralischen Akteur allein überlassen bleiben. Dagegen könnte man wiederum den Einwand erheben, dass der Moralphilosophie mit diesem Vorschlag eine Ausweitung in andere Felder zugemutet wird. Auch diesem Einwand muss stattgege89
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ben werden. Allerdings muss sich die Angewandte Ethik ja auch das Wissen anderer Fachwissenschaften (wie beispielsweise der Neonatologie oder der Psychologie) aneignen, um eine Entscheidungsempfehlung für bestimmte Dilemmata abgeben zu können. Insofern scheint es wenig dramatisch zu sein, wenn sie sich auch bei der Kunst, der Ästhetik oder der Theologie bedient. Für Rituale nach Dilemma-Entscheidungen sprechen allerdings nicht nur psychologische und ästhetische Gründe. Es gibt auch einen sehr gewichtigen moralphilosophischen Grund, den ich am Ende besonders deutlich hervorheben möchte: Wer nach einer Dilemma-Entscheidung Rituale der Entschuldigung, der Wiedergutmachung und der Erinnerung entwickelt und vollzieht, erkennt damit ausdrücklich vor sich selbst und vor anderen an, dass er im Zuge seiner DilemmaEntscheidung gegen einen gewichtigen moralischen Handlungsgrund verstoßen hat und sich dessen auch voll bewusst war. In der angelsächsischen Debatte wurde immer wieder davor gewarnt, dass mit der Anerkennung des moralischen Dilemmas dem moralischen Skeptizismus oder gar dem moralischen Nihilismus 90 Tür und Tor geöffnet würde und dass die Moralphilosophie in Zynismus und Resignation versinken würde. 91 Tatsächlich sind Rituale der Wiedergutmachung und der Erinnerung nach einer Dilemma-Entscheidung ein Bollwerk gegen Resignation, Zynismus, moralischen Skeptizismus und moralischen Nihilismus, weil sie zum Ausdruck bringen, dass der Akteur weiß, dass er gegen einen gewichtigen moralischen Handlungsgrund verstoßen musste. Das ist ein wichtiger moralphilosophischer Grund dafür, dass das Entfalten von Ritualen ebenfalls zum Aufgabenbereich des Angewandten Ethiker gehört: Die Rituale beweisen, dass die Anerkennung der Möglichkeit des moralischen Dilemmas nicht per se einem moralphilosophischen Skeptizismus oder Nihilismus nach sich ziehen muss, wie in der angelsächsischen Debatte immer wieder behauptet wurde. Das Schema zur ›pragmatistischen Nagelprobe‹ kennt viele Umwege und Wiederholungen. Damit trägt es der Tatsache Rechnung, dass man (nachdem die Möglichkeit des moralischen Dilemmas grundsätzlich zugegeben wurde) moralische Entscheidungsunsicherheiten, RestVgl. dazu mit Blick auf die Anstrengungen der deontischen Logik Zoglauer 1998, 18 f.; sowie Sinnott-Armstrong 1988, 108. 91 McConnell 1978, 173. 90
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zweifel und subjektive Schuldgefühle sehr ernst nehmen muss. Es birgt zudem die Gefahr einer moralphilosophischen Überkomplexität (vgl. 8.d.5) und sogar die Gefahr einer Endlosschleife (vgl. 8.d.10.2). Damit wird das Schema der Tatsache gerecht, dass es moralische Konflikte gibt, die sich kaum entscheiden lassen, weil alle möglichen Alternativen furchtbar sind. Dennoch aber kann das Schema beanspruchen, in vielen Fällen der explizit eingeräumten Möglichkeit des moralischen Dilemmas zum Trotz eben doch systematische Handlungsorientierung für vernünftige moralische Akteure leisten zu können, womit gezeigt wäre, dass die Moralphilosophie vor dem Problem des moralischen Dilemmas nicht kapitulieren muss. In Nagels Augen wären wir »reichlich naiv«, wenn wir annehmen würden, »daß es für jedes moralische Problem, vor das uns die Welt stellen kann, eine Lösung geben muß«. Er beschließt seinen Essay von 1977 deshalb mit folgendem Diktum: »Wir wussten es ja seit jeher: Die Welt ist schlecht. Nun sieht es gar so aus, als könnte sie obendrein noch böse sein.« 92 Ich weiß nicht, ob die Welt böse ist, weil sie moralische Dilemmata zulässt. Ich weiß aber, dass wir uns nicht davon niederdrücken lassen müssen, dass uns manche Situationen zwingen, etwas moralisch Falsches zu tun. Die Tatsache, dass es moralische Dilemmata gibt, muss uns nicht handlungsunfähig machen.
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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Marie-Luise Raters
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