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German Pages 392 [386] Year 2004
Giovanni B. Sala Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ Ein Kommentar
Giovanni B. Sala
Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ Ein Kommentar
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn. Redaktion: Barbara Schmitt-Honold, Karlsruhe.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2004 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de
ISBN 3-534-15741-9
Inhalt Einleitung des Verfassers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Werdegang der Ethik Kants 1. Kants Ethik und die Tradition der Schulphilosophie
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2. Zwei Interpretationen der Ethik Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Die Morallehre Wolffs als Heimatort der Ethik Kants . . . . . . . . . . . . .
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4. Die Lehre Wolffs als Ausgangspunkt der Ethik Kants
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5. Die ersten Schriften, die einen Rückschluß auf die ethische Position des dreißigjährigen Kant erlauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Verbindlichkeit und moralisches Gefühl in der Preisschrift über die „Deutlichkeit der Grundsätze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7. Die „Beobachtungen“: das Gefühl der Schönheit und Würde der menschlichen Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8. Die „Bemerkungen zu den Beobachtungen“: Die ethische Prinzipienlehre gewinnt ihre endgültige Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Die sittliche Verbindlichkeit ist das Gesetz der Übereinstimmung des allgemeinen Willens mit sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Die neue Lehre vom moralischen Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Rousseaus Einfluß auf Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9. Die neue ethische Position in den „Träumen eines Geistersehers“
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10. Kants Ethik um die Mitte der 60er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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11. Die Inauguraldissertation von 1770 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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12. Ein Intermezzo: „Die ersten Gründe der Sittlichkeit“ in der „Kritik der reinen Vernunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
13. Die erste Fassung der Ethik Kants: die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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14. Die nicht erwartete „Kritik der praktischen Vernunft“ . . . . . . . . . . . . .
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Kommentar zur „Kritik der praktischen Vernunft“ Vorrede (A 3–28) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar zu A 3–25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Allgemeinheit und Notwendigkeit in der menschlichen Erkenntnis Kommentar zu A 26–28 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung. Von der Idee einer Kritik der praktischen Vernunft (A 29–32) . . . . .
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Der Kritik der praktischen Vernunft erster Teil: Elementarlehre der reinen praktischen Vernunft (A 33–266) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstes Buch. Die Analytik der reinen praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . Erstes Hauptstück. Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft (A 35–100) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Erklärung (A 35–38) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkung (A 35–38) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Der Gegenstand einer menschlichen Handlung . . . . . . . Exkurs: Die zwei Grundformen der Ethik: die Ethik des guten Lebens und die Ethik der Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Lehrsatz I (A 38–40) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Das Objekt des Begehrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Lehrsatz II (A 40–48) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkung I (A 41–45) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkung II (A 45–48) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4. Lehrsatz III (A 48–51) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5. Aufgabe I (A 51–52) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 6. Aufgabe II (A 52–54) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkung (A 52–54) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7. Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft (A 54–58) . . . . . . . . Exkurs: Die Allgemeinheit als Form des moralischen Gesetzes . . . 1. Die Form der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Verhältnis der Formel der Allgemeinheit zu den zwei anderen Formeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 8. Lehrsatz IV (A 58–71) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkung I (A 59–61) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Der Autonomie-Gedanke in der Ethik Kants . . . . . . .
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Inhalt
Anmerkung II (A 61–71) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft (A 72–87) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im praktischen Gebrauche zu einer Erweiterung, die ihr im spekulativen für sich nicht möglich ist (A 87–100) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Hauptstück. Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft (A 100–126) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs über die Priorität des moralischen Gesetzes vor dem Begriff des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Teil: Die Definition des Guten (A 100–114) . . . . . . . . . . . . . Zweiter Teil: Die Kategorien der Freiheit (A 114–119) . . . . . . . . . . . Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dritter Teil: Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft (A 119–126) a) Die Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b)Das transzendentale Schema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar zu A 119–126 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft (A 126–191) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar zu A 126–128 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs über das Fehlen eines oberen Begehrungsvermögens in der Ethik Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar zu A 128–132 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs über die Unterscheidung von Wille und Willkür bei Kant . . . . . 1. Freiheit im erkenntnistheoretisch-metaphysischen Kontext der KrV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheit im Kontext der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Versuch einer terminologischen Festlegung in der „Metaphysik der Sitten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gesetzgebung und Handeln gegen das Gesetz . . . . . . . . . . . Kommentar zu A 133–146 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Pflicht, Neigungen und Liebe im Menschen als moralischem Wesen Kommentar zu A 146–153 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs zur „Grenzbestimmung“ der menschlichen Vernunft . . . . . . . . Kommentar zu A 153–159 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft (A 159–191) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Teil: Ein Vergleich zwischen den ersten zwei Kritiken (A 159– 165) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Teil: Sittlichkeit und Glückseligkeit (A 165–167) . . . . . .
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Inhalt
Dritter Teil: 1. Freiheit und Naturdeterminismus (A 167–179) . . . . Kommentar zu A 167–174 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs über die Auffassung von der Freiheit als Abwesenheit von Zwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar zu A 174–179 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Freiheit und Naturdeterminismus . . . . . . . . . . . . . 1. Die Frage nach der Freiheit bei Kant . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheit als zeitlose Kausalität. Die Behandlung der Freiheit in der dritten Antinomie der „Kritik der reinen Vernunft“ (KrV A 444–452; 532–558) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Freiheit im praktischen Verstande . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwei voneinander unabhängige Welten oder eine einzige mehrschichtige Welt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dritter Teil: 2. Freiheit und Gott als Schöpfer (A 179–185) . . . . . Exkurs: Die Freiheit des Menschen und Gott als Erstursache . . Vierter Teil: Die Freiheit und die Erweiterung der Erkenntnis im Felde des Übersinnlichen (A 185–191) . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Buch. Dialektik der reinen praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . Erstes Hauptstück. Von einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft überhaupt (A 192–197) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar zu A 192–194 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Kants Idee des Unbedingten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar zu A 194–197 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Hauptstück. Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut (A 198–266) . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar zu A 198–199 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Das höchste Gut und die Glückseligkeit als dessen Bestandteil . 1. Das höchste Gut in den Schriften Kants . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Gutes . . . . . . 3. Die Rezeption der Kantischen Lehre vom höchsten Gut . . . . . 4. Das höchste Gut und die Sinnhaftigkeit des Lebens . . . . . . . . 5. Das Sittengesetz verpflichtet zu dem, was für den Menschen gut ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Eine verspätete Wiedergewinnung des Gutes als Gegenstand und Ziel menschlichen Handelns in der Dialektik . . . . . . . . . . . Kommentar zu A 199–203 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Antinomie der [reinen] praktischen Vernunft (A 204–205) . . . II. Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft (A 205–215) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Ein irreführender Versuch, den Dialektik-Teil zu einer „Auflösung des Scheins“ zu machen . . . . . . . . . . . . . . . . III. Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen (A 215–219) . . . . . . . . . . . .
202 202 206 208 211 211
213 215 217 221 227 229 234 234 235 236 239 243 244 245 245 247 248 250 252 255 257 259 263 269 270
Inhalt
IV. Die Unsterblichkeit der Seele als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft (A 219–223) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Glückseligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar zu A 220–223 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Dasein Gottes als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft (A 223–237) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die zwei Versionen des moralischen Gottesbeweises . . . . . . . 3. Die Textlage: Drei verschiedene Fassungen des moralischen Gottesbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der moralische Gottesbeweis in der KrV . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Postulat Gottes in der KpV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Text des Postulats (A 223–227) . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Der epistemische Stellenwert der Postulate – Wissen und Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der moralische Gottesbeweis in der „Kritik der Urteilskraft“ und in der Religionsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Kommentar zu den Abs. 4–10 (A 227–237) . . . . . . . . . . . . . VI. Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft überhaupt (A 238–241) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: Der Begriff von Postulat bei Kant vor der KrV . . . . . Kommentar zum Text (A 238–241) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Postulate der reinen praktischen Vernunft oder analoge Erkenntnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs zur Dreierzahl der Postulate . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft in praktischer Absicht, ohne damit ihre Erkenntnis als spekulativ zugleich zu erweitern, zu denken möglich sei? (A 241–255) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Theoretische und praktische Erkenntnis; spekulative Erkenntnis und Naturerkenntnis (KrV A 633–635) . . . . . . . . Kommentar zu A 241–254 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der reinen Vernunft (A 255–263) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar zu A 255–259 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs zum Problem des „ens necessarium“ . . . . . . . . . . . . . Kommentar zu A 259–263 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Von der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen (A 263–266) Exkurs: Wissen oder Glauben an Gott? . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Kritik der praktischen Vernunft zweiter Teil: Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft (A 267–288) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
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Inhalt
Beschluß (A 288–291) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Zur Wirkungsgeschichte der Ethik Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Verzeichnis der zitierten Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Auswahlbibliographie zur Ethik Kants
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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
Einleitung des Verfassers 1. Das vorliegende Werk über die „Kritik der praktischen Vernunft“ ist aus Vorlesungen und Seminaren erwachsen, die ich jahrelang an der „Hochschule für Philosophie“ in München über die Ethik Kants anhand seiner Grundlegungsschriften („Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und „Kritik der praktischen Vernunft“) gehalten habe. Über die Philosophie Kants, näherhin über seine Ethik, existiert bekanntlich eine immense Sekundärliteratur, die sowohl historisch wie auch systematisch auf diese ethische Konzeption insgesamt wie auf sämtliche Einzelheiten eingeht. Es fehlt auch nicht an guten zusammenfassenden Darstellungen der beiden genannten Schriften. Wenn aber ein Student die KpV direkt kennenlernen will, weil ihm immer wieder eingeschärft wird, er solle die Grundwerke der Philosophie im Originaltext lesen, oder weil er an einem Seminar über die KpV teilnimmt, so findet er bald, daß angesichts des für ihn undurchsichtigen Textes Kants der Ertrag seiner direkten Beschäftigung mit dem Text in umgekehrter Proportion zur außerordentlichen Anstrengung steht, die eine solche Lektüre ihm abverlangt. Deshalb wächst in ihm die Versuchung, doch zu einem Handbuch der Philosophie oder zu einer Monographie zu wechseln. Denn er kann nicht für jeden neuen Begriff und für jede schwierige Argumentation der KpV einen speziellen Artikel darüber (und wenn, welchen?) zu Rate ziehen. Abgesehen von einigen alten und schwer zu findenden Erläuterungen, die noch um die Zeit Kants verfaßt wurden und die für den heutigen Leser kaum hilfreich sein können, und von ein paar eher paraphrasierenden Werken des 20. Jahrhunderts, gibt es im deutschsprachigen Raum bis dato keinen durchgehenden Kommentar zur KpV. Einzige Ausnahme ist der „Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason“ des amerikanischen Kant-Scholars Lewis White Beck von 1960, der 1974 von Karl-Heinz Ilting ins Deutsche übersetzt wurde. Das Buch ist als „systematischer Kommentar“ konzipiert. Deshalb fügt sein Verfasser alle Abhandlungen über gleiche Themen zusammen, die im Original über verschiedene Orte der Schrift verteilt sind, und erläutert jeweils ein Thema als Ganzes. Zugleich aber versucht er, die Anordnung der Partien bei Kant soweit wie möglich beizubehalten, so daß sein Buch in einem beschränkten Ausmaß auch als durchgehender Kommentar zum Text Kants gelten kann. Der Vorteil eines solchen Verfahrens bringt aber unvermeidlich den Nachteil mit sich, daß der Leser nicht selten ohne genügende Hilfe bleibt, wenn es darum geht, die einzelnen Lehrstücke und Argumentationen Kants an ihrer jeweiligen Stelle in ihrem unmittelbaren Sinn sowie in der Logik des Aufbaues des Werkes insgesamt zu erfassen. Diese Kluft zwischen einer Gesamtdarstellung der Ethik Kants und dem Text des Philosophen, wie er nun einmal ist, zu schließen oder, realistischer gesagt, dem Leser überbrücken zu helfen stellt die leitende Absicht des vorliegenden Kommentars dar. Der Preis dafür aber ist, daß der Leser die verschlungenen Pfade Kants mitgehen und
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ihre vielen Wiederholungen nachvollziehen muß – was freilich die Lektüre des Kommentars erschwert, genauso wie die Lektüre des Originaltextes für ihn schwer ist. Diesen Nachteil habe ich zu mildern versucht; da ich bei einer späteren nochmaligen Behandlung eines Themas beim Leser eine gewisse Kenntnis voraussetzen konnte, habe ich entweder einfach auf die frühere Erläuterung verwiesen oder die nötige ergänzende Erklärung zum bereits Gesagten hinzugefügt. 2. Der Kommentar ist prinzipiell als textnahe Erläuterung eines Absatzes nach dem anderen angelegt. Zur Bezeichnung habe ich die Absätze abschnittsweise durchnumeriert. Gelegentlich werden mehrere Absätze zusammen erläutert, wenn ihr Inhalt dies ohne Nachteil für den Leser erlaubt. Aufgrund der viel beklagten Verständnisschwierigkeiten, die zahlreiche Texte Kants bereiten, konnte ich manchmal dem Leser nicht mehr als eine plausible Interpretation vorlegen, wobei die Angabe des Für und Wider meiner Interpretation in vielen Fällen den Rahmen eines Kommentars weit überschritten hätte. Der Kommentar versucht, jede Stelle in dem für sie relevanten Kontext auszulegen. Dies bedeutet eine Absage an zwei in Kants Sekundärliteratur verbreitete Vorgehensweisen: einerseits an eine harmonisierende Lektüre, die über sämtliche Unebenheiten hinweggleitet; andererseits an eine „konstruierende“ Lektüre, die unterschiedliche Texte als Material nimmt, um die eine Position Kants zu einem Thema zu präsentieren. Anders gesagt, es wird darauf verzichtet, „aus divergierenden Gedanken Kants ein interpretatorisches Gemisch herzustellen, das keinen Bezug auf ein bestimmtes Werk erkennen läßt“1. Bei einem sich in ständiger „Unruhe“ befindenden Denken wie demjenigen Kants sind allerlei Spannungen an der Tagesordnung. Deshalb ist ein Kommentator aufgefordert, zu prüfen, ob sich ein Text als Entwicklung, Ergänzung oder auch als bewußte Korrektur eines früheren verstehen läßt, und zugleich die Gründe zu ermitteln, die Kant zu solchen Abwandlungen bewegt haben könnten. Dabei ist nicht ausgeschlossen, daß der Kommentator keine bessere Erklärung findet, als einfach eine Inkonsequenz oder einen glatten Widerspruch feststellen zu müssen. Eine Erläuterung allein des Wortlauts der einzelnen Absätze genügt aber zu einer wirklichen Erschließung des Textes der KpV nicht. Denn es kommen immer wieder Grundbegriffe vor, deren Bedeutung mit Kants System als Ganzem zusammenhängt, sich also nicht darin erschöpft, wie Kant sie an einer bestimmten Stelle definiert oder wofür er sie anwendet. An diesen Stellen ist eine weiter ausgreifende Erläuterung nötig. Diesem Zweck dienen die „Exkurse“, die ich im Verlauf des durchgehenden Kommentars eingeschoben habe. Sie verfolgen ein doppeltes Ziel, das von Fall zu Fall mit einer verschiedenen „Dosierung“ erreicht wird. Erstens: Ursprung, Tragweite und Problematik eines Begriffes bzw. Lehrstückes werden im breiteren Kontext des Denkens Kants besprochen. Zweitens: Es wird, soweit es mir sinnvoll erscheint, eine systematische Beurteilung der im Begriff oder Lehrstück zum Ausdruck kommenden Position Kants vorgenommen. Ich habe mich bemüht, beide Ziele möglichst klar voneinander zu unterscheiden, so daß der Kommentar als Erschließung dessen, was Kant in 1
M. Albrecht, Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim 1978, 17, Fn 9.
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diesem Werk gemeint hat, auch für denjenigen hilfreich sein kann, der meine Beurteilung nicht teilt. Obwohl das Buch als eine gesamte Erläuterung der KpV für Anfänger verfaßt wurde, kann es, wie ich hoffe, auch für diejenigen von Nutzen sein, die ein bestimmtes Thema intensiv behandeln sollen; denn eine spezielle Arbeit setzt eine möglichst klare Sicht des Ganzen voraus, in das ein Lehrstück eingeordnet ist. Bei der Analyse des Textes habe ich, wenn auch ohne Vollständigkeit zu beanspruchen, Stellen aus den Schriften Kants angegeben, die zum Verständnis des in Frage stehenden Passus oder Begriffes beitragen können. Damit ist dem Leser die Möglichkeit gegeben, die Interpretation zu vertiefen und meine eigene zu überprüfen. Viel Material in Sachen Moralphilosophie findet sich außer in den zwei Grundlegungsschriften auch in der späteren „Metaphysik der Sitten“ sowie im Band 19 des handschriftlichen Nachlasses („Reflexionen“) und im Band 24 der Vorlesungsnachschriften. All dieses reiche Material von verschiedener Qualität und Zuverlässigkeit konnte ich nur in sehr beschränktem Umfang verwenden. Andernfalls hätte ich viel ausführlicher auf die Entwicklung und auf Änderungen der Ethik Kants im Verhältnis zu dem eingehen müssen, was er in der KpV vorgelegt hat. Besondere Aufmerksamkeit wird in diesem Kommentar den Ausführungen und den Partien gewidmet, in denen Kant auf der Grundlage seiner Erkenntnis- und Seinslehre argumentiert, wie er sie in der KrV ausgearbeitet hat. Grundthese des Kommentars ist, daß der Kern der KpV vom Transzendentalidealismus unabhängig ist. Dennoch ist der Einfluß der ersten Kritik auf die zweite beträchtlich, und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer Struktur – unter diesem Aspekt ist der Einfluß eher äußerlich und kaum von sachlicher Bedeutung –, sondern vielmehr hinsichtlich der Perspektive und des Beweisgangs ganzer Partien sowie einzelner Lehrstücke. Ein bloßer Hinweis auf eigentümliche Begriffe der Transzendentalphilosophie allein würde dem Leser nicht zu einem wirklichen Verständnis dessen verhelfen, was hinter manch esoterischen Ausdrücken und Thesen Kants steckt. Ich habe deshalb versucht, auf die erkenntnistheoretischen und metaphysischen Positionen einzugehen, die der KrV eigentümlich sind und die den genannten Begriffen, Argumenten und Ansichten zugrunde liegen. Diese Zielsetzung verlangt allerdings, auch nicht direkt ethische Fragen viel intensiver zu behandeln, als dies in Arbeiten über Kants Ethik für gewöhnlich der Fall ist. 3. Kant hat mit seiner lebenslangen Überlegung über die, wie er sie nennt, „höchsten Zwecke unseres Daseins“ (KrV B 395) nicht nur seiner Pflicht als akademischer Lehrer Genüge getan, sondern auch, ja in erster Linie, um Fragen gerungen, die jeden denkenden Menschen unbedingt angehen. Dies gilt insbesondere für seine ethische Reflexion, die unvermeidlich mit erkenntnistheoretisch-metaphysischen Problemen zusammenhängt. Dies bedeutet, daß auch der Leser der KpV nur dann dem Denken Kants gerecht werden kann, wenn er sich mit derselben intellektuellen Redlichkeit und zugleich mit demselben existentiellen Ernst diesen Problemen stellt. Denn es gilt für jeden Leser: „Res tua agitur“. Ein angemessenes Verständnis und eine entsprechende Würdigung der Positionen, die Kant in der Ethik bezogen hat, und der Argumente, mit denen er sie gerechtfertigt hat, kann von einem ständigen Bezug auf die Realität, um die es geht, nicht absehen. Was die Beurteilung der Ansichten Kants im Bereich der
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Moral angeht, ist es deshalb angebracht, an das Wort des Meisters zu erinnern, das er damals seinen Kritikern zurief: „Was philosophisch richtig sei, kann und muß keiner aus Leibnizen lernen, sondern der Probierstein, der dem einen so nahe liegt wie dem anderen, ist die gemeinschaftliche Menschenvernunft, und es gibt keinen klassischen Autor der Philosophie“2. Freilich schließen Stellung nehmen und Beurteilen auch die Möglichkeit bzw. die Gefahr mit ein, den Autor zu mißverstehen und einem Irrtum zu verfallen. Der vorliegende Kommentar beabsichtigt, den Leser zu begleiten bei seinem Bemühen, das zu verstehen, was Kant in einem anderen geistesgeschichtlichen Kontext als dem gegenwärtigen über Fragen gedacht hat, die nicht an einen einzigen Kontext gebunden sind. Es ist die Frage nach dem Menschen, der sich nicht der Verantwortung entziehen kann für das, was er in Freiheit werden und für die Welt, in der er leben will. Über die anthrolopologisch-ethische Sicht, die Kant in seinen Schriften dargelegt hat, wurde seitdem in der Philosophie und überhaupt in der Kultur der letzten zwei Jahrhunderte viel geschrieben. Ich habe mich bemüht, von der entsprechenden Literatur soweit möglich Kenntnis zu nehmen. Im vorliegenden Buch konnte ich sie aber, schon aus Platzgründen, nur in einem sehr geringen Maß zur Sprache bringen und erörtern, auch weil es für den durchschnittlichen an diesem Werk Interessierten eher verwirrend wäre, ihn in die Details der vielen divergierenden Positionen zu verwickeln, die hinsichtlich der Lehrstücke und Begriffe der KpV bezogen wurden. 4. Ein eigenes Problem war für den Verfasser die Weise des Zitierens. Im Unterschied zu anderen klassischen Autoren der Philosophie gibt es bis heute noch keine einheitliche Weise, wie man auf die Schriften Kants verweisen soll. Dennoch hat sich, zumindest seitdem Wilhelm Weischedel zusammen mit Norbert Hinske eine Ausgabe des gesamten Werkes Kants, soweit es von ihm selbst veröffentlicht wurde, herausgegeben haben (1960), weitgehend die Praxis durchgesetzt, die Schriften Kants entweder nach deren Originalpaginierung, die in dieser Ausgabe wiedergegeben ist, zu zitieren, oder/und nach der Akademie-Ausgabe (1902ff.), die außer den von Kant veröffentlichten Schriften drei weitere Sektionen umfaßt: Briefe, handschriftlichen Nachlaß und Vorlesungsnachschriften. Um eine breite Benutzung des Kommentars zu erleichtern, habe ich mich für einen Mittelweg entschieden. Die drei Kritiken werden nur nach der Originalpaginierung zitiert; alle andere Schriften nach der Originalpaginierung, soweit vorhanden, und nach der Akademie-Ausgabe. Auf die letztere wird durch Band- (römische Ziffer) und Seitenangabe (arabische Ziffer) verwiesen. Während ich für die erste und dritte Kritik die Kürzel KrV und KU verwende, verweise ich auf die zweite Kritik lediglich mit A und Seitenangabe. Nur in den Fällen, in denen aus dem Kontext nicht eindeutig hervorgeht, daß es sich um die zweite Kritik handelt, verwende ich das Kürzel KpV. Umgekehrt wird, an den Stellen, an denen ich mich mehrere Male nacheinander auf dasselbe Werk beziehe, das entsprechende Kürzel nur einmal angegeben (es geht vor allem um die KrV und die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“: GMS). 2 „Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll“, A 123 Fn = VIII, 219.
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Das Kürzel MS steht für die „Metaphysik der Sitten“. F steht für die sog. „Reflexionen“, nämlich für die Notizen, die Kant vor allem in seine mit weißen Blättern durchschossenen Exemplare der Lehrbücher, die seinen Vorlesungen zugrundelagen, zwecks seines mündlichen Vortrags eingetragen hat. Kant verwendet in der KpV (im ersten Hauptstück der Analytik) den Terminus „Anmerkung“, um eine Unterabteilung eines Stückes zu bezeichnen. Um Mißverständnisse zu vermeiden bezeichne ich Fußnoten daher nicht mit „Anm.“, sondern mit Fn. 5. An dieser Stelle möchte ich meinen Hörern für ihr Interesse an meinen Lehrveranstaltungen und für die Anregungen, die sie mir dadurch zukommen ließen, danken. Es ist mir eine angenehme Pflicht, der Hochschule für Philosophie zu danken, ohne deren akademischen Rahmen und vielfältige Arbeitsmittel ein langes Studium der Philosophie Kants nicht möglich gewesen wäre. Besonders verpflichtet bin ich meinem Mitbruder P. Herbert Günther für seine ständige Bereitschaft, mir in der deutschen Sprache beizustehen. Frau Elisabeth Freudling hat als Germanistin dankenswerterweise mit Sorgfalt und Kompetenz das ganze Manuskript gelesen und grammatisch wie stilistisch verbessert. Mit ihrer ehrenvollen Einladung, das vorliegende Werk zu verfassen, hat die „Wissenschaftliche Buchgesellschaft“, zuerst in der Person von Bruno Frisch, dann von Dr. Bruno Kern, mir den nötigen Anstoß gegeben, diese Mühe auf mich zu nehmen. Beiden Lektoren sei hier gedankt. Am Ende der langen Arbeit bin ich mir noch mehr über die Unzulänglichkeiten dessen im klaren, was ich den Lesern vorlege. Dennoch möchte ich die Hoffnung nicht aufgeben, daß auch so das Buch eine Hilfe sein kann, die Konzeption Kants von der ethischen Dimension des Menschen zu verstehen. „Est quadam prodire tenus, si non datur ultra“ (Horaz, Epistularum liber primus, 1, 32) München, im Juni 2003
Giovanni B. Sala S.J.
Der Werdegang der Ethik Kants
1. Kants Ethik und die Tradition der Schulphilosophie Kant gilt als „Altersdenker“3. In der Tat sind sämtliche Hauptwerke von ihm erschienen, als er zwischen 57 und 66 Jahre alt war. Sie waren der Ertrag einer langen Beschäftigung vor allem mit den Denkern seiner Zeit, wie es damals üblich war. Dies gilt für seine Erkenntnis- und Seinslehre in der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) wie auch für seine Ethik in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) und in der „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788), allerdings mit einem beachtenswerten Unterschied. Wenn wir uns das Kernstück der ersten Kritik ansehen, nämlich die „transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ mit den anschließenden „Grundsätzen des reinen Verstandes“, die Kants transzendentalen Idealismus begründen, so ist ihre Problematik und Argumentationsweise von der Erkenntnis- und Seinslehre, die Kant zu seiner Zeit vorfand, weitgehend unabhängig. Es ist wohl wahr, daß Kant in den 60er Jahren die drei metaphysischen Disziplinen – Psychologie, Kosmologie und Theologie – einer Überprüfung unterzogen und ihre Beweise für unschlüssig befunden hatte und daß gerade aus dieser Einsicht die Idee jener radikalen Lösung hervorgegangen war, die später „kopernikanische Wende“ genannt wurde. Aber diese Auseinandersetzung mit der herkömmlichen Metaphysik war lediglich die Negativfolie der pars construens. Letztere ist in ihrer eigenen Begrifflichkeit und Argumentationsweise nicht aus dem vorgegebenen Kontext durch einen Prozeß von Kritik, Umformung und Aneignung entstanden. Anderes gilt für die Beziehung der Ethik Kants zum damaligen Kontext. Ihr Werdegang, den wir dank der Frühschriften Kants sowie seines handschriftlichen Nachlasses und seit den siebziger Jahren des 20.Jahrhunderts auch dank der Vorlesungsnachschriften über Moralphilosophie verfolgen können, ist mit dem damaligen Stand der ethischen Reflexion eng verbunden. Die oben genannten Schriften erlauben uns einen ziemlich detaillierten Einblick in die Schritte, durch die Kant nach und nach einzelne Bestandteile der dominierenden Morallehre Wolffs näher in Betracht zog, sie zurückwies oder aber in abgewandelter Form übernahm und dabei Begriffe terminologisch neu festlegte, bis er um die Mitte der 60er Jahre oder kurz danach einen Kern von Lehrstücken als Grundlage für die Ausarbeitung einer eigenen, neuen Morallehre gewann. Dies erfolgte allerdings erst in den 80er Jahren. Auch wenn Kant im Bereich der Morallehre keine Umkehrung der bis dahin allgemein vertretenen Lehre herbeiführte wie etwa im Falle der Erkenntnis- und Seinslehre, so bewirkte er doch auch in dieser Sparte eine tiefgreifende Zäsur. Die philoso3 Cl. Schwaiger, Kategorische und andere Imperative. Zur Entwicklung Kants praktischer Philosophie bis 1785, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, 27.
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Der Werdegang der Ethik Kants
phisch-theologische Reflexion, die seit dem frühen Mittelalter unter der Bezeichnung „Scholastik“ trotz allerlei Umwälzungen und Änderungen bis ins 18. Jahrhundert weitergegangen war,4 kam nach Kant und gerade durch ihn an den Universitäten Europas zum Erliegen. Dies bedeutet zwar nicht, daß diese jahrhundertelange Tradition einfach verschwand, zumal wenn man dem Aufkommen der historischen Forschung im 19. Jahrhundert Rechnung trägt. Wohl aber fand nach dem Zusammenbruch des Deutschen Idealismus als Fortsetzung der Kantischen Transzendentalphilosophie die akademische Bildung keinen Anschluß mehr an jene scholastische Tradition, der Kant selbst an der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen noch seine Ausbildung verdankt hatte. Es soll im folgenden zuerst die Anfangslage umrissen werden, die Kant vorfand und von der aus er allmählich zu einer eigenen Sicht der Prinzipien der Moral gelangte. Seine ersten zwei Abhandlungen, die eine, wenn auch eher allgemeine Beziehung zur Ethik aufweisen, nämlich das kosmologische Werk „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ und die Habilitationsschrift „Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio“, sind 1755 erschienen. Nach Max Wundts vorgeschlagener Periodisierung fiel die Zeit dieser Schriften in den Anfang des dritten und letzten „Menschenalters der Aufklärung“ (1750–1780). Das vorhergehende Menschenalter (1720–1750) hatte unter der beherrschenden Persönlichkeit von Christian Wolff (1679–1754) gestanden. Dessen deutsche Schriften, die in schneller Folge zwischen 1713 und 1726 erschienen waren, wurden bald Gemeingut der deutschen Aufklärung, während die darauffolgenden noch umfangreicheren lateinischen Schriften ihn zum „praeceptor Europae“ machten. Im Unterschied zum ersten Menschenalter der Aufklärung (Thomasius), das nicht so sehr das Sein als vielmehr den Menschen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt hatte, kehrte Wolff zu einem sachbezogenen Denken zurück, in dem die Ontologie als Grundlage fungierte. Dennoch behielt die Reflexion über den Menschen als moralisches Wesen eine hervorragende Stellung. Das 18. Jahrhundert gilt ja als „ein Jahrhundert der praktischen Philosophie“5. Dies erhellt unter anderem aus dem Umfang der Werke, die Wolff ihr widmete: der deutschen Ethik von 1720 („Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit“) folgten zwei Bände der „Philosophia practica universalis“ (1738–39); von seiner Rückkehr nach Halle 1740 bis an sein Lebensende war Wolff nur noch mit der Ausarbeitung seiner praktischen Philosophie einschließlich des Naturrechtes beschäftigt. Als Kant begann, sich dem gelehrten Publikum durch seine Veröffentlichungen vorzustellen, hatte der Siegeszug Wolffs an den deutschen Universitäten seinen HöheFür den deutschsprachigen Raum wurde dies von Max Wundt dokumentiert. 1945 hat er seine klassische Monographie über die Aufklärung veröffentlicht unter dem Titel: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945; dies als Fortsetzung seiner Untersuchung: Die deutsche Schulmetaphysik des 17.Jahrhunderts, Hildesheim 1939. 5 W. Schneiders, Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Hamburg 1990, 24. 4
1. Kants Ethik und die Tradition der Schulphilosophie
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punkt bereits überschritten. Der Preis für die rasche Verbreitung der Wolffschen Philosophie war deren eigene Verflachung gewesen. Parallel dazu wich sie einem Eklektizismus, der einerseits Grundlehren von Leibniz und Wolff selbst preisgab, andererseits empiristische und materialistische Lehrstücke aus England und Frankreich in sich aufnahm. Das Zurücktreten der metaphysischen Spekulation, mit Ausnahme der natürlichen Theologie, war durch ein wachsendes Interesse für psychologische Fragen und eine anthropologisch-moralische Zwecksetzung der Philosophie überhaupt ersetzt worden, so daß diese in den Dienst der Bildung des Volkes trat6 und zu einer „Popularphilosophie“ wurde. Obwohl sich an verschiedenen Universitäten eine Reaktion auf Wolff formierte, blieb für längere Zeit der vorgegebene Stand der philosophischen Fragen für Anhänger und Gegner immer noch der, den Wolff festgelegt hatte. Deshalb ist zu untersuchen, wie das Denken Kants sich von diesem Standpunkt aus zu der Position entwickelte, die uns aus seinen Grundschriften der 80er Jahre bekannt ist und die die weitere philosophische Reflexion im Bereich der Ethik in eine andere Bahn leitete.
6 Die Wolffsche Ethik hatte ja dazu beigetragen, ein universelles bürgerliches Bildungsideal zu begründen, vor allem durch ihr Eintreten zugunsten eines ungehinderten Gebrauchs des Verstandes. Vgl. dazu H. Poser, „Die Bedeutung der Ethik Christian Wolffs für die deutsche Aufklärung“, in: Theoria cum praxi (Akten des III. Internationalen Leibniz-Kongresses 1977), Bd. I, Wiesbaden 1980, 206–217.
2. Zwei Interpretationen der Ethik Kants Weil der Neukantianismus des 19. Jahrhunderts im Werk Kants einseitig eine Wissenschaftstheorie idealistischer Prägung sah und pflegte, konnte die Ethik Kants erst gegen Ende desselben Jahrhunderts Gegenstand einer angemessenen Untersuchung werden. Diese Untersuchung weist zwei unterschiedliche Perioden auf, denen zwei verschiedene Beurteilungen hinsichtlich der Entstehung und der Eigenart dieser Ethik entsprechen.7 Die erste Interpretation geht auf das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zurück, als vier Doktorarbeiten zum Thema der Entwicklung der Kantischen Ethik erschienen.8 Es war die Zeit der entwicklungsgeschichtlichen Kantinterpretation, wobei allerdings die Aufmerksamkeit in erster Linie der theoretischen Philosophie, näherhin der KrV galt. Es war aber auch die Blütezeit des Neukantianismus mit der von ihm stark hervorgehobenen Trennung von vorkritischer und kritischer Periode. Dies führte ohne weiteres zur Annahme, daß auch die praktische Philosophie in den Schriften der 80er Jahre eine wesentlich andere als diejenige sei, die Kant vorher vertreten hatte, d. h. daß sie ebenfalls eine Konsequenz des transzendentalphilosophischen Ansatzes sein mußte. Für eine solche Beurteilung stützte man sich hauptsächlich auf zwei Texte (die einzigen!) der Frühschriften, in denen Kant ausdrücklich auf die Ethik eingeht. Erstens auf den moralphilosophischen Paragraphen am Ende der Preisschrift „Über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral“ (A 96–99 = II 7 Für den Werdegang der Ethik Kants beziehe ich mich vor allem auf das fundamentale Werk J. Schmuckers: Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen, Meisenheim am Glan 1961. Wichtig sind auch einige Abhandlungen D. Henrichs: „Hutcheson und Kant“, in: KS 49 (1957/58) 49–69; ders., „Über Kants früheste Ethik. Versuch einer Rekonstruktion“, Ebd. 54 (1963) 404–431; ders., „Über Kants Entwicklungsgeschichte“, in: Philosophische Rundschau 13 (1965) 252–363. Zuletzt hat Cl. Schwaiger vom Blickpunkt einer speziellen Thematik aus (Kategorische und andere Imperative) nochmals die Frage nach der Entstehung der Ethik Kants aufgegriffen. Unter Anwendung der inzwischen in der Akademie-Ausgabe veröffentlichten Vorlesungsnachschriften über Moralphilosophie (Bde. XXVII und XXIX) sowie über Anthropologie (Bd. XXV) konnte er einige bedeutsame Präzisierungen und Korrekturen bisheriger Resultate vornehmen. Vgl. auch meine zusammenfassende Darlegung in Anlehnung an die Studie Schmuckers: „Das Gesetz oder das Gute? Zum Ursprung und Sinn des Formalismus in der Ethik Kants“, in: Gregorianum 71 (1990) 67–95, 315–352. 8 Die bekannteste ist die von P. Menzer, deren zweiter Teil 1898 und 1899 in den damals gegründeten Kant-Studien (KS) veröffentlicht wurde: Menzer, Paul, Der Entwicklungsgang der Kantischen Ethik in den Jahren 1760–1785. Teil 1, in: KS 2 (1898) 290–322 und Teil 2 in: KS 3 (1899) 41–104.
2. Zwei Interpretationen der Ethik Kants
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298–300), wo Kant auf „Hutcheson und andere“ verweist, die im „moralischen Gefühl“ die Quelle der „materialen Grundsätze“ der praktischen Philosophie gesehen haben. Zweitens auf die Vorlesungsankündigung von 1765, in der Kant mitteilt, er werde „die Versuche des Shaftesbury, Hutcheson und Hume“ (neben den der Vorlesung zugrundegelegten Kompendien Baumgartens!) berücksichtigen, weil diese britischen Moralisten „in der Aufsuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit am weitesten gelangt sind“ (A 13 = II 311). Außerdem war es aus dem handschriftlichen Nachlaß bekannt, daß Kant in seiner Auffassung der Ethik stark von Rousseau beeinflußt worden war.9 Aus all dem schien ausgemacht, daß der Anfang der Ethik Kants aus einer mehr oder minder totalen Abkehr von der einheimischen Moralphilosophie der Schule, namentlich der Wolffschen Schule, unter dem Einfluß der britischen Gefühlsmoral und Rousseaus bestanden habe. Nach derselben Interpretation kehrte Kant später zu einer rationalen Begründung der Moral zurück und näherte sich damit wieder bestimmten Lehrstücken des scholastischen Erbes. Denn im § 7 seiner Inauguraldissertation von 1770 nannte er die moralischen Begriffe als Beispiele für Begriffe, die hinsichtlich ihres Ursprungs intellektuell sind, während er im § 9 die „perfectio moralis“ als „Urbild“ bezeichnete, „das nur mit dem reinen Verstande begriffen werden kann“, und infolgedessen Shaftesbury und seine Anhänger tadelte, weil sie das Kriterium der Sittlichkeit „in das Gefühl der Lust und Unlust verlegt“ hätten. Aber auch diese spätere rational begründete Morallehre mußte, nach der Veröffentlichung der ersten Kritik, noch durch die transzendentale „Revolution der Denkart“ (KrV B XI) hindurchgehen, bevor sie die Gestalt der „kritischen“ Ethik annehmen konnte. Dies geschah in den Schriften von 1785 und 1788. Obwohl also die ältere Interpretation in der endgültigen Gestalt der Ethik Kants einen gewissen Einfluß einzelner Elemente der Schulphilosophie anerkannte und damit eine gewisse Kontinuität mit der Tradition wahrte, blieb das oben referierte Schema für die gängige Interpretation maßgeblich. Dies war in den 20er Jahren noch immer der Fall, als Menzer zum ersten Mal eine Vorlesungsnachschrift Kants veröffentlichte.10 Erst seit dem Ende der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts hat sich die Sichtweise geändert: Die Berechtigung der Unterscheidung einer vorkritischen und einer kritischen Ethik bei Kant (im Sinne des Transzendentalidealimus!) wurde in Frage gestellt. Den Anfang machte Dieter Henrich mit einem Aufsatz über Hutcheson und Kant. Er 9 Es handelt sich um: Bemerkungen zu den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, die Friedrich Wilhelm Schubert 1842 im Rahmen seiner Gesamtausgabe zum Teil, dabei aber in einer mangelhaften Weise, ediert hatte. Vgl. dazu G. Lehmann in seiner „Einleitung“ zur vollständigen Edition des Textes im Bd. XX der Akademie-Ausgabe (1942), 471–479. 1991 hat M. Rischmüller die Schrift mit dem Titel Bemerkungen in den „Beobachtungen …“ neu herausgegeben und kommentiert (Hamburg 1991). 10 P. Menzer (Hrsg.), Eine Vorlesung Kants über Ethik, Berlin 1924. Unter Heranziehung einer anderen Handschrift wurde sie 1979 von G. Lehmann in der Akademie-Ausgabe („Moralphilosophie Collins“, XXVII 241–473) neu ediert. Zu den editorischen Problemen der Edition Menzers wie auch derjenigen Lehmanns vgl. Cl. Schwaiger, Kategorische und andere Imperative, 144–146.
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untersuchte zwar einen der englischen Moralphilosophen, in denen die ältere Kantinterpretation immer schon eine entscheidende Quelle der vorkritischen Ethik gesehen hatte, stellte aber fest, daß Kant bereits seit der Mitte der 60er Jahre im großen und ganzen im Besitz der in den ersten beiden Abschnitten der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ entwickelten Theorie war. Allerdings, so fügt Henrich noch im Sinne der früheren Kantinterpretation hinzu, war „die transzendentale Begründung der sittlichen Einsicht noch nicht zu Kants Zufriedenheit gelungen“11. Den eigentliche Durchbruch zu einer neuen Interpretation der Ethik Kants verdanken wir dem Regensburger Professor Josef Schmucker. Er untersuchte die vorkritischen Schriften Kants, die Autoren, die Kant am meisten beeinflußt haben (Wolff, Crusius, Hutcheson und Rousseau), die „Reflexionen“ Kants zur Moralphilosophie sowie andere relevante Teile des handschriftlichen Nachlasses und die Ethikvorlesung Menzers. Infolge seiner Analyse des Quellenmaterials gelangte Schmucker zu der Einsicht, „daß den beiden großen Vertretern der deutschen Aufklärungsphilosophie, Wolff und Crusius, eine wesentlich größere Bedeutung für die Entwicklung der Kantischen Ethik zukommt, als sie ihnen gemeinhin zugeschrieben wird, und daß umgekehrt der Einfluß der englischen Moralphilosophen und in gewissem Sinne auch der Rousseaus von den meisten Interpreten dementsprechend überschätzt wird“12. Inhaltlich heißt dies, daß die fundamentalen Prinzipien der späteren sog. kritischen Ethik bereits in der ersten Hälfte der 60er Jahre grundgelegt worden waren, so daß die Unterscheidung von kritischer und vorkritischer Ethik überhaupt problematisch wurde. Kurz darauf veröffentlichte Henrich eine weitere Abhandlung13, in der er die früheste Ethik Kants im Kontext der deutschen Morallehre des 18. Jahrhunderts untersuchte und die Position Schmuckers zumindest teilweise bestätigte.14
D. Henrich, „Hutcheson und Kant“, 66. J. Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants, 21f. 13 D. Henrich, „Über Kants früheste Ethik“ in: KS 54 (1963) 404–431. 14 Henrich spricht zwar von den Schwierigkeiten Kants, seine Grundidee in der Ethik – die Lehre um die Mitte der 60er Jahre – „in Übereinstimmung mit der Lösung von Problemen der theoretischen Philosophie zu bringen, die er ebenfalls über mehrere Stufen voranbrachte“ (ebd. 404), gibt aber nicht näher an, um welche Schwierigkeiten es sich handelt und vor allen Dingen, ob sie die eigentliche Ethiklehre betrafen oder aber Voraussetzungen oder Konsequenzen, die sich erst als Probleme herausstellten, nachdem Kant seine transzendentalidealistische Wendung vollzogen hatte. Diese Distinktion ist m. E. entscheidend. Ihre nähere Bedeutung wird sich konkretisieren, wenn wir den Dialektik-Teil der KpV analysieren werden. 11 12
3. Die Morallehre Wolffs als Heimatort der Ethik Kants Im Unterschied zum ersten Menschenalter der Aufklärung, das der scholastischen Tradition gegenüber feindlich gesinnt war, knüpfte Wolff an diese Tradition an. Er wollte sie erneuern, indem er ihr eine neue, aus dem Geist der neuen Zeit geborene Gestalt gab. Den empirisch ausgerichteten Aristotelismus der Scholastik übersetzte er in die Sprache des Beziehungsdenkens , indem er versuchte, materielle und geistige Realität je voneinander herzuleiten und alles im Zusammenhang darzustellen. Will man dies Rationalismus nennen, schreibt Wundt (vgl. M. Wundt, „Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung“, 151 f.), so kann man sagen, daß Wolff die Scholastik rationalisiert bzw. den Aristotelismus ins Rationale und Methodische übertragen habe. Das Methodische dabei verstand Wolff im Sinne des mathematischen Verfahrens, wie es auch in den Titeln seiner lateinischen Werke deutlich wird: „methodo scientifica pertractata“.15 Dasselbe bedeutet der Ausdruck „Vernünfftige Gedancken …“ im Titel der deutschen Schriften, insofern die Vernunft das Vermögen ist, welches Verbindungen und systematische Ordnung in unsere Erkenntnisse bringt. Dies war die eigene Leistung Wolffs mit seinem das gesamte Gebiet der Philosophie umfassenden Schrifttum. An der Universität Königsberg, wie schon an den meisten deutschen Universitäten, faßte Wolffs Lehre ziemlich rasch Fuß. Auch dort entstand ein spannungsreiches Verhältnis zwischen dem bereits etablierten Pietismus und dem frischen Geist der LeibnizWolffschen Philosophie. Bekanntlich war es vor allem Wolffs Auffassung vom Sittengesetz, die den Theologen und den tief religiös gesinnten Pietisten die größte Schwierigkeit bereitete. Denn nach Wolff sind die freien Handlungen gut oder böse aufgrund des jeweils gewollten Objektes, wobei der Mensch in der Lage ist, mit seiner Vernunft diese objektive Gutheit oder Schlechtigkeit zu erkennen. Damit schien die Moralität des Menschen dem göttlichen Willen entzogen zu werden. Die Opposition gegen den Wolffianismus machte sich auch in Königsberg bemerkbar und sorgte dort ebenso für Kontroversen. Dennoch war der trübe Zustand nicht von langer Dauer: Die aufstrebende neue Philosophie wurde von einer Feindin des Pietismus zu einer offenen Freundin. Der Professor der Beredsamkeit J. G. Bock konnte 1732 dem Literaturhistoriker Johann Christoph Gottsched in Leipzig folgendes mitteilen: „Sie werden sich nicht wenig wundern …, daß die Wolfianische Philosophie von 15 Die Dissertation, mit der Wolff 1703 in Jena den Magistergrad erwarb, trägt geradewegs den Titel „Philosophia practica universalis, mathematica methodo conscripta“. Wolff hielt lange Zeit Vorlesungen über Mathematik (einschließlich Infinitesimalrechnung), wofür er viel benutzte Lehrbücher verfaßte.
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den Hallensern selbst nunmehr allhier eingeführt und als die allerbeste jedermann angepriesen wird“16. Als Kant ab 1740 sein Studium an der Universität Königsberg absolvierte, wurde ihm gewiß diese Philosophie vertraut gemacht. Denn es steht fest, daß zu dieser Zeit Lehrbücher Wolffs und bald auch seiner Schüler und Anhänger an fast allen Universitäten Deutschlands in Gebrauch waren. Allerdings besitzen wir wenige direkte Notizen darüber, welche Professoren Kant gehört und an welchen Vorlesungen er teilgenommen hat. Auch hinsichtlich der späteren Lehrtätigkeit Kants, so wie wir sie durch seine Veröffentlichungen, seinen schriftlichen Nachlaß und die Nachschriften seiner Hörer kennen, läßt sich kein genaues Bild von direkten Kenntnissen gewinnen, die Kant vom Opus Wolffs besaß. Kürzlich faßte Cl. Schwaiger in seiner Habilitationsschrift den Gesamtbefund zu dieser Frage dahingehend zusammen, „daß Kant zu Beginn seiner Lehrtätigkeit auch Wolff selber studiert haben dürfte, aber die spätere ständige Beschäftigung mit Baumgartens Handbüchern die eigentliche Lehre Wolffs mehr und mehr überlagert hat“17. Als „Mutterboden“ der Ethik Kants dürfte demnach das Wolffsche System gelten, freilich aber in der Form, wie dieser Boden von Baumgarten – dem Meister gegenüber verhältnismäßig eigenständig – bestellt worden war. Andererseits spricht der Umstand, daß Kant während der ganzen Zeit seiner Lehrtätigkeit Kompendien von Wolffianern zugrundelegte, dafür, daß er trotz aller Kritik an seinen Autoren, die im Nachlaß und in den Vorlesungsnachschriften dokumentiert ist, diese Philosophie nicht einfach hinter sich gelassen hatte. Dies gilt insbesondere für seine Morallehre, die, wie es aus deren Entstehungsgeschichte und aus beiden Werken der 80er Jahre hervorgeht, keine Revolution der Art gekannt hat, wie diejenige, welche ihn in der Erkenntnis- und Seinslehre zum transzendentalen Idealismus führte. Kants Vorzugsautor war Alexander Gottlieb Baumgarten, der damals bekannteste und einflußreichste Vertreter der Wolffschen Philosophie. Von ihm benutzte Kant in den Vorlesungen über Metaphysik wie auch über Anthropologie die „Metaphysica“ und für die Vorlesungen über Moral zwei Lehrbücher. Vom WS 1756/57 an verwendete Kant die 1740 erschienene „Ethica philosophica“. Sie bildet, schreibt Schwaiger, „gewissermaßen die ‘materia prima’ und den ursprünglichen Bezugspunkt von Kants moralphilosophischem Nachdenken. Im Prozeß der kritischen Aneignung und Durchdringung des dort gebotenen Lehrstoffes wird sich erstmals eine gewisse Systematik Kants auf ethischem Gebiet herausgebildet haben“18. Als 1760 die „Initia philosophiae practicae primae“ Baumgartens herauskam, hat Kant auch dieses Lehrbuch hinzugenommen.19
B. Erdmann, Martin Knutzen und seine Zeit, Leipzig 1876, ND Hildesheim 1973, 21. Cl. Schwaiger, Kategorische und andere Imperative, 33. 18 Cl. Schwaiger, Kategorische und andere Imperative, 33f. 19 Die oben genannten Kompendien sind in der Akademie-Ausgabe wiederabgedruckt worden: Baumgartens „Metaphysica“ im Bd. XVII und XV, 1; die „Ethica philosophica“ im Bd. XXVII, 2.1, und die „Initia“ im Bd. XIX. 16 17
4. Die Lehre Wolffs als Ausgangspunkt der Ethik Kants 1720 veröffentlichte Wolff im Rahmen seiner deutschen Lehrbücher die „Deutsche Ethik“. Sie gliedert sich in zwei Teile: Einen allgemeinen über die Prinzipien, die das freie und verantwortliche Handeln des Menschen leiten sollen, und einen normativen in Form einer Pflichtenlehre. Während nun Wolff bei der Grundlegung seiner praktischen Philosophie unter dem Einfluß von Leibniz auf die scholastische Tradition zurückgreift, kommt ihm in der Pflichtenlehre gegenüber früheren philosophischen Ethiken, insbesondere gegenüber Leibniz, mehr Eigenständigkeit zu.20 Die Prinzipienlehre Wolffs im Bereich der Ethik ergibt sich aus seiner rationalistischen Auffassung vom Menschen. Der Mensch als Geistwesen besteht wesentlich im Erkenntnisvermögen, nämlich in seiner „vis repraesentativa universi“. Nun schaut die Seele die Vollkommenheit ihres Zustandes an; daraus entspringt die Lust und aus dieser das Begehren nach derselben Vollkommenheit. Wolff ordnet also die Lust in die Reihe der Erkenntnisse ein. „Indem wir die Vollkommenheit anschauen, entsteht bei uns die Lust, daß demnach die Lust nichts anderes ist, als ein Anschauen der Vollkommenheit“ (Dt. Metaphysik, § 404). Wie aber diese Erkenntnis entweder eine verworrene (sinnliche) oder aber eine deutliche (intellektuelle) sein kann, so gehört das Begehren nach der Vollkommenheit entweder dem sinnlichen oder aber dem intellektuellen Begehrungsvermögen zu (letzteres ist der Wille). Der Begriff der Vollkommenheit besagt die höchste Entfaltung der menschlichen Natur, denn „die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen macht die Vollkommenheit der Dinge aus“ (Dt. Metaphysik, § 152). Die substantielle Vollkommenheit des Menschen liegt in seiner vorgegebenen Natur. Sie bildet den Maßstab für die freien Handlungen des Menschen.21 Durch seine freien Handlung kommt darüber hinaus dem Menschen eine akzidentelle Vollkommenheit zu. Damit ist Wolff imstande, die „allgemeine Regel für die freien Handlungen“, das Sittengesetz, zu formulieren: „Thue was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener macht; unterlaß, was ihn unvollkommener macht“ (Dt. Ethik, § 12). Es handelt sich um ein „Gesetz der Natur“ (Dt. Für die folgenden Ausführungen, die vor allem die deutsche Ethik berücksichtigen, vgl. die Einleitung von H.-W. Arndt zum Bd. 4 der I. Abteilung des Neudrucks der „Gesammelten Werke“ Wolffs, Hildesheim, 1976. Außerdem H. Poser, „Die Bedeutung der Ethik Christian Wolffs für die deutsche Aufklärung“, in: Studia Leibniziana Supplementa, Bd. XIX, Wiesbaden 1980, 206–217 und die Monographie von Cl. Schwaiger, Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995; ders. „Vollkommenheit als Moralprinzip bei Wolff, Baumgarten und Kant“, in: M. Oberhausen (Hrsg.), Vernunftkritik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Kants und seines Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2001, 317–328. 21 Die Ethik Wolffs, wie überhaupt die der Aufklärung, ist eine naturrechtliche. 20
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Der Werdegang der Ethik Kants
Ethik § 17 und 19) im Unterschied zum göttlichen positiven Gesetz oder zu einem vom Menschen erlassenen Gesetz, weil es direkt von der Natur des Menschen stammt. Nun führt der ungehinderte Fortgang in der Vollkommenheit zum höchsten Gut, das als Endzustand in der Glückseligkeit besteht, d. h. im Zustand beständiger Freude (Dt. Ethik, § 52). Drei Begriffe bestimmen den Kern der Wolffschen Ethik: die Vollkommenheit, die Verpflichtung und die Autonomie. Was den ersten Begriff anbelangt, so ist es, wie bereits erwähnt, die Übereinstimmung mit der leib-geistigen (rationalen) Verfassung des Menschen, die unsere freien Handlungen vollkommen und damit sittlich gut macht. Aus diesem Grund scheint mir der von Kant erhobene und seitdem oft wiederholte Vorwurf gegen Wolff, daß sein Prinzip leer und zirkelhaft sei (GMS A 91 f.= IV 443, und schon vorher im „einzig möglichen Beweisgrund“ A 44 = II 90), nicht zutreffend zu sein. Wahr daran ist, daß die von Leibniz übernommene Kurzformel der perfectio als „consensus in varietate“ (Ontologia, § 530) bzw. die aus der Metaphysica, § 152, bereits zitierte als rein formale nicht imstande ist, die moralische Beurteilung einzelner Handlungen zu begründen, wie Wolff selbst klar gesehen hat (Dt Ethik § 14). Der generellen Definition von Vollkommenheit kommt bloß heuristische Funktion zu. Als solche verlangt sie, daß wir zuerst spezifische und damit inhaltliche Begriffe von Dingen, näherhin vom Menschen gewinnen.22 Auf diese Weise gelangen wir zur Erkenntnis von Strebungen und Zielen, die in der Natur des Menschen als eines Leib-Geist-Wesens grundgelegt sind (wenn auch in einer Weise, die unterschiedliche Konkretisierungen zuläßt) und die darauf hinweisen, was für den Menschen als Menschen gut ist. Es ist Aufgabe der Vernunft als Ordnungsprinzip, das das Mannigfaltige in der Natur des Menschen erfaßt und den Seinswert und die Funktion der Bestandteile beurteilt, konkrete Handlungsnormen aufzustellen. Dies geschieht bekanntlich in einem historischen Prozeß des einzelnen und der Kultur, der nicht geradlinig vorangeht. Zum Begriff der Vollkommenheit ist allerdings hinzuzufügen, daß Wolff dazu tendiert, den „naturgemäßen“ Zustand des Menschen, mit dem sämtliche aufeinanderfolgenden Handlungen zusammenstimmen sollen, eher durch eine empirische Verallgemeinerung der vorangegangenen Zustände zu bestimmen als durch die Intelligibilität, die den natürlichen Strebungen in ihrer Komplexität und ihren gegenseitigen Beziehungen innewohnt. Die Verpflichtung, die Handlungen zu tun, die die Vollkommenheit des Menschen fördern, ergibt sich daraus, daß das Gute, das wir erkannt haben, als „Bewegungsgrund“ des Wollens wirkt. Denn „es geht nicht an, daß man eine an sich gute Handlung nicht wollen sollte, wenn man sie deutlich begreift … Wenn wir sie also nicht wollen, ist keine andere Ursache, als daß wir sie nicht erkennen“ (Dt. Ethik, § 6). Wolffs Ethik gehört deshalb zu den sog. intellektualistischen Theorien der Ethik. Damit aber sieht sich 22 Dies kann nur a posteriori durch die Einsicht in die Daten des betreffenden Dinges bzw. des Menschen geschehen, wobei hier von Empirismus nur derjenige sprechen kann, der die vermittelnde Funktion der Einsicht (Verstehen) zwischen den konkreten Daten und dem abstrakten und allgemeinen Begriff übersieht.
4. Die Lehre Wolffs als Ausgangspunkt der Ethik Kants
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Wolff, wie schon Leibniz, mit dem Problem konfrontiert, die Willensfreiheit mit der Determinierung des Willens durch das erkannte Gute, genauer gesagt, durch das in der konkreten Situation erkannte Beste zu vereinbaren. Zur Lösung Wolffs und deren Kritik durch Kant vgl. die „Nova Dilucidatio“, Propositio IX: I 399. Der dritte, für die Moral Wolffs charakteristische Begriff ist der der sittlichen Autonomie des Menschen – zugleich ein Grundzug der Aufklärung überhaupt. Hierfür knüpft Wolff an die Grundregel unseres Verhaltens als eines Gesetzes der Natur an. Denn wenn der Grund der Vollkommenheit, zu der dieses Gesetz uns verpflichtet, in den Sachen selbst liegt, so besagt die sittliche Verbindlichkeit zugleich die sittliche Autonomie der menschlichen Vernunft, insofern diese fähig ist, die Übereinstimmung eines Objektes mit dem Wesen des Menschen zu erkennen. „Weil wir durch die Vernunft erkennen, was das Gesetz der Natur haben will, so braucht ein vernünftiger Mensch kein weiteres Gesetz, sondern vermittelst seiner Vernunft ist er ihm selbst ein Gesetz“ (Dt. Ethik, § 24). Zum ersten Mal in der deutschen Aufklärung ist damit die Autonomie der ethischen Gesetze menschlichen Handelns behauptet. Indem Wolff zwischen der (Letzt-)Begründung des Sittengesetzes durch das Wesen Gottes einerseits (unmittelbar ist ja das Gesetz im Wesen des Menschen selbst gegründet) und dem Willen Gottes andererseits unterschied, konnte er sowohl die These aufstellen, daß das Sittengesetz in einem gewissen Sinne „stattfinden würde … wenn auch gleich kein Gott wäre“ (Dt. Ethik, § 20), als auch die Ansprüche der Theologen auf eine Auslegung des Gesetzes aufgrund der göttlichen Offenbarung einschränken – was dem Philosophen zum Verhängnis wurde. Ganz im Sinne der Aufklärung hat Wolff immer wieder darauf hingewiesen, daß die „Freiheit zu philosophieren in einem ungehinderten Gebrauch seines Verstandes besteht“ („Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften“, § 41). Wolff hat an die alte, ehrwürdige Tradition der Schule angeknüpft und sie mit Grundelementen des neuzeitlichen Weltbildes bereichert. Eine solche umfassende Synthese der Ethik, die in ihrer ersten Fassung u. a. durch die Verwendung der deutschen Sprache sowie eine treffsichere Wortwahl und passende Verdeutschung lateinischer Fachtermini gekennzeichnet war und durch den akademischen Unterricht eine breite Wirkung erlangte, konnten die nachrückenden Denker nicht ignorieren. Sie mußten von diesem Stand der Reflexion ausgehen, in welche Richtung auch immer sie weitergehen wollten.
5. Die ersten Schriften, die einen Rückschluß auf die ethische Position des dreißigjährigen Kant erlauben Ein doppeltes wissenschaftliche Interesse Kants – das naturwissenschaftliche Interesse, dem sich damals in zunehmendem Maße ein Interesse für erkenntnistheoretische und metaphysische Fragen zugesellte – spiegelt sich in zwei Veröffentlichungen aus dem Jahre 1755 wider. Gemeint sind sein kosmologisches Werk und seine Habilitationsschrift. Gewisse dort vertretene Ansichten erlauben den Schluß auf Aspekte einer Auffassung der Ethik, die im Rahmen der Wolffschen Lehre liegt. In den gewagten Spekulationen des dritten Teils der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ über die Bewohner anderer Planeten finden wir einen Zusammenhang von Erkennen und Handeln, der dem Intellektualismus der Ethik Wolffs nahesteht: a) Demzufolge besteht das Wesen der dem Menschen eigentümlichen Erkenntnis (der intellektuellen) in deutlichen und vollständigen Begriffen; b) das sittliche Handeln ist eine Folge aus dieser Erkenntnis, weil die Vorstellungen des Guten eine Bewegungskraft auf den Willen ausüben, die der Deutlichkeit und Vollständigkeit der Erkenntnis entspricht. Vom Grad der Vollkommenheit der Erkenntnis schließt Kant auf die Vollkommenheit des sittlichen Verhaltens, was nur in der Annahme verständlich ist, daß die Vorstellungen des Guten nach Maßgabe ihrer Vollkommenheit und Deutlichkeit den Willen bestimmen. Gerade dieser Zusammenhang von Anthropologie und Moralphilosophie ist einige Monate später in der Habilitationsschrift zum Thema einer eigenen Reflexion geworden. In der Dissertation „Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio“ vertritt Kant mit Wolff die uneingeschränkte Geltung des „principium rationis determinantis“ für das kontingent Seiende ausgerechnet gegen Crusius, in dem er sonst eine willkommene Autorität gegen Wolffs Metaphysik gefunden hatte. Er übernimmt die Freiheitslehre von Wolff und Leibniz, nämlich die Determinierung des Willens durch die intellektuelle Vorstellung des Besseren. In seiner Deutschen Ethik, § 10, hatte Wolff geschrieben: „Die Natur verbindet uns, das bessere dem geringeren vorzuziehen. Denn das bessere ist mehr gut als das andere und also ein stärkerer Bewegungsgrund.“ Im selben Sinne argumentiert Titius, der Wortführer Kants, in der Propositio IX. dahingehend, daß die Freiheit, falls sie ein „indifferentiae aequilibrium“ forderte, sich darin ausweisen würde, daß wir ebensogut die „deterior pars“ wählen, d. h. irrational handeln könnten. Freiheit würde bedeuten: „Durch Zufall geschehen die Handlungen, nicht durch Gründe werden sie bestimmt“. Dem Determinismus, den diese Auffassung von der Motivation des Willens mit sich bringt, begegnet Kant dadurch, daß er das Wesen der Freiheit in die Spontaneität legt, so daß ein Beweggrund, der dem Subjekt innewohnt und seinem natürlichen Streben konform ist, die Freiheit nicht aufhebt.
5. Die ersten Schriften
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Mit dieser Auffassung von Freiheit wird sich Kant mehr als dreißig Jahre später in der KpV auseinandersetzen und sie mittels seines transzendentalen Idealismus ablehnen (A 174 f.). Zugleich wird er jedoch die Ansicht vertreten, daß unsere Handlungen auf der Ebene der Sinnenwelt wegen des dort herrschenden Determinismus genau vorhersehbar sind, ähnlich wie nach der „Nova dilucidatio“ die Handlungen wegen des bestimmenden Grundes (der Hinneigung des Begehrens) „infallibiles“ und trotzdem „non inevitabiles“ sind (Prop. IX, confutatio dubiorum: I 402).
6. Verbindlichkeit und moralisches Gefühl in der Preisschrift über die „Deutlichkeit der Grundsätze“ Eine erste, ausdrückliche Entfernung von den Grundlagen der Morallehre Wolffs fand in der im Frühjahr 1762 abgeschlossenen Abhandlung „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“ statt. Dort bestritt Kant sowohl die Gleichsetzung von Realität und Vollkommenheit wie auch die Auffassung Wolffs, der die Vollkommenheit als „die größte Zusammenstimmung zu Einem“ (A 44 = II 90) angesehen hatte. Erst durch die gegen Ende 1762 verfaßte „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral“ – die einzige Frühschrift, die thematisch eine Prinzipienlehre der Ethik vorlegt und die den eigentlichen Beginn der Ethik Kants markiert – ist es möglich, mehr über die Konsequenzen dieser Kritik am fundamentalen Begriff der Wolffschen Ethik zu erfahren. Allerdings beschränken sich die Ausführungen Kants zur Moral auf wenige Seiten am Ende der Abhandlung. „Erster Begriff“ der Moral ist der Begriff der Verbindlichkeit, nämlich der Notwendigkeit einer Handlung oder der praktischen Notwendigkeit. Eine solche Notwendigkeit ist zweifacher Art: die Notwendigkeit der Mittel oder necessitas problematica und die der Zwecke oder necessitas legalis. Kant nimmt schon hier, wenn auch noch nicht mit voller Bestimmtheit, seine Lehre von den verschiedenen Arten des Imperativs im zweiten Abschnitt der „Grundlegung“ vorweg: die Unterscheidung von hypothetischen und kategorischen Imperativen. Die problematische Notwendigkeit ist die einer Handlung als Mittel zur Erreichung eines beliebigen Zweckes, die gesetzliche ist die einer Handlung, die unmittelbar „einem an sich notwendigen Zweck untergeordnet“ ist; sie ist deshalb eine unbedingte Verbindlichkeit, so wie der Zweck, dem sie gilt. Dieser Zweck liegt in der Beförderung der insgesamt größten Vollkommenheit; infolgedessen drückt Kant den „formalen Grund aller Verbindlichkeit“ in den Regeln aus: „Tue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist“ und „unterlasse das, wodurch die durch dich größtmögliche Vollkommenheit verhindert wird“. Auf der Suche nach einer möglichen Quelle für diese Differenzierung hat Schmucker auf Crusius verwiesen, der in seiner „Anweisung, vernünftig zu leben“ zwischen einer Verbindlichkeit der Klugheit und einer Verbindlichkeit der Tugend oder gesetzlichen Verbindlichkeit unterschieden hatte. Aber, so Schmucker, während die letztere Bezeichnung bei Crusius zutreffend war, weil er den Grund der moralischen Notwendigkeit im Gesetz des Schöpferwillens sah, ist sie bei Kant, der den Verweis auf Gott ausklammert, nicht ohne weiteres verständlich. Schwaiger möchte deshalb die Veranlassung zu der hier auftauchenden lateinischen Terminologie eher bei Baumgarten finden.23 Denn in beiden 23
Cl. Schwaiger, Kategorische und andere Imperative, 52–59.
6. Verbindlichkeit und moralisches Gefühl
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Kompendien seines „Autors“ fand Kant eine Moralphilosophie vor, die streng am Begriff der Verbindlichkeit ausgerichtet war und in der die Unterscheidung von Zweck und Mittel eine herausragende Rolle spielte. Hinzu kommt, daß die Adjektive „problematicus“ und „legalis“ in diesen Ethikkompendien verwendet werden, wenn auch nicht in einem Begriffszusammenhang mit „necessitas“. Nach der von Kant formulierten Regel wird also der Wille absolut von der Vollkommenheit oder dem Guten24 in Anspruch genommen. Was aber inhaltlich der Zweck oder das Gute sei, wird durch die oberste formale Regel nicht angegeben. Darin unterscheidet sie sich von der ähnlich lautenden „allgemeinen Regel für die freien Handlungen“ der Deutschen Ethik Wolffs, § 12. Für den letzteren, der eine naturrechtlich fundierte Moral vertritt, hat der Begriff der Vollkommenheit einen bestimmten Inhalt, und zwar die allseitige Vervollkommnung des Menschen. Aus diesem Grund setzt Kant der inhaltsleeren formalen Regel „materiale erste Gründe“ zur Seite, die als Vollkommenheiten oder Güter unter das formale Prinzip subsumiert werden können. Das Prinzip, das diese Güter erfaßt, ist nun das „moralische Gefühl“, das als „ein unauflösliches Gefühl des Guten“ beschrieben wird. Kant weist den ganzen Bereich der Inhalte des Sollens einem eigenen selbständigen Vermögen zu, nämlich dem Gefühl als dem Vermögen, das Gute zu empfinden, so wie das Erkenntnisvermögen das Wahre zum Gegenstand hat. Gut ist das, was unmittelbar und an sich ein Wohlgefallen in diesem Vermögen hervorruft; böse ist das, was unmittelbar und an sich mißfällt. Es handelt sich um „viele einfache Empfindungen des Guten“, die der Forderung des sittlichen Bewußtseins nach an sich selbst notwendigen Zwecken genug tun. Damit vertritt Kant ein intuitives Erfassen des unmittelbaren Wertcharakters bestimmter Handlungen. Für diese Lehre vom moralischen Gefühl als konstitutivem Element des sittlichen Imperativs bekennt Kant an unserer Stelle seine Dankesschuld namentlich Hutcheson, einem der britischen Philosophen der Gefühlsmoral. Für Wolff war die Grundkraft der Seele die „vis repraesentativa universi“25, die alle erkennenden Vermögen als ihre verschiedenen Vorstellungsgrade umfaßt und die strebenden oder praktischen Vermögen aus sich mit logischer Notwendigkeit entläßt. Unter dem Einfluß von Crusius26 und Hutcheson27 überwindet Kant den psychologischen Monismus Wolffs und trennt das Vermögen des Wahren vom Vermögen des Guten. Der Verstand vermag durch seine theoretische Betrachtung der Dinge nicht das Gute als solches und somit auch nicht als den notwendigen Zweck zu erkennen; er kann nur aus den vielen Empfindungen des Guten den rein formalen Begriff des Guten abstrahieren. 24 Kant nennt an unserer Stelle die zweifache Verpflichtung zur Vollkommenheit auch „Regeln des Guten“. 25 Wolff, Psychologia rationalis § 66ff.; Deutsche Metaphysik § 745, 755f. 26 Crusius, Ethik § 6 und 7; Metaphysik § 427, 27 Hutcheson, Erläuterungen zum moralischen Sinn, Stuttgart 1974, 14 f. (Es handelt sich um den zweiten Traktat unter dem Gesamttitel: An Essay on the Nature and Conduct of the Passions).
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Der Werdegang der Ethik Kants
Die moralphilosophische Abhandlung endet mit einer Bemerkung über die Zuordnung von Erkenntnisvermögen und Gefühl, die nach dem vorher Gesagten eher unerwartet kommt. Aus ihr ist zumindest zu entnehmen, daß Kant die Frage nach der Verbindlichkeit als noch einer Klärung bedürftig ansah. Nur seine nachfolgende Entwicklung wird Auskunft darüber geben, wie er die hier formulierte Alternative verstanden und versucht hat, sie zu lösen. In einer retrospektiven Betrachtung dieses ersten Versuchs einer Begründung der Moral scheint mir der Umstand besonders aufschlußreich zu sein, daß Kant den Begriff der Verbindlichkeit als den ersten Begriff einer Morallehre ansieht und ihn schon hier verhältnismäßig ausführlich behandelt. In einem gewissen Sinn ist es eine Selbstverständlichkeit, wenn man dem Begriff des Sollens eine grundlegende Bedeutung in der Moral zuschreibt. Nichtsdestoweniger muß man – im Lichte der späteren Entwicklung Kants – sagen, daß mit diesem Ansatz die entscheidenden Weichen gestellt sind, die Kants praktische Philosophie zu der haben werden lassen, für die sie in den zweihundert Jahren ihrer Wirkungsgeschichte gehalten worden ist: die Ethik der Pflicht schlechthin, die ihren eigentlichen Ausdruck im kategorischen Imperativ hat. Mit Bezug auf die Diskussion über den Grundcharakter der mannigfaltigen im Laufe der Zeit vertretenen ethischen Systeme und auf die sich dabei herauskristallisierte Unterscheidung zwischen den antiken und mittelalterlichen Theorien einerseits und den modernen Theorien andererseits als einer Unterscheidung zwischen den „Ethiken vom guten Leben“ und den „Ethiken der Normen“ muß man sagen, daß Kants Ethik zum zweiten Typ gehört, ja, daß sie zum Überhandnehmen dieses Typs entscheidend beigetragen hat. Zu diesem Thema werden wir ausführlicher beim Kommentar der KpV zurückkehren müssen. Hier mag es genügen zu bemerken, daß Kant dermaßen auf die Pflicht konzentriert ist als den typischen Modus, wie der Mensch auf das Gute bezogen ist28, daß er zwar nicht verneint, wohl aber weitgehend unerwähnt läßt, daß die Pflicht keine andere „Rechtfertigung“ und Begründung hat als vom Guten her. In der Tat ist es das Gute, was uns unbedingt in Anspruch nimmt; deshalb ist ein sittlich gutes Leben ein Leben nach den Tugenden, insofern diese die dynamischen Prinzipien und die Garantie eines „gelungenen“ Lebens darstellen. In der Preisschrift stehen Formal- und Materialprinzip weitgehend unvermittelt nebeneinander; daraus erklärt sich vielleicht Kants Unsicherheit, wie er sie am Ende der Abhandlung zur Sprache gebracht hat. Seine weiteren Überlegungen werden das Sollen noch mehr in den Vordergrund rücken und ihm auch die Rolle der Materialinstanz zuweisen.
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Die Pflicht ist der Modus eines nicht heiligen Willens. Vgl. GMS A 38f. = IV 413f.
7. Die „Beobachtungen“: das Gefühl von Schönheit und Würde der menschlichen Natur Der nächste Schritt, noch unter dem Einfluß Hutchesons, galt weiter dem moralischen Gefühl. Dies geschah in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, die Kant im Herbst 1763 abschloß. Sie enthalten, hauptsächlich im zweiten Abschnitt (A 19–32 = II 215–221), beachtenswerte Partien, die die Moralphilosophie betreffen und die einen deutlichen Fortschritt gegenüber der Position der Preisschrift darstellen. Der Thematik der Abhandlung gemäß wird das Sittliche am Menschen nach ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet. Am moralischen Charakter des Menschen sieht Kant das Erhabene in der Tugend und das Schöne in den „guten sittlichen Qualitäten“. Letztere können zwar nicht zur tugendhaften Gesinnung gezählt werden, bringen aber ein tugendähnliches Handeln hervor. Wesensmerkmal der „wahren Tugend“ (A 19 = II 215) ist, daß sie auf allgemeinen Grundsätzen basiert. Von diesen Grundsätzen schreibt Kant: „Diese Grundsätze sind nicht spekulativische Regeln, sondern das Bewußtsein eines Gefühls, das in jedem menschlichen Busen lebt und sich viel weiter als auf die besonderen Gründe des Mitleidens und der Gefälligkeit erstreckt. Ich glaube, ich fasse alles zusammen, wenn ich sage, es sei das Gefühl von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur. Das erstere ist ein Grund der allgemeinen Wohlgewogenheit, das zweite der allgemeinen Achtung“ (A 23 = II 217).29 In der Preisschrift hatte Kant eher allgemein (a) von einem „unauflöslichen Gefühl des Guten“ gesprochen, ja (b) von „vielen einfachen Empfindungen des Guten“, die (c) von sich aus einen „verworrenen Begriff des Guten“ hergeben. Jetzt ist (b’) von einem einzigen Gefühl die Rede, nämlich vom Gefühl der Schönheit und Würde der menschlichen Natur. Damit wird die Vielzahl der Inhalte eines unmittelbaren Wohlgefallens auf den umfassenden Grundwert der Person zurückgeführt. Weiter bedeutet dies, daß (a’) der Gegenstand des moralischen Gefühls nicht nur einfach, sondern, für eine ethische Prinzipienlehre viel wichtiger, allgemeingültig ist. Die Schönheit und Würde der menschlichen Natur, die wir im moralischen Gefühl erfassen, sind Beweggrund der allgemeinen Wohlgewogenheit und der allgemeinen Achtung. Diese allgemeine Gültigkeit macht nach den „Beobachtungen“ den spezifischen Unterschied zwischen dem moralischen Gefühl und den partikulären, der Beliebigkeit anheimgegebenen „gutherzigen Trieben“ aus (A 45 = II 227). Schließlich (c’) erkennt Kant jetzt dem Begriff des Guten einen bestimmten und deutlichen Sinngehalt zu: Sittlich gut sind die Gesinnungen und Handlungen, die der Schönheit und Würde der menschDie „Schönheit der menschlichen Natur“ bezeichnet die „Liebenswertheit“ der Person, die mit jeder Person gegeben ist. 29
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Der Werdegang der Ethik Kants
lichen Natur entsprechen. Die verschiedenen Arten guter Handlungen stellen so viele verschiedene Konkretisierungen der Wohlgewogenheit und Achtung dar, wie der menschlichen Natur gebühren. Der Fortschritt der „Beobachtungen“ liegt in ihrer näheren Bestimmung des Objektes des moralischen Gefühls, und zwar in Richtung der späteren zweiten Formel des kategorischen Imperativs, der Formel des Menschen als Zweck an sich selbst. Das materiale Prinzip der sittlichen Handlungen ist der Mensch, weil er „absoluten Wert“ hat (GMS A 64 = IV 428). In einem solchen „inneren Wert“ liegt die „Würde“ des Menschen (A 77 = IV 434 f.), der deshalb als „Gegenstand der Achtung“ gilt (A 65 = IV 428). Mit dieser näheren Bestimmung des Inhalts des moralischen Gefühls übernimmt Kant auch ein fundamentales Lehrstück der Morallehre der Schulphilosophie. Was Wolff mit seiner Grundregel der Moral „Tue was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener macht“ meinte (Dt Ethik § 12) und Kant mit seiner gleichlautenden, aber bloß formalen Regel in der Preisschrift: „Tue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist“ nicht ausdrücken konnte, wird in den „Beobachtungen“ durch die Neubestimmung des moralischen Gefühls und damit des ersten materialen Grundes der Verbindlichkeit wiedergewonnen. Eine solche Anlehnung an die Tradition läßt sich bei Kant mehrmals feststellen, wenn er vom formalen zum materialen Prinzip der Sittlichkeit übergeht. Den wunden Punkt der Kantischen Ethik, so wie sie in den Grundlegungsschriften zu einem System entfaltet vorliegt, sehe ich darin, daß die zwei Bestandteile der Morallehre nicht zu einer inneren Einheit gebracht werden. Die wertvollen Einsichten in das Objekt der Handlung werden nicht in die Theorie des moralischen Gesetzes eingebaut; sie liegen daneben und in einem Spannungsverhältnis zu ihr. Denn Kant hat schließlich dem moralischen Gesetz einen bloß formalen Charakter zugeschrieben, der jeglichen Inhalt als mit ihm unverträglich ausschließt.
8. Die „Bemerkungen zu den Beobachtungen“: Die ethische Prinzipienlehre gewinnt ihre endgültige Gestalt Nach dem Erscheinen der Hauptwerke Rousseaus im Jahre 1762, „Emile“ und „Contrat Social“, setzte eine zweite Phase in Kants Grundlegung der Moral ein, die zu einer Lösung der Frage nach der Begründung der absoluten Verbindlichkeit des moralischen Sollens führte. Entscheidend war dabei, daß dieselbe Lösung auch dem Ursprung des Inhaltes des Gesollten galt. Kants intensive Auseinandersetzung mit Rousseau fand ihren Niederschlag in den „Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“. Aus der Masse der „losen Blätter“ zu allerlei Themen, die in den Jahren 1764–1765 entstanden sein dürften, interessieren uns in diesem Zusammenhang vor allem die Notizen über die Prinzipien der Moral. Wegen der außerordentlichen Bedeutung dieser Notizen, die uns trotz ihres fragmentarischen Charakters den Formalismus der Ethik Kants gleichsam „in statu nascendi“ zeigen, sollen sie im folgenden ausführlich analysiert werden. Die Einstellung Kants zu den Ideen Rousseaus ist durchaus positiv. Dafür sei auf das persönliche Bekenntnis verwiesen: „Rousseau hat mich zurecht gebracht… ich lerne die Menschen ehren“ (XX 44).30
8.1 Die sittliche Verbindlichkeit ist das Gesetz der Übereinstimmung des allgemeinen Willens mit sich selbst Wir treffen in den „Bemerkungen“ aufs Neue die Lehre von den verschiedenen Arten des Sollens. Die lateinischen RR auf S. 149–150 und 155–156 enthalten schon die dreifache Unterscheidung der „Grundlegung“: eine „necessitas conditionalis“ und eine „categorica“, wobei die erstere weiter unterteilt wird, je nachdem, ob die Bedingungen der Notwendigkeit der Handlung bloß „possibiles“ oder gar „actuales“ sind. Ferner heißt es schon hier, daß zur Erkenntnis der bedingten Notwendigkeit, deren Bedingungen in der Tat allgemein erfüllt sind, nämlich der „necessitas prudentiae“, ein Kalkül („computatio“) nötig ist, während die „kategorische Notwendigkeit nicht so viel Mühe kostet“. Es fehlen freilich noch mehrere Begriffe und entsprechende Termini, die im „kanonischen“ Text der GMS A 40–44 = IV 414–417 als Ertrag der späteren Entwicklung hinzukommen werden, vor allem der Begriff des „Pragmatischen“ für den Bereich der Klugheit und der fundamentale Terminus „Imperativ“. 30 Im folgenden werde ich auf die Seiten im Bd. XX der Akademie-Ausgabe verweisen. Für die Wiedergabe der lateinischen Reflexionen übernehme ich die in der Edition von M. Rischmüller (vgl. Fn 9, S. 23) angegebene Übersetzung.
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Der Werdegang der Ethik Kants
Viel wichtiger als diese Klassifikation sind die Überlegungen über das Prinzip der Verbindlichkeit. Der Haupttext findet sich auf S. 156–15731: „Dieses Gefühl [durch das wir das Rechtliche abwägend zu unterscheiden lernen] hat seinen Ursprung in der Natur des menschlichen Geistes, durch die er das, was kategorisch gut ist (nicht nützlich), nicht nach dem privaten oder fremden Nutzen beurteilt, sondern dadurch, daß er dieselbe Handlung in andere verlegt; entsteht dann ein Gegensatz und Kontrast, so mißfällt sie, entsteht Harmonie und Einklang, so gefällt sie. Daher die Fähigkeit, sich in die Stelle anderer zu versetzen [facultas stationum moralium], als heuristisches Mittel. Wir sind nämlich von Natur gesellig und können ehrlicherweise das in uns nicht gutheißen, was wir bei anderen tadeln … Das Gutsein des Willens leitet sich von den Wirkungen des entweder privaten oder öffentlichen Nutzens ab und von der unmittelbaren Lust an ihnen, und die erstere hat ihren Grund im Bedürfnis, die letztere in der Macht zum Guten [potentia boni], die erstere bezieht sich auf den eigenen Nutzen, die letztere auf den Allgemeinnutzen, beide Gefühle stimmen mit der natürlichen Einfalt überein. Aber das Gutsein des Willens als eines freien Prinzips wird erkannt, nicht sofern aus ihm jene Vorteile entspringen, sondern sofern sie in sich möglich sind.“
Im zuletzt zitierten Absatz unterscheidet Kant zunächst zwei Arten der Gutheit des Willens, die aus den Wirkungen des Handelns hergeleitet wird: Die eine geht auf die Bedürftigkeit und den damit verbundenen Instinkt des eigenen Nutzens, die andere auf die Mächtigkeit zum Guten, d. h. auf den tätigen Instinkt des Gemeinnutzens zurück. Hierin deckt sich der Begriff der Gutheit des Willens mit Rousseaus Auffassung vom sittlich Guten: Gut ist das, was der naturhaften Selbstliebe des Menschen entspricht, wobei die Selbstliebe fähig ist, sich auch auf andere auszudehnen. Aber eine solche Gutheit ist für Kant noch nicht die „bonitas voluntatis tanquam principii liberi“, also noch nicht eigentlich Gutheit des Willens als moralischen Vermögens. Letztere Gutheit hängt zwar mit den Wirkungen bzw. Vorteilen zusammen, dies aber nur, insofern diese „in sich möglich sind“, d.h. moralisch möglich. In diesen Überlegungen dürfen wir den Ursprung der ersten Formel des kategorischen Imperativs sehen: die Formel der Allgemeinheit im Sinne der Universalisierbarkeit unserer Handlungen. Mehr noch, sie ermöglichen uns zu erfassen, wie Kant näherhin sein Prinzip der Verallgemeinerung verstanden hat, nämlich als Prinzip der Kohärenz des Willens mit sich selbst. Die Kohärenz als Prinzip des sittlich Guten, bzw. der Widerspruch als Prinzip des sittlich Bösen, hat eine doppelte Dimension. Denn in einer anderen Reflexion auf S. 160–162 unterscheidet Kant im Menschen zwei Arten von Willen: „Der Wille ist entweder der eigene des Menschen oder der gemeinsame der Menschen (die Verpflichtung aus dem gemeinsamen der Menschen) … Eine unter dem Aspekt des allgemeinen Willens der Menschen betrachtete Handlung ist dann, wenn sie sich selbst widerspricht, äußerlich moralisch unmöglich (unerlaubt). Laß mich im Begriff sein, die Früchte32 eines anderen in Besitz 31 Die entscheidenden Reflexionen über die Prinzipienlehre, in denen Kant den Kern seiner Morallehre der Grundlegungsschriften festlegt, finden sich eher gegen Ende der „Bemerkungen“ und sind lateinisch verfaßt. 32 Im Originaltext: „frumentum“, d.h. das Getreide.
8. Die „Bemerkungen zu den Beobachtungen“
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zu nehmen. Wenn ich dann sehe, daß kein Mensch unter der Bedingung, daß ihm entrissen wird, was er erworben hat, etwas erwerben will, so will ich eben das, was einem anderen gehört, in privater Hinsicht, in öffentlicher weise ich es ab. Soweit nämlich etwas von dem Willen eines Subjekts gänzlich abhängt, insoweit ist es unmöglich, daß er sich selbst (objektiv) widerspricht … Der Wille der Menschen widerspräche sich selbst, wenn sie wollten, daß sie mit dem Allgemeinwillen in Widerspruch stehen. Im Kollisionsfall ist nämlich der Allgemeinwille gewichtiger als der eigene.“
Allgemeiner Wille ist der Wille des Menschen, insofern er von Natur aus ein gesellschaftliches Wesen ist: Er strebt nach einer Gemeinschaft des Willens mit den anderen Menschen. Deshalb, so hieß es im ersten angeführten Text, „können wir ehrlicherweise das in uns nicht gutheißen, was wir bei anderen tadeln“33. Diese Universalisierbarkeit gilt für Handlungen, die andere Personen tangieren. Im zweiten Text bringt Kant als Beispiel das Eigentum: Ich kann das Eigentum eines anderen an mich reißen nur nach meinem Privatwillen, aber nicht nach meinem Allgemeinwillen. Nach dem letzteren will ich ja, daß jedes Menschen Eigentum anerkannt wird, damit auch ich über mein eigenes frei verfügen kann. Meine Maxime erweist sich somit als widersprüchlich. Gerade wegen dieser Rücksicht auf den Willen der anderen nennt Kant eine Handlung, die dagegen verstößt, eine „actio externe moraliter impossibilis“ bzw. ein „externe illibitum“ (vgl. XX 161).34 Die Qualifikation „externe moraliter impossibilis“ legt nahe, daß es auch eine Handlung „interne moraliter impossibilis“ gibt. Dies sind Handlungen, die einen Widerspruch im Privatwillen des Handelnden selbst implizieren, in der „voluntas propria hominis“. Entsprechend steht eine Handlung „interne moraliter possibilis“ in Harmonie zum Wollen in seiner Totalität. Dies sind die Handlungen, die keine unmittelbare Relation zum Willen anderer haben, wie die Pflege der eigenen Fähigkeiten oder die Gefährdung der eigenen Gesundheit. Die moralische Qualifikation solcher Handlungen ergibt sich daraus, ob sie sich zum Willen in der Gesamtheit seiner Zwecksetzungen und Willensakte in Harmonie oder Konflikt befinden.35 33 In diesem Text und auch an anderen Stellen (XX 36, 162, 169) spricht Kant von den „stationes morales“, d. h. von einem Standort außerhalb seiner selbst, von dem aus man einen praktischen Satz anhand des Widerspruchsprinzips überprüfen kann. 34 Dasselbe Prinzip begegnet auch in der von P. Menzer herausgegebene Vorlesung Kants über Ethik, 53: „In allen moralischen Urteilen fassen wir den Gedanken: Wie ist die Handlung beschaffen, wenn sie allein genommen wird? Stimmt die Intention der Handlung, wenn sie zur allgemeinen Regel gemacht wird, mit sich selbst, so ist sie moralisch möglich; stimmt die Intention der Handlung, wenn sie allgemein gemacht wird, nicht mit sich selbst, so ist sie moralisch unmöglich.“ Derselbe Text findet sich auch unter den „Varianten“ der in der Akademie Ausgabe edierten Vorlesung: XXVII 1210. Zu dieser Edition Menzers vgl. oben Fn 10, S. 23. 35 Außer dem Einfluß Rousseaus wirkt in diesen Überlegungen auch die einheimische Morallehre. Denn nach Wolff ist, wie wir gesehen haben, eine Handlung gut, wenn der innere oder äußere Zustand, den sie im handelnden Subjekt herbeiführt, mit der ganzen Reihe vergangener und künftiger Zustände übereinstimmt, wobei Wolff hinzufügt: „und mit dem Wesen und der Natur des Menschen“ (dt. Ethik § 2; auch dt. Metaphysik § 152). Der doppelten Auffassung von der
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Der Werdegang der Ethik Kants
Der Gedanke, daß der Wille sich selbst nicht widerstreiten darf, kommt mehrmals auch in den RR der 70er Jahre zur Moralphilosophie vor. Diese etwas späteren Überlegungen dürfen als weitere Erläuterungen dessen angesehen werden, was Kant in den Aufzeichnungen der „Bemerkungen“ meinte. So die RR 6802 (XIX 166 f.), 6850, 6853 (XIX 178 f.), 6864 (XIX 184 f.). Auf verschiedene Weisen bringen alle ein rein formales Prinzip der Sittlichkeit zur Sprache, das selbst keines materialen Prinzips bedarf: das Prinzip der Identität des Willens mit sich selbst und mit dem Willen anderer. Selbsterhaltung des Willens und sittlich guter Wille fallen in eins. „Welcher Wille gut sein soll, muß, wenn er allgemein und gegenseitig genommen wird, sich nicht selbst aufheben“ (XX 67).36
8.2 Die neue Lehre vom moralischen Gefühl Angesichts dieser neuen Auffassung von der sittlichen Verbindlichkeit stellt sich die Frage, wie sich nach dieser Theorie das Objekt der Handlung und das moralische Gefühl zur Verbindlichkeit verhalten. In der Preisschrift war das moralische Gefühl und das durch es vermittelte Objekt die Materialinstanz des konkreten Sollens. Dies ist in den „Bemerkungen“ nicht mehr der Fall, weil Kant hier das Prinzip des allgemeinen Willens als nicht bloß notwendiges, sondern auch zureichendes Kriterium der Moralität versteht. Eine solche Zulänglichkeit des neuen Prinzips der Verbindlichkeit geht in der Tat aus dem zitierten Haupttext von S. 157 hervor. Der gute Wille steht dort im Zusammenhang mit bestimmten Wirkungen privaten oder allgemeinen Nutzens. Aber es ist nicht diese Gutheit des Objektes (welche in Bezug auf den Menschen definiert wird, insofern es Wirkungen sind, die dem Menschen zuträglich sind), die die Gutheit des Willens begründet, sondern eher umgekehrt. Denn es heißt am Ende des Textes: Der Wille ist gut, wenn die Wirkungen moralisch möglich sind, weil sich in ihnen der Wille als allgemeiner Wille vollzieht, oder, wie es im anderen Text heißt (160–162), wenn der Wille mit sich selbst sowohl als allgemeiner Wille als auch als Privatwille (im Sinne von Gesamtwille des Individuums) übereinstimmt und damit als freier Wille überhaupt bestehen kann. Moralität der menschlichen Handlungen entspricht eine doppelte Auffassung von der Allgemeinheit derselben Handlungen: eine interpersonale Allgemeinheit und eine intrapersonale Allgemeinheit. 36 In der „Grundlegung“ charakterisiert Kant das moralische Gesetz als „nicht bloß für den Menschen, sondern für alle vernünftigen Wesen überhaupt gültig“ (A 28 = IV 408 u. ö.). Dies wird dahingehend verstanden, daß allein vom Begriff eines vernünftigen Wesens sich das moralische Gesetz ableiten läßt. Nun aber gibt es nichts, was ein vernünftiges Wesen als solches mehr ablehnt als eine logische Inkonsequenz. Also wird ein vernünftiges Wesen jede Handlungsnorm ablehnen, die es in einen Widerspruch verwickelt. Dies würde erklären, warum Kant den Test der Verallgemeinerung oft als Test des auszuschließenden Widerspruchs verwendet.
8. Die „Bemerkungen zu den Beobachtungen“
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Zum selben Ergebnis führt die Lehre vom moralischen Gefühl in den „Bemerkungen“. Kant schließt sich an Rousseau an, der die altruistischen Triebe als eine Ausdehnung der Selbstliebe auf andere Menschen versteht. Ursprung der moralischen Instinkte ist für Rousseau ein naturalistisches Prinzip. Kant teilt diese Ansicht, wenn er schreibt: „Der Mächtige ist gütig“ (XX 4), so daß, ganz im Sinne Rousseaus, je weniger Bedürfnisse ein Menschen hat, er um so mehr vermag, seine tätige Selbstliebe auf andere auszudehnen. Die Lehre Rousseaus vom Menschen im Naturzustand, dessen allumfassende Tugend das tätige Mitleid ist, macht Kant darauf aufmerksam, was uns eigentlich bei der Ausübung des Mitleids wohlgefällt: „Es frägt sich, ob wir unmittelbar an anderer Wohl Vergnügen fühlen oder eigentlich die unmittelbare Lust in der möglichen Anwendung unserer Kraft liegt es zu befördern … Die Erfahrung lehrt, daß beim einfältigen Zustand ein Mensch anderer Glück mit Gleichgültigkeit ansieht, hat er es aber befördert, so gefällt es ihm unendlich mehr. Anderer Übel ist gemeiniglich ebenso gleichgültig, habe ich es aber verursacht, so kränkt es, imgleichen, wenn es ein anderer getan hat. Und was die teilnehmenden Instinkte des Mitleidens und der Wohlgewogenheit anlangt, so haben wir Ursache zu glauben, es seien bloß große Bestrebungen, anderer Übel zu lindern, aus der Selbstbilligung der Seele hergenommen, welche diese Empfindungen hervorbringen“ (XX 144).
Unter dem Einfluß Rousseaus entscheidet sich Kant für die zweite Erklärung: Was uns also eigentlich gefällt, ist nicht das Wohl der anderen! Aber er modifiziert diese Lehre dahingehend, daß die eigene Tätigkeit, an der wir Wohlgefallen finden, nicht mehr der naturhafte Trieb zur Tätigkeit als Vollzug der Selbstliebe ist, sondern die Tätigkeit des freien Willens. Das moralische Gefühl gilt als das Gefühl für die Vollkommenheit der mit sich selbst übereinstimmenden Willkür. In der Tat fährt der Text Kants folgendermaßen fort: „Wir haben Vergnügen an gewissen von unseren Vollkommenheiten, aber weit mehr, wenn wir selbst die Ursache sein. Am allermeisten, wenn wir die freie wirkende Ursache sein … Das Gefühl der Lust und Unlust ist entweder über das, wogegen wir leidend sein, oder über uns selbst als ein tätig principium durch Freiheit von dem Guten und Bösen. Das letztere ist das moralische Gefühl“ (XX 144f.).
Das moralische Gefühl ist das Gefühl der Lust an der Anwendung der eigenen Freiheit. Daraus wird klar, daß es nicht mehr als unabhängiges materiales Prinzip der Sittlichkeit fungiert. Das Studium der Werke Rousseaus hat die moralphilosophische Position Kants in Bewegung gebracht und zu einer Antwort der Frage geführt, die am Ende der Preisschrift stand (A 99 = II 300): Nach den „Bemerkungen“ entscheidet weder das Erkenntnisvermögen noch das Gefühl über die ersten Gründe zur Verbindlichkeit, sondern das formale Gesetz der Übereinstimmung des Willens mit sich selbst. Sittlich gut und deshalb verpflichtend ist das, worin sich der Wille als allgemeiner Wille vollzieht. Durch das formale Gesetz der Übereinstimmung des allgemeinen Willens mit sich selbst hat Kant den sittlichen Imperativ begründet sowohl in seiner absoluten Verbind-
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Der Werdegang der Ethik Kants
lichkeit37 als auch in seinem Inhalt. Zu letzterem heißt es: „Dasjenige, was durch den allgemeinen Willen notwendig ist, ist eine Schuldigkeit“ (XX 145). Damit sind wir berechtigt, die These aufzustellen: Mit der zweiten Phase in der Entwicklung seiner ethischen Prinzipienlehre hat Kant im wesentlichen die Position erreicht, die in den Grundlegungsschriften der 80er Jahre zwar ihre Klärung und systematische Entfaltung, aber keine substantielle Modifikation erfahren wird.
8.3 Rousseaus Einfluß auf Kant In der zweiten Phase der Entwicklung der Kantischen Morallehre war Rousseau der Hauptanreger sowohl durch seine Auffassung vom Menschen überhaupt als auch speziell durch die sich daraus ergebende Staatsphilosophie. Grundkräfte im Menschen sind die Selbstliebe (amour de soi) als Selbsterhaltungstrieb und das Mitleid (commisération) für das Leid seiner Artgenossen.38 Die natürliche Selbstliebe wandelt sich bei der Entwicklung des Naturmenschen zur Gesellschaft, in der der Kampf aller gegen alle herrscht, in eine Selbstsucht (amour-propre).39 Einziges Mittel gegen diese verhängnisvolle Ausartung ist eine andere, höhere Entwicklung kraft des geistigen Bestandteils des Menschen, nämlich die Entfaltung der Selbstliebe zu einer Liebe zur Gesamtordnung der Wirklichkeit (amour de l’ordre) und damit zum Gewissen40: Die Selbstliebe dehnt sich aus auf die anderen Menschen, in denen der einzelne sich selbst wiederfindet und anerkennt. Dieser anthropologisch-metaphysische Kontext ist der Ort, an dem Rousseau seine Konzeption des allgemeinen Willens als Prinzip der Gesellschaftsordnung ausarbeitet.41 Nach Rousseau wurde der Gesellschaftsvertrag, der den Übergang vom Naturzustand zum staatsbürgerlichen Zustand herbeiführte, wegen des naturhaften Grundtriebes des Menschen zur Selbstliebe und Selbsterhaltung geschlossen; d. h. die volonté générale ist vom naturhaften Grundtrieb der Selbstliebe getragen. „Die Verpflichtungen, die uns an den Gesellschaftskörper binden, sind nur deshalb zwingend, weil sie gegenseitig sind, und ihre Natur ist derart, daß man, wenn man sie erfüllt, nicht für einen anderen arbeiten kann, ohne auch für sich selbst zu arbeiten … Das beweist: Gleichheit und der von ihr erzeugte Begriff von Gerechtigkeit rühren von dem Vorzug, den jeder sich selbst gibt, und folglich von der menschlichen Natur.“42 Absolut ist die Verbindlichkeit in dem Sinne, daß sie durch nichts außerhalb des Willens bedingt ist. 38 Jean-Jacques Rousseau, „Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmis les hommes“, Préface, in: Œuvres complètes (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1959–1969, III 126. 39 Rousseau, Lettre à Christophe de Beaumont, Œuvres, IV 937. 40 Ebd. 936. 41 Vgl. Rousseau, „Du Contrat Social“, Livre I, ch. 6: Du pacte social (Œuvres, III 360–362). 42 Rousseau, „Du Contrat Social“, Livre II, ch. 4: Des bornes du pouvoir souverain (Œuvres, III 373). Deutsche Ausgabe: Ders., Vom Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1986, 33. 37
8. Die „Bemerkungen zu den Beobachtungen“
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Im „Emile“ schildert Rousseau den Schritt, mit dem ein Mensch in die moralische Ordnung eintritt: Die Stimme des Gewissens und die ersten Begriffe von Gut und Böse gehen aus den Regungen des Herzens, vor allem aus den Gefühlen von Liebe und Haß, hervor, so daß Rousseau das ganze Naturrecht für ein Hirngespinst hält, wenn es nicht auf einem dem menschlichen Herzen natürlichen Bedürfnis basiert. „Wenn aber die Kraft einer expansiven Seele mich eins werden läßt mit meinem Mitmenschen und ich mich sozusagen in ihm fühle, dann will ich nicht, daß er leidet, weil ich nicht leiden will; ich interessiere mich aus Liebe zu mir selbst für ihn, und der Grund für dieses Gebot liegt in der Natur selbst, die mir das Verlangen nach eigenem Wohlsein eingibt, wo auch immer ich mich existieren fühle.“43
Im Kap. 8 des ersten Buches über den staatsbürgerlichen Zustand vergleicht Rousseau Gewinn und Verlust, die sich aus dem Eintritt in die Gesellschaftsordnung ergeben: der Verlust der natürlichen Freiheit wird durch die bürgerliche Freiheit kompensiert; an die Stelle des Besitzes als Wirkung der Stärke tritt das Eigentum, das sich auf einem sicheren Rechtsgrund gründet; mehr noch, erst jetzt entsteht die sittliche Freiheit, „die allein den Menschen zum wirklichen Herrn über sich selbst macht; denn der Antrieb des reinen Begehrens ist Sklaverei, und der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Freiheit“44.
Aus dem Gesagten wird auch deutlich, was das Kantische Prinzip der Übereinstimmung des allgemeinen Willens mit sich selbst bei aller Abhängigkeit von Rousseau doch von diesem trennt. Bei Rousseau ist das Staatsrechtsprinzip, nämlich die volonté générale, durch und durch naturbedingt, d.h. durch jenes natürliche Grundinteresse bedingt, das die Selbstliebe ist. Der oben zitierte Text aus dem Contrat Social II, 4 drückt sich unmißverständlich aus und paßt genau in die Rousseausche Auffassung vom Menschen. Die ganze Entwicklung Kants verlief dagegen in Richtung auf einen rein formalen Bestimmungsgrund des Willens; dieser Bestimmungsgrund ist die Kohärenz des Willens als rationalem Begehrungsvermögen mit sich selbst – eine Kohärenz, die sich im Merkmal eines allgemeinen (im oben dargelegten zweifachen Sinn) Wollens vollzieht. Nur weil der Wille sich unabhängig von jeglichem Interesse durch die bloße Vorstellung des formalen Gesetzes bindet, handelt er schlechthin autonom. Kants eigene Auffassung von Freiheit und Autonomie hängt mit seiner Moral der reinen praktischen Vernunft zusammen. Damit ist offensichtlich, daß Rousseau mit seinem Pathos für die Freiheit zwar Kant entscheidend beeinflußt hat, aber auch daß dieser die Anregung in seine eigene Problematik – die Problematik der unbedingten Verbindlichkeit – aufgenommen und somit die Staatsphilosophie des Genfers in seine eigene Konzeption der Ethik transponiert und transformiert hat.
43 Rousseau, Emile, Livre IV, Œuvres, IV 523, Fußnote. Deutsche Ausgabe, Stuttgart 1970, 485f. 44 Rousseau, „Du Contrat Social“, Œuvres, IV 365. Deutsche Ausgabe, 23.
9. Die neue ethische Position in den „Träumen eines Geistersehers“ Von den Veröffentlichungen um die Zeit, in der Kant noch am stärksten unter dem revolutionierenden Einfluß Rousseaus stand, formulieren die „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ am deutlichsten die neue Antwort auf die Frage nach dem Prinzip der Verbindlichkeit. Kant hatte diese Schrift anläßlich des damals erschienenen Werkes Swedenborgs über Geistererscheinungen verfaßt. Die Antwort findet sich in einem moralphilosophischen Exkurs (I. Teil, 2. Hauptstück: A 40–47 = II 334–337), in dem Kant die angebliche Gemeinschaft unserer Seelen mit allen immateriellen Naturen der Geisterwelt „aus irgend einer wirklichen und allgemein zugestandenen Beobachtung“ zwar nicht beweisen, wohl aber plausibel machen will. Unser Geist hat die Tendenz, das Ziel seiner Bestrebungen außerhalb seiner selbst in andere Vernunftwesen zu verlegen, woraus in jedem von uns der Streit zwischen Eigennützigkeit und Gemeinnützigkeit entspringt. Diese Grundtendenz kommt im Bereich der Erkenntnis zum Tragen, wo wir die Übereinstimmung unseres Urteils mit dem der anderen anstreben, um eine Art Vernunfteinheit mit allen denkenden Wesen zu schaffen. Einleuchtender ist die entsprechende Tendenz im Willen: Eine geheime Macht nötigt uns, unsere Absicht auf das Wohl der anderen zu richten, so daß in uns „gleichsam ein fremder Wille wirksam“ ist. In den Beweggründen unseres Willens sind wir also von der „Regel des allgemeinen Willens“ abhängig; daraus entsteht in der Welt eine „moralische Einheit“ (A 42 = II 335). Nun ist das Sittengesetz in uns kein anderes als diese „Regel des allgemeinen Willens“, d. h. die Abhängigkeit des Privatwillens eines jeden Menschen vom allgemeinen Willen. Eine solche normative Tendenz unseres Willens, sich nach dem Willen der anderen zu richten, sei die Wirkung der geistigen Substanzen (d. h. der Seelen der Menschen), insofern sie miteinander schon jetzt die reale Einheit einer Wirkgemeinschaft bilden. Der Umstand, daß Kant diese hypothetische metaphysische Begründung des Sittengesetzes im folgenden Hauptstück ablehnt, hebt zwar alle Spekulationen über die Gemeinschaft der Geisterwelt auf, in der Kant die Begründung des Sittengesetzes gesucht hat, aber nicht das allgemein beobachtbare Faktum des Gesetzes selbst als Gesetz des allgemeinen Willens. Mit dieser „Regel des allgemeinen Willens“ bestimmt Kant die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes im Sinne des Formalismus: Sie ist die Verpflichtung zur Allgemeinheit als Übereinstimmung des Privatwillens mit dem allgemeinen Willen. Mit dem Formalismus des Sittengesetzes geht eine neue Interpretation des moralischen Gefühls einher: Es ist die „empfundene Nötigung“, unser Handeln so einzurichten, daß es mit dem Willen aller anderen Menschen übereinstimmt. Es ist also die „Erscheinung“ dessen, „was in uns wirklich vorgeht“ (A 43 = II 335), nämlich der Aufforderung des Sittengesetzes als Gesetzes der Allgemeinheit an uns.
10. Kants Ethik um die Mitte der 60er Jahre Aus der Analyse der Quellen um die Mitte der 60er Jahre ergibt sich, daß bereits zu diesem Zeitpunkt die Ethik Kants in ihren Grundelementen feststand, unabhängig also von der noch weit entfernten transzendentalphilosophischen Wende. Von diesen Elementen haben wir insbesondere folgende untersucht: 1) Die Lehre vom kategorischen Imperativ als Teil einer Lehre vom Imperativ überhaupt, die bereits die gleiche ist wie im zweiten Abschnitt der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. 2) Die Lehre von der unbedingten Verpflichtung als Verpflichtung durch das bloß formale Gesetz der Übereinstimmung des Willens mit sich selbst, das, nach Kants Dafürhalten, imstande ist, seine eigenen Inhalte festzulegen. 3) Das so verstandene Gesetz erweist sich zugleich als autonomes Gesetz zumindest im Sinne einer Ablehnung des theologischen Moralpositivismus. Aber zur radikalen Auffassung eines Willens als „Urheber“ des Gesetzes, dem er unterworfen ist (GMS A 70 f. = IV 431), ist noch ein langer Weg. Ja, zu einer restlosen Klärung seines Autonomie-Gedankens ist Kant nie gekommen. Denn einerseits hat er die Kreatürlichkeit des Menschen nie in Frage gestellt; andererseits zeigt sein langwieriges Ringen um den moralischen Gottesbeweis, daß er sich der Schwierigkeit bewußt war, eine absolute Verbindlichkeit des Sittengesetzes aufrechtzuerhalten, ohne zugleich Gott als Gesetzgeber anzuerkennen. Jedenfalls erkannte Kant schon damals, daß durch dieses Gesetz eine moralische Einheit aller vernünftigen Wesen entsteht. Die dritte Formel des kategorischen Imperativs in der „Grundlegung“, in ihrer doppelten Fassung der Autonomie des Willens und des Reiches der Zwecke, wird diese zwei Aspekte des Autonomie-Gedankens zur Sprache bringen, der in der Kantischen Auffassung vom Sittengesetz als rein formalem Gesetz enthalten ist. 4) Die Lehre vom moralischen Gefühl als Empfänglichkeit dafür, daß der Wille sich gemäß oder gegen sein eigenes Wesensgesetz entschieden hat. Diese entspricht schon der Lehre vom moralischen Gefühl, wie sie in den Grundlegungsschriften zum Ausdruck kommt als „Achtung für das Gesetz“ im Sinne einer „Wirkung“ des Gesetzes auf die Sinnlichkeit eines vernünftigen Wesens“ (KpV A 134f.). 5) Folgenschwer für die noch ausstehende systematische Ausarbeitung der Moralkonzeption ist der Umstand, daß Kant, wie oben erwähnt, nicht mehr die Vollkommenheit für den Grundbegriff der Ethik hält, näherhin nicht mehr deren Gleichsetzung mit der Glückseligkeit vertritt. Dies wird als Konsequenz zum einen zur Unterscheidung bis hin zum Gegensatz zwischen Sittenlehre und Glückseligkeitslehre führen; zum anderen zur sich immer wieder ankündigenden Vorahnung, daß eine endgültige Trennung beider Bestandteile des höchsten Gutes die moralische Bemühung des Menschen zur Sinnlosigkeit verdammen würde.
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Der Werdegang der Ethik Kants
Es wundert deshalb nicht, wenn Kant ab 1765 wiederholt eine Publikation zur Ethik in Aussicht gestellt hat. Damals und auch nachher hat er gar nicht die Notwendigkeit empfunden, die reine praktische Vernunft zu kritisieren, im Gegenteil. Die ganze Entwicklung in der ersten Hälfte der 60er Jahre ging dahin, das Grundprinzip des reinen Willens zu statuieren: Der Wille handelt sittlich gut, wenn er frei von allen eigennützigen Motiven handelt. Die eigentlich ethischen Abschnitte der Grundlegungsschriften werden diese Auffassung von der reinen praktischen Vernunft in all ihren Konsequenzen ausführen – eine Auffassung, die, wie aus der bisherigen Untersuchung hervorgegangen sein dürfte, nichts mit dem transzendentalen Idealismus der KrV zu tun hat. Das Ausbleiben der angekündigten Publikation läßt sich dadurch erklären, daß das Hauptinteresse Kants dem Problem der Erkenntnis und der Metaphysik, insbesondere seit 1772 dem langwierigen und nie zu Kants voller Zufriedenheit gelösten Problem einer transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe (dem Kern der KrV) galt.
11. Die Inauguraldissertation von 1770 Die Bedeutung der vierten lateinischen Dissertation liegt darin, daß Kant in ihr beginnt, über die Bedingungen der Erkenntnis zu reflektieren, und durch die These vom subjektiven Charakter der zwei reinen Anschauungen unserer Sinnlichkeit, Raum und Zeit, den ersten Schritt in Richtung auf den Transzendentalidealismus der „Kritik der reinen Vernunft“ tut. Was die Verstandesbegriffe betrifft, bewegt sich der Philosoph noch in den Bahnen der sog. dogmatischen Metaphysik, insofern er noch an der Übereinstimmung der reinen (apriorischen) Begriffe mit der subjekttranszendierenden Wirklichkeit festhält. Erst im Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772 wird er diese „Konformität“ hinterfragen, um schließlich nach einem langjährigen Ringen diesen Begriffen eine objektkonstituierende Funktion zuzuweisen und deshalb die erkannte Wirklichkeit für eine bloß phänomenale zu halten. Von diesem Problem sind aber nur die Begriffe unserer spekulativen Erkenntnis betroffen. Denn die Frage nach der Übereinstimmung ist deshalb entstanden, weil – wie Kant damals noch dachte – „unser Verstand durch seine Vorstellungen (nicht) die Ursache des Gegenstandes“ ist. Dieser Aussage fügte aber Kant im selben Brief hinzu: „außer in der Moral von den guten Zwecken“. Im § 7 der Dissertation setzt Kant der Leibniz-Wolffschen Lehre von einem bloß graduellen Unterschied zwischen sinnlicher und intellektueller Erkenntnis (verworren die eine, deutlich die andere) einen Unterschied im Ursprung selbst entgegen, je nachdem ob ihr Ursprung in der Erfahrung oder aber im Verstand selbst liegt. Letzterer Art sind u. a. die „conceptus morales“. Im § 9 wird weiter gesagt, daß die allgemeinen, aus dem Verstand stammenden Grundsätze „auf irgendein Urbild hinauslaufen“. Dies ist für die theoretische Erkenntnis Gott als höchstes Wesen, für die praktische Erkenntnis die moralische Vollkommenheit. Die Schlußfolgerung hinsichtlich der Moralphilosophie ist, daß ihre „ersten Grundsätze der Beurteilung“ nur durch den reinen Verstand zu erkennen sind. Während also im theoretischen Bereich die objektkonstituierende Funktion der Verstandesbegriffe zu einer Erkenntnis der erfahrbaren materiellen Objekte als bloßen Erscheinungen führt, wird im praktischen Bereich die moralische Realität als die wahre, noumenale Realität von den praktischen Intellektualbegriffen selbst bestimmt. Was Kant hier in einer Veröffentlichung schreibt, entspricht genau dem, was wir aus seinen Privatnotizen in den „Bemerkungen“ erfahren konnten. Damit setzt er eine in der Tat endgültige Trennlinie zu seiner früheren Ansicht über das moralische Gefühl als Prinzip zur Ermittlung der moralischen Qualifikation einer Handlung. Dieser Abschluß einer in den vorhergehenden Jahren stattgefundenen Entwicklung bedeutet selbstverständlich auch eine Trennung von den „neueren“, den britischen Vertretern der Gefühlsmoral, ohne allerdings die ursprüngliche Innerlichkeit des Sittlichen, zu deren Erkenntnis Hutcheson ihm verholfen hatte, zurückweisen zu müssen.45 45
D. Henrich, „Hutcheson und Kant“, 64f.
12. Ein Intermezzo: „Die ersten Gründe der Sittlichkeit“ in der „Kritik der reinen Vernunft“ Im bereits zitierten Brief an Marcus Herz, in dem Kant von seiner Beschäftigung im Anschluß an die Inauguraldissertation berichtete, sprach er vom Plan zu einem Werk, welches im weiteren Verlauf des Briefes „Kritik der reinen Vernunft“ genannt wird. Das Werk sollte einen theoretischen und einen praktischen Teil umfassen. Im ersten Teil galt dem Verfasser die Antwort auf die Frage nach der „Beziehung [Übereinstimmung] desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand“ als der „Schlüssel“ zur anvisierten Reform der Metaphysik. Als Inhalt des praktischen Teils nannte Kant „die allgemeinen Prinzipien des Gefühls, des Geschmacks und des sinnlichen Begehrens“ wie auch „die ersten Gründe der Sittlichkeit“. Damals dachte Kant also – im Gegensatz zu seinen späteren anderslautenden Aussagen – an eine einzige Kritik, die auch das behandeln sollte, was in den 80er Jahren zum Inhalt der zweiten und dritten Kritik wurde. In der Tat aber ging die 1781 erschienene „Kritik der reinen Vernunft“ fast ausschließlich auf erkenntnistheoretisch-metaphysische Fragen ein. Die von Kant in ihrem Kern bereits festgelegte Theorie des Sittlichen kam dort fast nur in den Blick, insofern die transzendentalidealistische Wende in Konflikt mit ihr zu geraten schien. Genauer gesagt, es waren die Fundamente und die Voraussetzungen seiner auf realistischer Basis gründenden Ethik, die in Frage gestellt zu sein schienen. Abgesehen von gelegentlichen Aussagen, die mit dem praktischen Gebrauch der Vernunft zu tun haben, sind es zwei Stellen der KrV, die den entstandenen Problemen begegneten: Die erste liegt in der dritten Antinomie. Da Kant in der KrV in Übereinstimmung mit dem Mechanismus der zeitgenössischen Naturwissenschaft einen durchgängigen Determinismus aller Geschehnisse in der Welt vertrat, stellte sich die Frage, ob Verantwortung und Moralität für den Menschen, der in dieser Welt seine Entscheidungen trifft und sie ausführt, möglich sei. In der Darlegung der „Thesis“ der dritten Antinomie (zwischen Naturkausalität und Freiheit) vertritt Kant die Position der Möglichkeit von Freiheit (A 452–460); in der „Auflösung“ dann (A 532–558) wird die Vereinbarkeit von innerweltlicher Freiheit und Determinismus, also die Möglichkeit von Freiheit anhand der Distinktion zwischen Erscheinung und Ding an sich erläutert. Darauf werden wir im Kommentar zur „Kritischen Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft“ (A 167–169) eingehen. Die zweite Stelle ist das Kanon-Hauptstück in der „Transzendentalen Methodenlehre“ (A 795–831). Dort behandelt Kant „zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, … nicht zu trennende Voraussetzungen“, nämlich „Gott und ein künftiges Leben“ (A 811). Auf dieses Thema werden wir im Kommentar zum Postulat Gottes (A 223–237) eingehen.
12. Die „Kritik der reinen Vernunft“
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Indem Kant Realitäten behandelt, ohne die Moralität nicht möglich wäre, erwähnt er oder bespricht er kurz (vor allem im Kanon-Hauptstück) Fragen, die direkt das Sittliche betreffen. So die Distinktion von transzendentaler und praktischer Freiheit (A 803), die empirische Definition der Glückseligkeit (A 806), die Existenz „reiner praktischer Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist“ und die „schlechthin gebieten“ (A 800). Ebenso kommt der Philosoph auf die „Triebfedern“ zu sprechen, die uns zur Einhaltung des Sittengesetzes bewegen (A 807). Dabei ist besonders zu bemerken, daß Kant in seiner Argumentation zugunsten der „Annahme“ von Gott und der Unsterblichkeit der Seele eine Triebfeder-Lehre vertritt (A 811, 813), die er danach fallen gelassen hat. Trotz dieser Begriffe und Thesen, die mit einer Theorie der Moral direkt oder indirekt zu tun haben, läßt sich schwer von einer irgendwie abgerundeten Moralphilosophie in der KrV sprechen. Jedenfalls unterscheidet sich das, was Kant hier vorträgt, in wesentlichen Punkten von den Grundlegungsschriften zur Ethik, die im selben Jahrzehnt gefolgt sind. Dies ist den Zeitgenossen nicht entgangen, die deshalb Kant Inkonsequenzen verwarfen, wie wir in der Vorrede zur KpV sehen werden. Zu erwähnen ist schließlich, daß Kant im Kanon-Hauptstück die Moralphilosophie aus der Transzendentalphilosophie mit der Begründung ausschließt, daß „alle praktischen Begriffe auf Gegenstände … der Lust oder Unlust, mithin, wenigstens indirekt, auf Gegenstände unseres Gefühls gehen. Da dieses … außer der gesamten Erkenntniskraft liegt, so gehören die Elemente unserer [praktischen] Urteile … nicht in den Inbegriff der Transzendentalphilosophie, welche lediglich mit reinen Erkenntnissen a priori zu tun hat“ (A 801 Fn). Eine ähnliche Äußerung fand sich bereits in der „Einleitung“ des Werkes (A 14 f.). Später aber hat Kant seine Meinung geändert. Beleg dafür ist u. a., daß die erwähnte Aussage der Einleitung in der zweiten Auflage der KrV (B 28 f.) dahingehend geändert wurde, daß das Empirische als noch lockerer mit den moralischen Vorschriften verbunden herausgestellt wurde. Im weiteren Verlauf seines Denkens hat Kant die Frage: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ (A 19) zunehmend als „das allgemeine Problem der Transzendentalphilosophie“ angesehen (KU § 36: B 289). Infolgedessen konnten moralische, ästhetische und sogar juridische Urteile der Transzendentalphilosophie zugerechnet werden.46
Hinsichtlich der moralischen Urteile vgl. GMS A 95, 110, 125 = IV 444, 453, 461; vgl. H. Vaihinger, Kommentar zu Kants KrV I, 364f., 483f.; Albrecht, Kants Antinomie, 18–22. 46
13. Die erste Fassung der Ethik Kants: die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ Wie schon erwähnt geht das Vorhaben, einen Traktat der Ethik abzufassen, auf ein sehr frühes Datum zurück. Bereits im Jahre 1765 teilte Kant dem Mathematiker und Philosophen Heinrich Lambert mit, er habe zwei „kleinere Ausarbeitungen“ vollendet, nämlich die „Metaphysischen Anfangsgründe der natürlichen Weltweisheit“ (Naturphilosophie) und die „Metaphysischen Anfangsgründe der praktischen Weltweisheit“ (X 56). Ähnliche Mitteilungen über eine meistens als „Metaphysik der Sitten“ bezeichnete Schrift folgten immer wieder in seinem Briefwechsel, ohne aber daß jemals etwas davon erschienen wäre. Nach der Veröffentlichung der KrV verursachte die Abfassung der „Prolegomena“ eine nochmalige Verzögerung, bis 1785 das vom gelehrten Publikum lange erwartete Werk unter dem veränderten Titel einer „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ vorlag. Über den Titel und damit auch über den Inhalt des Buches äußerte sich der Verfasser in der Vorrede im Anschluß an einen von ihm entworfenen Kanon der philosophischen Fächer. Der leitende Gesichtspunkt wird der Lehre über die Zusammensetzung der menschlichen Erkenntnis aus einem empirischen und einem apriorischen Bestandteil entnommen (vgl. den Anfang der „Einleitung“ zur KrV). Im Unterschied zur „Philosophia practica universalis“ Wolffs will Kant nicht „das Wollen überhaupt … mit allen Handlungen und Bedingungen“ betrachten, sondern „die Idee und die Prinzipien eines möglichen reinen Willens“, also „eine Metaphysik der Sitten“ untersuchen. Im Hinblick auf diesen Traktat aber will er jetzt nur dessen „Grundlegung“ voranschicken. Eine solche Grundlage wäre eigentlich eine „Kritik der reinen praktischen Vernunft“, so wie die Grundlage einer „Metaphysik der Natur“ die schon gelieferte „Kritik der reinen spekulativen Vernunft“ ist. Nun sei diese Kritik nicht so nötig wie im Falle der spekulativen Vernunft, weil die menschliche Vernunft im Moralischen leichter das Richtige treffe. Infolgedessen sei die gegenwärtige Schrift auf die „Metaphysik der Sitten orientiert“, aber so, daß sie davon „das Subtile“ vorwegnimmt. Kurzum, „gegenwärtige Grundlegung ist nichts mehr als die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“. Aus dieser verwickelten Erläuterung der ersten systematischen Abhandlung zur Ethik scheint hervorzugehen, daß das, was von der beabsichtigten „Metaphysik der Sitten“ noch aussteht, ihr „faßlicherer“ Teil ist, nämlich die „Anwendung“ des genannten Prinzips auf die menschliche moralische Praxis, also eine Pflichtenlehre oder normative Ethik. Kant hat 1797 eine solche „Metaphysik der Sitten“ veröffentlicht, die außer einem ersten Teil über die „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre“ einen zweiten über die „Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre“ enthält. Aber beiden Teilen ist je eine ausführliche Einleitung vorangestellt, in der sämtliche Fragen
13. Die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“
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einer Grundlegung der Moral in einer ganz anderen Anordnung als in den beiden ethischen Werken der 80er Jahre und mit allerlei Präzisierungen, Entfaltungen und auch Änderungen behandelt werden. Bei meinem Kommentar zur KpV, der auch die GMS berücksichtigen soll, werde ich diese letzte Fassung einer Kantischen Fundamentalmoral nur begrenzt verwerten, um den Kommentar nicht mit vielen anderen Fragen nach der Entwicklung und etwaigen Korrekturen der Ethik Kants zu belasten. Das in drei Teile gegliederte Werk erweist sich eindeutig als eine ethische Prinzipienlehre. Der erste Abschnitt geht vom Begriff des „guten Willens“ aus als dem eigentlich moralischen Wert, der gerade als solcher ein „absoluter Wert“ ist, und gelangt zum Begriff der Pflicht. Von besonderer Bedeutung ist, daß hier Kant zum ersten Mal in einer Veröffentlichung die Argumentation vorlegt, die auf sein Grundprinzip der Ethik schließt, nämlich auf jene „Regel des allgemeinen Willens“, die er schon in den „Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ entdeckt und in den „Träumen eines Geistersehers“ so genannt hatte. Diese „allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt, welche allein dem Willen als Prinzip dienen soll“ besagt, daß „ich niemals anders als so verfahren soll, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“ (A 17 = IV 402).47 Der zweite Abschnitt erläutert zunächst, was ein Imperativ als Vorstellung, nach der ein freier Wille handelt, bedeutet, und dann die verschiedenen Arten von Imperativen. In diesem Abschnitt – und hier allein mit einer solchen Ausführlichkeit – finden sich die drei Formeln des kategorischen Imperativs (die der Allgemeinheit, die des Menschen als Zweck und die der Autonomie), welche den Kern der Kantischen Ethik ausmachen. Während die zwei ersten Abschnitte die Position der 60er Jahre systematisch entfalten, weist der dritte Abschnitt eine ganz andere Eigenart auf. Denn die vorhergehende Analyse der moralischen Verfassung eines vernünftigen Wesens ist von der „gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis“ ausgegangen, d. h. also von jenem Sittengesetz, dessen sich jeder Mensch bewußt ist. Im dritten Teil des Werkes dagegen versucht Kant, das Sittengesetz in einer transzendentalen Deduktion daraus abzuleiten, daß ein vernünftiges Wesen nur unter der Idee der Freiheit handeln kann. Eine solche Deduktion, die offenkundig eine Parallele zur transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe bzw. Grundsätze in der ersten Kritik darstellt, gehört zum transzendentalidealistischen Standpunkt der KrV. Dieser Versuch Kants, seine Ethik im nachhinein unter eine transzendentalidealistische Perspektive zu stellen, gilt nach einhelliger Meinung der KantForscher als höchst unbefriedigend, ja für viele Interpreten als gescheitert.48 Kant selbst 47 Zu der in drei „Sätze“ gegliederten Argumentation (A 8–17 = IV 397–402) vgl. meine Analyse „Das Gesetz oder das Gute?“, in: Gregorianum 71 (1990), hierzu 317–335. 48 Ich verweise insbesondere auf den tiefschürfenden Versuch D. Henrichs „Die Deduktion des Sittengesetzes. Über die Gründe der Dunkelheit des letzten Abschnittes von Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten“, in: A. Schwan (Hrsg.), Denken im Schatten des Nihilismus, Darmstadt 1975, 55–112. Um eine einigermaßen stichhaltige Argumentation zu rekonstruieren, mußte der Verfasser nicht weniger als sieben Unterscheidungen vornehmen, die Kant hätte ma-
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Der Werdegang der Ethik Kants
muß wohl die Fragwürdigkeit seiner Deduktion eingesehen haben. In der Tat hat er sie drei Jahre später in der KpV fallengelassen und das Sittengesetz als ein „Faktum der Vernunft“ deklariert.
chen sollen. Seiner Meinung nach müßte man einen Kommentar von vielen hundert Seiten schreiben, um den Text Kants auf eine verständliche Weise noch einmal zu generieren (110). Außerdem: M. H. McCarty, „Kant’s Rejection of the Argument of the Groundwork III“, in: KS 73 (1982) 169–190; ders. „The Objection of Circularity in Groundwork III“, in: KS 76 (1985) 28–42; D. Schönecker, Kants Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs, Freiburg 1999.
14. Die nicht erwartete „Kritik der praktischen Vernunft“ Nachdem Kant durch die systematische Ausarbeitung jenes Kerns moralischer Prinzipien, die er bereits in den 60er Jahren formuliert hatte, seine Fundamentalmoral veröffentlichte, erwartete das gelehrte Publikum die seit langem in Aussicht gestellte „Metaphysik der Sitten“, welche nach der Vorrede zur GMS eine „normative Ethik“ enthalten sollte. Statt dessen erschien im Dezember 1787 eine „Kritik der praktischen Vernunft“, die das Datum 1788 trug. Daß nahezu alle wichtigen Werke Kants seit der ersten Kritik in großer Eile niedergeschrieben wurden,49 gilt insbesondere für seine zweite Kritik. Aus Briefen nach der Veröffentlichung der GMS (13. September 1785 an Schütz und 7. April 1786 an Bering) geht hervor, daß Kant zu der Zeit mit der Ausarbeitung einer „Metaphysik der Sitten“ (!) beschäftigt war, die zusammen mit der „Metaphysik der Natur“ die Prinzipienlehre der GMS bzw. der KrV anwenden sollte. Beides gehörte ja „zur Vollendung Ihres Plans und macht ein Ganzes aus“, wie der Verleger Hartknoch bereits nach der Veröffentlichung der KrV an den Autor geschrieben hatte (X 279). Zugleich arbeitete Kant auch an einer zweiten, verbesserten Auflage der KrV, die tatsächlich Mitte 1787 erscheinen konnte. Es scheint, daß Kant den Entschluß, eine KpV als selbständiges Werk herauszugeben, erst im Frühling 1787 nach Beendigung der Revision der KrV faßte. Andererseits sprach Kant Ende Juni desselben Jahres in einem Brief an Schütz, den ich weiter unten zur „Ergänzungs“-Funktion der KpV zitieren werde, vom Werk als beinahe fertig. Wenn man auch als „terminus ad quem“ den Monat September nimmt, in dem nach Auskunft eines Briefes an Jakob das Manuskript beim Verleger war (X 491), so macht dies eine Zeitspanne von höchstens fünf Monaten aus. Ob man von einer derart raschen Abfassung auf die Einheitlichkeit des Werkes oder aber auf eine nicht ganz kohärente Zusammenstellung älterer Gedankengänge verschiedener Provenienz schließen soll, ist schwer zu entscheiden. Es ist also die Frage, ob auch für die zweite Kritik die berühmt-berüchtigte Flickwerktheorie der ersten Kritik gilt.50 Jedenfalls können einer aufmerksamen Lektüre des Textes Mängel in der Anordnung der Themen und Undurchsichtigkeit der Argumentationsgänge sowie Unebenheiten, Sprünge und Wiederholungen kaum entgehen. Ebenfalls unbestreitbar ist, daß Kant in der KpV Positionen vertritt, die im Gegensatz zu seinen früheren Ansichten zum selben Thema Vgl. D. Henrich, „Die Deduktion des Sittengesetzes“, 108. Zur „Patchwork Theorie“, vgl. H.J. Paton in: Kant’s Metaphysic of Experience, London 1936, I 38ff. Für eine gute Information über diese Theorie und zugleich für den Beweis ihrer Geltung hinsichtlich eines Stückes der KrV vgl. die Doktorarbeit von A. Kalter: Kants vierter Paralogismus. Eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zum Paralogismuskapitel der ersten Ausgabe der KrV, Meisenheim am Glan 1975. Zum selben Thema vgl. auch Albrecht, Kants Antinomie, 85–88. 49
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Der Werdegang der Ethik Kants
stehen, etwa bezüglich der Freiheit, der Triebfeder, der Dialektik, des moralischen Gottesbeweises, des höchsten Gutes. Aber gerade solche Unstimmigkeiten bzw. Änderungen können auch helfen, Kants neue Position und ihre Begründung deutlicher zu erfassen und angemessener zu würdigen. Die ursprünglich nicht geplante nochmalige Grundlegung der Ethik besteht sachlich aus zwei Teilen. Im ersten Teil, der Analytik, arbeitet Kant wieder seine Theorie des Ethischen aus, ohne etwas wesentlich Neues gegenüber der GMS zu bieten. Gemäß dem über den Werdegang der Ethik Kants Gesagten gründet dieser Teil seiner Substanz nach nicht auf dem Transzendentalidealismus der KrV. Dies aber schließt nicht aus, daß in ihr mehrmals Termini vorkommen, die der ersten Kritik entstammen, und auch nicht, daß einzelne Themen vom Standpunkt der inzwischen vollzogenen Wende behandelt werden. Bei aller Unabhängigkeit der ethischen Theorie der KpV vom transzendentalen Idealismus hat doch dieser als Rahmen des Denkens Kants einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auch auf den Analytik-Teil ausgeübt. Es ist dies ein weiterer Aspekt des Unterschiedes zu den ersten zwei Abschnitten der GMS und zugleich der Grund, warum die KpV dem Leser eine größere Verständnisschwierigkeit bereitet. Ein Kennzeichen, das die KpV von der GMS unterscheidet, ist ihr äußerer Rahmen, nämlich eine Struktur, die (mit Änderungen) von der ersten Kritik übernommen ist. Kant selbst weist zu Beginn der Einleitung (A 31 f.) auf diesen Parallelismus hin. Es handelt sich um eine Struktur, die zunächst nach dem Prinzip der Zweiteilung aufgebaut ist. Das Werk als Ganzes umfaßt zwei Teile: eine Elementarlehre und eine Methodenlehre. Die Elementarlehre wird ihrerseits in eine Analytik und eine Dialektik der reinen praktischen Vernunft unterteilt. Mehr darüber im Kommentar zur einschlägigen Stelle der KpV. Eines sei schon hier gesagt: Die einzelnen Teile der KpV werden nicht als „transzendental“ qualifiziert, weil, wie oben bemerkt (vgl. Nr. 12, S. 49), Kant zunächst der Ansicht war, daß die obersten Grundsätze der Moralität und die Grundbegriffe derselben nicht in die Transzendentalphilosophie gehörten (KrV A 15/B 28 f.). Die der KpV von außen her aufgedrungene Struktur läßt sich psychologisch durch die bekannte, allzu große Neigung Kants zur Systematik oder „Architektonik“ erklären, die er im letzten Hauptstück der KrV als „die Kunst der Systeme“ (A 832) definiert. Diese Neigung äußert sich in systematischen Einteilungen, Symmetrien und Parallelismen, die oft genug nur nahezu gewaltsam hergestellt werden konnten. Der bekannteste Fall von Systematik ist die Kategorientafel in der KrV, die Kant „mit besonderem Stolz als seine große Leistung bezeichnet“. In mehreren seiner späteren Schriften hat er dann allerlei Probleme „in dies Prokustesbett der zwölf Kategorien hineingezwängt“51. In der KpV gehen einige Abschnitte der Analytik, etwa die „Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“, die „Tafel der Kategorien der Freiheit“ sowie die „Typik der reinen praktischen Vernunft“, zumindest teilweise, 51
G. Martin, Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie, Köln 21960, 97.
14. Die nicht erwartete „Kritik der praktischen Vernunft“
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vor allem was die Form betrifft, auf den entstellenden Einfluß dieser Vorliebe für architektonische Anordnung zurück.52 Neu in der KpV ist die Anordnung des Stoffes, die Ausführlichkeit in der Behandlung des Stoffes sowie hie und da einzelne Themen. Man fragt sich deshalb, warum Kant mit der KpV eine Theorie des Ethischen herausgab, die im wesentlichen dieselbe war wie die drei Jahre zuvor erschienene. Grund dafür dürften vor allem die zahlreichen Einwände gewesen sein, die inzwischen gegen seine KrV erhoben worden waren, insofern sie Positionen vertrat, die Konsequenzen für die Morallehre hatten, sowie Einwände direkt gegen die GMS. Die Vorrede des Werkes nennt mehrere dieser Einwände bzw. Mißverständnisse. Inhaltlich neu ist der zweite Teil der KpV, die Dialektik. Dieses Neue betrifft aber nicht die eigentliche Theorie des Ethischen, sondern jene ontologischen Prämissen, auf denen die moralische Dimension des Menschen gründet, und die Kant bereits in der ersten Kritik angesprochen hatte (vgl. oben Nr. 12, S. 48): Die Existenz Gottes und die Fortdauer des Menschen als Person über die Zeit seiner irdischen Existenz hinaus. Obwohl Kant im Kanon-Hauptstück der ersten Kritik diese Prämissen bereits gesichert hatte, waren einige Zeitgenossen, namentlich der Theologe Spalding in Berlin (vgl. seinen Brief an Kant vom 8. Februar 1788: X 527 f.), besorgt wegen der Abweisung der spekulativen Vernunft aus der Sphäre des Übersinnlichen. Zu diesem Problem hatte Kant schon am 25. Juni 1787 an Christian Schütz geschrieben: „Ich habe meine KpV so weit fertig, daß ich sie denke künftige Woche nach Halle zum Druck zu schicken. Diese wird besser, als alle Kontroversen mit Feder und Abel [einige seiner Kritiker] … die Ergänzung dessen, was ich der spekulativen Vernunft absprach, durch reine praktische, und die Möglichkeit derselben beweisen und faßlich machen, welches doch der eigentliche Stein des Anstoßes ist, der jene Männer nötigt, lieber die untunlichsten, ja gar ungereimten Wege einzuschlagen, um das spekulative Vermögen bis aufs Übersinnliche ausdehnen zu können, ehe sie sich jener ihnen ganz trostlos scheinenden Sentenz der Kritik unterwürfen“ (X 490). Die kurz zuvor erschienene zweite Auflage der KrV hatte in der Vorrede diese Ergänzung schon angekündigt mit dem berühmt gewordenen Diktum: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ (B XXX). Die KpV liefert diese Ergänzung mit der Lehre von den Postulaten der reinen praktischen Vernunft. Gerade weil die GMS in ihren ersten zwei Abschnitten und die Analytik der KrV, trotz ihrer Verschiedenheit in der Darlegung und in dem Ausmaß, wie sie ein Thema behandeln, sachlich dieselbe Position vertreten, ergänzen sie einander. Deswegen werde ich bei meiner Erläuterung zur KpV auch auf die GMS zurückgreifen, vor allem beim wichtigen Thema „kategorischer Imperativ“, das im Werk von 1785 ausführlicher behandelt wurde. 52 Eine unkonventionelle Untersuchung des Opus Kants unter diesem Aspekt hat der für die Veröffentlichung des Nachlasses Kants verdienstvolle Forscher E. Adickes durchgeführt in: E. Adickes, Kants Systematik als systembildender Factor, Berlin 1887.
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Der Werdegang der Ethik Kants
Erst viele Jahre später, 1797, hat Kant mit der „Metaphysik der Sitten“ eine normative Ethik veröffentlicht. Dieses System der Moral (und, in seinem ersten Teil, des Rechtes), das das eigentliche Ziel seiner Bemühungen um den Menschen als freies und verantwortliches Wesen darstellte, hat beim Erscheinen ein geringes Echo gefunden; auch nachher ist es fast nur als Dokument für die Ansichten der Zeit bzw. Kants im Bereich der Moral und des Rechtes von Bedeutung geblieben. Es sind vielmehr die beiden Vorbereitungsschriften (!) von 1785 und 1788 gewesen, die Kant eine hervorragende Stellung in der Geschichte der Ethik verschafft haben. Von Bedeutung für die Frage nach dem „Formalismus“ der Grundlegungsschriften, der eines der auffallendsten und umstrittensten Charakteristiken der Ethik Kants darstellt, ist der Umstand, daß Kant bei der Ausführung seiner Rechts- und Pflichtenlehre de facto auf eine „naturrechtliche“ Position umgestiegen ist (bzw. umsteigen mußte?). D. h. um die jeweilige Norm zu ermitteln, argumentiert Kant vom Objekt der Handlung, also von der Sache her, etwa von der menschlichen Sexualität, von der für den Leib nötigen Nahrung, von unserer Redefähigkeit als Mitteilung der Wahrheit, von den Mitmenschen in Not usw. Auch im ersten Teil, wo es um Rechte geht, handelt es sich um Rechte, die in der Sache selbst begründet sind; deshalb muß die Sache selbst untersucht werden, bevor man das zugehörige Recht formuliert. Der Umstand, daß Kant den Unterschied von Legalität und Moralität hervorhebt, schließt nicht aus, daß ein und derselbe Mensch, der äußerlich nach dem Gesetz handelt, in seiner Gesinnung die in den Pflichten implizierten Werte bejahen soll, und daß er sich gerade so sittlich gut verhält.
Kommentar zur „Kritik der praktischen Vernunft“
Vorrede (A 3–28) Die „Vorrede“ (dasselbe gilt für die darauffolgende „Einleitung“) beginnt mit dem Problem, das als umfassendes Thema des Buches vorgestellt wird, wonach die reine Vernunft praktisch sein kann. Mit demselben Problem hatte sich Kant am Ende der GMS auseinandergesetzt. Dort hieß es: „Wie nun reine Vernunft ohne andere Triebfedern … für sich selbst praktisch sein, d. i. wie das bloße Prinzip der Allgemeingültigkeit aller ihrer Maximen als Gesetze … ohne alle Materie (Gegenstand) des Willens, woran man zum voraus irgend ein Interesse nehmen dürfe … oder m. a.W.: wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend“ (A 124 f. = IV 461). Für diese Unmöglichkeit hatte Kant bereits vorher den Grund angegeben: „Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen, deren Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann“ (A 120 = IV 459). Letzteres ist für die Freiheit, ohne die keine Moralität möglich ist, ausgeschlossen. Die Freiheit gilt für Kant als intelligible (transzendente) Realität. Schon hier sieht man, daß Kant, obwohl seine Morallehre, wie aus der Untersuchung ihres Werdegangs klar geworden sein dürfte, vom Transzendentalidealismus der ersten Kritik unabhängig ist, immer wieder in der KpV versucht, Lehrstücke dieser Ethik anhand der ersten Kritik zu erläutern oder auch zu beweisen. Dies macht den Hauptunterschied zwischen der Analytik der KpV und den ersten zwei Abschnitten der GMS aus. Aus diesem Grund werde ich, soweit nötig, in meinem Kommentar die jeweilige Lehre der KrV in Erinnerung bringen. A 3: Abs. 1 erläutert den Buchtitel, indem er ihn mit dem Titel der ersten Kritik vergleicht. Die Erläuterung ist leichter zu verstehen, wenn man beide Buchtitel wie folgt vervollständigt: „Kritik der reinen (spekulativen) Vernunft“ und „Kritik der (reinen) praktischen Vernunft“. In beiden Fällen ist die Wendung „der reinen“ bzw. „der praktischen“ Vernunft als genitivus obiectivus gemeint. Außerdem ist zu beachten, daß hier beim Wort „Kritik“, das an sich einen neutralen Sinn hat („unbefangene Prüfung“), der negative Sinn im Vordergrund steht: Kritisieren bedeutet hier, einen bestimmten Gebrauch der Vernunft abweisen. Demgemäß kritisiert die erste Kritik die reine Vernunft, insofern sie in ihrem erkenntnismäßigen Gebrauch sich anmaßt, die Wirklichkeit zu erkennen, ohne sich auf die Sinnlichkeit zu beziehen (antirationalistisches Anliegen der KrV). Die Grundthese der KrV ist, daß unsere Erkenntnis der Wirklichkeit auf den Bereich beschränkt ist, der zuerst der Sinnlichkeit zugänglich ist. Es ist dies die empiristische „Grenzbestimmung“ (vgl. vor allem KrV A 395), die eines der Hauptanliegen der Kritik Kants darstellt. Konsequenz einer solchen Grenzbestimmung ist die Abweisung der spekulativen53 Vernunft, insofern sie eine Erkenntnis der transzenden53
Im Bereich der Erkenntnis unterscheidet Kant einen theoretischen Vernunftgebrauch (Er-
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Kommentar zur „Kritik der praktischen Vernunft“
ten (außerhalb unserer Erfahrung liegenden) Wirklichkeit beansprucht. Diese Wirklichkeit erschließt sich nur der praktischen Vernunft, und zwar nicht in einem Wissen, sondern in einem Glauben, wie in der Dialektik der KpV dargelegt werden soll. Was die zweite Kritik anbelangt, so will sie die praktische Vernunft abweisen, insofern diese empirisch motiviert handelt. Denn die Grundthese der Ethik Kants besagt, daß unsere praktische Vernunft (unser Wollen) nur dann moralisch gut ist, wenn sie als reine Vernunft, d. h. nach ihrem eigenen formalen Gesetz handelt; negativ bedeutet dies: wenn das Objekt oder Ziel nicht als Bestimmungsgrund (Motivation) des Wollens fungiert. In diesem Sinne heißt es im ersten Absatz der „Einleitung“: Die reine Vernunft „allein, und nicht die empirisch-beschränkte, sei unbedingterweise praktisch“ (A 30). In dieser These, die den Kern der zweiten Kritik ausmacht, sind Formalismus und Autonomie als Kennzeichen dieser Kritik enthalten. A 4: Abs. 2. Im Zusammenhang mit der Absicht zu zeigen, daß die Vernunft als reine eine praktische ist, d. h. daß sie allein sittlich gute Entscheidungen treffen und entsprechende Handlungen hervorbringen kann, geht Kant in den Abs. 2–5 auf die Frage nach der Freiheit ein, die das Praktisch-Sein der Vernunft kennzeichnet. Er nennt sie „transzendentale“ Freiheit, um sie von einer „komparativen“ (A 171, 174, 181) oder „psychologischen“ (A 12, 173 f.) Freiheit zu unterscheiden. Letztere ist eine in der Geschichte der Philosophie (auch in Kants Habilitationsschrift „Nova dilucidatio“, vgl. „Der Werdegang der Ethik Kants“, Nr. 5, S. 30) immer wieder auftauchende Auffassung, die Freiheit als Abwesenheit eines äußeren Zwangs versteht, so daß eine Handlung, die aus einem inneren Determinismus (und damit notwendigerweise) „spontan“ hervorgeht, als frei gilt. Transzendentale Freiheit ist Freiheit in jener „absoluten Bedeutung“, die die spekulative Vernunft als möglich (denkbar), wenn auch nicht als wirklich beweisen kann. Dies wurde in der dritten Antinomie der KrV ausgeführt (A 444ff.). Dort wurde in der Thesis (der allerdings eine ebenfalls bewiesene Antithesis gegenübersteht) bewiesen, daß es in der Welt außer der Naturkausalität im Sinne eines strengen Determinismus auch eine „Kausalität durch Freiheit“ gibt. Denn ohne eine erste Ursache, die absolut spontan wirkt, d. h. die ihrerseits nicht von einer vorhergehenden Ursache abhängt, wäre die Reihe der einander subordinierten Ursachen in der Welt nicht hinreichend zum Wirken bestimmt. Aus dieser an sich kosmologischen Argumentation, die auf einen freien „ersten Beweger“ schließt, folgert Kant in der „Anmerkung zur Thesis“ kenntnis des Seins) und einen praktischen (Erkenntnis des Sollens): KrV A 633. Den theoretischen Gebrauch der Vernunft unterteilt er weiter in eine „Naturerkenntnis“ (bzw. einfach „theoretische“ Erkenntnis) und eine „spekulative“ Erkenntnis je nachdem, ob er sich auf Gegenstände der Erfahrung bezieht oder aber auf transzendente Gegenstände (außerhalb der möglichen Erfahrung) (A 634 f.). Nur die Naturerkenntnis (einfach „Erfahrung“ im prägnanten Sinn genannt) gilt für Kant als objektiv gültig (freilich als Erkenntnis von Erscheinungen!). Diese Lehre hängt mit der Grundkonzeption Kants zusammen, der zufolge „(sinnliche) Anschauung und Begriff die Elemente aller unserer Erkenntnis ausmachen“ (A 50).
Vorrede (A 3–28)
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mit einem „argumentum ex analogia“ eine innerweltliche, menschliche Freiheit als Fähigkeit, einen zeitlich zwar relativ ersten, kausalitätsmäßig aber schlechthin ersten Anfang zu setzen. In der „Auflösung“ der dritten Antinomie (A 532 ff.) beweist Kant dann die Vereinbarkeit dieses zunächst problematischen Begriffs der Freiheit mit dem in der Welt herrschenden durchgängigen Determinismus mittels seiner Zwei-Welten-Theorie: In der phänomenalen Welt ist unsere Entscheidung und Handlung streng determiniert; in der noumenalen Welt ist dieselbe (!) Entscheidung und Handlung frei. Auf diese Problematik kommt Kant ausführlich in der „Kritischen Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft“ (A 167–179) zurück. A 4: Abs. 3 geht auf die Beziehung der Freiheit, deren Möglichkeit in der KrV durch die spekulative Vernunft bereits bewiesen wurde, zum moralischen Gesetz ein: Die Idee der Freiheit „offenbart sich durchs moralische Gesetz“; mehr noch, das „apodiktische Gesetz der praktischen Vernunft“ beweist die „Realität“ der Freiheit. Hier, wie auch in A 9, nimmt Kant vorweg, was er weiter unten ausführen wird: Die Existenz dieses Gesetzes ist ein „Faktum der Vernunft“ (A 56) in dem Sinne, daß es sich in unserem Bewußtsein kundtut. Seinerseits aber läßt uns das moralische Gesetz, wie es in der Fußnote zum Abs. 4 heißt, die Freiheit erkennen. Denn eine moralische Verpflichtung kann es nur für ein Wesen geben, das frei ist. Daß der Vernunftbegriff (d. h. die Idee) der Freiheit den Schlußstein des ganzen Systems der reinen, einschließlich der spekulativen Vernunft bildet, wird dadurch bewiesen, daß die zwei anderen Ideen, Gott und Unsterblichkeit, die zu den „höchsten Zwecken unseres Daseins“ gehören (KrV B 395 Anm.), sich an die Idee der Freiheit anschließen, weil unser freies und verantwortliches Handeln sie voraussetzt und ihnen dadurch „objektive Realität“ verleiht. Während also die spekulative Vernunft die Idee Gottes nur als möglich beweist (ein „fehlerfreies Ideal“: KrV A 641), vermag die praktische Vernunft die Realität Gottes und der Unsterblichkeit der Seele zu beweisen – und zwar im Sinne der Postulate der reinen praktischen Vernunft. A 5: Abs. 4–5 erläutern, welche Art von Erkenntnis wir von den genannten Ideen haben. Sie ist nicht für alle drei Ideen die gleiche. 1. Wir wissen a priori um die Möglichkeit der Freiheit. Dies ist einer der Fälle jener Art von Erkenntnis, die Kant „Erkenntnis a priori“ nennt und die er ausführlich in der KrV besprochen hat (vgl. vor allem B 3 ff.). Allerdings ist der Sinn der Qualifikation „a priori“, die er großzügig verteilt, alles andere als deutlich und konstant. Darüber sollen in einem Exkurs einige Überlegungen angestellt werden. Jedenfalls handelt es sich im vorliegenden Fall um eine Erkenntnis, zu der wir, wie im vorigen Absatz gesagt wurde, „durch“ das moralische Gesetz gelangen, wobei letzteres sich uns als ein „Faktum der Vernunft“ erschließt (A 56). Während Kant aber im Absatz 3 von der „Realität“ der Freiheit gesprochen hat, spricht er hier nur vom Wissen um die „Möglichkeit“ derselben, „ohne sie [die Freiheit] doch einzusehen“. In der Dialektik, A 241, heißt es: „Wie die Freiheit möglich sei, und wie man sich diese Art von Kausalität theoretisch und
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Kommentar zur „Kritik der praktischen Vernunft“
positiv vorzustellen habe, wird dadurch nicht eingesehen“. In ähnlichem Sinne hebt Kant mehrmals die „Unbegreiflichkeit“ oder Unerklärbarkeit der Freiheit hervor (A 13, 79 f.; Religion B 58 Fn usw.) In der KU § 91 wird die Freiheit als „Tatsache“ zu den „scibilia“ gezählt.54 In der Fußnote wird das gegenseitige Bedingungsverhältnis von Freiheit und moralischem Gesetz dahingehend erklärt, daß es sich um eine Bedingung in je einem anderen Sinn handelt. Von einer gegenseitigen Verwiesenheit von Freiheit und Gesetzgebung war bereits in der GMS die Rede (A 104–110 = IV 450–453). Dort meinte Kant, nicht in den Zirkel zu geraten, demgemäß zwei Wechselbegriffe (Freiheit und Gesetzgebung) gebraucht werden, um einander gegenseitig zu erklären; denn wenn wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursachen denken, nehmen wir einen anderen Standpunkt ein, als wenn wir uns nach unseren Handlungen als Wirkungen vorstellen. An unserer Stelle dagegen wird der Zirkel dadurch durchbrochen, daß wir durch ein Faktum Zugang zum moralischen Gesetz haben. 2. Anders ist es beim erkenntnismäßigen Stellenwert der Ideen Gottes und der Unsterblichkeit. Von ihnen, heißt es hier, können wir nicht einmal die Möglichkeit erkennen. Der Sinn dieser Aussage läßt sich schwer erfassen. Denn a) kurz danach räumt Kant ein, daß sie „keine innere Unmöglichkeit (Widerspruch) enthalten“; b) zur Gottesidee hat Kant im letzten Abschnitt des theologischen Hauptstückes der KrV geschrieben: „Das höchste Wesen bleibt für den bloß spekulativen Gebrauch der Vernunft ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönt“, und zwar so, daß „eine jede Theologie“ diesen „gereinigten Begriff … sehr nötig hat“ A 641f.55 Nun sind diese Begriffe, im Unterschied zum Begriff der Freiheit, nicht Bedingungen des moralischen Gesetzes, wohl aber des Objektes dieses Gesetzes, nämlich des höchsten Gutes, das in der Zusammensetzung von Sittlichkeit und proportionierter Glückseligkeit besteht. Darüber mehr im Dialektik-Teil der KpV, wo, im Rahmen des Postulats Gottes, und zwar in A 226 f., diese Distinktion deutlich formuliert wird. Der 54 Daß Kant in einem „ständig vorgreifenden Entwerfen und Versuchen … auch in der Reifezeit“ um den Begriff der Freiheit gerungen hat, zeigt sich auch daran, daß er noch in der KrV, wo er bereits zum Begriff der „transzendentalen Freiheit“ gelangt war, auf dem der „praktische Begriff derselben gründe“( A 533), die These vertrat, daß „wir die praktische Freiheit durch Erfahrung, als eine von den Naturursachen, erkennen“ (A 803). Vgl. H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants KrV, 752–755. 55 Gegen die dort hervorgehobene „Möglichkeit“ der Gottesidee spricht nicht, was Kant im Zusammenhang mit seiner Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises schreibt, daß nämlich „der sich nicht widersprechende Begriff noch lange nicht die Möglichkeit des Gegenstandes beweist“. Denn dort argumentiert Kant nicht im Sinne der herkömmlichen „transzendentalen Theologie“ (A 631), sondern auf der Basis seines eigenen Kritizismus, der die „reale Möglichkeit der Dinge“ (im Unterschied zur „logischen Möglichkeit der Begriffe“) im Sinne der „Postulate des empirischen Denkens“ versteht (vgl. A 220–224). Diesen Postulaten gemäß gilt ein Begriff nur dann als möglich, wenn die objektive Realität der im Begriff enthaltenen Synthesis als in der Erfahrung möglich „besonders dargelegt wird“ (A 596 Fn).
Vorrede (A 3–28)
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hier festgestellte epistemische Unterschied ist der Grund dafür, daß Kant zwar offiziell von drei Postulaten der reinen praktischen Vernunft spricht (vgl. A 238), de facto aber in dem Dialektikteil nur die Postulate der Unsterblichkeit und Gottes vorlegt. Während aber in den Postulaten die Wirklichkeit Gottes und der Unsterblichkeit angenommen wird, behauptet Kant hier, daß im Hinblick auf das Objekt des moralisch bestimmten Willens (das höchste Gut) die „Möglichkeit“ dieser Ideen „angenommen werden muß“. 3. Am Ende des Abs. 4 wird der epistemische Status der „angenommenen“ Wirklichkeiten besprochen und damit der Kern der Abschnitte VII und VIII in der Dialektik vorweggenommen. Es handelt sich um ein „Fürwahrhalten“ aus einem bloß subjektiven Grund, das den Ideen von Gott und Unsterblichkeit „objektive Realität“ verschafft, aber ohne daß dadurch „die Vernunft im theoretischen Erkenntnisse erweitert“ wird. Dieser Grund ist kein anderer als die unbedingte Forderung des moralischen Gesetzes, das uns gebietet, das höchste Gut zu verwirklichen. Mit dem vorliegenden Unterschied zwischen einer „beliebigen Absicht der Spekulation“ und einem „gesetzlichen“ Bedürfnis übernimmt Kant ein Lehrstück aus dem TheologieKapitel der KrV, A 633 f., in dem er zwischen dem theoretischen Gebrauch der Vernunft, die eine Bedingung „supponiert (per hypothesin)“, und dem praktischen Gebrauch der Vernunft, die eine Bedingung „postuliert (per thesin)“, unterschieden hat. A 8. Mit den Abs. 6–8 beginnen die Antworten auf Einwände, die gegen die KrV und die GMS erhoben wurden und die für die KpV, einschließlich des Dialektikteils, relevant sind. Dazu hat Paul Natorp in der Einleitung zu seiner Edition der KpV in der Akademie-Ausgabe, 496 und 505–508, die wichtigsten Daten zusammengestellt, auf die Kant in den nun folgenden Passagen Rücksicht nimmt.56 Schon in der Fußnote zum Abs. 4 ist Kant auf den Vorwurf der Inkonsequenz hinsichtlich der Beziehung zwischen Freiheit und moralischem Gesetz eingegangen, der von mehreren Autoren, vor allem Johann Friedrich Flatt, Professor in Tübingen, erhoben worden war. An unserer Stelle aber hat Kant insbesondere den nachher im Abs. 10 deutlicher bezeichneten „wahrheitsliebenden Rezensenten“ (1786) seiner GMS, nämlich Probst Pistorius vor Augen. Dieser hatte auch die vom Königsberger Hofprediger und Professor Johann Schulz verfaßten „Erläuterungen über des Hrn. Prof. Kant KrV“, 1784, besprochen und dabei die Anwendbarkeit der Kategorien auf Noumena sowie die Doppelnatur des Menschen als Phaenomenon und Noumenon kritisiert. Es handelt sich in der Tat nicht bloß um „das Rätsel der Kritik“, wie Kant sagt, sondern geradezu um die Aporie, die dem Hauptwerk Kants zugrunde liegt und auf die er auch in anderen Schriften zurückgreift. In der KpV ist dies vor allem dort der Fall, wo es um die für eine Ethik unverzichtbare Freiheit des Menschen geht. In der KrV finden sich zweierlei Arten von Aussagen zu den Kategorien. Einerseits 56 In den Materialien zu Kants KpV, hrsg. von R. Bittner und K. Cramer, Frankfurt 1975, finden sich einige der frühesten Rezensionen bzw. Abhandlungen zu den Moralschriften Kants, sowie auch nachkantische Schriften über die Ethik Kants.
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Kommentar zur „Kritik der praktischen Vernunft“
sind sie Begriffe, die aus der Spontaneität unseres Verstandes stammen und in Verbindung mit der empirischen Anschauung unsere Erkenntnisse von Objekten ausmachen. Diesen Objekten wird wegen ihrer formalen, vom Subjekt beigesteuerten Bestandteile (reine Anschauungen und reine Begriffe) der ontologische Stellenwert von Erscheinungen zugeschrieben. Gerade als von sich aus „leere Begriffe“ (A 51) haben die Kategorien ohne empirische Anschauung weder Sinn noch Bedeutung (B 148 f.; auch A 155, 679, 696 usw.). Andererseits wird an mehreren Stellen gesagt, daß die Kategorien sich „weiter als die sinnliche Anschauung erstrecken, weil sie Objekte überhaupt denken, ohne noch auf die besondere Art (der Sinnlichkeit) zu sehen, in der sie gegeben werden mögen“ (A 254; auch B 148). Anders gesagt, „die Kategorien sind im Denken durch die Bedingungen unserer sinnlichen Anschauung nicht eingeschränkt, sondern haben ein unbegrenztes Feld, und nur das Erkennen dessen, was wir denken … bedürfe Anschauung“ (B 166 Anm.). Aus der Lehre, daß unsere Erkenntnis von Objekten durch den konstitutiven Beitrag von Anschauungen und Begriffen a priori entsteht, folgert Kant, daß wir von den Objekten in einer doppelten Hinsicht sprechen müssen: Was wir eigentlich erkennen, sind die Objekte als Erscheinungen; aber ihnen müssen Objekte an sich selbst entsprechen. Denn „es folgt auch natürlicherweise aus dem Begriff einer Erscheinung überhaupt: daß ihr etwas entsprechen müsse, was an sich nicht Erscheinung ist“ (A 251; vgl. auch B XXVI f). Nun aber können wir diese „Dinge an sich selbst“ nicht anders als durch reine Begriffe oder Kategorien denken (nicht erkennen!). Diese Lehre der KrV wird in der KpV vervollständigt, indem Kant den „praktischen Gebrauch“ der Vernunft in Betracht zieht. So löst sich das genannte Rätsel auf: Mit den Kategorien können wir nicht nur die den Phänomena zugrundeliegenden Noumena denken; wir können die Kategorien auch auf übersinnliche Objekte anwenden, näherhin auf das Objekt, das „in der notwendigen Willensbestimmung a priori [der Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz] enthalten“ ist, nämlich die Freiheit, oder auf die Gegenstände, die mit dem Gegenstand derselben Willensbestimmung „unzertrennlich verbunden sind“, nämlich Gott und die Unsterblichkeit der Seele als Bedingungen der Möglichkeit des vom moralischen Gesetzes erforderten Gegenstandes des Willens – des höchsten Gutes. Damit verschafft die praktische Vernunft diesen Objekten „Realität“. Derselbe doppelte Gebrauch der Kategorien ermöglicht also die Vereinigung der Kausalität als Freiheit mit der Kausalität als Naturmechanismus in ein und demselben Subjekt, dem Menschen. Die Diskussion über den übersinnlichen Gebrauch der Kategorien konzentriert sich im Laufe dieser Absätze mehr und mehr auf den Begriff der Freiheit (die Kategorie der Kausalität in ihrem übersinnlichen Gebrauch). Denn „der Begriff der Freiheit ist der Stein des Anstoßes für alle Empiristen, aber auch der Schlüssel zu den erhabensten praktischen Grundsätzen für kritische Moralisten“ – die Grundsätze einer, wie sie genannt wurde, „praktisch gegründeten Metaphysik“. Deswegen legt Kant dem Leser ans Herz, was er unter der „Kritischen Beleuchtung der Analytik“ (A 167–185) zum Thema Freiheit ausgeführt hat.
Vorrede (A 3–28)
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A 13: Abs. 9. Im Anschluß an die vorhergehende Aussage über die Freiheit als „Schlüssel zu den erhabensten praktischen Grundsätzen“ macht Kant zwei Bemerkungen zu dem hier zu entwickelnden System der reinen praktischen Vernunft. Erstens, es setzt die bereits veröffentlichte GMS nur als „vorläufige Bekanntschaft mit dem Prinzip der Pflicht“ und ihrer Formel (dem kategorischen Imperativ) voraus; „sonst besteht es durch sich selbst“. D. h. also mit der KpV will Kant seine Grundlegung der Ethik nochmals vollständig darlegen. Zweitens, das vorliegende Werk liefert keinen Überblick über sämtliche praktische Wissenschaften, wie es in etwa in der Vorrede der GMS und zum Teil im Hauptstück der „Architektonik“ in der ersten Kritik getan wurde. Dies wäre für die Bestimmung der Pflichten als Menschenpflichten nötig; aber Aufgabe des vorliegenden Werkes ist es nur, die Prinzipien der Möglichkeit, des Umfanges und der Grenzen der reinen praktischen Vernunft anzugeben (vgl. auch Abs. 13: A 22f.; ebenfalls die parallele Aufgabe der ersten Kritik: A XII, 3, 57; B 7, 23 usw.), „ohne besondere Beziehung auf die menschliche Natur“. Deutlicher hat sich Kant in der GMS dahingehend ausgedrückt, daß das Sittengesetz „nicht bloß für Menschen, sondern für alle vernünftigen Wesen überhaupt“ gilt (A 28 = IV 408; auch VIII = IV 389; 33 Fn = IV 410 usw. und schon in der KrV A 806). Allerdings trägt die Ethik Kants der Eigenart des Menschen insofern Rechnung, als sie die Verbindlichkeit für den Menschen als eine Nötigung charakterisiert, weil der Mensch a) ein endliches Wesen ist, so daß sein Wille nicht völlig dem Gesetz konform ist, und weil er b) mit einer Sinnlichkeit ausgestattet ist, die nicht ohne weiteres den Anweisungen der Vernunft folgt: A 57 f., 143–147, 149 f., 151; GMS A 37 = IV 413; 76 = IV 434. Die Fußnote geht auf die Schrift des Kirchenrats Gottlob August Tittel ein, der in seiner Schrift „Über Herrn Kants Moralreform“, 1786, u. a. behauptet, daß Kant „längstbekannte Dinge in einer unvernehmlichen Sprache, als neu, verkündiget“ und deshalb gefragt hatte, ob seine ganze Moralreform „etwa nur auf eine neue Formel sich beschränken soll“. In seiner Antwort äußert Kant eine Ansicht über das in allen Menschen vorhandene moralische Wissen, die bei ihm mehrmals in verschiedenen Variationen vorkommt (vgl. vor allem KrV A 830). Aufschlußreich in dieser Hinsicht ist auch die Überschrift des ersten Abschnittes der GMS: „Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen“. A 15: Abs. 10 erwähnt einen anderen Einwand von Pistorius in seiner Rezension der GMS: Kant habe den Begriff des Guten als des Objektes des Willens nicht vor dem moralischen Prinzip (dem Sittengesetz) festgelegt, wie es an sich sein sollte. Zur Antwort verweist Kant auf das zweite Hauptstück der Analytik: „Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (A 99–114), in dem dieses „Paradoxon“, das die Ethik Kants als Ganze kennzeichnet, ausführlich erläutert wird. In der Fußnote fügt Kant hinzu, man hätte ihm auch vorwerfen können, daß er in der GMS auch nicht den Begriff des Begehrungsvermögens und des Gefühls der Lust erklärt habe, obwohl doch das Begehrungsvermögen mit dem Guten als seinem Gegenstand und die Lust als Ursache oder Wirkung des Guten ebenfalls mit dem
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Guten zusammenhängen. Diesem möglichen Vorwurf hält Kant zunächst entgegen, daß die Psychologie von beiden Begriffen ex professo handelt, so daß man in der Moral billigerweise ihre Erklärung voraussetzen kann. Dennoch will er schon hier diese zwei zusätzlichen, vermißten Erklärungen geben, und zwar so, daß das von Pistorius aufgeworfene Problem nicht präjudiziert wird. Wohin Kant mit den nun folgenden definitorischen Ausführungen eigentlich steuert, läßt sich nicht leicht einsehen. M.E. geht es schließlich um seine Auffassung vom Willen als dem Begehrungsvermögen im Menschen und um den mit dieser Auffassung zusammenhängenden Formalismus seiner Ethik. Da aber weder hier noch im weiteren Verlauf des Werkes diese zwei Themen direkt und umfassend angegangen werden, fällt dem Leser bzw. dem Interpreten die schwierige und „gefährliche“ Aufgabe zu, diese Lehre zu thematisieren. Als Voraussetzung der Erklärung, die Kant hier gibt, sei daran erinnert, daß er in der Inauguraldissertation von 1770 eine scharfe Unterscheidung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit vorgenommen und dementsprechend den reinen intellektuellen Charakter der Moralphilosophie behauptet hatte – was übrigens mit der Position übereinstimmte, auf die er im Lauf der 60er Jahre gekommen war. Hier beruft er sich auf ein Prinzip, das bei ihm mehrmals vorkommt und das er in den „Träumen eines Geistersehers“ „Prinzip des Lebens“ genannt hatte (A 25 f. = II 327 Fn; vgl. auch KrV A 345).57 Dieses Prinzip besagt: a) daß „Leben das innere Prinzip der Selbsttätigkeit ist“ (XXVIII, 247), wobei Kant hier und auch in der KpV seinem Thema gemäß nur das Leben sinnbegabter/vernunftbegabter Lebewesen in Betracht zieht. Denn er schreibt weiter: „Lebende Wesen, die nach diesem inneren Prinzip handeln, müssen nach Vorstellungen handeln“. Entsprechend heißt es an unserer Stelle: „Leben ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln“. b) Wenn das Leben in der Selbsttätigkeit besteht, so kann sich das Begehrungsvermögen nur durch seine eigenen Vorstellungen zum Handeln bringen. c) „Lust ist die Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens, d. i. mit dem Vermögen“ selbsttätig zu werden. In der Lust wird das Subjekt sich dessen bewußt, daß es selbst Ursache des Bewirkten ist. Relevant für diesen Gedanken der Übereinstimmung des Handelns mit dem Handelnden selbst ist das, was Kant in der Metaphysik Pölitz weiter schreibt: „Die Freiheit ist der größte Grad der Tätigkeit und des Lebens“, weil sie „Spontaneität“ ist – was dem „tierischen Leben“ fehlt (XXVIII 249). In dieselbe Richtung geht die Stelle der Einleitung zur dritten Kritik, an der Kant zu seiner Definition des Begehrungsvermö57 Vgl. dazu J. Bohatec, Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Hamburg 1938, 113. Im Rahmen seiner Untersuchung über Kants Auffassung von Gut und Böse geht der Vf. auf dieses Prinzip ein, das Kant in den Reflexionen und Vorlesungen abhandelt (besonders im Abschnitt über das Vermögen der Lust und Unlust in der Vorlesung „Metaphysik L1“, zuerst 1821 von Pölitz herausgegeben: XXVIII 245–253). Zum selben Problemkreis gehört auch die Fußnote in der KU, Einleitung III, in der Kant auf unsere Stelle verweist.
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gens in der Vorrede zur KpV Stellung nimmt: „Für das Begehrungsvermögen, als ein oberes Vermögen nach dem Freiheitsbegriffe, ist allein die Vernunft (in der allein dieser Begriff stattfindet) a priori gesetzgebend“ (B XXIV). Im höchsten Grad des Lebens, im Menschen als moralischem Wesen (vgl. auch KU § 84 zum Menschen als „Endzweck der Schöpfung“), wird das obere Begehrungsvermögen als Selbsttätigkeit durch die Freiheit selbst definiert. Freiheit wird also von Kant nicht als der Modus, wie das rationale Wesen am Guten als seinem Ziel orientiert ist, sondern selbst als das letzte Ziel und der unüberbietbare Sinn des menschlichen Lebens verstanden. In dieser Perspektive überrascht eine Aussage wie folgende nicht: „Alle Moralität ist die Zustimmung der Freiheit mit sich selbst“ (XXVIII 250). Der Sinn des hier Ausgeführten stimmt mit dem überein, was Kant zum Thema Sittlichkeit bereits in seinen „Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ niedergeschrieben hatte (vgl. „Der Werdegang der Ethik Kants“, Nr. 8, S. 41): Die Lust, die wir bei der „Anwendung unserer Kraft“, d. h. wenn und weil wir selbst „die freie wirkende Ursache“ sind, erfahren, ist „weit mehr“ als das Vergnügen an unserer Vollkommenheit oder am Guten, das wir bewirken. Weiter heißt es: „Der freien Willkür alles zu subordinieren, ist die größeste Vollkommenheit. Und die Vollkommenheit der freien Willkür als einer Ursache der Möglichkeit ist weit größer als alle anderen Ursachen des Guten, wenn sie gleich die Wirklichkeit hervorbrächten … Das Gefühl der Lust und Unlust ist entweder über das, wogegen wir leidend sein, oder über uns selbst als ein tätig principium durch Freiheit vor dem Guten und Bösen. Das letztere ist das moralische Gefühl“ (XX 144 f.). Deswegen konnte Henrich zu dieser Stelle schreiben, Kant habe „den subjektiven Grund der sittlichen Leistungen in einem Selbstverhältnis der Subjektivität“ gesucht.58 Er habe beabsichtigt, im Unterschied zur moral-sense Ethik der Briten und zur eudämonistischen Ethik der Kontinental-Autoren eine rationale Ethik vorzulegen. In der Tat aber habe bei ihm die Vernunft nicht die Aufgabe, das Begehrungsvermögen zum Guten hin zu leiten, sondern dessen Freiheit und Autonomie zu wahren. „Damit wird das Verhältnis zwischen Vernunft und Freiheit (Wille) jedoch auf den Kopf gestellt. Deshalb ist die Kantische Ethik letztlich und in ihrer Tiefenstruktur nicht eine Ethik der Vernunftautonomie, sondern eine solche der Autonomie des Willens“59. Kant hat wohl mit seinen ziemlich vagen Definitionen in der Fußnote zu A 15 die zwischen ihm und Pistorius kontroverse Frage offen gelassen. In der Tat aber mußte die Entwicklung, die ihn schon in den „Träumen“ zur „Regel des allgemeinen Willens“ (A 42 = II 335) geführt hatte, ihn den Begriff des Guten anhand des Moralgesetzes als Prinzip der „allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Handlungen“ (GMS A 17 = IV 402) festsetzen lassen, wie im 2. Hauptstück der Analytik bestätigt wird. Kant verneint keineswegs, daß Moralität darin besteht, das sittlich Gute zu tun, und daß dieses Gute in der Natur des Menschen seinen Maßstab hat. Aber in seiner Ethik reflektiert er einD. Henrich, „Hutcheson und Kant“, 57. M. Rhonheimer, Die Perspektive der Moral. Philosophische Grundlagen der Ethik, Berlin 2001, 230. 58
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seitig über die Freiheit, die er als absolute Autonomie des Willens versteht. Daß der Gegenstand des autonomen Handelns des Menschen und damit (!) des guten Willens das bonum honestum ist – dies übernimmt er weitgehend unreflektiert aus der „gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis“ (vgl. die Überschrift des ersten Abschnittes der GMS). Beide Bestandteile, der autonome Wille und das „für den Menschen Gute“, stehen in seiner Ethik unvermittelt nebeneinander. Ein weiterer Grund, warum Kant nicht anerkennen kann, daß die Freiheit gebunden sei an das sittlich Gute als ein ihr vorgegebenes Gut (vorgegeben in dem Sinne, daß der Maßstab für das Gute nicht die menschliche Freiheit ist), liegt in dem, was Manfred Moritz den „psychologischen Hedonismus“ Kants genannt hat.60 Denn für Kant gilt folgende Gleichung: Handlung, die ein bestimmtes Objekt anstrebt = Handlung aus sinnlichen Triebfedern. Eine solche Sicht bedeutet in der Tat die Nicht-Anerkennung des Willens als oberes Begehrungsvermögen, d. h. als ein Streben, das im Lichte unserer rationalen Erkenntnis von sich aus auf das „für den Menschen Gute“ geht, sei dies ein materieller oder ein geistiger Gegenstand. Das obere Begehrungsvermögen, das Kant anerkennt, strebt nach sich selbst als freies Begehren. Deswegen muß es selbst in völliger Autonomie festsetzen, was für sich „gut“ ist. A 18: Abs. 11. Kant erwähnt zwei Wege, auf denen man in einer Wissenschaft vorgehen kann: Einen analytischen Weg, auf dem ermittelt wird, welche die Teile einer zu untersuchenden Realität sind und was sie sind; dann einen synthetischen Weg, auf dem aus der vorher richtig erfaßten Idee des Ganzen die Teile in ihrer wechselseitigen Beziehung abgeleitet werden. Diesen zweiten Weg nennt Kant „architektonisch“. In der Methodenlehre der KrV handelt das dritte Hauptstück von der „Architektonik der reinen Vernunft“ (A 832–851), die als „die Kunst der Systeme“ definiert wird. Erst die systematische Einheit sei „dasjenige, was gemeine Erkenntnis zur Wissenschaft, d. i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht“ (A 832). Was Kant mit dem Terminus Architektonik bezeichnet, würde man heute „Systematik“ nennen; dieser Ausdruck jedoch findet sich bei Kant nicht. Das Gesagte dient Kant dazu, den von mehreren Autoren gegen ihn erhobenen Vorwurf der „Inkonsequenz“ (siehe die Fußnote zu A 9) darauf zurückzuführen, daß diese Autoren sich die Mühe erspart haben, die die „innigste Bekanntschaft mit dem System“ verlangt, und deshalb dort Inkonsequenzen finden, wo es eigentlich um Lücken „in ihrem eigenen unzusammenhängenden Gedankengange“ geht. A 19: Abs. 12. Ein weiterer Einwand wirft Kant vor, er „verkündige als neu längst bekannte Dinge in einer unvernehmlichen Sprache“ (so Tittel, vgl. Abs. 9). Kant antwortet: Der Vorwurf treffe die vorliegende Kritik nicht, weil ihre Materie „sich der Popularität“ nähere und ihre Sprache also durchaus verständlich sei. Hinsichtlich der Sprache der KrV sagt Kant: a) Wenn jemand „populärere“ Ausdrücke kennt, die den M. Moritz, „Pflicht und Moralität. Eine Antinomie in Kants Ethik“, in: KS 56 (1965/66) 412–429, hierzu 420. 60
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Gedanken der KrV ebenso angemessen sind, wie die von Kant, so sei er dafür dankbar, „denn ich will nur verstanden sein“. b) Wenn aber jemand der Meinung ist, die Gedanken selbst der KrV seien wertlos, so würde er „sich ein Verdienst um die Philosophie erwerben“, falls er dies beweisen kann. Sind sie aber gültig, so bezweifelt Kant, ob der Gegner gangbarere Ausdrücke finden kann. In der Fußnote geht Kant auf einige Ausdrücke der KpV ein, die er zwar sorgfältig ausgesucht habe, die aber mißverstanden werden könnten. Als solche nennt er die „Kategorien der praktischen Vernunft“, von denen das zweite Hauptstück der Analytik handelt (A 117–119), sowie die Idee der Weisheit als von der Heiligkeit unterschieden (im Abschnitt über das Postulat Gottes: A 229 f.). Am meisten fürchtet Kant eine Mißdeutung des Terminus „Postulat der reinen praktischen Vernunft“, der hier folgendermaßen erklärt wird: Ein Postulat der Mathematik postuliert die Möglichkeit einer Handlung, wodurch ein Gegenstand konstruiert werden soll, dessen Möglichkeit wir a priori wissen. Ein Postulat der reinen praktischen Vernunft postuliert die Möglichkeit (genauer: die Wirklichkeit!) bestimmter Gegenstände „aus apodiktischen Gesetzen“, nämlich den moralischen. Es gründet also in einer subjektiven Notwendigkeit (Bedürfnis) der reinen praktischen Vernunft und besteht deshalb in einer notwendigen Annahme (vgl. A 226: „Es ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen“; zu den Postulaten siehe auch das zu Abs. 4 Gesagte). In der vorliegenden Erläuterung des Ausdrucks „Postulat“ liest man den zunächst harmlos klingenden Satz, Postulat bedeute hier eine „in Ansehung des Subjektes zur Befolgung ihrer [der praktischen Vernunft] objektiven, aber praktischen Gesetze notwendige Annehmung“. Nun entspricht diese Aussage der Position Kants in der KrV (A 804 ff.), wurde aber als mit dem Autonomie-Gedanken seiner Ethik unvereinbar von Kant selbst in der folgenden Fassung des Postulats korrigiert. Dieses Problem soll im Dialektik-Teil bei der Erläuterung des Postulats Gottes erörtert werden (vgl. dort im Abschnitt „Einleitung: Der Begriff von Postulat bei Kant vor der KpV“, Nr. 4, S. 309). A 21: Abs. 13–14. Kant faßt zunächst das Resultat seiner bisherigen Überlegungen zusammen, in denen er, vor allem in den Abs. 1–5, die Grundthese seiner KpV formuliert hat, wonach die Vernunft als reine in dem Sinne praktisch ist, daß das Gesetz ihres praktischen Gebrauchs ihr selbst innewohnt. Mit diesem Gesetz hängen direkt die Freiheit und indirekt die objektive Realität von Gott und der Unsterblichkeit des Menschen als Person zusammen. Unter Einbezug seiner ersten Kritik, die den Antworten auf die gegen ihn erhobenen Einwände zugrunde lag, vermag Kant das Fazit zu ziehen, daß mit der Ermittlung der „Prinzipien a priori“ des Erkenntnis- und des Begehrungsvermögens ein sicherer Grund für die theoretische und für die praktische Philosophie gelegt worden ist. Dies gibt ihm Anlaß, einen Einwand des Göttinger Professors J. G. H. Feder in dessen Schrift: „Über Raum und Kausalität, zur Prüfung der Kantischen Philosophie“, 1787, zu erörtern. Feder hatte die vom Popularphilosophen Christian Garve verfaßte erste Rezension der KrV eigenmächtig gekürzt und in den von ihm herausgegebenen
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„Göttingischen gelehrten Anzeigen“ im Januar 1782 veröffentlicht. Darauf erwiderte Kant 1783 in einem Anhang seiner „Prolegomena“ unter der Überschrift: „Probe eines Urteils über die Kritik, das vor der Untersuchung vorhergeht“ (zum Inhalt der Schrift Feders siehe Akademie-Ausgabe XIII, 198 f.). Dem Autor zufolge gibt es überhaupt keine Erkenntnis a priori; vielmehr „sind alle unsere Allgemeinsätze nichts anderes als ausgedehnte Erfahrung“. In der vorliegenden Erwiderung bekräftigt Kant seine Erkenntnislehre, die er in der Aussage zusammenfaßt: „Vernunfterkenntnis und Erkenntnis a priori ist einerlei“.61 Diese Lehre vom Apriori hat Kant in der Einleitung zur KrV (insbesondere in der Aufl. B) ausführlich dargelegt und im Prinzip zusammengefaßt: „Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori und gehören auch unzertrennlich zueinander“ (B 4). Solche Erkenntnisse a priori gebe es sowohl in der Mathematik als auch in der Naturwissenschaft. Allerdings ist zu bemerken, daß der Ausdruck „Erkenntnis a priori“ bei Kant einen doppelten Sinn hat.62 Denn er bezeichnet entweder einen Bestandteil der Erkenntnis, der a priori ist – etwa die reinen Anschauungen der Sinnlichkeit und die reinen Verstandesbegriffe –, oder aber eine ganze Erkenntnis im vollen Sinne des Wortes, also ein Urteil wie z.B. die Sätze der Mathematik (KrV B 4). Als Beispiel, daß da, wo keine Erkenntnis a priori eingeräumt wird, auch keine notwendige und allgemeine Erkenntnis möglich ist, nennt Kant die Kausalität, d. h. die Verknüpfung zweier Ereignisse als Ursache und Wirkung. Wenn es nun keine Erkenntnis a priori gäbe, wäre eine objektive Erkenntnis der Verknüpfung (daß die Verknüpfung nämlich den Objekten selbst zugehört) nicht möglich. Die Allgemeinheit der Kausalverknüpfung wäre in der Tat eine subjektive Gewöhnung, die uns ähnliche Fälle auch in Zukunft „erwarten“ lassen würde. Es muß aber in Erinnerung gebracht werden, daß die durch das Kantische Apriori gegründete objektive Erkenntnis und damit objektive Notwendigkeit in Wahrheit eine „subjektive Objektivität“ oder auch ein „objektiver Schein“ ist,63 weil die erkannten Objekte, denen Allgemeinheit und Notwendigkeit zukommt, bloße Erscheinungen sind, Dinge also, wie sie für uns aufgrund unserer transzendentalen Anschauungen und Begriffe gegeben sind. Diesem Sinn von Objektivität entspricht die „pragmatische“ Regel, die Kant den Forschern der Natur ans Herz legt: „In allen Aufgaben, die im Felde der Erfahrung vorkommen mögen, behandeln wir jene Erscheinungen als Gegenstände an sich selbst, ohne uns um den ersten Grund ihrer Möglichkeit (als Erscheinungen) zu bekümmern“ (KrV A 393). D. h. also, die Naturwissenschaftler befassen sich zwar mit der Wirklichkeit. Aber Kant hat hier „einen neuen Begriff der Wirk61 Vernunft ist das Vermögen, welches „die Prinzipien, etwas schlechthin a priori zu erkennen, enthält“ (KrV A 11). Vernunft wird hier im weiten Sinn verstanden als „das ganze Erkenntnisvermögen, soweit es Prinzipien a priori enthält, schließt also die Sinnlichkeit in deren apriorischen Formen ein“ (B. Erdmann, Historische Untersuchungen über Kants Prolegomena, 9; vgl. auch H. Vaihinger, Kommentar zu Kants KrV, I 230). 62 Vgl. H. Vaihinger, Kommentar zu Kants KrV, I 187. 63 Vgl. H. Vaihinger, Kommentar zu Kants KrV, I 204; II 291f., 317, 349ff.
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lichkeit aufgestellt, den der relativen Wirklichkeit im Gegensatz zu der absoluten; letztere gibt er preis, um erstere um so stärker zu sichern. Dementsprechend ist auch ein neuer Begriff der Wahrheit von Kant aufgestellt worden: der Begriff der relativen Wahrheit“64. Diesbezüglich hat man mit Recht von einer „anthropologischen Interpretation“ der Wahrheit und der Wirklichkeit gesprochen.
Exkurs: Allgemeinheit und Notwendigkeit in der menschlichen Erkenntnis Für Kant sind Notwendigkeit und Allgemeinheit Kennzeichen, daß die so qualifizierten Erkenntnisse a priori sind, d. h. nicht aus der Erfahrung gewonnen werden können. Außerdem gehören beide Merkmale zusammen; deshalb wissen wir anhand auch nur eines dieser Kriterien, daß die betreffende Erkenntnis auch das andere Merkmal aufweist. Diese Lehre hat eine fundamentale Bedeutung für die Erkenntnis- und Seinslehre Kants. Aber sie ist ebenfalls relevant für seine Ethik, obwohl diese, wie schon ausgeführt, an sich in ihrem Kern, d. h. in ihrer Auffassung vom Sittengesetz, von der transzendentalidealistischen Wende unabhängig ist. Es muß aber auch bedacht werden, daß es im Laufe der Geschichte der Philosophie viele Spielarten von Apriori in der Erkenntnislehre gegeben hat, nicht zuletzt auch im Rationalismus des 18. Jahrhunderts. Daher scheint es angebracht, in der Untersuchung einer Ethik, in der immer wieder von Erkenntnissen die Rede ist, die allgemein und notwendig und deshalb a priori sind, diese Frage prinzipiell zu erörtern. Daß Kant Allgemeinheit und Notwendigkeit zusammen behandelt und dafür dieselbe Erklärung liefert, nämlich das Vorhandensein apriorischer Elemente in unserem Erkentnisvermögen, hängt u. a. davon ab, daß bei ihm eine starke Tendenz vorliegt, den Unterschied von Begriff und Urteil zu verwischen.65 Was nun die Allgemeinheit all (!) unserer Begriffe (seien es die der Alltagserkenntnis oder die der wissenschaftlichen Erkenntnis) betrifft, so liegt ihr Grund darin, daß die Begriffe das Intelligible zum Ausdruck bringen, das der Verstand in den Daten der Erfahrung erfaßt hat. Aristoteles nennt diesen Akt „noein en tois phantasmasi“ (De Anima III, 7) und Thomas von Aquin „intelligere in sensibili“ (Summa theologiae I, die quaestiones 84–89 über den zentralen Akt der menschlichen Erkenntnis, insbesondere q. 84, aa. 6 und 7). Es handelt sich um einen Akt, der zwischen dem Konkreten der Erfahrung und dem Abstrakten des Begriffes, dem Einzelnen und dem Allgemeinen vermittelt. Denn das in den Daten einer Erfahrung erfaßte Intelligible ist nicht auf diese Erfahrung beschränkt, sondern kann in beliebig vielen anderen Fällen verwirklicht sein. Aber die Lehre über diesen Akt in der Struktur unserer Erkenntnis, „Einsicht“ oder „Verstehen“, war zur Zeit Kants von einer langen Tradition überlagert worden, die in den Mittelpunkt der Erkenntnis das Produkt des Verstehensaktes auf Kosten seiner Quelle gestellt hatte. 64 65
H. Vaihinger, Kommentar zu Kants KrV, II 350. H. Vaihinger, Kommentar zu Kants KrV, I 352.
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Kommentar zur „Kritik der praktischen Vernunft“
Vom Begriff kann nur in einem uneigentlichen Sinne gesagt werden, daß er notwendig sei. Er ist notwendig im Sinne des Identitätsprinzips: a ist a. Notwendigkeit würde hier die Kohärenz des Intelligiblen mit sich selbst bedeuten. Habe ich z. B. infolge der Einsicht in eine gezeichnete Figur den Kreis als den Ort aller Punkte definiert, die den gleichen Abstand von einem Zentrum haben, so ist die Intelligibilität des Kreises diese und keine andere. Die Notwendigkeit im eigentlichen Sinne ist dagegen die Qualifikation des Urteils, sei es ein Alltagsurteil, sei es ein wissenschaftliches Urteil. Denn das Proprium des Urteils besteht nicht in der Synthesis von Subjekt und Prädikat, sondern in der absoluten Setzung (Bejahung: ja, est) eines zunächst gedachten Intelligiblen: „Etwas ist“ – wobei das Intelligible immer eine Synthese besagt. Als Urteil gilt in erster Linie das „Tatsachenurteil“, in dem ein Intelligibles gesetzt wird, das in den Daten einer Erfahrung erfaßt wurde. Das konkrete Tatsachenurteil ist ein singuläres Urteil und bildet unseren (einzigen!) Zugang zur Erkenntnis der Wirklichkeit.66 Deswegen ist das Tatsachenurteil ein Existenzurteil: Es läßt uns das erkennen, was „ist“ – wobei der Sinn von „ist“ nicht qualifiziert oder restringiert ist, genauso wie die mentale Setzung selbst. Gerade weil erst im Urteil die Erkenntnis des Seins stattfindet, ist die Notwendigkeit das Kennzeichen des Urteils und nicht des Begriffs: Das, was ist, kann nicht, insofern und solange es ist, nichtsein. Für den Bereich der unserer Erkenntnisart proportionierten Realität handelt es sich freilich nicht um eine absolute Notwendigkeit, sondern um die Notwendigkeit dessen, was bloß de facto ist, das Kontingente. Kant vermochte das Urteil in seinem Unterschied zum Begriff und in der ihm eigenen Notwendigkeit deshalb nicht zu ermitteln, weil er zwar im Menschen eine Tendenz zum Unbedingten erkannt (vgl. KrV A 307–309, das erste Buch der transzendentalen Dialektik sowie in der Vorrede B XX f.), ihr aber keine konstitutive Funktion beim Zustandekommen unserer Erkenntnis von Objekten zuerkannt hat, sondern nur eine regulative (systematisierende) Funktion. Um vom Begriff zum Urteil überzugehen ist es nötig, sich zuvor zu vergewissern, daß die im Begriff ausgedrückte Intelligibilität den tatsächlich gegebenen Daten der Erfahrung entspricht und kein Datum vorliegt, das sie in Frage stellen könnte. Kurzum: Wir erkennen die Realität kraft eines konkreten Tatsachenurteils (eines Urteils nämlich, das einen Erkenntnisprozeß zu Ende führt, welcher von einer äußeren oder inneren Erfahrung ausgeht), das wir infolge jenes reflektierenden Verstehens gefällt haben, das in der Korrespondenz zwischen Daten und Inhalt der Einsicht den für die Setzung des Urteils („est“) hinreichenden Grund erfaßt hat. Es sei bemerkt, daß ich, wenn ich sage, daß der zureichende Grund für die Setzung des Urteils in der Korrespondenz zwischen den Daten der Erfahrung und dem Inhalt der Einsicht liegt, keineswegs einen Vergleich zwischen dem (immanenten) Gegenstand als 66 Es gibt auch allgemeine Urteile, die sog. „Wesensurteile“, in denen etwas vom Subjekt (einem allgemeinen Begriff) ausgesagt wird. Zum Beispiel „Der Hund ist ein Säugetier“. Der Realitätssinn dieser Urteile hängt aber von einem entsprechenden singulären Urteil als Tatsachenurteil ab.
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einem zunächst bloß Gedachten und dem (transzendenten) Ding an sich meine. Denn ein so verstandener Vergleich ist entweder unmöglich, falls die extramentale Realität noch nicht bekannt ist, oder überflüssig, falls die extramentale Realität schon bekannt ist. Eine solche „Diallele“ war Kant wohl bekannt (vgl. KrV A 57 f.; Logik A 70 = IX, 49 f.). Er löste die Aporie, indem er den Begriff von Wahrheit immanent-idealistisch umdeutete. Gemeint ist nun vielmehr die rational-kritische Reflexion über die zwei vorhergehenden Momente – Erfahrung und Einsicht –, die beide immanent sind. Die Transzendenz in unserer Erkenntnis ist die Leistung erst des Urteils als Vollzug unserer uneingeschränkten (und damit durch kein Immanenz-Prinzip eingeschränkten), intelligenten und rationalen Dynamik (Intentionalität) auf das Transzendente hin (das Sein), die den ganzen Erkenntnisprozeß trägt.67 Mit dem über den Ursprung unserer Begriffe und Urteile Gesagten ist der Rede von einem Apriori in der menschlichen Erkenntnis nicht jegliches Fundament entzogen. Denn nur deshalb gibt sich der Mensch mit den Daten der Erfahrung nicht zufrieden, sondern stellt unweigerlich die Frage nach dem Intelligiblen („Was ist das?“), weil sein Geist von sich aus Intelligenz auf der Suche nach dem Intelligiblen ist. Aber dieses Apriori ist kein Begriff und überhaupt kein kategoriales Intelligibles, sondern die Intelligenz selbst als bewußte Vorwegnahme (Suche) des ganzen Intelligiblen. Und deshalb gibt sich der Mensch nicht mit dem bloßen Denken eines kategorialen Intelligiblen zufrieden, sondern stellt unweigerlich die Frage nach dem Sein („Ist es so?“), weil sein Geist Rationalität auf der Suche nach jenem Absoluten ist, das wir „Sein“, „Realität“ nennen. Auch dieses Apriori ist kein Urteil, keine Urkenntnis einer bestimmten Realität, sondern die Rationalität des Menschen als bewußte Antizipation allen Seins (auch des Seins, das die Tragweite unserer Erkenntnisart übersteigt!). Hinsichtlich unserer Moralität genügt es hier, zu sagen: Unser Geist ist von sich aus moralisch, d. h. er ist auf der Suche nach dem Sein als „gut“, und dies bedeutet als der Anerkennung und tätiger Förderung würdig, die wir ihm in Freiheit und Verantwortung entgegenbringen sollen. Dieses moralische Apriori gibt sich in der Frage kund: „Was soll ich tun?“, die jeder erwachsene Mensch, der die psychische Entwicklung bis zur „Mündigkeit“ durchgemacht hat, unweigerlich stellt. Im Unterschied zur Erkenntnis geht die moralische Frage direkt zum Konkreten. In welchem Sinne hier von Allgemeinheit und Notwendigkeit die Rede sein kann, werden wir im Verlauf unserer Untersuchung der Ethik Kants sehen. A 26: Abs. 15–17. Die Erörterung der Kausalität veranlaßt Kant hier, wie mehrmals auch an anderen Stellen (etwa KrV A 760; Einleitung, B 5 und 19; Prolegomena, Vorrede; KpV A 88 f.; Vgl. Vaihinger, Kommentar zu Kants KrV I 340 ff.), die einschlägige 67 Zu dieser Erkenntnis- und Seinslehre im Sinne der Aristotelisch-Thomasischen Tradition vgl. B. Lonergan, Insight. A Study of Human Understanding, London 11957; University of Toronto Press 51992; deutsch: Die Einsicht. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Cuxhaven-Dartford 1995. Eine ausgezeichnete Zusammenfassung: „Cognitional Structure“, in: Collection (Collected Works of B.L., Bd. 4), 1988, 205–221.
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Lehre Humes darzulegen. Hume hielt die Notwendigkeit des Begriffes der Kausalität für eine bloß subjektive Notwendigkeit, d. h. für eine durch Erfahrung erworbene Gewohnheit. Allerdings verfiel er nicht in einen allgemeinen Skeptizismus, weil er (in seiner „Enquiry“) die mathematischen Sätze für a priori und deswegen für notwendig hielt. Aber diese Sätze sind, nach Hume im Unterschied zu Kant (KrV B 14–17), bloß analytisch, so daß er daraus nicht auf ein Vermögen schließen konnte, wodurch wir fähig sind, synthetische (erweiternde) Urteile a priori zu fällen, wie nach Kant die Urteile der Naturwissenschaft es sind, und die damit als apodiktisch gelten. Wenn nun Hume der Mathematik eine rationale (allgemeine und notwendige) Erkenntnis zugestanden, ansonsten aber der Vernunft nur empirische Prinzipien eingeräumt hat, so hat er sich in folgende Antinomie verwickelt (die zweite, von denen die KrV handelt): Er mußte einerseits die unendliche Teilbarkeit des Raumes für die Mathematik annehmen, andererseits aber dieselbe Teilbarkeit in der Naturwissenschaft verneinen, weil er für diese keine Prinzipien a priori zugelassen hatte. Es ist dies, sagt Kant, der Widerspruch zwischen der Vernunft, die die genannte Teilbarkeit einsieht, und dem Gefühl, also der Sinnlichkeit, auf die allein Hume unsere Erkenntnis der Welt (Erfahrung) zurückführt, und für die eine unendliche Teilbarkeit nicht möglich ist. Die Vernunft habe somit in der Naturwissenschaft keinen Probierstein, „der immer nur in Prinzipien a priori angetroffen werden kann“. Fazit: Der allgemeine Empirismus führt zum echten Skeptizismus, der unserer Erkenntnis jegliche allgemeine und notwendige Geltung abspricht. In der Fußnote am Ende der Vorrede wehrt sich Kant erneut gegen den Vorwurf des Idealismus in dem Sinne, wie seine Gegner ihn hinsichtlich seiner KrV verstanden hatten. Dasselbe hatte er bereits kurz zuvor in der zweiten Auflage der KrV getan (B 274–279). Es scheint, daß Kant hier insbesondere die Garve-Feder Rezension seiner Kritik vor Augen hat, auf die er auch in den „Prolegomena“ (A 202–215 = IV 372–380) eingegangen war. Dort hieß es: „Dies Werk ist ein System des transscendentellen (oder, wie er [der Rezensent] es übersetzt, des höheren) Idealismus“. Die Verteidigungsstrategie Kants umfaßt ein Doppeltes. Einerseits weist er darauf hin, daß er in seiner Theorie der Erfahrung die objektive Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis bewiesen hat, und zwar durch die Anerkennung formaler Elemente (Anschauungen und Begriffe a priori) als für die Erfahrung konstitutiv. Deshalb will er in den Prolegomena seinen transzendentalen Idealismus einen „formalen, besser noch kritischen“ nennen (Prolegomena A 208 = IV 375). Andererseits hält er es an unserer Stelle für selbstverständlich, „daß unseren Vorstellungen äußerer Dinge [denen er als solchen den ontologischen Status von „Nichts“: KrV A 34, 36, 46, 48, 370, 375, bzw. von „bloßen Erscheinungen, d. i. Vorstellungen in uns“: A 372, zuschreibt] wirkliche Gegenstände äußerer Dinge korrespondieren“ (vgl. A 251, B XXVII).
Einleitung. Von der Idee einer Kritik der praktischen Vernunft (A 29–32) A 29: Abs. 1 erläutert, wie schon zu Beginn der Vorrede, was unter einer „Kritik der praktischen Vernunft“ zu verstehen sei: Sie beschäftigt sich „mit den Bestimmungsgründen des Willens“ und fragt deshalb „ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange“. Nun ist der Wille „ein Vermögen …, den Vorstellungen entsprechend Gegenstände entweder hervorzubringen oder doch sich selbst zur Bewirkung derselben …, d. i. seine Kausalität zu bestimmen“. Eine solche Wirkweise, nämlich die Kausalität der Freiheit, kommt tatsächlich dem Willen zu (vgl. A 55 f. zum „Faktum der Vernunft“ und in der Vorrede die Anmerkung zum Abs. 4). Das Bewußtsein des moralischen Gesetzes schließt ja das Bewußtsein mit ein, daß die Befolgung des Gesetzes unserer Freiheit und damit unserer Verantwortung anvertraut ist. Freiheit bedeutet, sich aus eigener Initiative selbst zum Handeln zu bewegen. Daß der moralisch gute Wille der Wille ist, der durch die reine Vernunft allein zum Wollen bestimmt wird, wird von Kant durch die Redewendung ausgedrückt, daß die „reine Vernunft für sich allein praktisch ist“, ebenso durch folgende Redewendung, der eine negative Präzisierung hinzugefügt wird, nämlich daß „reine Vernunft allein, und nicht die empirischbeschränkte, unbedingterweise praktisch sei“. Dieser auf den ersten Blick klaren Formulierung liegt eine Zweideutigkeit zugrunde, auf die hingewiesen werden soll, um den tatsächlichen Sinngehalt dieser Formel, in der die Grundthese der Ethik Kants steckt, zu erfassen. Kant geht von der unbestrittenen Voraussetzung aus, daß das Sittengesetz uns unbedingt in Anspruch nimmt. Seine Verbindlichkeit ist ein „Tu das“, und nicht „Tu das, wenn du dies und jenes erreichen willst“. Was befiehlt uns das Gesetz zu tun? Die ebenfalls unbestrittene Antwort auf diese Frage lautet: das sittlich Gute. Hat nun das Subjekt durch die Vernunft im Dienst seiner moralischen Dimension (also durch die praktische Überlegung, die auf die Frage: „Was soll ich tun?“ folgt) erkannt, daß in der konkreten Situation ein bestimmter Gegenstand das Gute ist, das es tun soll, gilt dann die Bestimmung des Willens durch dieses Gute, das das Subjekt nicht anders als a posteriori erkennen konnte und das ein endliches Gutes ist, als empirisch bedingt? Bedeutet das Wollen dieses Gegenstandes allein, weil er gut ist, jene empirisch-bedingte praktische Vernunft, die Kant in seiner Ethik kritisieren und ablehnen will? Liegt in diesem Fall jene „empirisch bedingte Vernunft“ vor, die Kant „von der Anmaßung“ abhalten will, „ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen“, oder handelt es sich nicht vielmehr um die für uns einzig möglich Weise, der unbedingten Verbindlichkeit der moralischen Vernunft nachzukommen? Die unbedingte Verbindlichkeit gilt ja dem Guten! Es kann kaum bezweifelt werden, daß die Grundthese, der zufolge reine
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Vernunft allein praktisch sein kann und soll, im Lichte der Argumentation des ersten Hauptstücks der Analytik auf einen Formalismus hinausläuft, für den der gute Wille der Wille ist, der sich selbst allein, d.h. seine eigene Freiheit will. Zu der Aussage: „Wir werden nicht eine Kritik der reinen praktischen Vernunft, sondern nur der praktischen Vernunft überhaupt zu bearbeiten haben“ ist zu bemerken, daß Kant manchmal das Attribut „rein“ wegläßt, so daß er nicht immer, wenn er von der „praktischen Vernunft“ spricht, die empirisch-bedingte praktische Vernunft meint, die es zu kritisieren gilt. 68 A 31: Abs. 2 entwirft die Gliederung des Werkes, die den Aufbau der ersten Kritik übernimmt (vgl. „Der Werdegang der Ethik Kants“, Nr. 14, S. 54). Insbesondere erläutert Kant, warum die drei Hauptstücke der Analytik eine Reihenfolge bilden, die zu derjenigen der KrV geradezu umgekehrt verläuft (vgl. auch A 73 und 161). In der Kritik der spekulativen Vernunft galt es, bei der Sinnlichkeit anzufangen, weil unsere Vernunft die Realität nur erkennt, wenn sie sich auf die Sinneserfahrung bezieht. In der Kritik der praktischen Vernunft gilt es, bei dem „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ anzufangen, weil der Wille nur dann moralisch gut handelt, wenn er um des Gesetzes willen handelt. Erst anhand des im ersten Hauptstück der Analytik ermittelten Gesetzes kann im zweiten Hauptstück der Begriff des Guten als des Gegenstandes des guten Willens bestimmt werden. Schließlich soll die Beziehung der reinen praktischen Vernunft zur Sinnlichkeit untersucht werden.
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Vgl. Albrecht, Kants Antinomie, 102, Fn 317.
Der Kritik der praktischen Vernunft erster Teil: Elementarlehre der reinen praktischen Vernunft (A 33–266) Erstes Buch. Die Analytik der reinen praktischen Vernunft Erstes Hauptstück. Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft (A35–100) § 1. Erklärung (A 35–38) Das erste Hauptstück der Analytik handelt von den „Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft“. Die hier vorgelegten Einteilungen und Definitionen zielen darauf ab, das moralische Gesetz zu umschreiben; die eigentliche Definition des (Einzahl!) Grundgesetzes wird erst im § 7 unter der Überschrift „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ angegeben (A 54). Die repetitiven Überlegungen zwischen dem nun folgenden Raster begrifflicher Festlegungen und der Definition im § 7 sind nichts anderes als Präzisierungen der Eigenart des praktischen Grundgesetzes, in erster Linie seines formalen Charakters. „Praktische Grundsätze sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten.“ „Praktisch“, weil sie die praktische Vernunft oder den Willen betreffen.69 „Allgemein“, weil sie für alle Menschen gelten, ja für alle vernünftigen Wesen (vgl. GMS A 28 = IV 408 u.ö.). Ein praktischer Grundsatz hat mehrere praktische Regeln unter sich. Wahrscheinlich meint Kant damit eine Parallele zu seiner Lehre in der Analytik der KrV: Dort stehen unter den Begriffen a priori oder Kategorien bzw. unter den Grundsätzen des reinen Verstandes als den allgemeinsten Prinzipien die besonderen, mannigfaltigen Gesetze der Natur, die ebenfalls allgemein sind (vgl. A 126–128; B 164 f.). „Praktische Regeln“ haben in der hier vorgelegten Gliederung einen „neutralen“ Sinn, denn sie können entweder unter einer „Maxime“ oder unter einem (praktischen) „Gesetz“ stehen. In der Tat spielt der Begriff „praktische Regel“ in dem hier angegebenen Sinn kaum eine Rolle für die folgende Theorie des Ethischen. Wichtig ist dagegen die Distinktion der praktischen Grundsätze in Maximen und Gesetze. Darüber hat sich Kant in der GMS A 51 Fußnote = IV 420 f. deutlicher geäußert. Maxime ist das subjektive Prinzip zu handeln, d. h. die praktische Regel, die sich 69 An manchen Stellen spricht Kant von praktischer Vernunft und Willen, als seien es zwei verschiedene Vermögen, an anderen Stellen wieder als handele es sich um ein und dasselbe Vermögen.
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jemand seinen eigenen Bedingungen („öfters der Unwissenheit oder auch den Neigungen“) gemäß zulegt. Sie ist also der Grundsatz, nach welchem das Subjekt de facto handelt. Praktisches Gesetz ist das objektive Prinzip, gültig für jedes vernünftige Wesen; als solches bestimmt es den Willen als Willen, d. h. als rationales (oberes) Begehrungsvermögen. Es ist „der Grundsatz, nach welchem das Subjekt handeln soll, d. i. ein Imperativ“. Weil nun das Prinzip, wonach jemand de facto handelt, mit dem Prinzip, wonach er handeln soll, koinzidieren kann, so kann der Terminus „Maxime“ auch in einem neutralen Sinn verwendet werden, um bloß das Prinzip zu bezeichnen, demgemäß jemand handelt, ohne noch zu befinden, ob dieses Prinzip in der Tat als praktisches Gesetz zu gelten hat. Es fällt auf, daß sich der Beginn der KpV durch den bei den Rationalisten viel gepriesenen „ordo geometricus“ (vgl. Spinozas Ethik) bzw. die „methodus mathematica“ (vgl. Wolffs „Philosophia practica universalis“ von 1703) auszeichnet: Definitionen (§ 1 „Erklärung“), Lehrsätze, Folgerungen, Aufgaben, Anmerkungen. Die Methode bleibt aber den Argumentationen eher äußerlich und tritt allmählich zurück, bis sie nach § 8 aufhört. Anmerkung (A 35–38) Kant hebt den Unterschied zwischen „Naturerkenntnis“ (theoretischer Erkenntnis) und „praktischer Erkenntnis“ hervor. In der ersten stimmt unsere Erkenntnis mit den Gesetzen der Natur überein, insofern die Vernunft bei ihrer Suche nach den Gesetzen der Natur „durch die Beschaffenheit des Objekts bestimmt“ wird. Mit dieser an sich naheliegenden Aussage nimmt Kant stillschweigend seine sog. kopernikanische Wende zurück, der zufolge „die Gegenstände sich nach unserer Erkenntnis richten müssen“ (KrV B XVI) bzw. wir „der Natur gleichsam das Gesetz vorschreiben“ (B 159). Solche „lapsus“ kommen nicht selten bei Kant vor, der auf weite Strecken so argumentiert, wie ein Realist argumentieren würde. Dies paßt zu der Sichtweise, die er dem wegen der in der KrV vertretenen transzendentalidealistischen „Veränderung der Denkart“ (KrV B XIX) verwirrten Naturforscher ans Herz gelegt hat: „In allen Aufgaben, die im Felde der Erfahrung vorkommen mögen, behandeln wir Erscheinungen als Gegenstände an sich selbst“ (KrV A 393). In der praktischen Erkenntnis sind die Grundsätze keine Gesetze, unter denen der Mensch unvermeidlich stünde, denn die Vernunft hat es hier mit dem Begehrungsvermögen zu tun, „nach dessen besonderer Beschaffenheit sich die Regel vielfältig richten kann“. Im folgenden unterscheidet Kant drei Arten solcher Regeln mit einer Argumentation, die weniger einleuchtend als die parallele in der GMS A 36 ff. = IV 412 ff. ist. Als Prämisse gilt, daß es hier um praktische Regeln für ein Wesen geht, „bei dem Vernunft nicht [d. h. nicht immer] ganz allein Bestimmungsgrund des Willens ist“. Solche Regeln, die ein Produkt der Vernunft sind, heißen Imperative, weil sie ein Sollen bezeichnen, „welches die objektive Nötigung der Handlung ausdrückt“. „Die Imperative gelten also objektiv und sind von Maximen, als subjektiven Grundsätzen, gänzlich
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unterschieden.“70 Die Imperative werden dann in zwei Klassen eingeteilt, je nachdem, ob sie a) das Subjekt als Ursache einer begehrten Wirkung bestimmen (= hypothetische Imperative) oder b) nur seinen Willen schlechthin als Willen, d. h. im voraus und unabhängig davon, ob das Subjekt die begehrte Wirkung hervorzubringen vermag (kategorische Imperative). Als dritte Klasse nennt Kant die Maximen, welche „subjektive [praktische] Grundsätze“ und deshalb keine Imperative sind (zu „Maximen“ vgl. auch die Definition in KrV A 812). Es ist nicht klar, wie sich die hier genannten Maximen von den hypothetischen Imperativen unterscheiden. Letztere werden zwar als objektive Regeln definiert, insofern sie eine von der Vernunft erfaßte Notwendigkeit besagen. Aber es handelt sich um eine Notwendigkeit, die ihrerseits auf einem subjektiven Grund beruht („subjektiv bedingt“), so daß sie nicht für den Willen jedes vernünftigen Wesens gilt. Im Paralleltext der GMS hatte Kant einfach von kategorischen Imperativen und zwei Arten hypothetischer Imperative gesprochen. Zu der obigen terminologischen Festlegung ist zu bemerken: 1) In den Ausführungen seiner KpV verwendet Kant fast nur das Begriffspaar: praktisches Gesetz (oder einfach Gesetz) und Maxime. b) In der Regel wird der Begriff „Maxime“ als Gegensatz zu „Gesetz“, gelegentlich aber auch in einem neutralen Sinn gebraucht. c) Kant führt hier den Fachausdruck „Imperativ“ ein, den er bereits in der GMS, A 37 ff. = IV 413 ff., von seiner herkömmlichen grammatischen Verwendung als Modus einer verbalen Aussage zu einem Grundterminus für die Ethik umgeformt hatte. Aber außer in der Vorrede A 20 Fn und hier wird der Terminus „Imperativ“ im Laufe der zweiten Kritik durchgehend mit Redewendungen ersetzt, die den Terminus „Gesetz“ gebrauchen. Das Hauptproblem, das der Text aufwirft, liegt in der Auffassung des „praktischen Gesetzes“ oder kategorischen Imperativs, die hier vorgelegt und im weiteren Verlauf des Werkes ausgeführt wird. Das Gesetz bestimme nur den Willen, „er mag zur Wirkung hinreichend sein oder nicht“; das Gesetz müsse den Willen als Willen hinreichend bestimmen, „noch ehe ich frage, ob ich gar das zu einer begehrten Wirkung erforderliche Vermögen habe, oder was mir, um diese hervorzubringen, zu tun sei“; „praktische Gesetze beziehen sich allein auf den Willen, unangesehen, was durch die Kausalität desselben ausgerichtet wird“. Schon zu Beginn der GMS hat Kant hervorgehoben, daß der moralische Wert ausschließlich im guten Willen liege. Nun aber „ist der gute Wille nicht durch das, was er bewirkt [!] oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines 70 „Objektiv“ hat hier nicht genau denselben Sinn, wie bei der obigen „Erklärung“, wo es eine Qualifikation des moralischen Gesetzes bezeichnete, das für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig ist. Denn hier werden auch die hypothetischen Imperative, die nicht für jedes vernünftige Wesen gelten, zu den objektiven Regeln gezählt. Objektiv scheint hier zu bedeuten, daß die Imperative auf einer von der Vernunft erfaßten Notwendigkeit gründen. Aber diese Notwendigkeit hängt im Falle der hypothetischen Imperative mit einer zufälligen Bedingung des Subjektes zusammen.
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vorgesetztes Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich gut“ (A 3 = IV 394). Im selben Sinne heißt es in der KpV hinsichtlich der Kausalität des Willens zur Wirklichkeit der Objekte: Nur auf den Bestimmungsgrund des Willens „kommt es an, nicht auf den Erfolg“ (A 79). Daß der moralische Wert einer Handlung vom ernsthaften Wollen der Person (d. h. unter „Aufbietung aller Mittel, soweit sie in unserer Gewalt sind“: GMS A 3 = IV 394) und nicht vom Resultat bestimmt wird, ist unbestritten. Aber von hier aus geht Kant fast unmerklich immer wieder zu der völlig anderen These über, der zufolge das, was man tun soll, keine normative Funktion für das Wollen hat, insofern er das moralische Gesetz als unmittelbar auf das Wollen bezogen versteht, ohne die Vermittlung des gewollten Objektes. Bei der Ermittlung des konkreten Imperativs bezieht Kant das Objekt nicht in seine Handlungstheorie ein. Infolgedessen gelingt es ihm nicht einzusehen, daß gerade das zu bewirkende oder zu erreichende Objekt der Handlung trotz seiner ontologischen Kontingenz und seines begrenzten Wertes das ist, was das apriorische Sittengesetz (die unseren Geist konstituierende Dynamik zum Guten hin) zu einem hier und jetzt absolut verpflichtenden Imperativ spezifiziert und konkretisiert. Daraus ergibt sich der Formalismus als umfassendes Kennzeichen seiner Ethik. Auch für Kant „ist unleugbar, daß alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse; aber diese ist darum nicht eben der Bestimmungsgrund und Bedingung der Maxime“71 (A 60; auch „Gemeinspruch“, A 211 f. = VIII 279 Fn; MS, Tugendlehre, Einleitung VI). Es ist aufschlußreich, daß Kant an der Stelle der GMS A 8–17 = IV 397–402, an der er zum ersten Mal eine regelrechte Argumentation vorlegt, die auf die Formulierung des moralischen Gesetzes schließt, von einem „formellen Prinzip des Wollens“ spricht, „unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens“, „unangesehen der Zwecke, die durch solche Handlung bewirkt werden können“. Diese Stelle der GMS kann als Erläuterung der an unserer Stelle vorkommenden Aussage gelten: Zur Gesetzgebung wird erfordert, daß die Vernunft „bloß sich selbst vorauszusetzen bedürfe“. Die Frage, ob und was der Gegenstand des Wollens mit dem moralischen Gesetz zu tun hat, der „wunde Punkt“ der Kantischen Konzeption der Ethik, soll in einem eigenen Exkurs diskutiert werden, um damit eine sachliche Orientierung für den Kommentar zu dieser Ethik zu gewinnen. In einem zweiten Exkurs soll auf die Bedeutung des Umstandes aufmerksam gemacht werden, daß Kant seine Ethik mit der Festlegung des moralischen Gesetzes beginnt, um welches dann sämtliche Ausführungen des Werkes kreisen.
71 Später werde ich auf diesen Text zurückkommen und zeigen, daß Kant doch (auf eine eher verborgene Weise) der Materie (dem Objekt) eine normative Funktion einräumt (die Materie wird zum Willen hinzugefügt). Es bleibt allerdings unklar, wie dies denkbar ist, ohne in das von ihm verworfene „Prinzip der Selbstliebe“ (Lehrsatz II) zurückzufallen.
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Exkurs: Der Gegenstand einer menschlichen Handlung Es geht darum zu klären, wie das moralische Gesetz den Willen zu einer Handlung bestimmt.72 Ich nehme das moralische Gesetz in seiner allgemeinsten Formulierung („Tu das Gute und meide das Böse“), die auch Kant voraussetzt, auch wenn er sich direkt mit dessen Allgemeinheit und Unbedingtheit befaßt. Mit „Handlung“ ist hier eine „menschliche Handlung“ gemeint („actus humanus“ im Unterschied zu „actus hominis“), d. h. eine solche, bei der der Mensch weiß, was er tut, und es freiwillig tut. Indem gesagt wird, daß eine menschliche Handlung dem Zusammenwirken von Vernunft und Wille entspringt, ist bereits gesagt, daß sie „intentionalen“ Charakter besitzt, weil Vernunft und Wille intentionale Vermögen sind: Sie streben bewußt danach, das Sein zu erkennen und das Gute zu tun. Eine Handlungstheorie verlangt deshalb eine introspektive Analyse, d. h. eine Thematisierung der einer menschlichen Handlung innewohnenden und sie konstituierenden intentionalen Elemente – was letztlich nur durch die Aufmerksamkeit auf die je eigene innere Erfahrung (das Bewußtsein, das das sinnliche oder geistige Erkennen und Begehren begleitet) möglich ist. Eine rein äußerliche Untersuchung würde die menschliche Handlung auf ein Naturgeschehen reduzieren, also auf bloße Körperbewegungen bzw. -zustände, und würde damit ihren eigentlichen Gegenstand und die Rolle, die er dabei spielt, verfehlen. Im Wollen findet sich ein intentionales Moment, in welchem sowohl die erkenntnismäßige wie auch die willensmäßige Intentionalität zusammenfließen, weil das dem Willen eigentümliche Streben ein vernunftgeleitetes Streben ist. Um dieses Moment zu ermitteln, stellen wir an jemanden, der dabei ist, zu handeln oder sich in einem Zustand befindet, der offenkundig das Resultat seiner Entscheidung ist, die Frage: „Was tust du?“. Diese Frage zielt auf das intentionale Element, das die Handlung bzw. den frei angenommenen Zustand des Betreffenden erklärt. Wenn derjenige, den ich tagsüber im Bett antreffe, antwortet: „Ich liege im Bett, um mich auszuruhen“, so kenne ich seine Intention, und dies bedeutet: Ich kenne den Gegenstand seiner Entscheidung, sich ins Bett zu legen. Eine menschliche Handlung als solche läßt sich nicht erfassen, wenn man sie nur als physische (körperliche) Handlung betrachtet, ohne Rücksicht auf die Basis-Intention, die in ihr verwirklicht wurde. Der gewollte Gegenstand als intentionaler Gehalt gibt der Handlung ihre erste und fundamentale moralische Identität: Sie ist dadurch sittlich gut oder böse. Ich spreche von „moralischer“ Identität der Handlung, weil die Handlung, wie aus der bisher durchgeführten Analyse deutlich wurde, einen freien Akt des wählenden Willens miteinschließt73, ohne den es die Handlung als eine sinnvolle nicht gäbe. Damit ist auch ge72 Für die folgenden Ausführungen übernehme ich einige Überlegungen aus dem Werk M. Rhonheimers: Die Perspektive der Moral, insbesondere die Sektionen S 53–59, 96–100, in denen der Autor eine sorgfältige handlungstheoretische Analyse durchführt. 73 Gegenstand sittlicher Wertung ist ursprünglich der freie Willensakt und dann die damit frei angenommene Gesinnung sowie die daraus frei entspringenden Handlungen und Unterlassungen.
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sagt, daß ein bloßer „actus hominis“, etwa eine Reflexhandlung oder eine Handlung im Traum, keine sinnvolle, sittliche Handlung ist (keine menschliche Handlung), weil der Betreffende nichts gewollt hat. Auf der Frage, warum er das getan hat, kann er keine Antwort geben, weil seine Handlung kein „Wozu“, keinen intentionalen Gehalt hatte: Er hat nicht wissend und nicht frei wollend etwas intendiert. Wir können also die These aufstellen: Der Gegenstand einer Handlung (ihr „finis operis“) ist die erste Quelle der Moralität derselben. Nach welchem Kriterium wir befinden können, ob es sich um einen sittlich guten oder aber bösen Gegenstand handelt, soll später geklärt werden. Es gibt aber auch einen zweiten intentionalen Gehalt, der eine menschliche Handlung konstituiert. Denn zum ersten „Wozu“, das ein „Was“ als Objekt der Handlung bestimmt hat, kommt ein zusätzliches „Was“ hinzu, das ebenfalls durch ein weiteres „Wozu“ definiert wird; also eine weitere Intention, um derentwillen das Subjekt die konkrete, bereits als sinnvoll konstituierte Handlung tatsächlich durchführt. Es ist die „Intention“ im engeren Sinne, die Absicht des Handelnden, der „finis operantis“. Jemand entscheidet sich z. B., den heutigen Tag dem Studium zu widmen (wobei diese Handlung aufgrund ihres intentional definierten Gegenstandes bereits eine sittlich bestimmte ist), weil er morgen eine Prüfung ablegen muß. Wegen der Reflexivität von Erkennen und Wollen kann auch die zweite Intention Gegenstand eines durch ein weiteres „Wozu“ konstituierten Willensaktes werden. Damit entsteht die mehr oder weniger kohärent geordnete Reihe von Intentionen, die die freie und verantwortliche Lebensführung eines Menschen kennzeichnen. Entscheidend für die Frage, die der Text der KpV bereits zu Beginn aufwirft, ist die Feststellung, daß es kein Wollen ohne Gegenstand gibt und daß deshalb die Bestimmung des Willens als Willens über das Objekt des Willensaktes (und zwar als intentionales Objekt, d. h. als unter einem bestimmten Aspekt erkanntes und gewolltes Objekt) läuft. Das eigentümliche Streben des oberen Begehrungsvermögens ist ein vernunftgeleitetes Streben, dessen Zielobjekt das sittlich Gute ist. Das diesem Streben innewohnende Gesetz ist das moralische Gesetz. Es ist Aufgabe der Vernunft in ihrem erkenntnismäßigen Moment, das im Dienst des rationalen Strebevermögens steht, also Aufgabe der praktischen Vernunft, durch ihr praktisches Urteil dem Willen einen solchen Gegenstand vorzulegen, der den Forderungen des Gesetzes entspricht. Eine handlungstheoretische Analyse führt zwar zur Anerkennung, daß reine Vernunft praktisch ist, aber zugleich zur Anerkennung, daß die Vernunft nur dadurch praktisch sein kann, daß sie dem Willen einen Gegenstand vorlegt, der als gut erkannt wurde. Handelt es sich um einen Gegenstand, der als sittlich gut erkannt wurde, so ist das Wollen dieses Gegenstandes sittlich gut. Letzterer spielt also in der moralischen Praxis des Menschen eine entscheidende Rolle; mehr als Kant bereit ist, ihm einzuräumen. Die nun folgenden Paragraphen kreisen genau um diese Rolle, die Kant dem Gegenstand (nicht) einräumt.
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Exkurs: Die zwei Grundformen der Ethik: die Ethik des guten Lebens und die Ethik der Normen Die Analytik der KrV beginnt mit einigen Begriffsbestimmungen, die darauf abzielen, das moralische Gesetz in seiner Eigenart von anderen praktischen Regeln zu unterscheiden. Das im selben Hauptstück Folgende untersucht weiter das Gesetz in seinen verschiedenen Aspekten. Ausgehend vom Gesetz definiert das zweite Hauptstück das sittlich Gute. Im dritten Hauptstück werden sämtliche Motivationen (Triebfedern), die nicht das Gesetz selbst sind, als Beweggrund des guten Willens ausgeschlossen. Der ganze Analytik-Teil, in dem Kant seine ethische Konzeption darlegt, kreist also um ein einziges Thema: das moralische Gesetz. In der Diskussion der letzten Jahrzehnte hat man zwei Grundformen der Ethik unterschieden: 1) die Ethik vom guten Leben (auch Strebensethik, Tugendethik genannt), 2) die Ethik der Normen (auch Gesetzesethik, Sollensethik genannt). Zur ersten Klasse gehören die Ethiken der Antike und die des Mittelalters, deren klassische Version die der Aristotelischen Nikomachischen Ethik ist. Zur zweiten Klasse gehören die modernen Ethiken, für die die Ethik Kants als repräsentativ gilt.74 Für Aristoteles ist der Mensch mit einem natürlichen, ganzmenschlichen, rationalen Streben nach Glück (Eudaimonia) ausgestattet. Dieses Streben realisiert sich durch die Ausübung der „ethischen“ oder moralischen Tugenden (im Unterschied zu den dianoethischen oder Verstandestugenden), indem der Mensch unter der Leitung der Klugheit (Phronesis, eine der Verstandestugenden) durch sein tugendhaftes Verhalten das Ziel seines Strebevermögens verwirklicht. Die klassische Ethik ist also eine Tugendethik. Die Tugenden sind die erworbene Verfassung der geistigen sowie auch der nicht-vernünftigen natürlichen Neigungen des Menschen. Durch sie wird sein ganzes Strebevermögen mit der Vernunft in Einklang gebracht und so in den Dienst des richtigen Verhaltens gestellt. Die Tugenden sind also Prinzipien im Sinne von Ursachen der Praxis. Das gesamte Strebevermögen des Menschen einschließlich seiner Begierden und Affekte wird durch die Vernunft (die somit praktisch wird) zu einem vernunftgeleiteten Streben nach Gelingen der eigenen Existenz, nach einem „gute Leben“. Denn wenn das Gute das ist, wonach alle Dinge streben, wie Aristoteles es zu Beginn der Nikomachischen Ethik definiert, so macht das „Für-den-Menschen-Gute“, das die verschiedenen Neigungen in ihrer tugendhaften Ausübung verwirklichen, das gute Leben des Menschen aus, das ein Leben gemäß der Vernunft ist – die Vernunft ist ja das auszeichnende Merkmal des Menschen. Dies setzt voraus, daß die einzelnen Neigungen und ihre Ziele, nach einer hierarchischen Ordnung gewichtet, in das Gesamtgefüge aller natürlichen Neigungen integriert werden. All dies 74 Vgl. E. Tugendhat, „Antike und moderne Ethik“, in: ders., Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, 33–56; H. Krämer, „Antike und moderne Ethik?“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 80 (1983) 184–203. Zur Bedeutung, die Kant der Verbindlichkeit zugeschrieben hatte, siehe oben in „Der Werdegang der Ethik Kants“, Nr. 6, S. 34 über Verbindlichkeit und moralisches Gefühl in der Preisschrift über die „Deutlichkeit der Grundsätze“.
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ist die Leistung der Vernunft und macht das aus, was traditionell das natürliche Sittengesetz (lex naturalis) genannt wird.75 Die Tugendethik gilt als die Ethik der ersten Person, insofern sie vom Standpunkt des kognitiv-strebend handelnden Subjekts her entwickelt wird, das in seinem Streben, Wollen und Tun das Für-ihn-als-Menschen-Gute sucht und dabei auf ein Letztes aus ist, das um seiner selbst willen gesucht wird und alles Streben zu erfüllen vermag. Diese Erfüllung wird von Aristoteles „Eudaimonia“ genannt. Die Tugendethiken der klassischen Tradition sind deshalb eudämonistisch; sie sind Glückslehren. Für sie ist die grundlegende Frage die nach dem für den Handelnden Guten, und zwar aus der Perspektive des Handelnden selbst. Deswegen ist für diese Ethikkonzeptionen von fundamentaler Bedeutung, wie das Subjekt sich selbst versteht, was für einen Menschen er aus sich als Individuum und als Mitglied einer menschlichen Gemeinschaft machen will. Zur zweiten Klasse gehören die modernen Ethiken. Sie befassen sich mit folgenden Grundproblemen: a) Welche Handlungen sollen als richtig gelten und unter welchen Normen sollen sie stehen? b) Wie sind diese Normen und ihr Pflichtcharakter zu begründen? Der Kontext, in dem diese Probleme angegangen werden, ist derjenige der dritten Person, nämlich eines äußeren Beobachters der Handlungen. Dieser ist nicht interessiert an Fragen wie: „Was will der Handelnde mit dieser Handlung?“, also dem „Wozu“ seiner Handlung. Die dritte Person stellt nicht die Frage nach dem guten Leben des Handelnden. Denn was der einzelne innerhalb der von der Gesellschaft festgelegten Regeln in seinem rein privaten Leben tut, welche Auffassung er vom Glück vertritt, ist weitgehend nicht (mehr) Thema der Ethik. Dies gilt umsomehr in der gegenwärtigen pluralistischen Gesellschaft, in der Individuen und Gruppen mit sehr unterschiedlichen Auffassungen über Sinn und Ziel des Lebens zusammenleben. In diesem Sinne klammert die Normenethik die Subjektivität des Handelnden aus.76 Diesem zweiten Typ von Moral zufolge besteht die Moralität in der Bereitschaft, die geltenden, vor allem sozialen Normen einzuhalten, deren Ziel es ist, nicht so sehr das Glück des einzelnen zu fördern, als vielmehr die negativen Konsequenzen zu mindern, die sich daraus ergeben, daß es im Prinzip jedem Menschen zusteht, von seiner Freiheit nach seinem eigenen Gutdünken Gebrauch zu machen. Die modernen Ethiken überlassen dem Individuum die Wahl der Richtung, die es seinem Leben geben will, und konzentrieren sich auf die Ermittlung jener Bedingungen und jener menschlichen Verhaltensweisen, die ein möglichst reibungsloses Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft gewährleisten, vielfach im Sinne eines Sozialeudämonismus oder -utilitarismus, der das größte Glück der größten Zahl zum Kriterium für die Richtigkeit einer Handlung macht. Für eine ausgezeichnete Fassung der klassischen Tugendethik, die, um eine Theorie der Prinzipien der praktischen Vernunft (das natürliche Sittengesetz) nach Thomas von Aquin erweitert, im gegenwärtigen Kontext ausgearbeitet wird, siehe M. Rhonheimer, Die Perspektive der Moral. 76 Dies gilt auch für Kant. Für ihn besteht zwar die Moralität in der inneren Einstellung des Menschen, in seiner Gesinnung. Aber die Subjektivität wird hier ausschließlich in der Perspektive der Normen gesehen: Es ist die Gesinnung eines Wollens und Handelns „aus Pflicht“. 75
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Die Ethiken der Tugenden erkennen ein vorgegebenes Wesen des Menschen an, das normativ ist, insofern es unter der Leitung der Vernunft nach einem eigenen Ziel strebt, dem Für-den-Menschen-Guten (= Naturrecht). Der sittliche Wert ist deshalb den Entscheidungen und Handlungen in dem Maße innerlich, in dem sie zur Realisierung dieses natürlichen Zieles beitragen. Ob eine Handlung lediglich (zumindest direkt) das Subjekt oder auch die Gesellschaft betrifft, ist für die Ethik der Tugenden sekundär. Weil die Ethiken der Normen im Prinzip kein Naturrecht anerkennen,77 sind die Handlungen gut oder böse in einem rein funktionalen, äußerlichen Sinn, insofern sie nämlich den Normen konform sind, welche ihrerseits im Hinblick auf einen gewünschten Zustand der Gesellschaft festgelegt werden. In der Ethik der Normen, wie sie hier verstanden wird, gibt es keinen Platz für eine angemessene Würdigung der rein innerlichen, „privaten“ Tugenden und Laster. Damit aber bleiben die unverzichtbaren Wurzeln der Werte ausgeblendet, aus denen letztlich auch das äußere, sozial relevante Verhalten der Menschen hervorgeht. Eine kurze historische Betrachtung mag die grundlegende Kontinuität der antiken und mittelalterlichen Ethik einerseits und die andersartige Richtung der modernen Ethik erläutern. Zur ursprünglichen griechisch-lateinischen Kultur kam mit dem Christentum ein neuer kulturtragender Faktor hinzu, der das sittliche Ideal der Antike übernahm. Ein Beweis dafür sind die sog. „Tugendkataloge“ des Neuen Testaments (Gal 5,22; Kol. 3,12; Eph 4,2; 4,32–5,2; 1 Tim 6,11, 2,22 usw.), die aus der griechischen Popularliteratur schöpfen, freilich unter einem ihnen eigenen Verstehenshorizont. Die „Eudämonia“ als letztes, umfassendes Ziel des freien und verantwortlichen Lebenswandels konnte durch den eindeutigen Glauben an einen personalen Gott, der sich als Liebe offenbart hatte, und durch die präzisere Vorstellung der Fortdauer der Person nach dem Tod viel umfassender und tiefer auf das Tugendleben wirken. Ähnliches gilt für den Glauben an Gott als Schöpfer und Gesetzgeber des Menschen, vor dessen Richterstuhl wir alle einst Rechenschaft über das Gute oder Böse ablegen werden, das wir im irdischen Leben getan haben (vgl. 2 Kor 5,10). Es wundert deshalb nicht, daß die mittelalterlichen Theologen, die zugleich Philosophie betrieben, diese zwei Elemente einer Ethik viel weiter entfalten konnten als die antiken Denker. Dies zeigt sich exemplarisch bei Thomas von Aquin. Zu Beginn der Pars Secunda seiner Summa theologiae (I.II, qq. 1–5) reflektiert er über das letzte Ziel des menschlichen Strebens, die Glückseligkeit, unter dem damaligen Fachterminus „beatitudo“. Im weiteren Verlauf desselben Teils liefert er einen ganzen Traktat über das Gesetz (qq. 90–108) und schließt darin die wohl gravierendste Lücke der klassischen Tugendethik.78 Höchst 77 Ich sage „im Prinzip“, denn de facto kann ein einigermaßen humanes Zusammenleben die Strebungen und Forderungen nicht völlig ignorieren, die mit dem Wesen des Menschen und seiner Umwelt, so wie sie nun einmal sind, vorgegeben sind. 78 Es geht hier um die Verankerung der Moralität und insbesondere ihres verpflichtenden Charakters in einem transzendenten Ziel und einem transzendenten Gesetzgeber. Im DialektikTeil werden wir sehen, daß auch Kant infolge seines Beiseiteschiebens der transzendenten Dimension der Ethik in Schwierigkeiten hinsichtlich der Absolutheit der moralischen Verpflichtung und der Realisierbarkeit ihres letzten Zielobjektes gerät.
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aufschlußreich ist aber, daß er, wenn er im zweiten Halbteil derselben Pars seine „normative Ethik“ ausführt (II.II. qq. 48–170), als Leitfaden nicht die verschiedenen Arten von Pflichten aufgreift (wie es sich aus der fundamentalen Bedeutung der Zehn Gebote Gottes nahelegte), sondern ganz im Sinne der Nikomachischen Ethik, der er einen ausführlichen Kommentar gewidmet hatte, die vier „Kardinaltugenden“: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. Daß mit dem Übergang zur Neuzeit die Tugendethik einer neuen Form der Ethik Platz machen mußte, ist vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen: erstens auf das Aufkommen des Voluntarismus in der Spätscholastik, der eher den Willen des Gesetzgebers als die innere Dynamik und die Forderungen der menschlichen Natur in den Vordergrund stellte und zweitens auf das für die Neuzeit charakteristische Streben nach Freiheit des Individuums. Dieses verlangte seinerseits als Gegengewicht für den Bestand eines humanen Zusammenlebens eine Verstärkung der Rolle des über dem Individuum stehenden, alle verpflichtenden Gesetzes.
§ 2. Lehrsatz I (A 38–40) Nachdem Kant im vorigen Paragraphen das moralische Gesetz als das Gesetz der reinen praktischen Vernunft definiert hat, erläutert er in den nun folgenden Paragraphen näher, welches praktische Prinzip als ein solches Gesetz gelten kann: a) negativ, ein Prinzip, das jeglichen Inhalt als Bestimmungsgrund des Willens ausschließt (§§ 2 und 3); b) positiv, ein Prinzip, das bloß formal ist (§ 4); c) daraus wird gefolgert, daß der durch ein solches Prinzip bestimmbare Wille ein freier Wille ist (§§ 5 und 6); d) als Fazit wird die Formulierung des Gesetzes als „allgemeine Gesetzgebung“ angegeben (§ 7). Begehrungsvermögen (oder Strebevermögen) bezeichnet die „facultas appetitiva“ im Unterschied zur „facultas cognoscitiva“. Beide Vermögen, und zwar sowohl als sinnliche wie auch als geistige Vermögen, gehören zum Wesen des Menschen. Das geistige, rationale oder obere Begehrungsvermögen heißt Wille und sein Akt heißt Wollen. Daß vernünftige Wesen einen Willen haben, bedeutet, daß sie „ein Vermögen haben, ihre Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen“ (A 57). Im Lehrsatz geht es um den Bestimmungsgrund (Motivation) des Wollens. Daß das Wollen „einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse“ ist „unleugbar“ (A 60). Der aus der Aristotelischen Lehre von der Zusammensetzung der Körper aus Materie und Form (Hylemorphismus) genommene Terminus „Materie“ bezeichnet in diesem Kontext jeglichen Inhalt eines Aktes des Erkennens oder des Begehrens, sei es ein geistiger oder ein sinnlicher Akt. Kant stellt hier die These auf, die seine Ausführungen in die Bahn des Formalismus leitet: Wenn das Objekt als Motivation (Bestimmungsgrund) des Willensaktes wirkt, liegt eine Regel vor, die kein praktisches Gesetz in dem in § 1 definierten Sinn sein kann, also kein moralisches Gesetz. Kurz, Objekt als Bestimmungsgrund des Wollens und moralisches Gesetz schließen einander aus. Die These wird wie folgt bewiesen: Ein
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Objekt wird dadurch zum Bestimmungsgrund des Willens, daß es im Subjekt ein Gefühl der Lust hervorbringt.79 Nun aber kann ein solches Verhältnis des Objektes zum Subjekt nur durch eine Erfahrung erkannt werden. Denn ich kann nicht wissen, ob etwas für mich Quelle von Lust ist, ohne mich auf das Objekt, in welcher Art auch immer, zu beziehen. Also ist der Bestimmungsgrund des Wollens a) empirisch und b) nicht allgemein, weil die Art und Weise, wie das Subjekt das Objekt empfindet, nicht notwendigerweise für alle sinnenbegabten, vernünftigen Wesen dieselbe ist. Nun aber steht für Kant schon fest, daß die praktische Vernunft nur dann moralisch gut handelt, wenn sie als reine Vernunft handelt, d. h. als nicht empirisch bedingt das Wollen motiviert.80 Also kann ein praktisches Prinzip, das auf das Objekt des Begehrungsvermögens gründet, kein moralisches Gesetz sein. Der ganzen Argumentation, mit der Kant auf sein „praktisches Gesetz“ schließt, liegt folgendes Dilemma zugrunde: Bestimmungsgrund des Willens ist entweder das Objekt, insofern es ein sinnliches Begehren befriedigt, oder aber die rein formale Qualifikation der praktischen Regel im Sinne einer Verpflichtung zur Allgemeinheit der Handlung. Der erste Teil der Analytik bis zum § 8 enthält nichts anderes als Variationen zu diesem Thema. Nun aber ist dieses Dilemma, mit dem der Formalismus der Ethik Kants steht oder fällt, unvollständig. Denn „datur tertium“: Bestimmungsgrund des guten Willens ist das Objekt als sittlich gut („bonum honestum“). Es ist zuzugeben, daß die Erkenntnis des Objektes des Wollens (das immer ein Konkretum ist, egal ob ein materielles oder ein geistiges) genauso wie all unsere Erkenntnis eine Erfahrung voraussetzt (vgl. KrV B 1). Aber die menschliche Erkenntnis erschöpft sich nicht im Erfahrungsmoment. Auf die Erfahrung folgt das intelligente Moment, in dem das Subjekt in den Daten der Erfahrung einen intelligiblen Gegenstand erfaßt („intelligere in sensibili“); auf die Einsicht und den sie zum Ausdruck bringenden Begriff folgt das rationale Moment, in dem das zunächst bloß Gedachte durch die absolute Position eines Urteils als Wirklichkeit erkannt wird. Wenn es sich nun um einen Erkenntnisprozeß handelt, der durch die Frage: „Was soll ich tun?“ eingeleitet wurde, so ist dieselbe Vernunft imstande, das als existierend oder als möglich erkannte Objekt weiter als sittlich gut zu erkennen. In diesem Falle ist die praktische Regel, die auf ein solches Werturteil gründet, ein moralisches Gesetz und das ihm folgende Wollen gut. Das praktische Urteil, das das Objekt als sittlich gut erkennt, besagt ein anderes Verhältnis des Objekts zum Subjekt als die von Kant unterstellte „Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes“. Letzteres wäre der Fall, wenn die Beziehung des Subjektes zum Objekt einzig und allein durch die Sinne hergestellt werden könnte.81 79 Lust ist „eine dem inneren Sinne angehörige Rezeptivität“, eine „Empfindung des Vergnügens“ (A 102). In A 16 f. Fn hat Kant eine Definition der Lust „aus lauter Merkmalen des reinen Verstandes“ vorgelegt. 80 Allerdings hat Kant in der Vorrede und in der Einleitung diese Auffassung auf eine allzu undifferenzierte Aussage begründet: „Vernunfterkenntnis und Erkenntnis a priori ist einerlei“ (A 24), wobei diese Ansicht auf die Grundthese der KrV B 4, verweist, der zufolge Erkenntnis a priori dasselbe wie notwendige und allgemeine Erkenntnis ist. 81 Von einer solchen Beziehung geht Kant in seiner Erkenntnislehre tatsächlich aus, wie es aus
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Im erkannten Gegenstand vermag also das Subjekt einen Bestimmungsgrund zu finden, der a) die Unbedingtheit der für das moralische Gesetz charakteristischen Verpflichtung erklärt. Denn die unbedingte Verpflichtung des Gesetzes ist die Verpflichtung, das Gute zu tun. Es ist aber nicht so, als ob es in der konkreten Situation, in der jemand handelt, immer nur einen einzigen Gegenstand gäbe, der sich als gut erweist. Der von Kant vor allem in der GMS verwendete Terminus „kategorischer Imperativ“ kann dazu verleiten, zu übersehen, daß sich oft im konkreten Leben mehrere Handlungsmöglichkeiten zeigen, die alle im Bereich des sittlich Guten liegen, so daß das Sollen hinsichtlich der einzelnen Möglichkeiten ein Dürfen bedeutet. Daß Kant darum gewußt hat, geht zumindest aus der MS hervor, wo er von den „ethischen“ Pflichten (unvollkommenen Pflichten) im Unterschied zu den „Rechtspflichten“ (vollkommenen Pflichten) sagt, daß sie „der Befolgung einen Spielraum für die freie Willkür überlassen“ (Tugendlehre, Einleitung VII), und zwar nicht nur hinsichtlich der Frage, „wie“ die Pflicht zu erfüllen ist, sondern auch hinsichtlich des intentionalen Gegenstandes, der der Pflicht ihre moralische Identität verleiht. b) Derselbe Gegenstand gilt „für alle vernünftigen Wesen“ und begründet damit die Allgemeinheit des Gesetzes. In welchem Sinne das moralische Gesetz allgemein ist, werden wir näher im Zusammenhang mit der Kantischen Formulierung des „Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft“ (§ 7) sehen. Daß für Kant die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes in keiner Weise vom Objekt des Wollens und Handelns abhängt, geht aus der wichtigen Stelle der GMS, A 8–17 = IV 397–402, die im Kommentar zum § 1 bereits zitiert wurde, besonders deutlich hervor. Die dortige Argumentation schließt auf die Behauptung, daß einzig sittlich zulässiger „Antrieb“ des Willens „die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt“ ist. Aber die Stellen, an denen Kant implizit oder explizit auf der Grundlage des oben genannten Dilemmas argumentiert, sind Legion (vgl. z. B. GMS A 93 = IV 444; Religion B 16 Fn = VI 26). Kants Ansicht, daß die Beziehung des Objektes zum Begehrungsvermögen nur die der Lust oder Unlust sein kann, stellt offenbar das Pendant zu seiner Ansicht in der Erkenntnislehre dar, der zufolge die einzige Erkenntnishandlung, durch die ein Objekt dem Subjekt erkenntnismäßig gegeben werden kann, für uns Menschen die sinnliche Anschauung ist (vgl. hier oben Fn 81). Infolgedessen vermag dieses Objekt nur insodem einleitenden Satz der transzendentalen Ästhetik der KrV, A 19, und aus unzähligen Parallelstellen eindeutig hervorgeht, die Beziehung nämlich, die die sinnliche Anschauung (und sie allein!) herstellt. Daß Kant zufolge zum Zustandekommen der menschlichen Erkenntnis auch der Verstand nötig ist (vgl. KrV A 50–52), ändert an dieser Grundthese nichts. Denn der Verstand trägt keinen neuen „realen“ Inhalt zur Konstitution des Objektes bei – außer seinen eigenen formalen Elementen. Dieser, wie ich ihn nennen würde, „sensualistische Intuitionismus“, der vielen Argumentationen auch in der KpV zugrunde liegt, kann hier nicht weiter untersucht werden. Vgl. dazu meine Abhandlung: „Kants Lehre von der menschlichen Erkenntnis: eine sensualistische Version des Intuitionismus“, in: Theologie und Philosophie 57 (1982) 202–224, 321–347; 59 (1984) 249–264.
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fern zu einem Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens zu werden, als es für dasselbe Vermögen als „angenehm“ gilt. Aus diesem Grund konnte Kant für einen Vertreter des „psychologischen Hedonismus“ gehalten werden.82 Wenn nun das Objekt des Wollens die erste Quelle der Moralität einer Handlung ist, so stellt sich die Frage, nach welchem Kriterium wir ermitteln können, ob ein zu erreichendes oder zu bewirkendes Objekt sittlich gut ist, so daß die darauf gründende praktische Regel als moralisches Gesetz gelten kann.
Exkurs: Das Objekt des Begehrens Objekt des Begehrens ist das Gute, d. h. Begehren und Gut sind korrelativ. „Das Gute ist dasjenige, wonach alles strebt“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, I, 1 zu Beginn); „bonum est quod omnia appetunt“ (Thomas von Aquin, Summa theol. I, q.95, a.1). Je nachdem, was erstrebt wird, wird das Gute herkömmlich in drei zueinander analoge Arten unterschieden (vgl. ebd. a.6; auch II.II, q.145, a.3): 1. Bonum utile (das Nützliche) ist das, was um etwas anderen willen erstrebt wird. Etwas kann aber auch in sich selbst Ziel des Begehrungsvermögens sein, und zwar 2. entweder weil es in sich selbst für den Menschen (als Menschen!) erstrebenswert ist: bonum honestum (das Ehrbare oder das sittlich Gute), oder 3. weil in ihm das Streben gestillt wird und so die Bewegung des Strebevermögens „zur Ruhe kommt“: bonum delectabile (das Angenehme oder Lustvolle). Wenn man vom bonum delectabile im Unterschied zum bonum honestum spricht, so meint man für gewöhnlich das sinnlich Angenehme („delectabile secundum sensum“). Aber auch das bonum honestum (ein geistiges oder ein materielles Gut) kann für das Subjekt angenehm sein. Daß nun etwas sich als für das Subjekt sinnlich oder geistig angenehm erweist, besagt an sich noch keine moralische Qualifikation desselben; seine moralische Qualifikation mißt sich daran, ob es für die leiblich-geistige Natur des Menschen in concreto gut ist, d. h. sie fördert, vervollkommnet. Das sittlich Gute ist das zum Menschen als Menschen, d. h. in all seinen Bestandteilen genommen, Passende, das, was sein Wachstum fördert. Die Erkenntnis der Angemessenheit eines Objektes zum Menschen findet im Werturteil der praktischen Vernunft statt, die auf die moralische Frage: „Was soll ich tun?“ antwortet. Aus all dem folgt: a) Das Wollen als intentionale Handlung (als Antwort auf ein „Wozu?“) ist wesentlich auf einen Gegenstand bezogen; infolgedessen stellt der Gegenstand, der wissend und frei erstrebt wird, die erste und grundlegende Quelle der moralischen Qualität des Wollens dar. Daß ein Gegenstand in einem konkreten Fall lediglich als Mittel erstrebt wird, 82 Vgl. Manfred Moritz, „Pflicht und Moralität. Eine Antinomie in Kants Ethik“, in: KS 56 (1965/66) 412–429. Nach Kant „würde man einen materialen kategorischen Imperativ nur aus dem Grunde befolgen (wenn man ihn befolgt!), weil man dadurch eigene Lust erhofft“, 420. Auch L. W. Beck hält Kants Theorie des Begehrungsvermögens für hedonistisch und verweist dafür auf den letzten Satz von § 4 der KU (L. W. Beck, Kants KpV. Ein Kommentar, 1974, 94f.).
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eliminiert diese erste moralische Qualifikation nicht, die das Wollen als intentionaler Akt von dem erhält, was der Mensch kennt, wählt und de facto tut, sei es auch nur als Mittel. b) Der Gegenstand ist moralisch gut oder böse, je nachdem, ob er zum Menschen als Menschen paßt, d. h. die Erhaltung und Entfaltung der menschlichen Person als leibgeistiger Wesenseinheit fördert. Infolgedessen ist die Natur des Menschen die nächstliegende objektive Norm der Sittlichkeit, also der Maßstab für das praktische Urteil über das, was hier und jetzt zu tun oder zu unterlassen ist. c) Das moralische Gesetz verpflichtet den Menschen, das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Deswegen läuft die Motivation des Wollens durch das Gesetz und die Motivation durch das als gut erkannte Objekt auf dasselbe hinaus. Die „Rechtfertigung“ der Pflicht, die das Gesetz dem Menschen auferlegt, liegt genau in der Realität, insofern sie für den Menschen gut ist. d) Daß ein sittlich guter Gegenstand vom Subjekt als sinnlich oder geistig angenehm erfahren wird, verhindert nicht, daß das Wollen dieses Gegenstandes ein sittlich guter Willensakt sein kann. Es bestätigt vielmehr, daß das sittlich Gute das ist, was den Menschen in der Totalität seines Wesens fördert. Es gibt deshalb keinen Grund, diesen (möglichen) Aspekt einer sittlich guten Handlung zu verdrängen. Das sittlich Gute als das für den Menschen wahrhaft Gute koinzidiert letztlich mit seiner wahren Glückseligkeit. Denn wenn Glück ein erfülltes Streben ist, so ist das, was das dem Menschen eigentümliche Streben, nämlich sein vernunftgeleitetes Streben erfüllt, sein wahres Glück; es ist das, was sein Leben zu einem in Freiheit und Verantwortung gelungenen Leben macht. Aus diesem Grund hatte die antike Ethik „den Begriff des Glücks an denjenigen der Tugend zurückgebunden und ihm untergeordnet“83. Allerdings muß man dem Umstand Rechnung tragen, daß die (sinnliche) Empfindung des „Angenehmen“, die dem Menschen als Kriterium für sein Tun und Lassen gedient hat, bevor er zum Gebrauch der Vernunft gelangt ist, dahin tendiert, auch danach weiter so zu wirken, als ob das Subjekt nur das untere Begehrungsvermögen hätte. Dazu schreibt Kant: „Unsere Natur als sinnlicher Wesen [ist] so beschaffen, daß die Materie des [unteren] Begehrungsvermögens (Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung oder Furcht) sich zuerst aufdringt, und unser pathologisch bestimmbares Selbst … gleich als ob es unser ganzes Selbst ausmachte, seine Ansprüche vorher und als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen bestrebt“ ist (A 131). Die dadurch entstehende Spannung zwischen Streben nach dem sittlich Guten und Streben nach dem Angenehmen fordert, daß der Mensch sich darum bemüht, die Tugenden sich anzueignen, durch die er souverän und beharrlich ein Leben zu führen vermag, das den Ansprüchen der Vernunft gerecht wird.
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M. Rhonheimer, Die Perspektive der Moral, 65.
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§ 3. Lehrsatz II (A 40–48) „Alle materialen praktischen Prinzipien sind als solche insgesamt(!) von einer und derselben Art und gehören unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit.“ Der vorliegende Paragraph fügt dem vorangehenden nichts Neues hinzu; er expliziert eine unmittelbare Konsequenz aus dem Lehrsatz I: Wenn alle praktischen Regeln, die ein Objekt als Bestimmungsgrund des Willens haben, empirisch sind und damit keine moralischen Gesetze sein können, so fallen sie alle unter „das allgemeine Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit“. Sie sind Prinzipien von Handlungen, die ausschließlich darauf abzielen, sich das eigene Wohl zu verschaffen und das eigene Wehe abzuwenden. Die genannte Glückseligkeit wird hier und überhaupt in der KpV empirisch verstanden, d.h. als Zustand sinnlicher Annehmlichkeit.
Anmerkung I (A 41–45) Kant setzt sich mit den „sonst scharfsinnigen Männern“, den Wolffianern, auseinander, die einerseits das Gefühl der Lust für den einzigen Bestimmungsgrund des Begehrens halten, andererseits aber zwischen der von den Sinnesvorstellungen und der von den Verstandesvorstellungen stammenden Lust unterscheiden. Da sie nun beide Arten von Lust „für ganz ungleichartig erklären“ (A 43), so erkennen sie im Menschen neben dem unteren auch ein oberes Begehrungsvermögen an. Ihnen hält Kant entgegen: Die Tatsache, daß es Menschen gibt, die ihr Vergnügen „an der Kultur der Geistestalente“ finden, oder gar einen Epikur, der auf dem Vergnügen besteht, das Tugend und Gebrauch des oberen Erkenntnisvermögens hervorbringen, ändert daran nichts, daß es eben das Vergnügen ist, das als Bestimmungsgrund des Begehrens wirkt. Daß die unterschiedlichen Vergnügungsarten schließlich doch „einerlei“ (A 42) sind, wird daraus deutlich, daß sie hinsichtlich ihrer Größe verglichen werden können. Alle sind also „dem unteren Begehrungsvermögen angemessen“ (A 44). Es ist aber fraglich, ob diese Kritik Wolff trifft. Denn für diesen ist der Grund des Wollens die „ratio boni distincta“, die der Verstand erfaßt (Psychologia rationalis, § 890), und überhaupt sei die Lust eine Folge der Erkenntnis des Guten (ebd. § 559). Obige Kritik Kants hängt mit seiner Kritik an der Lehre der Leibniz-Wolffschen Philosophie hinsichtlich des Unterschieds zwischen den Sinnes- und den Verstandesvorstellungen in der KrV A 43–44 zusammen (vgl. auch die Inauguraldissertation, § 7, und die Prolegomena, § 13, Anmerkung III). Nach diesen Philosophen liegt der Unterschied darin, daß erstere verworrene Vorstellungen der Dinge (als Dinge an sich!) sind, während letztere deutliche Vorstellungen derselben Dinge sind. Infolgedessen wird durch die Analyse des Verstandes eine sinnliche Vorstellung zu einer intellektuellen. Dagegen wendet Kant ein, dies wäre dann ein bloß logischer Unterschied (und damit graduell und quantitativ); in Wahrheit aber handele es sich um einen transzendentalen Unterschied, der „nicht bloß die Form der Deutlichkeit oder Undeutlichkeit, sondern den Ursprung und den Inhalt derselben betrifft“ (KrV A 44).
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Anmerkung II (A 45–48) Kant kritisiert nochmals das Prinzip der eigenen Glückseligkeit, das er mit der These verbunden sieht, der zufolge das Objekt primäre Quelle der Moralität des Wollens ist (vgl. den Exkurs über den Gegenstand einer menschlichen Handlung, S. 81). Wichtig ist die einleitende Aussage: „Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens“. Denn wegen unserer endlichen Natur sind wir bedürftige Wesen, wobei unser Bedürfnis sich darin zeigt, daß wir Materie, d.h. Objekte begehren. Dieses Bedürfnis aber bestimmt nicht spezifisch, was wir zu unserer Zufriedenheit brauchen, so daß das, worin das Glück gesetzt wird, bei den verschiedenen Menschen unterschiedlich aussieht, bzw. aufgrund der Veränderlichkeit der Bedürfnisse sich ja sogar bei ein und demselben Menschen wandeln kann. Aber auch gesetzt den Fall, daß alle endlichen vernünftigen Wesen de facto ihr Vergnügen in denselben Objekten fänden, so wäre die sich ergebende praktische Regel noch immer bloß subjektiv gültig und empirisch. Sie hätte nicht jene objektive Notwendigkeit, die nur auf Gründen a priori beruhen kann (vgl. KrV B 4). Die praktischen Prinzipien wären „Regeln der Geschicklichkeit“ hinsichtlich der Mittel zur Glückseligkeit und „Anratungen zum Behuf unserer Begierden“, also bloß Maximen. Die hier von Kant verwendeten Termini erinnern an den locus classicus der GMS (A 39–49 = IV 414–419), an dem er die verschiedenen Arten von Imperativen vorlegt und die entsprechenden Termini festlegt: „Regeln der Geschicklichkeit“, „Ratschläge der Klugheit“ und „Gebote (Gesetze) der Sittlichkeit“. Die wichtigste Aussage des Paragraphen als Ganzem findet sich unter der Überschrift „Folgerung“ (A 41) und wird in einer anderen Weise gegen Ende der „Anmerkung I“ wiederholt („es gibt also …“: A 44 f.). An der ersten Stelle werden „alle materialen Prinzipien“ dem unteren Begehrungsvermögen zugeordnet; ein oberes Begehrungsvermögen gebe es nur, wenn es ein formales Gesetz gebe (das moralische Gesetz als allgemein). An der zweiten Stelle heißt es: Nur wenn reine Vernunft durch die bloße Form ihrer praktischen Regel den Willen bestimmt, ist die Vernunft selbst (!) „ein wahres oberes Begehrungsvermögen“. Abgesehen von anderen Schwierigkeiten, die der nicht ganz deutliche Wortlaut, vor allem der zweiten Stelle, bereitet, liegt m. E. das Hauptproblem darin, daß Kant hier evidentermaßen die Existenz eines oberen Begehrungsvermögens behaupten will, aber nicht sagt, welche Art von Begehren, also von Streben, dieses Vermögen kennzeichnet. Ja, er kann dies auch gar nicht sagen. Denn ein Streben ist zu einem Gegenstand korrelativ; alle Gegenstände aber wurden bereits dem unteren Begehrungsvermögen zugeordnet, weil sie nach Kants Dafürhalten ein Begehren von seiten eines Subjektes nur durch ein Gefühl des Angenehmen oder Unangenehmen auslösen können. Kann nun die Form den Platz eines Gegenstandes übernehmen, indem sie selbst Gegenstand des Begehrungsvermögens wird? Die Form der Allgemeinheit ist wohl Gegenstand des intellektuellen Erkenntnisvermögens, das eine Intelligibilität in einem konkreten Gegenstand erfaßt. Aber man sieht nicht ein, wie sie als von der Materie abstrakte
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Form das Streben eines Begehrens auslösen kann, das als Streben immer auf ein Konkretum geht. Kant denkt in der Tat an einen Gegenstand (!), der durch die Form der Allgemeinheit gekennzeichnet ist. Dann aber ist der Auslöser des Strebens der Gegenstand selbst (das Subjekt begehrt diesen Gegenstand), während die Form die Funktion hat, diesen Gegenstand von anderen zu unterscheiden und ihn dem rationalen Begehrungsvermögen zuzuordnen. Wenn man den Text so interpretiert (eine andere Interpretation, die ermöglichen würde, auf ein vom unteren verschiedenes Begehrungsvermögen zu schließen, sehe ich nicht), so ist man de facto zur traditionellen Lehre zurückgekehrt. Denn a) Es wird gesagt, daß dem oberen Begehrungsvermögen eine eigene Art von Gegenständen zugeordnet ist, diejenigen nämlich, die die Form der Allgemeinheit aufweisen können. b) Um welche Form, d. h. um welche Allgemeinheit handelt es sich? Antwort: Um die Allgemeinheit, sofern sie den Menschen angeht. Wie es aus den Beispielen sittlich guter Handlungen bei Kant hervorgeht, handelt es sich um jene Eigenschaft (Intelligibilität) des Gegenstandes, derentwegen er zum Menschen als Menschen paßt und ihn in seiner strukturierten leib-geistigen Wesenseinheit vervollkommnet. Diese Eigenschaft kann nur durch die Vernunft ermittelt werden. Damit ist die auf einen solchen Gegenstand gründende praktische Regel für alle Menschen gültig, die sich in einer Situation vorfinden, die diesen Gegenstand als sittlich gut definiert. Fazit: Das obere Begehrungsvermögen ist das Vermögen, das unter der Leitung der Vernunft das anstrebt, was für den Menschen gut ist: das sittlich Gute. Ein solches Begehrungsvermögen ist das, was traditionell Wille genannt wird (appetitus rationalis) und die Vernunft, die den Willen leitet, ist die praktische Vernunft. Insofern Kants ethische Theorie jeglichen Gegenstand als Bestimmungsgrund des sittlich guten Willens ausschließt, kennt sie kein rationales Strebevermögen im Menschen, keinen Willen. Der Wille, von dem diese Theorie spricht, dreht sich um sich selbst, indem er die eigene Freiheit zum Endziel des Menschen macht, ohne sagen zu können, wozu diese Freiheit da ist. Insofern Kant aber doch implizit durch die zweite Formel des kategorischen Imperativs und explizit in der MS durch verpflichtende Ziele eine Materie des Wollens anerkennt, werden die drei Lehrsätze der Paragraphen 2–4 und mit ihnen der Formalismus hinfällig.
§ 4. Lehrsatz III (A 48–51) Nachdem Kant festgelegt hat, was das moralische Gesetz nicht sein kann, gibt er an, was es sein muß. Die Stelle enthält eine besonders deutliche Formulierung des Formalismus und dessen Begründung. Die zunächst subjektive Maxime eines vernünftigen Wesens kann nur zu einem moralischen Gesetz werden, insofern nicht ihre Materie, sondern ihre Form als „Bestimmungsgrund des Willens“ wirkt. Der Beweis dafür: „Nun bleibt von einem Gesetz, wenn man alle Materie, d.h. jeden Gegenstand des Willens (als Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung“, wiederholt z. T. wörtlich die wichtige Stelle der GMS A 17 = IV 402.
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Die Formulierung zu Beginn der „Anmerkung“ („Welche Form …“) hat an sich ihren richtigen Sinn, insofern Kant sagen will, daß eine Handlungsmaxime „sich zur allgemeinen (!) Gesetzgebung schickt“, wenn sie die Form der Allgemeinheit übernehmen kann. Aber so besagt sie kaum mehr als eine Tautologie. Die eigentliche Frage betrifft vielmehr die Materie der Maxime, d. h. ihr Objekt: Ob das, was jemand will, prinzipiell zum Wohl des Menschen als Menschen gereicht, so daß die Handlungsmaxime alle Menschen in der angegebenen Situation verpflichtet. Das entscheidende Wort ist hier das „sich schicken“ bzw. „sich qualifizieren“, das letztlich auf die Materie der Maxime verweist. Die Kritik im letzten Absatz an „verständigen Männern“, die, da „die Begierde zur Glückseligkeit“ bei allen Menschen vorliegt (vgl. auch zu Beginn der Anmerkung II im vorigen Paragraphen), diese „für ein allgemein praktisches Gesetz“ ausgegeben haben, richtet sich insbesondere gegen Tittel und Flatt (vgl. AA V, 506f.). Damit erwähnt Kant das Problem von Glückseligkeitslehre und Sittenlehre, das immer wieder im Laufe des Werkes berührt und das im dritten Hauptstück der Analytik ausführlich behandelt wird. Die Erzählung über König Franz und Kaiser Karl zur Illustration des Widerstreites, der entsteht, „wenn man der Maxime die Allgemeinheit eines Gesetzes geben wollte“ (A 50), hat Kant aus der Ethik des ihm vertrauten Crusius „Anweisung vernünftig zu leben“, § 125, übernommen.
§ 5. Aufgabe I (A 51–52) Nachdem Kant das moralische Gesetz analysiert hat, geht er auf den Zusammenhang dieses Gesetzes mit der Freiheit ein. Sittengesetz und Freiheit (Autonomie) sind die zwei Pole, um die seine Ethik kreist. Die in den Paragraphen 5 und 6 erörterte Problematik übernimmt, was ihre Begriffe angeht, das Thema des dritten Teils der GMS, in dem Kant versucht hatte, die Realität des vorhin erläuterten Sittengesetzes durch die transzendentale Deduktion zu sichern, ein vernünftiges Wesen könne nur unter der Idee der Freiheit und deshalb nur unter jenem Gesetz handeln, das das moralische Gesetz ist (GMS A 100 f. = IV 447 f.; auch 109 = IV 452 f.). Denn das Sittengesetz besagt eine „Kausalität aus Freiheit“ (KrV A 444). Unter Beibehaltung der Einsicht in die gegenseitige Verwiesenheit von Sittengesetz und Freiheit (GMS A 104f. = IV 450; KpV A 5 Fn) hat Kant später in der KpV die versuchte transzendentale Deduktion fallen lassen und statt dessen den umgekehrten Weg eingeschlagen: Das Sittengesetz wird in seiner Realität als „Faktum der Vernunft“ anerkannt (A 56), insofern es sich uns in unserem Bewußtsein kundtut. Die Erkenntnis der Realität des Sittengesetzes führt dann ihrerseits zur Erkenntnis der Freiheit (A 5 Fn) als dem Modus, wie das Sittengesetz uns in die Pflicht nimmt. An unserer Stelle haben wir folgende Deduktion der Freiheit: Was nach einem rein formalen Prinzip handelt, ist von der in der Natur herrschenden Kausalität unabhängig und somit frei. Umgekehrt, was frei ist, steht unter einem bloß formalen Prinzip. Es scheint, daß Kant hier im Rahmen der KrV argumentiert, auch wenn er seine tran-
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szendentalidealistische Voraussetzung nicht ausdrücklich erwähnt. Denn nach der KrV herrscht in der Natur als dem Bereich der Erscheinungen ein durchgängiger Determinismus, während die Freiheit zum Bereich der Dinge an sich oder „mundus intelligibilis“ gehört. Nun aber ist die bloße Form des Gesetzes, die Form der Allgemeinheit, kein Gegenstand der Sinne, sondern Inhalt einer Vernunfterkenntnis als Erkenntnis a priori (vgl. KrV B 4). Als solche gehört sie nicht zu den Erscheinungen84, unter denen die Naturkausalität (Determinismus) herrscht. Wenn nun der (gute) Wille nur durch die allgemeine gesetzgebende Form der Maxime bestimmt werden kann, so muß er ebenfalls zur noumenalen Welt gehören und deshalb von der Naturnotwendigkeit unabhängig sein. Eine solche Unabhängigkeit ist die „transzendentale Freiheit“, die die KrV in der Auflösung der dritten Antinomie dargelegt hat. In der Formulierung der „Aufgabe“ ist das Wort „zureichend“ zu beachten. Die Einsicht, daß das moralische Gesetz die Form der Allgemeinheit hat, ist in allen rationalen Ethiken vorhanden. Das Eigentümliche der Ethik Kants liegt darin, daß diese notwendige Bedingung bei ihm zu einer zureichenden und damit alleinigen Bedingung des Gesetzes geworden ist. Dies bedeutet, daß der Mensch in seiner Gesetzgebung von keiner vorgegebenen Bedingung, von keiner Materie abhängig ist. Seine Autonomie ist in diesem Sinne uneingeschränkt.
§ 6. Aufgabe II (A 52–54) „Vorausgesetzt, daß ein Wille frei sei: das Gesetz zu finden, welches allein ihn zu bestimmen tauglich ist.“ Daß der Wille frei ist, bedeutet, daß er von allem Empirischen unabhängig ist. Denn in der Sinnenwelt, zu der das Empirische gehört, herrscht ein durchgängiger Determinismus. Nun wird das Objekt (die Materie) des praktischen Gesetzes uns nur empirisch gegeben. Also kann nur die Form des Gesetzes, d.h. der Maxime, insofern sie allgemein werden kann, den Bestimmungsgrund des freien Willens ausmachen. Von zentraler Bedeutung in der obigen Argumentation ist die an sich selbstverständliche Aussage, daß die Materie der in Frage stehenden Handlung uns empirisch gegeben wird. Damit räumt Kant ein, daß die Entscheidung des Willens und die daraus folgende Handlung ein bestimmtes Objekt betrifft. Aber dieses Objekt, wie es im Lehrsatz I bewiesen wurde, kann selbst nicht der Bestimmungsgrund des Willens sein. Es stellt sich aber sehr wohl die Frage, ob die Vernunft im empirisch Gegebenen nicht eine Intelligiblität erfassen kann, die zeigt, daß das Objekt zum Menschen als MenAus der Tatsache, daß „alle unsere Erkenntnis mit der [sinnlichen] Erfahrung anfange“ KrV B 1) und daß der Gegenstand der Erfahrung infolge der Formen a priori der Sinnlichkeit nach dem ontologischen Stellenwert einer „Erscheinung“ erkannt wird (KrV A 20), steht für Kant der Phänomenismus (im Sinne des Transzendentalidealismus), der für alle Objekte unserer Erkenntnis gilt, bereits fest. In diesem Sinne schreibt er im vierten Paralogismus: „Für diesen transzendentalen Idealismus haben wir uns schon im Anfange erklärt“ (A 370). 84
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schen paßt. Ein solches zur intelligiblen Welt gehöriges Objekt kann als Bestimmungsgrund des Willens wirken, ohne daß diese Kausalität dem Mechanismus der Natur unterstehen würde. Die Freiheit des Willens setzt also kein rein formales Gesetz voraus. Anmerkung (A 52–54) Die in der Lösung der zwei Aufgaben ermittelte gegenseitige Verwiesenheit von Freiheit und moralischem Gesetz ist die gegenseitige Verwiesenheit zweier unbedingtpraktischer Wirklichkeiten: Das freie „Können“ des Willens ist von allem Fremden unabhängig, und das „Sollen“ des Gesetzes ist schlechthin un-bedingt. Welches von beiden wird von uns als erstes erkannt? Die Freiheit kann nicht das „primum cognitum“ sein. Denn a) der erste Begriff der Freiheit ist negativ: Unabhängigkeit von jeglichem empirischen Bestimmungsgrund; ein Negativum aber kann nicht als erstes erkannt werden; b) die Erfahrung führt uns zur Erkenntnis des Naturmechanismus, nicht der Freiheit. Das als erstes Erkannte ist das moralische Gesetz, „dessen wir uns unmittelbar bewußt werden“. Wie ist dies möglich? Die Frage stellt sich, weil das Bewußtsein eine Art Erfahrung ist, nämlich eine innere Erfahrung; die Erfahrung aber vermittelt uns kein Unbedingtes, sondern nur Erscheinungen, die von ihrem Wesen her vom erkennenden Subjekt abhängen. Dieselbe Frage wird sich im nächsten Paragraphen nochmals stellen; Kants Lehre vom „Faktum der Vernunft“ (A 55 f.) wird hier vorweggenommen. Kant löst hier die Schwierigkeit, indem er auf die Notwendigkeit hinweist, die die „reinen praktischen Gesetze“ genauso wie die „reinen theoretischen Grundsätze“ kennzeichnet und deren Ursprung nicht in der Erscheinungswelt liegen kann. Außerdem zeigt uns dieselbe Notwendigkeit, daß das Gesetz von allen empirischen Bedingungen abstrahiert. Aus den reinen praktischen Gesetzen entspringt also der Begriff des reinen Willens, aus den reinen theoretischen Grundsätzen entspringt unsere Erkenntnis des reinen Verstandes. Kurzum: Die Sittlichkeit eröffnet uns zuerst den Begriff der Freiheit. Damit stellt die praktische Vernunft die spekulative Vernunft vor ein unauflösliches Problem. Denn letztere kann nichts mit dem Begriff der Freiheit bei der Erklärung von Erscheinungen anfangen; außerdem verwickelt sie sich mit diesem Begriff in Antinomien. Die Erfahrung bestätigt die genannte Ordnung dieser Begriffe. Dafür bringt Kant zwei Beispiele: 1) Die Androhung einer Todesstrafe macht dem Menschen bewußt, daß er das Gesetz einhalten kann (= frei ist). 2) Dieselbe Androhung ist nicht imstande, das im Sittengesetz enthaltene Bewußtsein der Freiheit aufzuheben. Zum zweiten Beispiel vgl. auch, im Kontext der Erziehung zur Tugend, A 277f. Fazit: Der Mensch „urteilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre“ (vgl. auch Religion B 58, Fn = VI 49; MS, Tugendlehre: A 2 = VI 380; „Gemeinspruch“, A 229 = VIII 287). Aus dem vorliegenden und ähnlichen Texten Kants hat man die Kurzformel gebildet: „Du kannst, denn du sollst“. Sie
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gibt einprägsam das von Kant Gemeinte wieder, findet sich aber in seinen Schriften nicht wortwörtlich.
§ 7. Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft (A 54–58) 1. Als Resultat der terminologischen Festlegung der praktischen Grundsätze (entweder Maximen oder Gesetze) und der Argumentation, der zufolge Bestimmungsgrund des guten Willens nur die „allgemeine gesetzgebende Form“ (A 51) der jeweiligen praktischen Regel sein kann, formuliert Kant das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“85, das also, was er in der GMS als „kategorischen Imperativ“ analysiert und bezeichnet hat und hier in der „Folgerung“ „Sittengesetz“ nennt: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Diese Formulierung übernimmt die ähnlich lautende Formel aus dem 1. Abschnitt der GMS (A 17 = IV 402) sowie die erste der drei Formeln des kategorischen Imperativs aus dem 2. Abschnitt (A 52 = IV 421). Sie kommt, mit Änderungen im Wortlaut, mehrmals in den Schriften Kants vor (vgl. z. B. MS, Rechtslehre, Einleitung IV). Bei sachlicher Übereinstimmung der Lehre vom Sittengesetz in beiden Grundlegungsschriften ist doch der Unterschied zu bemerken, daß Kant im ersten Werk eher auf die Allgemeinheit des Gesetzes eingegangen ist, während hier – gemäß der Problemstellung in der Vorrede und in der Einleitung – der Akzent seiner Erklärung darauf liegt, daß es sich um ein Gesetz handelt, mit dem sich die Vernunft als reine praktisch erweist. Der Umstand, daß in der KpV explizit nur die erste der drei Formeln der GMS vorgelegt wird, darf als eine Akzentuierung des Formalismus in der Ethik Kants angesehen werden. Kant erläutert zuerst den Unterschied zwischen einem Postulat der Geometrie und dem moralischen Gesetz.86 Beides sind praktische Sätze, aber in der Geometrie steht der praktische Satz unter einer Bedingung, insofern er besagt, „daß man etwas tun könne, wenn etwas gefordert wird, man solle es tun“. Z.B. fordert das erste der fünf Postulate Euklids, „daß man von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen kann“, aber es behauptet keine absolute Notwendigkeit, dies zu tun. Das hier formu85 Zu bemerken ist der grammatische Singular, unter dem die Formulierung steht. Der ansonsten von Kant oft verwendete Plural „praktische Gesetze“ oder „Prinzipien“ kann sich nur auf die mannigfaltigen Fälle beziehen, in denen das Grundgesetz angewandt wird. Dabei stellt sich freilich die Frage, wie das Subjekt vom formalen Prinzip zu einem material bestimmten Gesetz übergehen kann, ohne von der „Normativität“ des Objektes des Willens abhängig zu sein. 86 In der Vorrede (A 22 Fn) war bereits von den Postulaten der Mathematik die Rede; jedoch wurden sie direkt mit den Postulaten der reinen praktischen Vernunft verglichen, wobei das punctum comparationis einerseits in der apodiktischen spekulativen Gewißheit dessen lag, was in der Mathematik postuliert wird, andererseits in der „notwendigen Hypothese“, die die Postulate der reinen praktischen Vernunft kennzeichnet.
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lierte Gesetz dagegen ist ein unbedingter, mithin kategorischer Satz, und zwar in dem Sinne, daß, wenn überhaupt ein Willensakt und die entsprechende Handlung vollzogen werden – was schon physisch für den Menschen unvermeidlich ist –, so „soll man schlechthin auf gewisse Weise verfahren“, nämlich auf die Weise, wie im genannten Grundgesetz festgelegt ist: „Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht“. Weil nun die Form der Allgemeinheit, durch die der Wille bestimmt wird, ein Produkt der Vernunft ist, so vermag Kant die Behauptung aufzustellen, in der die ganze Argumentation der vorigen Paragraphen gipfelt: „Reine, an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend“. Die Aussage ist als Existenzaussage gemeint. Damit ist dem Grundanliegen der KpV Genüge getan, daß sie nämlich „darlegen soll, daß es reine praktische Vernunft gebe“ (A 3). Der Sinn dieser Existenzaussage ist im Zusammenhang mit den wiederholten Versuchen Kants zu sehen, nachdem er begonnen hatte, sich vom Rationalismus Wolffs abzuwenden, das Common-Sense-Wissen um die Realität des Sittengesetzes in seine sich durch „mancherlei Umkippungen“ (vgl. den Brief an Lambert Ende 1765: X 55) hindurchgegangenen Ansichten über Erkennen und Sein einzuordnen.87 Als er 1785 sein erstes systematisches Werk über Moral verfaßte, arbeitete er den Kern aus, zu dem er bereits in den 60er Jahren gelangt war: Die Moral der unbedingten Verbindlichkeit („Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze“), die die „Regel des allgemeinen Willens“ („Träume“) kennzeichnete. Aber infolge seiner inzwischen eingetretenen transzendentalidealistischen Wende vermochte er nicht ohne weiteres die Realität des moralischen Gesetzes vorauszusetzen. Deswegen weist die in den ersten zwei Abschnitten der GMS vorgelegte Lehre vom moralischen Gesetz – was es ist – den epistemischen Status einer Hypothese auf; vgl. A 51 f. = IV 420 f.; A 59 = IV 425 („Noch sind wir aber nicht soweit, a priori [!] zu beweisen, … daß es ein praktisches Gesetz gebe“; A 96 = IV 445).88 Erst im dritten Abschnitt ging Kant auf die Frage nach der Realität des moralischen Gesetzes ein. Oben (vgl. „Der Werdegang der Ethik Kants“, Nr. 13 am Ende, S. 51 f.) habe ich auf die Fragwürdigkeit dieses letzten Versuchs hingewiesen, der auf dem Phänomenismus der KrV gründet und dessen Resultat unter dem Vorzeichen eines „als ob“ (A 100 f. = IV 448) steht. Kein Wunder also, daß Kant an unserer Stelle einen anderen Weg eingeschlagen hat, den er als „Faktum der Vernunft“ bezeichnet. 87 Vgl. D. Henrichs Rekonstruktion dieser Versuche in: D. Henrich u. a. (Hrsg.), „Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft“, in: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken, Tübingen 1960, 77–115. 88 Vgl. R. P. Wolff, The Autonomy of Reason. A Commentary on Kant’s Groundwork of Morals, New York 1973, 33–35, 151–155. Dasselbe bei D. Henrich, „Die Deduktion des Sittengesetzes“, 76 f. Aber der Umstand, daß der ganze Diskurs der GMS im Lichte des Transzendentalidealismus seines Verfassers prinzipiell als hypothetisch zu gelten hatte, hindert Kant nicht an der Überzeugung, doch mehr als eine bloße Hypothese vorzulegen (wie der Tenor der Ausführungen auf weite Strecken verrät). Zum „Faktum der Vernunft“ vgl. auch B. Stangneth, Das „Faktum der Vernunft“. Versuch einer Ortsbestimmung, in: Akten des 9. Internat. Kant-Kongresses, Bd. 3, Berlin 2001, 104–112.
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2. „Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen“. Bei diesem Bewußtsein „dringt sich uns [das Gesetz] für sich selbst als synthetischer Satz a priori auf“ (zum Gesetz bzw. kategorischen Imperativ als „synthetischem Satz a priori“ vgl. GMS A 50, 87, 111 = IV 420, 440, 454). Hinsichtlich dieses Faktums, in dem das Gesetz „als gegeben anzusehen ist“, hält Kant es für wichtig zu bemerken, daß es „kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft sei, die sich als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic iubeo) ankündigt“.89 In der weiter unten folgenden „Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“ spricht Kant nochmals von einem „Faktum, worin sich reine Vernunft bei uns in der Tat praktisch beweist“ (A 72). Nach A 81 „ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori (!) bewußt sind, und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben“. In den weiteren Überlegungen (unter „Anmerkung“) wiederholt Kant die Hauptpunkte seiner Auffassung vom Sittengesetz: a) Daß das Gesetz sich uns aufdrängt, findet seine Bestätigung im Urteil aller Menschen. Denn bei allen Neigungen, die ihre Entscheidungen zu beeinflussen trachten, erfahren sie die Forderung der Vernunft, sich „an den reinen Willen“ zu halten, und dies bedeutet, sich nur durch die von der Vernunft stammende Allgemeinheit der Maxime bestimmen zu lassen. b) Diese Forderung gilt für alle vernünftigen Wesen, die einen Willen haben, einschließlich des unendlichen vernünftigen Wesens. c) Bei den endlichen Wesen hat das Gesetz die Form eines kategorischen Imperativs, weil sie Bedürfnisse haben und durch sinnliche Bewegursachen affizierbar sind. Deswegen besagt für sie das Gesetz Abhängigkeit (von ihrer eigenen Vernunft!) und Nötigung (Pflicht). Bei der „allergenugsamsten Intelligenz“ dagegen erweist sich der Wille als zum Gesetz vollkommen konform. Das unendliche Wesen hat also einen heiligen Willen und untersteht deshalb keiner Nötigung. Zur „göttlichen Allgenugsamkeit“ vgl. den „einzig möglichen Beweisgrund“, II. Abtlg, 8. Betrachtung. d) Eine solche Heiligkeit des Willens dient uns zum Urbild, dem wir uns nähern sollen, obwohl wir es niemals erreichen werden. In dieser Annäherung liegt die Tugend. Es sei hier bemerkt, daß der Begriff eines ins Unendliche gehenden Progressus im DialektikTeil als medius terminus für das Postulat der Unsterblichkeit der Seele wiederkehrt (A 219–223). 3. Zahlreiche Kommentatoren haben Kants Lehre vom „Faktum der Vernunft“ als Verzicht auf jeglichen weiteren Versuch gewertet, die Existenz des moralischen Gesetzes im Menschen zu beweisen. Mehr noch, sie haben die Kohärenz dieses nur hier aufDas zitierte Wort aus den Satiren Juvenals: „Hoc volo, sic iubeo, sit pro ratione voluntas“ (VI, 223) zeigt, daß Kant das Bewußtsein des moralischen Gesetzes voluntaristisch auffaßt. „Vor aller Vernünftigkeit gibt es bei Kant noch einmal die Autonomie des Willens (transzendentale Freiheit), dessen Vernünftigkeit aber gerade durch eine solche nicht an die Vernunft gebundene Autonomie gefährdet ist. Denn Vernunft ist hier legitimiert nicht durch ihre Aufgabe, die Ausrichtung des Willens nach dem Guten zu bewerkstelligen, sondern Freiheit und Autonomie zu wahren … Deshalb ist die Kantische Ethik letztlich und in ihrer Tiefenstruktur nicht eine Ethik der Vernunftautonomie, sondern eine solche der Autonomie des Willens“ (M. Rhonheimer, Die Perspektive der Moral, 230). 89
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tauchenden Lehrstückes in Zweifel gezogen. So nennt es R. Bittner „eine Lösung ad hoc“90. Vorsichtiger schreibt D. Henrich: „Solch ein Begriff enthält scheinbar einen Widersinn in sich. Wenn die Vernunft als Vermögen von Erkenntnissen a priori definiert ist, so kann man nicht einsehen, wie sie soll Faktisches enthalten können. Das Faktische scheint in den Bereich der Erfahrung zu gehören, während die Vernunft die reine Durchsichtigkeit einer Einsicht fordern muß“91. Vom Standpunkt einer immanenten Interpretation liegt der Haupteinwand gegen dieses Lehrstück darin, daß es gegen die für den Transzendentalidealismus fundamentale Lehre von einer phänomenistischen „Grenzbestimmung“ (vgl. KrV A 395) verstößt, der zufolge die Tragweite unserer objektiv gültigen Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung beschränkt ist, und zwar so, daß das darin Erkannte den ontologischen Status einer Erscheinung hat. Das „Faktum der Vernunft“ bedeutet dagegen die Erkenntnis des moralischen Gesetzes als des „Unbedingt-Praktischen“ (A 52) und dadurch den Zugang zu der sog. praktisch gegründeten Metaphysik der transzendenten Realitäten. Übrigens findet sich in der KrV immer wieder die Tendenz, die Grenzen der Erscheinungen zu überschreiten, vor allem in Richtung auf das Ich (vgl. etwa B 155–158). Läßt man aber Kants „sensualistischen Intuitionismus“ (vgl. Fn 78) fallen und behält man zugleich die Lehre bei, der zufolge „alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange“ (KrV B 1), so ist es möglich, die Erfahrung, die Kant mit der Redewendung „Faktum der Vernunft“ meint, anders zu verstehen und dadurch zu einem anderen Ergebnis zu gelangen. Gemeint ist das Bewußtsein bzw. die innere Erfahrung, die jeder erwachsene Mensch macht, wenn er die Frage stellt: „Was soll ich tun?“ Es ist die Erfahrung, daß es an ihm liegt, unter den mannigfaltigen, ihm physisch möglichen Handlungsabläufen zu wählen, zugleich aber, daß diese möglichen Handlungen nicht alle „egal“ sind, insofern er einsieht, daß er einige tun darf oder gar soll, andere aber nicht. Es ist die Erfahrung eines in ihm wirkenden, ihn als Menschen konstituierenden Gesetzes: des moralischen Gesetzes. In dieser Erfahrung sind die drei Grundelemente der Moralität enthalten: Die Notion (das Vorwissen) des Guten, die unbedingte Verpflichtung zum Guten, die Freiheit des Willens. Nun ist es möglich (aber nicht notwendig), diese Erfahrung zu thematisieren und dadurch zur Erkenntnis der Realität dessen zu gelangen, was zunächst bloß als Inhalt einer Erfahrung erkannt wurde. D. h. es ist möglich zur Erkenntnis zu gelangen, was das moralische Gesetz ist, und daß es ist. Ganz parallel dazu verhält es sich mit der Art und Weise, wie wir durch die Thematisierung der Erfahrung unserer Intelligenz und Rationalität im Vollzug des Erkennens zur Erkenntnis gelangen, was die menschliche Erkenntnis der Realität ist und daß es sie gibt. Was Kant in der Religionsschrift hinsichtlich des moralischen Gesetzes sagt, gilt für all unsere Erkenntnis von Wirklichkeit: „Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es als ein solches durch keine R. Bittner, Moralisches Gebot oder Autonomie, Freiburg 1983, 141. D. Henrich, „Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft“, 93. 90
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Vernunft herausklügeln“ (B 16 = VI 26). Dieses „gegeben werden“ ist die innere (oder äußere) Erfahrung. Die Erfahrung aber liefert uns weder Realität noch Erscheinungen, sondern nur Daten. Erst durch unsere intelligenten und rationalen Fragen und Antworten gelangen wir im rationalen Urteil zur Erkenntnis jener Realität, die wir zuerst bloß als „gegeben“ erkannt hatten. Das Besondere an der Erfahrung, die Kant mit dem „Faktum der Vernunft“ meint, liegt darin, daß es sich um die Erfahrung einer Realität handelt, die nicht bloß „ist“ – z. B. so als wenn ich einen Baum sehe –, sondern normativ ist. Denn es ist die Erfahrung unserer Intentionalität in ihrer moralischen Phase, die die Normen in sich trägt, wie unser freies und verantwortliches Wollen und Tun vollzogen werden soll. Aber gerade weil das „Faktum der Vernunft“ eine Erfahrung ist, d. h. also das Bewußtsein, das sämtliche menschlichen Handlungen begleitet, läßt sich nicht sinnvoll sagen, daß wir uns des moralischen Gesetzes „a priori bewußt sind“ (A 81). A priori: vorgängig zu was?! Exkurs: Die Allgemeinheit als Form des moralischen Gesetzes Was Kant im § 7 formuliert hat, stellt ein Lehrstück von entscheidender Bedeutung sowohl systematisch für seine Ethikkonzeption wie auch wirkungsgeschichtlich für die weitere Entwicklung der Ethik dar. Es ist deshalb angebracht, über dieses Lehrstück zu reflektieren. Es soll, erstens, der Sinn und die Stichhaltigkeit des Prinzip der Allgemeinheit geklärt werden. Zweitens soll untersucht werden, wie dieses Prinzip sich zu den zwei anderen Formulierungen desselben Grundgesetzes verhält, die Kant im selben Abschnitt der GMS hinzugefügt hat. Denn es besteht kein Zweifel, daß Kant das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ als das Gesetz verstanden wissen will, zu dessen Sinngehalt auch die Idee des Menschen als Zweck an sich und die der Autonomie gehören, obwohl er in der KpV keine entsprechenden Formulierungen geliefert hat.
1. Die Form der Allgemeinheit a) Daß nach Kant das moralische Gesetz bloß formal ist, d. h. daß es den Willen nur durch seine Form bestimmen soll, fügt sich in seine Lehre vom Erkennen und Sein ein, wie schon oben (S. 88) am Ende des Kommentars zum § 2 und in der Fußnote 81, S. 87 dargelegt wurde. Wenn nämlich nur die sinnliche Anschauung dem Subjekt ein Objekt erkenntnismäßig vermitteln und wenn der Verstand in der gegebenen Materie keine ihr innewohnende Intelligiblität erfassen kann (er kann ihr nur eine seiner eigenen Intelligibilitäten hinzufügen), so vermag das Gegebene nur aufgrund der aus ihm zu erwartenden „Annehmlichkeit“ (A 41) begehrt zu werden, d. h. das sinnliche Begehrungsvermögen zu bestimmen. Etwas kann also Objekt des oberen Begehrungsvermögens (des Willens), wenn überhaupt, nur wegen seiner vom Verstand stammenden Form – der Form der Allgemeinheit – werden. b) Die Kantische Formel der Allgemeinheit drückt den sog. ethischen Universalismus
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aus.92 Alle Menschen als Person sind füreinander ihresgleichen; deshalb sollen wir an unsere eigenen Handlungen dieselben Maßstäbe anlegen, die wir an die Handlungen anderer anlegen (Prinzip der Unparteilichkeit oder Fairneß).93 Nur universale Sätze können als normative Prämissen in einer ethischen Argumentation fungieren. Negativ bedeutet dies, daß dem Individuum als Individuum keine Sonderstellung eingeräumt werden darf. Daß die Individualität als solche (ich, du) keine sittlich relevante Ungleichheit ausmacht und deshalb keine Ausnahme zu dem universalen Satz rechtfertigt94, der allein in einer ethischen Argumentation als normativer Obersatz fungiert, hindert aber nicht daran, daß der universale Satz in beliebigem Grad spezifisch und damit eingeschränkt sein kann. D. h. ein moralisches Prinzip kann x Bedingungen enthalten, die konstitutiv zu ihm gehören und die deshalb verifiziert werden müssen, damit das Prinzip als moralisch gültig in Anspruch genommen werden kann. Infolgedessen kann das allgemeine Prinzip in Wirklichkeit für eine kleine Zahl von Fällen gelten, nämlich nur für die Menschen – dann aber für alle Menschen bzw. für alle Situationen –, auf die diese sittlich relevanten Bedingungen zutreffen. In diesem Sinne bleibt das moralische Prinzip ein universaler Satz, weil in ihm kein Individualbegriff vorkommt. Das Objekt des Wollens, das vom Standpunkt der Ethik gut oder böse ist, ist immer konkret. Denn wollen kann man nur etwas, was real ist oder als real gedacht wird (was freilich nicht dasselbe ist wie etwas Materiales!); das Reale aber ist immer durchgängig bestimmt, also nie ein Universales, das nur durch Abstraktion entsteht. In der praktischen Reflexion auf der Suche nach der moralischen Qualifikation eines möglichen Objektes des Willens müssen also alle moralisch relevanten Bestandteile bzw. Aspekte des Objektes (sowie auch die Umstände) berücksichtigt werden, und zwar in bezug auf den Menschen, der die nächstliegende objektive Norm der Moralität darstellt. Die Menschlichkeit im Menschen umfaßt all das, was einen Menschen in seiner Individualität kennzeichnet (Alter, Beruf, psychisch-physische Verfassung, Aufgabe, usw.), aber nicht die Individualität als Individualität. Daraus ergeben sich Differenzen unter den Menschen und mit ihnen auch Differenzen unter den Normen, denen gemäß ein Individuum handeln soll bzw. darf. Die Normen aber bleiben universal, insofern sie für alle Menschen gelten, für die die subjektiven und objektiven Bedingungen der Norm gelten. Die Formel der Allgemeinheit fordert also auf, einen univer salen Standpunkt einzunehmen, um der Wirklichkeit in ihrem Wert gerecht zu werden. Damit erweist sich die Allgemeinheit als notwendige Bedingung einer sittlichen Norm. Ist sie auch zureichende 92 Vgl. B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, Düsseldorf 1973, 56–71 (Die goldene Regel). 93 Die sog. „goldene Regel“ ist nichts anderes als eine Version des Prinzips der Allgemeinheit, ohne aber die Form des Wollens vom Inhalt zu trennen. Vgl. Hans Reiner, Die Goldene Regel, in: ZphF 3 (1948) 74–105.; Hans Ulrich Hoche, Die Goldene Regel. Neue Aspekte eines alten Moralprinzips, in: ZphF 32 (1978) 355–375; Lit. Bruno Brülisauer, Die Goldene Regel. Analyse einer dem Kategorischen Imperativ verwandten Grundnorm, in: KS 71 (1980) 325–345. 94 Solche Ausnahmen haben die Form: „Ich, weil ich ich bin, darf dies tun“.
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Bedingung, wie Kant meint, wenn er immer wieder behauptet, das bloß die Form (der Allgemeinheit) Bestimmungsgrund des sittlich guten Willens sein kann?95 c) Die Form der Allgemeinheit stellt keine zureichende Bedingung für ein sittlich richtiges Gebot bzw. Verbot dar. Den entscheidenden Einwand gegen die Allgemeinheit als zureichendes Kriterium für Gut und Böse hat bereits Hegel 1802 in der Abhandlung „Über die wissenschaftliche Behandlung des Naturrechts“ formuliert: „Es gibt nichts, was nicht auf diese Weise zu einem sittlichen Gesetz gemacht werden könnte“96. In der Tat lassen sich rein formal alle Maximen verallgemeinern, wenn man bereit ist, die Folgen hinzunehmen! Die Frage ist deshalb, ob die Folgen einer universalisierten Maxime für wünschenswert oder aber für verheerend gehalten werden. Für dieses Urteil und damit für das Urteil über die moralische Qualifikation der Maxime verläßt man notgedrungen das rein formale Prinzip der Allgemeinheit. Denn der Test der Verallgemeinerung besteht darin, daß man die in Frage stehende Handlung auf den Menschen als Menschen bezieht und fragt, ob sie ihm (und damit prinzipiell allen Menschen) zugute kommt. Dies verlangt seinerseits, daß man den Gegenstand berücksichtigt, der der Handlung ihre Identität verleiht. Gerade die fundamentale Bedeutung des konkreten (!) Gegenstandes für die Moralität der Handlung verlangt, daß man sich in der Reflexion im Hinblick auf das praktische Urteil: „Dies soll/darf getan werden“ nicht von der Abstraktheit verleiten läßt, die in der Formel einer allgemeinen Gesetzgebung steckt. Denn das nötige Absehen von der Individualität als nicht sittlich relevant macht zwar das moralische Prinzip an sich universal. Aber das Gute, das getan werden soll, ist immer konkret, so daß das, was zum Menschen als diesem handelnden Menschen paßt, seine konkrete Situation berücksichtigen muß. Deswegen nennt die herkömmliche Handlungstheorie drei „Quellen“ der Moralität: außer dem Gegenstand der Handlung (finis operis) und der Absicht des Handelnden (finis operantis) die Umstände (circumstantiae), vgl. Thomas von Aquin, Summa Theol. I.II, q.118. Durch die Berücksichtigung der Umstände (die nicht mit der Individualität zu verwechseln sind) wird die Universalität der moralischen Norm nicht aufgehoben, aber für die Ermittlung der Moralität einer Handlung erweist sich der Blick auf die Universalität allein als ungenügend. So z. B. ist gewiß zulässig, daß ein Mensch sich der Kunst widmet. Daraus allein aber kann man nicht schließen, daß jemand, der Verantwortung für die eigene Familie trägt, seinen Beruf aufgeben darf, um sich der Kunst zu widmen, wenn er keine fundierte Sicherheit hat, daß er damit seiner Verpflichtung gegenüber der Familie nachkommen kann. Einem Abiturienten, der das Studium der Malerei ergreifen möchte, hilft die Frage, ob seine Maxime ein für alle Menschen gültiges Gesetz werden kann oder gar zu einem allgemeinen Naturgesetz werden sollte, nicht viel. Diese Überlegung über den konkreten Charakter des Guten entspricht dem alten Axiom „Bonum ex integra causa, malum ex quocumque defectu“, das auf Aristo95 Vgl. z. B. § 4; GMS A 17: „nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen“, oder KpV A 48: Nur Gesetze, die „bloß der Form nach den Bestimmungsgrund des Willens enthalten“. 96 Hegel, Gesammelte Werke, Hamburg 1968, IV 436.
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teles zurückgeht (Nikomachische Ethik, II am Ende des Kap. 5) und über den Neuplatoniker Dionysius den Areopagiten in seiner Schrift „De divinis nominibus“ (Kap. IV, § 30: MG 3, 729) von den mittelalterlichen Scholastikern übernommen wurde (vgl. Thomas von Aquin, Kommentar zu „De divinis nominibus“, lect. 22; Summa Theologiae I.II, q.18, a.5). Kurzum: Weil eine Handlung ihrem Wesen nach (d. h. von ihrem Objekt her, das sie moralisch qualifiziert) gut ist, deshalb kann sie allgemein werden, d. h. Inhalt eines moralischen Gesetzes. Der umgekehrte Weg – weil die Handlung die Form der Allgemeinheit aufweist, ist sie gut – ist nicht begehbar. Denn es fehlt ihm ein objektives Kriterium, um herauszufinden welche Handlungsweisen diese Form annehmen können und welche nicht. Der Versuch des Formalismus, vom Wie der Handlung (ihr Eigenschaft als allgemeine Handlungsweise) das Was (den Inhalt) derselben Handlung abzuleiten, ist zum Scheitern verurteilt. Der Formalismus ist nicht imstande, eine normative Ethik oder Pflichtenethik zu begründen. d) Im Laufe der bisherigen Überlegungen habe ich die Ansicht vertreten, daß gerade das Objekt dem Wollen seine moralische Qualifikation verleiht, wobei das Objekt selbst als sittlich gut gilt, wenn es den Menschen in seiner leib-geistigen Wesenseinheit fördert. Daraus ergab sich die These, der zufolge der Wille gut ist, wenn er um des guten Objektes willen will, d. h. wenn Bestimmungsgrund des Willens die Gutheit des Objektes ist. Diese These widerspricht der Position Kants, für den der Bestimmungsgrund des Willens nicht die Materie der jeweiligen praktischen Regel sein kann, sondern nur ihre Form, die „Form der Gesetzmäßigkeit“ (A 46) oder die „allgemeine Gesetzmäßigkeit“ (GMS A 17 = IV 402), wie er sie oft nennt, weil, nach seinem Dafürhalten, gerade die Allgemeinheit eine Maxime zu einem moralischen Gesetz macht. Nicht wenige Kant-Interpreten halten einer solchen Handlungstheorie wie der hier vertretenen folgendes entgegen: Kant anerkenne durchaus, daß ohne Gegenstand kein Wollen möglich ist, aber dieser dürfe nicht Bestimmungsgrund des Wollens bzw. der Maxime sein (A 60: „der Maxime“ – wohl in dem Sinne, daß die Maxime genau wegen ihres Inhaltes verpflichtend ist). Warum nicht? Weil in diesem Falle Bestimmungsgrund des Willens „die Lust an der Wirklichkeit“ des Gegenstandes wäre (A 39) oder die „Selbstliebe“ (A 40: im Sinne von Egoismus) oder das „Gefühl der Lust“ (A 42). Auch wenn man zugibt, daß es möglich ist, das sittlich Gute nur wegen der daraus zu erwartenden „Annehmlichkeit“ (A 41) zu wollen, stellt sich doch die Frage, ob dies notwendigerweise sein muß, so daß ein Wollen um des erkannten sittlich Guten willen außerhalb der Möglichkeit des Menschen liegen würde. Eine solche Voraussetzung käme der Ansicht gleich, daß es im Menschen kein rationales Strebevermögen gibt, das unter der Leitung der Vernunft nach dem sittlich Guten strebt. Auf dieselbe Interpretation läuft die Ansicht hinaus, die im Formalismus den Ausschluß des „ethischen Empirismus“ sieht,97 oder, in Anlehnung an den Sprachgebrauch Kants, die Verteidigung des „reinen [= nicht empirisch bedingten] Willens“ als des einSo z. B. O. Höffe in seiner Einführung in: ders. (Hrsg.), I. Kant. Kritik der praktischen Vernunft, Berlin 2002, 19. 97
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zig moralisch guten Willens. Was bedeutet nun hier Empirismus? Die Beurteilung eines Gegenstandes als sittlich gut setzt zwar eine vorgegebene Realität oder Möglichkeit voraus und geschieht dadurch, daß diese Realität auf den vorgegebenen Maßstab der menschlichen Natur bezogen wird. Dies ist aber beileibe kein Empirismus, sondern eine Leistung der Vernunft, die in der Materie ein Intelligibles und einen Wert erfaßt. Eine andere Strategie zur Verteidigung des Formalismus besteht darin, die Verbindung des Wollens mit einem Gegenstand auf die Ebene der zuerst subjektiven Handlungsmaxime vorzuverlegen. Auf dieser noch vorsittlichen, „zweckrationalen“ Ebene wird die Handlung als vernünftig aufgefaßt, d. h. als eine durch die Vernunft auf einen Gegenstand bezogene und damit von diesem spezifizierte. Danach wird dieselbe Handlung auf einer weiteren, sittlichen Ebene dem Verallgemeinerungstest unterzogen. Läßt sie sich verallgemeinern, so ist sie „gesetzmäßig“ und darf wegen ihrer Form gewollt werden. Nun aber läßt sich nicht übersehen, daß diese Ad-hoc-Distinktion, ja Trennung, nicht imstande ist, die „Normativität“ des Objektes auszuschalten. Denn das Subjekt, das die Maxime aufgestellt hat, kann nicht ihre „Tauglichkeit“ (vgl. MS, Rechtslehre, Einleitung I) zur gesetzmäßigen Form unabhängig vom Gegenstand derselben ermitteln. Denn warum lassen sich nicht alle Maximen im gewünschten Sinn verallgemeinern, wenn nicht aufgrund des jeweiligen Gegenstandes, der ihnen die grundlegende moralische Identität verleiht? Der Wille, der von der Form der Maxime bestimmt wird, wird also in der Tat vom Objekt derselben bestimmt. Dies ist kein Formalismus mehr.
2. Das Verhältnis der Formel der Allgemeinheit zu den zwei anderen Formeln Kant hat im zweiten Abschnitt der GMS das Thema des kategorischen Imperativs ausführlicher behandelt und von ihm mehrere Formeln geliefert: Die bereits erörterte Formel der Allgemeinheit, zu der die Formel des Menschen als eines Zwecks an sich selbst und die der Autonomie hinzukommen. Die Autoren sind weitgehend darin einig, daß hinsichtlich der ersten und der dritten Formel zwei unterschiedliche Fassungen zu unterscheiden sind. Zu der in ihrem Wortlaut oben analysierten ersten Formel kommt die Formel hinzu, die besagt, handele so, „als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte“ (GMS A 52 = IV 421). Damit will Kant den Charakter der Allgemeinheit des moralischen Gesetzes betonen, der so verstanden werden muß, daß dieser keine Ausnahmen zuläßt, genauso wie dies der Fall bei den Naturgesetzen ist. Die dritte Formel spricht von der „Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens“ (A 70 = IV 431). Gerade weil der einzelne seine Selbstgesetzgebung als eine allgemeine versteht, die nämlich allen anderen vernünftigen Wesen Rechnung trägt, entsteht daraus eine „systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“, die Kant „Reich der Zwecke“ nennt (A 74 = IV 434).98 Diese Formulierung gilt deshalb als eine Variante der vorigen. 98
Im dritten Stück der „Religion“ wird dieses Reich zu einem „ethischen Gemeinwesen“.
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Angesichts der drei Formulierungen stellt sich die Frage, ob es sich um drei verschiedene Aspekte dessen handelt, was im Grunde dasselbe moralische Gesetz ausmacht, so daß die eine Formel den anderen gleichkommt, oder aber ob sie Elemente des moralischen Gesetzes besagen, die nicht aufeinander reduzierbar sind, so daß die zweite und die dritte Formel etwas wesentlich Neues zu der ersten hinzufügen. Nach Kants Dafürhalten handelt es sich um „drei Arten, das Prinzip der Sittlichkeit vorzustellen, sind aber im Grunde nur so viele Formeln ebendesselben Gesetzes, deren eine die anderen zwei von selbst in sich vereinigt“ (GMS A 79 = IV 436). Daß die erste Formel „objektiv-praktisch“ (ebd.) keines Zusatzes bedarf, wird durch die Empfehlung Kants bestätigt, „in der sittlichen Beurteilung immer nach der strengen Methode“ zu verfahren, indem man „die allgemeine Formel … zum Grunde“ legt (A 80 f. = IV 436). Die Formel der Allgemeinheit ist in den Augen Kants die fundamentale und zureichende. Ist das moralische Gesetz in dem Sinne rein formal, daß es von allem vorgegebenen Inhalt, selbst vom Objekt des Wollens abstrahiert, so ist der Schritt von der ersten zur dritten Formel, nämlich zum „Prinzip der Autonomie“ (A 88 = IV 440), naheliegend. In diesem Sinne sind beide Formeln gleichwertig. Wenn nun Kant in der KpV (A 54) im Unterschied zur parallelen Formel der GMS, die lediglich von einem „allgemeinen Gesetz“ spricht, sein „Grundgesetz“ so formuliert, daß die Maxime „als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten“ soll, so holt er die dritte Formel in dieses ein. Es wundert deshalb nicht, daß der unmittelbar danach folgende § 8 auf das Thema der Autonomie eingeht, als ob im vorigen Paragraphen auch die dritte Formel geliefert worden wäre. Anderes dagegen muß m. E. hinsichtlich der zweiten Formel gesagt werden. Denn diese Formel bringt etwas wesentlich Neues in die Prinzipienlehre Kants, das nicht aus der ersten Formel ableitbar ist, der gegenteiligen Selbstinterpretation Kants zum Trotz. Mit ihr geht Kant von einer inhaltsleeren Allgemeinheit des moralischen Gesetzes zu einer „materialen Wertethik“ über, in deren Mittelpunkt der Mensch als Zweck an sich selbst und damit als Person steht: Gut, und deswegen Gesolltes, ist das, was zum Menschen in seiner Ganzheit paßt. Damit schließt sich Kant an die herkömmliche Lehre vom Menschen als „norma obiectiva moralitatis“ an und kehrt zur Dualität von formalem und materialem Prinzip zurück, die er zu Beginn seiner Entwicklung im Bereich der Ethik vertreten hatte – wenn auch in einem anderen Sinne. In der Tat gelangt Kant zu dieser Formel, indem er den Zweckbegriff wieder einholt, den er im Beweis der Grundformel ausgeschlossen hatte: „Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was als Zweck an sich selbst, ein Grund (!) bestimmter Gesetze sein könnte, …“. Das auf diesem Weg erreichte Gesetz lautet: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (GMS A 64–67 = IV 428 f.).99 Damit aber tut sich eine unlösbare Spannung in Kants 99 Vgl. parallele Formulierungen in der MS, Rechtslehre, § 55; Tugendlehre, § 38. Kant hält den Menschen, insofern er ein moralisches Wesen ist, für einen „absoluten Endzweck“ (KU, B 423), dessen Dasein „absoluten Wert hat“ (GMS A 64 = IV 428; auch KU B 142). Diese und ähnliche
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Ethik auf. Denn diese Ethik rekurriert auf ein materiales Prinzip (den Menschen als vorgegebenen Zweck), um die Inhalte des kategorischen Imperativs zu ermitteln, während sie doch immer wieder einschärft, daß das formale Prinzip allein genügt und daß jegliches materiale Prinzip als Bestimmungsgrund des Willens den moralisch guten Willen unmöglich macht. R.P. Wolff spricht in seinem Kommentar zur GMS von zwei einander widerstreitenden Halbzeiten des Kantischen Spiels.100 Oder, mit einem anderen Vergleich, Kant spielt offiziell mit der Karte der Allgemeinheit, unter der Hand hält er die Karte der Menschheit parat, um zu seiner Absicht (der Festlegung konkreter moralischer Normen) zu gelangen. Es stellt sich unweigerlich die Frage, wie Kant eine derartige Spannung in seinem System der Moral entgehen konnte. Die meiner Meinung nach plausibelste Erklärung ist folgende: Wenn Kant vom moralischen Gesetz als einem allgemeinen spricht, denkt er an ein Gesetz des Menschen, das für den Menschen da ist. Daß das moralische Gesetz allgemein ist, bedeutet: Es gilt für alle Menschen und berücksichtigt alle Menschen. Der einzelne Mensch ist gesetzgebend für alle Menschen, weil sein Gesichtspunkt als der eines vernünftigen Wesens alle Menschen im Blick hat. Genau dieser Gesichtspunkt liegt jener „Goldenen Regel“ zugrunde, die auch schon dem Common-Sense-Menschen einleuchtet. Wenn dem so ist, so nimmt Kant in der ersten Formel bereits die zweite vorweg. Kurzum, allgemein ist das Gesetz nach Menschenmaß: Seine Extension (Umfang) hängt von seiner Intension (Inhalt) ab. Der lange Absatz in GMS A 82 ff. = IV 473 ff., der die Äquivalenz der drei Formeln bespricht, enthält alle Elemente, welche die hier vorgeschlagene Interpretation vollauf bestätigen. Er beginnt mit folgender Aussage: „Die vernünftige Natur nimmt sich dadurch vor den übrigen aus, daß sie ihr selbst einen Zweck setzt. Dieser würde die Materie eines jeden guten Willens sein.“ Diese Aussage kann als die im voraus gegebene Korrektur dessen angesehen werden, was Kant später im § 3 der KpV behauptet hat, wonach „alle materialen praktischen Prinzipien … unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe gehören“ und deswegen „den Bestimmungsgrund des Willens im unteren Begehrungsvermögen setzen“ (A 40 f.). Weiter heißt es an derselben Stelle der GMS: „Das Prinzip: handle in Beziehung auf ein jedes vernünftige Wesen … so, daß es in deiner Maxime zugleich als Zweck an sich selbst gelte [= zweite Formel], ist demnach mit dem Grundsatze: handle nach einer Maxime, die ihre eigene allgemeine Gültigkeit für jedes vernünftige Wesen in sich enthält [= erste Formel], im Grunde einerlei“. Diese Lehre vom Menschen als Zweck an sich selbst und damit als Maßstab, an dem die Moralität unseres Wollens und Handelns gemessen werden muß, findet eine Bestätigung und zugleich Erläuterung in der teleologischen Weltsicht, die Kant in seiner dritten Kritik ausgeführt hat. Der § 84 „Von dem Endzweck des Daseins einer Welt, d. i. der Schöpfung selbst“ endet mit folgender Aussage: „Nur im Menschen, aber auch in dieAussagen werfen die Frage auf, in welchem Sinne dies zu verstehen sei angesichts der Tatsache, daß der Mensch ein kontingentes Wesen ist. Die Postulate in der Dialektik der KpV sind auch als Antwort auf diese Frage zu verstehen. 100 R.P. Wolff, The Autonomie of Reason, 76; auch 48f., 86 u.ö.
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sem nur als Subjekt der Moralität, ist die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht, ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist“. Was Kant in beiden Grundlegungsschriften gegen die Logik des Systems halbherzig eingeräumt hat, kam in seiner späteren normativen Ethik, der „Metaphysik der Sitten“, ausdrücklich zum Tragen. Denn dort argumentiert Kant in bezug auf die einzelnen Pflichten weitgehend naturrechtlich, d. h. von der Sache her: Je nachdem, wie die Objekte des Wollens und Tuns (materielle oder geistige Objekte, Haltungen, Institutionen usw.) sich zum Menschen verhalten, werden die entsprechenden moralischen Normen festgelegt. In der Einleitung zur Tugendlehre, Nr. I, wird Ethik „als das System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft definiert“. In Nr. IV werden zwei Zwecke genannt, die zugleich Pflichten sind; in Nr. IX wird „das oberste Prinzip der Tugendlehre“ wie folgt umformuliert: „Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.“ Ein solches Prinzip der Ethik ist nicht mehr rein formal; denn es stellt eine Form auf, die sich aus einem Inhalt (Zweck) ergibt. In Nr. XVIII, 2. Absatz, wird weiter gesagt, weil „der Mensch sowohl sich selbst als auch jeden anderen Menschen sich als seinen Zweck zu denken verbunden ist“, müsse die Tugendlehre „nicht bloß als Pflichtlehre überhaupt, sondern auch als Zwecklehre aufgestellt werden“. Daß das „Prinzip der Menschheit“ (GMS A 69 = IV 430) trotz fehlender Formel auch für die KpV unvermindert gültig bleibt, ist erkennbar an der Stellung, die der Mensch als Person in ihr einnimmt. Aufschlußreich sind in dieser Hinsicht die Ausführungen in A 155–158. Dort gilt der Mensch als heilig genauso wie das moralische Gesetz. Und während alles in der Schöpfung „auch bloß als Mittel gebraucht werden kann, ist der Mensch … Zweck an sich selbst“. Deswegen ist er „niemals bloß als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen“ (Ähnliches in A 237). Gemäß seiner Einschätzung der ersten Formel des kategorischen Imperativs verwendet Kant diese mehrmals als „Kanon der moralischen Beurteilung“ (GMS A 57 = IV 424), insofern er der Überzeugung ist, daß eine Maxime, die nicht moralisch ist, nicht ohne Widerspruch als allgemein gewollt, bzw. gedacht werden kann. Den Kommentatoren konnte nicht verborgen bleiben, daß seine Beispiele einer solchen „reductio ad contradictionem“ (vgl. vor allem die vier Beispiele in GMS A 53–57 = IV 421–424) wenig überzeugend, ja vielfach erzwungen sind. In der Tat liegt der eigentliche Grund, warum eine praktische Regel unmoralisch ist, nicht in einem angeblichen logischen Widerspruch mit sich selbst, sondern darin, daß sie gegen den objektiven Maßstab der Moralität verstößt, nämlich gegen die Forderungen, die das Wesen des Menschen als Zweck an sich selbst an unsere Freiheit stellt.
§ 8. Lehrsatz IV (58–71) Dies ist der letzte Lehrsatz, den Kant in seinem Ethik-Traktat aufstellt, allerdings ohne eine eigentliche Kurzformel. Danach hört die Darlegung „more geometrico“ auf. Was hier vorliegt, gilt mit Fug und Recht als der Höhepunkt dieser Ethik. Bisher hat
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Kant den rein formalen Charakter des Gesetzes hervorgehoben, insofern das Gesetz von keiner Materie oder Element außerhalb seiner selbst abhängt – nicht einmal vom Objekt des dem Gesetz gehorchenden Willensaktes. „Also drückt das moralische Gesetz nichts anderes aus als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. der [die? Lesart Natorps] Freiheit“. Dieselbe Gleichsetzung findet sich auch schon zu Beginn des vorliegenden Abschnittes, in dem Kant der „Autonomie des Willens“101 die Heteronomie entgegensetzt. An der Parallelstelle der GMS lauteten die Überschriften der zwei nacheinander folgenden Abschnitte: „Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit“ (A 87 = IV 440) und „Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit“ (A 88 = IV 441). Die Autonomie, die bei Kant das bezeichnet, was man sonst Freiheit nennt, weist zwei Aspekte auf: 1) „Unabhängigkeit von aller Materie des Gesetzes“: Freiheit im negativen Verstande, 2) „eigene Gesetzgebung“, d.h. der Wille gibt sich selbst das Gesetz: Freiheit im positiven Verstande. Genau dieses vom Willen erlassene Gesetz, oder, dem Wortlaut Kants näher, die allgemeine Form, welche gesetzgebend ist, insofern sie aus einer Maxime ein Gesetz macht, bestimmt die Willkür.102 Von Bedeutung für die vorliegende Auffassung von Freiheit/Autonomie ist der Umstand, daß Kant zwar eine Freiheit vertritt, die durch nichts außerhalb des Willens bedingt oder beschränkt ist; zugleich aber sieht er als ebenso wesentlich für die Freiheit an, daß der Wille allgemein, d. h. unter Berücksichtigung aller Menschen gesetzgebend ist. Eine Freiheit, die nur das negative Moment der Unabhängigkeit kennt (eine gesetzlose Freiheit), wäre keine Freiheit im Sinne Kants! Es bleibt freilich die Frage, was es bedeutet, daß der Wille ein unbedingtes Gesetz erläßt, dem er selbst untersteht (vgl. GMS A 77 = IV 434), wenn es um ein bloß formales Gesetz geht, das an keine vorgegebene Materie gebunden ist. Anmerkung I (A 59–61) Schon das Ende des vorigen Abschnittes und dann ein großer Teil der Anmerkung wiederholen die im ersten und zweiten Lehrsatz vorgelegte These, daß die „Materie des Wollens“, was immer sie sei, „Objekt einer Begierde“ und „empirisch“ ist und „auf subjektiven Bedingungen“ beruht; deshalb kann sie „niemals den Grund zu einer notwendigen und allgemeinen Regel abgeben“. Diese Aussagen bestätigen in einer nicht zu bestreitenden Weise das Dilemma, auf das ich im Kommentar zum Lehrsatz I hingewiesen habe. Daß die Vernunft im Gegebenen etwas Intelligibles, ein sittlich Gutes erfassen und darauf eine allgemeine praktische Regel gründen kann, liegt allem AnDer Vergleich beider Aussagen läßt darauf schließen, daß Kant praktische Vernunft und Wille (zumindest hier) identifiziert. 102 In bezug auf das Vermögen, das das Gesetz gibt, spricht Kant hier von Willen; in bezug auf dasselbe (?) Vermögen, insofern es den Akt des Wollens vollzieht, spricht er von Willkür. Auf diesen terminologischen Unterschied (der aber von Kant nicht konsequent eingehalten wird) werde ich im Kommentar zum dritten Hauptstück der Analytik eingehen. 101
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schein nach außerhalb des Verstehenshorizontes Kants als Philosophen, genauso wie nach der Erkenntnis- und Seinslehre der KrV das Intelligible der Natur (ihre Gesetze) nicht in den Daten der Erfahrung zu finden ist, sondern als „Zusatz“ (B 1) durch den Verstand hinzugefügt werden muß. Das Gesagte wird anhand des Willensaktes erläutert, dessen Objekt die Glückseligkeit ist. Wie schon bemerkt, vertritt Kant in der KpV weitgehend einen empiristischen Begriff der Glückseligkeit: In allen Menschen gibt es ein Verlangen danach, „glücklich zu sein“; es stellt deshalb „einen unvermeidlichen Bestimmungsgrund“ ihres Begehrungsvermögens dar (A 45) – aber eben des unteren Begehrungsvermögens. Konsequent dem Prinzip folgend, daß ein Objekt nur als Quelle von „Vergnügen“ gewollt werden kann, fällt nach Kant auch das Wollen eines Menschen, der die Glückseligkeit anderer will, unter dasselbe Verdikt. Dennoch, fährt Kant fort, ist es durchaus sittlich zulässig, aller „anderen Glückseligkeit zu befördern“, einschließlich der eigenen, wenn Bestimmungsgrund dieses Wollens „die Form der Allgemeinheit ist“, die in diesem Falle gegeben ist. Fazit: „Die Materie der Maxime kann [ja, muß!] zwar bleiben; sie muß aber nicht die Bedingung derselben sein, denn sonst würde diese [Maxime] nicht zum Gesetz taugen“. Bedeutsamer als die obigen Wiederholungen sind folgende zwei Dinge: erstens, daß Kant trotz seines Versuchs, dem Objekt die Funktion einer Quelle der Moralität des Wollens abzusprechen, die nicht die der Heteronomie sein soll, es für „unleugbar“ hält, daß alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse“ (dasselbe im Aufsatz „Über den Gemeinspruch“, A 211 f. Fn = VIII 279; MS, Tugendlehre, Einleitung VI; „Religion“ B VI = VI 4); zweitens die Argumentation, die nach Kant einem Menschen erlaubt, von seiner zunächst subjektiven praktischen Regel (Maxime) zu einer objektiv gültigen und damit allgemeinen und notwendigen praktischen Regel (Gesetz) überzugehen. Das heißt, die Form des Gesetzes schränkt die Materie ein. Der springende Punkt liegt im Terminus „einschränken“ bzw. „Einschränkung“. Trotz des nicht ganz passenden Ausdrucks ist m. E. folgendes gemeint: Weder eliminiert das vernünftige Wesen die Materie noch ändert es sie; vielmehr wählt es aus der Mannigfaltigkeit dessen, was es physisch wollen kann, die Materie aus, d. h. die Objekte, die der „reinen praktischen Vernunft“ in dem Sinne „angemessen“ sind (gegen Ende des Abschnittes), daß sie zum Menschen als Menschen passen und damit ein unbedingtes Sollen begründen. Eine solche Auswahl bedeutet in der Tat eine Einschränkung, weil sie alle Objekte eliminiert, die nicht „zum Gesetze taugen“, insofern sie Maximen begründen würden, die nicht universalisierbar sind. Wenn es nun vom Objekt abhängt, daß eine Maxime zum Gesetz taugt, so läuft die Bestimmung des Willens durch das Gesetz, d. h. wie Kant sagt, „durch die bloße Form eines Gesetzes“, auf die Bestimmung des Willens durch das Objekt hinaus, das sich in der Phase der praktischen Überlegung als ein solches erwiesen hat, das die Form der Allgemeinheit annehmen kann. Wollen um des Gesetzes willen und Wollen um des guten Objektes willen ist ein und dasselbe, weil die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes in der Gutheit seines Objektes gründet. Im selben Sinne spricht Kant in GMS A 69 f. = IV 430 f. vom „Prinzip der Mensch-
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heit“ als „oberster einschränkender Bedingung“; denn nicht alle Handlungsmaximen passen zu diesem Prinzip. In dieselbe Richtung geht im vorigen „Lehrsatz IV“ die Aussage, daß „eine Maxime der gesetzgebenden Form fähig sein muß“ (A 58), ebenso in A 131: „Die bloße praktische Form besteht in der Tauglichkeit der Maxime zur allgemeinen Gesetzgebung“. Auch an unserer Stelle ist die Rede davon, daß eine Maxime „zum Gesetz taugen muß“. Wodurch, wenn nicht durch ihre Materie? In der MS, Rechtslehre, Einleitung I, spricht Kant von der „Tauglichkeit der Maxime der Willkür zum allgemeinen Gesetz“ (dasselbe in GMS A 88 = IV 441). Diese Aussagen enthalten ebenfalls die Idee einer Einschränkung, weil nicht alle Maximen von dieser Art sind. In der MS, Tugendlehre, Einleitung VI, formuliert Kant nochmals den kategorischen Imperativ: „Handle so, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne“ und fügt hinzu: „Die Maximen werden hier als solche subjektive Grundsätze angesehen, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung bloß qualifizieren“. In Nr. VIII, 2 wird gesagt, daß die Maxime von der fremden Glückseligkeit sich „durch ihre Qualifikation zu einem allgemeinen Gesetz“ einen Zweck vorstellt, der zugleich Pflicht ist. Kant versucht zwar gegen Ende unserer Stelle den Formalismus zu retten, indem er behauptet: „Also war das Objekt (anderer Glückseligkeit) nicht der Bestimmungsgrund des reinen Willens, sondern die bloße Form“. Eine solche Interpretation einer sittlich guten Tat tut nicht der Argumentation Genüge, welche zeigt, wie wir zur Erkenntnis gelangen, daß eine Maxime eine sittlich gute Handlung besagt; und sie entspricht auch nicht dem Bewußtsein, das wir haben, wenn wir eine gute Tat begehen.
Exkurs: Der Autonomie-Gedanke in der Ethik Kants Bei den Griechen war die Autonomie (autos-nomos: Selbst-Gesetz im Sinne von Selbstgesetzgebung) ein zentraler, politischer Begriff, der die Forderung der Stadtstaaten nach Selbständigkeit bezeichnete. Nur vereinzelt wurde der Begriff in ethischem Sinne verwendet. Erst in der Neuzeit gewann der Begriff erneut an Bedeutung: zuerst in den Rechtswissenschaften und später, mit Kant, auch in der Ethik.103 Der geistesgeschichtliche Kontext für die Sonderstellung der Autonomie bei Kant war der Kontext der Aufklärung mit ihrem ausgesprochen emanzipatorischen Ideal (vgl. seine programmatische Schrift von 1784: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“). Die pädagogische und staatsphilosophische Konzeption Rousseaus im „Emile“ und „Contrat Social“ haben entschieden auf Kant gewirkt, der diese Konzeption, in deren Mitte die Idee der Freiheit stand, auf die innere Welt des Menschen als eines freien Wesens übertrug. Die Gesellschaftsform, die Rousseau im „Contrat Social“ entwirft, ist die einer Republik, in der alle Bürger dem Gesetz unterstehen, das sie sich selbst geben (Buch I, Kap. 6: vom Gesellschaftsvertrag). Dementsprechend liegt für Kant die Würde Vgl. R. Pohlmann, Art. „Autonomie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. I, 1971, 701–714. 103
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eines vernünftigen Wesens darin, daß es „keinem Gesetz gehorcht als dem“, das es „sich zugleich gibt“ (GMS A 77 = IV 434). Die Würde des Menschen wird also von Kant nicht in Verbindung damit gebracht, daß er allein unter allen Weltwesen das sittlich Gute tun und sich so jenen „absoluten Wert“ zu eigen machen kann, der der gute Wille ist (GMS zu Beginn), wofür die Freiheit unerläßliche Voraussetzung ist. Die Würde des Menschen steht nach Kant direkt in Verbindung mit einer als absolut aufgefaßten Freiheit. „Autonomie ist der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ (GMS A 79 = IV 436) Bereits in seiner theoretischen Philosophie versteht Kant das transzendentale Subjekt als ein autonomes Subjekt, das „der Natur gleichsam das Gesetz vorschreibt“ (KrV B 159; auch 145). Die in der KrV entwickelte Lehre von der Selbstgesetzgebung der theoretischen Vernunft hat Kant nachträglich im Opus postumum mit dem Begriff der Autonomie gekennzeichnet: „Die Transzendentalphilosophie ist Autonomie“ (XXI 59; auch 81). Allerdings hängt die fundamentale Bedeutung des Autonomie-Gedankens in der praktischen Philosophie Kants nicht ab vom selben Gedanken, der in seiner theoretischen Philosophie vorkommt, da ja der erstere bereits um die Mitte der 60er Jahre in seiner ethischen Prinzipienlehre feststand, als die Transzendentalphilosophie mit ihrer sog. Kopernikanischen Wende noch nicht in Sicht war. In der GMS verwendet Kant zum ersten Mal den Terminus „Autonomie“, um seine Einsicht der 60er Jahre zu thematisieren. Dies geschieht in Zusammenhang mit der dritten Formel des kategorischen Imperativs (A 74 = IV 433) und ihr wird ein eigener Abschnitt mit der Überschrift: „Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit“ (A 87 f. = IV 440) gewidmet. In der „Metaphysik der Sitten“ kommt der Terminus an drei Stellen vor, die wichtigste befindet sich im § 52 der Tugendlehre. Man kann mit Recht die Autonomie als eine Grundauszeichnung der Neuzeit ansehen. Mit Machiavelli wurde die Politik von der Moral unabhängig, mit Galilei wurde die Naturwissenschaft von der Philosophie unabhängig, mit Grotius wurde das Recht als Naturrecht von der Theologie unabhängig, mit Kant wurde die Moral vom Glauben an Gott unabhängig. Hinsichtlich des letzteren mag hier genügen, auf das hinzuweisen, was er im Anschluß an sein Postulat Gottes geschrieben hat: „Hierunter wird nicht verstanden, daß die Annehmung des Daseins Gottes als eines Grundes aller Verbindlichkeit überhaupt notwendig sei (denn dieser beruht … lediglich auf der Autonomie der Vernunft selbst)“ (A 226). Eine sachgerechte Beurteilung der Autonomie des Menschen als moralischen Wesens verlangt eine Präzisierung bzw. Differenzierung. Mit dem Wissen um die Freiheit des Menschen ist es wie mit der allen erwachsenen Menschen vertrauten Erfahrung, daß das moralische Gesetz sich in ihrem eigenen Gewissen kund tut, und zwar als ein Gesetz, daß ihnen vom Gewissen selbst auferlegt wird und nicht zuerst von einer äußerlichen Autorität. In diesem Sinne ist es durchaus richtig von einer Eigengesetzlichkeit, also einer Autonomie des Menschen zu sprechen. Die Lehre Kants vom „Faktum der Vernunft“ hat – abgesehen davon, wie er dieses Faktum des näheren interpretiert – ihre Rechtfertigung in dieser allgemein menschlichen Erfahrung. Nun nimmt dieses Sollen des Gewissens den Menschen in Anspruch, noch bevor er die Frage nach dessen letzter
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Fundierung stellt und unabhängig davon, wie er diese Frage beantwortet. Es ist eine Urerfahrung, die für den Menschen ein Erstes ist. Aber die Erfahrung eines Gesetzes, dessen Einhaltung sich vielfach als beschwerlich erweist, führt unausweichlich dazu, sich zu fragen, wer eigentlich uns in die Pflicht nimmt. In geistesgeschichtlich sehr verschiedenen Kontexten haben die Menschen immer wieder diese Frage gestellt. Es ist die Frage, ob der absolut verbindliche Charakter des Sittengesetzes in einem kontingenten Wesen begründet werden kann, wie es der Mensch nun einmal ist, oder ob nicht vielmehr ein unbedingter Imperativ nur von einem unbedingten „Imperator“ erlassen werden kann, in dem Sein und Gutsein (Moralität) identisch sind. Direkt im Hinblick auf den hier zur Debatte stehenden autonomen Charakter des moralischen Gesetzes ist die Frage, ob eine absolute Verpflichtung als Selbstverpflichtung ein sinnvoller Begriff ist, der etwas überhaupt Mögliches besagt. Zur Kantischen Letztbegründung des Gesetzes im Menschen als vernünftigem Wesen schreibt H. Krämer: „Der endliche, menschliche Wille erzeugt wie der göttliche ein unbedingtes Sollen und wendet es dann in eigentümlicher Zirkularität auf sich selbst an. Daß ein Bedingtes, Partikuläres aus sich eine unbedingte Forderung hervorbringt und auf sich selbst bezieht, ist nicht einsichtig zu machen. Eine unbedingte Forderung kann sinnvollerweise nur von einem an sich Unbedingten ausgehen. Der endliche Wille kann aus sich heraus eine solche exzessive Leistung schwerlich erbringen, ohne daß die Gefahr einer Münchhausen-Situation heraufbeschworen wird. Die Rede vom unbedingten Selbstbefehl und Selbstgehorsam ist also keine sinnvolle Rede“104. In ähnlichem Sinne schreibt Thomas von Aquin: „Nullus, proprie loquendo, suis actibus legem imponit“ (Summa theol. I.II, q.93, a.5). Wenn der Mensch keine Instanz über sich hat, die ihn verpflichten kann, so vermag er seine eigene Selbstverpflichtung zurückzunehmen, ohne gegen irgendeine Pflicht zu verstoßen. Denn unter der Hypothese, daß es nur die Pflichten gibt, die der Mensch sich selbst auferlegt, ist eine angebliche Pflicht, die er zurücknimmt, überhaupt keine Pflicht mehr und damit ist ein Verstoß gegen sie nicht möglich. Insofern Kant die Autonomie des Menschen als eine absolute, auch Gott gegenüber, versteht, liegt in seiner Auffassung vom Menschen als ethischem Wesen eine Tendenz zur Vergottung, die im Opus postumum gelegentlich ausdrücklich formuliert wird: „Gott ist die moralisch-praktische sich selbst gesetzgebende Vernunft“ (XXI 145). Kurz danach: „Gott ist keine außer mir befindliche Substanz, sondern bloß ein moralisches Verhältnis in mir“ (XXI 149). Zur selben Tendenz schreibt H. Krämer im bereits zitierten Artikel: „Die Vernunft übernimmt bei Kant die Funktion eines Äquivalents Gottes und gleichsam einer Ersatzgottheit, wie auch das Begriffsfeld von Heiligkeit, Ehrfurcht, Gehorsam, Demut auf theologische Ursprünge zurückverweist … Die Sollensethik erweist sich so als radikalisierte theologische Ethik ohne Gott … Sie hatte die Funktion, die neue säkuläre Autorität durch den Nachweis äquivalenter Leistungsfähigkeit zu sanktionieren und zu legitimieren“105. 104 H. Krämer, „Antike und moderne Ethik?“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 80 (1983) 184–203, hierzu 187f. 105 H. Krämer, „Antike und moderne Ethik?“, ebd. 186f.
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Aus dem Gesagten zeigt sich, daß die Autonomie und mit ihr die Freiheit für Kant Grundlage, Maßstab und Ziel der Moralität des Menschen darstellt. Infolgedessen kann er ohne weiteres die Moralität folgendermaßen definieren: „Moralität ist das Verhältnis der Handlungen zur Autonomie des Willens“ (GMS A 85 = IV 439). Und noch entschiedener: „Ein kategorischer Imperativ gebietet nichts mehr oder weniger als gerade diese Autonomie“ (GMS A 88 = IV 440). Auf dieser Linie liegt auch eine Aussage in der „Moralphilosophie Collins“: „Der innere Wert der Welt, das summum bonum, ist die Freiheit“ (XXVII 344). Der Satz Juvenals in A 56 bestätigt, daß nach Kant der Wille in dem Sinne und deshalb frei ist, weil er sich selbst will.106 Das moralische Gesetz, schreibt Kant weiter, „interessiert, weil es für uns Menschen gilt, da es aus unserem Willen als Intelligenz, mithin aus unserem eigentlichen Selbst entsprungen ist“ (A 123 = IV 461). Es ist aber charakteristisch für das Denken Kants, daß Lehrstücke, die eine prinzipielle und damit allgemeine Gültigkeit haben, nicht selten differenziert bzw. korrigiert werden, wenn es um ihre Anwendung geht, ohne daß das Prinzip allerdings rückwirkend in Frage gestellt würde. So kann Kant nicht umhin, sich angesichts konkreter Probleme, die die moralische Verbindlichkeit berühren, sich auf Gott zu berufen und somit die Autonomie des Menschen zu relativieren. Damit wird eine doppelte gesetzgebende Instanz eingeführt, die Quelle einer Spannung ist, welche die Ethik Kants durchzieht.107 So wagt er z. B. nicht, nachdem er das „Reich der Zwecke“ als auf der Gesetzgebung des Menschen gegründet eingeführt hat, denselben Menschen zum Oberhaupt dieses Reiches zu deklarieren (GMS A 75 = IV 433 f.). Das Gleiche in der KpV, A 147: „Wir sind zwar gesetzgebende Glieder eines durch Freiheit möglichen … Reiches der Sitten, aber doch zugleich Untertanen, nicht das Oberhaupt desselben“. Im Falle der Definition der Religion behauptet Kant in aller Ausdrücklichkeit, daß all unsere Pflichten „wesentliche Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst“ sind, zugleich aber stellt er notdürftig einen Zusammenhang dieser von uns selbst auferlegten Pflichten mit Gott durch ein „als“ (= als ob!) her, um dadurch seine moralische Religion zu begründen (A 233). Vgl. oben Fn 89, S. 99. Wegen der Spannungen, die die theoretische wie die praktische Philosophie Kants aufweist, zählt Nicolai Hartmann Kant zu den Philosophen, die sich durch eine „aporetische“ im Unterschied zu einer „systematischen“ Denkweise auszeichnen. Es sind Denker, die in erster Linie darauf bedacht sind, Probleme so weit wie möglich zu verfolgen, ohne sich allzu viel darum zu kümmern, ob die Argumentation an irgendeiner Stelle gegen Ansichten verstößt, die sie selbst in anderen Zusammenhängen vertreten. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, daß ein aporetischer Denker nicht auch versuchen würde, aus den verschiedenen behandelten Problemen ein kohärentes Ganzes, ein System zu bilden. Aber dies ist nicht sein primäres Anliegen. Bei Kant zeigt sich, bei aller (eher äußerlichen!) Mühe um das Systematische, ein „entschiedenes Übergewicht der aporetischen Tendenz“ (N. Hartmann, „Diesseits von Idealismus und Realismus. Ein Beitrag zur Scheidung des Geschichtlichen und Übergeschichtlichen in der Kantischen Philosophie“, in: KS 29 (1924) 160–266, hierzu vor allem 163–167). Im Gefolge von Hartmann spricht auch G. Martin davon, daß „die eigentümliche Zweigleisigkeit des kritischen Denkens ein Spezifikum des Kantischen Denkens ist“ (Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie, 209, auch 160). 106 107
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Anmerkung II (A 61–71) In dieser Anmerkung können wir zwei Teile unterscheiden. Die ersten neun Absätze (A 61–68) setzen die Kritik an der Lehre fort, die die Glückseligkeit zum Bestimmungsgrund des Willens macht. Der übrige Teil (A 68–71) stellt sämtliche Prinzipien der Sittlichkeit vor, die vom rein formalen Grundsatz abweichen, und faßt sie unter dem Begriff von „materialen Prinzipien der Sittlichkeit“ zusammen. A 61: Abs. 1. Als Widerspiel des im § 7 definierten „Prinzips der Sittlichkeit“, auf das die Ausführungen von Anfang der KpV an hingewiesen haben, gilt das „Prinzip der eigenen Glückseligkeit“, wenn dieses „zum Bestimmungsgrund des Willens gemacht wird“, d. h. wenn das jedem vernünftigen Wesen innewohnende Verlangen nach Glück (A 45) für das allumfassende Handlungsmotiv gehalten wird. Zum letzteren müsse alles gezählt werden, was den Bestimmungsgrund des Willens „irgend worin anders als in der gesetzgebenden Form der Maxime setzt“. Unter den Sammelbegriff der „Glückseligkeitslehre“ als Gegenbegriff zur „Sittenlehre“ (A 165) fallen nach Kants Dafürhalten nicht weniger als „alle (!) bisherigen materialen Prinzipien der Sittlichkeit“ (A 69), die gegen Ende des Abschnittes in einer Tafel namhaft gemacht werden. Ein solches Urteil über die gesamte Geschichte der philosophischen Ethik ist offenkundig die direkte Folge der Lehrsätze I und II, denen zufolge Handeln um des jeweils gewollten Gegenstandes willen, also um der „Materie“ willen, einem Wollen um der eigenen Glückseligkeit oder Selbstliebe willen gleichkommt. Unter einer solchen Perspektive bleibt der Vernunft nur die „technisch“-instrumentelle Aufgabe, die wirksamsten Mittel zum Glück ausfindig zu machen. Es ist aber mehr als zweifelhaft, ob die klassische eudämonistische Ethik im Glücksstreben das Handlungsmotiv dafür gesehen hat, dies oder jenes zu wollen und zu tun. Ein solches Motiv würde nämlich, anstatt dem Menschen eine Orientierung zu gewähren, ihn dem Spiel von Augenblicksstrebungen ausliefern. Das Glück ist kein materiales Handlungsmotiv; es richtet uns vielmehr auf ein Letztes hin, das allein um seiner selbst willen erstrebt werden kann, so daß in ihm alles Streben zur Ruhe kommt. Einen solchen Zustand nennt man Glückseligkeit im vollen Sinne des Wortes. Erst infolge der Dynamik auf dieses Letzte hin eröffnet sich uns der Horizont sinnvoller Handlungen, die in einem vernunftgeleiteten Mittel-Ziel-Zusammenhang stehen. Diese Handlungen nehmen ihren Maßstab an dem, was der Mensch in seiner Leib-Seele Wesenseinheit ist, weil sie von der Orientierung auf das für den Menschen Erstrebenswerte und somit Gute getragen sind. Aufgabe der praktischen Vernunft ist es zu beurteilen, was für den Menschen das jeweils zu bewirkende oder zu erreichende Gute ist. Mit der Einsicht, daß der Weg zum Glück darin besteht, das Gute zu tun, weil es gut ist, und daß gerade dadurch das Leben eines Menschen als gelungen gilt, gibt es noch keine völlige Klarheit über jenes Letzte, in dem sämtliche Strebungen des Menschen erfüllt sein werden, zumal wenn wir die postmortale Dimension des Menschen als Person berücksichtigen. Hierin liegt, historisch gesehen, der große Unterschied zwischen der „eudämonia“ der klassischen Tugend-Ethik und der „beatitudo“ der mittelalter-
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lichen Denker, die die Ethik der Antike im Kontext des christlichen Glaubens übernahmen und weiterentwickelten. Als gemeinsames tragendes Element bleibt die Einsicht weiter bestehen, die in dem Guten, das der Wille als rationales Streben verlangt, das Handlungsmotiv sieht.108 Charakteristisch für die Zeit, zu der Kant seine Ethik verfaßte, war es, daß unter den Kernfächern der Philosophie die Ethik in den Vordergrund getreten war. Sie ging ausdrücklich von dem Streben nach Glück aus, das der Seele des Menschen innewohnt. Dementsprechend fiel der Ethik als Glückseligkeitslehre die Aufgabe zu, den Menschen dahin zu leiten, daß er diesem Streben mit Vernunft (dem Leitwort der Aufklärung!) genüge. Programmatisch lautet der Titel, den Wolff seiner deutschen Ethik gab: „Vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgeteilt“. Die zur Zeit Kants rege geführte Diskussion um die Moral stand immer noch unter dem Einfluß des Moralsystems, das Wolff in all den dazu gehörigen Sparten einige Jahrzehnte vorher in lateinischer Sprache den Gelehrten Europas vorgelegt hatte. Vollkommenheit und Glückseligkeit waren die Grundbegriffe dieser Ethik – wobei für das richtige Verständnis des zweiten seine Verbindung mit dem ersten zu beachten ist. In diesem Sinne bestand wohl eine Kontinuität mit der Vergangenheit, die in der „beatitudo“ den inneren Endzweck des Menschen sah, der durch die Übung der Tugenden zu erreichen ist. Aber die Verteilung der Gewichte hatte sich geändert. Im Geist der Aufklärung wurde der Mensch mehr aus seinen eigenen Antrieben als aus seinem (transzendenten) Endziel verstanden; es galt deshalb, die prinzipiell gutartige Veranlagung seiner Natur zu entfalten, damit er schon hier auf Erden die größtmögliche Vollkommenheit und zusammen mit ihr die Glückseligkeit erreichen kann. Trotz dieser Vorrangstellung der Glückseligkeit in ihrer diesseitigen Dimension sowie anderer Unzulänglichkeiten, die man bei den sog. „Popularphilosophen“ und überhaupt bei den Autoren der damaligen Zeit entdecken mag, kann man schwerlich ihre Ethik-Entwürfe samt und sonders über den Kamm einer auf das untere Begehrungsvermögen bezogenen Glückseligkeitslehre scheren. Kant tat dies, weil er, wie schon gezeigt, alle Handlungsmotive, die nicht das rein formale Prinzip eines Willens sind, der seine eigene Autonomie will, für heteronom hielt, und zwar im Sinne einer hedonistisch aufgefaßten Fremdgesetzlichkeit. A 62: Abs. 2–6. Das Prinzip der Glückseligkeit wird anhand zweier extremer Beispiele eines Verhaltens dargestellt, das „bloß auf eigene Vorteile“ bedacht ist. (Abs. 3) Gegen dieses Prinzip führt Kant zuerst ins Feld, daß „selbst wenn man sich die allgemeine Glückseligkeit zum Objekte machte“, darauf keine streng allgemeinen Regeln zu gründen seien, sondern bloß gemeingültige Regeln, die in der Tat endlose Verschiedenheit zulassen würden, je nachdem worin für den einzelnen seine Glückseligkeit besteht. Nebenbei bemerkt Kant, daß bei den Maximen der Glückseligkeit „das Objekt der Willkür der Regel derselben zum Grunde gelegt (werden) und also Zum Thema „Glücksstreben und Handlungsmotive“ vgl. M. Rhonheimer, Perspektive der Moral, 91–96. 108
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vor dieser vorhergehen muß“. Mit dieser an sich selbstverständlichen Bemerkung – alles Wollen muß ja einen Gegenstand haben (A 60) – spielt Kant auf das an, was er im zweiten Hauptstück der Analytik „das Paradoxon von der Methode der Kritik der praktischen Vernunft“ (A 110) nennt, demzufolge für das moralische Gesetz – nach der Kantischen Theorie – das Gegenteil gilt. (Abs. 4) Die Glückseligkeit als Ziel, die auf die Maxime der Selbstliebe hinausläuft, gründet jene Art von hypothetischen Imperativen, die in der GMS „Ratschläge der Klugheit“ genannt wurden (A 42–44 = IV 415f.). (Abs. 5) Die Erwähnung der Klugheit, die nötig ist, um seinen eigenen Vorteil zu sichern, veranlaßt Kant, eine Eigenschaft des Sittengesetzes hervorzuheben, auf die er mehrmals im Laufe dieses Werkes hinweist (vgl. A 154 und vor allem den abschließenden Teil über die Methodenlehre; auch GMS A 21 = IV 404), daß nämlich selbst „für den gemeinsten Verstand ganz leicht und ohne Bedenken einzusehen ist“, was das moralische Gesetz gebietet. Damit antwortet Kant auf einen Einwand von Pistorius, der in seiner Rezension der GMS bestritten hatte, Kants Moralprinzip könne bei gewöhnlichen Menschen etwas „ausrichten“. Es muß aber auch bedacht werden, daß Kant leicht behaupten konnte, daß „was Pflicht sei, sich jedermann von selbst bietet“, weil er mit seinem Formalismus die jeweilige Pflicht vom Objekt, also vom objektiven Gut abgekoppelt, und so die Pflicht auf die der Form der Allgemeinheit reduziert hatte.109 Die Schwierigkeit kehrt aber auch in der Ethik Kants wieder, wenn es darum geht herauszufinden, welche Maxime die Form der Allgemeinheit annehmen kann. „Denn es ist ebenso schwierig zu sehen, ob eine ähnliche Handlung eines anderen, mit all ihrer konkreten Eigentümlichkeit, richtig ist, wie es schwierig ist zu sehen, ob die von mir beabsichtigte Handlung richtig ist“110. (Abs. 6) Ein zweiter Unterschied zwischen den Geboten der Sittlichkeit und den Vorschriften der Glückseligkeit liegt darin, daß es uns immer möglich ist, moralisch zu sein, nicht aber glücklich zu werden. Denn Gegenstand einer sittlichen Wertung ist der Akt der inneren Selbstbestimmung und die damit frei angenommene Gesinnung. Die daraus frei entspringenden Handlungen, soweit sie zum Gewollten gehören, können unabhängig von unserem Willen verhindert werden oder mangels physischen Vermögens bzw. infolge ungünstiger Umstände nicht zum Ziel kommen. A 65: Abs. 8. Die Übertretung eines sittlichen Gesetzes ist nach der Idee der Gerechtigkeit mit „Strafwürdigkeit“ verbunden. Letztere aber ist nicht mit dem physischen Übel zu verwechseln, das als natürliche Folge mit dem Moralisch-Bösen verbunden sein kann. Wenn man aber beides identifiziert (Böses = Übel), so würde die Unterlassung der Strafe bewirken, daß ein Verbrechen kein Verbrechen mehr ist! Denn nach dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit oder dem Prinzip der Selbstliebe 109 Eine weitere Konsequenz dieser Abkoppelung ist, daß die tatsächliche Durchführbarkeit dessen, was man als gesetzmäßig will, in Kants Analyse der praktischen Überlegung kaum eine Rolle spielt. Vgl. z.B. A 79f. 110 D. Ross, Kant’s Ethical Theory, 34.
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(vgl. Lehrsatz II) besteht das Ziel der Freiheit und damit der Moralität (!) darin, die eigene Glückseligkeit hervorzubringen; umgekehrt würde die Unsittlichkeit darin bestehen, daß man gegen die eigene Glückseligkeit verstößt. Wenn wir nun vom physischen Übel absehen, das Folge bestimmter Handlungen sein kann (was aber nicht immer der Fall ist), so würde die Unterlassung der Strafe, die die böse Handlung der Gerechtigkeit nach verdient, den Grund eliminieren, warum die in Frage stehende Handlung als moralisch böse zu gelten hat! Noch weniger können Strafe und Belohnung als die Mittel angesehen werden, durch die Gott die endlichen vernünftigen Wesen zu ihrem Endzweck (der Glückseligkeit) führen will. A 67: Abs. 9. Kant hat in den vorhergehenden Absätzen die Glückseligkeitslehre deshalb kritisiert, weil sie die eigene Glückseligkeit zum Motiv des Wollens und Tuns macht. Jetzt zieht er den „moralischen Sinn“ (oder „moralisches Gefühl“: A 68) in seiner Beziehung zum freien Wollen und Handeln des Menschen in Betracht. Mit dem „moralischen Sinn“ hatte sich Kant bereits zu Beginn seiner langjährigen Reflexion über Ethik befaßt, nämlich in der Preisschrift „Über die Deutlichkeit der Grundsätze“ (vgl. „Der Werdegamg der Ethik Kants“, Nr. 6, S. 33), aber unter einer anderen Perspektive. Damals griff Kant zum „moral sense“ der britischen Moralisten als dem Vermögen eines Wohlgefallens, das uns die Güter erkennen läßt, welche als „materiale erste Gründe“ unter das formale Prinzip der Verbindlichkeit fallen. Es ging also um das „Dijudikationsprinzip“, nicht um das „Exekutionsprinzip“ der Moral (vgl. Moralphilosophie Collins: XXVII 263). An unserer Stelle dagegen wird der moralische Sinn als Bestimmungsgrund des Willens betrachtet. Gemeint ist das Gefühl der Zufriedenheit, das mit der Einhaltung des Sittengesetzes verbunden ist, bzw. das Gefühl der Seelenunruhe, das die eigenen Vergehen als Motivation des Tuns und Lassens begleitet. Unter diesem Aspekt ist die Lehre vom moralischen Sinn eine Variante der Glückseligkeitslehre. Dagegen wendet Kant ein: Um solche Gefühle als Triebfedern des Handelns zu erfahren, muß der Handelnde „schon zum voraus, wenigstens in einigem Grade, moralisch gut sein“. D. h. also, diese Gefühle setzen jene Moralität voraus, die sie bewirken sollten (ein ähnliches Argument legt Kant in seiner Auseinandersetzung mit Epikur vor: A 208f.). Damit aber will Kant nicht bestreiten, daß ein wiederholtes Handeln um des Gesetzes willen „ein Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst wirken könne“, das für die Moralität förderlich ist. „Vielmehr gehört es selbst zur Pflicht“, ein so verstandenes Gefühl „zu gründen und zu kultivieren“. Kurz: Das moralische Gesetz ist Gegenstand der Vernunft, nicht der Empfindung. Das hier angeschnittene Thema des moralischen Gefühls kommt im weiteren Verlauf des Werkes mehrmals wieder und zeugt vom Ringen Kants um eine angemessene Würdigung dieses typisch menschlichen Phänomens. Der geeignete Rahmen für dieses Thema ist das dritte Hauptstück der Analytik, in dem Kant die Beziehung des Sittengesetzes zur Sinnlichkeit behandelt (vgl. A 133–135. Zur „Selbstzufriedenheit“ als einem dem tugendhaften Handeln folgenden Zustand vgl. auch im Abschnitt über die „Aufhebung der Antinomie“, Abs. 6–7: A 211–214).
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A 67: Abs. 10–11 liefern eine systematische Klassifikation aller möglichen (und in der Tat, so Kant, von den verschiedenen Autoren vorgeschlagenen) materialen praktischen Prinzipien. Ihre Widerlegung bestätigt, daß das einzige gültige Prinzip der Sittlichkeit in dem von Kant vorgetragenen formalen Prinzip liegt. Das Schema geht zurück auf die Vorliebe Kants für jene „Architektonik“ oder „Kunst der Systeme“ (KrV A 832), die uns immer wieder in seinen Schriften begegnet und deren Umsetzung sich an manchen Stellen nicht bewerkstelligen ließ, ohne dem Inhalt eine gewisse Gewalt anzutun. Dies sieht man unter anderem daran, daß die hier aufgeführten Auffassungen des moralischen Prinzips mit einiger Willkür bestimmten Denkern zugeschrieben werden, denen Kant an anderen Stellen eine andere Ansicht bescheinigt hatte. In der Tat finden sich in den früheren Schriften Kants andere Klassifikationen: in den RR 6631 und 6637 (XIX 118 f. und 121 f.) gegen Ende der 60er Jahre; in der von P. Menzer 1924 edierten „Vorlesung über Ethik, 14–16 (jetzt auch in XXVII 253–255); in der GMS A 89–96. Der Hauptunterschied zwischen der Gliederung in den zwei Grundlegungsschriften liegt darin, daß in der GMS alle anderen, vom Kantischen Prinzip der „Autonomie“ verschiedenen Prinzipien unter dem Begriff der „Heteronomie“ stehen, während in der KpV alle anderen, vom Kantischen „formalen obersten Grundsatz“ verschiedenen, Prinzipien unter dem Begriff der „materialen Prinzipien“ stehen. Außerdem wurde im ersten Werk die Zweiteilung in empirische und rationale Prinzipien so ausgelegt, daß die empirischen Prinzipien aus der Suche nach Glückseligkeit stammen, während die rationalen Prinzipien aus der Suche nach Vollkommenheit stammen. In der KpV dagegen werden sämtliche materialen Prinzipien (einschließlich der rationalen) im Zusammenhang mit der Suche nach Glückseligkeit erwähnt. Inhaltlich erweitert die Tabelle der KpV die Klassifikation der GMS um zwei äußere subjektive (empirische) Prinzipien. In seiner Erläuterung der Tafel geht Kant nicht auf die subjektiven (empirischen) Prinzipien ein, wohl deswegen, weil er es für „offenbar“ hält, daß sie alle zum Glückseligkeitsprinzip gehören. Eigens erörtert werden nur die Prinzipien, die sich auf die Vernunft gründen und die deshalb als objektiv gelten. Sie werden in innere und äußere eingeteilt. Die ersteren sind diejenigen, die als Grundgesetz der praktischen Vernunft das Streben nach der Vollkommenheit des Menschen in praktischer Bedeutung nehmen, d. h. seine Tauglichkeit (Talent und Geschicklichkeit), Zwecke zu verfolgen. Vollkommenheit wird hier also im Sinne einer Entfaltung seiner Natur verstanden. Damit aber liegt der Bestimmungsgrund des Willens in einem vorgegebenen Objekt; deshalb ist ein solcher Bestimmungsgrund, gemäß den Lehrsätzen I und II, kein anderer als die zu erwartende Glückseligkeit. Unter das Verdikt des „Epikureischen Prinzips“, auf das Kant das rationale Prinzip der Vollkommenheit zurückgeführt hat, fallen hier Wolff und die Stoiker. Ähnliches gilt für das objektive äußere Prinzip der Vollkommenheit. Ein solches ist Gott als „höchste Vollkommenheit in Substanz“, die zu allen Zwecken zulänglich ist. In diesem Falle bedeutet die Vollkommenheit als Bestimmungsgrund des Willens, daß die Glückseligkeit, die wir von Gott (wegen der Übereinstimmung mit seinem Willen,
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wie Crusius das Moralprinzip in seiner „Anweisung vernünftig zu leben“, § 174, aufgefaßt hat)111 erwarten, als Bewegursache des Willens wirkt. Sind alle möglichen und vorgeschlagenen Prinzipien material und damit untauglich zum obersten Sittengesetz, so bleibt nur das formale Prinzip als echtes Prinzip der Sittlichkeit übrig. Kant formuliert es nochmals wie folgt: „Die bloße Form einer durch unsere Maximen möglichen allgemeinen Gesetzgebung macht den obersten und unmittelbaren Bestimmungsgrund des [guten!] Willens aus“; sie allein ist Beurteilungsprinzip und Handlungsmotiv.
I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft (A 72–87) Daß es in der zweiten Kritik einen Abschnitt gibt, in dem, laut Überschrift, eine Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft vorgenommen wird, geht auf den Versuch Kants zurück, von der Gliederung der ersten Kritik möglichst viel auf seine späteren Werke zu übertragen (vgl. „Der Werdegang der Ethik Kants“, Nr. 14, S. 54). In der KrV hatte Kant, nachdem er die Tafel der reinen Verstandesbegriffe aufgestellt hatte (A 80), eine „transzendentale Deduktion“ derselben durchgeführt (A 84 ff.). Mit dieser Redewendung war dort nicht eine „Ableitung“ dieser Begriffe a priori oder Kategorien gemeint, wie der Terminus „Deduktion“ an sich besagt und wie er tatsächlich auch von Kant an anderen Stellen verstanden wird. An der genannten Stelle der KrV bedeutet „transzendentale Deduktion“ den Beweis der objektiven Geltung der reinen Verstandesbegriffe, daß sie nämlich, obwohl sie a priori sind, sich auf Objekte beziehen können (A 85). Es handelt sich um die Antwort auf jene Frage, die Kant am 21. Februar 1772 seinem ehemaligen Schüler Marcus Herz gestellt hatte und aus der schließlich der Transzendentalidealismus der ersten Kritik hervorgegangen ist. Wenn man die Ausführungen im vorliegenden Abschnitt betrachtet, soweit sie tatsächlich das moralische Gesetz und nicht die mit ihm „unzertrennlich verbundene“ Freiheit betreffen, so könnte man meinen – gemäß dem Sinn von transzendentaler Deduktion in der ersten Kritik sowie gemäß der Definition von transzendentaler Deduktion in diesem Abschnitt selbst (KpV A 80) –, daß sie sich mit der Objektivität des Gesetzes im Sinne seiner Anwendbarkeit befassen. In der Tat aber geht es hier um den Erweis der Realität jenes Gesetzes, die in den ersten zwei Abschnitten der GMS und in den ersten sechs Paragraphen der KpV den epistemischen Status einer Hypothese 111 Mit seinem Prinzip des Gehorsams gegen den Willen Gottes redet Crusius keineswegs einer voluntaristischen Auffassung von Gut und Böse das Wort. Vielmehr setzt er den „Befehl“ des Schöpfers mit der wesentlichen, also inneren Vollkommenheit der Natur des Menschen in Verbindung. Dies wird weiter geklärt im Theologie-Teil seines „Entwurfs der notwendigen VernunftWahrheiten“, §§ 283, 284; im § 286 heißt es: „Die Tugend ist zwar der wesentlichen Vollkommenheit der Dinge gemäß, und dieses Prädikat kommt ihr zu auch ohne Absicht auf den befehlenden Willen Gottes.“
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hatte. Wir sind also mit dem Problem konfrontiert, das weiter oben im Zusammenhang mit dem von Kant genannten „Faktum der Vernunft“ erörtert wurde (S. 98 f.). Wenn aber Kant bereits vergeblich einen solchen Erweis versucht hatte und statt dessen oben im § 7 von einem Faktum spricht, so fragt man sich, wieso hier laut der Überschrift des Abschnittes ein neuer Versuch vorgelegt wird. Die einzig plausible Antwort auf diese Frage scheint der Verweis auf die Abfassung des Werkes zu sein.112 Trotz der Notizen aus dem Briefwechsel Kants und von Zeitgenossen, die eher die äußeren Umstände betreffen, ist uns die Art und Weise, wie Kant seine zweite Kritik niederschrieb, weitgehend unbekannt. Aber aus dem exemplarischen und uns besser bekannten Fall der ersten Kritik sowie aus allen anderen späteren größeren Veröffentlichungen – was den Inhalt und die Anordnung ihrer verschiedenen Teile und Themen anbelangt – können wir mit ziemlicher Sicherheit darauf schließen, daß ihre Abfassung nicht aus einem Guß und als Entfaltung eines durchdachten Grundplans geschah. In den Werken Kants, wie sie herauskamen und uns jetzt vorliegen, sind nicht selten Teile enthalten, die nicht die Position wiedergeben, zu der Kant sich nach wiederholten Versuchen schließlich durchrang. Auch vorläufige und später überholte Ausarbeitungen bestimmter Themen wurden z.T., eventuell mit späteren Korrekturen und Ergänzungen, in die endgültige Redaktion aufgenommen. Es ist freilich schwierig, diese umfassende Hypothese im Hinblick auf ein bestimmtes Stück eines Werkes genau zu konkretisieren. Aber daß so etwas, wie das hier Erwähnte, die Ursache der äußerst ungeordneten Anordnung der KpV, ihres Inhalts und ihrer Argumentationsweise gewesen sein muß, ist eine Erklärung, zu der es m. E. keine ernsthafte Alternative gibt. Die hier zu analysierende Deduktion des Sittengesetzes gibt wahrscheinlich einen letzten Versuch Kants wieder, in dem er an das Sittengesetz von verschiedenen Ansatzpunkten aus heranging (dies würde die verschiedenen Themen erklären, die in diesem Stück nochmals erörtert werden), bis ihm klar wurde, daß die Existenz eines moralischen Gesetzes im Menschen ein primum quoad nos darstellt, das sich uns in unserem Gewissen kundgibt. Es handelt sich dabei um eine innere Erfahrung, die in dem Sinne „transzendental“ genannt werden kann, wie Kant die a priori gegebenen Bestandteile unserer Erkenntnis „transzendental“ nennt. In der Tat qualifiziert er im vorliegenden Abschnitt (A 81) das im § 7 ziemlich abrupt eingeführte „Faktum der Vernunft“ als a priori. A 72: Abs. 1–3. Der Abschnitt beginnt mit einer Zusammenfassung des bisher Vorgetragenen, wofür zwei Begriffe erwähnt werden, die mit dem moralischen Gesetz am 112 In seiner Studie über die Deduktion des Sittengesetzes in der GMS macht D. Henrich eine Bemerkung, die in dieselbe Richtung zu gehen scheint wie mein Erklärungsversuch dieser Deduktion in der KpV. Henrich weist darauf hin, „daß nahezu alle wichtigsten Partien Kants in großer Eile niedergeschrieben sind. Diese Eile … war wohl ein Mittel, die schwierige Integration kaum übersehbar vieler Gedankenmotive in einen Text … überhaupt zustande zu bringen. Entsprechend groß sind aber auch die Verständnisschwierigkeiten“, in: „Die Deduktion des Sittengesetzes“, 108. Vgl. auch oben „Der Werdegang der Ethik Kants“, Nr. 14, S. 53 über die rasche Abfassung der KpV.
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engsten verbunden sind. Erstens die Autonomie als die Art und Weise, wie die reine Vernunft den Willen bestimmen kann und sich so durch ein Faktum als praktisch erweist. Zweitens die Freiheit, die, wie Kant selbst es ausdrückt, „einerlei“ mit dem genannten Faktum ist. Gerade weil die praktische Vernunft den Willen „unabhängig von allem Empirischen“ bestimmt, ist sich der Mensch, der als in der Sinnenwelt handelnd dem deterministischen Gesetz der Kausalität unterworfen ist, bewußt, zu „einer intelligiblen Ordnung der Dinge“ zu gehören. (Abs. 2) Nach der Erinnerung an das bisher Gesagte wird die umgekehrte Anordnung des analytischen Teils der KpV im Vergleich zur KrV in Erinnerung gebracht, auf die Kant bereits in der Einleitung (A 31 f.) aufmerksam gemacht hat. Der Umstand, daß der analytische Teil der KrV mit der sinnlichen Anschauung anfängt,113 gibt Kant Anlaß, seine Lehre von der zweigliedrigen Struktur der Erkenntnis (KrV A 19, 50 f.) nochmals darzulegen. Insbesondere erwähnt er (in einer etwas verkürzten Weise), daß synthetische, d. h. erweiternde Erkenntnis nur durch die Anwendung der zwei reinen Anschauungen der Sinnlichkeit sowie der reinen Begriffe und Grundsätze des Verstandes auf eine empirische Anschauung zustande kommt; dabei aber ist die resultierende Objekterkenntnis auf den Bereich der möglichen Erfahrung, den Bereich der Erscheinungen, beschränkt. Diese Einschränkung macht es möglich, ja notwendig, Objekte als Noumena zu denken (vgl. A 251; B XXVI f.), ohne allerdings sie positiv erkennen zu können. Als einen solchen Fall nennt Kant die Freiheit negativ betrachtet, d. h. als Unabhängigkeit vom Empirischen. Gerade deshalb wird sie von den Grundsätzen der Sinnenwelt nicht tangiert und ist so mit ihnen vereinbar. (Abs. 3) Mehr noch, das moralische Gesetz zeigt sich uns als ein theoretisch unerklärliches Faktum (das „Faktum der Vernunft“), das auf eine reine Verstandeswelt (noumenale Welt) hinweist, von der wir positiv die Freiheit als deren Gesetz erkennen. A 74: Abs. 4. Das zur Verstandeswelt gehörende moralische Gesetz wird in bezug auf die doppelte Natur des Menschen betrachtet. Der in diesem Kontext mehrmals verwendete Terminus „Natur“ wird bei Kant in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet (vgl. vor allem „Prolegomena“ §§ 36 und 14). Natur in materieller Bedeutung ist „der Inbegriff aller Erscheinungen“, aller Gegenstände der Erfahrung: ein Totalitätsbegriff. Natur in formeller Bedeutung bezieht sich auf dieselben Dinge, insofern sie unter allgemeinen Gesetzen (den Naturgesetzen) stehen. Von hier aus kann Natur in formaler Bedeutung auch direkt den Inbegriff der Gesetze selbst bezeichnen. Auch der Terminus „übersinnlich“ ist zu beachten, der in der KpV mehrmals verwendet wird, während er in der KrV ein einziges Mal vorkommt, und zwar in der Vorrede zur 2. Auflage (1787), S. XXI f., also in zeitlicher Nähe zur KpV. Dort wird gefragt, ob die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch zu jener Metaphysik gelangen kann, für die die spekulative Vernunft einen leeren Raum gelassen hat. Damit würde der praktischen Vernunft jenes „Fortkommen im Felde des Übersinnlichen“ gelingen, das Kant scheint hier die transzendentale Ästhetik zur Analytik zu rechnen – was aber der tatsächlichen Gliederung der ersten Kritik nicht entspricht. Vgl. auch zu A 161, S. 197. 113
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der spekulativen Vernunft verwehrt ist. Derselbe Gedanke, der auf jene „Ergänzung“ anspielt, die die KpV in ihrem Dialektik-Teil zur KrV beisteuern soll (vgl. den Brief Kants an Schütz: X 490), wurde schon in der Vorrede A 8 gestreift. Das moralische Gesetz erlegt, als das Grundgesetz einer übersinnlichen Natur in den Vernunftwesen, die in sich eine sinnliche mit einer übersinnlichen Natur vereinen (also im Menschen),114 dem Willen die Aufgabe auf, der Form der Verstandeswelt entsprechend, welche unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft steht, ein Gegenbild in der Sinnenwelt zu schaffen. Gemeint sein dürfte jenes „Reich der Zwecke“, von dem in der GMS im Zusammenhang mit der dritten Formel des kategorischen Imperativs die Rede ist: „die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“ (A 74). Es heißt ja am Ende des Absatzes, daß das moralische Gesetz unseren Willen bestimmt, „der Sinnenwelt als einem Ganzen vernünftiger Wesen“ die Form zu erteilen. Daß das moralische Gesetz im Menschen auf die sinnliche Natur (einschließlich seiner eigenen) wirken kann, ohne doch deren „Mechanismus Abbruch zu tun“, daß also die Kausalität durch Freiheit sich mit der Kausalität nach Gesetzen der Natur (KrV A 444) vereinbaren läßt, hat Kant in seiner Auflösung der dritten Antinomie anhand seiner Zwei-Welten-Theorie dargelegt (KrV A 532–558). Derselbe Versuch, Naturdeterminismus und Freiheit zu versöhnen, kommt immer wieder in der KpV vor; am ausführlichsten am Ende der Analytik (A 169–191). Dort soll er näher erörtert werden. Zusammen mit der Verstandeswelt, in die uns das moralische Gesetz versetzt, erwähnt Kant beiläufig „das höchste Gut“, um dessen Verwirklichung die Überlegungen Kants im Dialektik-Teil der KpV kreisen. A 75: Abs. 5–7. Daß die Idee der übersinnlichen Natur, in die uns das moralische Gesetz versetzt, wirklich unseren moralischen Willensbestimmungen als Muster zugrunde liegt, wird durch einige Beispiele bestätigt, in denen es darum geht, wie wir eine Maxime anhand des Kriteriums der Allgemeinheit nachprüfen. Näherhin fragen wir, ob unsere Maximen „zum allgemeinen Naturgesetz werden“ können. Damit greift Kant auf die zweite Fassung seiner ersten Formel des kategorischen Imperativs zurück Aufschlußreich ist, wie Kant hier von der sinnlichen Natur des Menschen spricht: Die Gesetze des sinnlichen Bestandteils des Menschen gehören schlechthin zur „Heteronomie“. Wenn man die Tendenz der KpV berücksichtigt, die moralische Dimension des Menschen ausschließlich für eine Sache der Vernunft zu halten, und bedenkt, daß jegliche Motivation aus der Sinnlichkeit als den Forderungen der praktischen Vernunft mit ihrer Autonomie entgegengesetzt gilt, so geht man nicht fehl, die Anthropologie Kants als dualistisch zu bezeichnen. In diesem Absatz ist die Gleichung zu beachten: moralisches Gesetz = Autonomie der reinen praktischen Vernunft = Gesetz einer übersinnlichen Natur. Gewiß ist der Mensch kraft seiner Geistigkeit Person; aber die menschliche Person ist der ganze Mensch, Leib und Seele, nicht allein seine Vernunft. Die Gesetze seiner Sinnlichkeit sind nicht Gesetze einer „bloßen“ Natur, wie die der untermenschlichen Realität; sie sind vielmehr Gesetze seiner eigenen Wesenseinheit, die die Einheit einer Person ist; sie sind deshalb durch die Vernunft in das freie und verantwortliche Leben des Menschen zu leiten und zu integrieren. Eine solche Integration ist vielfach Aufgabe der Tugenden. 114
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(GMS A 52), in der das Naturgesetz (das keine Ausnahmen zuläßt!) als Modell für die Verallgemeinerung in der Ethik genommen wird. Die Idee einer übersinnlichen Natur, die wir nach Kant für die Bestimmung unseres Willens als Muster vor Augen haben, ist, wie ich oben bei der Diskussion über die erste und zweite Formel des kategorischen Imperativs ausgeführt habe, in der Tat die Idee der menschlichen Natur (das Menschenbild), die als solche nicht sinnlich gegeben, sondern durch den Verstand erkannt wird (freilich auf der Grundlage der Daten der inneren und äußeren Erfahrung). Die Überprüfung der Universalisierbarkeit der Maximen geschieht anhand dieses Maßstabs, so daß die Objekte, deren Ursache der Wille ist, deshalb gewollt werden, weil sie nach dem Urteil der Vernunft zur Förderung der menschlichen Natur gereichen. Wenn solcherart das Muster unserer freien Handlungen ist, so kann man wohl sagen, daß eine Natur, die ihre Existenz dem guten Willen verdankt und die Kant „übersinnliche Natur“ nennt, den Bestimmungsgrund ihrer Entstehung in der reinen praktischen Vernunft hat. So verstanden aber hat die Rede von einer praktischen Vernunft keinen rein formalistischen Sinn mehr. A 77: Abs. 8–10. Die vorhergehende Behandlung der sinnlichen und der übersinnlichen Natur leitet über zu den unterschiedlichen Aufgaben, mit denen sich Kants zwei Kritiken befassen, wobei er unter dem Einfluß der Grundfrage der zweiten Kritik (vgl. A 3) die Aufgaben vom Standpunkt der reinen Vernunft formuliert. Für die erste Kritik lautet die Aufgabe, „wie reine Vernunft a priori Objekte erkennen könne“ (vgl. KrV A XVII: „Was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen?“). Zur Antwort erinnert Kant an sein intuitionistisches Prinzip sensualistischer Prägung (KrV A 19): Ohne sinnliche, empirische Anschauungen wird uns kein Objekt gegeben. Wenn Kant aus dieser Funktion der sinnlichen Anschauung ohne weiteres die Einschränkung unserer Objekterkenntnis auf den Bereich möglicher Erfahrung folgert, so ist die Konklusion nur deshalb stichhaltig, weil nach ihm alle anderen darauffolgenden Erkenntnishandlungen (die des Verstandes und die der Vernunft), was immer sie zum Zustandekommen der menschlichen Erkenntnis beitragen mögen, von sich aus keine eigene Realität erkennen können (keinen metaphysischen Bestandteil der erkennbaren Realität – im Sinne einer subjekttranszendenten Realität –, nämlich ihre formale und ihre Existenz- Komponente). Für die zweite Kritik lautet die Aufgabe, „wie Vernunft die Maxime des Willens bestimmen könne“. Diese Frage wird im Sinne der bereits besprochenen Alternative Kants gestellt (vgl. S. 87 zu § 2), die immer wieder zur Sprache kommt, im vorliegenden Abs. 10 sogar zweimal: Ob die Vernunft den Willen bestimmen kann nur vermittelst empirischer Vorstellungen, oder aber auch als reine Vernunft. Nach Kant ist für den guten Willen das zweite Glied der Alternative der Fall, wobei das Gesetz der reinen praktischen Vernunft das der Allgemeinheit ist. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei hier daran erinnert, daß m. E. das Unzulängliche an der Kantischen Alternative nicht darin liegt, daß er für die „reine Vernunft“ und nicht für einen „empirischen“ Bestimmungsgrund optiert. Moralität (im Sinne des guten Willens) liegt tatsächlich nur dort vor, wo eine Handlung rational, d. h.
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vernünftig motiviert ist. Die entscheidende Frage ist vielmehr, wie beschaffen ein rationales Motiv sein soll. Nach Kant ist es „ein Begriff der reinen Vernunft“, nämlich der Begriff der „Gesetzmäßigkeit“, welche keine andere als die Allgemeinheit der anvisierten Handlung ist. Was in dieser Antwort fehlt, ist die weitere Angabe darüber, woran sich die Vernunft orientiert, um zu ermitteln, ob eine Maxime die Form der Allgemeinheit annehmen kann. Dafür muß die Vernunft ein inhaltliches Kriterium haben, und dies ist einerseits die menschliche Natur, andererseits das Objekt der Handlung, insofern es ein für den Menschen Gutes darstellt. Aus seiner Alternative folgert Kant ein Doppeltes. Erstens, insofern die Vernunft als reine den Willen bestimmt, bezieht sie sich auf eine übersinnliche Naturordnung (vgl. Abs. 4). Zweitens, „ob die Kausalität des Willens zur Wirklichkeit der Objekte zulange“, d. h. ob die Maxime, der die Vernunft eine allgemeine Gesetzmäßigkeit auferlegt, in der empirischen Natur realisierbar ist (der „Erfolg“), geht nicht die praktische, sondern die spekulative Vernunft an. Daß die Moralität einer Handlung in erster Linie von ihrem gewollten Gegenstand als intentionalem Gehalt abhängt, wurde oben im Exkurs über den Gegenstand einer menschlichen Handlung (den finis operis) besprochen (S. 81). In diesem Sinne ist die tatsächliche Durchführung des genannten Objekts der Handlung nicht entscheidend. Aber Kant tendiert fast unmerklich dazu, von dieser naheliegenden Einsicht zur völlig anderen These überzugehen, daß das Objekt des Wollens keine moralische Relevanz hat. Dazu sei angemerkt: a) In der praktischen Reflexion vor der Entscheidung spielt auch die Durchführbarkeit der Handlung eine Rolle, zumindest in dem Sinne, daß kein normaler Mensch sich ernsthaft darüber Gedanken macht, ob er etwas wollen soll, was völlig außerhalb des menschlichen Vermögens liegt. b) Mehr noch, auch hinsichtlich dessen, was der Mensch an sich vermag, kann die Frage der Ausführung (wieviel sie „kostet“) einen nicht unbedeutenden Faktor für die moralische Qualifikation des Wollens und Tuns darstellen. Wenn Kant zu Beginn der GMS den guten Willen in Zusammenhang bringt mit der „Aufbietung aller Mittel, soweit sie in unserer Gewalt sind“, so weist dieser Gedanke in eine Richtung, die der Ausführung des Wollens und damit der Verwirklichung des Objektes eine größere Bedeutung beimißt, als Kant infolge seines Formalismus bereit ist zuzugeben. A 79: Abs. 11. Hier kommt Kant dem Thema der Deduktion näher, und zwar durch die gegenseitige Verwiesenheit von moralischem Gesetz und Freiheit. Davon hat Kant bereits im Absatz 1 gesprochen, wo ihm das Bewußtsein des Gesetzes (das im Faktum der Gesetzgebung der Vernunft – Autonomie – mitenthalten ist) und das der Freiheit als „unzertrennlich verbunden“ galten. Jetzt sagt Kant, daß der Begriff der Freiheit dieselbe Rolle für die Erkenntnis der Wirklichkeit des Gesetzes spielt wie im theoretischen Vernunftgebrauch die Anschauung. Unter Voraussetzung der Freiheit ist das moralische Gesetz notwendig; umgekehrt, ist das moralische Gesetz als praktisches Postulat notwendig, so ist die Freiheit notwendig. Zu beachten ist, daß das moralische Gesetz hier als ein praktisches Postulat bezeichnet wird, während im Abschnitt „Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft“ gesagt wird, daß der Grundsatz der
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Moralität „kein Postulat, sondern ein Gesetz ist“ (A 238) – was der Postulatenlehre angemessener ist. Das Bewußtsein beider ist für uns unerklärlich, aber die KrV hat mit ihrer Einschränkung der objektiv gültigen Erkenntnis auf den Bereich der Sinnenwelt (in der ein durchgängiger Determinismus herrscht) einen weiteren, leeren Raum gelassen (A 84 f.; KrV B XXI), nämlich die übersinnliche Natur, in der Freiheit und moralisches Gesetz möglich sind. A 80: Abs. 12–13. Mit dem bisher Ausgeführten sei die Exposition (d. h. „die deutliche Vorstellung dessen, was zu einem Begriff gehört“: KrV B 38) des moralischen Gesetzes beendet. Mit der Deduktion desselben, d. h. mit der „Rechtfertigung seiner objektiven und allgemeinen Gültigkeit“, stehe es nicht so günstig. Ich habe am Anfang meiner Erläuterung zu diesem Abschnitt bereits darauf hingewiesen, daß sowohl der Verweis Kants auf die (transzendentale) Deduktion in der ersten Kritik, die hier in der zweiten Hälfte von A 80 zusammengefaßt wird, als auch die ebenfalls in A 80 angegebene Definition von Deduktion („Rechtfertigung seiner [des Gesetzes] objektiven Gültigkeit“) irreführend sind. Denn an unserer Stelle geht es überhaupt nicht um Erkenntnis von Objekten,115 sondern um die Existenz (Wirklichkeit) des moralischen Gesetzes, durch das „reine Vernunft … als ein unmittelbar den Willen bestimmendes Vermögen angesehen werden kann“. Was aber im Absatz 13 folgt, zielt auf die Frage nach der „Wirklichkeit“ oder „objektiven Realität“ des moralischen Gesetzes. (Abs. 13) Haben wir ein Grundvermögen (den Willen oder die praktische Vernunft – angesichts der Tendenz Kants beides zu identifizieren), dessen Gesetz das moralische Gesetz ist? Hinsichtlich des theoretischen Vernunftgebrauchs ist es möglich, durch die Analyse der Erfahrung zur Erkenntnis der Prinzipien, die eine solche Erfahrung möglich machen, zu gelangen. Dies ist tatsächlich der Weg, den Kant in der KrV gegangen ist, nämlich von der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu deren Bedingungen a priori (reine Abschauungen, reine Begriffe und Grundsätze) und damit zu den entsprechenden Vermögen, Sinnlichkeit und Verstand.116 Dieser empirische Beweis als Surrogat einer Deduktion aus Erkenntnisquellen a priori scheidet im Falle des reinen praktischen Vernunftvermögens aus. Denn wir können nicht von der Erfahrung her die apodiktische Erkenntnis gewinnen, daß der Bestimmungsgrund einer Handlung in der Welt der Erfahrung (der Sinnenwelt) das Sittengesetz ist, weil die reine praktische Vernunft Prinzip einer übersinnlichen Natur ist (vgl. Abs. 4); die von ihr her115 In der KrV ging es darum, daß die „Beschaffenheit“ der durch die Erfahrung erkennbaren Objekte mit unseren Begriffen a priori konform ist. 116 Mit dem Gesagten habe ich nur einen Aspekt der viel verwickelteren Argumentation der KrV berührt, die wir mit H. Vaihinger als das Problem der „Möglichkeit der Erfahrung“ bezeichnen können (Kommentar zu Kants KrV, I 407 f.). Denn der erwähnten „analytischen Methode“ gesellt sich infolge einer „methodischen Problemconversion“ (ebd. 434) eine synthetische oder progressive Methode zu, die sich mit der ersten zu einem schwer entwirrbaren Beweisgang vermischt (vgl. auch „Prolegomena“ A 42 Fn = IV 276).
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vorgebrachte Handlung findet zwar in der Sinnenwelt statt, aber als zur Sinnenwelt gehörig untersteht sie der Kausalität der Sinnenwelt, d. h. dem durchgängigen Determinismus. Die hier von Kant behauptete Unmöglichkeit, in der Erfahrung ein Beispiel aufzutreiben, das als Wirkung des moralischen Gesetzes erkannt würde (vgl. auch GMS A 28 f. = IV 408), ist nicht bloß eine hypothetische oder bloß faktische, sondern eine prinzipielle. Für die Existenz des moralischen Gesetzes und damit des entsprechenden Vermögens (die reine Vernunft als praktisch) bleibt für Kant nur die These, daß „das moralische Gesetz gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind, und welches apodiktisch gewiß ist“, gegeben ist. A 82: Abs. 14–15. An Stelle des vergeblichen Versuchs, das moralische Gesetz zu deduzieren, zeigt sich, daß das moralische Gesetz selbst zum Prinzip der Deduktion eines unerforschlichen Vermögens wird, nämlich der Freiheit. Damit nimmt Kant das in der Vorrede Gesagte wieder auf, daß nämlich das moralische Gesetz die ratio cognoscendi der Freiheit ist (A 5 Fn). In §§ 5 und 6 wurde ihre gegenseitige Verwiesenheit (in verschiedener Hinsicht!) weiter ausgeführt. Außerdem präzisiert Kant hier auch seine Aussage vom Abs. 11, daß das Bewußtsein des moralischen Gesetzes und das der Freiheit „einerlei“ seien: Sie verweisen zwar aufeinander, aber der Zugang zu beiden geht nur über das Bewußtsein des Gesetzes. Ausdrücklich wird hier gesagt – in Übereinstimmung mit der in der KrV aufgestellten „Grenzbestimmung“ (A 395) –, daß „keine Erfahrung“ das Vermögen der Freiheit beweisen kann. Im Kanon-Hauptstück der KrV dagegen hieß es zweimal, daß „praktische Freiheit durch Erfahrung bewiesen werden kann“ (A 802 f.). Zur Freiheit als „unerforschlichem Vermögen“ sei hier daran erinnert, daß Kant mehrmals, vor allem in der Religionsschrift, die Freiheit „unerforschlich“, „unerklärlich“ nennt (B 58, Fn = VI 49; B 209 = VI 138 usw.). Erklären bedeutet ja für den Mechanismus, etwas als notwendige Folge aus etwas anderem in der Erfahrung Gegebenem zu erfassen (vgl. GMS A 120 = IV 459). Die spekulative Vernunft mußte ihrerseits die Freiheit als möglich annehmen, weil, wie in der These der 3. Antinomie der reinen Vernunft bewiesen wurde, die Reihe der einander subalternen, nach Naturkausalität wirkenden Ursachen „das Unbedingte“ einer „absoluten Spontaneität“ braucht, um überhaupt wirken zu können. Denn jede Naturursache vermag nur deshalb zu wirken, weil sie selbst von einer vorhergehenden Ursache bestimmt wird. Eine solche Spontaneität ist die transzendentale Freiheit (KrV A 444–446). Diese Annahme einer Freiheit in kosmologischem Sinne „erlaubt“ dann, so Kant an derselben Stelle, eine solche Kausalität auch „im Laufe der Welt“ anzunehmen und damit den Substanzen (den Menschen), die so handeln, „ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln“. Das moralische Gesetz beweist seinerseits, daß die so verstandene Kausalität aus Freiheit, nicht bloß möglich, sondern auch wirklich ist. Der zunächst bloß negative Begriff der Freiheit (Unabhängigkeit von empirischen Bestimmungsgründen) wird durch das moralische Gesetz positiv bestimmt als Fähigkeit der reinen Vernunft, den Willen „durch die Bedingung einer allgemeinen gesetzlichen Form seiner Maximen“ zu bestimmen. In bezug auf die transzendentalen Ideen der Vernunft, von denen die spekulative Vernunft in Gefahr ist, einen „überschweng-
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lichen“ Gebrauch zu machen, indem sie meint, mit ihrer Hilfe transzendente Realitäten erkennen zu können, ist durch das moralische Gesetz ein immanenter Gebrauch „im Felde der Erfahrung“ erlaubt. Mit dieser Aussage bezieht sich Kant direkt auf die Idee der Freiheit als Kausalität des Menschen in der Welt (in der wir moralisch handeln sollen), und indirekt auf die Ideen Gottes und eines künftigen Lebens, welche „zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt …, nicht zu trennende Voraussetzungen sind“ (KrV A 811). A 83: Abs. 16 faßt nochmals die ganze Problematik „moralisches Gesetz – Freiheit – noumenale Welt“ zusammen. Zuerst erwähnt Kant (wie schon im Abs. 14), daß die spekulative Vernunft in ihrer Betrachtung der Naturkausalität gezwungen ist, eine „Kausalität durch Freiheit“ anzunehmen, also „etwas Unbedingtes“. In diesem Sinne ist die Idee der Freiheit als absoluter Spontaneität, „was deren Möglichkeit betrifft, ein analytischer Satz der reinen spekulativen Vernunft“. Damit können wir auch die Handlungen eines Wesens in der Sinnenwelt als physisch bedingt und zugleich als physisch unbedingt (= frei) ansehen, je nachdem, ob wir dieses Wesen als Phänomenon oder als Noumenon betrachten. Erst die reine praktische Vernunft ist imstande, den für die spekulative Vernunft leeren Raum (vgl. KrV B XXI) der Verstandeswelt (d. h. des Intelligiblen) auszufüllen. In diesen Raum wird das Unbedingte versetzt und so dem problematischen Begriff der Freiheit (Freiheit als möglich) objektive, aber nur praktische Realität verschafft. Bedeutet dies eine Erkenntnis der noumenalen Welt? Ja, insofern wir in praktischer Hinsicht sicher sind (Wissen), daß unseren transzendentalen Ideen eine objektive Realität entspricht; nein, insofern damit der spekulativen Vernunft keine Erkenntnis derselben Realitäten zuwächst (Nicht-Wissen). Der Grund dieser rational schwer nachvollziehbaren Position liegt darin, daß Kant den Akt des Urteils, auf das die Argumentation seiner Postulate der reinen praktischen Vernunft schließt, nicht für das Mittel hält, mit dem wir zuallererst die Realität erkennen. Nach ihm muß der Akt, mit dem wir eine Realität überhaupt erkennen können, eine Art von Anschauung sein (KrV A 19). Derart aber ist die rational begründete Setzung eines zunächst bloß gedachten Objekts im Urteil nicht. Es folgen dann verwickelte und repetitive Ausführungen zum „Begriff der Ursache“. Die Vernunft kann als reine, unabhängig von empirischen Gründen, den Willen bestimmen (= noumenale Kausalität) und so in der Sinnenwelt wirken. Aber mit dieser Ausdehnung der Kategorie der Kausalität auf den noumenalen Bereich erkennen wir weder die Art der Kausalität der praktische Vernunft als causa noumenon noch die Gegenstände in der Sinnenwelt als Dinge an sich. Denn es fehlt uns eine (intellektuelle) Anschauung, die solche intelligiblen Gegenstände uns vermitteln würde. Erst wenn die Gegenstände uns in einer Anschauung gegeben sind, vermögen wir von ihnen durch die Anwendung unserer Kategorien eine Erkenntnis im eigentlichen Sinne des Wortes zu erhalten (vgl. KrV A 50–52). Der Begriff der Kausalität, wie alle anderen reinen Begriffe auch, liegt a priori „im Verstande“; er kann deshalb „auf Gegenstände angewandt werden, sie mögen sinnlich
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oder nicht sinnlich gegeben werden“. Sind die Gegenstände sinnlich, so können sie uns durch die empirische Anschauung gegeben werden; sind sie nicht sinnlich, so können sie uns nicht durch diese gegeben werden; infolgedessen können wir von diesen letzten keine Erkenntnis erhalten. Dies aber verhindert nicht, daß wir unsere reinen Begriffe (Kategorien) auf Gegenstände, die uns prinzipiell nicht gegeben werden können, anwenden, um sie zu denken – denn dafür braucht ein Objekt nicht gegeben zu sein. Mit dem Gesagten bezieht sich Kant auf seine Kategorienlehre, der zufolge „die Kategorien sich sofern weiter, als die sinnliche Anschauung, erstrecken, weil sie Objekte überhaupt denken, ohne noch auf die besondere Art (der Sinnlichkeit) zu sehen, in der sie gegeben werden mögen“ (KrV A 254; vgl. auch B 166 Fn). Genau diese Lehre macht sich Kant zunutze, um eine Metaphysik praktisch zu begründen, als Ersatz für eine spekulativ nicht mögliche Metaphysik, angeblich ohne dabei „die herkulischen Säulen“, die „das Feld möglicher Erfahrung“ markieren, zu überschreiten (KrV B 395). Die Hauptschwierigkeit eines solchen Ersatzes aber äußert sich in Fragen wie: Was bedeutet „Realität bzw. Erkenntnis, aber nur in praktischer Absicht“? Sind die transzendenten Gegenstände, die die KrV als unerkennbar deklariert hat, real oder nicht? Bei aller Analogie des Begriffs „real“ und bei aller Verschiedenheit in der Art der Erkenntnis – erkennen wir sie nun oder nicht?
II. Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im praktischen Gebrauche zu einer Erweiterung, die ihr im spekulativen für sich nicht möglich ist (A 87–100) In seinen Ausführungen über eine Deduktion des moralischen Gesetzes hat Kant im vorigen Abschnitt die sinnliche und die übersinnliche Natur (Abs. 4) behandelt und im Zusammenhang damit die unterschiedlichen Anwendungen der Kategorie der Kausalität (Abs. 7), zu der er auch die mit dem moralischen Gesetz zusammenhängende Freiheit als „Kausalität durch Freiheit“ (Abs. 14) zählt. Damit war die Frage nach der Anwendung der Kategorien überhaupt jenseits der Grenzen der möglichen Erfahrung berührt. Da nun gemäß der KrV die menschliche Erkenntnis durch die Anwendung eines Begriffes auf eine empirische (!) Anschauung entsteht, fragt Kant jetzt, ob und was für eine Erkenntnis aus der Anwendung des reinen Verstandesbegriffes der Kausalität auf den Menschen in seiner übersinnlichen Existenz als moralisches Subjekt entsteht. Es geht um die Frage, ob wir dadurch zur Erkenntnis des Menschen als causa noumenon und dessen, was mit der Kausalität des Menschen zusammenhängt, gelangen. Das Problem einer Erkenntnis der noumenalen Realität war bereits in der ersten Kritik gegeben, insofern Kant dort für seine nicht seltenen Aussagen über das für uns unbekannte und unerkennbare „Ding an sich“ de facto fast alle Kategorien anwendet, „insbesondere die Kategorien der Einheit, der Vielheit, der Kausalität, der Gemeinschaft, der Möglichkeit, der Wirklichkeit und der Notwendigkeit“117. Aber dieses Pro117
G. Martin, Kant, 232.
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blem ist akut geworden, nachdem Kant in der zweiten Kritik sich nicht mehr mit den Grundlagen der Naturwissenschaft und deren mechanistischem Determinismus befaßte, sondern mit dem Menschen, der als freies und verantwortliches Wesen zur intelligiblen, in sich seienden Realität gehört. Kant fand sich in der paradoxen Lage, mit einer Erkenntnisart, die nach der KrV eine lediglich relative Geltung hat, eine nicht relative, nicht phänomenistische Realität untersuchen und sein Resultat anderen Menschen mitteilen zu wollen. Das Problem der Anwendung der Kategorien, die außerhalb der sinnlichen Erfahrung weder Sinn noch Bedeutung haben (KrV A 155, 677, 696, B 149 usw.), das Problem einer „Erweiterung der reinen Vernunft in praktischer Absicht, ohne damit ihre Erkenntnis als spekulativ zu erweitern“ (KpV A 241), das Problem eines Handelns des Menschen, für das zugleich Naturdeterminismus und Freiheit gelten, all dies sind Aspekte eines einzigen Problems, das im vorliegenden Werk immer wieder zur Sprache kommt. An unserer Stelle richtet sich die Frage zunächst auf die Kategorie der Kausalität, dann aber konsequenterweise auf alle Kategorien. Kant verstand seine Theorie der Kausalität als Alternative zur Kritik, die Hume an diesem fundamentalen Begriff unseres Verstandes geübt hatte. In der Tat stellt das Thema der Kausalität bei Kant in seinem Anliegen, den britischen Empirismus und den deutschen Rationalismus auf einer höheren Ebene (der seines transzendentalen Idealismus) zu versöhnen, ein wiederkehrendes Standard-Thema dar. Hume vertrat einen empiristischen Ursprung aller Begriffe und schloß daraus auf den Skeptizismus, d. h. auf eine Erkenntnis, die uns weder die Realität, wie sie ist, eröffnet, noch Geltung für alle Menschen hat. Kant hat diese Position abgelehnt, indem er ihr die These entgegenstellte, daß der Ursprung unserer Erkenntnis nicht völlig empirisch ist, weil „wir im Besitz gewisser Erkenntnisse a priori sind“ (KrV B, Einleitung II), kraft deren wir eine wissenschaftliche (= allgemeine und notwendige) Erkenntnis der Natur (allerdings als Erscheinung!) erreichen können. Gemeinsames und Unterschiedliches beider Autoren auf den Punkt gebracht, bedeutet dies a) daß Kant nicht weniger als Hume einen allumfassenden Phänomenismus vertritt, b) daß er zugleich seinem Phänomenismus den epistemischen Status einer „wissenschaftlichen“ (allgemeinen und notwendigen) Erkenntnis zuschreibt, c) daß er sich darüber hinaus den Zugang zur transzendenten Realität offen hält, zumindest soweit diese Realität für den Menschen als moralisches Wesen von Bedeutung ist. Hier sei auf die wichtigsten Stellen in den Schriften Kants hingewiesen, die sich mit dem Empirismus Humes beschäftigen: In KrV A 741 f. (im letzten Teil des Werkes!) plädiert Kant für eine vorurteilslose Prüfung „der zwei Kardinalsätze unserer reinen Vernunft“, Gott und das künftige Leben, gemäß der „skeptischen Methode“, die er aber im Abschnitt über die „Antithetik der reinen Vernunft“ für „vom Skeptizismus gänzlich unterschieden“ hält (A 424). A 758–769 erörtert das „skeptische Verfahren“ in bezug auf den Grundsatz der Kausalität. Die Prolegomena (Vorrede, A 7–16 = IV 257–261) handeln nochmals vom Begriff der Ursache. Diese Überlegungen wurden später in die Vorrede der zweiten Auflage der KrV aufgenommen, und zwar in B 5 und B 19f. In KrV B 127 f. hält Kant der Humeschen empiristischen Ableitung sämtlicher Be-
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griffe des Verstandes den Ursprung a priori unserer reinen Verstandesbegriffe entgegen. Wie weit Kant (der sehr wahrscheinlich kein Englisch konnte) die Schriften Humes gekannt hat, ist unter den Kant-Forschern umstritten.118 Hinsichtlich der Position Humes zu Fragen der Metaphysik sind mehrere Autoren der Ansicht, daß Kant nur eine indirekte Kenntnis davon hatte, nämlich durch die Lektüre von James Beatties „Essay on the Nature and Immutability of Truth in Opposition to Sophistry and Scepticism“, der 1772 in deutscher Übersetzung erschienen war. Beattie setzt sich fast ausschließlich mit dem „Treatise on Human Nature“ Humes auseinander. Etliche Umstände sprechen jedoch dafür, daß Kant auch das spätere, wichtigere Werk „An Essay concerning Human Understanding“, das 1775 deutsch in den „Vermischten Schriften“ Humes erschienen war, gekannt hat. Tatsächlich zitiert Kant aus dieser Übersetzung in der Vorrede zu den „Prolegomena“, A 9, an der wichtigen Stelle also, an der er die Ansicht Humes referiert, der zufolge unser Kausalitätsbegriff das Resultat einer Angewöhnung sei, indem wir „gewisse Vorstellungen unter das Gesetz der Assoziation“ bringen. A 87: Abs. 1 formuliert das Problem des Abschnittes. Die oben behauptete Kausalität der reinen praktischen Vernunft (sie wirkt als Bestimmungsgrund des Willens) sowie der Wille und das Subjekt dieses Willens gehören zur intelligiblen Welt. Wird nicht damit die in der KrV festgelegte „Grenzbestimmung“ (A 395) unserer spekulativen Erkenntnis überschritten? Dieser Einwand, der bereits in der Vorrede A 10 erhoben worden ist, geht auf den Propst Pistorius zurück. A 88: Abs. 2 bringt den Einwand Humes gegen das Kausalitätsprinzip vor: Dieses Prinzip besagt eine notwendige Verknüpfung zweier Existierender bzw. Vorkommnisse: Wenn A gesetzt ist, so weiß ich kraft dieses Prinzips, daß etwas anderes, B, existieren bzw. vorkommen muß. Da nun Hume nur die Erfahrung als Quelle aller unserer Erkenntnisse zuläßt, diese aber keine Notwendigkeit erfassen kann (man kann weder Notwendigkeit noch Allgemeinheit sehen: vgl. KrV A 1, B 3), hält er die Erkenntnis einer solchen Verbindung zwischen Ursache und Wirkung für das Resultat einer Angewöhnung infolge wiederholter Erfahrung. Diese subjektive Verknüpfung halten wir irrtümlicherweise für eine objektive, d. h. für eine solche, die in der Realität selbst vorhanden ist, und deshalb für eine notwendige. Ein solcher Empirismus hatte bei Hume einen umfassenden Skeptizismus zur Folge, d. h. die Verneinung einer wissenschaftlichen (= allgemeinen und notwendigen) Erkenntnis der Natur überhaupt. Kant hat bekanntlich versucht, wie hier oben bereits erwähnt, den Empirismus dadurch zu überwinden, daß er die These vertrat – ein Lehrstück des Rationalismus –, unser Verstand sei mit „Erkenntnissen a priori“ (KrV B 3), nämlich reinen Verstandesbegriffen und synthetischen Grundsätzen des reinen Verstandes ausgestattet – außer Zu dieser Frage vgl. den Materialbericht von H. Holzhey in: Kants Erfahrungsbegriff, Basel 1970, 144–150. 118
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den zwei Anschauungen a priori der Sinnlichkeit. Von ihnen gilt, was in der KrV B 4 gesagt wird: „Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori, und gehören auch unzertrennlich zueinander“. Diese Elemente a priori werden nur zu Erkenntnis von Objekten und damit zu Erkenntnissen im eigentlichen Sinne des Wortes, insofern sie auf den Inhalt einer empirischen Anschauung angewandt werden (KrV A 50–52), wobei letztere nur Erscheinungen liefert (A 19 f.). Daraus folgert Kant, daß unsere Erkenntnis von Objekten (Erkenntnis der „Wirklichkeit“) auf den Bereich der sinnlichen Erfahrung eingeschränkt ist – das grundlegende Lehrstück des Empirismus. A 90: Abs. 3. Einzige Ausnahme des Humeschen Skeptizismus war die mathematische Erkenntnis, die Hume für eine analytische hielt, die bloß anhand des Widerspruchsprinzips argumentiert. Kant hält dagegen die Mathematik für eine synthetische Erkenntnis; denn wir gelangen in der Mathematik zu inhaltlich neuen Erkenntnissen, indem wir nicht bloß Begriffe analysieren, sondern die Begriffe in einer Anschauung konstruieren – allerdings in einer Anschauung a priori. Die Anschauung liefert das Dritte (vgl. KrV A 9 f.; A 47 f. und A 716 f. hinsichtlich der Konstruktion der Begriffe in der Anschauung), worauf sich unsere synthetischen (d. h. erweiternden) Erkenntnisse gründen. Je nachdem, ob die Anschauung eine Anschauung a priori (die reinen Anschauungen von Raum und Zeit) oder a posteriori (die empirischen Anschauungen und, allgemeiner, die sinnliche Erfahrung) ist, erhalten wir synthetische Erkenntnisse a priori (die allgemein und notwendig sind) oder aber synthetische Erkenntnisse a posteriori (die Erkenntnisse des Einzelnen und bloß Faktischen). Da nun Hume keine Anschauungen a priori kannte, hätte er – so Kant – seinen Skeptizismus auch auf die Mathematik ausdehnen sollen. Zur Frage nach Allgemeinheit und Notwendigkeit in der menschlichen Erkenntnis vgl. den Exkurs im Kommentar zur Vorrede, S. 71. A 92. In den Abs. 4–5 beschreibt Kant seine Überwindung des Humeschen Skeptizismus. Hume hatte, so Kant, die Gegenstände der Erfahrung für Dinge an sich gehalten. Da nun Hume für gewöhnlich als ein Phänomenalist und Subjektivist angesehen wird, stellt sich die Frage, wie diese Behauptung Kants zu verstehen sei. In seinem Kommentar zur KpV, 173 f., schlägt Beck folgende Interpretation vor: Was wir erkennen, sind nach Hume sinnliche Eindrücke (impressions), deren letzte Quelle (der transzendente Gegenstand) für uns unerkennbar ist. In diesem grundlegenden Sinne ist Hume wohl ein Phänomenalist. Aber diese „impressions“ erkennen wir, wie sie sind und in der Ordnung, in der sie in uns verursacht werden, ohne daß wir an ihrer Erzeugung und Synthesis aktiv teilnehmen. Genau dies meine Kant, wenn er behauptet, daß Hume „die Gegenstände der Erfahrung für Dinge an sich selbst nahm“. Nun vermögen wir bei den Dingen an sich – seien sie bloß Eindrücke, seien sie transzendente Gegenstände – nicht einzusehen, warum, wenn ein A gesetzt wird, etwas anderes, ein B, gesetzt werden muß, und zwar weder a priori (da ja das Erkannte nicht von uns abhängt und wir deshalb nur a posteriori wissen können, daß etwas sei und was es sei) noch a posteriori (aus dem für Kant selbstverständlichen Grund, weil aus der Erfah-
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rung allein keine allgemeine und notwendige Erkenntnis stammen kann). Infolgedessen blieb Hume kein anderer Ausweg, als an die Stelle des Begriffs der Kausalität „die Gewohnheit im Beobachten des Laufs der Wahrnehmungen“ zu setzen. Die Antwort Kants auf die Humesche Zweifellehre bestand darin, daß er nicht nur den Begriff der Kausalität, sondern den ganzen Bereich der reinen theoretischen Vernunft in ihrem synthetischen Gebrauch untersuchte, also all jene reine Erkenntnis a priori, die synthetisch (Kategorien bzw. synthetische Grundsätze des reinen Verstandes) und objektkonstitutiv ist. Zur Erläuterung verweist Kant auf die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in der KrV. Er selbst war von einer realistischen Position ausgegangen, die die Objekte unserer Erkenntnis für Dinge an sich selbst hielt, wie es aus dem Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772 hervorgeht, in dem er nach der Übereinstimmung der Vorstellungen in uns mit den immer noch als transzendent gedachten Objekten fragte. Nach langwierigen Versuchen hatte er das Problem gelöst, indem er zur Einsicht kam, „daß die Gegenstände, mit denen wir es in der Erfahrung zu tun haben, … bloß Erscheinungen sind“ und daß sie genau deswegen in jenen sinnlichen und intelligiblen Verhältnissen zueinander stehen müssen, die ihnen durch unsere reinen Anschauungen und Begriffe auferlegt werden und vermittelst deren sie uns als Gegenstände „allein erkennbar sind“ (vgl. dieselbe Lösung in einer außerordentlich klaren Formulierung in KrV A 128 f.). Kurzum, der Grund, warum Kant gegen Hume eine Erkenntnis einräumen konnte, die allgemein und notwendig ist, nämlich die tethische Funktion des Subjektes mittels seiner „Erkenntnisse a priori“, ist derselbe, weswegen er diese Erkenntnis auch für Erkenntnis von Erscheinungen hielt. Durch diese Deduktion hat Kant die objektive Realität und Notwendigkeit nicht nur des Begriffes der Ursache, sondern all unserer reinen Begriffe bewiesen. Damit war der Empirismus der Humeschen Auffassung von (Mathematik und) Naturwissenschaft „weggeschafft“ und infolgedessen auch sein Skeptizismus. A 94: Abs. 6. Wenn aber die Objektivität der Kategorien dadurch zu erklären ist, daß sie die Gegenstände möglicher Erfahrung selbst (mit)konstituieren – wobei dann diese Gegenstände keine Dinge an sich sein können –, wie steht es dann mit der Anwendung der Kategorien auf Dinge, die über die Grenzen der Erfahrung hinausgehen? Zur Antwort weist Kant hier, wie schon im Abs. 16 des vorigen Abschnittes: A 86), zweimal darauf hin, daß die Kategorien ihren Sitz im Verstande haben. Deswegen enthalten sie „auch in Beziehung auf ein Objekt [als Ding an sich] nichts Unmögliches“ (die Begriffe, mit denen der Verstand ausgestattet ist, besagen per definitionem etwas Intelligibles und deshalb Mögliches), und zwar in Beziehung auf „sinnliche oder nicht sinnliche“ Objekte (vgl. im vorigen Abschnitt: A 87). Die Kategorien lassen sich also auch auf Noumena anwenden, und zwar, mangels entsprechender Anschauung, nicht um sie zu erkennen, wohl aber um sie zu denken.119 119 In seiner Monographie (Kant und das Ding an sich, 52–57) macht Adickes darauf aufmerksam, daß Kant diesem Unterschied (denken – erkennen) grundlegende Bedeutung erst von der
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Weil die Kategorien sich auch auf Noumena erstrecken (vgl. KrV A 254), spricht Kant an unserer Stelle von der „objektiven Realität“ (A 95) des Kausalbegriffs, „aber ohne diesen Begriff theoretisch im mindesten zu bestimmen“, nämlich als den Begriff einer bestimmten Art von Verursachung und dadurch als theoretische Erkenntnis dieses Falles selbst. Nur in einem anderen Gebrauch (dem praktischen, d. h. durch die reine praktische Vernunft) ist der Begriff der Kausalität, wie überhaupt alle Kategorien, einer Bestimmung fähig, nämlich zu eben diesem Gebrauch. Dies aber setzt voraus, daß dieser Begriff nichts enthalte, was zu denken unmöglich ist – wie Hume meinte. A 95: Abs. 7. In der Tat ist es eine praktische Absicht (unsere Moralität), die uns dazu treibt, die reinen Verstandesbegriffe auf Noumena anzuwenden. Denn das moralische Gesetz setzt die „Kausalität durch Freiheit“ voraus und verlangt – wie Kant im Dialektikteil der KpV ausführt – die Unsterblichkeit der Seele sowie die Existenz Gottes zur Verwirklichung des höchsten Guts (Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit). Aber für die spekulative Erkenntnis im Sinne der modernen Experimentalwissenschaft ist durch eine solche Anwendung nichts gewonnen. Der Grundsatz Kants, demzufolge unsere „Naturkenntnis“ sich an die Erfahrung halten muß, ist eine eigene Version der „rule“ der 1660 gegründeten „Royal Society of London for Improving Natural Knowledge“. Diese Regel besagt, daß als naturwissenschaftlich nur jene Fragen zulässig sind, die einen empirisch verifizierbaren Unterschied implizieren, so daß sie durch Beobachtung oder Experiment entschieden werden können. Nebenbei bemerkt: Als solche ist diese Regel vom Phänomenismus der Kantischen Erkenntnislehre unabhängig. Diese durchaus berechtigte methodische Einschränkung der Naturwissenschaft als empirischer Wissenschaft schließt an sich die Legitimität und Wahrheit anderer Formen von Erkenntnis nicht aus, die auf der Grundlage der Intelligenz und Rationalität unserer unbegrenzten (!) Intentionalität möglich sind, ja von ihr gefordert werden. Näherhin schließt sie die Frage nach dem absolut Transzendenten nicht aus, der Leibniz die bekannte Formulierung gegeben hat: „Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?“120; also die Frage nach einer Erklärung jener Faktizität, die die Experimentalwissenschaft einfach annimmt, aber wegen der Grenzen ihrer Methode nicht hinterfragen kann. Weit entfernt davon, daß diese anderen Formen von Erkenntnis „einer eitlen Fragsucht“ entstammen, ist vielmehr der Ausschluß der letztgenannten Frage die höchste Manifestation des Obskurantismus, insofern dadurch die Reichweite jener zweiten Auflage der KrV an zugewiesen hat. Bereits in der Vorrede, B XXVI, bringt Kant diesen Unterschied mit einer gewissen Emphase zur Geltung und fügt, wie auch an unserer Stelle, einen Ausblick auf die praktische Philosophie hinzu, die vielleicht imstande sein werde, den logisch möglichen Begriffen objektive Gültigkeit zu verschaffen. Damit nimmt Kant das große Thema der Postulate der KpV, an der er zur selben Zeit arbeitete, vorweg. Zwei andere wichtige Stellen, an denen Kant auf diesen Unterschied eingeht, sind die §§ 22 und 27 der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. 120 „Principes de la Nature et de la Grâce, fondés en raison“, in: C. J. Gerhardt (Hrsg.), Die philosophischen Schriften von G.W. Leibniz, Berlin 1885 (ND Hildesheim 1978), Bd. VI, 602.
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intelligenten und rationalen Dynamik unseres Geistes gekürzt wird, der die Naturwissenschaft ihre Entstehung und ihre Erfolge verdankt. A 96: Abs. 8 wiederholt fast alle Begriffe und Argumente, die in den vorigen Absätzen angesprochen worden sind, und zwar in einem Gedankengang, dessen Entfaltung schwer durchschaubar ist. Jedenfalls scheint der Schwerpunkt auf dem Begriff des reinen Willens zu liegen, der sich daraus ergibt, daß die Vernunft durch die bloße Vorstellung eines Gesetzes praktisch ist. Zu beachten ist zu Beginn des Absatzes die Berufung auf das moralische Gesetz als ein Faktum zum Beweis für die Objektivität einer reinen praktischen Vernunft oder eines reinen Willens selbst, dessen Bestimmungsgrund sein eigenes formales Gesetz ist. Im Begriff eines solchen Willens ist der Begriff einer Kausalität, die nicht nach Naturgesetzen bestimmbar ist, enthalten, also einer Kausalität mit Freiheit. Der Begriff eines Wesens, das freien Willen hat, ist der Begriff einer causa noumenon. Dieser Begriff ist widerspruchsfrei, weil Kant schon gezeigt hat, daß der Begriff einer Ursache als Verstandesbegriff auch auf Noumena angewandt werden kann, auch wenn die causa noumenon für die theoretische Erkenntnis ein leerer Begriff bleibt. Nun, fügt Kant hinzu, verlange ich nicht, die Beschaffenheit einer causa noumenon „theoretisch zu kennen“. Ihm ist es genug, „den Begriff der Kausalität mit dem der Freiheit … zu verbinden“, wozu der nicht empirische Ursprung des Begriffs der Ursache ihn berechtigt; von diesem Begriff will Kant nur einen praktischen Gebrauch machen, nämlich in bezug auf das moralische Gesetz. A 98: Abs. 9. Während Hume dem Begriff der Kausalität jegliche objektive Realität und somit jegliche Bedeutung abgesprochen hat, hat Kant die objektive Realität der Kausalität nur in bezug auf die Dinge an sich selbst verneint. Ist der Begriff als solcher sinnvoll, so ist er hinsichtlich einer empirisch unbedingten Kausalität zwar leer, weil ohne empirische Anschauung und deshalb ohne ein bestimmtes Objekt, aber von sich aus bezieht er sich doch auf ein unbestimmtes Objekt.121 Mehr noch, an dem moralischen Gesetz, d.h. bezogen auf eine vom moralischen Gesetz motivierte Handlung, liefert der Begriff zwar ebenfalls keine theoretische Erkenntnis (denn eine Erkenntnis geschieht durch Anwendung eines Begriffes auf ein sinnlich, also in Raum und Zeit gegebenes Objekt), erhält aber „in praktischer Beziehung Bedeutung“, nämlich eine Anwendung, die sich in der Gesinnung oder in der Maxime des handelnden Subjektes zeigt. A 99: Abs. 10. Ist die objektive Realität eines Verstandesbegriffs – desjenigen der Ursache – im Felde des Übersinnlichen eingeräumt, so gilt dasselbe für alle anderen 121 Eine empirisch unbedingte Kausalität ist eine solche, in der Ursache und Wirkung nicht in der Zeit liegen. Denn das Gesetz der Kausalität ist nach Kant der „Grundsatz der Zeitfolge“ (KrV B 232). Fehlt die Zeitfolge, so bleibt unbestimmt, auf welches Geschehen der Begriff der Kausalität angewandt wird. Andererseits aber ist es gerade wegen des Fehlens der Zeitfolge, daß das Wirken der causa noumenon dem Naturmechanismus nicht untersteht.
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Kategorien, aber nur insofern sie in Verbindung „mit dem Bestimmungsgrund des reinen Willens (dem moralischen Gesetz)“ stehen, also nur hinsichtlich der Wesen, die mit Intelligenz und damit mit freiem Willen ausgestattet sind, nicht hinsichtlich sämtlicher Dinge an sich. (Damit zeigt Kant nochmals, daß er von den Dingen an sich mehr weiß, als was ihm die immer wieder beteuerte völlige Unerkennbarkeit derselben erlauben würde. Er weiß, daß nicht alle Dinge an sich mit Vernunft und Willen ausgestattet sind). Was aber diese Wesen noch an Eigenschaften haben mögen, die zur theoretischen Vorstellungsart von ihnen gehören, können wir annehmen, aber nicht zum Wissen, sondern wieder bloß in bezug auf das Praktische. Das über die Intelligenzen Gesagte, die als materielle Wesen auch zur Sinnenwelt gehören, weitet Kant auch auf die übersinnlichen Wesen, namentlich auf Gott, aus. Indem er aber immer wieder behauptet, es handle sich um keine theoretische Erkenntnis, sorgt er dafür, einem „Schwärmen ins Überschwengliche“ keinen Vorschub zu leisten, wie er es etwa in den „Träumen eines Geistersehers“ geschildert hatte.
Zweites Hauptstück. Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft (A 100–126) Einleitung Das zweite Hauptstück über „den Begriff eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“, d. h. über den Begriff des Guten und Bösen (A 101), folgt, gemäß der Erklärung Kants über die Anordnung der Analytik (A 31 f.), auf das Hauptstück über das „Grundgesetz“ derselben praktischen Vernunft. Sein Ziel ist nicht, eine inhaltliche Lehre vom Guten als dem Gegenstand der reinen praktischen Vernunft zu entwickeln, sondern mögliche Einwände gegen den formalen Charakter desselben moralischen Gesetzes abzuwenden. In diesem Rahmen zeigt Kant nochmals, wie schon im vorigen Hauptstück, daß der Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft kein Gegenstand derselben ist – was immer er sein mag.122 Seine Argumentation gipfelt in der These, daß „der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetz …, sondern nur … nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse“ (A 110; vgl. auch A 197). Die letzte Erklärung dieser These, die Kant selbst unumwunden paradox nennt, ist offenkundig seine Auffassung vom moralischen Gesetz „als Gesetz der Freiheit“ (A 114) in einem absoluten Sinn, so daß für ihn jegliche inhaltliche Motivation des Wollens, einschließlich eines vorgegebenen, als gut erkannten Gegenstandes, gegen diese Freiheit verstößt, also zur „Heteronomie“ gehört (A 113). Dies erklärt auch, warum auf den ersten Teil des Hauptstückes (die ersten zwölf Absätze), in dem direkt das Thema des Gegenstandes besprochen wird, ein zweiter Teil über die „Kategorien der Freiheit“ folgt (ab „Da nun die Begriffe des Guten und Bösen“: A 114–119). Der 122
Vgl. Albrecht, Kants Antinomie, 58–60.
Analytik. Zweites Hauptstück (A 100–126)
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letzte Teil, der durch eine eigene Überschrift gekennzeichnet ist („Typik“), schließt sich an das Vorhergehende an, insofern die Betonung des moralischen Gesetzes als eines a priori und rein formalen, das nicht schon in seiner Entstehung mit einem zu bewirkenden oder zu erreichenden Gegenstand verbunden ist, die Frage aufwirft, wie dieses Gesetz auf eine konkrete Handlungssituation angewandt werden kann.
Exkurs über die Priorität des moralischen Gesetzes vor dem Begriff des Guten Die These des vorliegenden Hauptstücks, der zufolge der Begriff des Guten nicht vor dem moralischen Gesetz bestimmt werden kann, hängt an sich (d. h. abgesehen vom besonderen Sinn, den sie aufgrund des rein formalen Charakters des moralischen Gesetzes nach Kant bekommt) mit der Definition des Guten zusammen: Gut ist das, was zu einem Streben korrelativ ist (vgl. den Exkurs über das Objekt des Begehrens, S. 89). Denn „correlativa sunt simul“, so daß es genau gesagt weder eine Priorität des Begehrens vor dem Guten noch eine Priorität des Guten vor dem Begehren geben kann, auch wenn freilich für das Subjekt als Erstes das Bewußtsein seines eigenen Begehrens kommt. Weil nun das Streben gemäß dem „Gesetz“ des jeweiligen Strebevermögens geschieht, gilt die Korrelatitivät auch zwischen diesem Gesetz und dem Guten. Die Korrelativität zwischen dem Gegenstand des menschlichen Willens (des „oberen“ Begehrungsvermögens, wie der Wille in der damaligen philosophischen Terminologie genannt wurde: A 41, „Folgerung“; A 44 f.) und dem Gesetz dieses Willens, dem moralischen Gesetz, soll hier näher geklärt werden, um auf der Grundlage eines Verständnisses der Sache selbst an den Text Kants herangehen zu können. Dafür nehme ich eine Bemerkung wieder auf, die ich im Exkurs über die „Allgemeinheit und Notwendigkeit in der menschlichen Erkenntnis“ gemacht habe (S. 73). Dort habe ich nicht nur auf die Intelligenz und die Rationalität unserer Intentionalität aufmerksam gemacht, die die Allgemeinheit unserer Begriffe und die Notwendigkeit unserer Urteile ermöglichen, sondern auch auf die Moralität derselben Intentionalität. Unser Geist ist von sich aus moralisch, d. h. er ist auf der Suche nach dem Sein als gut, und dies bedeutet als der Anerkennung und tätiger Förderung würdig, die wir ihm in Freiheit und Verantwortung entgegenbringen sollen. Dieses moralische Apriori tut sich in der Frage kund: „Was soll ich tun?“, die sich jeder erwachsene Mensch unweigerlich stellt. Die moralische Eigenschaft der Intentionalität ist kein Begriff des Guten aus, weil der Begriff im eigentlichen Sinne Ausdruck (verbum mentis) einer Einsicht in die Daten der Erfahrung ist. Die Moralität der Intentionalität geht jeglichem kategorialen Begriff des Guten voraus; sie ist die bewußte Vorwegnahme des Guten als Ganzem, also eine transzendentale123 Art von Erkenntnis. Man könnte sie „Notion“ nennen, um sie vom Begriff als Ausdruck eines kategorialen, beschränkten Inhaltes zu unterscheiden. Kurz123 „Transzendental“ ist hier im Sinne von „allumfassend“ gemeint, wie die „Transzendentalien“ der herkömmlichen Metaphysik unum, verum und bonum, die als Eigenschaften des Seins konvertibel mit dem Sein sind, das ebenfalls allumfassend ist.
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um, es handelt sich um jenes Apriori unserer Intentionalität, das erklärt, warum wir überhaupt die Frage: „Was soll ich tun?“ stellen können. Diese Frage zielt ihrerseits auf jenen kategorialen Begriff des Guten, das uns in einer konkreten Handlungssituation in die Pflicht nimmt. Die transzendentale Notion des Guten ist parallel zu den transzendentalen Notionen des Intelligiblen und des Rationalen (des Seins), derentwegen wir angesichts der Daten der Erfahrung die Frage stellen: „Was ist das?“ bzw. wenn wir an den infolge einer Einsicht gebildeten Begriff eines Gegenstandes die weitere Frage stellen: „Ist es so?“, um zur Erkenntnis eines Seienden zu gelangen. In beiden Fällen – hinsichtlich des Seins und hinsichtlich des Guten – handelt es sich um ein Apriori im selben Sinne, nämlich um die bewußte Operativität unserer Intentionalität. Das moralische Gesetz, mit dem das Wesen des Menschen ausgestattet ist, ist nichts anderes als die moralische Dynamik unseres Geistes, deren konstitutive Elemente die transzendentale Notion des Guten, die unbedingte Verpflichtung zum Guten und die Freiheit des Willens als Modus, wie wir dieser Verpflichtung nachkommen können, sind. So verstanden ist evident, daß wir einen kategorialen Begriff des Guten durch das moralische Gesetz und nach demselben bilden (bzw. bestimmen) können – genauso wie wir zur Erkenntnis eines Seienden nur durch unsere intelligente und rationale Intentionalität und nach derselben gelangen können. In diesem Sinne ist die These Kants unbestreitbar. Die Moralität unserer Intentionalität und damit das moralische Gesetz einerseits und der Begriff (die transzendentale Notion) des Guten andererseits sind korrelativ. In unserem Bewußtsein kommt freilich das in der Intentionalität operative moralische Gesetz zuerst zum Tragen. Anders stellt sich die Frage der Priorität, wenn es nicht um das moralische Gesetz in seiner transzendentalen Dimension (welches als a priori kein kategoriales Gebot oder Verbot enthält), sondern um dessen Vollzug in einem partikulären Imperativ geht. Die Ausführungen Kants in diesem wie im vorigen Hauptstück beziehen sich auf ein solches partikuläres Gesetz, wie auch aus seinen Beispielen von Geboten hervorgeht, in denen vom Gegenstand eines Gebotes und vom Gefühl der Lust oder Unlust, das er im Subjekt hervorruft, die Rede ist; einem so verstandenen Gegenstand spricht er dann die Funktion eines Bestimmungsgrundes des guten Willens ab. Genau im Hinblick auf diese Imperative weist er auf das Paradoxon seiner Methode hin, der zufolge der Begriff des Guten durch den Imperativ selbst bestimmt werden müsse. Der Grund dieser Lehre ist kein anderer als der in den Lehrsätzen I und II vorgelegte „psychologische Hedonismus“: Das Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens stelle einen Bestimmungsgrund des Willens dar, der empirisch sei, insofern das Objekt nur deshalb als Handlungsmotiv wirken könne, weil es im Subjekt ein Gefühl der Lust oder Unlust hervorrufe. Daraus hat Kant gefolgert, daß ein moralisches Gesetz bloß formal sein müsse, daß es nämlich das obere Begehrungsvermögen nur durch seine Form der Allgemeinheit bestimmen könne. Erst durch dieses Gesetz werde der Gegenstand des Wollens und Tuns als moralisch gut bestimmt: Dieser Gegenstand ist gut, weil er als Gegenstand einer allgemeinen Gesetzgebung gewollt werden kann. Dann aber drängt sich die Frage auf, die m. E. auf der Lehre von einem bloß formalen Sittengesetz lastet: Warum konnte der Gegenstand dieser Maxime Gegenstand einer all-
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gemeinen Gesetzgebung werden (etwa: die Wahrheit sagen), der Gegenstand einer anderen Maxime aber (etwa: lügen) nicht? Eine Analyse des Prozesses, der von der Frage „Was soll ich tun?“ zur Entscheidung und Handlung führt, führt zu dem Ergebnis, daß wir zuerst infolge einer Einsicht in die Handlungssituation erfassen, was hier und jetzt gut ist – wobei „gut“ als Terminus, der eine sittliche Wertung, d. h. eine Antwort auf die Soll-Frage ausdrückt, den gerundivischen Sinn von „faciendum“ hat. Aus dem praktischen Urteil: „Dies ist gut“, geht dann der Imperativ hervor: „Ich soll/darf dies tun“. Kurzum: Der kategoriale Begriff des Guten wird vor dem entsprechenden moralischen Gesetz gebildet. Die im Text Kants folgenden Ausführungen über den Gegenstand der reinen praktischen Vernunft wiederholen mehrmals dieselbe Argumentation, der zufolge die Lust das Wollen bestimmt, „wenn der Begriff des Guten“ dem praktischen Gesetz „zum Grunde dienen soll“ (Abs. 3 zu Beginn). Diese Argumentation gründet offenkundig im Dilemma, auf das ich im Zusammenhang mit dem Lehrsatz I hingewiesen habe: Bestimmungsgrund des Willens ist entweder der Gegenstand, insofern er eine sinnliche Neigung befriedigt, oder aber das rein formale Gesetz als Verpflichtung zu einer Handlung, die den Charakter der Allgemeinheit aufweist. Das mögliche Dritte, nämlich der Gegenstand als Handlungsmotiv, weil er etwas sittlich Gutes ist, wird von Kant nirgends in Betracht gezogen. Nun bedeutet dieses Dritte, daß der Begriff des Guten dem partikulärem Gesetz vorausgeht und es begründet. Der Umstand, daß Kant nirgends das sittlich Gute als das dem rationalen Strebevermögen (dem Willen) eigene Zielobjekt nennt, wirft die Frage auf, ob die Anthropologie, die seiner Ethik zugrunde liegt, überhaupt ein oberes Begehrungsvermögen kennt. Diese Frage wurde bereits im Zusammenhang mit der „Folgerung“ des Lehrsatzes II gestellt (A 41). Wenn das Gute das Objekt eines Begehrens ist, so muß ein rationales Begehrungsvermögen ein eigenes Objekt haben, das etwas anderes ist als das Objekt nicht-rationaler (sinnlicher) Strebungen. Nun aber werden alle Strebungen im Menschen von Kant zu den Strebungen nach dem Lustvollen oder Angenehmen (bonum delectabile) gezählt. Von einem Gegenstand, der einen intelligiblen Gehalt aufweist, nämlich einen solchen, der zum Menschen als Menschen paßt (ein solcher Gehalt kann nur durch den Verstand erfaßt werden) und der gerade als solcher von einem rationalen Begehrungsvermögen erstrebt wird, ist in der Ethik Kants nirgends die Rede. Sein oberes Begehrungsvermögen steht nur in Verbindung mit der Form der Allgemeinheit, die eine Materie kennzeichnet (A 41). Man sieht nicht ein, wie eine logische Form ein Begehrungsvermögen bewegen kann. Jedenfalls entspricht eine solche Auffassung vom Willen nicht unserer moralischen Erfahrung, bei der wir von dem in die Pflicht genommen werden, was wir als ein Gutes für den Menschen erfaßt haben. Nur konsequenterweise weist dieses Gute die Form der Allgemeinheit auf. Ähnlich verhält es sich mit dem im Sinnlichen erfaßten Intelligiblen: Es ist allgemein, weil es intelligibel ist, nicht umgekehrt! Ist in der Ethik Kants das Gute durch das sinnliche Begehrungsvermögen in Beschlag genommen, so kann in derselben Ethik vom sittlich Guten nur in bezug auf das Erkenntnisvermögen gesprochen werden; genauer gesagt, in bezug auf das moralische Gesetz, aber nur insofern dieses die Verpflichtung zur Allgemeinheit besagt.
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Die fehlende eindeutige Anerkennung eines rationalen Strebevermögens bei Kant würde auch erklären, warum er, obwohl er die herkömmlichen Termini „Wille“ und „oberes Begehrungsvermögen“ kennt und verwendet, dazu tendiert, Willen und praktische Vernunft zu identifizieren. Denn der Terminus „praktische Vernunft“ läßt sich leichter mit der logischen Form der Allgemeinheit in Verbindung bringen als mit jenem Inhalt, der das Gute als Korrelat zu einem Streben ist. Viel prominenter ist in der Ethik Kants die Verbindung des Willens mit der Freiheit!
Erster Teil: Die Definition des Guten (A 100–114) A 100: Abs. 1–2. Gegenstand der praktischen Vernunft ist das, was wir durch unsere Freiheit bewirken können. Wenn nun der Gegenstand selbst unser freies Begehrungsvermögen bestimmt (motiviert), ihn zu wollen, so müssen wir im voraus wissen, ob wir das physische Vermögen haben, diesen Gegenstand zu bewirken (physische Möglichkeit der Handlung). Denn niemand will im Ernst etwas tun, wovon er weiß, daß er es nicht tun kann. Wenn dagegen das moralische Gesetz selbst Bestimmungsgrund unseres freien Begehrungsvermögens sein soll, so ist die entscheidende Frage die, ob wir die Handlung zur Verwirklichung des Gegenstandes wollen dürfen (moralische Möglichkeit der Handlung), unabhängig davon, ob wir das nötige physische Vermögen zu diesem Tun haben oder nicht. Daraus folgert Kant, daß Gut und Böse in dem Sinne die einzigen Objekte der (reinen) praktischen Vernunft sind, daß die Vernunft selbst diese Objekte bestimmt. Es sei allerdings die Bemerkung hinzugefügt, daß die These, Gut und Böse seien Begriffe der reinen praktischen Vernunft als moralischer Vernunft, nicht dieselbe ist wie die These, daß Gut und Böse durch das moralische Gesetz selbst bestimmt werden, falls letzteres im Sinne eines konkreten, partikulären Gesetzes verstanden wird. A 101: Abs. 3 enthält den eigentlichen Beweis, daß der Begriff des Guten als des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft vom moralischen Gesetz bestimmt werden muß, d. h. daß er nur „von einem vorhergehenden praktischen Gesetz abgeleitet werden kann“ (der unbestimmte Artikel „einem“ zeigt, daß ein kategoriales Gesetz, ein bestimmter Imperativ gemeint ist). Der sonst üblichen Lehre, der zufolge der Begriff des Guten dem moralischen Gesetz vorausgeht und ihm zugrunde liegt (der kategorische Imperativ sagt ja: „Du sollst dieses Gute tun“), hält Kant entgegen: In diesem Falle würde die Qualifikation eines Gegenstandes als gut bedeuten, daß der Gegenstand das Begehrungsvermögen motiviert, weil er dem Subjekt Lust verheißt. Der Begriff dessen, was unmittelbar, d. h. in sich gut ist, wäre also der Begriff des (sinnlich) Angenehmen. Dies aber sei dem Sprachgebrauch zuwider, der Gut und Böse auf die Vernunft bezieht, und sie von Angenehmem und Unangenehmem unterscheidet, die auf Empfindung bezogen werden. Außerdem sei das Angenehme nur a posteriori durch Erfahrung erkennbar und auf das einzelne Subjekt bezogen. Der Philosoph, der ein Gefühl der Lust der praktischen Beurteilung zugrundelegt, würde dann das, was
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ein Mittel zum Angenehmen und als solches durch die Vernunft erkennbar ist („denn die Beurteilung des Verhältnisses der Mittel zu Zwecken gehört zur Vernunft“), „gut“ nennen. Ein solches „rationales“ Gut, das als rational Gegenstand des oberen Begehrungsvermögens wäre, wäre in der Tat bloß das Nützliche. Fazit: Die Priorität des Begriffes des Guten vor dem moralischen Gesetz führt nach Kant zu folgender Position: a) Es gibt „nichts unmittelbar Gutes“ im Sinne eines Gegenstandes des rationalen Strebevermögens; b) das rationale Gute ist nur das Nützliche; c) unmittelbar Gutes ist nur das Angenehme. Nun aber folgt diese Position nur, wenn man mit Kant den Lehrsatz I vertritt, demzufolge ein Objekt des Begehrungsvermögens von sich aus kein moralisches Gesetz gründen kann, sondern nur praktische Regeln, die unter das Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit fallen (Lehrsatz II). Diese Position läßt sich überwinden, a) wenn man die Existenz eines rationalen Begehrungsvermögens vertritt, d. h. eines Vermögens, das von der Vernunft geleitet wird; b) wenn man materielle oder geistige Dinge anerkennt, die sich dadurch als Zielobjekt des genannten Begehrungsvermögens erweisen, daß sie durch die Vernunft als das für den Menschen wahrhaft Gute erkannt werden. A 103: Abs. 4–7. Kant zitiert die „alte Formel der Schulen“: Alles, was wir erstreben, erstreben wir unter dem Gesichtspunkt des Guten. Dieses Prinzip drückt die Natur des Strebens aus: Das Streben ist auf das Gute ausgerichtet, sein formales Prinzip ist das Gute. Gerade deshalb ist die klassische Ethik, die auf der Analyse von Strebeakten im Menschen gründet, eine Ethik des guten Lebens. In einem praktischen Urteil der Art: „X ist gut“ beziehen wir ein Objekt auf unseren je eigenen Willen als rationales Strebevermögen und beurteilen es als erstrebenswert. Dieses Urteil führt zu einer freien Entscheidung und Handlung. Kant behandelt das Prinzip dagegen so, als ob es die Natur des Guten betreffen würde. Demnach unterscheidet er in der Fußnote zwei verschiedene Bedeutungen des Begriffs des Guten: a) Etwas ist gut, weil wir es begehren, b) wir begehren etwas, weil wir es uns als gut vorstellen. Im ersten Fall (der die Ansicht Kants wiedergibt) wird der Begriff des Guten vom Begehrungsvermögen bestimmt; im zweiten Fall bestimmt der Begriff des Guten das Begehren und geht deshalb dem Wollen voraus. Der erste Fall entspricht der Beziehung Materie – Form, wie sie im Lehrsatz I verstanden wurde. Ein solches Verständnis führten zu der Ansicht, daß die Materie (das Objekt) wegen der aus ihr hervorgehenden Lust das Begehren auslöst. Im Zusammenhang mit dieser Doppeldeutigkeit der Formel weist Kant auf die Doppeldeutigkeit der lateinischen Termini bonum und malum hin. Denn jeder dieser Wertungstermini kann sowohl die Beziehung eines Gegenstandes „auf unseren Zustand der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit“ bezeichnen, als auch „eine Beziehung auf den Willen, sofern dieser durchs Vernunftgesetz bestimmt wird, sich etwas zu seinem Objekt zu machen“. Diese Doppeldeutigkeit von bonum und malum sei dadurch in der deutschen Sprache behoben, daß sie für bonum zwei verschiedene Termini habe: das Gute und das Wohl, und für malum die Termini das Böse und das Übel
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(oder Weh), wobei der je erste Terminus in beiden Paaren die Beziehung zur Vernunft, der zweite die Beziehung zur Sinnlichkeit besagt. Zu bemerken ist, wie Kant die Beziehung des Guten auf den Willen formuliert: Der Wille „ist ein Vermögen, sich eine Regel der Vernunft zur Bewegursache einer Handlung … zu machen“. Frage: Wie entsteht diese Regel, nämlich das moralische Gesetz? Entsteht sie infolge einer im anvisierten Objekt erfaßten Intelligibilität (das Objekt als ein sittlich Gutes verstanden) oder unabhängig davon? Die Antwort Kants fällt im Sinne des zweiten Gliedes der Alternative aus, weil ja die Methode seiner KpV zu dem im Abs. 10 formulierten Paradoxon führt. Die hier dargelegte Differenz in der Wertung von Übel und Bösem wird im Abs. 7 durch das Verhalten des Stoikers Poseidonios veranschaulicht, von dem sein Schüler Cicero in den „Disputationes Tusculanae“ II, 25, 61 berichtet. A 106: Abs. 8 macht, fast beiläufig, zur Erklärung von „gut“ als Grundbegriff die wichtige Bemerkung, daß „gut in jedes vernünftigen Menschen Urteil ein Gegenstand des Begehrungsvermögens sein muß“, wobei das rationale Begehrungsvermögen, der Wille, gemeint ist, was aus der Aussage hervorgeht, daß es für eine solche Beurteilung (einschließlich der Beurteilung, daß etwas böse ist) der Vernunft bedarf. Anders gesagt, „gut“ und „böse“ als sittliche Kategorien werden erst in der Perspektive des handelnden Subjekts, das mit einem rationalen, nach dem für den Menschen Guten strebenden Begehrungsvermögen ausgestattet ist, begründet. Sie gelten deshalb nur für intentionale Handlungen und bezeichnen damit ein intendiertes Tun. Was intendiert und getan wird, ist ein intentionaler Gehalt, der eigentliche Gegenstand des Wollens und Tuns (vgl. oben den Exkurs über den Gegenstand einer menschlichen Handlung, S. 81). Dieser Gegenstand wird, wie im Abs. 4 bemerkt wurde, immer unter dem Gesichtspunkt des Guten erstrebt und erweist sich vor dem Forum der Vernunft entweder als wahrhaft gut oder aber als böse (letzteres infolge eines schuldhaften oder schuldlosen Irrtums). Die darauffolgende Exemplifizierung verfehlt allerdings die Pointe der vorigen grundsätzlichen Aussage. Daß ein Übel (eine chirurgische Operation) für gut erklärt wird, weil sie zur Wiedererlangung der Gesundheit führt – wobei diese Relation nur durch die Vernunft erfaßt werden kann – stimmt. Damit wird das Übel durch die Vernunft als ein „bonum utile“ erkannt. Dies aber betrifft nicht direkt die Kategorie des sittlich Guten als von Natur aus Vernünftigem und deshalb als „an sich gut“ (wie es zu Beginn des Abs. 10 heißt). Kant spricht am Ende des Abs. von der „Proportion zwischen Wohlbefinden und Wohlverhalten“ (vgl. auch GMS A 90 = IV 442). Im Dialektik-Teil liegt das Prinzip einer „Glückseligkeit“, die „genau in Proportion der Sittlichkeit … ausgeteilt“ wird (A 199), der dort behandelten Frage nach dem „höchsten Gut“ als dem „notwendigen höchsten Zweck eines moralisch bestimmten Willens“ (A 207) zugrunde. An unserer Stelle ist die Proportion eine Anforderung der Gerechtigkeit und bezieht sich deshalb auf ein Verhalten, das Tugend und auch Untugend umfaßt, und auf ein Befinden, das Glückseligkeit und auch Übel umfaßt. Das Problem des höchsten Gutes dagegen, bei
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dem das Verhalten nur Tugend meint, ja sogar das „moralische Gesetz“ (A 197), steht nicht (direkt) unter der Gerechtigkeitsidee.124 A 107: Abs. 9. Nachdem Kant „Gut“ vom Wohl und „Böse“ vom Weh unterschieden hat, versucht er auch der Bedeutung von Wohl und Weh, d. h. dem „Empfindungszustand“ (A 105) im menschlichen Leben gerecht zu werden. Denn als sinnliches Wesen ist der Mensch gegenüber Wohl und Weh nicht gleichgültig. Von seinem eigenen bedürftigen Wesen her, das zur Sinnenwelt gehört, erwächst der Vernunft des Menschen der Auftrag, sich um das Interesse der Sinnlichkeit zu kümmern, d. h. für die eigene Glückseligkeit im gegenwärtigen und womöglich auch im zukünftigen Leben zu sorgen. Dafür ist die Vernunft nötig, da dem Menschen die Instinkte weitgehend fehlen. In A 61f. hat Kant bereits versucht zu zeigen, daß die Suche nach der eigenen Glückseligkeit moralisch zulässig ist, wenn diese Suche auch die Glückseligkeit der anderen einschließt und so wegen der „Form der Allgemeinheit“ erstrebt wird. In A 166f. ist die Rede davon, daß es „in gewissem Betracht sogar Pflicht sein kann, für seine Glückseligkeit zu sorgen“. Kants Auffassung von der Glückseligkeit ist durchgehend empirisch; an unserer Stelle wird sie ohne weiteres in Verbindung mit „unserer Natur als sinnlicher Wesen“ gesetzt. Es fällt aber auf, daß in der KpV trotz (oder wegen?) ihres bekannten Rigorismus immer wieder von der Glückseligkeit die Rede ist, wobei neben kräftigen Aussagen gegen die Glückseligkeit als in irgendeiner Weise Ziel unseres Handelns es nicht an Stellen fehlt, an denen Kant sich zugunsten derselben ausspricht. Aufs Ganze gesehen, stellt man bei Kant ein zwiespältiges Verhältnis zu unserem natürlichen Streben nach Glück fest. Die Aussagen, die eine Sorge um die eigene Glückseligkeit nicht ausschließen, scheinen eher unvermeidliche Zugeständnisse an unsere sinnliche Natur als positiv vom moralischen Gesetz gedeckt zu sein. Der Grund für diese nicht befriedigende ethische Position dürfte darin liegen, daß es Kant nicht gelungen ist, das moralische Gesetz als das Gesetz des Menschen zu verstehen, der nicht nur „nicht so ganz Tier“, sondern eine Wesenseinheit von Leib und Geist ist. Wenn das Wesen des Menschen ein solches Zusammengesetztes und wenn das moralische Gesetz das Gesetz dieses Wesens ist, so fällt das Verlangen nach dem Glück dieses Wesens als Ganzem, d. h. sein Streben nach Verwirklichung bzw. Vervollkommnung (freilich gemäß der Stellung, die jede Komponente im strukturierten Ganzen innehat) unter das moralische Gesetz. Der „Auftrag“, die die Vernunft von seiten der Sinnlichkeit hat, ist deshalb nicht bloß „nicht abzulehnen“ (als ein für endliche, bedürftige Wesen leider „unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens“, vgl. A 45), sondern positiv zu bejahen. Wenn E. Förster125 diesen Auftrag als „kein rein sittliches Ziel“, „keine Pflicht“ und „keinen Bestimmungsgrund des reinen Willens“ ansieht (in der Tat ist es der Auftrag zu einer heteronomen und deshalb unsittlichen, weil empirisch motivierten Handlung; 124 125
Vgl. Albrecht, Kants Antinomie, 80–83. In: O. Höffe (Hrsg.), I. Kant. Kritik der praktischen Vernunft, 178.
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ein Drittes gibt es nicht!), so bleibt er auf halbem Weg stehen genauso wie Kant an der vorliegenden Stelle, in A 166 f. und mehrmals im Verlauf des Werkes. Ein solches Zugeständnis hat die Kommentatoren zu allerlei Umwegen und Uminterpretationen gezwungen. Es gibt m. E. nur eine kohärente Position in einer Ethik, die das moralische Gesetz des Menschen (und nicht eines Geistwesens!) ermitteln will, nämlich die Anerkennung, daß dieses Gesetz nicht rein formal ist, sondern sein objektives Kriterium im Wesen des Menschen als Einheit von Leib und Geist hat. Betrifft das moralische Gesetz beide Bestandteile des Menschen, so sollen die sinnlichen Strebungen in die entsprechenden Tugenden zum Wohl der Person als ganzer eingebunden werden. Am Ende des Abs. erwähnt Kant den „höheren Beruf“ der Vernunft, über das, was an sich gut oder böse ist“, zu urteilen, also den moralischen Gebrauch der Vernunft. Davon möchte er den Gebrauch derselben „um sein Wohl und Weh“, also den bloß instrumentellen Gebrauch als Ersatz der Instinkte, gänzlich unterscheiden. Auf der Grundlage einer nicht dualistischen Auffassung des Menschen wäre vielmehr von einem einzigen moralischen Gebrauch der Vernunft zu sprechen, insofern auch das Wohl der Sinnlichkeit in der Einheit der Person zum „an sich“ Guten gehört.126 A 109: Abs. 10 bringt nichts Neues, wiederholt aber in besonders klarer Weise den Kern des Formalismus aus dem Gesichtspunkt der Bestimmung des Begriffs des Guten: Entweder wird „gut“ durch ein Vernunftprinzip festgelegt, nämlich durch die „gesetzliche Form [die allgemeine Form] der Maxime“, die den Willen bestimmt;127 in diesem Falle ist der Wille „schlechterdings gut“ und die reine Vernunft ist für sich praktisch. Oder „gut“ wird vom Gegenstand des (unteren) Begehrungsvermögens festgelegt; dann aber handelt es sich um einen empirischen Begriff, der „nicht ein Gutes, sondern ein Wohl“ bezeichnet. Eine Handlung zur Bewirkung dieses „Wohls“ kann gut genannt werden, insofern sie den Gebrauch der Vernunft verlangt; aber dann handelt es sich um ein „bonum utile“, nicht um ein „an sich selbst“ Gutes (vgl. Abs. 3: A 103). Wie mehrmals schon bemerkt, fehlt bei Kant „das Dritte“, nämlich das obere Begehrungsvermögen, das mit einer uneingeschränkten Dynamik ausgestattet ist und unter der Leitung der Vernunft nach dem sittlich Guten strebt. Ein solches Gut wird zwar a posteriori erkannt, und in diesem Sinne ist es empirisch, aber die Erfassung der Intelligibilität, die es zu einem „von Natur aus“ vernünftigen Gegenstand macht, ist die 126 Vielleicht geht doch auch der Gedankengang Kants schließlich in diese Richtung, wenn er am Ende des Abs. davon spricht, „sie [d. h. die Beurteilung über das an sich Gute] zur obersten Bedingung der letzteren [so die Lesart Natorps, die ich auf die Beurteilung über Wohl und Weh beziehen würde] zu machen“. 127 Die Art und Weise, wie Kant sich ausdrückt, ist genau zu beachten: Das Vernunftprinzip, das den Willen bestimmen soll, also der kategorische Imperativ, nimmt keine „Rücksicht“ auf das Objekt des Begehrungsvermögens (d. h. des Willens). Die Aussage schließt jegliche Möglichkeit einer Interpretation dahingehend aus, daß doch das moralische Gesetz irgendwie vom Objekt abhängt, das es zu tun gebietet bzw. verbietet. Dasselbe zu Beginn von A 112, wo von „einem reinen praktischen Gesetze … ohne Rücksicht auf einen Gegenstand“ die Rede ist.
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Leistung der Vernunft, welche die im Menschen vorhandenen Strebungen im Lichte des Wesens des Menschen versteht, ordnet und beurteilt. A 110: Abs. 11. Kant geht direkt zur These des Hauptstückes über („daß nicht der Begriff des Guten als eines Gegenstandes das moralische Gesetz, sondern umgekehrt das moralische Gesetz allererst den Begriff des Guten … bestimme“ – am Ende des Abs.), und indem er zur Antwort auf einen Einwand des Propstes Pistorius (vgl. Vorrede A 15) den für die Ethik fundamentalen Begriff des Guten erläutert, legt er nochmals den Kern seiner ethischen Theorie dar. In dieser Antwort kommen die Grundzüge der Ethik Kants – Formalismus und Autonomie – wieder zum Vorschein. In der Tat ist die Umkehrung in der Anordnung der Begriffe von Gut und moralischem Gesetz, wie der Common Sense sie spontan versteht, ein Aspekt des Formalismus. In diesem Sinne läuft das Argument zu Beginn von A 111 („Gesetzt wir wollten …“). Ein Gegenstand, der dem praktischen Gesetz vorausgeht, würde den Willen nur wegen der Gefühle der Lust oder Unlust bewegen. Dies aber bedeutet, daß das praktische Gesetz, das auf diesen empirischen Begriff des Guten gegründet werden soll, keinen Bestimmungsgrund des Willens a priori kennt. Nun aber steht für Kant als Ergebnis des ersten Hauptstückes der Analytik fest, daß der Bestimmungsgrund des guten Willens a priori sein muß, will man nicht den Begriff der Lust mit dem Begriff des sittlich Guten verwechseln. Also kann nur eine bloße Form Bestimmungsgrund des Willens sein – die Form der Allgemeinheit – wie ebenfalls im ersten Hauptstück bewiesen. Erst ein so verstandenes Gesetz kann den Begriff des Guten als eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft bestimmen. Dieselbe Priorität des Begriffs des Guten vor dem moralischen Gesetz würde gegen die Autonomie als „oberstes“ und „alleiniges“ Prinzip der Sittlichkeit verstoßen (GMS A 87 f. = IV 440). Denn sie würde die Abhängigkeit des sittlich guten Willens von einem ihm vorgegebenen Gegenstand besagen. Sie würde also „Heteronomie herbeibringen und das moralische Prinzip verdrängen“, wie Kant weiter unten bei der Einführung des Begriffs des „höchsten Gutes“ ausdrücklich folgert (A 197). In seinen Ausführungen über das hier zur Debatte stehende Paradoxon der Ethik Kants verweist Schmucker darauf, daß „das entscheidende Prinzip der Gutheit des Wollens nicht irgendein Gegenstand oder Zweck des Willens ist …, sondern es ist umgekehrt der sittlich gute Wille, der entscheidet …, was ein sittlich möglicher oder notwendiger Gegenstand ist“.128 Demgegenüber gilt es, die Gegenfrage zu stellen: Warum (nach welchem Kriterium) ist der Wille gut? Antwortet man: Der gute Wille ist der „allgemeine Wille“ (vgl. „Träume eines Geistersehers“, II 335; auch die erste Formel des kategorischen Imperativs), so ist wieder zu fragen: Warum (nach welchem Kriterium) lassen sich bestimmte Handlungen verallgemeinern, andere aber nicht? Ohne 128 J. Schmucker, „Der Formalismus und die materialen Zweckprinzipien in der Ethik Kants“, in: J. B. Lotz SJ (Hrsg.), Kant und die Scholastik heute, Pullach 1955, 155–205, hierzu 167. Wieder abgedruckt in: H. Oberer (Hrsg.), Kant, Analysen – Probleme – Kritik, Bd. 3, Würzburg 1997, 99–156, hierzu 112f.
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einen vorgegebenen, der Vernunft zugänglichen Inhalt, ist aus dem Zirkelschluß nicht auszubrechen.129 Fazit: Die paradoxe Methode der KpV folgt aus dem Fehlen eines rationalen Strebens. Dieses Fehlen kennzeichnet die Anthropologie und damit die Ethik Kants. Daraus ergibt sich das Dilemma: Bestimmungsgrund des freien Willensaktes ist entweder das moralische Gesetz als rein formales Gesetz a priori oder aber der empirische Gegenstand als angenehm. Im ersten Falle ist noch kein Gegenstand gegeben, der als Gegenstand des guten Willens gelten kann; im zweiten Fall haben wir einen Gegenstand, der gut für die Sinne ist, aber nicht für das obere, rationale Begehrungsvermögen. Es bleibt Kant keine andere Möglichkeit übrig, den Begriff des Guten zu bestimmen, als durch das moralische Gesetz selbst als formales Gesetz. Die – m. E. unüberwindbare – Schwierigkeit, auf die diese Methode bei dem Übergang von der Maxime zum Gesetz stößt, wurde bereits besprochen. Denn ich habe immer wieder darauf aufmerksam gemacht, daß der Formalismus (die These nämlich, der zufolge das moralische Gesetz bloß formal ist) kein Kriterium zur Unterscheidung der Maximen kennt, die sich verallgemeinern (deren Gegenstand also ein sittlich Gutes ist), von denen, die sich nicht verallgemeinern lassen. Es sei hier nochmals darauf hingewiesen, daß die hier vorgeschlagene Alternative zum rein formalen Gesetz nicht die Erfahrung im Sinne einer bloß sinnlichen Wahrnehmung ist. Der durch die Erfahrung vermittelte Gegenstand, der als Bestimmungsgrund des Willens fungieren soll, ist nicht einfach der Gegenstand naturhafter Strebungen, sondern der Gegenstand als durch die Vernunft verstanden, geordnet und in das Gesamtgefüge der menschlichen Natur integriert. Dieser Gegenstand kann als gut in moralischem Sinne erfaßt werden, weil die Suche nach einer Antwort auf die Frage: „Was soll ich tun?“ im Lichte jener moralischen Intentionalität geschieht, die von sich selbst das moralische Gesetz in transzendentalem Sinne ausmacht und die schon in sich die „Notion“ des Guten enthält, wie im Exkurs zu Beginn des Hauptstückes ausgeführt wurde. Dieselbe Intentionalität ist keineswegs gezwungen, zum „Gefühl der Lust“ als „Probierstein des Guten“ zu greifen, wie Kant in A 111 zugunsten der Priorität des kategorial verstandenen moralischen Gesetzes argumentiert. A 112: Abs. 12. Infolge der Ausführungen Kants im vorliegenden Abschnitt kann seine ethische Position durch folgende zwei Thesen charakterisiert werden: a) Das mo129 Die hier abgelehnte Position ist nicht mit der bei Aristoteles mehrmals wiederkehrenden Aussage zu verwechseln, daß der Tugendhafte selbst Regel und Maßstab für das wahrhafte Gute ist (so in der Nikomachischen Ethik II 3: 1105 b 5–9; II 6: 1106 b 36–1107 a 2 ; III 6: 1113 a 24–1113 b 1). Denn dieser Lehre liegt die klare Anerkennung zugrunde, daß der Mensch mit einem rationalen Strebevermögen ausgestattet ist, welches im Lichte der Vernunft nach dem wahrhaft Guten als dem „für den Menschen Guten“ strebt. Das „subjektive“ Kriterium, das Aristoteles nennt, ist in der Tat der authentische Mensch, der durch die Erwerbung der Tugenden die ihm innewohnenden Strebungen in die Forderungen der Vernunft so integriert hat, daß er über eine „Konnaturalität“ mit dem Guten verfügt. Vgl. auch den Exkurs über „Pflicht, Neigungen und Liebe im Menschen als moralischem Wesen“, vor allem Nr. 2 „eine philosophische Erklärung“, S. 179.
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ralische Gesetz hat Priorität vor dem Begriff des sittlich Guten. Ein solches Gesetz, gerade weil es dem Begriff des Guten vorausgeht, kann nur „ein formales Gesetz [sein], d. i. ein solches, welches der Vernunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Gesetzgebung zur obersten Bedingung der Maximen vorschreibt“. b) Dasselbe Gesetz bestimmt zuallererst den Gegenstand des guten Willens, also den Begriff des Guten. Alle anderen ethischen Positionen werden von Kant dahingehend charakterisiert, daß sie „einen Gegenstand des Willens … zur Materie und dem Grunde“ des Gesetzes machen. Tatsächlich hat Kant oben sämtliche ethischen Theorien, die keinen „formalen obersten Grundsatz der reinen praktischen Vernunft“ vertreten, unter den Sammelbegriff von „praktischen materialen Bestimmungsgründen“ gestellt (A 68 f.). Gemäß der Sicht Kants, wie sie aus dem Lehrsatz I hervorgeht, bedeutet dies, daß alle ethischen Theorien, außer seiner eigenen, auf dem Begriff eines Gegenstandes gründen, insofern dieser Quelle der Lust ist – wie immer sie diesen Gegenstand des näheren auch bestimmen mögen: Glückseligkeit, Vollkommenheit, moralisches Gefühl, Wille Gottes. Alle diese gelten Kant als „Verirrungen“. Dies ist der Fall bei den „Alten“, die „unverhohlen“ ihre moralische Untersuchung auf den Begriff des „höchsten Gutes“ orientiert haben. Gemeint ist die klassische Ethik des guten Lebens. Allerdings will Kant den Begriff des höchsten Gutes der Alten nicht fallen lassen; er soll vielmehr „weit hinterher“, nämlich im letzten Teil des Werkes, „dem nunmehr seiner Form nach a priori bestimmten Willen“ als Gegenstand vorgestellt werden. Damit ist das Thema der Dialektik angekündigt, in der Kant gleich am Anfang das Thema des höchsten Gutes wiederaufnimmt (A 194) und es vom Gesichtspunkt seiner ethischen Konzeption definiert (A 198f.). Was die „Neueren“ anbelangt, bemerkt Kant richtig, daß bei ihnen „die Frage über das höchste Gut außer Gebrauch gekommen“ ist. Er qualifiziert aber ihre Ethiken nicht als „Ethiken der Normen“ oder der Gesetze, wie es die gegenwärtige Philosophie-Geschichte tut. Denn er sieht die verschiedenen moralischen Prinzipien der modernen Ethiken als verschiedene Formen des Lust-Prinzips, genauso wie er die Ethiken der Alten sieht. Sie sind deshalb verschiedene Formen von „Heteronomie“.
Zweiter Teil: Die Kategorien der Freiheit (A 114–119) Nachdem Kant den Begriff des Gegenstandes der praktischen Vernunft (Gut und Böse) durch das moralische Gesetz definiert hat, behandelt er die Kategorien, die diesen Gegenstand betreffen. Da nun Gut und Böse von der Kausalität des Willens stammen (einer Kausalität „aus Freiheit“: KrV A 532), so werden diese „Gedankenformen“ „Kategorien der Freiheit“ genannt. Was Kant hier ausführt ist evidentermaßen nach dem Muster der ersten Kritik konzipiert (vgl. „Der Werdegang der Ethik Kants“, Nr. 14, S. 54), in der auf eine erste Bestimmung des Gegenstandes der theoretischen Vernunft (A 50–52) die Kategorien des Verstandes folgen. Was mit den Kategorien der Freiheit gemeint ist und welche Funktion sie in unserer freien und verantwortlichen Praxis ausüben, wird in wenigen Seiten dargelegt. Denn nach Kants Dafürhalten ist die
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hier vorgelegte Tafel nicht nur „sehr zuträglich“, sondern auch „für sich verständlich genug“ (A 118). In der Tat aber hat er selbst von dieser Nützlichkeit im ganzen vorliegenden Werk nirgends Gebrauch gemacht, ja die Tafel kommt auch in keiner seiner anderen Schriften vor. In der Vorrede nun hat er sich durch seine Kritiker veranlaßt gesehen, eine terminologische Präzisierung nachzuliefern (A 20 f., Fn). Falls die KantForscher diesen Abschnitt überhaupt nennen, so beschränken sich die meisten darauf, seine Dunkelheit zu beklagen; ansonsten gehen sie ihm aus dem Weg.130 A 114: Abs. 13. Im vorigen Abschnitt hat Kant anhand des moralischen Gesetzes den Gegenstand der reinen praktischen Vernunft festgelegt. Schon aus der Auffassung vom moralischen Gesetz als einem rein formalen geht hervor, daß der direkte Gegenstand der reinen praktischen Vernunft die freien Handlungen selbst sind, insofern sie unter der vom Gesetz geforderten Allgemeinheit stehen; nur als Konsequenz gilt auch der Inhalt (die Materie), den eine Handlung hervorbringt oder erreicht, als Gegenstand. Im vorigen Abs. 6 hieß es: Der Wille „wird niemals durch das Objekt und dessen Vorstellung unmittelbar bestimmt [vgl. Lehrsatz I!], sondern [er] ist ein Vermögen, sich eine Regel der Vernunft zur Bewegursache einer Handlung (dadurch das Objekt wirklich werden kann) zu machen. Das Gute oder Böse wird also eigentlich auf Handlungen … bezogen“. Gut oder Böse können „nur die Handlungsart … mithin die handelnde Person … nicht aber eine Sache … genannt werden“ (A 105f.; vgl. auch in der GMS A 38 Fn = IV 413 die Unterscheidung zwischen „praktischem Interesse an der Handlung“ und „pathologischem Interesse am Gegenstand der Handlung). Der Abs. beginnt mit einem Vergleich zwischen theoretischem und praktischem Vernunftgebrauch. Im ersteren beziehen sich die reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien auf das Mannigfaltige gegebener Anschauungen, um es zu einer synthetischen Einheit zu bringen und es so als ein Objekt zu konstituieren; im anderen setzt die reine praktische Vernunft, die zu einer intelligiblen Welt Zugang hat, die Erscheinungswelt und damit die Objekte voraus. Durch ihre eigenen Kategorien konstituiert sie die Handlungen, die wegen der Kategorien des Verstandes Erscheinungen sind, als praktische Gegenstände, d. h. als geltungsdifferent (entweder gut oder böse). Damit unterwirft die praktische Vernunft die Begehrungen, die auf der Ebene der Sinnenwelt durch sinnliche Antriebe hervorgerufen werden, „der Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft oder eines reinen Willens 130 Dankenswerte Ausnahmen bilden der Kommentar Becks, der den Passus verhältnismäßig ausführlich erläutert (142–151), sowie einige Abhandlungen aus der neueren Kant-Literatur. Ich verweise auf Robert J. Benton, „Kant’s Categories of Practical Reason as Such, in: KS 71 (1980) 181–201; Susanne Bobzien, „Die Kategorien der Freiheit bei Kant“, im bereits zitierten Sammelwerk von H. Oberer und G. Seel, Kant. Analyse – Probleme – Kritik, Bd. I, Würzburg 1988, 193–219. Dieser ausgezeichnete, textnahe Artikel ist sehr hilfreich für das Verständnis der sonst knappen Ausführungen Kants. In meinem Kommentar lehne ich mich an diese Interpretation an. Im Bd. III desselben Sammelwerks (1997, 41–76) findet sich ein weiterer Artikel zum selben Thema: Bruno Haas, „Die Kategorien der Freiheit“, sowie eine „Anmerkung“ (77–80) Bobziens zum Artikel von Haas.
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a priori“. Sie sind Begehrungen oder Verabscheuungen dessen, was als gut oder böse erkannt wird. A 115: Abs. 14. Die Begriffe des Guten und Bösen, die im vorigen Abschnitt als Modi der Kausalität der reinen praktischen Vernunft vorgestellt worden sind, werden hier kurz „Kategorien der Freiheit“ genannt. Wiederum durch einen Parallelismus mit und zugleich eine Abgrenzung gegen die Kategorien der theoretischen Erkenntnis als Kategorien der Natur sollen sie jetzt näher untersucht werden. Die theoretischen Begriffe sind nur Gedankenformen, die sich unbestimmt auf Objekte überhaupt beziehen und die erst Bedeutung bekommen, wenn ihnen korrespondierende Anschauungen in der Sinnlichkeit gegeben werden. Die Kategorien der praktischen Vernunft dagegen beziehen sich auf die freie Willkür,131 der das Sittengesetz als ihre Form zugrunde liegt. Weil nun das Sittengesetz als ein Faktum der Vernunft gilt, beziehen sich die Kategorien der Freiheit auf etwas Wirkliches. Sie haben also eine Anwendung, d. h. objektive Realität, vorgängig zu und unabhängig von den Naturbedingungen, die nötig für die Ausführung des Gewollten sind: „Die praktischen Begriffe a priori werden in Beziehung auf das oberste Prinzip der Freiheit [das Sittengesetz] sogleich Erkenntnisse“. Denn sie selbst bringen die Wirklichkeit dessen hervor, worauf sie sich beziehen: die Willensgesinnung. Mit Verweis auf GMS A 78 = IV 435 („die Gesinnungen, d. i. die Maximen des Willens“) und auf KpV A 99 („Gesinnungen oder Maximen“) interpretiert Bobzien (l.c. 201 f.) das Hervorbringen von „Willensgesinnung“ als ein Hervorbringen von Maximen und dadurch von Handlungen, die gut oder böse sind je nach den ihnen zugrundeliegenden Maximen. A 117: Abs. 15–17. Die vorliegende Tafel gibt direkt nur Begriffe (Kategorien) der praktischen Vernunft an, die, wie die Begriffe in der entsprechenden Tafel der KrV, unter vier Titeln stehen. Daß Kant von den Kategorien des Verstandes ausgeht, um die Kategorien der praktischen Vernunft zu untersuchen, erklärt sich dadurch, daß a) es um die moralische Bestimmung von Handlungen geht, die bereits als Erscheinungen konstituiert sind, b) wir alles, was wir denken, mittels der Verstandesbegriffe denken (vgl. zu A 87 ff. „Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im praktischen Gebrauch …“, S. 129). Implizit aber werden auch die entsprechenden Grundsätze der praktischen Vernunft angegeben, die man erhält, wenn man die vorliegenden Begriffe auf das Sittengesetz als Faktum bezieht. Solche Grundsätze (die nicht mit dem obersten Grundsatz der Sittlichkeit zu verwechseln sind, der nur einer ist und der zunächst sich nicht unmittelbar auf Erscheinungen bezieht) sind theoretische Sätze, die die Bedingungen angeben, unter denen eine Handlung in der Erscheinung gut sein und als solche begriffen werden kann. Diese theoretischen Sätze können im Sinne Kants ausformuliert werden, indem man die Grundsätze des reinen Verstandes (KrV A 154 ff.) als Leitfaden nimmt. Ich beschränke mich auf die Kategorien. 131 Das Begriffspaar: Wille – Willkür, das einige Male in der KpV bereits aufgetaucht ist, soll innerhalb des Kommentars zum dritten Hauptstück erläutert werden; vgl. dort den Exkurs über die Unterscheidung von Wille und Willkür bei Kant, S. 166
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Die zwölf Kategorien der praktischen Vernunft stellen, wenn man ihnen das Sittengesetz zugrundelegt, ebensoviele verschiedene Bestimmungsstücke des einen Begriffs des Guten dar. D.h. der Begriff des Guten, den Kant bereits durch seine Beziehung auf das Sittengesetz definiert hat, erhält vier Bestimmungen durch je eine der drei möglichen Bestimmungen, die unter jedem der vier Titel stehen, je nachdem um welche Handlung es geht. Hier sei in einer etwas gekürzten Fassung die Kantische Tafel wiedergegeben, so wie Frau Bobzien sie rekonstruiert hat. Zum Verständnis der Tafel soll man die Tafel der KrV heranziehen und zugleich sich vergegenwärtigen, daß es sich hier um jene Erscheinungen handelt, die in bezug auf eine Handlung (statt auf einen Gegenstand der Erkenntnis) beschrieben werden.
Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen 1. Quantität a) Die Handlung steht unter einer Maxime – die Handlung ist gut für das entsprechende Individuum. b) Die Handlung steht unter einer praktischen Vorschrift – gut für die Individuen, die nach der gemeinten Neigung handeln. c) Die Handlung steht unter einem praktischen Gesetz – gut für alle Individuen. 2. Qualität a) Die Handlung steht unter einer Begehensregel – real gut. b) Die Handlung steht unter einer Unterlassensregel – Negation eines Guten. c) Die Handlung steht unter einer Ausnahmeregel – real gut unter einer limitierenden Bedingung. 3. Relation a) Die Handlung ist die einer Persönlichkeit – durch eine Persönlichkeit gut. b) Die Handlung ist Folge („Wirkung“) des Zustands der Person – gut im Zusammenhang mit dem Zustand der Person. c) Die Handlung steht in Wechselwirkung mit anderen handelnden Personen – gut im Wechselwirkungszusammenhang dieser Personen. 4. Modalität a) Die Handlung ist erlaubt – möglicherweise gut. b) Die Handlung ist Pflicht – wirklich gut. c) Die Handlung ist eine vollkommene Pflicht – notwendigerweise gut. Die obige Tafel der Kategorien der Freiheit ist die Tafel der Kategorien, die „die praktische Vernunft überhaupt angehen“, wie es kurz vor der Tafel geheißen hat. Es sind also die Kategorien, die jede Handlung bestimmen, insofern der freie Wille sie verursacht – wobei der Wille auch durch andere Gründe bestimmt werden kann als durch das moralische Gesetz; in diesem Falle ist die Handlung böse. Als durch diese Kategorien bestimmt, kann sich jede freie Handlung in die Sinnenwelt eingliedern. So betrachtet, sind sie Kategorien der Naturmöglichkeit jeder freien Handlung (A 118 kurz nach dem Beginn). Aber, fügt Kant hinzu, die angegebenen Kategorien als Bestim-
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mungen einer freien Handlung werden „so allgemein genommen“, daß die freie Kausalität, von der die Handlungen als Erscheinungen in der Sinnenwelt abhängen, auch die eines intelligiblen Wesens sein kann. Dies ist der Fall, wenn es darum geht, die Handlungen des Menschen als moralische zu betrachten. Unmittelbar vor der Einführung der Tafel schreibt Kant, daß diese Kategorien, die zunächst nur die praktische Vernunft überhaupt angehen, „in ihrer Ordnung von den moralisch noch unbestimmten und sinnlich-bedingten zu denen, die, sinnlich-unbedingt, bloß durchs moralische Gesetz bestimmt sind, fortgehen“. An diese Ordnung anknüpfend, stellt Kant unmittelbar nach seiner Festlegung der Tafel des weiteren fest, daß die Kategorien der Modalität, jenseits dessen, was die Freiheit handelnd gemäß den Kategorien der Gruppen 1 bis 3 in der Natur bewirken kann, „den Übergang von den praktischen Prinzipien überhaupt zu denen der Sittlichkeit … einleiten“. Die gemeinten Prinzipien der Sittlichkeit sind die einzelnen moralischen oder „praktischen Gesetze“ (vgl. § 1 „Erläuterung“), in bezug auf die allein von Pflicht die Rede sein kann und die nichts anderes als Konkretisierungen des „Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft“ (§ 7) sind. Aber, so präzisiert Kant im soeben zitierten Text, die Kategorien der Modalität führen „nur problematisch“ zu den reinen praktischen Prinzipien. Denn die Kategorien der Freiheit allein geben nicht die Pflichten an, deren Begriff sie als Modi freier und verantwortlicher Handlungen bestimmen. Zum tatsächlichen Vorkommen von Pflichten sind andere Bedingungen nötig. In seiner „Metaphysik der Sitten“ als Pflichtenlehre hat Kant sämtliche Pflichten in vollkommene und unvollkommene unterschieden.132 Die vollkommenen Pflichten sind Rechtspflichten; sie entstehen dadurch, daß praktische Gesetze bestimmte Handlungen zur Pflicht machen. Es sind also Handlungen, die unter allen Umständen gesollt sind. Die unvollkommenen Pflichten sind Tugendpflichten; sie entstehen dadurch, daß praktische Gesetze bestimmte Zwecksetzungen zur Pflicht machen. Es sind die Gesetze, die „nur die Maximen der Handlungen, nicht die Handlungen selbst gebieten“. Sie „überlassen der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür, d. i. geben nicht bestimmt an …, wie und wieviel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden soll“ (MS, Einleitung in die Tugendlehre, Nr. VII. Vgl. auch die Tafel über die Einteilung der Pflichten in der Einleitung zur Rechtslehre: A 49 = VI 240). Diese Unterscheidung setzt die Existenz äußerer Gesetze (für die vollkommenen Pflichten) bzw. die Existenz von Zwecken, die zugleich Pflichten sind (für die Tugendpflichten) voraus. Diese Gesetze beruhen ihrerseits auf einem doppelten Gebrauch der Freiheit: Die Freiheit im äußeren Gebrauch, auf die sich die „juridischen“ Gesetze beziehen, und die Freiheit im inneren Gebrauch, auf die sich die „ethischen“ Gesetze beziehen (MS, Rechtslehre, Einleitung I gegen Ende; auch Tugendlehre, Einleitung I). Zu all diesen Voraussetzungen hat Kant in der Vorrede bemerkt (A 14 f.): „Die besondere Bestimmung der Pflichten als Menschenpflichten … ist nur möglich, wenn vorher das Diese Einteilung, die dort für die Analyse der Pflichten eine große Rolle spielt, wurde aber an keiner Stelle angemessen geklärt. 132
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Subjekt dieser Bestimmung (der Mensch) nach der Beschaffenheit, mit der er wirklich ist … erkannt worden; diese aber gehört nicht in eine Kritik der praktischen Vernunft überhaupt, die nur die Prinzipien ihrer Möglichkeit, ihres Umfanges und Grenzen vollständig ohne besondere Beziehung auf die menschliche Natur angeben soll“. Erst auf der Grundlage dieser Kenntnisse ist es möglich, wegen der Existenz des moralischen Gesetzes einerseits und der doppelten Gesetzgebung unserer Freiheit andererseits die praktischen Prinzipien der Sittlichkeit „dogmatisch“ darzustellen. In der Vorrede zur KrV, B XXXV, unterscheidet Kant das „dogmatische Verfahren“ vom „Dogmatismus“. Das erste ist das berechtigte, ja notwendige „Verfahren der Vernunft in ihrem reinen Erkenntnis als Wissenschaft …, (denn diese muß jederzeit dogmatisch, d. i. aus sicheren Prinzipien a priori strenge beweisend sein)“. Das dogmatische Verfahren setzt nun die Kritik des eigenen Vermögens – der theoretischen bzw. der praktischen Vernunft – voraus. Der Dogmatismus dagegen ist eine „Anmaßung“, weil er „das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft ist, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens“. Zu den einzelnen Kategorien der praktischen Vernunft sind einige Erläuterungen angebracht. a) Hinsichtlich der Zuordnung sämtlicher Kategorien der Gruppen 1–3 zu den „moralisch noch unbestimmten“ Kategorien scheint es, daß diese Zuordnung für die dritte unter dem Titel der Quantität nicht gültig ist. Denn diese Kategorie enthält als Bestimmungsstück gerade das Sittengesetz (vgl. § 1 „Erklärung“ und die weiteren Ausführungen über das moralische Gesetz). Das Problem kann gelöst werden, wenn man annimmt, daß Kant in dieser Gruppe die Handlung nur unter dem Aspekt ihrer Extension betrachtet. Daß die auf das Sittengesetz bezogene Handlung de facto nicht sinnlich bedingt, sondern a priori durch die reine praktische Vernunft bestimmt und gerade deshalb moralisch gut ist, davon wird hier abgesehen. b) Die erste Kategorie der Relation bestimmt die Handlung als auf eine Persönlichkeit bezogen. Man möchte deshalb meinen, daß diese Kategorie sinnlich unbedingt ist, da ja, wie Kant später schreibt, die Persönlichkeit die Person ist, „sofern sie zugleich zur intelligiblen Welt gehört“ und damit „Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur“ besagt (A 155). Dies zugegeben, bleibt dennoch unentbehrliche Eigenschaft der Handlung als Erscheinung in der Zeit, daß ihr ein beständiger Handlungsträger zugrunde liegen muß, der sie als Person ausführt. Nur so ist die Handlung möglich und nur so können ihr die moralischen Prädikate „gut“ oder „böse“ zukommen. c) Die zweite Kategorie der Relation bestimmt die Handlung durch ihre Relation „auf den Zustand der Person“. Gemeint ist die Gesamtsituation, in der sich eine Person befindet und die ihre Handlungen bestimmt. Ähnliches gilt für die dritte Kategorie, die in der Möglichkeit der Einwirkung von Handlungen einer Person auf den Zustand und die Handlungen anderer Personen besteht. d) Wie die Modalkategorien der reinen theoretischen Vernunft dem Begriff des Gegenstandes keine weitere inhaltliche Bestimmung hinzufügen, sondern nur sein Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken (der Gegenstand ist möglich, wirklich
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oder notwendig, vgl. die Postulate des empirischen Denkens, KrV A 218ff.), so auch die Modalkategorien der praktischen Vernunft: Sie fügen dem Begriff einer Handlung, die bereits durch die Kategorien der Gruppen 1 bis 3 als Erscheinung (als Ereignis in der Natur) bestimmt ist, keine neue Bestimmung hinzu, sondern besagen das Verhältnis der Handlung zur reinen praktischen Vernunft und damit zum Sittengesetz. Als solche sind diese Kategorien sinnlich-unbedingt und moralisch bestimmt. Die Handlung selbst wird moralisch qualifiziert als möglicherweise oder wirklich oder notwendigerweise gut bzw. böse. e) In der Fußnote zu A 20 hat Kant den Unterschied zwischen den praktischen Kategorien „erlaubt“ und „unerlaubt“ (die den theoretischen Kategorien „möglich“ und „unmöglich“ entsprechen) und den praktischen Kategorien „Pflicht“ und „pflichtwidrig“ (die den theoretischen Kategorien „Dasein“ und „Nichtdasein“ entsprechen) erläutert.
Dritter Teil: Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft (A 119–126)
Thema des Abschnittes ist die Frage nach der Anwendung des moralischen Gesetzes, das ein Gesetz a priori ist, auf eine konkrete Handlungssituation. Es geht also um die Behandlung eines Problems, das, wie auch andere Probleme der zweiten (und, ja vor allem, der ersten) Kritik, sich aus der Kantischen Lehre vom Apriori ergibt. Kants moralisches Gesetz als ein rein formales hängt nicht von jenem intentionalen BasisGehalt ab, der den Gegenstand des Wollens ausmacht, während das vom Gesetz bestimmte (motivierte) Wollen doch „unleugbar … einen Gegenstand haben müsse“ (A 60). Wie kann also die praktische Vernunft eine (durch einen bestimmten Gegenstand) bestimmte Handlung gebieten, wenn das Gesetz der praktischen Vernunft in keiner Weise von einem vorher (!) als gut erkannten Gegenstand abhängt? Daß die moralische Handlung eine allgemeine, d. h. alle Menschen verpflichtende Handlung sein muß, besagt noch keine spezifisch bestimmte Handlung. Wie nun der Ursprung dieses Problems in einem fundamentalen Lehrstück liegt, das die zweite Kritik mit der ersten gemeinsam hat, so liegt seine Lösung in begrifflichen Mitteln, die die erste Kritik bereits eingeführt hat. Das Lehrstück der ersten Kritik, zu dem Kant für die Frage nach der Anwendung des moralischen Gesetzes greift, ist der „Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“ (A 137–147), den Kant zwischen die Analytik der Begriffe und die der Grundsätze eingeschoben hat. Das Gemeinsame zwischen der „Typik“ und dem „Schematismus“ ist folgendes: Die KpV kennt das praktische Gesetz, das als Gesetz der Freiheit die Existenz von Objekten betrifft (das Gute, das unbedingt getan werden soll); dies verlangt eine Handlung, welche „zur Erfahrung und Natur gehört“. Es stellt sich deshalb die Frage, wie dieses Gesetz auf Handlungen als Begebenheiten in der Sinnenwelt angewendet werden kann. Obwohl Kant im ersten Absatz vom „Gesetz der Freiheit“ einerseits und von einer „Sinnenwelt …, die unter dem Naturgesetz steht“ andererseits
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spricht, geht es hier nicht (zumindest nicht in erster Linie) um die Frage nach der Anwendbarkeit des Sittengesetzes als eines Gesetzes der Freiheit auf eine Natur, in der ein lückenloser Determinismus herrscht. Dieses Problem wurde bereits im Rahmen der dritten Antinomie der KrV behandelt und kommt zwar an mehreren Stellen der KpV wieder zur Sprache, vor allem in der „Kritischen Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft“ (A 167–191), aber es ist hier nicht gemeint. Hier geht es um die „Subsumtion einer mir in der Sinnenwelt möglichen Handlung unter einem reinen praktischen Gesetz, nicht um die Möglichkeit der Handlung als einer Begebenheit in der Sinnenwelt“ (A 121). Im Falle des Schematismus-Kapitels ging es um die Frage, wie „reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden können“ (A 138). Es ist die Frage, die Kant bereits im Brief vom 21. Februar 1772 an Marcus Herz gestellt hatte, indem er nach dem Grund der Beziehung (Übereinstimmung) desjenigen fragte, „was man in uns Vorstellung nennt“ zum „Gegenstand“ (X, 130). Die KrV hat diese Frage im Kapitel über die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe behandelt, das die Aufgabe hat zu klären „wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können“ (KrV A 85) und damit „objektive Gültigkeit erlangen“ (A 87). Wenn aber Kant nach Beendigung der transzendentalen Deduktion nochmals fragt, wie „reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden können“ (A 138), als ob er nicht unmittelbar vorher genau diese Frage gestellt und beantwortet hätte, so ist dafür keine andere Erklärung zu finden als der Verweis auf den bekannten kompositorischen Charakter der ersten Kritik. Das Schematismus-Kapitel ist ein zeitlich und sachlich anders liegender Versuch Kants, das sog. „antithetische Problem“133 zu lösen, mit dem er in der Tat bis zu seinem Lebensende gerungen hat. Ihm gelingt die Lösung mittels der transzendentalen Urteilskraft (A 132–136) und des transzendentalen Schemas (A 138). Beide Mittel werden von Kant in der KpV wiederaufgenommen und in einer modifizierten Fassung eingesetzt zur Lösung der Frage nach der Anwendung des moralischen Gesetzes auf die Handlungen, die der vom Gesetz allein bestimmte Wille in der Sinnenwelt vollbringt. Es ist deshalb angebracht, zunächst die Lehre der KrV über beide Begriffsmittel kurz in Erinnerung zu bringen, um ihre Umgestaltung im Stück über die Typik genauer zu erfassen.
a) Die Urteilskraft Die Urteilskraft als ein eigenes Vermögen taucht in der KrV erst zu Beginn der Analytik der Grundsätze des reinen Verstandes134 in der Trias der oberen Erkenntnisvermögen auf: Verstand, Urteilskraft und Vernunft (A 130). Das ganze zweite Buch der Vgl. H. Vaihinger, Kommentar zu Kants KrV, I, 393. Die Erwähnung in der Fußnote zu A 75 ist eine Vorwegnahme dessen, was in der vierten Gruppe der Grundsätze zu den Modalkategorien ausgeführt wird (A 219). 133
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Analytik über die Grundsätze wird auch als „transzendentale Doktrin der Urteilskraft“ (A 137) betitelt. Der Urteilskraft fällt die Aufgabe zu, „die Verstandesbegriffe, welche die Bedingung zu Regeln a priori enthalten, auf Erscheinungen anzuwenden“ (KrV A 132); demnach wird sie, und zwar als transzendentales Vermögen, wie folgt umschrieben: „Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist die Urteilskraft das Vermögen unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht“ (A 132). Denn im Unterschied zur formalen Logik, die „von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert“ (A 131), muß die transzendentale Logik, die „von Begriffen handelt, die sich auf ihre Gegenstände a priori beziehen sollen, … zugleich die Bedingungen, unter welchen Gegenstände in Übereinstimmung mit jenen Begriffen gegeben werden können, in allgemeinen aber hinreichenden Kennzeichen darlegen, widrigenfalls sie ohne allen Inhalt, mithin bloße logische Formen und nicht reine Verstandesbegriffe sein würden“ (A 135f.). Mit demselben Problem der Anwendung sieht sich Kant auch in der KpV konfrontiert, weil das Sittengesetz a priori ist, während die vom Gesetz vorgeschriebenen Handlungen in einer Sinnenwelt stattfinden, die nur a posteriori zu erkennen ist. Demnach heißt es zu Beginn des Typik-Abschnittes: „Ob nun eine uns in der Sinnlichkeit mögliche Handlung der Fall sei, der unter der Regel stehe oder nicht, dazu gehört praktische Urteilskraft, wodurch dasjenige, was in der Regel allgemein (in abstracto) gesagt wurde, auf eine Handlung in concreto angewandt wird“ (A 119). Aber für diese Anwendung braucht die praktische Urteilskraft ein eigenes Mittel, das Kant in Anlehnung an das transzendentale Schema der KrV in dem Typik-Abschnitt einführt. Es soll deshalb zunächst das transzendentale Schema der ersten Kritik vorgestellt werden.
b) Das transzendentale Schema135 In den ersten vier Absätzen des Abschnittes (KrV A 137–139) wird erklärt, daß das Schema deshalb eine vermittelnde Funktion ausüben kann, weil es in der Vorstellung einer „transzendentalen Zeitbestimmung“ besteht. Als intelligible Synthesis ist eine solche Vorstellung mit der (d. h. einer bestimmten!) Kategorie gleichartig; zugleich aber ist sie, als Synthesis in der Form a priori der Sinnlichkeit (der Zeit), mit der empirischen Anschauung gleichartig. Demnach können wir eine (bestimmte) Kategorie überall dort (und nur dort) anwenden, wo der Inhalt einer empirischen Anschauung infolge des in ihr liegenden Schemas auf diese Kategorie hinweist. Wie ist aber zu erklären, daß eine empirische Anschauung, die von sich aus ein chaotisches Mannigfaltiges enthält, sich als einer bestimmten Kategorie entsprechend und damit als unter sie subsumierbar erweist? Auf diese entscheidende Frage, die den Nerv der Frage nach der Zusammensetzung von Apriori und Aposteriori zur Erkenntnis Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema sei hier lediglich auf E. R. Curtius, „Das Schematismuskapitel in der KrV“, in: KS 19 (1914) 338–366, verwiesen. 135
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eines spezifischen Objektes berührt, antwortet Kant in den Absätzen 5–7 (A 139–142), in denen das Schema als „eine Regel der Bestimmung unserer Anschauung [genitivus obiectivus!] gemäß einem gewissen allgemeinen Begriffe“ (A 141) definiert wird. D. h. also der Verstand selbst schafft im Inhalt der empirischen Anschauung die Bedingungen, welche ihm ermöglichen, seine eigenen Begriffe auf die empirische Anschauung anzuwenden, und sie so als einen bestimmten Gegenstand zu erkennen. Das transzendentale Schema übt also eine objektkonstitutive Funktion aus. Deswegen sagt Kant, daß diese vermittelnde Vorstellung ein „transzendentales Produkt der Einbildungskraft“ ist (A 142). Unter dem Einsatz anderer Erkenntnisvermögen und der Verwendung einer anderen Terminologie hat er das antithetische Problem durch eine thetische und damit idealistische Auffassung des erkennenden Subjekts genauso gelöst, so wie er es in der vorhergehenden transzendentalen Deduktion getan hatte (vgl. A 125 und in der späteren Fassung B den § 24: 150–152). A 119: Abs. 1 stellt das Problem vor, das ich soeben erörtert habe: Wie kann das moralische Gesetz „in der Sinnenwelt einen Fall antreffen“, in dem es seine „übersinnliche Idee des Sittlichguten“, die nur eine Form (die der Allgemeinheit) besagt, anwenden soll? Kant erwähnt zunächst das ähnliche Problem, das die Urteilskraft in ihrem theoretischen Gebrauch mittels eines Schemas (der transzendentalen Bestimmung der Zeit als Anschauung a priori) lösen kann. Aber, fügt er hinzu, was für die Verstandesbegriffe als Formen a priori für die Erkenntnis (!) der Sinnenwelt durch das transzendentale Schema möglich ist, ist für das sittlich Gute, das keine Form a priori sinnlich gegebener Gegenstände ist, sondern eine Form, die den reinen Willen bestimmen soll, nicht möglich. A 121: Abs. 2 weist auf die falsche Annahme der vorigen Argumentation hin, der zufolge die praktische Urteilskraft nicht vermag, eine mögliche Handlung in der Sinnenwelt unter das moralische Gesetz zu subsumieren, weil vom „Sittlichguten“ als etwas Übersinnlichem „in keiner sinnlichen Anschauung etwas Korrespondierendes gefunden werden kann“, also kein Schema, das die Anwendung des moralischen Gesetzes auf es ermöglichen würde. Hier aber, präzisiert Kant, „ist es nicht um das Schema eines Falles nach Gesetzen zu tun, sondern um das Schema eines Gesetzes selbst“. Denn, wie Kant in den vorangehenden Ausführungen immer wieder hervorgehoben hat, die Willensbestimmung, von der die Handlung in der Sinnenwelt abhängt, geschieht allein durch das moralische Gesetz, so daß die Frage nach dem in der Sinnenwelt zu verwirklichendem Objekt für die moralische Qualifikation der Handlung sich gar nicht stellt. Die physische Kausalität, von der die Realisierung des Objektes abhängt, ist eine Sache, deren Beurteilung zur theoretischen Vernunft gehört. Dafür liefert nun die Einbildungskraft in ihrer transzendentalen Funktion (vgl. KrV A 123, B 154) das nötige Schema, das in der KrV angegeben worden ist (KrV A 140–142). A 121: Abs. 3. Nachdem Kant präzisiert hat, daß das Anwendungsproblem im Rahmen der praktischen Vernunft nicht die Ermittlung eines Falles nach dem moralischen Gesetz
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(die Ermittlung einer gesetzmäßigen Handlung in der Sinnenwelt), sondern das Gesetz selbst (die Ermittlung des Gesetzes) betrifft, kontrastiert er beide Fälle. Aber von den reinen Verstandesbegriffen, von denen im Abs. 1 die Rede war, wird nur der Begriff der Kausalität direkt in Betracht gezogen (und mit ihm sein Schema) und als Pendant dazu das moralische Gesetz mit seinem noch genauer zu bestimmenden Schema. Im Falle des Naturgesetzes ist das Schema ein Verfahren der Einbildungskraft, das in den Sinnen eine Vorstellung bewirkt (die transzendentale Zeitbestimmung), die dem reinen Verstandesbegriff der Kausalität entspricht, so daß das Gesetz auf diese Begebenheit in der Sinnenwelt angewandt werden kann. Damit wird ein bestimmtes Phänomen als ein Fall der Verursachung erkannt. Das Gesetz der Freiheit (das moralische Gesetz) ist dagegen eine „nicht sinnlich bedingte Kausalität“, insofern diese Kausalität sich nicht direkt auf Gegenstände der Natur bezieht. Dasselbe gilt für den Begriff des „Unbedingt-Guten“, der durch das Gesetz selbst bestimmt wird (A 110). Infolgedessen kann dem moralischen Gesetz keine sinnliche Anschauung, mithin kein Schema untergelegt werden, um es auf Gegenstände der Natur anzuwenden. Anstatt eines Schemas der Einbildungskraft kann der Verstand selbst die Anwendung des Gesetzes der Freiheit vermitteln. Denn er kann dem moralischen Gesetz als einer Idee der Vernunft136 seinen eigenen Begriff eines Naturgesetzes, das an Gegenständen der Natur in concreto dargestellt werden kann, und zwar nur seiner Form nach unterlegen, damit die Urteilskraft über die Anwendbarkeit des moralischen Gesetzes befinden kann. Da nun auf diese Weise der ursprüngliche Sinn des Schemas in der KrV als vermittelnder Vorstellung geändert worden ist (das Schema als ein vermittelndes Konstrukt der transzendentalen Einbildungskraft ist weggefallen), schlägt Kant vor, vom Naturgesetz als dem „Typus“, d.h. Modell, des Sittengesetzes zu sprechen.137 Damit hat Kant die ursprüngliche Frage nach der Anwendung eines bereits bekannten moralischen Gesetzes in die Frage nach der Ermittlung des der Situation angemessenen Gesetzes umgewandelt. Die hier angegebene Antwort – die Typik des Sittengesetzes – läuft auf den Formalismus des ersten Hauptstücks hinaus: Das angemessene moralische Gesetz ist die in dieser Situation universalisierbare Maxime. Damit aber kehrt die Grundschwierigkeit wieder, die über dem Formalismus lastet: Nach welchem Kriterium läßt sich eine Maxime als universalisierbar erkennen, eine andere dagegen nicht? Genau gesehen ist die ganze Problematik des Überganges vom einem rein formalen Sittengesetz zu einer konkreten moralischen Handlung dieselbe geblieben, wie sie sich wegen der im ersten Hauptstück entworfenen Auffassung des Sittengesetzes stellte. A 122: Abs. 4. Entsprechend dem obigen Resultat, demgemäß das Naturgesetz als Typus des Sittengesetzes gilt, wird die Regel der Urteilskraft in ihrem praktischen Ge136 Daß das moralische Gesetz hier eine Idee der Vernunft genannt wird, entspricht der Lehre Kants in der KrV, in der die Vernunft als das Vermögen des Unbedingten gilt. Vgl. A 307 u. ö.; wichtig ist insbesondere B XX f. in der Vorrede zur zweiten Auflage. 137 Genau im Hinblick auf diese Änderung hatte Kant im vorigen Absatz behauptet, daß das Wort Schema „hier (nicht) schicklich“ sei.
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brauch formuliert: „Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, du sie wohl als durch deinen Willen möglich ansehen könntest“. Damit übernimmt Kant die zweite Fassung der ersten Formel des kategorischen Imperativs (GMS A 52 = IV 421).138 Die Allgemeinheit des Naturgesetzes dient als Modell für das Sittengesetz. Denn im Unterschied zu unserer Neigung, uns selbst in unserem Verhalten Ausnahmen vom betreffenden moralischen Gesetz zu erlauben, läßt das Naturgesetz keine Ausnahmen zu. Für Kant liegt das Konstitutivum der Natur in formaler Hinsicht in den allgemeinen und notwendigen Verbindungen zwischen den „Erscheinungen ihrem Dasein nach“ – diese Verbindungen sind die Gesetze der Natur (vgl. KrV A 216, 418, Prolegomena § 14 usw.). Zur Erläuterung dieser „Regel der Urteilskraft“ nennt Kant drei der vier Beispiele, die er in der GMS, und zwar ausführlicher, nach der ersten Formel des kategorischen Imperativs (A 53–57 = IV 421–423) und nach der zweiten Formel (A 67–69 = IV 429 f.) erörtert hatte. Es sind das Verbot einer falschen Aussage, das Verbot des Selbstmordes und das Gebot, anderen in Not zu helfen. A 124: Abs. 5 hebt nochmals hervor, daß das „punctum comparationis“ zwischen der „Natur der Sinnenwelt“ und der „intelligiblen Natur“ der moralischen Welt „bloß die Form der Gesetzmäßigkeit“, nämlich die Form der Allgemeinheit ist. Der Begriff dieser Form wirkt „auch im gemeinsten Vernunftgebrauch“, aber er „kann bloß zum reinen praktischen Gebrauch der Vernunft a priori [als] bestimmt erkannt werden“, das heißt wohl, nur im Bereich der Moralität ist er zur Bestimmung des Gesetzes zureichend (das moralische Gesetz ist ja bloß formal), während er im Bereich der Natur auf die sinnliche Erfahrung angewiesen ist, um ein Naturgesetz bestimmen zu können. Die hier besprochene „Vergleichung“ (A 123) kommt in der GMS, A 80 = IV 436, als ein „als ob“ vor, während Kant in A 81 f. = IV 437 von einer „Analogie“ spricht. In der MS, Tugendlehre, § 24, ist nochmals von einer „Analogie“ zwischen „moralischer“ und „physischer“ Welt die Rede, wobei der Anziehungs- und Abstoßungskraft in der physischen Welt die Wechselliebe und die Achtung in der moralischen Welt entsprechen. A 124: Abs. 6. Im Zusammenhang mit dem, was bisher über die Art und Weise gesagt wurde, wie wir das Gesetz der Freiheit (eine intelligible Realität) in der Sinnenwelt anwenden können, weist Kant daraufhin, a) daß wir von allen intelligiblen Realitäten nur die Freiheit erkennen, insofern sie Voraussetzung des moralischen Gesetzes ist – des letzteren sind wir uns als eines „Faktums der Vernunft“ bewußt (A 56). Bereits in A 5 hatte Kant das Gesetz als ratio cognoscendi der Freiheit bezeichnet. Andere intelligible Realitäten vermögen wir nur insofern zu erkennen, als sie zur Einhaltung des moralischen Gesetzes dienen, also nicht in sich selbst (vgl. die Postulatenlehre Diese Fassung wurde bereits hier oben bei der Erläuterung des § 7 erwähnt. Vgl. den Exkurs über „Die Allgemeinheit als Form des moralischen Gesetzes“, Nr. 2, S. 105. 138
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im Dialektikteil); b) daß die reine praktische Vernunft berechtigt ist, für das Sittengesetz die Natur zum Vorbild zu nehmen. Jetzt warnt Kant davor, daß diese Verwendung der Natur von seiten der praktischen Urteilskraft uns verleite, das, was zur Typik des Gesetzes und damit der durch das Gesetz bestimmten Begriffe von Gut und Böse gehört – und das ist eben die Natur, die wir kennen –, zu den Begriffen selbst zu zählen. Möglicherweise will Kant davor warnen, daß wir wegen der Typik-Funktion der Natur meinen, von unserer Erkenntnis der sinnlichen Natur zu einer entsprechenden Erkenntnis der intelligiblen Natur übergehen zu können. Ein solcher Übergang kann unter zwei einander entgegengesetzten Sichtweisen stattfinden, dem Empirismus oder dem Mystizismus. Der Empirismus, für den der Bestimmungsgrund des Willens die Selbstliebe ist (vgl. A 40), verortet Gut und Böse139 in einer empirisch verstandenen Glückseligkeit. Nun aber, fügt Kant hinzu, vermag wohl der Wille zur Glückseligkeit, wenn er sich zum allgemeinen Naturgesetz macht, zum Typus für das Gesetz und damit für das sittlich Gute zu dienen, aber er ist nicht dasselbe wie der oben vorgelegte Typus (die Natur als allgemein). Der Widerspruch dieser Aussage zu derjenigen in A 50 über die Begierde zur Glückseligkeit als Maxime kann aufgelöst werden, indem man die vorliegende Aussage dahingehend interpretiert, daß hier der Wille zur Glückseligkeit der Glückseligkeit der anderen Rechnung trägt (vgl. Beck 284 f., Anm. 76. Vgl. auch A 61, wo Kant darauf besteht, daß auch in diesem Falle „die Form der Allgemeinheit“ Bedingung dafür ist, daß die Vernunft der Maxime, anderer Glückseligkeit zu fördern, die objektive Gültigkeit eines Gesetzes geben kann). Dieselbe Typik bewahrt vor dem Mystizismus, der die Natur nicht als bloßes Symbol des Übersinnlichen oder als etwas Analoges zu ihm, sondern als Schema im eigentlichen Sinne versteht. Wie nun das Schema in Verbindung mit einer sinnlichen Anschauung, in die es die Intelligibilität einer Kategorie hineinlegt, die empirische Anschauung als einen bestimmten Gegenstand erkennen läßt, so unterstellt der Mystizismus den moralischen Begriffen von Gut und Böse eine angeblich nicht-sinnliche Anschauung. Konsequenterweise „schweift [er] ins Überschwengliche [Transzendente] hinaus“, das er in seiner Realität erkennen zu können meint (zu diesem Überschwang ins Jenseits der Erfahrung vgl. A 217). Wie nun Kant in der ersten Kritik zwischen Dogmatismus und Skeptizismus „den wahren Mittelweg“ der „Kritik der Vernunft“ angesteuert hatte (Prolegomena § 58: A 180), so stellt er hier seinen „Rationalismus der Urteilskraft“ als „dem Gebrauch der moralischen Begriffe angemessen“ dar. Denn dieser Rationalismus übernimmt von der sinnlichen Natur nur ihre Gesetzmäßigkeit, die als intelligibel „auch reine Vernunft für sich denken kann“, und legt in die übersinnliche Natur nur das hinein, was sich durch Handlungen in der Sinnenwelt (Handlungen, deren Motivation die Form der Allgemeinheit ist) darstellen läßt. Dem Mystizismus hält Kant zugute, daß er doch „mit der Reinigkeit und Erhabenheit des moralischen Gesetzes“ vereinbar ist, während der Empirismus „die Sittlichkeit in Gesinnungen“ ausrottet. Daß Kant gegenüber 139
In A 120 hat Kant das „Sittlichgute“ eine „übersinnliche Idee“ genannt.
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der „Seichtigkeit“ des Empirismus zum Mystizismus neigt, wird u. a. aus einer Stelle deutlich, an der er von der „herrlichen Eröffnung“ spricht, „die uns durch reine praktische Vernunft vermittelst des moralischen Gesetzes widerfährt, nämlich die Eröffnung einer intelligiblen Welt“ (A 168).140
Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft (A 126–191) Einleitung Standort und Inhalt dieses Hauptstückes innerhalb seiner Grundlegung der Ethik hat Kant bereits in der Einleitung (A 31 f.) mit einer Bemerkung zur Anordnung des Werkes angegeben. Dasselbe kehrt im zweiten Teil des vorliegenden Hauptstückes („Kritische Beleuchtung“) wieder. Gemäß der dort genannten „umgekehrten Ordnung“ im Vergleich zur KrV handelt das letzte Hauptstück der „Analytik der reinen praktischen Vernunft“ nach den Grundsätzen (dem moralischen Gesetz) und dem Begriff (Gut und Böse) nun von der Sinnlichkeit, d. h. von ihren „Einflüssen“ auf die reine praktische Vernunft. Unter Vorbehalt hinsichtlich der Angemessenheit der Bezeichnung, schreibt Kant, handelt das Hauptstück von der „Ästhetik der reinen praktischen Vernunft“ (A 161f.). Von der Rolle der Sinnlichkeit zugunsten bzw. gegen die Moralität des Menschen ist in der Tat von Anfang der KpV an immer wieder die Rede gewesen, vor allem im ersten Hauptstück. Denn was das moralische Gesetz sei, wurde immer wieder negativ durch den Ausschluß jeglichen inhaltlichen Bestimmungsgrundes des Willens (vgl. schon Lehrsatz I) festgelegt. Dieses für die Morallehre Kants charakteristische Merkmal wird im vorliegenden Hauptstück weiter ausgeführt. Hier finden sich die oft zitierten, kraftvoll formulierten Aussagen im Sinne einer rigoristischen Moral, die gerade in ihrer Einseitigkeit zur Bekanntheit und Faszination des landläufigen Bildes dieser Ethik wesentlich beigetragen haben. Man muß allerdings darauf hinweisen, daß Kant an mehreren Stellen zu differenzieren weiß, an denen er die Gefühle auch in denjenigen Aspekten würdigt, die für die Moralität förderlich sind. Zusammen mit dem Rigorismus kommt auch der paränetische Duktus des Werkes (wie auch schon in der GMS, wenn auch weniger prononciert) deutlich zum Vorschein. Nicht ohne Grund wurde die These geäußert, Kants Anliegen in seinen Schriften zur Ethik sei viel mehr die Bildung und Schärfung des Gewissens als eine kohärent durchdachte Begründung der Moral. Daß die Rolle der Sinnlichkeit für die Moralität nach Kant nicht nur negativ ist, geht insbesondere aus den Ausführungen über das Gefühl als „subjektiven Grund des Begehrens“ (A 161) hervor, die auf die Ermittlung eines „sonderbaren Gefühls“ abzielen, das er geradezu als „moralisch“ bezeichnet, nämlich die „Achtung fürs Gesetz“. Auch 140
Vgl. Vaihinger, Kommentar zu Kants KrV, I, 42.
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dieses Gefühl wirkt als Triebfeder, aber nicht als eine Alternative zum moralischen Gesetz, sondern vielmehr so, daß es „dem Gesetz, das jetzt allein Einfluß hat, Ansehen verschafft“ (A 134f.). Zur Art und Weise, wie das Thema der „Triebfeder“ behandelt wird, schreibt Beck: Der erste Teil des Hauptstückes „steckt leider voller Wiederholungen und ist nicht gerade überlegen disponiert. Eine Anzahl unglücklicher Wendungen schien manchen Kritikern von ernst zu nehmender Inkonsistenz zu zeugen. Dennoch: Die Hauptpunkte des Arguments kommen mehr als einmal vor, manchmal sogar mit denselben Formulierungen und als Ergebnis ähnlicher Gedankengänge, so daß für ernsthafte Mißverständnisse und Zweifel an Kants Meinung wenig Raum bleibt“ (206). Das Hauptstück ist in zwei Teile gegliedert. Zum Inhalt des ersten Teils, der aus 25 Absätzen besteht, mögen hier bloß seine wichtigsten Stichworte genannt werden: Triebfeder, Achtung, Liebe, Neigung, Interesse, Tugend, Pflicht. Eine ersichtliche logische Entfaltung der Argumentation, die die genannten Themen umfaßt, läßt sich nicht ermitteln. Der zweite Teil („Kritische Beleuchtung der Analytik“: A 159–191) besteht aus 19 Absätzen und sieht äußerlich wie ein Anhang zum Hauptstück aus. Nach dem bereits zitierten Vergleich zwischen dem Aufbau der ersten und der zweiten Kritik geht er auf die Unterscheidung von Sittlichkeit und Glückseligkeit ein und behandelt dann ausführlich das Thema der Freiheit. Den Abschluß bilden einige Überlegungen zur Erweiterung unserer Erkenntnis in den Bereich des Übersinnlichen. Damit erörtert Kant das gleiche Thema wie am Ende des ersten Hauptstückes, wenn auch unter einem anderen Aspekt, und nimmt die letzten drei Abschnitte des Dialektikteils vorweg. A 126: Abs. 1 übernimmt die Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität, bzw. zwischen pflichtmäßiger Handlung und Handlung aus Pflicht, die zu Beginn der GMS eingeführt wurde (A 9 f.) und immer wieder in den Schriften Kants zur Ethik vorkommt. Abs. 13 (A 144) wird diese Distinktion nochmals mit Nachdruck zur Sprache bringen. Bei der (bloßen) Legalität ist die Handlung zwar dem moralischen Gesetz (seinem „Buchstaben“) gemäß, dabei aber sei der Wille von einem Gefühl bestimmt, nämlich dem der Lust oder des Vergnügens. An diese Unterscheidung anknüpfend geht Kant auf den Begriff „Triebfeder“ ein, unter dem das Hauptstück steht.141 Der Terminus wurde in der GMS durch folgende 141 Zum Terminus „Triebfeder“ bemerkt Cl. Schwaiger, Kategorische und andere Imperative, 161 f., daß seine vom Physischen aufs Psychische übertragene Verwendung sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts in der deutschen Sprache eingebürgert hat, wobei die Begriffsbestimmungen von Baumgarten bzw. dann später von Kant eine führende Rolle gespielt haben dürften. Der dem klassischen Latein unbekannte Terminus „elater“ (in der Redewendung „elateres animi“, die Baumgarten in seiner Metaphysica §§ 669 [XV 46] und 690 [XV 51] verwendet, um die „causae impulsivae“ unserer Begehrungen zu bezeichnen, und die er im § 669 mit „Triebfedern des Gemüts“ verdeutscht hat) wurde, nach Auskunft Schwaigers, möglicherweise erst von Baumgarten gebildet. Es handelt sich um ein Lehnwort aus dem spätgriechischen λατρ: Treiber (λανω: treiben, wegtreiben, ziehen, stoßen). Im klassischen Latein gibt es das Partizip „elatum“ des Verbum „effero“ (er-
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Gegenüberstellung definiert: „Der subjektive Grund des Begehrens ist die Triebfeder, der objektive des Wollens [d. h. des oberen Begehrungsvermögens: KpV A 41] der Bewegungsgrund“ (A 63 = IV 427). Die einzige Ausnahme zu dieser terminologischen Festlegung findet sich in A 126 = IV 462. Obwohl Triebfeder auch in der KpV meistens den subjektiven Grund des Handelns bezeichnet, also eine private, persönliche Motivation des Handelnden, die auf sinnlichen Trieben beruht (auch wenn diese empirische Motivation unter der Leitung der Vernunft steht), hat Kant in diesem Werk die ausschließliche Zuweisung der Triebfeder an die sinnliche Seite der menschlichen Natur und damit auch die Gegenüberstellung von Triebfeder und Bewegungs- bzw. Bestimmungsgrund fallen lassen. Dies ist ausdrücklich der Fall an unserer Stelle, an der Kant schreibt, daß, damit die Handlung gut sein kann, „die Triebfeder (!) des menschlichen Willens“ und jedes erschaffenen vernünftigen Wesens das moralische Gesetz sein muß. Anders gesagt, objektiver und subjektiver Bestimmungsgrund müssen ein und derselbe sein. Ist dieser Bestimmungsgrund in beiden Bedeutungen das moralische Gesetz, so kann das Gesetz Triebfeder genannt werden. Aber der Terminus Triebfeder behält immer noch den Sinn eines subjektiven Grundes eines Willens, der nicht notwendigerweise dem Gesetz gemäß ist. Deswegen kann er für den göttlichen Willen, der „heilig“ ist (GMS A 39 = 414; KpV A 219f. usw.), nicht verwendet werden. Es ist angebracht, auf eine gewisse Inkonsequenz Kants hinsichtlich des Sinngehalts des Terminus „Triebfeder“ hinzuweisen, mit dem er für gewöhnlich, wie gesagt, einen nicht-moralischen Bestimmungsgrund (Beweggrund) des Willens bezeichnet. Einerseits führt er jegliche nicht-moralische Motivation auf die Sinnlichkeit zurück – wobei dies mit dem sensualistischen Intuitionismus seiner Erkenntnislehre zusammenhängt, der im Lehrsatz I seine systematische Übertragung auf den Bereich der Moral findet. Andererseits aber zählt er auch die „Verstandes- selbst Vernunftvorstellungen [von Objekten] im Gegensatze der Vorstellungen der Sinne“, insofern die ersteren das Wollen motivieren, zu den Bestimmungsgründen, die das Wollen „doch“ durch „das Gefühl der Lust“ bestimmen (A 42). M.a.W. Triebfeder als „sinnlicher“ Beweggrund kann auch ein durch den Verstand oder die Vernunft vorgestellter Gegenstand sein (vgl. das über die Beziehung des Menschen zum Objekt der Erkenntnis und zu dem des Begehrungsvermögens in den Fußnoten 81 und 82 Gesagte, S. 87 und 89). A 127: Abs. 2 wiederholt, daß allein der objektive Bestimmungsgrund, das moralische Gesetz, subjektiver Bestimmungsgrund (Triebfeder) der Handlung sein muß und deshalb jegliche andere Triebfeder anstatt des Gesetzes (das wäre lauter Heuchelei) oder neben dem Gesetz auszuschließen ist.142 heben) als Lehnwort aus φ ρω: tragen, bringen, bewirken. Der Ausdruck „elateres animi“ kommt auch in der von P. Menzer 1924 herausgegebenen Kants Vorlesung über Ethik, 55, vor. 142 Vor der Gefahr von „lauter Gleisnerei“ warnt Kant auch in der „Methodenlehre“, A 270. In welchem Sinne Kant dennoch eine andere Triebfeder neben dem Sittengesetz zuläßt, wird im weiteren Verlauf des Hauptstückes mit Vorsicht angedeutet, vgl. A 158, wo Kant sich auf Epikur beruft.
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Dies aber ruft die Frage hervor, auf „welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde“, d. h. was das Sittengesetz im Begehrungsvermögen bzw. im Gemüt bewirkt, wenn es als Triebfeder wirkt. Negativ bedeutet dies, so Kant weiter, daß nicht gefragt wird, „wie ein Gesetz für sich allein und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne“, weil dies „ein für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem ist und mit dem einerlei: wie ein freier Wille möglich sei“ (zur Unbegreiflichkeit der Freiheit vgl. auch A 13, 79 f.; Religion B 209 = VI 138, B 259 Fn = VI 170 usw.). Aus den Ausführungen des Hauptstücks geht hervor, daß diese zunächst vage Frage folgendes meint: a) Das moralische Gesetz soll allein den Willen bestimmen; b) deshalb tut es den sinnlichen Neigungen „Abbruch“; c) aber dadurch ruft es in der Sinnlichkeit ein besonderes Gefühl – die „Achtung fürs moralische Gesetz“ – hervor. Damit wird doch der Sinnlichkeit eine positive Rolle in Bezug auf die Moralität zuerkannt. Diese drei Schritte stellen den Leitfaden der Argumentation des Hauptstückes als Ganzem dar – trotz allerlei Abschweifungen und Wiederholungen.
Exkurs über das Fehlen eines oberen Begehrungsvermögens in der Ethik Kants Daß Kant das „Wesentliche der Moralität“, wie nämlich das Sittengesetz „unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne“ – wobei dies mit der Frage identisch sei, „wie ein freier Wille möglich sei“ – für unerklärlich hält, hängt mit seiner Auffassung des Sittengesetzes als rein formal zusammen. Denn, wie ich mehrmals in den vorigen Exkursen (vgl. vor allem im Exkurs „Über die Priorität des moralischen Gesetzes vor dem Begriff des Guten“ gegen Ende, S. 139) bemerkt habe, stellt sich gerade wegen des Formalismus die Frage, ob es in Kants Theorie des Ethischen überhaupt einen Platz für den Willen im Sinne eines rationalen Begehrungsvermögens, das nach dem Guten strebt, gibt. Es ist deshalb angebracht, nochmals kurz die Gründe anzugeben, die auf ein Fehlen des rationalen Begehrungsvermögens in der Ethik Kants hinweisen. 1) Nirgends ist in beiden Grundlegungsschriften von einem vernunftgeleiteten Begehrungsvermögen die Rede, dessen Gegenstand (!) das zum Menschen als Menschen (in seiner leib-geistigen Wesenseinheit) Passende ist, also das sittlich Gute. Ohne dieses Zielobjekt kann von einer ihm entsprechenden facultas appetitiva rationalis nicht gesprochen werden. Kant hält es für wesentlich, seine Auffassung vom Willen „unangesehen aller Gegenstände“ festzulegen (GMS A 13 = IV 400). 2) Dem, was nicht gesagt wird, entspricht an derselben Stelle das, was gesagt wird: Da Kant „den Willen aller Antriebe“ aus den Gegenständen „beraubt“ hat, „so bleibt“ ihm nur eine Form „übrig“, nämlich „die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen“ (GMS A 17 = IV 402; dasselbe in der KpV, Lehrsatz II: A 48). Frage: Was ist ein Wille, der nach einer Form strebt – und noch dazu nach der Form der Allgemeinheit? Nun aber gibt es nichts Allgemeines; es gibt nur Formen, die im (materiellen) einzelnen existieren, die aber nicht auf ein einzelnes beschränkt sind und in diesem Sinne allgemein sind. Der Versuch, moralisch verpflichtende Inhalte aus einer „bloßen allgemeinen gesetzgebenden Form“ (A 58) abzuleiten, ist ebenso unmöglich, wie der Versuch, vom Wider-
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spruchsprinzip Wirklichkeiten abzuleiten. Die These von einem Fehlen des rationalen Strebevermögens in der ethischen Theorie Kants scheint also in dessen Grundlegungsschriften zur Ethik zu gründen. Vor dem Hintergrund des rein formalen Prinzips der Ethik Kants wird das Gewicht der R 6860 (XIX 183) verständlich, die Kant vermutlich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre in sein Handexemplar der „Initia philosophiae practicae primae“ Baumgartens geschrieben hat: „Wir können uns keinen Begriff davon machen, wie eine bloße Form der Handlungen könne die Kraft einer Triebfeder haben. Indessen muß dieses doch sein, wenn Moralität statt finden soll, und Erfahrung bestätigt es“. In einem ähnlichen Zusammenhang heißt es in der von P. Menzer herausgegebenen „Kants Vorlesung über Ethik“, 54: „Urteilen kann der Verstand freilich, aber diesem Verstandesurteil eine Kraft zu geben, und daß er eine Triebfeder werde den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein des Weisen“.143 3) Mit dem oben Gesagten wird in keiner Weise bestritten oder auch nur unterschätzt, daß Kant a) de facto (vgl. seine Beispiele sittlich guter Handlungen) anerkennt, daß der Gegenstand des sittlich guten Willens und derjenige der entsprechenden Handlungen das sittlich Gute ist; b) sein rein formales Prinzip der Sittlichkeit mit einem materialen Prinzip ergänzt: mit dem Menschen als Zweck an sich selbst (GMS) so wie auch mit „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“ (MS, Tugendlehre, Einleitung II–IV). Mit der Anerkennung des „Prinzips der Menschheit“ (GMS A 69 = IV 430) ist logischerweise ein rationales Begehrungsvermögen anerkannt. c) Aber die Lehrstücke unter a) und b) werden nirgends in die Handlungstheorie und damit in die Theorie des Ethischen eingearbeitet. Sie werden nur via facti eingeführt, nicht aber als solche anerkannt. Die Theorie bleibt dieselbe, wie sie aus der zitierten Stelle im ersten Abschnitt der GMS hervorgeht und wie sie in der ersten Formel des kategorischen Imperativs in der GMS und im „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ im § 7 der KpV festgelegt wird. Gerade diese Theorie liegt vielen Argumentationen im Verlauf der KpV zugrunde. Außerdem gilt, wie schon oben bemerkt, in der GMS A 79 f. = IV 436 die Menschheitsformel, nach Kants Dafürhalten, als der Allgemeinheitsformel gleichwertig; beide unterscheiden sich voneinander nur in psychologisch-pädagogischer Hinsicht. Ja, „in der sittlichen Beurteilung“ soll man „nach der strengen Methode“ verfahren, d. h. sich an das rein formale Moralprinzip halten (GMS A 80 f. = IV 436 f.). Kant ist also eher darum bemüht, das Neue seines Prinzips der Menschheit gegenüber seinem rein formalen Prinzip zu bestreiten und es so aus dem Kriterium für das sittlich Gute herauszunehmen. A 128: Abs. 3. Zur Antwort auf die Frage des vorigen Abs. weist Kant auf eine doppelte Wirkung des moralischen Gesetzes im Gemüt hin. 143 Dieselbe Aussage kommt auch in den „Varianten“ der Nachschriften zur „Moralphilosophie Collins“ vor, die G. Lehmann als Druckvorlage für seine Edition derselben Vorlesung in der Akademie-Ausgabe verwendet hat: XXVII 1211.
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1. Eine negative Wirkung: Das moralische Gesetz als alleinige Triebfeder des Willens weist alle sinnlichen Antriebe ab und tut allen Neigungen (sofern sie dem Gesetz zuwider sind) Abbruch. Eine solche negative Wirkung auf die Sinnlichkeit ist ein Gefühl des Schmerzes. Nun machen all unsere Neigungen zusammen, deren Befriedigung Glückseligkeit heißt (man beachte die empirische Auffassung von der Glückseligkeit), die Selbstsucht aus. Kant unterscheidet zwei Arten von Selbstsucht: a) die Selbstliebe oder Eigenliebe als ein über alles gehendes Wohlwollen sich selbst gegenüber, b) das Wohlgefallen an sich selbst oder Eigendünkel. Von Bedeutung ist, daß Kant a) beim Willen (zu Beginn) und beim Sittengesetz (vor dem Ende) die Freiheit hervorhebt, b) das Verhältnis des Gesetzes zu den genannten Gefühlen als das Verhältnis einer Erkenntnis (!) ansieht, c) die negative Wirkung des Gesetzes auf die Sinnlichkeit für a priori erkennbar hält. Die reine praktische Vernunft schränkt die Selbstliebe auf die Bedingung ein, daß sie mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt (vernünftige Selbstliebe). Dieselbe reine praktische Vernunft schlägt den Eigendünkel nieder, indem sie alle Selbstschätzung, die der Übereinstimmung mit dem Gesetz vorausgeht (und deshalb nicht darauf gegründet ist), als nichtig entlarvt. Denn die Übereinstimmung mit dem Gesetz ist die erste Bedingung allen Wertes der Person (vgl. zu Beginn der GMS über den guten Willen als den einzigen absoluten Wert). 2. Eine positive Wirkung: Das moralische Gesetz wirkt als „Form einer intellektuellen Kausalität“, nämlich der Kausalität aus Freiheit. Als solches wird das moralische Gesetz zu einem Gegenstand der größten Achtung, mithin zum Grund eines positiven Gefühls – des Gefühls der „Achtung fürs Gesetz“ –, das nicht empirischen Ursprungs ist und ebenfalls a priori erkannt wird (zu einer „Achtung für sein eigenes Wesen“ wegen des Sittengesetzes in uns vgl. MS, Tugendlehre, Einleitung XII d). A 130: Abs. 4 nimmt auf die Lehre des zweiten Hauptstücks Bezug, der zufolge nichts vor dem moralischen Gesetz als gut gelten und deshalb Bestimmungsgrund des (guten) Willens sein kann, und sagt positiv, daß erst die Form des Gesetzes „das, was an sich und schlechterdings gut ist“ bestimmt. Die Form des Gesetzes, die hier „praktische Form“ genannt wird, ist die der Maxime, sofern diese sich tauglich „zur allgemeinen Gesetzgebung“ erweist. Die Bedeutung der „Tauglichkeit“ der Maxime habe ich bereits im Kommentar auf S. 110 f. zur „Anmerkung I“ des § 8 zusammen mit der gleichen Bedeutung der Termini „einschränken“, „taugen“, „sich qualifizieren“, „fähig sein“ (A 58) besprochen: Sie implizieren eine Abhängigkeit des Gesetzes von der Maxime und damit von der Materie der Maxime. Nach dieser Abschweifung zum Formalismus nimmt Kant das Thema der Triebfedern wieder auf. Inhaltlich fügt er zum vorhin Gesagten nichts Neues hinzu. In den folgenden Ausführungen zeigt sich aber deutlich das Anliegen Kants, das Gewissen in seinen Regungen und Strebungen zu analysieren, um zur „moralischen Bildung des Menschen“ (Religion B 55 = VI 48) beizutragen. Weil wir sinnliche Wesen sind, drängt sich zuerst die Materie des unteren Begehrungsvermögens auf: die Gegenstände der Neigung. Demnach macht unser patholo-
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gisch bestimmbares Selbst, als ob es unser ganzes Selbst ausmachen würde, seine Ansprüche geltend, obwohl die auf Neigungen gründenden Maximen „zur allgemeinen Gesetzgebung untauglich“ sind. Pathologisch nennt Kant das, was durch sinnliche Ursachen affiziert werden kann.144 Dann setzt Kant das Thema der Selbstliebe aus Abs. 3 fort, von der er bereits im Lehrsatz II, A 40, gesprochen hatte. Die Selbstliebe ist der Hang, seine eigenen subjektiven Bestimmungsgründe zu objektiven Bestimmungsgründen des Willens zu machen. Wenn die Selbstliebe „die subjektiven Bestimmungsgründe als Gesetze vorschreibt“, so heißt sie Eigendünkel. Weiterhin wiederholt Kant den negativen und den positiven Einfluß des moralischen Gesetzes auf den Menschen als sinnliches Wesen. a) Das Gesetz schließt den Einfluß der Selbstliebe auf das oberste praktische Prinzip aus; es demütigt deshalb den Menschen und tut dem Eigendünkel Abbruch; b) als Bestimmungsgrund unseres Willens erweckt es in uns Achtung für sich. Ein solches Gefühl ist zwar kein Kriterium für Gut und Böse, wie Kant schon zu Beginn der 60er Jahre betont hatte (die Ansicht, es gebe ein besonderes moralisches Gefühl vor dem Gesetz, wird hier zurückgewiesen), wohl aber eine „Wirkung“ des Sittengesetzes.
Exkurs über die Unterscheidung von Wille und Willkür bei Kant Die im Abs. 4 angegebene Definition von Selbstliebe kontrastiert die subjektiven Bestimmungsgründe der Willkür mit dem objektiven Bestimmungsgrund des Willens, wobei den beiden Termini offenkundig eine je verschiedene Bedeutung zugewiesen wird. Diese Termini werden (meistens getrennt) öfters derart bei Kant verwendet, daß bisweilen kein Bedeutungsunterschied zu erkennen ist, wohingegen Kant an anderen Stellen sehr wohl einen Unterschied anzudeuten scheint (am deutlichsten im Lehrsatz IV: A 58 f. und an unserer Stelle: A 131), der aber schwer zu ermitteln ist. Erst im Spätwerk „Metaphysik der Sitten“ (1797) hat Kant versucht, ihren unterschiedlichen Sinngehalt festzulegen. Der dort angegebene, nicht völlig eindeutige Bedeutungsunterschied vermag zwar nicht zu einem wirklich befriedigenden Verständnis aller Stellen zu verhelfen, an denen diese Termini vorkommen, läßt jedoch zumindest eine grundlegende Tendenz im Denken Kants über das obere Begehrungsvermögen, das traditionell Wille genannt wird, erkennen. Sicher ist aber, daß Kant selbst sich nicht konsequent an die dort eingeführte terminologische Festlegung gehalten hat. Da der Sinn dieser Termini in Zusammenhang mit der Freiheit als Eigenschaft unseres rationalen Begehrungsvermögens steht, wird im folgenden die Lehre Kants von der Freiheit herangezogen, um den Sinn dieser Termini zu klären. Vgl. KrV A 534, auch 802: Die Willkür ist pathologisch, insofern sie „durch Bewegursachen der Sinnlichkeit affiziert wird“. GMS A 13 = IV 399: pathologische Liebe, d. h. „Liebe als Neigung“ contra „praktische“ Liebe, deren Motivation im moralischen Gesetz liegt. A 38 Fn = IV 413: „praktisches Interesse an der Handlung“ contra „pathologisches Interesse am Gegenstand der Handlung“ („zum Behuf der Neigung“). KpV A 57: „eine pathologisch affizierte Willkür“; A 133: „jedes Gefühl überhaupt ist pathologisch“. 144
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1. Freiheit im erkenntnistheoretisch-metaphysischen Kontext der KrV Im Kontext seiner kosmologischen Antinomien fragt Kant nach der „absoluten Totalität der Reihe der Bedingungen zu einer gegebenen Erscheinung“ in der Welt (KrV A 340) und gelangt zu einander widersprechenden Aussagen hinsichtlich dieser Totalität. Näherhin fragt er in der dritten Antinomie nach der „absoluten Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung“ (A 415) und gelangt dabei zu der Thesis, daß zur Entstehung der Erscheinungen in der Welt außer der Kausalität nach Gesetzen der Natur „noch eine Kausalität durch Freiheit“ nötig ist (A 444) – die aber dann in der Antithesis stichhaltig widerlegt wird. In diesem an sich nicht ethischen, sondern eben kosmologischen Zusammenhang bedeutet Freiheit „eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit“ (A 446). Der positive Aspekt der Freiheit ist somit ihre Fähigkeit, eine Kausalkette anzufangen; der negative ist ihre Unabhängigkeit von dem Naturdeterminismus, dem ansonsten sämtliche Ursachen in der Zeit und damit in der Welt unterstehen. Die so verstandene Freiheit wird auch „Freiheit im kosmologischen Verstande“ genannt (A 533). Aber bereits bei der Darlegung der Thesis der dritten Antinomie hält es Kant für „erlaubt“, von der bewiesenen Freiheit einer Erstursache der Welt zu einer innerweltlichen Freiheit überzugehen, d. h. bestimmten Substanzen (den Menschen) ein Vermögen zuzuschreiben, aus Freiheit zu handeln (A 450). Allerdings, bemerkt Kant, ist der vom Menschen verursachte Anfang einer Reihe von Ereignissen bzw. Dingen ein nur komparativ (relativ) erster; denn er findet mitten in dem in der Welt herrschenden durchgängigen Determinismus statt. Damit ist das Problem aufgeworfen, menschliche Freiheit und Naturdeterminismus zu vereinbaren, mit dem Kant sich seit der transzendentalidealistischen Wende der KrV konfrontiert sah. In der Auflösung der dritten Antinomie (A 532 ff.) bildet die Freiheit des Menschen das eigentliche Thema. Sie wird auf die Willkür bezogen und „Freiheit im praktischen Verstande“ genannt: „Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. Denn eine Willkür ist sinnlich, sofern sie pathologisch (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) affiziert ist; sie heißt … arbitrium sensitivum, aber nicht brutum [wie das der Tiere], sondern liberum, weil die Sinnlichkeit ihre Handlungen nicht notwendig macht“ (A 534). Der Terminus Willkür kommt zehnmal in dieser Auflösung vor, und zwar in einem Sinne, der mit der späteren Festlegung (MS B 4 f. = VI 213) kohärent zu sein scheint, nämlich um das Begehrungsvermögen zu bezeichnen, insofern dieses auf eine Handlung bezogen wird, die ein Objekt hervorbringt.145
Einzige Ausnahme scheint die erste Stelle in KrV A 549, in der Willkür auf eine „Regel“ der Handlung bezogen wird. 145
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2. Freiheit im Kontext der Ethik Wenn auch der Zusammenhang von Freiheit und Moralität bereits in der Auflösung der dritten Antinomie behandelt worden ist, wo von der „Freiheit im praktischen Verstande“ und vom „Sollen“ die Rede war (A 534), hat Kant erst in der GMS das angegeben, was er für das Eigentümliche der moralischen Freiheit hält, nämlich daß sie in der Selbstgesetzgebung des Menschen besteht. Dies drückt sich aus in der dritten Formel des kategorischen Imperativs, die vom „Willen jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens“ spricht (A 70 = IV 431). Freiheit bezeichnet bei Kant also nicht bloß den Modus, wie der Mensch imstande ist, der Verpflichtung nachzukommen, die das moralische Gesetz ihm auferlegt, sondern auch, ja in erster Linie, daß der Mensch selbst Ursprung dieses Gesetzes ist. Diesbezüglich muß man aber zwischen dem allgemeinen menschlichen Faktum, daß wir den kategorischen Imperativ als von unserem eigenen Gewissen auferlegt erfahren (in diesem Sinne ist die Rede von einer Selbstgesetzgebung durchaus angemessen), und der Letztbegründung einer absoluten Pflicht, die uns in Anspruch nimmt, unterscheiden. Dafür verweise ich auf meinen Exkurs über den Autonomie-Gedanken in der Ethik Kants, S. 112 f. Daß der Begriff der Autonomie in der Kantischen Konzeption der Ethik eine fundamentale Rolle spielt, erkennt man nicht nur daran, daß er in seinen Schriften immer wieder vorkommt, sondern auch daraus, daß Kant sowohl in der GMS als auch in der KpV diesem Begriff einen eigenen, zwar kurzen, aber inhaltsreichen Abschnitt gewidmet hat. In der GMS, A 87 f. = IV 440, gilt die „Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit“, als „das alleinige Prinzip der Moral“. In der KpV, § 8 (A 58 f.) heißt es: „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze.“ Insofern Autonomie „Unabhängigkeit von aller Materie des Gesetzes„ besagt, ist sie „Freiheit im negativen Verstande“. Insofern Autonomie die Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft besagt, ist sie „Freiheit im positiven Verstande“. Daß der Wille „sich selbst das Gesetz gibt“ bedeutet also, daß der Wille des Menschen in dem Sinne völlig frei ist, daß er keine Instanz über sich hat, an die er gebunden ist. Für Kant gilt folgende Gleichung: praktische Vernunft = Wille = Autonomie = Freiheit. Im Zentrum der Ethik Kants steht die Freiheit als Autonomie des Willens: Eine Freiheit, die sich selbst will. Damit hat Kant den emanzipatorischen Impetus der Aufklärung zu Ende gedacht. Was er in den 80er Jahren über den Menschen als moralisches Wesen geschrieben hat, hat den Ansatz vertieft und systematisch ausgeführt, zu dem er bereits in der ersten Hälfte der 60er Jahre unter dem Einfluß Rousseaus gelangt war: „Der freien Willkür alles zu subordinieren, ist die größte Vollkommenheit“ und zugleich Quelle der größten Lust („Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, XX 144).
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3. Der Versuch einer terminologischen Festlegung in der „Metaphysik der Sitten“ Den oben erörterten zwei Bedeutungen von Freiheit: (1) Spontaneität, (2) Selbstgesetzgebung (Autonomie) entsprechen zwei verschiedene Funktionen des (wie es scheint) einen Vermögens im Menschen, das deshalb mit zwei verschiedenen Termini bezeichnet wird: (1) Willkür, (2) Wille. Diese terminologische Festlegung hat Kant in der MS, Einleitung zur Rechtslehre, Nr. I: B 5–7 = VI 213 f. und auch Nr. IV: B 18 f. = VI 221 und B 26–28 = VI 226 f.; außerdem in den Vorarbeiten zur Vorrede und Einleitung in die MS (XXIII 248 f.) vorgenommen. 3.1 Die Willkür ist „das Begehrungsvermögen … in Beziehung auf die Handlung“ (B 5 = VI 213). Als Willkür des Menschen ist sie zwar durch sinnliche Antriebe (Triebfedern) affizierbar, aber sie wird von ihnen nicht notwendigerweise bestimmt (genötigt). In diesem Sinne ist sie „pathologisch“ (KpV A 57). Die entsprechende Bezeichnung in der damaligen Schulphilosophie war: liberum arbitrium, wie Kant an der oben zitierten Stelle A 534 schreibt. In MS, Einleitung IV: B 27 = VI 226 ist von der „sinnlichen Willkür“ des Menschen (auch in B 19 = VI 221) die Rede. Die Willkür ist frei, insofern ihr Bestimmungsgrund das Gesetz der reinen praktischen Vernunft ist: Dies bedeutet Willkür in ihrem positiven Aspekt. Sie ist das Vermögen zu wählen, wobei die Wahl sittlich gut ist, falls ihre Maxime sich als tauglich zum moralischen Gesetz (= als verallgemeinerbar) erweist. Die eigentliche Schwierigkeit in der Kantischen Lehre von der Willkür betrifft den negativen Aspekt (Freiheit als Unabhängigkeit), wie sie nämlich frei sein kann, wenn ihre Handlungen in der Sinnenwelt der Naturnotwendigkeit unterstehen. Von der Freiheit in diesem Sinne schreibt Kant: „Die Freiheit (so wie sie uns durchs moralische Gesetz allererst kundbar wird) kennen wir nur als negative Eigenschaft in uns, nämlich durch keine sinnlichen Bestimmungsgründe zum Handeln genötigt zu werden“ (ebd. B 27 = VI 226). 3.2 „Der Wille ist das Begehrungsvermögen … in Beziehung … auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet“ (B 5 = VI 213). In Nr. IV der Einleitung werden beide Termini kurzerhand wie folgt umschrieben: „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen“, wobei die letzten offenkundig das Handeln betreffen. Dann geht der Text weiter: „Der Wille, der auf nichts anderes als bloß aufs Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also [auf] die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings notwendig und selbst keiner Nötigung fähig ist. Nur die Willkür also kann frei genannt werden“ (B 27 = VI 226). Der Wille bezeichnet also das rationale Begehrungsvermögen, insofern es Ursprung der „unbedingten praktischen Gesetze“ (B 19 = VI 221) ist.
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4. Gesetzgebung und Handeln gegen das Gesetz In Nr. IV der Einleitung in die Rechtslehre bespricht Kant auch folgendes Thema: Wenn die Freiheit darin besteht, daß das Subjekt als Wille sich selbst das Gesetz gibt und als Willkür das Vermögen hat, gemäß diesem Gesetz zu handeln, wie sind dann die Handlungen gegen das Gesetz zu erklären? (B 27 f. = VI 226 f.). Manche haben die Willkür als das Vermögen definiert, „dem Gesetz nicht allein gemäß, sondern auch zuwider zu wählen“ (die sog. „libertas indifferentiae“). Kant räumt ein, daß „die Willkür als Phänomen davon in der Erfahrung häufige Beispiele gibt“, verneint aber, daß wir die Willkür als Noumenon so definieren können, „weil Erscheinungen [zu denen auch die durch sinnliche Triebfedern verursachte Wahl gehört] kein übersinnliches Objekt … verständlich machen können“. Deshalb schreibt er weiter: „Die Freiheit in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen, ein Unvermögen“. In der Tat ist das moralisch Böse (malum culpae) etwas schlechthin Irrationales. Weil nun ens und verum (Sein und Intelligibles) convertuntur, ist das Böse in seinem Wesen ein non-ens non-intelligibile. Als solches schließt es die Möglichkeit aus, es zu verstehen, gerade weil es in sich nichts Intelligibles beinhaltet. Von ihm sind lediglich empirische Aussagen über seine Existenz und Klassifizierungen seiner Arten möglich, aber keine erklärende Erkenntnis. Es kann nur „per accidens“ in einer intelligiblen Beziehung zu anderen Dingen stehen (so z. B. kann eine böse Tat mit einer anderen bösen Tat als deren Veranlassung korreliert werden), aber nicht in jener erklärenden oder ursächlichen Beziehung, die im Falle der Realitäten als intelligibel möglich ist. Die Ursache des moralisch Bösen ist die Willkür nicht als „causa efficiens“, sondern als „causa deficiens“, die gerade als solche auf keine höhere (nämlich auf die Erstursache der endlichen Realität) verweist.146 In diesem Sinne schreibt Kant, daß von einer Wahl gegen das moralische Gesetz ein „Erfahrungssatz“ möglich ist, der aber nicht als „Erklärungsprinzip“ verwendet werden kann; deswegen gehört dieses „Unvermögen“ als Versagen hinsichtlich des Sinnes und Zieles der Freiheit nicht „notwendig zum Begriff der Freiheit“ (B 28 = VI 227). Auf der Grundlage der angegebenen Klärung kann der Sinn des Satzes des Abs. 5, in dem beide Termini Willkür und Wille verwendet werden, wie folgt wiedergegeben werden: Die Selbstliebe ist der Hang, die subjektiven Bestimmungsgründe der Willkür (die Willkür ist ja sinnlich affizierbar) zum objektiven Bestimmungsgrund des Willens zu machen, d. h. den „sinnlichen Antrieben“ zu folgen, als ob sie das objektive Gesetz wären, das der Wille als praktische Vernunft sich selbst gibt. Vgl. dazu Bernard Lonergan, Gnade und Freiheit. Die operative Gnade im Denken des hl. Thomas von Aquin, Innsbruck, Tyrolia 1998, 140–145; Insight. A Study of Human Understanding, London 1957 [dt.: Die Einsicht. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Cuxhaven 1995] 666–669. Zur hier erwähnten Interpretation der moralischen Schuld vgl. G. Sala, „Das Böse und Gott als Erstursache nach dem hl. Thomas von Aquin“, in: Theologie und Philosophie, 77 (2002) 23–53. 146
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A 133: Abs. 5 wiederholt die beiden Aspekte der Wirkung des moralischen Gesetzes in uns. a) Negativ: Demütigung, insofern wir uns der Distanz unserer Neigungen von der reinen praktischen Vernunft als Gesetzgeberin bewußt werden. b) Positiv: Wegräumung der Hindernisse für das „Bewußtsein des moralischen Gesetzes“ in unserer Sinnlichkeit. Aus beiden Gründen gilt das vom Gesetz in uns hervorgerufene Gefühl als ein moralisches Gefühl. A 133: Abs. 6–7 Das moralische Gesetz ist sowohl formaler Bestimmungsgrund der Handlung (es verlangt von ihr die Form der Allgemeinheit) als auch materialer Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung, insofern es selbst festlegt, was als gut zu gelten hat, wie es im 2. Hauptstück dargelegt wurde. Weil aber der Mensch fälschlicherweise aus anderen Gründen etwas für gut halten kann, ist das Gesetz zwar materialer, aber „nur objektiver Bestimmungsgrund“ dieser Gegenstände. Hinzu kommt, daß das moralische Gesetz auch „subjektiver Bestimmungsgrund, d. i. Triebfeder zu dieser Handlung“ ist (im Sinne von Abs. 1), indem es im Subjekt ein Gefühl bewirkt, das „dem Einfluß des Gesetzes … beförderlich ist“. Damit ist Kant in seinen Ausführungen zum Thema „Achtung fürs Gesetz“ zurückgekehrt. Bedingung für das moralische Gefühl ist zwar, daß der Mensch als sinnliches Wesen eines sinnlichen Gefühls überhaupt fähig ist, aber seine Ursache liegt in der reinen praktischen Vernunft. Es ist deshalb ein praktisches, kein pathologisches Gefühl.147 Dieses Gefühl entsteht dadurch, daß die Vorstellung des Gesetzes den Einfluß von Selbstliebe und Eigendünkel aufhebt und so das Ansehen des Gesetzes fördert. Deshalb ist „die Achtung fürs Gesetz nicht Triebfeder der Sittlichkeit, sondern die Sittlichkeit selbst subjektiv als Triebfeder betrachtet“, d. h. die Wirkung der Sittlichkeit aufs Gefühl, welche ihrerseits als eine Art Feedback den Einfluß des Gesetzes auf den Willen fördert. Die Achtung für das Gesetz ist die positive Seite der Wirkung des Gesetzes auf die Sinnlichkeit.148 Es ist deshalb klar, daß eine so verstandene Achtung fürs Gesetz einem nicht-sinnlichen Wesen nicht zugesprochen werden kann. Mit seinen Ausführungen über jenes Gefühl, das Kant Achtung fürs Gesetz nennt, will er offensichtlich einerseits an seiner Grundthese festhalten, daß Motivation des guten Willens ausschließlich das moralische Gesetz als Gesetz der Vernunft ist, andererseits aber möchte er anerkennen, daß in einem moralisch gesinnten Menschen auch die Sinnlichkeit an seiner Moralität teilnimmt, indem die ihn prägende moralische Gesinnung sich auch durch ein entsprechendes Gefühl zeigt. Aus diesem doppelten Anliegen lassen sich die in ihrem Wortlaut nicht immer untereinander kohärenten Aussagen Kants verstehen. Während er z. B. an unserer Stelle behauptet, daß „die Achtung fürs Der Gegensatz „pathologisch – praktisch“ ist der Gegensatz zwischen dem, was auf die Sinnlichkeit und dem, was auf die Moralität im Menschen bezogen ist. Das moralische Gesetz ist ja das praktische Gesetz (A 35). Praktisch ist, „was auf Freiheit beruht“ (KrV A 314), bzw. „durch Freiheit möglich ist“ (KrV A 800). Vgl. oben, Abs. 4. 148 Das moralische Gefühl ist „nur die subjektive Wirkung im Gemüte bei der Bestimmung unserer Willkür durch jene“ praktischen Gesetze: MS, Rechtslehre, Einleitung IV: A 18 = VI 221. 147
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Gesetz nicht Triebfeder zur Sittlichkeit ist“, schreibt er zu Beginn des Abs. 10, daß dieses Gefühl „die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder ist“ (A 139). Im Abs. 7 wiederholt Kant, daß die Achtung fürs Gesetz weder zur Beurteilung der Handlung (gegen seine Lehre vom „moral sense“ als materialem Prinzip der Sittlichkeit in der Preisschrift von 1764) noch zur Begründung des Sittengesetzes dient, das ja in der reinen praktischen Vernunft gründet. Dann folgt die Aussage: Dieses Gefühl dient dem objektiven Sittengesetz zur Triebfeder, insofern es dieses Gesetz „zur Maxime“ macht; dies widerspricht im Wortlaut Kants sonstiger Ausdrucksweise, daß es nämlich die subjektive Maxime ist, die, falls tauglich, nämlich universalisierbar, zum objektiven Gesetz wird. Da nun Kant unter Maxime den Grundsatz versteht, nach „welchem das Subjekt handelt“, während das Gesetz „das objektive Prinzip ist … nach dem es handeln soll“ (GMS A 51 Fn = IV 421), so will er mit diesem ungewöhnlichen Ausdruck sagen, daß das moralische Gefühl Zeichen dafür ist, daß das objektive Gesetz tatsächlich subjektiv (in diesem Sinne wie eine Maxime) als Gesetz wirkt. A 135: Abs. 8. „Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen.“ Denn sie ist ein Gefühl, das vom moralischen Gesetz in uns hervorgerufen wird und das sowohl einen negativen Aspekt (gegen die Neigungen, die dem Gesetz zuwider sind) als auch einen positiven Aspekt (als Ideal für unser Verhalten) aufweist. Deswegen erfahren wir dieses Gefühl nur gegenüber einer Person, aus deren Verhalten tatsächlich jenes moralische Gesetz aufscheint, das der Mensch in seinem Wesen trägt (vgl. die Fußnote zu A 144: „Achtung [kann] niemals einen anderen als moralischen Grund haben“). Man kann dennoch in einem abgeleiteten Sinn auch von einer Achtung vor Sachen sprechen, insofern wir sie als in einer besonderen Beziehung zum Menschen als moralischem Wesen erfahren. Dann hebt Kant das Eigentümliche der Achtung im Unterschied zu anderen Empfindungen und Affekten (z. B. Liebe, Furcht, Bewunderung) hervor; dieser Unterschied erinnert in etwa an den Unterschied zu Beginn der GMS zwischen dem absoluten Wert des guten Willens einerseits und den relativen Werten wie Talente des Geistes, Temperament und Glücksgaben andererseits. Der Unterschied wird durch den Spruch des französischen Frühaufklärers Bernard de Fontenelle (1657–1757) veranschaulicht, dem Kant als Ergänzung hinzufügt: Vor einem niedrigen rechtschaffenen Mann bückt sich mein Geist – auch wenn ich aus Stolz nicht möchte. A 137: Abs. 9 setzt die Analyse des Gefühls der Achtung fort. Es ist kein Gefühl der Lust. Beweis dafür ist, daß wir spontan versuchen, uns diesem Gefühl zu entziehen, weil es uns demütigt. Wir versuchen sogar uns der „feierlichen Majestät“ des moralischen Gesetzes zu entziehen, weil es uns unsere eigene Unwürdigkeit vorhält. Es ist aber auch kein Gefühl der Unlust;149 denn wir freuen uns „an der Herrlichkeit des Gesetzes“, wenn wir den Eigendünkel abgelegt haben. 149 Diese Aussage über das vom Gesetz hervorgerufene Gefühl der Achtung ist nicht leicht mit dem zu vereinbaren, was Kant in seinen bisherigen Ausführungen über das „Verhältnis der rei-
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Kant nennt hier und auch anderswo (z.B. A 147, 155, 221) das moralische Gesetz heilig. Diese Übertragung eines Grundmerkmals Gottes auf das Gesetz wundert deshalb nicht, weil die Ethik Kants durch die Tendenz gekennzeichnet ist, die praktische Vernunft im Menschen, die Kant als Gesetzgeberin ansieht, zu verabsolutieren und damit zu vergotten (vgl. den Exkurs über den Autonomie-Gedanken, S. 113). Dann untersucht Kant in einer verwickelten Argumentation eine Empfindung, die dem Gefühl der Achtung für das Gesetz analog zu sein scheint, nämlich die Bewunderung für große Talente. Aber bei dieser Empfindung bleibt ungewiß, wieviel die bewunderte Geschicklichkeit dem angeborenen Talent und wieviel dem eigenen Fleiß (bzw. der Kultur) zu verdanken hat. Unsere Vernunft beurteilt sie eher als eine Errungenschaft des Fleißes und damit als Verdienst. Dies demütigt uns, oder aber es fordert uns zur Nachahmung heraus. Die genannte Empfindung ist also nicht bloß Bewunderung. Bestätigung dafür ist, daß „der gemeine Haufe der Liebhaber … alle Achtung“ vor einer solchen Person verlieren, sobald sie in ihrem Charakter einen Fehler entdecken, während „der wahre Gelehrte“ immer noch die Person unter dem Aspekt seiner Talente zu achten und sich zur Nachahmung angespornt zu fühlen vermag. A 139: Abs. 10. Zum Widerspruch zwischen dem ersten Satz „Achtung fürs moralische Gesetz ist die einzige moralische Triebfeder“ und der These von Abs. 1 und 2 „Triebfeder des Willens ist nur das Gesetz selbst“ vgl. oben im Abs. 6 die Erläuterung zur Aussage „Die Achtung fürs Gesetz ist nicht Triebfeder zur Sittlichkeit“. Dann aber setzt Kant seine Ausführungen über die Achtung fürs Gesetz fort, indem er vieles vom vorher schon Gesagten wiederholt, aber auch andere Aspekte erwähnt. Es wird zweimal gesagt, daß das moralische Gesetz objektiv und unmittelbar den Willen bestimmt. Durch dieses Wirken des Gesetzes werden Neigungen und Eigendünkel in dem Maße ausgeschaltet, in dem sie dem Gesetz zuwider sind. Damit entsteht eine Empfindung der Unlust, eine Demütigung. Diese Demütigung vor der Reinheit des Gesetzes auf der sinnlichen Seite steigert aber zugleich die Schätzung des Gesetzes selbst auf der intellektuellen Seite (vgl. dasselbe im Abs. 6); letzteres wird in der Sinnlichkeit als ein Gefühl der Achtung vor dem Gesetz erfahren. Gerade weil die Achtung die positive Seite der Schwächung derjenigen Neigungen ist, welche ein Hindernis für das Gesetz darstellen, kann sie „als subjektiver Grund der Tätigkeit, d. i. als Triebfeder zur Befolgung desselben [Gesetzes] … angesehen werden“. Die Tätigkeit der Achtung fürs Gesetz ist also nicht direkt, den Willen zu bestimmen, sondern das Gesetz in seinem Wirken als Bestimmungsgrund des Willens zu unterstützen. Danach führt Kant den Begriff des moralischen Interesses ein, das in der GMS definiert wurde als „das, wodurch Vernunft praktisch, d. h. eine den Willen bestimmende Ursache wird“ (A 122 Fn = IV 459). Es handelt sich, wie Kant weiter im selben Werk, nen praktischen Vernunft zur Sinnlichkeit und ihren Einfluß auf dieselbe“ (A 161) gesagt hat und im folgenden sagen wird. So bewirkt nach A 129 das moralische Gesetz „Schmerz“, weil es „allen unseren Neigungen Eintrag tut“, und in A 139 ist von einer „Empfindung der Unlust“ die Rede.
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A 38 Fn = IV 413f., erläutert hat, um ein „praktisches Interesse an der Handlung [nicht am „Gegenstand der Handlung“] … und ihrem Prinzip in der Vernunft (dem Gesetz)“, oder an der Befolgung des Gesetzes, wie es an unserer Stelle heißt. Es ist also „ein reines sinnenfreies Interesse der bloßen praktischen Vernunft“. Wenn nun eine Maxime auf einem solchen Interesse beruht, so ist sie moralisch (= ein Gesetz). Triebfeder, Interesse und Maxime gelten nur für endliche Wesen, die ein inneres Hindernis für das moralische Gesetz haben, das es zu überwinden gilt. A 141: Abs. 11 äußert Staunen und Lobpreis auf das moralische Gesetz in uns. Die Stimme dieses Gesetzes nötigt den Frevler „sich vor seinem Anblicke zu verbergen“ (Reminiszenz an das Buch Genesis 4,14?). Von diesem für uns unergründlichen Einfluß „einer bloß intellektuellen Idee“ (vgl. A 122: „einer Idee der Vernunft“) auf das Gefühl können wir nur einsehen, daß er mit der Vorstellung des moralischen Gesetzes, und zwar „lediglich seiner Form nach“150, verbunden ist. Deswegen ist das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz kein auf dem inneren Sinn gegründetes Gefühl der Lust (vgl. Abs. 6: A 134). Dieser Einfluß bringt ein Interesse an der Befolgung des Gesetzes hervor und ist in sich selbst ein moralisches Gefühl. A 142: Abs. 12. Kant definiert nochmals die „Achtung fürs Gesetz“: „Das Bewußtsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz, doch als mit einem unvermeidlichen Zwange, der allen Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft, angetan wird, verbunden.“151 Die objektiv praktische Handlung aufgrund des moralischen Gesetzes heißt Pflicht, die, gerade wegen der Ausschließung der Neigungen eine Nötigung enthält (ein „prakMan beachte das durch das „lediglich“ ausgeschlossene Gegenstück: das Objekt des Gesetzes. Die Abweisung des Objektes als Bestimmungsgrund des sittlich guten Wollens und Handelns steht im Zentrum des ersten Hauptstückes: Interesse und Achtung des guten Willens gelten ausschließlich der Form des Gesetzes, nicht seinem Objekt. Würden sie (auch) dem Objekt gelten, so wären Vergnügen bzw. Schmerz, die nach Kants Dafürhalten mit dem Wollen des Objekts unvermeidlich zusammenhängen, der eigentliche Beweggrund, weshalb wir etwas wollen. Was Kant allem Anschein nach nicht einzusehen vermochte, ist die Korrelativität von Gesetz und Objekt, und zwar nicht nur in dem Sinne, daß das Gesetz kein Wollen fordern kann, das nicht ein zu bewirkendes oder zu erreichendes Objekt hätte (vgl. A 60), sondern auch, ja in erster Linie, weil die Verbindlichkeit des Gesetzes keine andere Begründung hat als im sittlich Guten, d.h. in dem, was für den Menschen wahrhaftig gut ist. 151 Zwang bezeichnet für gewöhnlich eine Nötigung, die das Subjekt a) von außen her, und zwar b) gegen seine eigenen Neigungen erfährt. Hinsichtlich des moralischen Gesetzes als des Gesetzes der Vernunft gilt a) nicht, wohl aber b). Letzteres ist um so mehr für Kant der Fall, weil er die Grundidee der Tugendethik, der zufolge unsere natürlichen Strebungen in das rationale Streben des Willens nach dem Guten zu integrieren sind (was freilich auch ein Moment der „Unterdrückung“ fordern kann), nicht kennt. Allerdings darf man nicht vergessen, daß (fast!) alle Aussagen über die Ethik Kants mit Vorsicht zu nehmen sind. So gesehen ist zu erwarten, daß es in den Schriften Kants Stellen gibt, wonach die natürlichen Neigungen im Hinblick auf die Moralität doch positiv zu beurteilen sind. 150
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tisches“, weil durch die Vernunft bewirktes Gefühl). Aber diese „Unlust“ an der Unterwerfung unter das Gebot und damit an der gebotenen Handlung ist von einer Erhebung begleitet,152 weil der Zwang „durch Gesetzgebung der eigenen Vernunft ausgeübt wird“; also ist die Unlust von einer Selbstbilligung begleitet. Kurzum, die Achtung für das Gesetz ist im Grunde Achtung vor sich selbst; man gewinnt Interesse an einer pflichtmäßigen Handlung, weil die eigene Vernunft die Gesetzgeberin ist. Denn gerade darin liegt „die Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetz gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt“ (GMS A 77 = IV 434). Zur „Nötigung“ vgl. auch KpV A 36: bei einem Wesen, dessen praktische Vernunft „nicht ganz allein Bestimmungsgrund des Willens ist“, weist das „Sollen“ des Gesetzes die Eigenschaft einer „objektiven Nötigung“ auf; auch GMS A 76 = IV 434. Die „Nötigung“ des Sollens schließt aber die Freiheit nicht aus (im Unterschied zu der von Kant bezeichneten „komparativen Freiheit“: A 171); denn es handelt sich um einen Anspruch, der unserer Freiheit überantwortet ist). A 144: Abs. 13. Im Zusammenhang mit dem hier analysierten Begriff der Pflicht weist Kant nochmals auf den Unterschied zwischen pflichtmäßigem Handeln und Handeln aus Pflicht hin, also zwischen Legalität und Moralität. Davon war schon zu Beginn des Hauptstückes die Rede. Diese Unterscheidung, die die Bedeutung der inneren Haltung im Gebrauch unserer Freiheit hervorhebt, ist an sich nicht notwendig mit einer Ethik des Typs der Normenethik verbunden. Aber der Umstand, daß Kant als echt moralische Einstellung (Gesinnung) immer wieder den Gehorsam gegen die „Pflicht“ als freiwillige Unterwerfung unter die „Nötigung“ der (eigenen) Vernunft nennt, bestätigt den Primat der „Verbindlichkeit“ (vgl. die Preisschrift von 1764) vor dem sittlich Guten als Kennzeichen seiner Ethik-Konzeption. Demgemäß charakterisiert Kant zu Beginn der MS, wo es um die Unterscheidung von Ethik und Recht geht, die erstere als eine Gesetzgebung, „welche nötigend, nicht eine Anlockung, die einladend ist, sein soll“. Die Ethik macht die Pflicht, und zwar sie allein, „zugleich zur Triebfeder“ (A 14f. = VI 219). A 145: Abs. 14. In beiden Grundlegungsschriften zur Ethik charakterisiert Kant das Sittengesetz durch ein Doppeltes: a) Es ist das Gesetz vernünftiger endlicher Wesen, b) es gibt sich dem Subjekt als eine Pflicht im Sinne von Nötigung kund. Was das erste betrifft, haben die Autoren auf die bei Kant öfters vorkommende Wendung hingewiesen, daß das Sittengesetz nicht bloß für Menschen, sondern für alle vernünftigen Wesen gelte (so zum ersten Mal in der Vorrede zur GMS A VIII = IV 399, und dann A 28 = 408 mit besonderer Klarheit; A 59 f. = IV 425; KpV A 30, 57, 146, 150 usw.). Dies hat Schopenhauer dazu veranlaßt, den spöttischen Verdacht zu äußern, 152 Dem hier durch „Zwang“ und „Erhebung“ gekennzeichneten Zustand entspricht im Abs. 10, A 140, ein Zustand von „Demütigung“ und „Erhebung“ und im Abs. 6, A 134, ein Zustand, in dem die Ansprüche der Selbstliebe abgeschlagen und dem Gesetz Ansehen verschafft wird.
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„daß Kant dabei ein wenig an die lieben Engelein gedacht, oder doch auf deren Beistand in der Überzeugung des Lesers gezählt habe“153. In der Tat aber will Kant damit sagen, daß Sittlichkeit auf Vernunft gründet, so daß sie mit ihr unzertrennlich zusammenhängt. Das zweite Merkmal, dem zufolge das Subjekt das Sittengesetz als eine Nötigung erfährt, sieht Kant darin begründet, daß unser Wille nicht schon von selbst, deshalb nicht notwendig mit dem Gesetz „einstimmig“ ist, oder, mit anderen Formulierungen, nicht heilig, nicht vollkommen ist (GMS A 39 = IV 414; KpV A 57, 151). Diesem zweiten, von Kant hervorgehobenen Merkmal des Gesetzes setzt er an unserer Stelle folgende Aussage entgegen: Wir sollen mit der äußersten Genauigkeit darauf achten, daß wir dem Gesetz folgen „aus Pflicht und aus Achtung fürs Gesetz, nicht aus Liebe und Zuneigung zu dem“, was die gebotene Handlung hervorbringen bzw. erreichen soll (vgl. auch A 281).154 Während aber Kant ansonsten das Objekt von der Funktion einer subjektiven Motivation der Handlung deshalb ausschließt, weil dies zu einer Motivation durch die zu erwartende Annehmlichkeit gleichkommen würde (vgl. die programmatischen Aussagen der Lehrsätze I und II in den §§ 2 und 3), ist der hier angegebene Grund für den Ausschluß der Liebe zum Objekt als Bestimmungsgrund des Willens der Verpflichtungscharakter des Gesetzes. Denn wenn Merkmal des Gesetzes in bezug auf unseren Willen eine Nötigung ist, so kann die gebotene Handlung „nicht eine von selbst schon beliebte oder beliebt werden könnende Verfahrensart“ sein.155 Wer nämlich meint, aus Liebe handeln zu können, bildet sich ein, bereits im „Besitz einer Heiligkeit des Willens“ zu sein, d. h. sich in einer ihm zur Natur gewordenen völligen und „niemals zu verrückenden“ Übereinstimmung des Willens mit dem 153 A. Schopenhauer, „Preisschrift über die Grundlage der Moral“, § 6, in: A. Hübscher, (Hrsg.), A. Schopenhauer. Sämtliche Werke, Leipzig 1938, IV, 132. 154 Einseitige Aussagen wie diese müssen im Gesamtkontext der Kantischen Auffassung von der menschlichen Moralität interpretiert werden. Wenn man das Anliegen Kants in Rechnung stellt, nämlich die Bildung des Gewissens und sein Mißtrauen gegenüber jeder leichtfertigen Einschätzung seiner selbst hinsichtlich der wahren Gründe des eigenen Wollens, so kann man ihnen einen „wahren Kern“ nicht streitig machen. Dennoch verrät obige Aussage sowie ähnliches in den darauffolgenden Absätzen eine Schieflage in der Gesetzesethik Kants. Sie vermag nicht der Bedeutung der Liebe für einen sittlich guten Lebenswandel gerecht zu werden. Franz Baader hat dies – wiederum einseitig! – mit dem bekannten Diktum zum Ausdruck gebracht: „Kant raisonniert von der Liebe nicht viel besser, als der Blinde von der Farbe, wenn er … die Liebe als die Neigung gegen den uns Vorteil Bringenden definirt“ (F. v. Baader, „Fermenta Cognitionis“, in F. Hoffmann (Hrsg.), F. v. Baader, Sämtliche Werke, 1851, II 179 [ND Aalen 1963]. Baader bezieht sich direkt auf GMS A 14 in fine = IV 400). 155 Kant sagt mehrmals, daß „Liebe nicht geboten werden kann“ (A 148). Allerdings meint er „Liebe als Neigung“ (vgl. auch GMS A 13 = IV 399). So schreibt er im Abschnitt „Von der Menschenliebe“ in der MS, Tugendlehre, Einleitung XII c: „Liebe ist eine Sache der Empfindung, nicht des Wollens, und ich kann nicht lieben, weil ich will, noch weniger aber, weil ich soll (zur Liebe genötigt werden); mithin ist eine Pflicht zu lieben ein Unding. Wohlwollen (amor benevolentiae) aber kann, als ein Tun, einem Pflichtgesetz unterworfen sein“. Vgl. auch Einleitung XVIII.
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Gesetz zu befinden „wie die über alle Abhängigkeit erhabene Gottheit“, deren Wille allein heilig ist. Mit dem hier Gesagten beginnt eine Reihe von Ausführungen über Pflicht und Liebe als Bestimmungsgründe unseres Willens, die zu den bekanntesten in der Ethik Kants gehören und die ihr eine rigoristische Prägung verleihen. Weil nun dieses Merkmal nicht nur landläufig als das Kennzeichen der Ethik Kants schlechthin gilt, sondern auch seine Auffassung über die moralische Dimension des Menschen tief prägt, soll diese Problematik eigens erörtert werden.
Exkurs: Pflicht, Neigungen und Liebe im Menschen als moralischem Wesen 1. Die Liebe in ihrem umfassenden Sinn besteht in einer intentionalen Antwort auf das Gute: Der Liebende strebt nach dem Guten. Als rational begründet hat die Liebe ihren verbindlichen Maßstab an der Güte und am Wert dessen, worauf sie sich jeweils bezieht;156 das angestrebte Gut mag materiell oder geistig sein. In ihrem spezifischen Sinn bezieht sich die Liebe nur auf Personen: Sie ist der Willensakt, mit dem ein Mensch einen anderen Menschen in dessen Eigenwert anerkennt (denn nur der Mensch ist Zweck an sich selbst), ihn um seiner selbst willen bejaht, sein Gutes will (Wohl-wollen) und dieses Gute, soweit er kann, fördert. Im vorliegenden Kontext, in dem es um das Wollen und Handeln geht, des näheren um die Motive des Wollens und Handelns, ist die Liebe im umfassenden Sinn gemeint. Wir fragen, ob das Streben des Menschen, sei es auf der sinnlichen oder auf der geistigen Ebene, eine Rolle bei der Befolgung des Sittengesetzes spielen kann. In seinen Ausführungen, in denen Kant von Neigung, pathologischer Liebe, Sympathie usw. spricht, hat er zwar beide Ebenen vor Augen, in erster Linie aber meint er die spontanen Strebungen, die in der Sinnlichkeit gründen. Dies gilt um so mehr, als es zweifelhaft ist, daß Kant ein oberes Strebevermögen anerkennt (worauf ich mehrfach hingewiesen habe, vor allem im Exkurs über die Priorität des moralischen Gesetzes vor dem Begriff des Guten, S. 139). Man kann bei ihm zwar ein rationales Strebevermögen feststellen, welches das sittlich Gute erstrebt, wenn man seine Beispiele sittlich guten Wollens und Handelns und überhaupt die seinen Schriften zur Ethik zugrundeliegende Absicht in Betracht zieht. Aber dieses Streben hat er nicht in seine Handlungstheorie eingearbeitet. In dieser wird das obere Begehrungsvermögen lediglich mit der erkenntnistheoretischen Lehre einer allgemeinen Form in Verbindung gebracht. Seine Handlungstheorie ist ansonsten vielmehr durch einen „ethischen Hedonismus“ geprägt. M. E. führt eine introspektive Analyse unserer moralischen Erfahrung zu folgender Antwort auf die gestellte Frage: Im Menschen als sinnenbegabtem Wesen kann das rationale Streben nach dem Guten in all seinem Umfang genommen (die Liebe als geistiger Akt) eine Vorwegnahme und zugleich eine begleitende Unterstützung in den spontanen Neigungen, einschließlich der Neigungen und Gefühle des unteren Begehrungs156
B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, 31.
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vermögens, finden. Es gilt deshalb, Gefühle und Neigungen durch Erziehung und Askese zu kultivieren und zu korrigieren, um sie auf die rational erkannten Güter des Menschen (das, was zu seiner Natur in all ihren Bestandteilen und gemäß der Rangordnung derselben genommen paßt) auszurichten. Je mehr spontanes Wohlwollen und sinnliche Neigungen am selben Strang ziehen, nämlich nach echten Gütern streben, desto mehr erhält die Liebe ihre vollmenschliche Gestalt, und die Dynamik des Willens vermag all ihre Kraft zu entfalten. Diese Antwort gründet darauf, daß der Mensch eine leib-geistige Wesenseinheit ist. Der Mensch ist zwar Person kraft seiner Geistigkeit, aber die menschliche Person ist der ganze Mensch: Leib und Seele. Als eine solche Einheit ist er Prinzip und Träger all seiner Akte, in denen Leib und Geist zusammenwirken, auch wenn in jeweils verschiedener Weise und verschiedenem Ausmaß, je nachdem um welche Art von Akt es sich handelt.157 Dies gilt insbesondere für die menschlichen Akte (actus humani), die im Unterschied zu den (bloßen) Akten des Menschen (actus hominis) unserer Freiheit und Verantwortung unterstehen. Unter menschlichen Akten versteht man die bewußten Akte des Wollens und die ebenfalls bewußten geistigen oder sinnlichen Akte, die von unserem vernunftgeleiteten Wollen abhängen und die deshalb frei und verantwortlich vollzogen werden. Sämtliche dieser Akte sind moralische Akte; in ihnen liegt der moralische Wert der Person. Gerade weil vielen menschlichen Handlungen spontane biologisch-psychische Bedürfnisse und Neigungen zugrunde liegen, gehört zur moralischen Bildung einer Person, daß sie die sinnlichen Strebungen, Gefühle und Affekte in ihre eigene Subjektivität als freie und verantwortliche Person integriert. Denn derjenige, der handelt, ist nicht eine „reine“ praktische Vernunft, sondern ein Mensch in der leib-geistigen Ganzheit seiner Person. Eine solche Integration geschieht durch die „Tugenden“, in denen der Geist die Sinnlichkeit „formt“, so daß diese zu einem menschenwürdigen Lebenswandel mitwirkt. Die Neigungen unterstehen der geistigen Dimension unseres Wesens; sie sind der Leitung, Modifizierung und „Formung“ durch Vernunft und Wille fähig und werden in den Tugenden zu Bestandteilen unserer moralischen Subjektivität und damit selbst Prinzipien von Handlungen, die sich nach dem Sittengesetz richten können und sollen. Die in die moralische Subjektivität integrierten Neigungen, Gefühle und Affekte verleihen unseren Entscheidungen und Handlungen ihre Kraft und ihren Impuls: Der tugendhafte Mensch tut das Gute wirksam, mit Leichtigkeit, Beharrlichkeit und Freude. Denn seinem Tun liegt nicht bloß die Spitze sozusagen seines freien Willens zugrunde, sondern die Masse seines ganzen Wesens mit all seinen sinnlichen und geistigen Energien. Wenn Kant in diesem Hauptstück über das „Verhältnis der reinen praktischen Vernunft zur Sinnlichkeit“ (A 161) mit verschiedenen Formulierungen dafür plädiert, daß der Wille „nicht bloß ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben und mit Abbruch aller Neigungen“ (A 128) allein durch das Gesetz der reinen praktischen Vernunft bestimmt werde, so verrät dies einen anthropologischen Dualismus, der dem Menschen als leib-geistiger Wesenseinheit nicht gerecht 157
Vgl. M. Rhonheimer, Sexualität und Verantwortung, Wien 1995, 51–54.
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wird.158 Anstatt zugunsten einer Integration der Neigungen und Strebungen in die umfassende rationale Dynamik des Geistes plädiert er für die Unterdrückung derselben. Dem idealen, sittlich gesinnten Menschen Kants sind selbst gutartige Gefühle „lästig“; er wünscht sich vielmehr, ihrer „entledigt und allein der gesetzgebenden Vernunft unterworfen zu sein“ (A 213). Dasselbe in GMS A 65 = IV 428: „… gänzlich davon [von den Neigungen und den darauf gegründeten Bedürfnissen] frei zu sein, muß der allgemeine Wunsch eines jeden vernünftigen Wesens sein“.159 Hat man eingesehen, daß das Streben der Neigungen sich in das Streben des oberen Begehrungsvermögens integrieren läßt, so erscheinen die Neigungen als unverzichtbare Bezugspunkte sowohl für die Ermittlung dessen, was für den Menschen gut ist, als auch für die Verwirklichung dieses Gutes. Wenn aber das Gute das Erstrebenswerte, Liebenswerte ist, wieso erfahren wir die Aufforderung des Sittengesetzes, das Gute zu tun, nicht selten als Nötigung? Wenn auch eine korrekte Analyse des Wesens des Menschen zu der Einsicht führt, daß moralisches Gesetz und spontane Neigungen einander nicht ausschließen, ist die erfahrene Spannung zwischen beiden nicht wegzuinterpretieren. Wie ist zu erklären, daß die rationale Dynamik des Willens zum sittlich Guten und die sinnlichen (und auch geistigen) Neigungen oft einander widerstreben? Dafür gibt es eine doppelte Erklärung. 2. Eine philosophische Erklärung: Unsere Natur ist aus zwei grundverschiedenen metaphysischen Bestandteilen zusammengesetzt, Materie und Geist, die jene Wesenseinheit bilden, die der Mensch als Person ist. Aber wir entwickeln uns früher als ein „animal“ denn als ein „animal rationale“. Deswegen erkennt und begehrt das Kind zuerst nur als ein sinnenbegabtes Wesen; entsprechend ist sein Kriterium für die Erkenntnis der Wirklichkeit das in Raum und Zeit biologisch-psychisch160 Relevante, und für das Streben nach dem Guten das sinnlich Angenehme. 158 Analoges galt bereits für seine „Kritik der reinen Vernunft“. Denn in ihr bilden sensualistischer Intuitionismus als Unterbau (vgl. A 19) und transzendentaler Idealismus als Überbau keine innere Einheit; sie sind eher aneinandergefügt. Das Intelligible wird ja nicht im Sinnlichen „en tois phantasmasi“ erfaßt, wie Aristoteles in „De Anima“ III, 7 schreibt, sondern darauf gestülpt. 159 Neben den extrem rigoristischen Aussagen fehlen in den Schriften Kants andere Aussagen freilich nicht; beispielsweise solche, die den Gegensatz zwischen reiner praktischer Vernunft und Sinnlichkeit mildern und sogar auf ein mögliches Zusammenwirken beider hinweisen. Aber der Grundtenor geht in die Richtung eines Dualismus im Sinne eines gegenseitigen Ausschluß-Verhältnisses. Eine viel angemessenere Auffassung von Neigungen und Glückseligkeit vertritt Kant zu Beginn des zweiten Stückes seiner Religionsschrift: „Natürliche Neigungen sind, an sich selbst betrachtet, gut, d. i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen; man muß sie vielmehr nur bezähmen, damit sie sich untereinander nicht selbst aufreiben, sondern zur Zusammenstimmung in einem Ganzen, Glückseligkeit genannt, gebracht werden können. Die Vernunft aber, die dieses ausrichtet, heißt Klugheit“ (B 69f. = VI 58). 160 „Psychisch“ ist hier auf die Seele als Prinzip der Sinnlichkeit bezogen.
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Erst später, wenn die Vernunft nach und nach zum Tragen gekommen ist und der Wille als vernunftgeleitetes Begehrungsvermögen zu wirken beginnt, entwickelt der Mensch ein anderes Kriterium für die Erkenntnis der Wirklichkeit (das Intelligible) und für das Wollen (das sittlich Gute). Weil aber die sinnlichen Kriterien bereits „in possessione“ sind und weil der Mensch auch im vollen Besitz seiner Vernunft und seines Willens nicht aufhört, weiterhin ein „animal“ zu sein, und als solches gut „funktionieren“ muß (gemäß den dazu gehörigen Kriterien), deshalb kommt es zu Spannungen zwischen den Forderungen der Vernunft und jenen der Sinnlichkeit.161 Die Sinnlichkeit macht sich in ihrem Streben nach dem Angenehmen mit einer Unmittelbarkeit bemerkbar, die der praktischen Vernunft in ihrem Streben nach dem sittlich Guten, das sich oft erst auf lange Sicht als richtig und als menschlich angemessen erweist, fehlt. Dies erklärt, warum wir das sittlich Gute oft nicht unmittelbar als erstrebenswert erkennen und das moralische Gesetz als Nötigung erfahren. Darin liegt der wahre Kern der Position Kants, der auf der Pflicht als alleinigem Bestimmungsgrund des guten Willens besteht. Dennoch bedeutet es ein folgenschweres Mißverständnis der Moralität, wenn man Pflicht und Neigung bzw. Pflicht und Liebe gegeneinander ausspielt. Es ist Aufgabe der Erziehung und der Selbsterziehung (Einübung in die Tugenden), die sinnlichen Strebungen so zu kultivieren und zu formen, daß sie auf der sinnlich-psychischen Ebene als Vorwegnahme und zugleich als Verstärkung jener echten Güter wirken, die sich uns durch eine gelebte Rationalität erschließen. Je mehr uns dies gelingt, desto mehr macht die Nötigung des Gesetzes der Liebe zum Guten Platz und desto mehr erkennt und tut der Mensch das Gute aus einer Konnaturalität seines ganzen Wesens mit dem Guten, in dem Maße, wie die Übereinstimmung mit dem Gesetz ihm zur erworbenen Natur geworden ist. Das zuletzt Gesagte erklärt eine scheinbar tautologische Beschreibung der Tugend bei Aristoteles: Tugend und damit das wahre Gute ist das, was ein tugendhafter Mensch zu bestimmen pflegt.162 Der gute Mensch ist ein lebendiges Kriterium dessen, was für den Menschen gut ist. Es ist deshalb einseitig, wenn Kant als Kriterium für die Beurteilung, ob wir moralisch gut gehandelt haben, nur auf die in unseren verkehrten Neigungen und Gewohnheiten liegenden Hindernisse verweist, die wir zu überwinden haben, um gut zu handeln, als ob eine genaue Entsprechung zwischen der nötigen Anstrengung zur Überwindung der Hindernisse und dem moralischem Wert der Entscheidung und Handlung bestünde und als ob der moralische Wert nicht (auch, ja vor allem) der Liebe zum Guten, das es zu tun gilt, proportional wäre. Im Aufsatz „Über den Gemeinspruch“ räumt Kant zwar ein, daß der Mensch „seinem natürlichen Zwecke, der Glückseligkeit“ nicht entsagen kann, stellt 161 Eine ähnliche Bemerkung haben wir weiter oben bei Kant angetroffen: „Unsere Natur als sinnliche Wesen [ist] so beschaffen, daß die Materie des Begehrungsvermögens (Gegenstände der Neigungen …) sich zuerst aufdringt, und unser pathologisch bestimmbares Selbst, gleich als ob es unser ganzes Selbst ausmachte, seine Ansprüche vorher und als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen bestrebt“ ist (A 131). 162 Aristoteles, Nikomachische Ethik, II 3: 1105 b 5–9; II 6: 1106 b 36–1107 a 2; III 6: 1113 a 24–b 1. Vgl. oben zu A 110–112, Fn 129, S. 146.
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ihm aber als Idealzustand vor Augen, daß er sich darum bemühen soll, „daß sich keine von jener hergeleitete Triebfeder in die Pflichtbestimmung unbemerkt mit einmische: welches dadurch bewirkt wird, daß man die Pflicht lieber mit Aufopferungen verbunden vorstellt, welche ihre Beobachtung (die Tugend) kostet, als mit den Vorteilen, die sie uns einbringt“ (A 209 f. = VIII 279; vgl. auch GMS A 60 = IV 425; KpV A 278 gegen Ende). 3. Eine theologische Erklärung: Die christliche Theologie spricht von einem Sündenfall zu Beginn der Menschheit (peccatum originale), durch die der Mensch nicht nur jene ihm von Gott geschenkte Übernatur verlor, die Gnade genannt wird, sondern auch seine Integrität, d. h. den Zustand einer vollkommenen Menschlichkeit im Sinne von Harmonie und ungehindertem Zusammenwirken zwischen den leiblichen und den geistigen Komponenten des Menschen. Die „natürliche“ Spannung der zwei verschiedenen, aber komplementären Prinzipien der menschlichen Natur ist infolge des Sündenfalls zu einer Zerrissenheit zweier einander widerstreitender Prinzipien geworden. Zu diesem Zustand gehören vor allem die Verdunkelung unserer Erkenntnisfähigkeit und die Schwächung unseres Willens. Eine solche theologische Lehre war auch Kant aus seiner religiösen, pietistisch ausgerichteten Erziehung bekannt. Ja, es war das Eigentümliche der Reformation im 16. Jahrhundert, die verheerenden Folgen des Sündenfalls stärker hervorzuheben. In seiner „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ hat Kant versucht, aus dem System der christlichen Glaubenssätze durch deren kritisch-philosophische Auslegung einen Inbegriff von Grundwahrheiten einer reinen Vernunftreligion zu gewinnen. Im Zentrum dieser Vernunftreligion steht der Mensch als moralisches Wesen, so daß Kant zum Ergebnis gelangt, daß die wahre, endgültige Religion „die Religion des guten Lebenswandels ist“ (B 61 f. = VI 51 u. ö.). Nun behandelt das erste Stück der Religionsschrift unter der seitdem bekannten Redewendung „Das radikale Böse“ den locus theologicus, den die Theologen Erbsünde nennen. Dieses Böse ist radikal in dem Sinne, daß es in einer „intelligiblen Tat … ohne alle Zeitbedingung“ besteht (B 26 = VI 31). So kommt es, daß der Mensch (jeder Mensch!) durch diese Tat „die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt“, nämlich so, daß „er die Triebfedern der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht“ (B 34 = VI 36). Damit hat Kant innerhalb einer theologischen Umrahmung seine philosophische Konzeption des Menschen unter dem ethischen Aspekt wiederaufgenommen. Die Lehre vom radikalen Bösen steht am Anfang seiner Religionsphilosophie, nicht um eine Erlösungsbedürftigkeit des Menschen im christlichen Sinne zu begründen, sondern um dem naiven Optimismus der Aufklärung zum Trotz die Notwendigkeit und die Schwierigkeit des moralischen Fortschrittes vor Augen zu halten. Die Spannung zwischen Pflicht und natürlichen Neigungen ist das klarste Zeichen im Leben eines jeden Menschen, daß seine Sinnlichkeit, wie Kant an der bereits angeführten Stelle gesagt hat, ihre „Ansprüche … als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen bestrebt ist“ (KpV A 131). Es handelt sich um eine Priorität, welche die Konsequenz der Umkehrung der
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Triebfedern in uns ist. Der auffallende Rigorismus der Ethik Kants hängt also ohne Zweifel auch mit der ungeheuren Herausforderung zusammen, eine Umkehrung, die bis ins Tiefste unserer Freiheit hinabreicht, rückgängig zu machen. A 146: Abs. 15–16. Kant wiederholt zunächst (vgl. Abs. 14), daß das moralische Gesetz für den Willen Gottes „ein Gesetz der Heiligkeit, für den Willen jedes endlichen vernünftigen Wesens aber ein Gesetz der Pflicht ist“. Als Fortsetzung des Themas Pflicht und Liebe räumt er dann zwar ein, daß es schön ist, „aus Liebe zu den Menschen …, ihnen Gutes zu tun“, besteht aber darauf, daß dies „noch nicht die echte moralische Maxime unseres Verhaltens“ ist. Denn wir sind keine „Volontäre“, die sich einbilden, „über dem Gedanken von Pflicht“ zu stehen; wir stehen vielmehr wie Wehrpflichtige „unter einer Disziplin der Vernunft“; unser Verhältnis zum moralischen Gesetz ist deshalb das der „Pflicht und Schuldigkeit“. Wie aus dem Terminus „Volontär“ und noch deutlicher aus dem Abs. 18 hervorgeht, wo von der „Tugend“ als „moralischer Gesinnung im Kampfe“ die Rede ist, denkt Kant – wenn nicht aus philologisch-historischen Kenntnissen, so doch aus dem Milieu seiner Erziehung in Preußen unter König Friedrich Wilhelm I., dem „Soldatenkönig“, (1713–1740) – an die Tugend in ihrer ursprünglichen Bedeutung von „areté“ bzw. „virtus“. „Areté“ bedeutet Vortrefflichkeit des Menschen als Menschen und steht in Verbindung mit „Ares“, dem Kriegsgott, und daraus durch Metonymie mit Kampf; „virtus“ stammt von „vir“ und meint ursprünglich „Mannhaftigkeit“. Tugendhaft im klassischen Sinne ist demnach derjenige, der das Gute mit Souveränität, Beständigkeit und Freude tut und so das realisiert, was Aristoteles eupraxia nennt.163 Eine derartige Betonung des Pflichtcharakters („Nötigung“, Abs. 14) des moralischen Gesetzes läßt sich schwer mit der Autonomie des Menschen vereinbaren, der zufolge nach Kant der Mensch selbst durch seine Vernunft Ursprung des Gesetzes ist.164 Kant sieht sich deshalb an unserer Stelle gezwungen, die Autonomie des Menschen zu relativieren. Denn, wie er bereits in der GMS A 75 = IV 433 f., bemerkt hatte, im „Reich der Sitten“ (= Reich der Zwecke) sind wir zwar „gesetzgebende Glieder …, aber doch zugleich Untertanen, nicht das Oberhaupt“. Der Platz eines Oberhauptes kann nur von einem „völlig unabhängigen Wesen, ohne Bedürfnis und Einschränkung eines dem Willen adäquaten Vermögens“ eingenommen werden (GMS A 75 = IV 434).165 A 147: Abs. 17. Nachdem Kant immer wieder mit Nachdruck darauf bestanden hat, daß wir nur dann moralisch gut handeln, wenn der Bestimmungsgrund das Gesetz Vgl. M. Rhonheimer, Die Perspektive der Moral, 170. Vgl. in der GMS die dritte Formel des kategorischen Imperativs (A 70 = IV 431), zu der als Variante die des „Reiches der Zwecke“ hinzukommt, nämlich „der systematischen Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“, die von den Mitgliedern selbst erlassen werden (A 74 = IV 433). 165 Vgl. oben am Ende des Exkurses zum § 8, Anmerkung II, über den Autonomie-Gedanken, S. 114. 163
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selbst ist, erörtert er hier und in den folgenden Absätzen, wie es um die Möglichkeit der Liebe steht, wenn sie selbst als Gebot auftritt. Anlaß zu dieser Frage ist, daß in der Heiligen Schrift vom Gebot der Gottesliebe (Deuteronomium 6, 4 f.) wie auch von der Gottes- und Nächstenliebe (Matthäus 22, 37–40 und Parallelen bei Markus und Lukas) die Rede ist; außerdem gilt dort das Gebot der Nächstenliebe als die Erfüllung des Gesetzes: Leviticus 19, 18, Römerbrief 13, 9, Galaterbrief 5, 14.166 Eine gewisse Schwierigkeit bereitet der Text, insofern er nicht deutlich unterscheidet zwischen 1) Liebe als Objekt (Inhalt), das vom Gesetz gefordert wird, und 2) Liebe als Bestimmungsgrund (Motivation) des Wollens und Tuns. Auf der Grundlage einer solchen Unterscheidung kann der Text wie folgt wiedergegeben werden. 1) Wird die Liebe als Objekt des Gesetzes verstanden, so ist a) Liebe zu Gott unmöglich. Kant versteht hier die Liebe offenkundig als einen Akt des unteren Begehrungsvermögens, also als sinnliche Neigung. Demnach spricht er von „pathologischer Liebe“ (vgl. Fn 147 zum Abs. 6, S. 147, sowie Abs. 4, S. 165 f.). Dem ist entgegenzuhalten, daß Liebe ein geistiger Akt, ein Akt des Willens ist (vgl. den Exkurs über „Pflicht, Neigung und Liebe im Menschen als moralischem Wesen“, S. 177). Die Sinnlichkeit ist insofern mitbeteiligt, weil dieser Akt als Akt eines leib-geistigen Wesens von einem entsprechenden Gefühl begleitet sein kann, das in der Sinnlichkeit des Subjekts gründet, ja dieses Gefühl kann sogar den geistigen Akt vorwegnehmen. b) „Liebe gegen Menschen ist zwar möglich, kann aber nicht geboten werden“. Derselbe Grund, warum Kant die Liebe zum Menschen als möglich erachtet, nämlich weil der Mensch auch Gegenstand der Sinne ist, gilt ihm zugleich als Grund, warum die Liebe zum Menschen nicht geboten werden kann: Was „eine Sache der Empfindung ist“, kann nicht befohlen werden (MS, Tugendlehre, Einleitung XII c). 2) Ist die Liebe als Objekt eines Gesetzes ausgeschlossen, so bleibt die Liebe als Bestimmungsgrund des Gesetzes, d.h. als Motivation, warum wir dem moralischen Gesetz Folge leisten sollen. Die so verstandene Liebe wird von Kant „praktische Liebe“ genannt und, im Anschluß an die oben angegebenen Stellen der Heiligen Schrift, für den „Kern aller Gesetze“ gehalten. „Gott lieben heißt in dieser Bedeutung: seine Gebote gerne tun; den Nächsten lieben heißt, alle Pflicht gegen ihn gerne ausüben“. Aber auch die so verstandene Liebe bereitet Kant Schwierigkeiten. Denn sind wir bereits geneigt, etwas gerne zu tun, dann ist ein Gebot dazu überflüssig.167 Sind wir nicht geneigt, das Gebotene gerne zu tun, dann können (und sollen!) wir es dennoch „aus Achtung fürs Gesetz“ tun. Nun würde in diesem Falle „ein Gebot, welches diese Achtung [fürs Gesetz] eben zur Triebfeder der Maxime macht“168 – wie alle Gebote an 166 Zum Thema Liebe vgl. weiter GMS A 13 = IV 399; MS, Tugendlehre, Einleitung, XII c: „Von der Menschenliebe“; auch XVIII, „zweitens“. 167 Gemäß der oben im Exkurs (insbes. S. 180) vorgenommenen Analyse des Tugendhaften als lebendigem Kriterium des Guten hat es wohl einen Sinn zu sagen, daß der Tugendhafte, der die Neigungen in seine erworbenen Tugenden integriert hat, das Gebot des moralischen Gesetzes bzw. der zuständigen Autorität gerne tun kann. 168 Ich interpretiere diese Aussage dahingehend, daß die Achtung fürs Gesetz, die „die einzige
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sich fordern –, „gerade der gebotenen Gesinnung [nämlich der Gesinnung, der zufolge wir dem Gesetz aus Liebe bzw. gerne folgen sollen] zuwider wirken“. Im Aufsatz von 1794 über „Das Ende aller Dinge“ schreibt Kant wieder: „Es ist ein Widerspruch, jemanden zu gebieten, daß er etwas nicht allein tue, sondern es auch gern tun solle“ (A 519 = VIII 338). Kants Fazit: Das Liebesgebot als „Gesetz aller Gesetze“ (A 149 zu Beginn), d. h. als umfassender Bestimmungsgrund, meint „die sittliche Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommenheit“, also „ein Ideal der Heiligkeit“, nach welchem wir ununterbrochen streben sollen als einem in Wirklichkeit „unerreichbaren Ziel“, aber so, daß durch die wiederholte Einhaltung des moralischen Gesetzes aus der richtigen Gesinnung es uns immer leichter wird, dem Gesetz „Genüge zu tun“. Wäre der Bestimmungsgrund all unseres Wollens und Tuns die Liebe, so würde das Gesetz „aufhören, Gebot zu sein“, und die Moralität würde „aufhören, Tugend zu sein“ (d. h. „moralische Gesinnung im Kampfe“, wie es im folgenden Abs. heißt); sie würde in die Heiligkeit, d. h. in „die Vollendung einer dem Gesetze gewidmeten Gesinnung“ übergehen. Zu beachten sind hier zwei Aussagen, die im Dialektikteil eine wichtige Rolle spielen werden: erstens die Vorstellung eines „unendlichen Progressus“ in Richtung auf eine völlige Konformität mit dem Gesetz. Der so verstandene Progressus wird dort als medius terminus für das Postulat der Unsterblichkeit der Seele dienen. Zweitens hängt die Befriedigung unserer Begierden und Neigungen und damit unsere „gänzliche Zufriedenheit“ von „physischen Ursachen“ ab, also von Quellen, die nicht dieselben wie die Quellen der Moralität sind. Aus dieser Divergenz wird Kant Gott als denjenigen postulieren, der imstande ist, das Wirken der Natur in den Dienst der Forderungen der Moralität zu stellen (A 199, 225). A 150: Abs. 18. Kant geht hier mit denen hart ins Gericht, die meinen, aus reiner Liebe handeln zu können und zu sollen. Er möchte aber nicht so sehr diejenigen in Betracht ziehen, die vorgeben, aus Liebe zu Gott zu handeln (Religionsschwärmerei)169, als vielmehr diejenigen, die sich einbilden, ihre „Pflichten gegen Menschen“ aus freiwilliger Gutartigkeit ihres Gemüts zu erfüllen (moralische Schwärmerei). Weil Kant in diesem Absatz wie auch in den vorigen (14, 15, 17) die Heiligkeit des Willens Gottes mit der uns Menschen angemessenen und möglichen moralischen Gemoralische Triebfeder ist“ (A 139), als Motivation der Maxime wirkt und deshalb die Maxime zu einem moralischen Gesetz macht; vgl. die ebenfalls ungewöhnliche Redewendung im Abs. 7: A 135. 169 Im Zusammenhang mit der vorliegenden Warnung vor Religionsschwärmerei mag es zweckmäßig sein, auf die §§ 1 und 2 im vierten Stück der Religionsschrift Kants hinzuweisen, die vom „Religionswahn“ handeln. Im Rahmen seiner „rein destruktiven“ Kritik an der Kirche als Institution (F. Delekat, I. Kant. Historisch-kritische Interpretation seiner Hauptschriften, 359) geht Kant auf den „praktischen Wahn“ ein (B 256 Fn = VI 168), der auf dem Statutarischen und Äußerlichen in der religiösen Praxis besteht und dabei glaubt, dadurch der „beschwerlichen ununterbrochenen Bemühung, auf das Innerste unserer moralischen Gesinnung zu wirken überhoben zu werden“ (B 257f. = VI 169).
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sinnung kontrastiert und weil die damalige rationalistisch orientierte Theologie sehr geneigt war, den pietistischen Gegnern den „Heiligkeitsdünkel“ zur Last zu legen, fragt Bohatec170, ob auch Kant hier und an anderen ähnlichen Stellen den Pietismus als Ziel seiner Kritik im Auge hat. Sich auf das Zeugnis des ersten Kant-Biographen Borowski171 stützend, kommt der Autor zu folgendem Ergebnis: Kant habe zwar im „Streit der Fakultäten“ (A 82–91 = VII 54–58) eine scharfe Kritik am Mystizismus des Spener-Franckenschen Pietismus geübt, weil dieser die moralische Besserung nicht den eigenen Kräften des Menschen zuschreibt, sondern übernatürlichen Einflüssen – der Gnade –, die der Mensch sich allein durch Gebet versprechen kann, wobei das Beten ebenfalls als eine „Gnadenwirkung“ gilt; aber Kant polemisiere hier nicht gegen den unter dem Einfluß Speners stehenden Königsberger Pietismus, dessen Auffassung von der Heiligkeit, die die Mutter ihm beigebracht hatte, er geteilt hat. Hinsichtlich der „Pflichten gegen Menschen“, die wir aus Achtung fürs Gesetz erfüllen sollen, ist zu bemerken, daß Kant der Ansicht war, daß „es keine besonderen Pflichten gegen Gott in einer allgemeinen Religion gibt“, d.h. keine „Hofdienste“, sondern nur „ethisch-bürgerliche Menschenpflichten (von Menschen gegen Menschen“, Religion B 229f., Fn = VI 153f.). Kant formuliert hier die moralische Situation des Menschen mit einigen besonders einprägsamen Sätzen: „Die sittliche Stufe, worauf der Mensch … steht, ist Achtung fürs moralische Gesetz. Die Gesinnung, die ihm dieses zu befolgen obliegt, ist: es aus Pflicht, nicht aus freiwilliger Zuneigung und auch allenfalls unbefohlener, von selbst gern unternommener Bestrebung zu befolgen, und sein moralischer Zustand, darin er jedesmal sein kann, ist Tugend, d. i. moralische Gesinnung im Kampfe, und nicht Heiligkeit im vermeinten Besitze einer völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens“. Aufschlußreich ist, wie Kant den für die klassische Tugendethik zentralen Begriff der Tugend auffaßt. Für die Antike besagt Tugend die innere Harmonie des Menschen und aller seiner Strebungen mit der Vernunft. Direkter Träger der sittlichen Tugenden ist demnach jeweils ein Strebevermögen, das dadurch zu einem Handlungsprinzip guter Handlungen wird. Tugend ist affektive Konnaturalität mit dem Guten. Damit aber wird keineswegs verneint, daß der Mensch oft genug nur durch moralische Anstrengung und Zurückdrängung ungeordneter Affekte nach und nach zu einem tugendhaften Menschen reift. Infolge seines zugrundeliegenden Dualismus von Leib und Geist wie auch seines Rigorismus tendiert Kant dahin, das Moment der Anstrengung und der Selbstverleugnung schlechthin mit „Tugend“ zu identifizieren, die deshalb „moralische Gesinnung im Kampfe“ genannt wird. Eine solche Auffassung ist kohärent mit der Trennung von Gesetz und Gutem, die ebenfalls charakteristisch für seine Ethik ist. Wenn nämlich der Gegenstand der Pflicht nicht als mit dem identisch erkannt wird, was für den Menschen gut ist,172 so vermag man nicht einzusehen, wieso J. Bohatec, Kants Religionsphilosophie, 334, 524f. Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, Darmstadt, 1968, 12ff. 172 All dies wird zwar von Kant nicht bestritten, kommt aber in seiner Analyse des moralischen Phänomens kaum zum Tragen. Seine diesbezügliche Position ist derjenigen hinsichtlich der 170 171
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der Mensch am Gegenstand der Pflicht ein moralisches Interesse haben kann und warum ein Wachsen in der Tugend einem Wachsen der Neigung zum Guten und der Freude gleichkommt. Zusammenfassend: „Kant vertritt die Meinung, daß Tugend bzw. moralisches Handeln aus reiner Pflicht genau dann realisiert ist, wenn sich der Handelnde dessen bewußt ist, seine Neigungen zugunsten der Befolgung der Pflicht zurückgedrängt zu haben. Für Kant bleibt der Konflikt zwischen Neigung und moralischer Vernunft bzw. Pflichtbewußtsein für das, was er ‘Tugend’ nennt, konstitutiv.“173 Den Schwärmern hält Kant entgegen, sie muntern zu angeblich edleren, erhabeneren und großmütigeren Handlungen auf, als ob es nicht unsere Pflicht wäre, sie zu tun, also als ob man von ihnen erwarten würde, daß sie diese Handlungen als bares Verdienst verrichten. Zum „sanften“ Joch des Gesetzes, weil es uns von unserer eigenen Vernunft auferlegt wird, vgl. Matthäus 11, 20. Kant kontrastiert die windige und phantastische Denkungsart der Schwärmer mit unserer „Schuldigkeit“, unsere Pflichten zu erfüllen. Vermutlich ist seine Ausdrucksweise eine Anspielung auf das Gleichnis vom unnützen Sklaven bei Lukas 17, 7–10. Andererseits will Kant edle Handlungen der Menschen nicht absolut bestreiten, falls sie aus Pflicht getan werden; aber bei unserer Beurteilung kommt es auf die „ernste, heilige Vorschrift“ an, derentwegen diese Handlungen geschehen sind. Am Schluß dieser wichtigen Stelle, an der der „Geist“ der Ethik Kants am beredsamsten zur Sprache kommt, schreibt der Philosoph: „Das ist die einzige Darstellungsart, welche die Seele moralisch bildet“; damit wird die weiter oben geäußerte Ansicht bestätigt, daß Kant mit dem vorliegenden Werk (auch) Gewissensbildung, also eine Art „geistliche Führung“ betreiben will, und zwar in einer Art, die der religiös-aszetischen Tradition nahe steht, wenn auch unter völlig anderen weltanschaulichen Vorzeichen. A 153: Abs. 19. Kant gibt eine Definition des Terminus „Schwärmerei“ vom Standpunkt seines eigenen philosophischen Denkens aus: „eine nach Grundsätzen unternommene Überschreitung der Grenzen der menschlichen Vernunft“. Gemeint ist also nicht eine Überschreitung aus einem Irrtum oder aus Unwissenheit im Einzelfall, sonGlückseligkeit ähnlich. Er versteht die Unterscheidung von „Glückseligkeitslehre und Sittenlehre“ (A 165) dahingehend, daß „die Moral an sich niemals als Glückseligkeitslehre behandelt werden müsse“ (A 234), obwohl er doch keine bessere Grundlage für sein Postulat Gottes finden konnte als das natürliche Verlangen des Menschen nach Glück. Nach Kant vermag der Mensch infolge des „Abbruchs“ (A 128, 130, 131) seiner Neigungen und Gefühle bis zu einem vom Gesetz allein hervorgebrachten „Interesse an einer pflichtmäßigen Handlung“ (A 144) zu gelangen, aber nicht zu einem moralischen „Interesse am Gegenstand der[selben] Handlung“ (GMS A 38 Fn = IV 413 f.). Es läßt sich nicht leugnen, daß die Faszination der Ethik Kants nicht zuletzt auch auf ihren Halbwahrheiten gründet, denen gerade wegen ihrer Einseitigkeit nicht selten der Verdienst zugesprochen werden muß, auf vergessene oder gar verdrängte Wahrheiten aufmerksam zu machen. 173 M. Rhonheimer, Die Perspektive der Moral, 282. Vgl. dort 173–177 über die „Anthropologische und affektiv-kognitive Dimension der sittlichen Tugend“.
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dern eine prinzipielle, insofern sie unserer Vernunft eine Tragweite zuschreibt, die diese nicht hat. Der „moralischen Schwärmerei“, von der hier direkt die Rede ist, hält Kant entgegen, daß sie die Grenzen der reinen praktischen Vernunft mißachtet; denn diese gebietet a) daß wir den subjektiven Bestimmungsgrund unserer pflichtmäßigen Handlungen nur im Sittengesetz setzen und b) daß wir die Gesinnung unserer Maximen nur in der Achtung für das Gesetz setzen. Zu a) Kant verwendet hier den Terminus „Triebfeder“ gemäß der Bedeutung, die er zu Beginn des Hauptstückes festgelegt hat: Der objektive Bestimmungsgrund (das Gesetz) soll zugleich subjektiver Bestimmungsgrund unseres Willens (Triebfeder) sein und wird deshalb „moralische Triebfeder“ genannt.
Exkurs zur „Grenzbestimmung“ der menschlichen Vernunft Obwohl Kant hier direkt nur die praktische Vernunft vor Augen hat, ist es angebracht, auch seine Lehre über die Grenzen der Vernunft als Erkenntnisvermögen in Betracht zu ziehen. In der Tat paßt die von ihm angegebene Definition eher zur Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauch. Denn der metaphorische Ausdruck: „Überschreitung der Grenzen“ paßt besser zur Tragweite des Erkenntnisvermögens, indem er besagt, daß diese Tragweite überschritten wird, als zum Gegensatz zwischen dem Gesetz als Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft und anderen Bestimmungsgründen. Ich habe bereits mehrmals darauf hingewiesen, daß die Ethik Kants, obwohl sie im wesentlichen vom später erfundenen Transzendentalidealismus unabhängig ist, in der KpV im Kontext einer Erkenntnis- und Seinslehre vorgelegt wird, der prinzipiell derjenige der KrV ist.174 Infolgedessen finden sich öfters einzelne Argumentationen, die auf dieser Lehre gründen. Dieser Kontext ist besonders wichtig für die Interpretation des Dialektikteils der KpV. Denn dort schreibt Kant der reinen praktischen Vernunft die Fähigkeit zu, die Grenzen der spekulativen Vernunft überschreiten und so „die höchsten Zwecke unseres Daseins“ (KrV B 395 Fn) erreichen zu können, zwar nicht in einem „Wissen“, wohl aber in einem „vernünftigen Glauben“ (A 259 f.; vgl. auch die programmatische Aussage der KrV B XXX). In der KrV verwendet Kant den Terminus Grenzbestimmung fünfmal (A 727 Fn 758, 795, 843). Von besonderer Bedeutung ist die Stelle A 395 f. im Paralogismen-Hauptstück von A. Die „nach sicheren Grundsätzen vollzogene Grenzbestimmung unserer Vernunft“ hat „alle unsere spekulativen Ansprüche bloß auf das Feld möglicher Erfahrung (eingeschränkt)“. In der Tat aber gehören Termini wie „Grenze“, „innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung“ und ähnliche Redewendungen zu den fundamentalen Begriffen der KrV. Die beabsichtigte Grenzbestimmung, die den Kern des ganzen Werkes ausmacht und häufig zur Sprache kommt, fällt eindeutig im Sinne des Empirismus oder Sensualismus aus. Der erste Absatz der Transzendentalen Ästhetik (A 19) drückt 174
Zu dieser Erkenntnis- und Seinslehre vgl. die Fn 81, S. 87.
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diese Lehre programmatisch aus. Denn es wird gesagt, daß nur die Anschauung, und zwar die sinnliche Anschauung (die einzige, die der Mensch hat) imstande ist die Wirklichkeit zu erreichen, d. h. uns diese erkenntnismäßig zu vermitteln. Kant erkennt zwar außer den Sinnen auch den Verstand an; dieser aber steht völlig im Dienst der sinnlichen Anschauung mittels seiner Begriffe a priori (Vgl. A 50–52; B 1: „Zusatz“), ohne selbst die Wirklichkeit zu erreichen. Mehr noch, Kant kennt auch die Tendenz der Vernunft zum „Unbedingten“ (vgl. B XIX–XXI, sowie Einleitung und Erstes Buch der Dialektik), d. h. zum Ansichseienden; aber mit der Idee des Unbedingten übt die Vernunft nur eine regulative (systematisierende) Funktion hinsichtlich der bereits durch Sinn und Verstand konstituierten Objekterkenntnis aus. Der Kern des Arguments, mit dem Kant zu seinem Phänomenismus gelangt, läßt sich mit dem folgenden Syllogismus wiedergeben: M. Die einzige Erkenntnishandlung, die uns die Wirklichkeit erkennen läßt, ist die sinnliche Anschauung. m1. Sämtliche Verstandes- und Vernunfthandlungen (= „alles Denken“) stehen im Dienst dieser Anschauung, ohne eine eigene Realität (genauer: eine eigene metaphysische Komponente der unserer Erkenntnisart proportionierten Realität) beitragen zu können. m2. Die sinnliche Anschauung kann wegen ihrer subjektiven Bedingungen (die Anschauungen a priori von Raum und Zeit) dem Subjekt die Erkenntnis der Wirklichkeit nur in ihrem Status von Erscheinung (A 20) verschaffen. C. Also ist unsere Erkenntnis von Objekten auf die Grenzen möglicher sinnlicher Erfahrung beschränkt – wobei diese Realität bloß in ihrem Status von Erscheinung (A 20) erkannt wird.175 Wenn auch vieles für die These Hans Vaihingers spricht, der zufolge „Kants Hauptzweck [in der KrV] eine Reform der Philosophie ihrer Form und ihrem Inhalt nach durch Vermittlung des Dogmatismus und des Skeptizismus war“176, so bleibt doch unbestritten, daß die sensualistische Grenzbestimmung unserer Erkenntnis den Unterbau des ganzen Werkes darstellt. Der im selben Werk ausführlich ausgearbeitete transzendentale Idealismus als Überbau vermag den Empirismus, auf dem er beruht, nicht zu überwinden. Der Sensualismus der KrV entspricht genau dem Sensualismus, den der Common Sense, wenn er über die menschliche Erkenntnis reflektiert, für selbstverständlich hält: Wir erkennen nur das, was wir erfahren, d. h. was wir sehen, hören, betasten usw. können. Im Unterschied zum Common Sense war Kant allerdings sich völlig darüber im klaren, daß die Sinne von sich aus keine Wirklichkeit erkennen lassen. Diese richtige Einsicht stand aber bei ihm in Zusammenhang mit seinem Unvermögen zu erfassen, daß der Verstand durch sein Verstehen in den Daten der Erfahrung und die Vernunft durch ihre 175 Vgl. dazu meine Ausführungen: „Kants Lehre von der menschlichen Erkenntnis. Eine sensualistische Version der Intuitionismus“, in: Theologie und Philosophie 57 (1982) 202–224), hierzu vor allem 208–212; weiter 321–347; 59 (1984) 249–264. 176 H. Vaihinger, Kommentar zu Kants KrV, I 69.
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absolute Setzung im Urteil („est“) genau jene Erkenntnis der Wirklichkeit zustandebringen, die er anhand des irreführenden Begriffs einer „intellektuellen Anschauung“ im Menschen suchte, aber nicht finden konnte. Das Resultat beider Ansichten (über die Anschauung der Sinne und über die nicht anschauungsmäßige Erkenntnistätigkeit von Verstand und Vernunft) war, daß Kant einerseits die Grenzen der menschlichen Erkenntnis genau sowie der Empirismus festlegte und andererseits den Menschen zum „Urheber der Erfahrung“ (KrV B 127) im transzendentalidealistischen Sinn machte. Das erste der zwei aneinandergefügten Resultate der KrV, die „Grenzbestimmung“, hat einen ungemein großen Einfluß auf unsere Kultur bis auf den heutigen Tag ausgeübt. Die KrV gilt landläufig als das Werk, das definitiv bewiesen hat, daß die Tragweite unserer Erkenntnis nicht die Tragweite dessen zu überschreiten vermag, was Gegenstand unserer sinnlichen Erfahrung werden kann. A 153: Abs. 20. Eine Überschreitung dieser Grenzen, „moralische Schwärmerei“ also, findet sich manchmal sogar auch bei den Philosophen, ja sogar bei den „strengsten unter allen“, den Stoikern. Obwohl Kant aufgrund seines Rigorismus den Stoikern nahesteht, kritisiert er an ihnen die zum „Heroismus“ neigende Schwärmerei. In der Dialektik der KpV geht Kant an zwei Stellen auf die Morallehre der Stoiker ein. Erstens im Zusammenhang mit dem Begriff des „höchsten Gutes“, das aus der Zusammensetzung von Sittlichkeit und Glückseligkeit besteht. Kant hält zwar die Sittlichkeit für der Glückseligkeit würdig (A 199), aber so, daß ihr Zusammenhang nicht analytisch, sondern synthetisch ist; sie hängen nämlich wie Ursache und Wirkung zusammen, und deswegen wird Gott als die Ursache der der Sittlichkeit proportionierten Glückseligkeit postuliert. Demnach kritisiert Kant die Stoiker, für die die Glückseligkeit nichts anderes als das Bewußtsein der eigenen Tugend ist (A 200) – eine Kritik, die der „heroischen“ Einstellung der Stoiker gilt. Zweitens vergleicht Kant im Kontext des Postulats Gottes die Morallehre der Zyniker, der Epikureer, der Stoiker und des Christentums. Bei den Stoikern „war Tugend ein gewisser Heroismus des über die tierische Natur des Menschen sich erhebenden Weisen, der ihm selbst genug ist, anderen zwar Pflichten vorträgt, selbst aber über sie erhaben ist“ (A 229f. Fn.). Dem Heroismus der Stoiker sowie der „schalen Beschaffenheit“ von Romanschreibern und empfindenden Erziehern (vgl. A 271, 280) hält Kant an unserer Stelle entgegen, daß die eigentliche, zu uns Menschen passende moralische Einstellung die einer „nüchternen, aber weisen Disziplin der Sitten ist“.177 Hinsichtlich der Morallehre des Evangeliums weist Kant hier auf die „Reinigkeit“ ihres Prinzips und zugleich auf ihre „Angemessenheit … mit den Schranken endlicher Wesen“ hin, so daß sie uns nicht zu „moralischen geträumten Vollkommenheiten“ verleitet. Im Christentum, heißt es im Kontext des Vergleichs mit anderen Morallehren, sei die „Unnachsichtlichkeit“ der Moral mit der Anerkennung unserer Schranken verIn der Vorrede zur MS, Tugendlehre, A VII = VI 377, spricht Kant von der „Seelenruhe und Zufriedenheit“, seine eigene „oft sauere Pflicht getan zu haben“. 177
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bunden, so daß wir hoffen können, „daß, was nicht in unserem Vermögen ist, uns anderweitig zu Statten kommen werde“ (A 230). Allerdings ist Kant in seiner Religionsschrift, sofern es sich um die Anerkennung einer „Ergänzung“ unseres moralischen Unvermögens durch eine übernatürliche Hilfe (die Gnade Gottes) handelt, deutlich zurückhaltend bis ablehnend (Pelagianismus! Vgl. B 62 f., = VI 51 f.; weiter B 141, 176 = VI 100 f., 120 u.ö.). A 154: Abs. 21 enthält Kants berühmte Apostrophierung der Pflicht. Eine Apostrophierung der Aufrichtigkeit findet sich in der Religionsschrift (B 295 f.). Zu der Aussage, daß das moralische Gesetz für sich selbst allein nicht nur „den Willen zu bewegen“ vermag, sondern auch gerade in seiner „Absonderung“ von allen sinnlichen Beihilfen am stärksten auf uns wirkt, siehe die mit großer Beredsamkeit vorgetragenen Überlegungen anhand eines Vergleichs des Gesetzes mit dem Gefühl des Erhabenen in KU, § 29 (B 124f. = V 274f.). Schwierigkeit kann folgender Relativsatz bereiten: „Pflicht, … der du … ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet und doch sich selbst wider Willen Verehrung … erwirbt“. Es scheint nämlich, daß zwischen den zwei Gliedern des Satzes kein Gegensatz vorliegt (was von selbst im Gemüt Eingang findet, kann ja nicht wider Willen für sich Verehrung erwerben), der das „doch“ rechtfertigen könnte. Deswegen wurde die Korrektur „welches nicht von selbst“ vorgeschlagen. Trotzdem scheint die originale Lesart korrekt zu sein. Denn daß das moralische Gesetz von uns selbst stammt (Autonomie), stellt ein fundamentales Lehrstück der Ethik Kants dar. Andererseits wird der Terminus „Gemüt“ (animus, psyché) von Kant in einem weiten Sinn verwendet, um sowohl die vernünftige als auch die sinnliche Seite unseres seelischen Lebens zu bezeichnen. Nun steht dasselbe moralische Gesetz, das vom Gemüt als rationaler Seele stammt, (oft) im Gegensatz zum Gemüt als Sinnlichkeit mit ihren Neigungen. So wird begreiflich, daß die Pflicht im Gemüt von selbst Eingang findet und doch der sinnlichen Komponente desselben Verehrung, welche Beugung einschließt, abnötigt.178 Die abschließende Frage nach der Wurzel der Pflicht weist auf zwei Lehrstücke in Kants Konzeption des moralischen Gesetzes hin, nämlich a) daß der Wert des Menschen in der Befolgung der Pflicht liegt und b) daß diesen absoluten Wert (vgl. zu Beginn der GMS) der Mensch allein sich selbst geben kann. A 154: Abs. 22 antwortet auf die Frage nach dem Ursprung der Pflicht. Im ersten Satz wird der zunächst nicht namentlich genannte Ursprung durch dessen Beziehungen zur Sinnenwelt und zur Verstandeswelt charakterisiert: Er ist das, a) was den Menschen über sich selbst erhebt, b) was ihn an die Verstandeswelt knüpft, die die Sinnenwelt unter sich hat (zur Sinnenwelt gehören das empirische Dasein des Menschen und das Ganze der Zwecke, die zusammen das höchste Gut als angemessenen Gegenstand des Sittengesetzes ausmachen). 178
Vgl. dazu KS 13 (1908) 313–316.
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Im zweiten Satz wird der Ursprung beim Namen genannt: die Persönlichkeit, also der Mensch als Person. Person bedeutet für Kant in erster Linie Freiheit; ihr, als Ursprung des moralischen Gesetzes, ist die Person als zur Sinnenwelt gehörig unterworfen. In der engen Verbindung von Personsein und Freisein des Menschen als Herrschaft über sein eigenes Streben hat Kant etwas Fundamentales im Wesen des Menschen gesehen. Aber zu der „Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur“ (dem negativen Aspekt der Freiheit), also der Freiheit im Handeln, kommt bei Kant die Freiheit im Sinne einer Selbstgesetzgebung hinzu, die er als absolut versteht, d. h. als Unabhängigkeit des Willens von aller materialen (inhaltlichen) Bestimmtheit, wie er im ersten Hauptstück der Analytik eindringlich dargelegt hat. Dadurch scheint diese Freiheit kein anderes Ziel zu haben als sich selbst zu wollen179, und somit letztlich sogar von ihrer Ausrichtung auf das Gute entbunden zu sein, das allein der Vernunft offen steht. Kant hat mit Recht die Autonomie als den Grund der Würde des Menschen bezeichnet (GMS A 77 f. = IV 434 f.); es kommt aber darauf an, wie man diese Autonomie versteht. Da der Mensch zu beiden Welten gehört, ist es kein Wunder, wenn er seine eigene Bestimmung in der Verstandeswelt mit Verehrung und die Gesetze dieser Bestimmung, die moralischen Gesetze, mit höchster Achtung betrachten muß (vgl. A 129 f., 133, 143, wonach das moralische Gesetz sich selbst den Menschen unterwirft und ihn zugleich erhebt). Um beide Aspekte der Person zu klären, rekurriert Kant auf seine Zweiweltentheorie – die Theorie von dem mundus sensibilis und dem mundus intelligibilis -, die er in der Dissertation von 1770 durch die Entdeckung der zwei Formen der Sinnlichkeit eingeführt und in der KrV durch die Entdeckung der Formen a priori des Verstandes weiter ausgebaut hatte.180 Diese Theorie wirft allerdings zumindest ebensoviele Probleme auf, wie sie nach Kants Dafürhalten löst. Zur „Persönlichkeit“ vgl. auch die Religionsschrift, in der Kant drei Anlagen im Menschen unterscheidet: die Anlage für die Tierheit, die für die Menschheit und die für die Persönlichkeit. Letztere ist „die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür“ (B 18 f. = VI 27 f.). A 155. An den Ursprung der Idee der Pflicht im Menschen anknüpfend, erläutert Abs. 23 „manche Ausdrücke“, welche den Wert bestimmter Realitäten vom Standpunkt der Moral bezeichnen: a) Das moralische Gesetz ist heilig – wobei der Terminus 179 Wenn man bedenkt, daß Kant die göttliche Eigenschaft des moralischen Gesetzes, nämlich seine Heiligkeit, gerade darin begründet sieht, daß dieses von der Autonomie des Menschen stammt – und nicht darin, daß es das Gesetz des Guten ist (zumindest wird dies nicht thematisiert) – so kann man einsehen, was für einen Stellenwert die Autonomie bei Kant einnimmt. Dazu vgl. den nächsten Absatz 23 und den letzten Absatz im Postulat Gottes: A 237. 180 Zum doppelten Aspekt des Menschen vgl. Friedo Ricken, „Homo noumenon und homo phaenomenon“, in: O. Höffe (Hrsg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a.M. 1989, 234–252.
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etwas besagt, das „unverletzlich“ (unantastbar) ist, insofern es zur Sphäre des Göttlichen gehört. Dies paßt zur Tendenz Kants, das moralische Gesetz zu vergotten (vgl. S. 173 zum Abs. 9). b) Die Menschheit muß dem einzelnen Menschen in seiner Person heilig sein. Wir tragen in uns eine Realität, die mehr ist als das, was wir nach unserer empirischen Dimension sind (homo phaenomenon; vgl. auch in der Religionsschrift A 283 f. = VI 183). Vom Gedanken der Heiligkeit des Menschen geht Kant zum Gedanken über, daß „in der ganzen Schöpfung … nur der Menschen … Zweck an sich selbst ist“.181 Damit nimmt Kant jene zweite Formel des kategorischen Imperativs wieder auf, aber ohne sie namentlich als solche zu bezeichnen, die er in der GMS, A 64ff. = IV 428ff., ausführlich behandelt hat. Dadurch vervollständigt Kant das bloß formale Prinzip der Sittlichkeit, das in der ersten Formel enthalten ist und im § 7 als die einzige Formel des kategorischen Imperativs aufgeführt wurde, durch das materiale Prinzip, nämlich den Menschen als objektiven Maßstab für Gut und Böse. Der Mensch ist Subjekt des moralischen Gesetzes, das er selbst erläßt (Autonomie). Wie ist nun diese Lehre vom Menschen als Gesetzgeber – wobei die Gesetze allgemein sind, d. h. für alle Menschen verbindlich – mit der Lehre vom Menschen als Zweck an sich selbst zu vereinbaren? Zur Antwort auf diese Frage hatte Kant in der GMS zur dritten Formel des kategorischen Imperativs, der Formel der Autonomie, als Variante die Formel des „Reiches der Zwecke“ hinzugefügt (A 74 = IV 433). Wie nämlich in Rousseaus „Contrat Social“ (der Kants Morallehre in den 60er Jahren beeinflußt hatte) das Staatsrechtsprinzip der „volonté générale“ besagt, daß der Wille des einzelnen Bürgers nur dann rechtskräftig ist, wenn er mit dem Willen der ganzen staatlichen Gemeinschaft übereinstimmt, so gilt für Kant die Maxime des einzelnen nur dann als moralisches Gesetz, wenn sie auch die Maxime aller anderen sein kann. Also ist der gesetzgebende Wille jeder Person „auf die Bedingung der Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens [also aller anderen Personen] eingeschränkt“. Diese Bedingung gilt auch für den göttlichen Willen in Ansehung der Menschen, die doch seine Geschöpfe sind (vgl. auch den letzten Abs. im Abschnitt über das Postulat Gottes (A 237), der eine Parallele zum vorliegenden Abs. darstellt). A 156: Abs. 24 ist ein einziger Lobpreis auf die Erhabenheit unserer menschlichen Natur als moralischer Natur. Jegliche Übertretung ihres Gesetzes – aus welchen Gründen und um welcher Vorteile willen auch immer – würde uns in unseren eigenen Augen verachtungswürdig machen, ja unser Leben allen Wertes berauben. Auch im widerwärtigsten Zustand lebt der rechtschaffene Mensch, der sich seiner Würde bewußt ist, „nur noch aus Pflicht“. Der Ton selbst dieser Seite, im Lichte des ganzen Werkes verstanden, zeugt unzweideutig von der moralischen Einstellung ihres Verfassers. 181 Vgl. KU, § 84 „Von dem Endzweck des Daseins einer Welt, d. i. der Schöpfung selbst“, wo die These ausgeführt wird, daß dem Menschen als Subjekt der Moralität „die ganze Schöpfung teleologisch untergeordnet ist“.
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A 158: Abs. 25 faßt das Resultat des ganzen Abschnittes mit dem Satz zusammen: „Die echte Triebfeder der reinen praktischen Vernunft … ist keine andere als das reine moralische Gesetz“. Damit verwendet Kant den Terminus „Triebfeder“ in dem Sinne, wie er ihn im ersten Absatz des Hauptstücks festgelegt hat: Der objektive Bestimmungsgrund des Willens, das Gesetz, ist selbst Triebfeder, insofern er zugleich als subjektiver Bestimmungsgrund wirkt. Dieses Gesetz läßt uns die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz spüren und ruft in uns „Achtung für ihre höhere Bestimmung“ hervor. Das „Übersinnliche“ ist für Kant mit dem „Ding an sich“ identisch. Zu dieser Realität haben wir nur aufgrund unserer moralischen Verfassung einen Zugang. Kant betont immer wieder, daß einziger sittlich zulässiger Bestimmungsgrund unseres Wollens und Tuns nur das Sittengesetz sein kann. Im vorigen Absatz 2 hat er für es „bedenklich“ gehalten, „auch nur neben dem moralischen Gesetz noch andere Triebfedern“ (etwa unseren Vorteil) „mitwirken zu lassen“. An unserer Stelle stellt er zunächst fest, daß sich „mit dieser Triebfeder gar wohl“ viele Annehmlichkeiten des Lebens in dem Sinne verbinden lassen, daß ein „sittliches Verhalten“ die beste Aussicht „auf einen fröhlichen Genuß des Lebens“, wenn auch nicht immer, bietet.182 Daraus folgert Kant, daß es sich allein schon um der genannten Aussicht willen lohnt, moralisch zu handeln. Zugunsten eines solch klugen Kalküls beruft er sich auf die Lehre der alten Epikureer, nach denen, wie er weiter unten im Abschnitt über das „höchste Gut“ erläutert, „der Begriff der Tugend schon in der Maxime liegt, seine Glückseligkeit zu befördern“ (A 202). Es sei deshalb ratsam (im Sinne der „Ratschläge der Klugheit“, von denen Kant im Kontext seiner Lehre über die drei Arten von Imperativ gesprochen hat: GMS A 40 ff. = IV 414 ff.), diese Motivation zusammen „mit jener obersten und schon für sich allein hinlänglichen bestimmenden Bewegursache [dem moralischen Gesetz] zu verbinden“. Unmittelbar danach aber beeilt sich Kant, dieses zunächst im Kontext seiner Ethik bedenkliche Zugeständnis an die von ihm sonst bekämpfte Glückseligkeitslehre zu differenzieren bzw. zu korrigieren. Denn die Aussicht auf die Vorteile eines sittlichen Lebenswandels soll nur als Gegengewicht zu den Verlockungen des Lasters wirken; „eigentlich bewegende Kraft“ für unser Verhalten darf aber allein das moralische Gesetz sein. Mehr noch, Kant warnt auch vor jeglicher „Mischung“ verschiedener, ja einander ausschließender Beweggründe (Pflicht und Lebensgenuß), die „das moralische Leben“ zerstören würden. Vorliegender Versuch, die Einseitigkeit eines Rigorismus, demzufolge Pflicht und Neigung einander ausschließen, zu korrigieren, ist in den Schriften Kants nicht der einzige. Wir werden auch im nun folgenden Abschnitt andere Versuche treffen, dem natürlichen Streben des Menschen nach Glück gerecht zu werden, und zwar nicht im Sinne eines Kompromisses oder einer Aufweichung der Anforderungen des Sittenge182 Genau gesagt, die Feststellung betrifft nicht ein Verhalten, dessen Triebfeder das moralische Gesetz ist, also ein Verhalten „aus Pflicht“, sondern lediglich ein „pflichtgemäßes“ Verhalten, was immer seine Motivation sein mag.
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setzes, sondern im Sinne einer angemesseneren Würdigung der Natur des Menschen als einer leib-geistigen Wesenseinheit und damit des dieser Natur innewohnenden moralischen Gesetzes. Aber zu einer prinzipiellen Lösung der Spannung zwischen den Forderungen des moralischen Gesetzes und dem unserem Wesen innewohnenden Streben nach Glück vermochte Kant nirgends zu gelangen. Dafür hätte er den Willen als das rationale Begehrungsvermögen nach dem für den Menschen wahrhaft Guten anerkennen und dadurch das Dilemma überwinden müssen, das seiner Morallehre zugrunde liegt; das Dilemma nämlich zwischen handeln um des Gesetzes willen und handeln um der (sinnlichen) Lust willen, die vom Gegenstand des Wollens erwartet wird.
Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft (A 159–191) Der hier beginnende Abschnitt gehört äußerlich noch zum dritten Hauptstück der Analytik, in der Tat aber führt er das Thema der Triebfedern nicht weiter, außer freilich dort, wo das jeweils behandelte Thema in Verbindung mit der Sinnlichkeit als möglichem Bestimmungsgrund unseres Willens steht. Mit den nötigen Vorbehalten zur Anordnung, in der Kant seine Überlegungen vorzutragen pflegt, kann man den Abschnitt wie folgt gliedern: 1. Abs. 1–4 stellen einen Vergleich zwischen dem Aufbau der Analytik der ersten und der zweiten Kritik an: Sinnlichkeit, Begriff und Grundsätze werden in einer jeweils umgekehrten Reihenfolge behandelt. 2. Abs. 5–6 erörtern die Unterscheidung von Sittlichkeit und Glückseligkeit. 3. Ab Abs. 7 beginnt das große Thema der Freiheit: zunächst (7–12) in bezug auf den Naturdeterminismus, dann (13–17) in bezug auf Gott. 4. Abs. 18–19. Im Zusammenhang mit der Idee des „Unbedingten“ wird die Erweiterung unserer „Erkenntnis“ ins Feld des Übersinnlichen behandelt. Erster Teil: Ein Vergleich zwischen den ersten zwei Kritiken (A 159–165) A 159: Abs. 1 interpretiert die vage Überschrift „Kritische Beleuchtung“ als Erklärung der „systematischen Form“ der KpV „durch Vergleichung“ ihrer Anordnung mit derjenigen der KrV. Zu beachten ist die Behauptung, der zufolge der praktischen und der spekulativen Vernunft „einerlei Erkenntnisvermögen“ zugrunde liegt (vgl. auch „einunddieselbe Vernunft“ in A 218, GMS A XIV = IV 391), wobei die spekulative Vernunft sich auf das, „was da ist“, während die praktische auf das, „was da sein soll“ bezieht (vgl. KrV A 840, 547). Kant mißt dem Parallelismus-Gegensatz in der Anordnung beider Kritiken große Bedeutung zu. Denn er hat ihn bereits in der Einleitung besprochen (A 31 f.) und in der „Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“ erwähnt (A 73), wobei an diesen früheren Stellen direkt vom Unterschied in der Anordnung des Analytikteils die Rede war. Laut der hier angegebenen Erklärung paßt also die Überschrift des Abschnittes nur zum ersten Teil desselben. Es muß aber
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hinzugefügt werden, daß nach Abs. 8 der Vorrede (A 11–13) der Vergleich beider Werke auch auf den „Übergang zu einem ganz anderen Gebrauch“ der Begriffe ausgedehnt werden soll, die in der ersten Kritik untersucht wurden, namentlich auf den Gebrauch des Begriffs der Freiheit. Genau dies bildet das große Thema der vorliegenden „Beleuchtung“. Zur Vorliebe Kants für systematische Gliederungen, Symmetrien und Parallelismen verweise ich auf „Der Werdegang der Ethik Kants“, S. 54f., Nr. 14. A 159: Abs. 2 beschreibt zunächst die Anordnung der Analytik der KrV: Sie fängt bei der Anschauung an (als ob die transzendentale Ästhetik zur Analytik gehören würde!) – vgl. B 1 –, schreitet zu den Begriffen fort (vgl. A 50–52) und endet mit den Grundsätzen des reinen Verstandes (die transzendentalen Ideen üben keine konstitutive Funktion in unserer Objekterkenntnis aus und werden deshalb nicht erwähnt). Die praktische Vernunft dagegen hat es „mit ihrem eigenen Vermögen“, dem Willen, zu tun, um die erkannten Gegenstände zu verwirklichen. Nun aber besagt der Wille eine Kausalität und die praktische Vernunft gibt dieser Kausalität das Gesetz, demgemäß die Verwirklichung der Gegenstände geschehen soll. Deswegen fängt die Analytik der reinen praktischen Vernunft „von der Möglichkeit praktischer Grundsätze a priori“ an – nämlich vom „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ (§ 7). Durch das Gesetz bestimmt sie dann die Begriffe von Gut und Böse (vgl. A 110 das Paradoxon der KpV). Schließlich untersucht sie den Einfluß des moralischen Gesetzes auf die Sittlichkeit (das moralische Gefühl). Das im vorliegenden Absatz Gesagte läßt sich im Schema auf S. 196 wiedergeben. Vaihinger (Kommentar, I 492) wirft Kant einen „enormen Gedächtnisfehler“ vor, insofern er hier die Ästhetik zur transzendentalen Analytik der KrV zählt (vgl. A]), was der tatsächlichen Struktur der ersten Kritik nicht entspricht. Dieselbe Zuordnung hat Kant bereits in A 73 vorgenommen. Dennoch, bemerkt er weiter, paßt die hier angegebene Struktur der KrV besser zu ihrer eigenen Lehre. Denn nach der KrV besteht unsere Objekterkenntnis aus Anschauung und Begriff (A 50–52). Eine Analyse des Prozesses, der zur Erkenntnis von Objekten führt, umfaßt nach der KrV das Moment der empirischen Anschauung und das Moment, in dem der Verstand nach Maßgabe seiner eigenen Grundsätze das Mannigfaltige der Anschauung zu einer synthetischen Einheit führt (B 130 f.) und es zu einem erkannten Gegenstand im vollen Sinne des Wortes macht. Eine so verstandene Analytik gibt die Logik der Wahrheit wieder (freilich einer Wahrheit, die in der Erkenntnis von „Erscheinungen“ besteht!), während die transzendentale Dialektik zur „Logik des Scheins“ gehört, wie es in A 61 und 293 heißt. Kürzlich hat R. Brandt eine andere Interpretation dafür vorgelegt, daß Kant an unserer Stelle die transzendentale Ästhetik „zu einem Teilgebiet der Analytik der KrV gemacht hat.183 Dies sei eine planvolle Reduzierung (157), die Kant im Hinblick auf den „für den Inhalt der Kantischen Moraltheorie wichtigen Abweis des Empirismus“ (154) vorgenommen hat. Zu dieser Interpretation sei folgendes gesagt: 183 R. Brandt, In: O. Höffe (Hrsg.), I. Kant. Kritik der praktischen Vernunft, Berlin 2002, 153–172.
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Kommentar zur „Kritik der praktischen Vernunft“
A] Die Anordnung der KrV, wie sie hier beschrieben wird: transz. Analytik
e d c
1. transz. Ästhetik e 2. Analytik der Begriffe transz. Logik d c 3. Analytik der Grundsätze
(transz. Dialektik) B] Die Anordnung der KpV
Analytik
e d c
Logik
e d c
1. Analytik der Grundsätze
2. Analytik der Begriffe 3. Ästhetik
(Dialektik) C] Die Anordnung der KrV, wie sie im veröffentlichten Werk tatsächlich vorliegt: 1. transz. Ästhetik
transz. Logik
e d c
e d c
Von dem Raume
Von der Zeit e 2. Analytik der Begriffe Analytik d c 3. Analytik der Grundsätze Dialektik
1. Die KrV vertritt zweifelsohne den Empirismus. Der programmatische Text von A 19 (der unzählige Parallelstellen hat) drückt sich unzweideutig in diesem Sinne aus. Dafür verweise ich auf den Exkurs über die „Grenzbestimmung“, S. 187 f.). Aber ich sehe nicht ein, wieso die KpV Kant zu einer „Revision der Struktur der KrV“ (159) veranlaßt haben soll. Denn die zwei Kritiken handeln von zwei voneinander verschiedenen Arten des Vernunftgebrauchs: dem theoretischen und dem praktischen. Der erstere ist auf die empirische Anschauung angewiesen, der andere nicht. Demnach hebt Kant mit Nachdruck hervor, daß die theoretische Vernunft als reine kritisiert werden muß, die praktische Vernunft als reine dagegen nicht. Dies erklärt die umgekehrte Anordnung von Ästhetik, Analytik der Begriffe und Analytik der Grundsätze, verlangt aber keineswegs eine wie immer geartete Revision der KrV, von der übrigens im häufigen Verweis der KpV auf die KrV nirgends die Rede ist. 2. Wenn Brandt schreibt: „Wird nicht mit dem formalen Gesetz begonnen, sondern ein vorgängiger Inhalt des Begehrens gesetzt und näher bestimmt, ist der Empirismus unvermeidlich“ (158), so zeigt er, daß er sich das Dilemma Kants, von dem ich im Zusammenhang mit dem Lehrsatz I gesprochen habe, zu eigen gemacht hat: Bestimmungsgrund des Willens ist entweder das Objekt, insofern es eine Neigung befriedigt,
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oder aber das rein formale Gesetz. Er teilt damit den Empirismus der KrV, der weiter in der KpV wirkt: Der Verstand ist nicht imstande, im Inhalt der empirischen Anschauung eine Intelligibilität des zu bewirkenden oder zu erreichenden Gegenstandes hinsichtlich der menschlichen Natur zu erfassen; infolgedessen gilt der Gegenstand für die praktische Vernunft nur als Quelle von Lust (A 39). Brandt sagt im Sinne der GMS (A 13–18 = IV 399–402), daß der Inhalt der Handlungsmaxime „getilgt““,eliminiert“ werden muß (157). Wie kann dann der handelnde Mensch die universalisierbaren von den nicht-universalisierbaren Maximen unterscheiden? Rekurriert er auf den Inhalt (eine andere Möglichkeit gibt es nicht), so erkennt er an, daß der Gegenstand Quelle der Moralität der Handlung und damit für die praktische Vernunft normativ ist. A 161: Abs. 3 klärt, warum die Zweiteilung der Analytik der theoretischen Vernunft, nämlich (gemäß dem „Gedächtnisfehler“ Kants; vgl. Abs. 2, A) ihre Einteilung in Ästhetik und Logik (und weiter die Unterteilung der Ästhetik in Raum und Zeit) in der Analytik der KpV nicht ganz auf dieselbe Weise übernommen wurde. Der Grund ist der, den Kant von Anfang an als die Grundfrage der KpV zum Ausdruck gebracht hat: „Ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange“ (A 30; auch 3, 78, 126, 210). Deshalb beginnt die Analytik der KpV mit dem Grundsatz a priori (vgl. § 7) und geht von da aus zum Begriff des Guten und zur Sinnlichkeit (moralischem Gefühl), während die KrV mit der Sinnlichkeit beginnt (Vgl. B 1; A 19). Die Dreiteilung der Analytik der KpV ist deshalb einem Syllogismus ähnlich: Maior: das moralische Prinzip; Minor: der Begriff von Gut und Böse; Conclusio: die Bestimmung des Willens durch das praktische Interesse am Guten.184 Das „Vergnügen“, von dem Kant hier spricht, gehört zu seiner eigenen berühmt-berüchtigten Vorliebe für Schemata und Parallelismen sowie zu seinem Versuch, die systematische Einteilung und die entsprechende Terminologie der ersten Kritik auf all seine späteren Werke zu übertragen. Der zumindest partielle Parallelismus beider Analytiken veranlaßt ihn, die Erwartung zu äußern, daß wir „es vielleicht dereinst bis zur Einsicht der Einheit des ganzen reinen Vernunftvermögen bringen“ werden. Zu diesem einheitlichen Prinzip vgl. auch KrV A 15 (zwei Stämme – eine unbekannte Wurzel) und im Anhang zur transzendentalen Dialektik A 647 ff. Etwas später war Fichte der Meinung, in seiner „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ von 1794 dieses eine Prinzip im „Ich“ gefunden zu haben. A 162: Abs. 4. Während Kant in den vorigen Absätzen seinen Vergleich auf die Struktur beider Kritiken konzentriert hat, geht er hier auf den Inhalt beider Arten des 184 Die Aussage „Interesse an dem praktisch möglichen Guten“ ist zu beachten. Denn Kant hält normalerweise wegen seines „psychologischen Hedonismus“ (vgl. Lehrsatz I, Fn 82, S. 89) ein Interesse am Gegenstand für ein pathologisches Interesse, so daß ein Wollen, dessen Bestimmungsgrund der Gegenstand (die Materie) ist, ein Wollen wegen der vom Objekt her zu erwartenden Annehmlichkeit ist. Vgl. auch die mehrmals erwähnte Fußnote zu GMS A 38 = IV 413. Hier dagegen gilt das Interesse am Gegenstand als moralisch gut und die entsprechende Maxime als Begründung des Gesetzes. Das so verstandene Gesetz ist nicht bloß formal!
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Vernunftgebrauchs ein (des theoretischen und des praktischen), insbesondere auf ihre Unterschiede. Hinsichtlich der theoretischen Vernunft können wir durch Beispiele aus der Wissenschaft leicht beweisen, daß „wir im Besitze gewisser Erkenntnisse a priori sind“ (KrV B 3–6, wo Kant sich aber auch auf den „gemeinen Verstand“ beruft; weiter in den „Prolegomena“ A 39, 46 = IV 275, 279). Daß aber reine Vernunft für sich allein praktisch sein kann (vgl. A 3, 78, 96 usw.), mußte „aus dem gemeinsten praktischen Vernunftgebrauch“ bewiesen werden, indem man zeigte, daß „jede natürliche Menschenvernunft“ den obersten praktischen Grundsatz (§ 7: A 54) als a priori kennt. Dafür beruft sich Kant zunächst auf das „Faktum“ der reinen Vernunft, von dem bereits im § 7, A 55 f., die Rede war. Dasselbe aber läßt sich durch zwei Argumente beweisen: a) Die praktische Vernunft könnte nicht rein sein (wobei die „Reinigkeit“ für Kant als unbestritten gilt, weil jeglicher Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft, der a posteriori wäre, zum empirischen Prinzip der Selbstliebe oder Glückseligkeit gehören würde – vgl. die Lehrsätze I und II: A 38 und 40), wenn sie nicht von Grundsätzen a priori ausginge, die der wissenschaftlichen Reflexion zugrunde liegen; b) Auch die „Berufung auf das Urteil des gemeinen Menschenverstandes“ führt zum gleichen Ergebnis. Denn etwaige empirische Bestimmungsgründe des Willens erkennt man durch das Gefühl des Vergnügens oder Schmerzes, das sie hervorrufen. Nun aber widerstrebt es der reinen Vernunft, dieses aus Neigungen stammende Gefühl als Bedingung ihres Gesetzes aufzunehmen, allein schon, weil es völlig anders als das Gefühl der Achtung ist, das durch die Gesetzgebung der Vernunft bewirkt wird. Der Unterschied ist auch dem „gemeinen Menschenverstand“ derart deutlich, daß es zwar vorkommen kann, daß er den „Anreizen“ aus empirischen Gründen folgt, aber nur die reine praktische Vernunft kann ihm den Gehorsam zumuten. Kants Berufung auf die moralische Überzeugung des „gemeinen Menschenverstandes“ zusammen mit der Neuheit seiner Argumentationsweise und seiner Terminologie rief u. a. die Reaktion von Gottlieb August Tittel, Professor der Philosophie in Karlsruhe, hervor, der Kant vorwarf, in seiner GMS (1784) „längstbekannte Dinge in einer unvernehmlichen Sprache als neu“ zu verkünden (vgl. in der Ak.-Ausgabe, V, 506 f.). Kant antwortete ihm in der Vorrede zur KpV (A 14 Fn). Zu dieser Einschätzung des „gemeinen Verstandes“ in Sache der Moral wurde Kant, der früher „den Pöbel“ verachtet hatte, durch Rousseau angeregt („Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“: XX 44). Sie zeichnet seine Schriften zur Ethik aus (vgl. z. B. KrV A 807, wo sich Kant zugunsten der Existenz „reiner moralischen Gesetze“ nicht nur „auf die Beweise der aufgeklärtesten Moralisten“ beruft, sondern auch „auf das sittliche Urteil eines jeden Menschen“). In A 831 äußert sich Kant mit folgender aufschlußreichen Behauptung, „daß die Natur, in dem, was Menschen ohne Unterschied angelegen ist, keine parteiische Austeilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei, und die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur es nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche
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sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen“ (siehe ähnliche Überlegungen in der „Methodenlehre“ am Ende des Werkes, A 272ff.). Der vorliegende und im Laufe der KpV immer wieder vorkommende Ausschluß empirischer Gründe als Bestimmung eines sittlich guten Willens krankt an der Zweideutigkeit des Begriffs „empirisch“ bei Kant – eine Zweideutigkeit, die im Zusammenhang mit seiner Erkenntnislehre steht. Denn empirischer Bestimmungsgrund kann a) das Gefühl der Lust oder Unlust bezeichnen, das ein Gegenstand in unserer Sinnlichkeit hervorruft. b) Er kann aber auch einen konkreten Gegenstand bezeichnen, den wir infolge einer Erfahrung, in deren Inhalt unser Verstand eine Intelligibilität erfaßt hat, erkannt haben, so daß der Gegenstand als zum Menschen als Menschen passend und damit als sittlich gut erkannt wurde. Ein solcher Bestimmungsgrund widerstreitet keineswegs dem „obersten praktischen Grundsatz“ unserer moralischen Intentionalität; er stellt vielmehr seine Konkretisierung dar, zu der wir gelangen, wenn wir in unserer praktischen Überlegung die Antwort auf die Frage „Was soll ich tun?“ suchen. Das Gesagte über die zweite Bedeutung von „empirisch“ gründet auf jenem zentralen Akt unseres Verstandes, der in den Daten der Erfahrung das Intelligible erfaßt und den Aristoteles mit der bekannten Aussage meint: „Der Verstand erfaßt (noei) das Intelligible (ta eidê) in den Phantasmen“ (De anima III,7: 431b 2). Die an Aristoteles anknüpfende mittelalterliche Scholastik sprach im selben Sinne von einem „intelligere in sensibili“. Zum Beweis eines solchen Aktes verweist Thomas von Aquin auf die innere Erfahrung (Summa theol. I, q.84, a.7); er hält ihn für die „propria operatio animae intellectivae“ (ebd. a.4), die das Vermögen und die Natur der Seele am besten manifestiert (ebd. q.88, a.2 ad 2).
Zweiter Teil: Sittlichkeit und Glückseligkeit (A 165–167) A 165. Mit dem Abs. 5 beginnt das zweite Thema der „Kritischen Beleuchtung“: die Unterscheidung von Sittenlehre und Glückseligkeitslehre. Mit seiner Reflexion über die Glückseligkeit als, nach Meinung der von Kant kritisierten Autoren, Ziel unserer moralischen Praxis, knüpft Kant – per Gegensatz – an seine vorhergehenden rigoristischen Ausführungen an. In der Tat stellt der Begriff der Glückseligkeit ein oft wiederkehrendes Thema in den Schriften Kants zur Ethik dar, und zwar vor allem unter dem Aspekt seiner Beziehung zur Tugend. Wir haben gesehen, daß das erste Hauptstück der Analytik um die Zurückweisung des „Prinzips der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit“ kreist (A 40). Es stellt sich deshalb die Frage, was Kant unter Glückseligkeit versteht. Im Dialektik-Teil werden wir Kants Auffassung von der Glückseligkeit im Zusammenhang mit dem Begriff des „höchsten Gutes“ näher untersuchen. Hier mag folgendes genügen: Kant vertritt an verschiedenen Stellen unterschiedliche Auffassungen von der Glückseligkeit, wobei es sich am häufigsten um eine empirisch verstandene Glückseligkeit handelt. Nach K. Düsings umfangreichem Aufsatz über das höchste Gut hat Kant in den „Reflexionen“ der 70er und frühen 80er Jahre eine „intellektuelle“
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oder „moralische“ (nicht-sinnliche) Glückseligkeit vertreten.185 In einer „Stellungnahme“ dazu hat M. Albrecht versucht zu zeigen, daß auch diesen Reflexionen, von einigen abgesehen, ein empirischer Begriff der Glückseligkeit zugrundeliegt.186 Wichtig scheint jedenfalls, daß man unterscheidet a) zwischen der Erzeugung der Glückseligkeit aus Freiheit, die als Bedingung ihrer Möglichkeit die „Form“ der Glückseligkeit betrifft (diese Form wird „intellektuell“ genannt), und der Materie derselben, die „sinnlich“ ist und zu der noch andere „materielle“ Bedingungen hinzukommen müssen (vgl. R 7202: XIX 276–282) und b) zwischen der Glückseligkeit und der „Selbstzufriedenheit“ (A 211f.). Kant selbst unterscheidet streng zwischen diesen zwei Begriffen. In den Vorlesungsnachschriften und in den Druckschriften wird viel deutlicher als in den fragmentarischen Notizen der Reflexionen der empirische Charakter der Glückseligkeit behauptet. In der von P. Menzer herausgegebene „Vorlesung Kants über Ethik“ wird die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Gutes „das physische Gut“ oder „Wohlbefinden“ genannt (10 = XXVII 249). Nach der GMS vereinigen die Menschen in der Idee der Glückseligkeit „alle Neigungen zu einer Summe“ (A 12 = IV 399). Weiter heißt es: „Alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, sind insgesamt empirisch“ (A 46 = IV 418). Für die KrV ist die Glückseligkeit geradezu „die Befriedigung aller unserer Neigungen“ (A 806). Nun aber läßt schon die Perspektive einer „Ethik der Normen“, wie die Kants, die für den Menschen konstitutive Tendenz zum Glück eher in einem negativen Licht erscheinen. Denn diese Tendenz, zumal die der Neigungen, geht nicht selten dahin, die Grenzen, die das moralische Gesetz unserer Freiheit setzt, zu überschreiten. Außerdem forderte die eklektische und verflachte kulturelle Lage der Zeit – des dritten Menschenalters der Aufklärung – einen tiefen Denker wie Kant zur Opposition heraus. Es herrschte nämlich eine anthropologisch-moralische Zwecksetzung der Philosophie als Lehre der Glückseligkeit, wodurch die philosophische Reflexion zu einer „Popularphilosophie“ wurde.187 Christian Wolff, der Meister der Aufklärung, hatte seine deutsche Ethik (1720) betitelt: „Vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgeteilt“. Aber die Glückseligkeit zum Ziel des moralischen Handelns zu setzen, bedeutete für Wolff nicht ohne weiteres das Lustprinzip zum Maßstab unserer Handlungen zu erheben. Denn sein oberstes Prinzip der Sittlichkeit lautete: „Tue, was dich und deinen eigenen Zustand und den aller Menschen vollkommener macht“ (§ 12). Was uns nun vervollkommnet, sei das Naturgemäße. Damit erweist sich die eudämonistische Ethik Wolffs im Prinzip als eine naturrechtliche Ethik. 185 K. Düsing, „Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie“, in: KS 62 (1971) 5–42. 186 M. Albrecht, „Glückseligkeit aus Freiheit und empirische Glückseligkeit“, in: G. Funke (Hrsg.), Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin 1974, Teil 2,2, 563–567. Vgl. auch, ders., Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim 1978, 51–53. 187 Zu dem in letzter Zeit eingesetzten Versuch einer Rehabilitierung der Popularphilosophie vgl. die gut dokumentierte Studie von Christoph Böhr: Die Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003.
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Dasselbe gilt aber viel weniger für seine Schüler und Anhänger, die im Geiste der Aufklärung die gutartige Veranlagung des Menschen in seiner Natur immer mehr hervorhoben. Der bereits angeführte Widerpart Kants, der Kirchenrat Gottlob August Tittel, verteidigte gegen Kant „jenes unschuldige und liebenswürdige System, das Glückseligkeit und Sittlichkeit aufs innigste zusammenknüpft“ (vgl. in der Akademie-Ausgabe, V 506). Ganz besonders ihm gilt die Verwunderung Kants hinsichtlich derjenigen, die „die Begierde zur Glückseligkeit“, weil sie bei allen Menschen vorliegt, „für ein allgemeines praktisches Gesetz“ ausgegeben haben (A 50). Im damaligen geistesgeschichtlichen Kontext und auf der Grundlage einer Ethik, in deren Mittelpunkt das moralische Gesetz als „Nötigung“ für den nicht-heiligen Willen des Menschen stand, ist verständlich, daß Kant die Ausarbeitung der Unterscheidung, ja vielfach des Gegensatzes von Glückseligkeitslehre und Sittenlehre für die wichtigste Aufgabe seiner Analytik hielt. Bei der Unterscheidung der „empirischen Prinzipien“ vom moralischen Gesetz muß der Philosoph, heißt es an unserer Stelle, so „peinlich verfahren“ wie der Mathematiker. Allerdings verfährt der erstere „durch bloße Begriffe“ und hat deshalb größere Schwierigkeiten, weil ihm die Anschauung fehlt, während der Mathematiker seine Begriffe in der (reinen) Anschauung konstruieren kann (zur mathematischen Methode vgl. in der Transzendentalen Ästhetik der KrV, A 46–49; außerdem A 713ff.; Prolegomena § 7). Der Philosoph kann aber ein Gedankenexperiment anstellen: Wenn er zum empirisch affizierten Willen eines Menschen das moralische Gesetz hinzufügt, so stellt er fest, daß die praktische Vernunft sich von der empirischen Motivation trennt (etwa dem Vorteil einer Lüge) und sich mit dem vereinigt, „was ihm die Achtung für seine eigene Person erhält“, nämlich mit dem moralischen Gesetz. Dies aber schließe nicht aus, daß in anderen Fällen der eigene Vorteil und das Sittengesetz vereinbar sein können. Zur Ablehnung der Glückseligkeit als Bestimmungsgrund des Willens vgl. auch A 234. In der Vorrede zur Tugendlehre der „Metaphysik der Sitten“ (A VII f = VI, 377 f.) widerlegt Kant einen anderen, subtileren Versuch, Sittlichkeit auf Glückseligkeit zurückzuführen, nämlich auf „eine gewisse moralische Glückseligkeit“, die im Bewußtsein liegt, „seine oft sauere [!] Pflicht getan zu haben“. Denn, so argumentiert Kant, eine solche Glückseligkeit kann nicht der Bewegungsgrund des sittlich guten Willens sein, sondern setzt voraus, daß wir aus Pflicht gehandelt haben. Dieselbe Art von Eudämomielehre hatte Kant bereits ein Jahr zuvor in der Abhandlung „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ abgelehnt (A 401 f. Fn = VIII, 395 f.). A 166: Abs. 6 präzisiert die gemachte Unterscheidung dahingehend, daß sie keinen gegenseitigen Ausschluß von Sittlichkeit und Glückseligkeit bedeutet. An mehreren Stellen erkennt Kant im Menschen ein natürliches Verlangen nach Glückseligkeit an; deshalb finde es sich bei allen Menschen. Aber worin die Glückseligkeit eigentlich bestehe, sei bei den verschiedenen Menschen verschieden, so daß sich auf dieses Verlangen keine wirklich allgemeine Regel gründen lasse, wie nämlich die Glückseligkeit zu erlangen sei.
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Der Begriff der Glückseligkeit ist bei Kant oft sehr unbestimmt (vgl. GMS A 42–48 = IV 415–419). Infolgedessen lassen sich auf ihn nur empirische „Ratschläge der Klugheit“ gründen – gemäß der systematischen Einteilung der objektiven Prinzipien, die für den Willen nötigend sind und die Kant in A 37–44 = IV 413–418 entwickelt hat. Solche Ratschläge sind hypothetische Imperative (es handelt sich um die Notwendigkeit einer Handlung als Mittel zu etwas anderem) und zugleich assertorische Imperative (es handelt sich um eine Handlung, die notwendig zu einer Absicht ist, welche bei allen Menschen vorhanden ist). Mit seiner Unterscheidung will Kant nicht „dem Menschen ansinnen, er solle, wenn es auf Pflichtbefolgung ankommt, seinem natürlichen Zwecke, der Glückseligkeit, entsagen; denn das kann er nicht …; sondern er müsse, wenn das Gebot der Pflicht eintritt, gänzlich von dieser Rücksicht abstrahieren“. Ja, um sicher zu sein, daß sich in seiner Pflichterfüllung keine von der Glückseligkeit hergeleitete Triebfeder als Motivation einmischt, soll er sich „die Pflicht lieber mit Aufopferung verbunden vorstellen, welche ihre Beobachtung … kostet, als mit den Vorteilen, die sie uns einbringt“188. Ähnliche Empfehlungen finden sich auch bei christlichen Meistern der Aszese, freilich in einem religiösen, völlig anderen Kontext. An unserer Stelle, so wie auch schon in der GMS A 12 = IV 399 und später in der „Metaphysik der Sitten“, Tugendlehre, Einleitung V B, erkennt Kant eine indirekte Pflicht an, für die eigene Glückseligkeit zu sorgen, nämlich die Pflicht, „Hindernisse wegzuräumen“ – etwa „Widerwärtigkeiten, Schmerz und Mangel“ –, die Versuchungen zur Übertretung seiner Pflichten hervorrufen könnten, und Zustände herbeizuführen sowie sich Dinge zu verschaffen – etwa „Wohlhabenheit, Stärke, Gesundheit und Wohlfahrt“ –, die Mittel zur Erfüllung seiner Pflichten sein können. Es besteht also ein Gesetz, „seine Glückseligkeit zu befördern, nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht“ (GMS A 12 = IV 399).
Dritter Teil: 1. Freiheit und Naturdeterminismus (A 167–179) A 167: Abs. 7 schlägt eine Brücke zum neuen Thema der Vereinbarkeit von Determinismus und Freiheit. Wenn, wie im Abs. 6 gesagt, einziger nicht-empirischer Bestimmungsgrund des Willens das moralische Gesetz ist, so drängt sich die Frage auf, wie wir wissen, daß es ein solches „praktisches Vernunftgesetz“ gibt. Dazu wäre eine Deduktion nötig, wobei Deduktion hier die Erklärung der Möglichkeit einer Erkenntnis a priori des moralischen Gesetzes bedeutet und nicht den Beweis seiner objektiven Geltung, wie der Terminus „transzendentale Deduktion“ in KrV A 85 definiert wurde.189 Vgl. den Aufsatz von 1793 „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ (A 209 f. = VIII 278 f.); außerdem hier oben den Kommentar zu A 150, Abs. 18, S. 186. 189 D. Henrich hat in seinem Aufsatz über „Die Deduktion des Sittengesetzes“ eingehend untersucht, was Kant unter Deduktion versteht, und ist zu dem Schluß gelangt, daß Kant „je nach Bedarf neue Deduktionsvarianten einführt“ (91). 188
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Der Weg über die Freiheit scheidet aus dem Grunde aus, weil Freiheit derart „unzertrennlich verbunden“ ist mit der Unabhängigkeit des Willens von jedem Bestimmungsgrund außer dem moralischen Gesetz, daß die Einsicht in die Möglichkeit der Freiheit eo ipso die Einsicht sogar in die Notwendigkeit (und damit in die Realität) des moralischen Gesetzes mit sich bringen würde. Genau diesen Weg war Kant im dritten Abschnitt der GMS gegangen, indem er versucht hatte, die Existenz des moralischen Gesetzes aus der Voraussetzung abzuleiten, daß ein vernünftiges Wesen nur unter der Idee der Freiheit handeln kann (vgl. vor allem das zweite Stück: A 99–101 = IV 447 f.). Daß ihm dieser Versuch nicht gelungen war, muß Kant selbst eingesehen haben. Statt dessen ist er deshalb in der KpV den umgekehrten Weg gegangen: Er hat nämlich auf das Bewußtsein des Sittengesetzes als ein „Faktum der Vernunft“ hingewiesen (A 56) und daraus gefolgert, daß wir berechtigt sind, die Freiheit „anzunehmen“ (A 5 Fn).190 Im zweiten Teil des Abs. („Weil es indessen …“) nimmt Kant deshalb ohne weiteres die Existenz des moralischen Gesetzes als uns bekannt an (eben als „Faktum der Vernunft“) und hebt „die herrliche Eröffnung … einer intelligiblen Welt“ hervor, die dieses Gesetz uns gewährt und zu der auch die Freiheit gehört, welche somit als real gilt. Mit diesem Hinweis auf eine intelligible Welt nimmt Kant das Thema der Postulate vorweg. Diesen Weg gehen die Empiristen nicht, die die Freiheit wie jedes andere Naturvermögen erklären wollen. Insbesondere erkennen sie durch ihre Untersuchung der Natur der Seele und der (sinnlichen) Triebfedern des Willens nur eine „psychologische“ Freiheit an, die Kant hier mit der Freiheit als „transzendentalem Prädikat“ (vgl. KrV A 466, 533: „transzendentale Freiheit“) des Willens kontrastiert. Deshalb sei es nötig – folgert Kant –, den Empirismus näher zu untersuchen. (In der Tat will Kant zeigen, daß der Empirismus aufgrund seines naiven Realismus keine Freiheit, sondern nur Naturnotwendigkeit zuläßt). A 169: Abs. 8. „Die gewöhnlichste Vorstellungsart“ hinsichtlich des ontologischen Stellenwertes der Dinge kennt den Unterschied von Erscheinungen und Dingen an sich nicht. Deswegen nimmt sie die Bestimmungen der Dinge in der Zeit für Bestimmungen der Dinge an sich selbst. Nun aber unterstehen sämtliche Begebenheiten in der Zeit der Kausalität nach Gesetzen der Natur im Sinne eines durchgängigen Naturdeterminismus. Denn alles, was in der Zeit geschieht, setzt einen vorhergehenden Zustand voraus, auf den (und aus dem!) es unausbleiblich folgt. „Da nun die vergangene Zeit nicht mehr in meiner Gewalt ist, so muß jede Handlung, die ich ausübe, durch bestimmende Gründe, die nicht in meiner Gewalt sind, notwendig sein“191. Kant hat ja 190 Es sei hier an den Abschnitt „I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“ (A 72–87) des 1. Hauptstückes der Analytik erinnert. In ihm gelangte Kant zu dem Resultat, daß „die objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion“ bewiesen werden kann (A 81) und nahm statt dieser Deduktion das moralische Gesetz selbst „als ein Prinzip der Deduktion der Freiheit“ (A 82). 191 Dies ist der Kern des Arguments, mit dem Kant aus der zeitlichen Dimension der Geschehnisse in der Welt auf ihre Vorherbestimmtheit schließt. Er wird in diesem Abs. zweimal vorgelegt:
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die Naturkausalität, die die Notwendigkeit des betreffenden Geschehens besagt, auf eine Zeitfolge „nach Regel“ reduziert (vgl. die Formulierung der zweiten Analogie der Erfahrung: KrV A 189; auch A 553: das Gesetz der Natur ist eine „Zeitfolge nach Regeln“). Diese Notwendigkeit gilt also auch für die menschlichen Handlungen, insofern sie in der Zeit geschehen. Fazit: Die Ignorierung des doppelten ontologischen Stellenwerts des Menschen (wie auch aller anderen „weltlichen“ Dinge!) läßt keinen Platz für die Anerkennung der Freiheit als Möglichkeit eines kausal schlechthin neuen Anfangs, der nicht der „stetigen Naturkette“ untersteht. Im letzten Teil des Abs. („Ja, wenn ich …“) betrachtet Kant eine andere Form von Naturdeterminismus, nämlich den der menschlichen Handlungen, die aus inneren Bestimmungsgründen erfolgen. Denn auch in diesem Falle gilt der „Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität“ (KrV B 232). Damit deutet Kant das Thema der von ihm sog. „komparativen“ Freiheit an. Diese besagt folgendes: Weil die Handlungen des Menschen aus Bestimmungsgründen geschehen, die ihm innewohnen und die seiner Natur konform sind, sind sie frei, insofern sie keinen „Zwang“ gegen die Natur des Subjektes implizieren. Dieses Thema stellt das Neue gegenüber der Behandlung der Freiheit in der KrV dar. A 170: Abs. 9 wiederholt bereits Erwähntes, nämlich daß „einem Wesen, dessen Dasein [und damit auch dessen Handeln] in der Zeit bestimmt ist“ keine Freiheit beigelegt werden kann. Denn a) wie es zu Beginn der Vorlesungen Kants über Logik immer wieder heißt, „alles geschieht nach Regeln“ (XXIV, 3, 502, 608, 693, 790. Auch in der Preisschrift „Über die Deutlichkeit der Grundsätze“, dritte Betrachtung, § 1 kurz nach dem Beginn. Kant geht also davon aus, daß überall auf der Welt eine „geregelte“ Ordnung waltet); b) die gemeinte Regel ist für die Dinge in der Zeit „der Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität“ (KrV B 232: zweite Analogie der Erfahrung), welche Naturnotwendigkeit besagt. Da aber das Dasein eines Wesens in der Zeit das Sein einer Erscheinung ist,192 so ist es möglich, demselben Wesen, insofern es nicht der Zeit untersteht, d. h. insofern es ein Ding an sich ist, Freiheit beizulegen. Daß nun dasselbe Subjekt in bestimmten Handlungen der Naturnotwendigkeit untersteht, in anderen frei ist, bereitet an sich keine Schwierigkeit (z. B. biologische Prozesse und freie Entscheidungen in uns). Wie ist aber diese „Vereinigung“ von Naturnotwendigkeit und Freiheit in ein und derselben Handlung möglich? für die äußeren sowie für die inneren Kausalverhältnisse. Wiederum im Abs. 10: A 172 f. und im Abs. 11: A 174. Dasselbe Argument hatte Kant bereits in der KrV verwendet, vor allem in der „Auflösung“ der dritten Antinomie, in der der Beweis der Möglichkeit der Freiheit darin bestand, die Handlungen des Menschen als noumenaler Realität für „unter keinen Zeitbedingungen“ stehende aufzufassen (A 539f.). 192 Mit der Lehre von Raum und Zeit als Formen a priori der Sinnlichkeit hat Kant in der Dissertation von 1770 den phänomenalen Status der Dinge statuiert, die wir durch die Sinne erkennen. Die weitere Lehre der KrV von den reinen Verstandesbegriffen und Grundsätzen als ebenfalls a priori hat den ontologischen Status der Erscheinung auf sämtliche Gegenstände unserer (Verstandes-)Erkenntnis ausgedehnt.
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A 171: Abs. 10 gibt noch keine direkte Antwort auf diese Frage, sondern bespricht und lehnt zunächst eine Lösung der genannten Schwierigkeit anhand eines falschen Begriffs von Freiheit ab, den Kant „komparativen“ oder „psychologischen“ Begriff von Freiheit nennt. Gemäß diesem Begriff von Freiheit spricht man von einer „freien“ Bewegung eines Körpers, von der freien Bewegung einer Uhr, von freien Handlungen des Menschen, insofern sie aufgrund innerer Ursachen geschehen. Die Aristotelisch-scholastische Physik sprach von einem motus naturalis, nämlich der Bewegung eines Körpers in Richtung seines „natürlichen“ Ortes, der für die schweren Körper, die „gravia“, unten, und zwar die Erdmitte war, während der natürliche Ort für die leichten Körper, die „levia“ (etwa das Feuer), oben war, und von einem motus violentus (gewaltsame Bewegung) in die jeweils gegenteilige Richtung. Beide waren „motus necessarii“, und zwar die einen gemäß, die anderen gegen die Natur des betreffenden Körpers. Die moderne Redewendung „freier Fall“ in der Physik erklärt sich dadurch, daß es sich um eine Bewegung handelt, die nicht durch eine von außen her wirkende Kraft, sondern durch die schwere Masse des Körpers selbst (freilich in einem Gravitationsfeld mehrerer Massen) verursacht wird. Frei bedeutet hier frei von einer äußeren Notwendigkeit (Zwang) genauso wie im Falle der komparativen Freiheit (vgl. Thomas von Aquin, „Quaestio disputata de malo“, q.6, art. unicus, zu Beginn). Nun aber trägt die These von der komparativen Freiheit nur der Unabhängigkeit einer menschlichen Handlung von einer äußeren Notwendigkeit Rechnung; sie übersieht jedoch die innere Notwendigkeit, mit der die Handlung vollzogen wird. Bei der Frage nach der Freiheit, die der Zurechnungsfähigkeit zugrunde liegt, kommt es Kant zufolge nicht darauf an, ob der Bestimmungsgrund innerhalb oder außerhalb des Subjektes liegt, sondern darauf, ob er in der Zeit liegt oder nicht. Nun ist im Falle der komparativen Freiheit der Bestimmungsgrund der Handlung der Impuls einer Neigung oder einer Vorstellung in der Zeit (egal ob dieser Beweggrund sinnlich oder intellektuell ist. Kant führt sowieso jegliches Interesse der Vernunft an einem Gegenstand auf eine sinnliche Neigung zurück (vgl. GMS A 38 = IV 413). Deswegen hängt dieser Bestimmungsgrund mit dem vorhergehenden Zustand des Subjektes zusammen, und dieser mit einem anderen vor-vorhergehenden Zustand usw. Kurzum, die Handlung steht unter „notwendig machenden Bedingungen der vergangenen Zeit, die also, wenn das Subjekt handeln soll, nicht mehr in seiner Gewalt sind“.193 Deswegen erfolgt die jetzige Handlung aus Naturnotwendigkeit. Die komparative Freiheit bleibt also dem „Mechanismus der Natur“ verhaftet. Auch wenn das handelnde Subjekt keine „materielle Maschine“ im Sinne des Mechanismus In der Religionsschrift geht Kant auf denselben Fall ein und macht darauf aufmerksam, daß es nicht der „Determinismus“ (nämlich „der Satz der Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe“) ist, der mit der Freiheit unvereinbar wäre, sondern der „Praedeterminismus, nach welchem willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmenden Gründe in der vorhergehenden Zeit haben (die mit dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist)“: B 58 Fn = VI 49. 193
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ist (es handelt ja infolge einer Bewegursache, deren es sich bewußt ist), so handelt es doch aufgrund der „Notwendigkeit der Verknüpfung der Begebenheiten in einer Zeitreihe“. Es mag ein „Automaton materiale“ sein, wie der menschliche Körper nach Descartes,194 oder ein „Automaton spirituale“, wie die menschliche Seele nach Leibniz195, seine Freiheit ist jedenfalls nicht besser als die eines „Bratenwenders“.196
Exkurs über die Auffassung von der Freiheit als Abwesenheit von Zwang Die Auffassung der Freiheit als Abwesenheit von Zwang geht auf die Stoa zurück, die eine innere Rationalität (logos) vertrat, welche den Kosmos durchwaltet, in dem deshalb Notwendigkeit herrscht.197 Der Mensch gilt als frei, nur insofern er diese universale Notwendigkeit erkennt und aus Eigenem (autark) bejaht. Besonders zu erwähnen ist, daß Thomas von Aquin im Rahmen einer zeitgenössischen philosophisch-theologischen Entwicklung (Theorie der Operation, menschliche Freiheit, Notwendigkeit der Gnade für eine moralisch gute Lebensführung) eine Zeit lang die Auffassung vertrat, daß zur Freiheit die Abwesenheit einer äußeren Nötigung (libertas a coactione) genügt, auch wenn die Wahl und die darauffolgende Handlung aus der Notwendigkeit einer natürlichen Neigung des handelnden Menschen erfolgt198. Dafür berief er sich auf einen Text von Augustinus („De Civitate Dei“, lib. V, cap. 10: ML 42, 152), den er sinngemäß mit den Worten zitiert: „Libertas opponitur necessitati coactionis, non autem naturalis inclinationis“ (die Freiheit steht der Notwendigkeit eines Zwanges entgegen, nicht aber der Notwendigkeit einer natürlichen Neigung). Kurzum, eine Entscheidung, die jemand gemäß der Neigung seiner eigenen Natur oder eines erworbenen Habitus trifft, ist eo ipso frei, auch wenn der Handelnde nicht anders hätte wählen können (so z. B. in De veritate q.22, a.5 ad 3 ser. 2; De potentia q.3, a.7 ad 14; Summa theol. I, q.82, a.1). In der Quaestio disputata de Malo (um 1269), q. 6, art. unicus, hat Thomas die Auffassung von der Freiheit als bloßer Abwesenheit eines äußeren Zwanges, aber zugleich zusammen mit der Nötigung aus einem inneren Prinzip, mit ungewöhnlicher Schärfe abgelehnt. 1653 hat Papst Innozenz X., anläßlich der Kontroverse um das Werk „Augustinus“ von Bischof Cornelius Jansen, die These verurteilt: „Für Verdienst und Mißverdienst ist 194 Vgl. Ch. Adam und P. Tannery (Hrsg.), Descartes. Œuvres, Bd. XI, „La description du corps humain“, 252–286; Bd. VI, „Discours de la méthode“, 55f. 195 Leibniz hält den Körper des Menschen und der Tiere für einen Automaten, vgl. C. J. Gerhardt (Hrsg.), Die philosophischen Schriften, Bd. II, 314; Bd. IV 539; Bd. VI, 618 („Monadologie“, Nr. 64 und 65) und die menschliche Seele für einen „automate spirituel“ („Essais de Théodicée“, ebd. Bd. VI, 131, 356f.). 196 Vgl. H. Schnelle, Art. „Automat“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, I, 1971, 695–697. 197 Vgl. W. Warnach, Art. „Freiheit“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. II, 1972, 1069–1071. 198 Vgl. B. Lonergan, Gnade und Freiheit, 86, 124f.
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im Zustand der gefallenen Natur beim Menschen nicht die Freiheit von Notwendigkeit erforderlich, sondern es genügt die Freiheit von Zwang“ (DS 2003). Diese theologische Kontroverse um einen unhistorisch interpretierten Augustinus stand im umfassenderen Kontext des psychologischen und physiologischen Determinismus, d. h. der Theorie des „stärkeren Motivs“, welche im 17. und 18. Jahrhundert zur herrschenden Interpretation der Freiheit wurde.199 Für Spinoza ist derjenige frei, der nur durch innere Notwendigkeit determiniert ist („Ethica“ I, def. 7). Vor allem aber ist Leibniz zu erwähnen, für den die „libertas indifferentiae“ unmöglich ist, weil sie dem Prinzip vom zureichenden Grund widerspricht. Die Freiheit liegt in der Spontaneität, mit der der Mensch, der mit Reflexion und Bewußtsein ausgestattet ist, dem ihm von seiner Vernunft vorgestellten stärkeren Motiv, d. h. der Vorstellung des objektiv Besseren folgt. Descartes hatte bereits in Anlehnung an die Antike, welche selbstbewegende Statuetten „Automaten“ (automatos) genannt hatte, den Terminus übernommen, um die physiologische Struktur der Tiere und des menschlichen Körpers zu bezeichnen. Leibniz seinerseits nannte die menschliche Seele „automate spirituel“ (vgl. oben, zu Ende des Abs. 10). Dieselbe Lehre von der Freiheit als Spontaneität im Sinne einer notwendigen Determination aufgrund eines inneren Prinzips findet sich auch in der Habilitationsschrift Kants von 1755: „Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio“. Für das Thema Freiheit ist die Sectio II relevant, die vom „principium rationis determinantis, vulgo sufficientis“ handelt (I, 391–410). Die Umbenennung des Leibnizianischen „principium rationis sufficientis“ (vom zureichenden Grund) ins „principium rationis determinantis“ (vom bestimmenden Grund) hatte Christian August Crusius (1679–1754) in seiner Dissertation „De usu et limitibus principii rationis determinantis, vulgo sufficientis“ vorgenommen, um den Notwendigkeitscharakter dieses Prinzips und damit den sich ergebenden „Fatalismus“ (Schicksal) hervorzuheben, der in der Freiheitslehre Wolffs steckte, insofern dieser den psychologischen Determinismus von Leibniz übernommen hatte. Während nun Crusius aus diesem Grunde meinte, daß dieses Prinzip nicht für die freien Handlungen gilt, ließ Kant, obwohl er sonst unter dem Einfluß von Crusius stand, das Prinzip vom bestimmenden Grund für den ganzen Bereich der kontingenten Wirklichkeit, einschließlich der menschlichen Freiheit, gelten (Propositio VIII). In der Propositio IX versucht Kant, die Schwierigkeiten zu lösen, die sich daraus gegen die Freiheit ergeben. Die Lösung liegt in der Auffassung der Freiheit als Spontaneität: „Spontaneitas est actio a principio interno profecta. Quando haec repraesentationi optimi conformiter determinatur, dicitur libertas“ (I, 402, Z. 12 f. „Die Spontaneität ist eine aus einem inneren Grund entsprungene Handlung. Wenn diese Handlung der Vorstellung des Besten entsprechend bestimmt ist, heißt sie Freiheit“). Die freien Handlungen des Menschen geschehen zwar nach dem Prinzip vom bestimmenden Grund, so daß das Gegenteil ausgeschlossen ist, aber nicht durch Gründe, die außerhalb des Begehrens 199 Vgl. dazu R. Spaemann, Art. „Freiheit“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. II, 1972, 1090f.
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und der Neigungen des Subjektes liegen. Der Mensch führt diese Handlungen nicht gegen seinen Willen (d. h. gezwungen) aus. Die Handlungen werden vielmehr in der Hinneigung des Wollens und des Begehrens selbst, sofern diese Hinneigung den Lockungen der Vorstellungen gern gehorcht, in einer sicheren, aber freiwilligen (voluntario) Verknüpfung nach einem feststehenden Gesetz bestimmt (I, 400, Z. 19–30). Der vorliegende Text der „Kritischen Beleuchtung“, in dem Kant die Theorie der komparativen Freiheit als „einen elenden Behelf“ brandmarkt, liest sich wie eine „retractatio“ durch den Autor selbst. A 174. Im Abs. 11 gibt Kant die Antwort auf die am Ende des Abs. 9 gestellte Frage. Die Lösung des „scheinbaren [!] Widerspruchs zwischen Naturdeterminismus und Freiheit in einundderselben Handlung“ liegt in der Zwei-Welten-Theorie, für die er auf die KrV verweist. Jede Handlung des Subjekts als in der Zeit stehend und somit als Erscheinung steht unter Naturnotwendigkeit; dieselbe Handlung des Subjekts als nicht in der Zeit stehend und somit als Ding an sich selbst ist frei. Anders gesagt: „jede gesetzwidrige Handlung“, die das Subjekt verübt, ist als Erscheinung „unausbleiblich notwendig“; von derselben Handlung, die das Subjekt als Ding an sich verübt, gilt, daß es „sie hätte unterlassen können“, weil der Mensch als Ding an sich nicht unter der Zeit steht, so daß seine Handlung nur von seiner freien Entscheidung abhängt. Zu dieser Antwort fügt aber Kant etwas hinzu, das auf den ersten Blick wie eine weitere Erläuterung derselben Theorie erscheint, die sich aber bei genauer Betrachtung als eine völlig andere Erklärung entpuppt, wie nämlich ein Subjekt verantwortlich sein kann für eine Handlung, deren Vollzug für das Subjekt notwendig oder zumindest de facto nicht vermeidbar ist. Der Erklärung, daß die Handlung deshalb notwendig ist, weil ihre Bestimmungsgründe in dem liegen, „was zur vergangenen Zeit gehört“, fügt Kant in Klammern hinzu: „wozu [zu den vorhergehenden Bestimmungsgründen] auch seine schon begangenen Taten und der dadurch bestimmbare Charakter200 … gezählt werden müssen“. Nach der Zwei-Welten-Theorie liegt das ausschlaggebende Moment für die Notwendigkeit und damit Unausweichlichkeit einer Handlung in ihrer zeitlichen Dimension, während das für die Freiheit und damit Zurechnungsfähigkeit relevante Moment derselben Handlung darin liegt, daß sie unter keinen Zeitbedingungen steht. Nach der hinzugefügten Erläuterung dagegen liegt der Grund, warum die böse Tat201 unausbleiblich ist und dennoch verantwortet werden muß, darin, daß sie von Taten abhängt, die das Subjekt selbst begangen, bzw. von einem Charakter, den das Subjekt sich selbst zugezogen hat. Freilich gehören diese anderen bösen Taten bzw. der erworbene Charakter zur vergangenen Zeit; aber nicht in der zeitlichen Dimension dieser Bedingungen (mit dem damit zusammenhängenden Determinismus), von denen 200 Unter Charakter versteht Kant das „Gesetz der Kausalität“ einer wirkenden Ursache, aber auch einen erworbenen Habitus, vgl. KrV A 538–541. 201 Eine ähnliche Argumentation gilt auch im Hinblick auf eine gute Tat, die von einer früheren guten Tat bzw. von einem erworbenen guten Charakter abhängt. Der Einfachheit halber beachte ich hier nur eine „gesetzwidrige Tat“, wie Kant auch.
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die jetzige böse Tat abhängt, sieht Kant die Erklärung der bösen Tat, sondern darin, daß das Subjekt selbst für diese Bedingungen verantwortlich ist (es hat sie freiwillig gesetzt!). Böses aber verursacht Böses, und so ist der Mensch für dieses verursachte Böse verantwortlich, auch wenn er im Moment der Verursachung weder das Wissen hat noch die Zustimmung gibt, die an sich nötig sind, damit die Tat ihm angerechnet werden kann. Kurzum, die hinzugefügte Erläuterung geht zu einer anderen, in der Tradition der Moral wohlbekannten Theorie über, nämlich der des „voluntarium in causa“202, welche es weder mit einer deterministischen Interpretation des Weltgeschehens à Laplace noch mit der Kantischen Zwei-Welten-Theorie zu tun hat. Man denke an einen Unfall, den ein betrunkener Autofahrer verursacht, oder an jemanden, der aus selbstverschuldeter Unkenntnis einen Schaden anrichtet oder ein Gesetz übertritt. Eine Sache ist es, wenn eine Tat aus einer anderen Handlung allein deswegen notwendig erfolgt, weil diese andere Handlung ihr zeitlich vorausliegt; eine völlig andere Sache ist es, wenn eine Tat aus einer anderen Handlung notwendig erfolgt, die das Subjekt wissend und wollend vollzogen hat. Was Kant zunächst kurz in Klammern zu seiner Zwei-Welten-Theorie hinzugefügt hat, wird danach weiter ausgeführt. „Die ganze Reihenfolge seiner [des Täters] Existenz als Sinnenwesen“, also in der Welt, wird als „Folge seiner Kausalität als Noumenon“ angesehen. Damit wird die zur Diskussion stehende „gesetzwidrige Handlung“ in Zusammenhang „mit allem Vergangenen“ gebracht. Das Ganze – die jetzige böse Tat und alle vergangenen bösen Taten – gilt hier als ein einziges Phänomen „seines Charakters, den es [das vernünftige Wesen] sich selbst verschafft, und nach welchem es sich, als einer von aller Sinnlichkeit unabhängigen Ursache, die Kausalität jener Erscheinungen selbst zurechnet“. Bohatec203 bemerkt zu Recht, daß das hier Gesagte in eine Richtung geht, die Kants Lehre vom radikalen Bösen vorwegnimmt, die er zuerst 1792 in der „Berlinischen Monatsschrift“ veröffentlichte. Das ganze moralisch Böse im zeitlichen Leben des Menschen gilt dort als Konsequenz eines bösen Charakters, den der Mensch sich in seiner „intelligiblen Existenz“ und damit frei und verantwortlich zugezogen hat. Gerade deshalb ist derselbe Mensch für die darauffolgenden bösen Taten in seinem Leben verantwortlich. Die Schrift über das radikale Böse wird weiter präzisieren, daß der Mensch in seiner „intelligiblen Existenz“ eine „intelligible Tat bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung“ (Religion B 26 = VI 31) – das radikale Böse – begangen hat, durch die er „die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür“ umgekehrt hat (B 23 = VI 30). Anstatt nämlich, daß das moralische Gesetz als oberste Bedingung fun202 Bohatec, Die Religionsphilosophie Kants, 301 f., hält den Einfluß Baumgartens hinsichtlich der Lehre, der zufolge „involuntarium ortum ex voluntario tamquam consectarium morale, est imputabile et eatenus habetur pro voluntario“ (Initia philosophiae practicae primae, 1760, § 165, abgedruckt in XIX, 7–91, hierzu 76) für „augenscheinlich“. 203 Bohatec, Die Religionsphilosophie Kants, 306–309.
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giert, wie wir mit den Triebfedern der Selbstliebe und ihren Neigungen umgehen sollen, machen wir „die Triebfedern der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes“ (B 34 = VI 36). Von der genannten ursprünglichen intelligiblen Tat hängen sämtliche Verfehlungen im Lebenswandel eines Menschen ab. In dieser neuen Erklärung des Bösen spielen weder die zeitliche Dimension des menschlichen Tuns noch der durchgängige Determinismus eine Rolle. Die erste böse Tat gilt als frei; die Reihe der von ihr in der Zeit nach und nach folgenden bösen Taten werden zwar erklärt durch den moralischen Einfluß der ursprünglichen bösen Tat (also nicht schon deswegen, weil sie in der Zeit und damit von dem abhängig sind, was nicht mehr in unserer Gewalt steht), gelten aber als frei. Was Kant an unserer Stelle eher beiläufig zu seiner Zwei-Welten-Theorie hinzugefügt hat, enthält in der Tat ein Paradigma, dessen Ausführung die Zwei-Welten-Theorie des transzendentalen Idealismus ersetzen wird. A 175: Abs. 12. Kant bestätigt das bisher Gesagte, indem er auf die Erfahrung eines Selbsttadels in unserem Gewissen verweist, der nicht verstummt trotz der eigenen Versuche, sich selbst wegen Unachtsamkeit oder sich zugezogener Gewohnheit zu entschuldigen. Die empfundene Reue über längst begangene Taten ist zwar eine praktisch leere Empfindung, insofern sie das Geschehene nicht ungeschehen machen kann, aber als Schmerz ist sie rechtmäßig und bedeutet, daß unsere Vernunft keinen Zeitunterschied hinsichtlich unserer Verantwortung macht. Eine (uns nicht gewährte) Einsicht in die Denkungsart eines Menschen (in die Triebfedern und die auf sie wirkenden Veranlassungen) würde uns ermöglichen, sein künftiges Verhalten mit Gewißheit auszurechnen genau so, wie man eine Mond- oder Sonnenfinsternis vorhersagen kann (vgl. KrV A 549 f.). Mehr noch, eine intellektuelle Anschauung desselben Menschen würde uns zeigen, daß die ganze Kette der eine künftige Handlung notwendig bestimmenden Gründe „von der Spontaneität des Subjektes als Dinges an sich selbst abhängt“ und deshalb ihm moralisch zuzurechnen ist. Mit dieser letzten Aussage ist Kant wieder, ohne es zu merken, zur Lehre des „voluntarium in causa“ übergegangen: Die erörterte böse Tat erfolgt zwar notwendig aus einer Kette voriger Handlungen, aber diese Kette hängt von einer freien Handlung des Subjektes ab (von seiner „Spontaneität“); deshalb ist er für diese Tat moralisch verantwortlich. Damit aber ist der Rekurs auf die Denkmittel des transzendentalen Idealismus überflüssig, um den Selbsttadel des Gewissens zu erklären, ja sogar kontraproduktiv, weil der Täter nicht verantwortlich für eine im voraus notwendige (!) Tat sein kann. Dieselbe Kritik gilt auch für die Aussage am Ende des Absatzes, der zufolge der Charakter eines Bösewichts „Folge der freiwillig angenommenen bösen und unwandelbaren Grundsätze ist“.204 204 Gegen meine Kritik an der Kantischen Argumentation könnte man einwenden, daß Kant, wenn er von „freiwillig angenommenen Grundsätzen“ spricht, an die Freiheit der Handlungen des Subjektes (des Bösewichts) auf der Ebene der Dinge an sich denkt. Deswegen argumentiere
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Jedenfalls meint Kant, durch seine Zwei-Welten-Theorie, die das auf der empirischen Ebene unvermeidbare Böse am sog. „angeborenen Bösewicht“ mit einer unangetasteten Freiheit auf der noumenalen Ebene verbindet, erklärt zu haben, warum man Menschen, die man „für unbesserlich hält“, dennoch als verantwortlich beurteilt. Mit einem solchen Urteil stimmen selbst Kinder überein, die ungeachtet der „hoffnungslosen Naturbeschaffenheit ihres Gemüts“ getadelt werden.
Exkurs: Freiheit und Naturdeterminismus Nach der Analyse des Teils der „Kritischen Beleuchtung“, in dem Kant sich auf seine „Auflösung“ der dritten Antinomie (KrV A 532–558) beziehend die Vereinbarkeit des in der ersten Kritik vertretenen durchgängigen mechanistischen Naturdeterminismus mit der von der Moral vorausgesetzten Freiheit bewiesen hat, soll hier diese Lösung von einem systematischen Gesichtspunkt aus erörtert werden.
1. Die Frage nach der Freiheit bei Kant Daß wir niemals begreifen können, wie Freiheit möglich sei, ist eine bei Kant oft wiederkehrende Aussage (so z. B. in der GMS A 115, 120 = IV 456, 459). In der Vorrede zur KpV, A 13, besteht Kant mit Nachdruck auf der „völligen Unbegreiflichkeit“ der Freiheit. Der Begriff der Freiheit läßt sich nicht erklären, nur ihre Zulässigkeit läßt sich in der theoretischen Kritik verteidigen (A 79 f.).205 „Die Unerforschlichkeit der Idee der Freiheit schneidet aller positiven Darstellung gänzlich den Weg ab“ (KU B 125 = V 275). Diese Position wird in der Religionsschrift womöglich noch verschärft: Die Freiheit ist „unerforschlich“ (B 58 Fn = VI 49; wir können ihre Natur nicht einmal ohne Widerspruch denken: B 218 Fn = VI 145). Kurzum: Die Freiheit als „eine Eigenschaft, die dem Menschen aus der Bestimmbarkeit seiner Willkür durch das unbedingte moralische Gesetz kund Kant gemäß seiner Zwei-Welten-Theorie, ohne auf ein anderes Prinzip zu rekurrieren. Ich glaube nicht, daß ein solcher Einwand die eigentliche Intention Kants trifft. Denn daß alle Handlungen eines Bösewichts auf der intelligiblen Ebene frei sind, folgt aus Kants allgemeiner Lehre von einem doppelten ontologischen Status aller Handlungen des Menschen (ja Dinge der Welt!); deshalb gibt es keinen Grund, diesen Status hier eigens zu erwähnen, um die Art und Weise zu erklären, wie jemand sich einen bösen Charakter verschafft hat. 205 Dieser Position liegt das Prinzip zugrunde, das Kant im Kontext einer seiner Erörterungen der Freiheit wie folgt formuliert: „Wo Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig als Verteidigung“ (GMS A 121 = IV 459). Wiederum in der Religionsschrift: „Wir können uns die Möglichkeit der Handlungen als Begebenheiten in der Sinnenwelt aus der moralischen Beschaffenheit des Menschen, als ihnen imputabel, nicht erklären, ebendarum, weil es freie Handlungen sind, die Erklärungsgründe aber aller Begebenheiten aus der Sinnenwelt hergenommen werden müssen“ (B 259f. Fn = VI 170).
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wird, ist kein Geheimnis …; der uns unerforschliche Grund dieser Eigenschaft ist ein Geheimnis, weil er uns zur Erkenntnis nicht gegeben ist“ (B 209 = VI 138). Eine introspektive Analyse des Prozesses bis zur Entscheidung, die dieses Moment der Freiheit in Zusammenhang mit dem Grund, aus dem wir letztlich unsere Entscheidung treffen, ans Licht bringen würde, findet sich bei Kant nicht. Noch weniger versucht Kant, eine metaphysische Erklärung zu geben, worauf die Möglichkeit gründe, daß wir überhaupt frei sind. Die mittelalterlichen Denker sahen die Wurzel der Freiheit in der Vernunft (vgl. Thomas von Aquin, Summa theol. I.II, q.17, a.1 ad 2). Denn die Vernunft ist durch ihre unbegrenzte Öffnung nicht auf Eines hin determiniert; sie kann verschiedene Auffassungen darüber haben, was in concreto gut ist, und so als Bestimmungsgrund des Willens wirken. Allerdings erkennt auch Kant, daß die Freiheit nur unter der Bedingung der Vernünftigkeit zu denken ist (vgl. GMS 99 f. = IV 447 f.). Die Reflexion Kants konzentriert sich hauptsächlich auf die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit in einer Welt, in der ein durchgängiger Determinismus herrscht. Denn er vertritt mit dem Mechanismus seiner Zeit einen lückenlosen Determinismus, demzufolge jedes Ereignis in der Welt unausbleiblich zu dem Zeitpunkt im Kontinuum der Zeit stattfindet, zu dem es tatsächlich geschieht, weil es von einer vorhergehenden Ursache abhängt, die ihrerseits von einer anderen vorhergehenden Ursache abhängt usw.206 Ich habe oben bereits von zwei Kontexten gesprochen, in denen Kant auf die Frage nach der Freiheit eingegangen ist (siehe den Exkurs über die Unterscheidung von Wille und Willkür). Wenn auch die Frage nach der Freiheit sich ursprünglich als Frage nach Wahlfreiheit stellt, also im Rahmen der Ethik, war für Kant der erste Kontext seiner Untersuchung der Freiheit ein kosmologischer. Kants Weltbild bestand darin, daß die gesamte Welt (der Inbegriff aller Erscheinungen) ein in sich kausal geschlossenes Ganzes ausmacht, daß also die Natur einen einzigen Kausalnexus im Sinne eines allumfassenden deterministischen Mechanismus bildet. Angesichts dieses Weltbildes ging es ihm zuerst um die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit. Erst nachdem diese Frage positiv beantwortet war, konnte er den eigentlich ethischen Aspekt der Freiheit in Betracht ziehen. „Möglichkeit“ ist hier im Sinne von „logischer Möglichkeit“ zu verstehen als Denkmög206 Man muß unterscheiden zwischen der These, daß nicht-rationale Wesen über keine Freiheit verfügen (daß also ihr Wirken der Notwendigkeit untersteht), und der These, daß in dieser Welt ein durchgängiger Determinismus herrscht in dem Sinne, wie es Laplace mit seinem berühmten Diktum zum Ausdruck gebracht hat. Die moderne Naturwissenschaft vertritt die erste These, aber nicht die zweite. Die zweite These fügt der Notwendigkeit, mit dem die materiellen Ereignisse stattfinden, die umfassende Voraussehbarkeit derselben hinzu. Letzteres ist aber nicht möglich, weil die naturwissenschaftlichen Gesetze abstrakt sind: Sie abstrahieren nämlich von Raum und Zeit, von der Unzählbarkeit des Kontinuums und von den nicht systematischen Aggregaten in der Natur. Infolgedessen ist die Rückkehr zum Konkretum, um die Gesetze anwenden und so die Ereignisse im voraus berechnen zu können, nur in Einzelfällen begrenzter, geschlossener und systematisch geordneter Bereiche, deren sämtliche Bestandteile uns vollständig bekannt sind, möglich. Hinsichtlich des ganzen Universums in all seiner künftigen Entwicklung ist eine solche Voraussehbarkeit objektiv nicht möglich, weil das Universum kein einziges systematisches Ganzes bildet.
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lichkeit, Widerspruchsfreiheit, nicht im Sinne von „realer Möglichkeit“ (vgl. KrV A 596 Fn; auch in der Vorrede zu den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“ IV 470). Es ging also um „Verteidigung“, nicht um „Erklärung“, wie es an der bereits erwähnten Stelle von A 79 f. gesagt wird. Für die Realität der Freiheit beruft sich Kant auf die Realität des moralischen Gesetzes (A 5 Fb) und für das letztere verweist er auf jenes Bewußtsein, das er „ein Faktum der Vernunft“ nennt (A 56). Es ist kein Wunder, daß Kant die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit eindringlich und wiederholt behandelt hat, wenn man bedenkt, wie paradox seine „Lösung“ ist, nämlich die Koexistenz von Determiniertheit und Freiheit hinsichtlich ein und derselben Handlung. Die zwei Hauptstellen über die Freiheit in den Schriften Kants finden sich in seinen beiden ersten Kritiken: 1) KrV, Transzendentale Dialektik, im Hauptstück über die „Antinomie der reinen Vernunft“, und zwar im 2. Abschnitt über die dritte Antinomie und im 9. Abschnitt, III, über die „Auflösung der kosmologischen Idee von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen“; 2) KpV, an der vorliegenden Stelle der „Kritischen Beleuchtung“, A 167–185. Wichtige Überlegungen finden sich aber auch in der GMS, 2. Abschnitt über die Autonomie (dritte Formel des kategorischen Imperativs): A 69–76 = IV 430–434 und A 87 f. = IV 440. Im 3. Abschnitt desselben Werkes versucht Kant, aus der Voraussetzung, daß ein vernünftiges Wesen nur unter der Idee der Freiheit handeln kann, das Sittengesetz abzuleiten. In der KU wird an mehreren Stellen das Thema Freiheit berührt, während es in der Religionsschrift mehrfach in Zusammenhang mit der Behandlung des „radikalen Bösen“ vorkommt.
2. Freiheit als zeitlose Kausalität. Die Behandlung der Freiheit in der dritten Antinomie der „Kritik der reinen Vernunft“ (KrV A 444–452; 532–558) Die vier Antinomien, von denen Kant in der transzendentalen Dialektik der KrV handelt, bestehen aus Widersprüchen („Widerstreit der Gesetze“: A 407), in die die Vernunft sich verwickelt, wenn sie ihre Suche nach dem Unbedingten hinsichtlich der Welt aufnimmt. Das Unbedingte ist ja das eigentliche Apriori der Vernunft (vgl. Einleitung in die Transzendentale Dialektik, II C, und das erste Buch; außerdem B XX f. und R 6414: „Das Unbedingte ist die einzige theoretische Vernunftidee“, XVIII 709). Diese Suche geschieht anhand folgenden Prinzips: „Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war“ (A 409). Das Prinzip wird auf die großen Streitfragen des 18. Jahrhunderts angewandt, nämlich auf die raumzeitliche Dimension der Welt (1. Antinomie), auf die Zusammensetzung der materiellen Substanzen (2. Antinomie), auf die Entstehung der Dinge bzw. auf das Vorkommen der Ereignisse (3. Antinomie) und auf das Dasein der Dinge (4. Antinomie). Bei der Suche nach dem Unbedingten im dritten Fall gerät die Vernunft in folgende Antinomie: Thesis: „Nicht alle Erscheinungen in der Welt entstehen durch ein Wirken nach Gesetzen der Natur. Zur Erklärung ihrer Entstehung ist noch ein Wirken durch Freiheit
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nötig“. Antithesis: „Alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur“ (A 444, 445). Da nun nach Kants Dafürhalten die Argumentationen, die in allen vier Fällen zu einander widersprechenden Aussagen führen, logisch stichhaltig sind, folgert Kant, daß die Voraussetzung, auf der die an sich richtigen Argumentationen beruhen, falsch sein muß.207 Eine solche Voraussetzung sei die realistische Auffassung von den Dingen der Welt, von denen her die Suche nach dem Unbedingten ausgeht. Denn die Totalität der Bedingungen und damit das Unbedingte gelten nur für die Dinge an sich selbst, die wir aber nicht kennen. Dasselbe Prinzip der Totalität und des Unbedingten gilt nicht, wenn es sich um Erscheinungen handelt, wie es der Fall ist bei unserer Erkenntnis der Welt. Denn die Erscheinungen sind nur in der Vorstellung (im Denken) gegeben; deshalb existieren sie und ihre Bedingungen nur in dem Maße, in dem wir sie denken und den sukzessiven Regressus in der Reihe ihrer Bedingungen im Denken tatsächlich vollziehen. M.a.W. nur im Falle der Dinge an sich sind ihre Bedingungen gegeben; im Falle der Erscheinungen sind sie bloß aufgegeben (vgl. A 497 f.). Ist die Prämisse der Argumentation, nämlich die realistische Auffassung der Welt falsch, so gilt die idealistische Auffassung. Die Antinomien der reinen Vernunft stellen also einen indirekten Beweis jener „transzendentalen Idealität der Erscheinungen“ (A 506) dar, die in der transzendentalen Ästhetik und Analytik durch die Freilegung der reinen Formen der Sinnlichkeit und der reinen Verstandesbegriffe als konstitutive Bestandteile des erkannten Objekts direkt bewiesen wurde. Genau auf diesem transzendentalen Idealismus, der einer Zwei-WeltenTheorie gleichkommt (Erscheinung und Ding an sich), gründet die „Auflösung“ der vier Antinomien, die Kant im 9. Abschnitt des Antinomien-Hauptstücks vorlegt. Die dritte Antinomie ist eine kosmologische Antinomie, insofern in ihr die „Kausalität nach Freiheit“ in einer Argumentation vorkommt, welche das Ziel verfolgt, die Entstehung der Gesamtheit der Dinge auf der Welt (bzw. die Gesamtheit der Begebenheiten) zu erklären. Weil nun alles, was nach Gesetzen der Natur geschieht, einen Zustand voraussetzt, auf den es unausbleiblich folgt, wäre die Reihe der voneinander abstammenden Ursachen unvollständig, und damit könnte nichts entstehen bzw. geschehen, wenn es keine erste Ursache gäbe, die als absolute Spontaneität und also als „transzendentale Freiheit“ die ganze Reihe anfängt. In der Anmerkung zur Thesis der dritten Antinomie (A 448–450) – wie schon oben im Exkurs über Wille und Willkür bemerkt wurde – hält Kant es für „erlaubt“, von der bewiesenen Freiheit einer Erstursache (die als der Zeit enthobene außerhalb des Weltgeschehens liegt) zu einer innerweltlichen Freiheit überzugehen, d. h. bestimmten (!) Substanzen, den Menschen, ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln. Der vom Menschen verursachte Anfang einer neuen Reihe von Dingen, die entstehen (bzw. von Ereignissen, die vorkommen), wäre zeitlich ein nur komparativ (relativ) erster Anfang – denn die Reihe folgt zeitlich auf frühere Ereignisse –, aber er würde nicht aus den früheKant folgert dies der Argumentationsregel entsprechend, der zufolge aus Wahrem nur Wahres folgt, während aus Falschem sowohl Falsches als auch Wahres folgen kann. 207
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ren Ereignissen erfolgen, so daß er in Ansehung der Kausalität doch ein schlechthin erster Anfang ist. Wie ist dies möglich angesichts der Tatsache, daß Kant einen durchgängigen Determinismus vertritt, der alle Begebenheiten auf der Welt umfaßt? (vgl. A 536 u. ö.). Die Aussage von A 450: die (sic!) Ereignis, „die zwar auf jene folgt, aber daraus nicht erfolgt“, scheint dem universalen Determinismus zu widersprechen. Zur Klärung der Antwort Kants auf diese Frage muß man, außer der für Kant infolge der ersten zwei Teile der KrV (Ästhetik und Analytik) bereits feststehenden „Unterscheidung aller Gegenstände in Phänomena und Noumena“ (A 236 ff.), seine Auffassung von der Kausalität berücksichtigen. In der zweiten der „Analogien der Erfahrung“ hat Kant die Verursachung mit der Relation einer regelmäßigen Aufeinanderfolge gleichgesetzt und damit auf eine Folge in der Zeit nach einer Regel reduziert. Das Kausalitätsprinzip ist nichts anderes als ein „Grundsatz der Zeitfolge“ (B 232, vgl. A 203: „Die Zeitfolge ist das einzige empirische Kriterium der Wirkung, in Beziehung auf die Kausalität der Ursache, die vorhergeht“). Infolgedessen faßt Kant die hier genannte „transzendentale Freiheit“ (A 446) als eine der Zeit enthobene Spontaneität auf. Freiheit ist „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen“ (A 533), ohne daß in ihm etwas geschieht bzw. anfängt. Das Noumenon untersteht ja nicht der Form der Zeit (A 541, 554 usw.). Fazit: Freiheit ist die zeitlos gedachte Kategorie der Kausalität.
3. Freiheit im praktischen Verstande In der „Auflösung der kosmologischen Idee von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen“ (A 532–558) behandelt Kant zunächst die „absolute Totalität der Bedingungen im Kausalverhältnisse“, von der alle Wirkungen in der Zeit abhängen und führt damit die „Freiheit im kosmologischen Verstande“ als „transzendentale Idee der Freiheit“ ein, wie schon bei der Darlegung der Thesis der dritten Antinomie (A 450). Dann aber geht er zu der „Freiheit im praktischen Verstande“ über, die auf der Freiheit im erstgenannten Sinn gründet (A 533 f.). Die darauffolgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die „praktische Freiheit“. Für die Vereinbarkeit dieser Freiheit als Eigenschaft der menschlichen innerweltlichen Handlungen mit dem „durchgängigen Zusammenhang aller Begebenheiten der Sinnenwelt“ (A 536) im Sinne eines lückenlosen Determinismus beruft sich Kant darauf, daß jeglicher „Gegenstand der Sinne“ zwei Seiten aufweist: als Ding an sich eine „intelligible“, als Erscheinung eine „sensible“ Seite. Demnach hat „eine jede (!) wirkende Ursache“ einen doppelten Charakter, d. h. ein doppeltes „Gesetz ihrer Kausalität“. Nach dem „empirischen Charakter“ stehen die Handlungen eines „Subjekts der Sinnenwelt … durch und durch mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhange“; nach dem „intelligiblen Charakter“ stehen dieselben Handlungen „unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit“ und hängen deshalb von keinem zeitlich vorhergehenden Zustand der Ursache ab; sie sind also frei (A 538 f.). Das Gesagte wird an einer „boshaften Lüge“ exemplifiziert (A 554 f.), die von einer „Reihe bestimmender Ursachen“ wie jede Naturwirkung auch abhängt; trotzdem wird
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sie „seinem [des Täters] intelligiblen Charakter beigemessen, er hat jetzt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld; mithin war die Vernunft, unerachtet aller empirischen Bedingungen der Tat, völlig frei“ (A 555).208 Fazit: Auf die Frage, „ob Freiheit der Naturnotwendigkeit in einer und derselben Handlung widerstreite“, antwortet Kant: „Beide können voneinander unabhängig und durcheinander ungestört stattfinden“ (A 557). Die Ausführungen Kants lassen sich wie folgt darstellen: intelligible Ebene
H
„homo noumenon“; Ding an sich, frei
durchgängiger Zusammenhang nach Naturgesetzen
empirische Ebene •
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
… -5
-4
-3
-2
-1
0
1
2
3
4
5
6 …
Die Handlung 0 („Wenn ich jetzt … von meinem Stuhl aufstehe“: A 450) a) folgt der Zeit nach auf die Begebenheiten -1, -2, -3, -4 usw. (ein komparativ erster Anfang), b) auf sie folgen die Begebenheiten 1, 2, 3, 4, usw. ins Unendliche. c) der „Kausalität durch Freiheit“ nach erfolgt die Handlung aus H (dem frei handelnden Menschen als intelligibler Realität und als solcher außerhalb der Begebenheiten auf der empirischen Ebene der Welt). Unter diesem Aspekt stellt die Handlung einen „schlechthin ersten Anfang“ dar (A 450), d) der „Kausalität nach Gesetzen der Natur“ nach erfolgt sie aus den Begebenheiten (Erscheinungen) -1, -2, -3, -4 usw. Unter diesem Aspekt stellt die Handlung keinen schlechthin ersten Anfang dar. Die Aussage Kants in A 450 („Denn diese Entschließung und Tat … genannt werden muß“), die zunächst von einem realistischen Standpunkt aufgestellt wurde, wird also von Kant selbst in der „Auflösung“ gemäß seiner Zwei-Welten-Theorie differenziert bzw. korrigiert. Denn in der „Auflösung“ wird die Behauptung von A 450, der zufolge „die bestimmenden Naturursachen oberhalb derselben [Tat] aufhören“, verneint. Diese Behauptung hebt ja den allumfassenden Naturdeterminismus auf und damit das Problem selbst, um dessen Lösung Kant ringt. Im Beispiel einer boshaften Lüge sagt Kant nicht, daß die Reihe der empirischen Bewegursachen, aus denen die Lüge entstanden 208 Obwohl die Beispiele Kants meistens Handlungen gegen das moralische Gesetz betreffen, gilt seine Theorie ebenfalls für Handlungen, die dem Gesetz konform sind. Auch sie sind notwendig auf der sinnlichen Ebene und frei und verantwortlich auf der intelligiblen Ebene.
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ist, vor dem Akt der Falschaussage aufhören. Er sagt vielmehr, man könne „diese Tat als gänzlich unbedingt in Ansehung des vorigen Zustandes ansehen, als ob [!] der Täter damit eine Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe“ (A 455). Grund dafür sei, daß die Vernunft als die intelligible Seite des Täters „völlig frei“ ist. Die Vernunft ist ja „als ein bloß intelligibles Vermögen der Zeitform, und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unterworfen“ (A 551). Dies zu sagen, bedeutet aber die Termini zu wiederholen, die das Problem ausmachen, nicht seine Lösung anzugeben! Die Aussage in A 549 f. (die in der KpV A 177 f. eine exakte Parallele hat): „Wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewißheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als notwendig erkennen könnten“ widerspricht direkt der Aussage, der zufolge „die bestimmenden Naturursachen oberhalb der Tat aufhören“ (A 450).
4. Zwei voneinander unabhängige Welten oder eine einzige mehrschichtige Welt? Kants Mittel, um deterministischen Mechanismus und Freiheit miteinander zu vereinbaren, ist seine Zwei-Welten-Theorie in der Fassung eines doppelten ontologischen Status, den er auf der Grundlage seines Transzendentalidealismus jedem Ding (!) im Bereich unserer Erfahrung zuschreibt.209 Mehrere Kant-Forscher haben sich die Frage gestellt, ob, abgesehen von anderen Schwierigkeiten, die diese Theorie belasten,210 die Konsequenz, die Kant im 9. Abschnitt des Antinomie-Hauptstück zieht, wirklich aus seiner Prämisse, also aus dem doppelten ontologischen Status jedes Dinges in der Welt, folgt. Ihre Antwort lautete: Aus der Kantischen Prämisse folgen logisch andere Konsequenzen als die, die Kant zieht. Ich beschränke mich auf die Folgerung, die Ross in seiner Studie zur GMS gezogen hat: Alle Handlungen (darunter [!] die des Menschen) sind auf der Eine besonders klare und eindringliche Darlegung, daß Freiheit und Naturdeterminismus im Menschen als moralischem Wesen einander nicht widersprechen, hat Kant in der Vorrede B zur KrV, XXVII–XXIX, geliefert, die er gleichzeitig zur KpV verfaßt hat. 210 Eine sei hier erwähnt. E. Tröltsch hat darauf aufmerksam gemacht, daß der Mensch als homo phaenomenon in jener sinnlichen Welt nicht frei ist, die derselbe Mensch als homo noumenon frei schafft! Der Gedanke der Unterscheidung des empirischen und intelligiblen Ich „hat aber wunderliche Konsequenzen. Die aus der logischen Idee autonom sich bestimmende und dem psychologischen Ablauf sich entgegenstellende Freiheit bringt aus der trüben psychologischen Wirklichkeit dieses wissenschaftliche Bild der wahren Wirklichkeit hervor. Aber das Denkprodukt verschlingt seinen eigenen Schöpfer … Das intelligible Ich schafft die Gesetzeswelt und findet sich mit seinem Tun in dieser als empirisches Ich, das heißt, als Produkt des großen Weltmechanismus und seines kausalen Ablaufs. Es ist ein unerträglicher, gewaltsamer Widerspruch … Aller Scharfsinn moderner Kant-Interpreten hat diesen Zirkel nicht erträglicher machen können“ (Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft. Eine Untersuchung über die Bedeutung der Kantischen Religionslehre für die heutige Religionswissenschaft, Tübingen 1905, 37). 209
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noumenalen Ebene frei und sittlich gut; denn auf dieser Ebene ist die Handlung nicht durch einen zeitlich vorhergehenden Zustand bedingt und es gibt keine sinnlichen Triebfedern. Zugleich scheinen dieselben Handlungen auf der phaenomenalen Ebene vorherbestimmt zu sein, aus Neigungen vollzogen zu werden und deshalb sittlich schlecht zu sein. In der Tat aber scheint Kant vor einer solchen Konklusion zurückzuschrecken; er drückt sich in einer Art und Weise aus, die das Gegenteil impliziert, nämlich daß wir manchmal aus Pflichtgefühl und manchmal aus Lustbegierde handeln, als ob wir zeitweilig Glieder der noumenalen Welt und zeitweilig Glieder der phänomenalen Welt wären.211 Mehr noch, wenn man darauf besteht, daß allen Realitäten in der Erscheinungswelt eine Realität in der Welt der Dinge an sich entspricht (vgl. KrV B XXVI f.; auch A 249, 252), so muß nicht nur allen actus humani, sondern auch allen Naturereignissen ein intelligibler Grund (Träger) entsprechen, der außerhalb der Zeit ist und deshalb von der Naturkausalität frei ist (vgl. den ersten Satz des Abs. 8: A 169). Kant versucht, der Konsequenz auszuweichen, daß sämtliche Weltdinge frei und zugleich naturnotwendig wirken, indem er sich auf die eigene Kausalität der menschlichen Vernunft mit ihren Imperativen beruft, die „von allen empirischbedingten Kräften“ ganz verschieden ist und für die der Lauf der Natur „keine Bedeutung hat“ (A 547). Nun aber verstoßen die hier und an zahlreichen anderen Stellen der KrV (und anderer Schriften Kants) vorkommenden Aussagen über die „intelligible“ Realität (das Ding an sich) gegen die Beschränkung unserer Erkenntnis auf die Grenzen der sinnlichen Erfahrung, die eine Grundlehre des Kantischen Idealismus ist, der zufolge wir vom „transzendentalen Gegenstand … was er an sich sei, nichts wissen“ (A 540; vgl. auch die mehrmals wiederkehrende Aussage hinsichtlich des Dings an sich: „der transzendentale [= transzendente] Gegenstand ist unbekannt“, A 191).212 Dennoch steckt in der paradoxen Art und Weise, in der Kant versucht, das notwendige (d. h. nicht-freie) Wirken der Natur und das freie Wirken des Menschen zu vereinbaren, ein Körnchen Wahrheit. Es liegt nicht in seiner Zwei-Welten-Theorie als Theorie 211 D. Ross, Kant’s Ethical Theory, 81 f. Man kann die direkte Konsequenz aus der Zwei-Welten-Theorie für die moralische Qualifikation unseres Wollens und Tuns auch wie folgt formulieren: Alle Willensakte des intelligiblen Ich sind frei, weil sie auf der zeitlosen Ebene des transzendentalen Subjektes stattfinden; die Durchführung dieser Akte ist nicht frei, weil sie auf der Ebene des empirischen, der Zeit unterstehenden Subjekts stattfindet. Im Kanon-Hauptstück der KrV zieht Kant selbst – von der Logik seiner Prämissen gleichsam überwältigt – diese Konsequenz: „Der Wille mag auch frei sein, so kann dieses doch nur die intelligible Ursache unseres Wollens angehen“. Aber „was die Phänomene der Äußerungen desselben, d. i. die Handlungen betrifft“, so unterliegen sie der „unverletzlichen Grundmaxime“ des durchgängigen Naturdeterminismus (A 798). 212 Zum Versuch, die Freiheit nur dem Menschen in seinem intelligiblen Charakter zuzuschreiben, vgl. auch KpV A 206: „sofern sich die handelnde Person zugleich als Noumenon betrachtet“. Bei all ihrer Selbstverständlichkeit ist diese Einschränkung durch den metaphysischen Rahmen, in dem der Unterschied zwischen Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit angesiedelt ist, nicht gerechtfertigt.
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von dem, was da „ist“, und dem, was da „zu sein scheint“. Es liegt vielmehr – gegen eine reduktionistische Interpretation der Realität, die alle Phänomene auf letzte Bestandteile der Materie in Bewegung zurückführt – in den verschiedenen ontologischen „Schichten“ der Welt mit ihren jeweiligen verschiedenen Eigenschaften und Wirkweisen, als da sind die anorganischen Dinge, das Pflanzenreich, das Tierreich, die Menschen. Das Wirken der höheren Schichten ist nicht durch die Gesetze der niederen zu erklären, verstößt aber nicht gegen sie. So sind z. B. die Ernährung und der Stoffwechsel in den Pflanzen durch die physikalischen und chemischen Gesetze der anorganischen Dinge allein nicht zu erklären, widersprechen ihnen aber nicht. Denn in einem organischen Lebewesen weisen die Gesetze der anorganischen Natur Regelmäßigkeiten und Verbindungen auf, welche von einer höheren Schicht der Wirklichkeit zeugen, in der fest wiederkehrende Phänomene vorkommen, die auf der unteren Schicht ein bloßer Zufall wären. Dasselbe gilt für das psychische Verhalten der Tiere in bezug auf die Gesetze des bloß vegetativen Lebens. Dasselbe gilt wiederum für die freien und verantwortlichen Handlungen des Menschen. Sie verstoßen keineswegs gegen die Notwendigkeit der untermenschlichen Natur, verwenden aber ihre Kräfte mit ihren Gesetzen für Handlungen und Reihen von Handlungen, deren Vollzug und Verlauf sowie deren Ziele nicht durch die Natur allein zu erklären sind.213 In diesem Sinne würde ich das Beispiel in KrV A 450 interpretieren bzw. korrigieren: „Wenn ich jetzt völlig frei … von meinem Stuhl aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit, samt deren natürlichen Folgen ins Unendliche (?!), eine neue Reihe schlechthin an …“. Mein Aufstehen folgt zeitlich auf die vorhergehenden Begebenheiten, erfolgt aber nicht aus ihnen gemäß den Naturgesetzen; es stellt deshalb in Ansehung der Kausalität „einen schlechthin ersten Anfang“ dar. Für die Kantische Interpretation dieser verschiedenen Schichten als Verschiedenheit von Erscheinung und Ding an sich gibt es keinen Grund. Denn sie alle werden erkannt auf der Grundlage von Daten der (äußeren oder inneren) Erfahrung, auf die die Erfassung der ihnen innewohnenden Intelligibilität folgt, bis das Gedachte in der absoluten Setzung eines rationalen Urteils gesetzt wird. Nun ist die Realität nichts anderes als das, was wir in einem rationalen, d. h. begründeten Urteil erkennen. In seinem Aufsatz „Diesseits von Idealismus und Realismus“, der im Jahre 1924 in den Kant-Studien214 zusammen mit dem Aufsatz von Heinz Heimsoeth über die „Metaphysischen Motive in der Ausbildung des Kantischen Idealismus“ erschienen ist und gleichzeitig mit dem Buch von Max Wundt: „Kant als Metaphysiker“ den Anfang der sog. „metaphysischen Kantinterpretation“ markierte, hat Nicolai Hartmann unter Beibehal213 Für eine systematische Darlegung der hier skizzierten, antireduktionistischen Sicht der verschiedenen ontologischen Schichten der Welt vgl. B. Lonergan, Insight. A Study of Human Understanding, London 1957, Kap. XV „Elements of Metaphysics“, insbesondere Nr. 2: „Explanatory Genera and Species“, 437–442. 214 N. Hartmann, „Diesseits von Idealismus und Realismus. Ein Beitrag zur Scheidung des Geschichtlichen und Übergeschichtlichen in der Kantischen Philosophie“ in: KS 29 (1924) 160–206. Hierzu 195ff.
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tung der Prämisse Kants von einer durchgehend determinierten Welt eine eigene Argumentation entwickelt. Es geht ihm um den „Erweis der metaphysischen Möglichkeit der Freiheit überhaupt in einer determinierten Welt“ (206). Sie ist der hier oben von mir vorgelegten ähnlich, wenn auch in einem anderen erkenntnistheoretischen Kontext. Freiheit im positiven Verstande bedeute „nicht ein Minus, sondern ein Plus an Determination“(198). Nun aber sei unsere eine Welt zweischichtig: In ihr koexistieren die durchgehend kausal geordnete Welt des Natürlichen und die rational-ethische Welt mit ihrer Teleologie des Wollens und der Handlungen. Als zweischichtig weise die Welt zwei Gesetzlichkeiten auf, zwei autonome Determinationsweisen, die einander überlagern (203). Nun aber herrsche in jeder Schichtung von Formungen oder Gesetzlichkeiten (Determinationstypen) notwendig dieses Verhältnis: Immer ist die niedere der höheren gegenüber passiv, bloß Materie; sie bietet sich widerstandslos der höheren Formung dar. Das aber heiße zugleich, daß die höhere der niederen gegenüber frei ist. Daß ein solches Überlagerungsverhältnis keinen auch nur partiellen Indeterminismus braucht, sieht Hartmann z. B. in dem in der Natur tatsächlich bestehenden Verhältnis mechanischer und biologischer Gesetzlichkeit (204). Fazit: Das Verhältnis von Naturnotwendigkeit und Willensfreiheit sei nur ein Spezialfall dieses allgemeinen metaphysischen Grundgesetzes, das Kant an der Grenzscheide von Naturnotwendigkeit und moralischer Gesetzlichkeit entdeckt hat (204). Hat man anerkannt, daß die Möglichkeit der Freiheit in einer deterministischen Welt auf der Zweischichtigkeit der Welt gründet, so erübrigt sich Kants Rekurs auf die Systemvoraussetzungen seines Transzendentalidealismus. Im letzten Absatz (KrV A 557 f.) heißt es, mit der Auflösung der dritten Antinomie sei nicht die Wirklichkeit der Freiheit bewiesen, sondern nur ihre Möglichkeit in dem Sinne, daß sie mit dem allgemeinen Gesetz der Natur vereinbar ist (ihr „nicht widerstreite“), d. h. also nur die „logische“ Möglichkeit der Freiheit im Unterschied zur „realen“ Möglichkeit derselben.215 Diese Einschätzung des Resultats der Auflösung der 3. Antinomie stimmt mit der Art und Weise überein, mit der Kant vier Jahre später in der GMS seine Untersuchung über die sittliche Dimension des Menschen anlegt. Er erläutert im zweiten Abschnitt den Begriff eines kategorischen Imperativs durch dessen dreifache Formulierung, verschiebt aber den Beweis seiner (realen) Möglichkeit auf den dritten und letzten Abschnitt. Deshalb hat die ganze Argumentation in den ersten zwei Abschnitten an sich den logischen Status einer bloßen Hypothese. Im dritten Abschnitt aber gelangt er zu keinem befriedigenden Resultat in seiner Bemühung, a priori die Realität des Sittengesetzes und mit ihr der Freiheit zu beweisen (vgl. oben „Der Werdegang der Ethik Kants“, Nr. 13 am Ende und den Kommentar zum § 7, 1. am Ende). Infolgedessen hat auch die Untersuchung im ersten Hauptstück der Analytik der KpV über das Grundgesetz der praktischen Vernunft denselben hypothetischen Status. Erst nachdem Kant im § 7 das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ formuliert hat, läßt er den Versuch, die Realität des Sittengesetzes und damit der Freiheit als ratio essendi des Gesetzes (KpV A 5 Fn) a priori zu beweisen, fallen und beruft sich auf das Bewußtsein die215 Vgl. das „Postulat der Möglichkeit“, KrV A 220–224 und auch die Fußnote zu A 596, auf die bereits oben in Nr. 1 dieses Exkurses verwiesen wurde.
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ses Gesetzes als ein „Faktum der Vernunft“ (A 56). Insofern allerdings Freiheit nichts anderes als die nicht-zeitliche Kausalität der Dinge an sich ist – deren Existenz für die KrV feststeht –, gilt doch die Freiheit, auch unabhängig vom Rekurs auf das Faktum der Vernunft, als Realität. Aber so gesehen wäre die Freiheit für alle Dinge real!
Dritter Teil: 2. Freiheit und Gott als Schöpfer (A 179–185) A 179: Abs. 13 Bisher wurde gezeigt, daß der Mensch frei ist, weil seine Handlungen zwar in Ansehung der Sinnenwelt „mechanisch bedingt“ sind, er selbst aber als intelligibles Wesen und seine Kausalität als die eines Noumenons dem durchgängigen Naturdeterminismus nicht unterstehen. Diese Rettung der Freiheit beruht auf der „Idealität der Zeit als bloßer Form sinnlicher Anschauung“. Denn wenn Zeit und Raum nur Formen der sinnlichen Anschauung sind, so hat die Welt, in der ein durchgängiger mechanischer Determinismus herrscht, den ontologischen Stellenwert einer Erscheinung; infolgedessen bleibt der Mensch als Ding an sich mit seinem Willen von diesem Determinismus frei. Es gilt jetzt zu untersuchen, ob die Anerkennung Gottes als „allgemeines Urwesen“, von dem alles abhängt (Abs. 14), mit der menschlichen Freiheit vereinbar sei. Schon im voraus schreibt Kant, daß seine „vornehmste Voraussetzung von der Idealität der Zeit“ und die damit verbundene Unterscheidung aller Gegenstände in Erscheinungen und Dinge an sich Hoffnung auf ein positives Resultat gibt. Die nun folgenden Ausführungen Kants verfolgen das Ziel zu zeigen, daß das Wirken Gottes in bezug auf den Menschen in keiner Weise seine Freiheit beeinträchtigt – freilich eine Freiheit im Sinne der „Auflösung“ der dritten Antinomie. Aber der springende Punkt der einzelnen Argumente in den Abs. 14 und 15 sowie die „Logik“ des Ganzen vermochte ich nicht eindeutig einzusehen. Ich werde deshalb die Argumente wiedergeben und auf die Fragen hinweisen, die sie m.E. aufwerfen. Der Kommentar ist in drei Schritte gegliedert. 1. Die (bereits beantwortete) Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und Naturdeterminismus. Denn von dieser Basis aus geht Kant an die neue Frage nach der Vereinbarkeit des Wirken Gottes mit der menschlichen Freiheit heran. 2. Die Argumente, mit denen Kant die neue Frage löst. 3. Die Ausführungen Kants über die Position anderer Autoren, die sich zum Thema „Gott – menschliche Freiheit“ geäußert haben. A 180: Abs. 14–16. 1. Die Fragestellung zum herkömmlichen Problem der menschlichen Freiheit hat sich bei Kant aus seiner transzendentalidealistischen Theorie der Erfahrung ergeben, die einen durchgängigen mechanistischen Determinismus nach sich zieht, einschließlich der Handlungen des Menschen, insofern diese in der Zeit stattfinden. Die Lösung des Problems bestand in der Anwendung jener „Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phänomena und Noumena (KrV A 236) oder „Zwei-Welten-Theorie“ auf den Menschen, die in der transzendentalen Ästhetik und Analytik begründet worden war: a) Die Handlungen des Menschen in der Sinnenwelt sind, insofern sie der Zeit unterstehen, jeweils im voraus bestimmt und damit nicht frei.
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Siehe das Schema im Exkurs über „Freiheit und Naturdeterminismus“, Nr. 3: Auf der waagerechten Linie des Zeitverlaufs besteht eine notwendige Abhängigkeit jedes Geschehens von dem zeitlich vorhergehenden, z.B. das Gefrieren des Wassers ist eine notwendige Folge der vorher unter Null gesunkenen Temperatur. b) Dieselben Handlungen sind (weil Geschehnisse eines Menschen!) „unmittelbare Wirkung des intelligiblen Charakters der reinen Vernunft, welche mithin frei handelt“ (KrV A 553; auch A 556). Der „intelligible Charakter“ bezeichnet hier die eigene Art und Weise des Wirkens des Menschen als „homo noumenon“, dessen Kausalität nicht der Zeit untersteht (vgl. A 539). Ein solches Wirken ist frei, weil es von keinem vorhergehenden Geschehen abhängt. Siehe im genannten Schema: Die Handlung 0 steht in direkter Verbindung mit dem handelnden Menschen (senkrechte Linie), ohne von den vorhergehenden Ereignissen auf der waagerechten Linie bedingt zu sein. Kurz gesagt: Der Willensakt (der hier ebenfalls Handlung genannt wird) ist frei, weil zeitlos; die Handlung, die in der Zeit dieses Wollen ausführt, ist nicht frei; sie ist die unvermeidliche Fortsetzung einer zeitlichen Kette einander subordinierter Ereignisse; sie muß aber als Ausführung eines freien Willensaktes des homo noumenon zugleich verantwortet werden! (vgl. KrV A 555). Es kann nicht bezweifelt werden, daß Kant in der nun folgenden Diskussion über das Wirken Gottes auf den Menschen an dieser Auffassung von der menschlichen Freiheit festhält. Meiner Meinung nach sowie auch nach Meinung anderer Kant-Forscher ist eine solche Auffassung rational nicht nachvollziehbar. Dies aber soll bei der Analyse der Argumente Kants in den Abs. 14 und 15 unberücksichtigt bleiben. 2. Zu Beginn von Abs. 14 formuliert Kant das metaphysische Prinzip, das der ganzen Erörterung des Problems (Gottes Wirken – menschliche Freiheit) zugrunde liegt: Gott ist „die Ursache auch der Existenz der Substanz“ und damit, wie es scheint, (Erst-)Ursache auch des Wirkens dieser Substanz. Denn es heißt kurz danach: „Das Dasein [des Menschen] und die ganze Bestimmung seiner Kausalität hängt ganz und gar von [diesem höchsten Wesen] ab“. Es handelt sich um ein Prinzip, das, schreibt Kant, in der Theologie nicht aufgegeben werden darf. Dann wendet Kant das Prinzip auf die Handlungen des Menschen an, „sowie sie zu seinen Bestimmungen in der Zeit gehören“. Der Leser, der aus dem Abs. 13 schon ziemlich genau weiß, wohin Kant will, liest zunächst diese und eine ähnliche Argumentation im Abs. 15 als einen Beweis dafür, daß das Wirken Gottes auf die Kausalität des Menschen dessen Freiheit nicht aufhebt. In der Tat aber zieht Kant das Handeln des Menschen unter jenem Aspekt in Betracht, unter dem dieses Handeln als nicht-frei bereits feststeht, und weist nach, daß es weiterhin (ja a fortiori) nicht-frei bleibt. Die Sache ist deswegen noch verwirrender, weil Kant hier die schon als nicht-frei erwiesenen Handlungen in der Zeit (die bloße Erscheinungen sind) hypothetisch als Bestimmungen des Menschen als Dinges an sich selbst nimmt („Wären die Handlungen …“). Daraus schließt er auf den Menschen als Automaten Gottes, dem als bewußt handelnden Wesen dann nur eine „komparative“ Freiheit zugeschrieben werden kann. Es stellt sich die Frage, was Kant hier beweisen wollte angesichts der Tatsache, daß
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die Nicht-Freiheit der Handlungen in der Zeit und damit als Erscheinungen bereits bewiesen worden ist. Er muß etwas Zusätzliches zu der Nicht-Freiheit dieser Handlungen beabsichtigt haben. Meine Vermutung ist folgende: Wenn die Handlungen in der Zeit für Dinge an sich selbst gehalten werden, so sind sie nicht nur nicht-frei, sondern auch vom Menschen nicht zu verantworten. Darauf scheint der Vergleich mit der Marionette „in einer fremden Hand“ hinzuweisen. Diese Aufhebung der Verantwortung des Menschen für seine Handlungen in der Zeit ist aber – unter Voraussetzung der Kantischen Theorie der Freiheit – nur dadurch möglich, daß das Wirken Gottes nicht nur die (nicht existierende!) Freiheit der Handlung in der Zeit aufhebt, sondern auch die Freiheit jenes zeitenthobenen Willensaktes des Menschen als intelligiblen Wesens, von dem die nicht-freie Handlung auf der sinnlichen Ebene abhängt. Genau diese zur intelligiblen Welt gehörige Freiheit wollte Kant mit seiner Zwei-Welten-Theorie aufrechterhalten. Es scheint, daß das Denken Kants in diese Richtung geht, wenn er im Anschluß an das zu Beginn formulierte Prinzip der Beziehung der Erstursache zu den Zweitursachen („Gott … sei die Ursache auch der Existenz der Substanz“) schreibt: „Die Handlungen des Menschen haben in demjenigen ihren bestimmenden Grund, was gänzlich außer ihrer Gewalt ist“. Dazu ist weiter zu sagen: a) Dieser Fall tritt aber nicht ein, weil er von einer Voraussetzung abhängt, die Kant immer wieder und auch hier unten in seiner Polemik gegen den Fatalismus bestreitet, daß nämlich Raum und Zeit „für zum Dasein der Dinge an sich selbst gehörige Bestimmungen anzusehen“ seien und damit Bestimmungen des Menschen als intelligiblen Wesens; b) Noch wichtiger ist eine andere Konsequenz – falls meine Interpretation den Sinn Kants trifft –: Das Wirken Gottes am Menschen als frei handelndem und verantwortlichem Wesen hebt dessen transzendentale Freiheit auf. Diese Konsequenz wird allerdings von Kant nicht gezogen und dürfte auch nicht seiner Intention entsprechen. Jedenfalls bleibt die Feststellung bestehen, daß Kant durch die Verlagerung seiner Erörterung auf die Ebene der menschlichen Handlungen als Erscheinungen in der Zeit dem harten Kern des Problems entwichen ist, nämlich der Beziehung des freien Wollens auf der intelligiblen Ebene zu Gott. Im Abs. 15 wird das Problem nochmals von Anfang an aufgerollt. Diesmal lautet das leitende Prinzip zur Lösung des Problems: „Der Begriff der Schöpfung kann … nur auf Noumenen bezogen werden“. Daraus wird gefolgert, daß es ein Widerspruch sei zu sagen, Gott „sei als Schöpfer Ursache der Handlungen in der Sinnenwelt, mithin als Erscheinungen, wenn er gleich Ursache des Daseins des handelnden Wesen (als Noumenen) ist“. Damit ist die These von der Nicht-Freiheit der Handlungen des Menschen als Sinnenwesen „in salvo“. Wiederum fragt sich der Leser, wozu dann die ganze Diskussion um das Wirken Gottes am Menschen, wenn auch ohne die Berücksichtigung Gottes die Nicht-Freiheit der Handlungen auf der Ebene der Zeit schon feststeht. Das Wirken Gottes kann von vornherein keine Gefahr für eine nicht-existierende Freiheit darstellen! Wenn aber die Argumentation Kants einen Zweck haben soll, wie man billigerweise voraussetzen darf, so muß dieser Zweck etwas anderes sein als nur die Ablehnung einer nicht-existierenden Freiheit. Auf diesen Zweck scheint der Abschluß des Abs.
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hinzuweisen: Das Wirken Gottes als Schöpfer „kann nicht als Bestimmungsgrund der Erscheinungen angesehen werden; welches aber ganz anders ausfallen würde, wenn die Weltwesen als Dinge an sich selbst in der Zeit existierten, da der Schöpfer zugleich der Urheber des ganzen Maschinenwesens an dieser Substanz sein würde“. Wieder, wie im Abs. 14, scheint es, daß Kant der Meinung ist, daß eine Einwirkung Gottes auf den Menschen als intelligibles Wesen, und damit auf sein nicht der Zeit unterstehendes Handeln, die transzendentale Freiheit seines Willensaktes gemäß dem „intelligiblen Charakter der reinen Vernunft“ (KrV A 553) vernichten würde.216 Infolgedessen würde nicht der Mensch, sondern Gott als „Urheber des ganzen Maschinenwesens an dieser Substanz“ die Verantwortung für die Ausführung desselben Willensaktes auf der Ebene der Sinnlichkeit tragen. Dies wird freilich von Kant nicht ausdrücklich gesagt; es dürfte vielmehr gegen seine Absicht sein. Die Frage ist aber die, ob dies sich nicht doch aus seinen Prämissen ergibt. Jedenfalls kann folgendes mit Sicherheit gesagt werden: Kant hält Gott unzweideutig für die Erstursache des Daseins des Menschen; die Beziehung aber der Erstursache zur menschlichen „Kausalität durch Freiheit“ (KrV A 538) hat er nicht, zumindest nicht ausdrücklich behandelt. Daß es aber eine Abhängigkeit des menschlichen freien Handelns von der Erstursache geben muß, ist dadurch begründet, daß man ansonsten gleichsam ein metaphysisches Monster annehmen müßte: Ein kontingentes Ereignis, das sein eigenes Vorkommen selbst begründen würde. M. Wundt hat die Lehre Kants von der Beziehung der menschlichen Freiheit zu Gott wie folgt zusammengefaßt: „[a] Gott darf nur als Schöpfer des Menschen, sofern er zur Welt der Dinge an sich gehört, betrachtet werden, [b] und ist daher nicht Ursache der Handlungen des Menschen als Erscheinung. [c] Für diese fällt dem Menschen selbst die Verantwortung zu“217. Dazu würde ich nach scholastischer Manier wie folgt Stellung nehmen: Zu [a] concedo; zu [b] transeat; zu [c]: Der Mensch ist verantwortlich für seine Handlungen in der Sinnenwelt, weil diese von seinem freien Willensakt als Akt eines intelligiblen Subjekts abhängen. Dieser Akt gehört zur Welt der Dinge an sich. Wie steht es um die Beziehung dieses Aktes zu Gott? Der Kern der zur Debatte stehenden Frage ist bei Wundt mit Stillschweigen übergangen worden. 3. (vgl. Abs. 14) Zur Bezeichnung Gottes als „Urwesen“, „Wesen aller Wesen“ sowie auch „höchstes Wesen“, vgl. auch KrV A 586–588; zur „Allgenugsamkeit“ vgl. das vorkritische Werk: „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“, 2. Abtlg., 8 Betrachtung: „Von der göttlichen Allgenugsamkeit“ und KrV A 580. Zugegeben, daß Gott Ursache des Daseins der Dinge als Dinge an sich selbst ist, muß noch gefragt werden, ob auch Zeit und Raum zu den Dingen an sich selbst gehö216 Diese Konsequenz hat Kant später ausdrücklich gezogen und deshalb die Abhängigkeit der menschlichen Freiheit von Gott als eine nur moralische anerkannt, d. h. eine Abhängigkeit von Gott als Gesetzgeber, aber nicht eine Kausalabhängigkeit von Gott als Schöpfer (Religion, B 215f. = VI 142f. 217 M. Wundt, Kant als Metaphysiker, 1924, 331.
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ren, so daß auch sie von Gott als Ursache abhängen. Nach Kant führt eine realistische Auffassung von Raum und Zeit unvermeidlich dazu, die „Fatalität der Handlungen“ zu statuieren. Der Terminus „Fatalismus“ wurde 1724 im französischen Sprachraum aus dem lateinischen Terminus „Fatum“ gebildet.218 Letzteres war von Cicero in die philosophische Sprache als Übersetzung der stoisch verstandenen „heimarménê“ (Schicksal) eingeführt und von Seneca innerhalb der römisch-stoischen Philosophie entfaltet worden. Fatum war für Seneca „die Notwendigkeit aller Dinge und Handlungen, die von keiner Kraft gebrochen werden kann“. Die Fatalisten behaupten also die blinde Notwendigkeit jedes Geschehens und leugnen deshalb die Freiheit. Hinsichtlich des Fatalismus setzt sich Kant an unserer Stelle zunächst mit Moses Mendelssohn (1729–1786) auseinander.219 Mendelssohn und andere Autoren hielten Zeit und Raum für Bedingungen, die wohl zu den endlichen Wesen als Dingen an sich selbst gehören, nicht aber zum unendlichen Wesen. a) Dazu fragt Kant, wie sie diesen Unterschied rechtfertigen. Sinn und Begründung dieser Frage sind mir nicht klar. Angenommen, daß Zeit und Raum Eigenschaften der Dinge an sich sind und daß sie deshalb, wie alle endlichen Wesen, von Gott als Erstursache abhängen, folgt daraus, daß auch Gott diese Eigenschaften formal (und nicht bloß „eminenter“) haben muß? Dann aber, a pari, müßte Gott formal alle Eigenschaften haben, die die materiellen Seienden aufweisen! b) Gegen dieselbe Lehre wendet Kant ein: Wenn das Dasein in der Zeit eine den endlichen Wesen anhängende Bestimmung ist, so müßte Gottes Schöpferakt, der die Dinge erschafft, Zeit und Raum voraussetzen und wäre deshalb von Realitäten bedingt, deren er nicht der Schöpfer ist.220 Es scheint, daß Kant hier die Newtonsche Auffassung von Raum und Zeit ins Feld führt als zwei absolute, „ewige und unendliche für sich bestehende Undinge“ (KrV A 39), die er selbst in den 60er Jahren vertreten, dann aber in der Dissertation von 1770 (§ 14, 5 und § 15, D) abgelehnt hatte. Für ihn, Kant, sei leicht, die göttliche Existenz als von allen Zeitbestimmungen un218 Vgl. J. Ruhnau, Art. „Fatalismus“ und „Fatum“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. II, 1972, 913–915, 915f. 219 Die Erwähnung von Mendelssohn und dann von Spinoza ist ein Nachhall des damaligen „Pantheismusstreits“, der von F. H. Jacobi initiiert worden war. Jakobi sah nämlich im Fatalismus das Wesen des Spinozismus und in Lessing den Vertreter eines solchen Spinozismus. Andere Stellen über den Fatalismus bei Kant: Prolegomena § 60; KU §§ 72 und 73. 220 Kant verneint also die Realität von Raum und Zeit aufgrund einer absurden Konsequenz aus dieser Meinung. Nun aber folgt diese Konsequenz gar nicht! Denn es ist wohl wahr, daß wir uns in der Phantasie den Schöpferakt Gottes nicht anders als einen Akt vorstellen können, der irgendwann im ewigen Fluß der Zeit geschehen ist und der die geschaffene Welt irgendwo im unendlichen Raum hervorgebracht hat. Aber wir können mit dem Verstand erfassen, a) daß diese Vorstellungen nur Produkte unserer Phantasie sind (vgl. Thomas von Aquin, Summa theol. I, q. 84, a. 7: „imaginatio tempus et continuum non transcendit“), b) und damit auch einzusehen, daß der Schöpferakt Gottes Raum und Zeit nicht vorausgesetzt hat, sondern sie zusammen und erst mit der Schöpfung der materiellen Welt geschaffen hat.
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abhängig von der Existenz eines Wesens in der Sinnenwelt als von der Zeit abhängig zu unterscheiden. Denn die eine ist die Existenz eines Dinges an sich, die andere die Existenz eines Dinges in der Erscheinung. Als Hauptvertreter des Fatalismus führt Kant den Spinozismus an, der nur ein einziges, unendliches und notwendiges Urwesen kennt, von der Zeit und Raum wesentliche Bestimmungen (Attribute), während die von ihm abhängigen Dinge (einschließlich des Menschen) bloß ihm inhärierende Akzidentien sind. Denn wenn die Dinge bloß als Wirkungen dieses Urwesens in der Zeit existieren – wobei die Zeit Bedingung ihrer Existenz in sich wäre –, so müßten die Handlungen dieser Wesen ebenfalls Handlungen des Urwesens sein. Darin argumentiere der Spinozismus als Pantheismus konsequenter als jene Vertreter des Kreationismus, die die Idealität von Zeit und Raum nicht anerkennen. Denn letztere sehen die Wesen, die sie für Substanzen und für in der Zeit existierend annehmen, einerseits als Wirkung der obersten Ursache und doch andererseits nicht als zum Urwesen und zu seinem Handeln221 gehörig, sondern als Substanzen für sich selbst an. A 184. Im Abs. 17 gibt Kant zu, daß seine Lösung an Klarheit zu wünschen läßt. Den Kritikern hält er die rhetorische Frage entgegen: „Ist denn jede andere [Darstellung], die man versucht hat oder versuchen mag, leichter und faßlicher?“ Unklar ist, worauf Kant diesen Mangel bezieht: ob auf die vorliegende Behandlung der Freiheit insgesamt oder aber nur auf die letzte Frage nach der Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und Gottes Wirken. M.E. liegt das eigentlich Fragliche an der ganzen Theorie darin, daß der Mensch als intelligibles Wesen frei sein und zugleich als Sinnenwesen einem durchgängigen Determinismus unterstehen soll. Wie beides bezüglich ein und derselben Handlung möglich sein kann, wird wiederholte Male behauptet, aber keineswegs einsichtig gemacht. Angesichts dieser Äußerung Kants zu seiner Lösung des Problems der Freiheit in bezug auf den von ihm vertretenen durchgängigen Mechanismus sowie in bezug auf Gott als „Ursache des Daseins der handelnden Wesen“ (A 183) wundert es nicht, daß Kant in der Religionsschrift seine Ansicht geändert hat. In der „Allgemeinen Anmerkung“ des dritten Stücks arbeitet Kant vier verschiedene Interpretationen des christlichen Geheimnisses der Dreifaltigkeit aus. Die zweite versteht die Offenbarung der drei göttlichen Personen als die Offenbarung von drei Handlungen Gottes am Menschen. Die erste von dieser Handlungen ist die Gesetzgebung Gottes, an die sich die Berufung der Menschen als Bürger eines ethischen Staates anschließt (B 215 f. = VI 142 f.). Wir können uns die unbedingte Unterwerfung des Menschen unter die göttliche Gesetzgebung nicht anders denken, als daß wir uns als seine Geschöpfe ansehen. Da aber Geschöpf-Sein eine völlige Abhängigkeit von Gott nach sich zieht, hängt auch von ihm der Grund unserer Handlungen ab, die deshalb nicht frei sein können. Weil 221 Man beachte die Formulierung „zu ihm und seiner Handlung“. Es scheint, daß Kant an das „Urwesen“ im vorhergehenden Satz anstatt an die kurz vorher genannte „oberste Ursache“ denkt.
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andererseits die göttliche Gesetzgebung nur freie Wesen angehen kann, ist sie für unsere Vernunft mit dem Begriff einer Schöpfung nicht vereinbar. Wir müssen, folgert Kant, die freien Wesen als schon existierend betrachten und ihnen nur eine moralische Abhängigkeit von Gott zuschreiben, nämlich die Nötigung, die seine Gesetze der Freiheit auf sie üben. Fazit: Kant hat die Frage nach der Vereinbarkeit von Schöpfung und Freiheit als, wie er selbst diesen erneuten Versuch abschließt, „für die Spekulation … ein undurchdringliches Geheimnis“ fallen lassen (vgl. auch Kants Vorarbeiten zur Religionsphilosophie, XXIII, 118f.; R 6170; Bohatec, Kants Religionsphilosophie 562f.).
Exkurs: Die Freiheit des Menschen und Gott als Erstursache In den Absätzen 13 bis 17 hat sich Kant an ein Problem gewagt, das in der Philosophie klassisch ist. Die Frage nach der Beziehung der menschlichen Freiheit zum Wirken Gottes, die sich bereits auf der Ebene des Common Sense stellt, hat sich in der Geschichte der philosophischen Reflexion um so dringender gestellt, je deutlicher Gott als das absolute und personale Sein erkannt wurde, das nicht nur Schöpfer und Erhalter alles endlichen Seins ist, sondern auch, konsequenterweise, Erstursache von all dem ist, was auf Erden geschieht. Zu dieser Erkenntnis hat das Denken, das die antike griechischlateinische Kultur übernommen und im Kontext der christlichen Wahrheit weitergeführt hat, einen wesentlichen Beitrag geleistet. Es ist nicht verwunderlich, daß die Auffassung Gottes als absolutes Sein, von dem alles endliche, kontingente Sein abhängt, und die damit verbundene Auffassung Gottes als Erstursache, die in allen Zweitursachen wirkt, die Frage aufgeworfen hat, ob der Mensch wirklich frei wollen und handeln kann. Es ist auch nicht zu verwundern, daß die Beziehung des Wirkens des höchsten Wesens zum freien Wirken des Menschen spontan als ein Konkurrenz-Verhältnis angesehen wurde. Bedeutet Freiheit, daß die Initiative des Wollens und des damit zusammenhängenden Handelns bei dem Menschen liegt, so kann sie nicht – scheint es – zugleich bei jemandem anderen liegen und schon gar nicht bei dem, der unendlich viel wirkmächtiger als der Mensch ist. Denn dies würde die Initiative des Menschen beeinträchtigen, ja sie zu einer Illusion machen. Infolgedessen hat man in der philosophischen wie in der theologischen Reflexion versucht, im freien Akt einen Bestandteil oder einen Aspekt zu finden, der letztlich auf den Menschen allein (!) zurückgeht, in der Überzeugung, daß der Mensch ohne ihn ein Automat Gottes wäre.222 222 Auch wenn Kant an unserer Stelle die traditionelle Frage nach der Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und Gott unter einer eigenen Perspektive sieht (der des durchgängigen Determinismus in der Welt) und mit eigenen Denkmitteln behandelt (der Zwei-Welten-Theorie), scheint es doch, daß die Vorstellung eines Konkurrenz-Verhältnisses auch bei ihm vorhanden ist. Er schreibt nämlich, wenn die Handlungen des Menschen ihren bestimmenden Grund in der Kausalität eines von ihm unterschiedenen Wesens haben, von welchem die ganze Bestimmung seiner eigenen Kausalität abhängt, so ist die Freiheit nicht zu retten (A 180f.). Noch deutlicher an der zitierten Stelle der Religionsschrift.
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Dazu ist zu sagen: Wie das endliche, kontingente Sein überhaupt vom unendlichen, absoluten Sein völlig abhängt, so hängt jegliche Zweitursache von Gott als Erstursache ab. Daraus folgt: Je wirkmächtiger eine Zweitursache ist, desto mehr hängt sie von der Erstursache ab; denn je wirkmächtiger eine Ursache ist, desto mehr hat sie am Sein teil. Dies bedeutet, daß das freie Wirken des Menschen mehr von Gott abhängt als das nicht-freie Wirken der untermenschlichen Seienden. Dieses Mehr an Abhängigkeit der freien Zweitursache gründet genau in jenem Mehr-vom-Sein-Haben, das sie zu einer freien Ursache macht, und ist deshalb weit entfernt davon, die Freiheit aufzuheben oder einzuschränken. Vielmehr begründet es sie. Aus dieser metaphysischen Argumentation, die das kontingente Sein auf das absolute Sein als Ursprung zurückführt, zusammen mit dem Faktum, daß es auf der Welt sowohl notwendig wie auch frei wirkende Ursachen gibt, schließt Thomas von Aquin auf eine besondere Eigenschaft Gottes als causa prima, nämlich seine Transzendenz. Gott bringt nicht nur die Realität und das Wirken der endlichen Wesen hervor, sondern auch die Art und Weise ihres Wirkens, nämlich daß dieses Wirken entweder notwendig oder frei geschieht. „Cum igitur voluntas divina sit efficacissima, non solum sequitur quod fiant ea quae Deus vult fieri; sed quod eo modo fiant, quo Deus vult ea fieri. Vult quaedam fieri Deus necessario, et quaedam contingenter [= frei], ut sit ordo in rebus, ad complementum universi“ (Summa Theol. I, q.19, a.8. Vgl. auch In I. Peri Hermeneias, lect. 14: 197; De substantiis separatis, c. 15: 137).223 Wichtig für die Lösung des vorliegenden Problems ist die Per spektive, unter der eine Frage, die Gott betrifft, angegangen wird. Gott als absolut transzendentes Wesen ist kein Datum, von dem wir ausgehen können, um bestimmte Fragen zu lösen. Er geht nie in den Diskurs der Vernunft ein als ein (weiteres) Datum, das es zu erklären gälte. Eine solche Perspektive würde zu Pseudoproblemen und dadurch zu angeblich tiefen Einsichten führen. Gott kommt im rationalen Diskurs des Menschen „nur“ als die letzte Erklärung, zu der wir gelangen, wenn wir von einer weltlichen Realität die Erklärung suchen. Wir gelangen deshalb zu ihm als reiner Intelligibilität, die gerade als solche einer Erklärung außer ihrer selbst weder bedarf noch zuläßt. Auf unser Problem angewandt, bedeutet dies folgendes: Wir finden in der unserer Erkenntnisart proportionierten Realität das notwendige Wirken der Natur und das freie Handeln des Menschen. Beide sind metaphysisch kontingent: Sie kommen vor, aber sie hätten auch nicht vorkommen können. Als kontingent verweisen sie auf eine causa prima als ihre letzte Erklärung. Wenn wir also rational auf Gott als Erklärung des kontingenten Wirkens schließen, so hat es keinen Sinn (weil es keinen Grund hat) zu versuchen, die Erklärung zu erklären. Vielmehr müssen wir uns bemühen, uns darüber klar zu werden, welche Intelligibilität die erkannte Erstursache aufweist. Hier, wie überhaupt, wenn es um unsere Erkenntnis des Transzendenten geht, ist der 223 Vgl. B. Lonergan, Gnade und Freiheit. Die operative Gnade im Denken des hl. Thomas von Aquin, Innsbruck 1998, vor allem den Abschnitt über „Die Möglichkeit von Kontingenz“, 133–139; G. Sala, „Das Böse und Gott als Erstursache nach dem hl. Thomas von Aquin“, in: Theologie und Philosophie 77 (2002) 23–53; hierzu 26–29.
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Ort der Analogie. Von den Intelligibilitäten, von denen wir ausgegangen sind – Notwendigkeit und Freiheit – müssen wir den jeweils positiven Gehalt bewahren, seine Grenzen negieren und das so Gemeinte ins Unendliche übersteigen. Wir vermögen beide Richtlinien (d. h. beide Intelligibilitäten) des Überstiegs in ihrem Ausgangspunkt „proprie“ einzusehen, aber nicht den intelligiblen Gehalt dort, wo sie sich treffen. Der „Treffpunkt“, die Erstursache des kontingenten Wirkens, ist das, was alle Menschen Gott nennen: die Erklärung des kontingenten Seins und Wirkens. Gott steht also über der kreatürlichen Dualität von Notwendigkeit und Freiheit, so wie wir sie kennen; er enthält beide in der Weise, daß die höchste Intelligibilität der Notwendigkeit mit der höchsten Intelligibilität der Freiheit koinzidiert. Diese allein Gott zukommende Eigenschaft ist seine Transzendenz. Der Terminus wird hier nicht in seinem primär erkenntnistheoretischen Sinn verwendet, demzufolge er besagt, daß Gott den Bereich des unserer Erkenntnisart proportionierten Seins (der Welt) übersteigt. Tranzzendenz bezeichnet hier eine Eigenschaft Gottes, die mit der Transzendenz im ersten Sinn zusammenhängt, daß Gott nämlich jenseits der kreatürlichen Dualität von Notwendigkeit und Freiheit liegt und beide begründet. Die mit dem Gesagten zusammenhängende Frage danach, wie Gott sich zu jener freien menschlichen Handlung verhält, in der eine moralische Schuld (theologisch: eine Sünde) besteht, wurde bereits im Exkurs über „Wille und Willkür bei Kant“, Nr. 4, S. 170, erwähnt. Eine sittlich böse Handlung ist in ihren positiven, materiellen oder geistigen Bestandteilen als Realitäten wohl auf Gott als Erstursache zurückzuführen. Aber formal als böse ist sie ein Nicht-Sein, ein dem Spruch des Gewissens Nicht-Folgen, das keinen zureichenden Grund hat und gerade als irrational keine Intelligibilität enthält. Als ein non-ens non-intelligibile verlangt die Schuld keine Erklärung (sie ist ja in ihrem Wesen das Nicht-Intelligible). Sie ist ein Versagen des menschlichen Willens, ein nonagere, das als Nicht-Sein weder auf die Erstursache des Seins zurückgeführt zu werden braucht noch kann. Gott bewirkt dieses schuldhafte Nicht-Wirken des freien Menschen in keiner Weise; in seiner Allmacht und Weisheit läßt er es aber zu.
Vierter Teil: Die Freiheit und die Erweiterung der Erkenntnis im Felde des Übersinnlichen (A 185–191) Zum Thema „Erweiterung der Erkenntnis in praktischer Absicht“ vgl. am Ende des 1. Hauptstücks A 87–100 sowie im folgenden Dialektik-Teil die Abschnitte VII und VIII A 241–263. Zu diesem Thema gehört auch die Antwort (Vorrede zur KpV, Abs. 6–8) auf den Einwand der Inkonsequenz, die Kant wegen des von ihm zugestandenen „übersinnlichen Gebrauchs der Kategorien“ im Zusammenhang mit der reinen praktischen Vernunft vorgeworfen worden war. Am Ende seiner Antwort hatte Kant für eine weitere Klärung des Problems auf den „Schluß der Analytik“ verwiesen (A 13). Dieses Stück schließt sich an das vorige Thema der Freiheit an. Indem es die Freiheit in Verbindung mit der dadurch ermöglichten Erkenntnis des Übersinnlichen bringt,
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berührt es grundlegende Lehrstücke der Kantischen Theorie der Erkenntnis. Die vielen Fragen, die die Erkenntnislehre Kants aufwirft, können hier nicht besprochen werden; es wird lediglich der Argumentationsgang des Abs. 18, in dem die genannte Erweiterung behandelt wird, referiert, mit einigen Erläuterungen zu dessen Verständnis. Unter allen Ideen der spekulativen Vernunft verschafft uns allein die Idee der Freiheit eine Erweiterung im Feld des Übersinnlichen, wenn auch nur in praktischer Absicht. Probst Pistorius (vgl. den Kommentar zu den Abs. 6–8 der Vorrede) hatte den „Vorzug“ beanstandet, den Kant der Freiheit vor den anderen Ideen der reinen Vernunft zugeschrieben hatte.224 Genau genommen erkennt Kant nur eine einzige Idee der Vernunft an, nämlich die des Unbedingten (vgl. R 6414: XVIII 709). Vom Unbedingten spricht Kant ausführlich in der transzendentalen Dialektik der KrV: Einleitung, II C, und 1. Buch sowie in der Vorrede B XX f. Dieser Idee schreibt er eine nur regulative, und zwar systematisierende Funktion zu, die sie ausübt, und dies erst nachdem unsere Erkenntnis der Objekte durch Anschauung und Begriff bereits zustande gekommen ist (vgl. KrV A 50–52). Gerade weil die Suche der Vernunft nach dem Unbedingten keine Rolle beim Zustandekommen unserer Objekterkenntnis spielt, weist das erkannte Objekt keinen absoluten ontologischen Status (d. h. es wird nicht als Sein erkannt), sondern nur einen relativen (den einer Erscheinung) auf. Die künstliche Ableitung von drei Ideen in KrV A 333–338 anhand der drei Formen des Vernunftschlusses – des kategorischen, des hypothetischen und des disjunktiven Syllogismus – verfolgt den Zweck, drei Anhaltspunkte zu gewinnen (Seele, Welt und Gott), um die drei Teile der herkömmlichen metaphysica specialis in den darauffolgenden drei Hauptstücken des 2. Buches der Dialektik einer Kritik zu unterziehen. Diese drei Ideen werden aber in der Dialektik der KpV zur Trias Gott, Freiheit und Unsterblichkeit,225 deren Äquivalenz zu den drei transzendentalen Ideen der KrV nicht ohne weiteres ersichtlich ist. Wie ist die genannte Erweiterung möglich, da aus der KrV feststeht, daß die Ideen jenseits der „Erfahrungsgrenze“ uns zu einem „transzendentalen Schein“ (A 297) verleiten? A 185: Abs. 18. Wir können nichts ohne Begriffe und deshalb letztlich ohne Kategorien (die reinen Verstandesbegriffe) denken. Dies gilt auch für jenen Vernunftbegriff, der die Idee der Freiheit ist. Nun ist die Kategorie, mit der wir die Freiheit denken können, die der Kausalität.226 Während wir nun dem Verstandesbegriff, mit dem wir ein Objekt der Erfahrung denken, eine korrespondierende sinnliche Anschauung zugrunde legen können, so daß das Denken zu einer objektiven Erkenntnis wird (d.h. zur Vgl. E. G. Schulz, Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik, 110f., 118f., 137. Vgl. auch schon KrV B 395 Fn. Diese Fußnote wurde freilich erst bei der Vorbereitung der zweiten Auflage der KrV (1787) hinzugefügt; also zu der Zeit, als Kant mit der Abfassung der KpV beschäftigt war. 226 In der 3. Antinomie spricht Kant von „Kausalität nach Gesetzen der Natur“ und „Kausalität durch Freiheit“ (A 444). 224
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Erkenntnis eines Objektes im eigentlichen Sinne des Wortes)227, kann dem Vernunftbegriff der Freiheit (sowie allen anderen Ideen auch!) „keine korrespondierende Anschauung untergelegt werden“ (A 185f.). Um das genannte Hindernis gegen eine Erweiterung der Erkenntnis in einem Bereich, in dem die sinnliche Anschauung (vgl. KrV A 19) den Ideen keinen korrespondierenden Gegenstand liefern kann, zu überwinden, verweist Kant (A 186) auf die Zweiteilung der vier Klassen der Kategorien in mathematische und dynamische Kategorien. Diese Einteilung wurde explizit erst in KrV B 110 eingeführt. Aber bereits in A 160–162/B 199–202 hatte Kant hinsichtlich der reinen Verstandesbegriffe von einer mathematischen und einer dynamischen Synthesis gesprochen (die Begriffe sind ja Synthesen: KrV B § 15). Die erste bezieht sich auf die Anschauung, die andere auf das Dasein einer Erscheinung. In der in B 202 f. hinzugefügten Fußnote wurde die Synthesis wie folgt weiter präzisiert: Die mathematische Synthesis (die der Kategorien der Qualität und Quantität) ist eine Synthesis des Gleichartigen, d. h. des Mannigfaltigen, „was nicht notwendig zueinander gehört“; die dynamische Synthesis (die der Kategorien der Relation und der Modalität) ist eine Synthesis dessen, was auch ungleichartig sein kann, aber notwendig zueinander gehört. Näherhin kann die letztgenannte Synthesis, die eine Verbindung des Daseins des Mannigfaltigen besagt, entweder die Erscheinungen untereinander (Kategorien der Relation) oder die Erscheinungen mit dem Erkenntnisvermögen (Kategorien der Modalität, vgl. KrV A 219) verbinden. Den so verstandenen zwei „Abteilungen“ der vier Klassen von Verstandesbegriffen (B 110) entspricht die Einteilung der vier Klassen der Grundsätze des reinen Verstandes in mathematische und dynamische Grundsätze. Im Falle der Synthesis des Gleichartigen kann das Unbedingte, das von der Idee gefordert wird, in der sinnlichen Anschauung nicht gefunden werden, weil die in der Anschauung gegebene Bedingung des Bedingten als in Raum und Zeit ebenfalls bedingt ist (A 186). Deswegen führten im Antinomiekapitel der KrV die Idee der „absoluten Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen“ (= der Welt) – 1. Antinomie – und die Idee der „absoluten Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung“ – 2. Antinomie – (A 415) zu einander entgegengesetzten Behauptungen, die beide falsch sind (A 528, KpV A 186). Im Falle der Synthesis des Ungleichartigen ist die von den Ideen erforderte Synthesis möglich, weil es sich darum handelt zu zeigen, wie die Existenz eines bedingten Gegenstandes zu der Existenz seiner Bedingung hinzukommt (d. h. wie eine Verursachung infolge einer anderen [vorhergehenden] Ursache erfolgt und wie die Veränderung einer Erscheinung durch ein anderes [vorhergehendes] kontingent Existierendes notwendig ist). Hier kann das Bedingte in der Sinnenwelt mit dem Unbedingten in der intelligiblen Welt verbunden werden (auch wenn das Unbedingte mangels korrespon227 Damit rühren wir an die Grundperspektive der Erkenntnis- und Seinslehre der KrV. Infolge seiner intuitionistischen Auffassung vom Erkennen ist für Kant Erkennen wesentlich Anschauen, also Erkennen eines Ob-jektes, eines Gegen-standes – nicht Erkennen des Seins; vgl. die programmatische Stelle KrV A 19.
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dierender Anschauung unbestimmt bleibt: A 187). Damit wird die Synthesis zu einer transzendenten Synthesis und so zu einer Synthesis, mit der das Unbedingte eines Vernunftbegriffs gedacht werden kann. Auf diese Weise wurde in der KrV gezeigt z.B., daß dieselbe Handlung, die als zur Sinnenwelt gehörig mechanisch bedingt ist, doch zugleich als Wirkung eines intelligiblen Wesens, d. h. einer sinnlich nicht bedingten absoluten Spontaneität (einer freien Kausalität) angesehen werden kann. Beide Arten der Synthesis – jene, die in der Sinnenwelt bleibt und zu keinem Unbedingten gelangt, und jene, die zur intelligiblen Welt und damit zum Unbedingten übergeht – widersprechen einander nicht, ja sie können beide wahr sein (KrV A 532). Hier kann eine sinnlich unbedingte, freie Kausalität gedacht werden (A 187). Angesichts dieses Resultats stellt sich die Frage, ob die als möglich (widerspruchsfrei denkbar) erwiesene Freiheit auch wirklich sei. Bei den in der Erfahrung stattfindenden Handlungen kann Freiheit nicht gefunden werden, weil in der Sinnenwelt ein durchgängiger Determinismus herrscht. Aber im Menschen findet sich ein „objektiver Grundsatz der Kausalität, welcher alle sinnliche Bedingung von ihrer Bestimmung ausschließt“ (A 188). Kant hat ja von Anfang an die Frage gestellt, ob reine Vernunft praktisch sein kann (A 3), d. h. ob sie „zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange“ (A 30). Die bejahende Antwort wurde im § 7 als „Grundsatz der reinen praktischen Vernunft“ formuliert, nachdem der rein formale Charakter dieses Grundsatzes ausführlich dargelegt wurde, d. h. daß das Sittengesetz für seine Verbindlichkeit von keinem Inhalt der Handlung, sondern nur von der Form der Handlung (der Allgemeinheit) abhängt. Damit ist gesagt, daß die Vernunft als rein (= unabhängig von allen empirischen Motivationen) „den Willen … a priori bestimmt“ (A 55). Die Kausalität der menschlichen Vernunft ist die gesuchte unbedingte Kausalität und gehört deshalb zur intelligiblen Welt. Sie gilt als ein „Faktum der Vernunft“, weil die reine Vernunft „sich als ursprünglich gesetzgebend ankündigt“ (A 56). Damit sind wir imstande, das Gesetz der Kausalität nach Freiheit und mit ihm den Menschen als moralisches Wesen nicht nur „unbestimmt und problematisch“ zu denken, sondern auch „bestimmt und assertorisch“ zu erkennen: „die Wirklichkeit der intelligiblen Welt und zwar in praktischer Absicht ist uns bestimmt gegeben“ (A 188 am Ende). Was in theoretischer Hinsicht die Tragweite unserer objektiv gültigen Erkenntnis übersteigt, liegt doch im Bereich unserer praktischen Vernunft. Im letzten Teil des Absatzes („Dergleichen Schritt …“ A 189–190) erläutert Kant, warum nur die Idee der Freiheit uns die Erweiterung ins Feld des Übersinnlichen gestattet. Die zweite dynamische Idee228, die Idee eines notwendigen Wesens, ermöglicht uns nicht (direkt!) den Schritt über das problematisch gedachte notwendige Wesen hinaus. Denn es wäre ein Schritt, mit dem wir alles verlassen würden, was uns gegeben 228 Diese Bezeichnung der Idee Gottes bezieht sich auf das in A 186 über die Kategorien der Freiheit bzw. der Notwendigkeit Gesagte, wonach diese Kategorien als dynamische die Existenz des dem bedingten Gegenstand korrespondierenden Unbedingten fordern und seine Realität unbestimmt und problematisch denken lassen. Notwendigkeit als Modalkategorie bedeutet notwendig existieren. In der 4. Antinomie geht es um das „notwendige Wesen“: A 452.
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ist; wir könnten deshalb keine Verknüpfung mit ihm herstellen. Das notwendige Wesen befindet sich ja außerhalb unser und außerhalb der Erscheinungswelt. Hinsichtlich des Vernunftbegriffs der Freiheit hingegen brauchen wir nicht „außer uns hinauszugehen, um das Unbedingte und Intelligible zu dem Bedingten und Sinnlichen [zu unseren Handlungen in der Sinnenwelt] zu finden“ (A 189 gegen Ende). Denn aufgrund des „unbedingten praktischen Gesetzes“ (A 189), das „sich für sich selbst uns aufdringt“ (A 56), sind wir uns bewußt, daß wir zur Verstandeswelt gehören, und zugleich, daß wir in der Sinnenwelt tätig sein sollen und können. Damit ist aber gesagt, daß die genannte Erweiterung ins Feld des Übersinnlichen kraft der Idee der Freiheit nicht eine Erweiterung bis zu jenem Intelligiblen bedeutet, das Gott ist. Der Schritt bis zum notwendigen Wesen ist uns nur durch die „Vermittlung [also indirekt] der ersten dynamischen Idee“ (der Freiheit) möglich (A 189 kurz nach dem Beginn). Damit weist Kant auf das im folgenden Dialektik-Teil vorgelegte Postulat Gottes hin, dessen Ausgangspunkt die Sittlichkeit ist, die als „Würdigkeit, glücklich zu sein“ (A 199), die Existenz Gottes verlangt, der allein die der Sittlichkeit proportionierte Glückseligkeit herbeiführen kann. Damit ist auch der Primat der praktischen Vernunft behauptet. Es handelt sich um eine Erweiterung der Vernunft bis zur „Erkenntnis von einer übersinnlichen Ordnung“, aber nur in „praktischer Absicht“ (am Ende des Abs.). Kant hat in diesem abschließenden Stück vom „Unbedingten in der intelligiblen Welt“ (A 187, 189) im Zusammenhang mit der praktischen Vernunft gesprochen. In den ersten zwei Absätzen der Dialektik wird ebenfalls von der Suche der praktischen Vernunft nach dem Unbedingten die Rede sein. Es stellt sich die Frage, ob das am Ende der Analytik Gesagte eine Vorwegnahme des Themas ist, um das die „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ kreist. Dies ist nicht der Fall, weil es sich um das Unbedingte in zwei verschiedenen Bedeutungen handelt, wie Kant selbst in A 194 bemerkt.229 Am Ende der Analytik geht es um die Suche nach dem „unbedingten praktischen Gesetz“ (A 189 am Ende) im Unterschied zu all jenen bedingten Bestimmungsgründen des Willens, nämlich den Bedürfnissen und Neigungen des unteren Begehrungsvermögens, deren Objekte empirisch sind und die „keine praktischen Gesetze abgeben“ können (Lehrsatz I). Auf diese Bestimmungsgründe, deren Befriedigung der Mensch „unter dem Namen der Glückseligkeit zusammenfaßt“, weist Kant in der GMS hin. Deshalb spricht er bereits dort von einer „natürlichen Dialektik“ zwischen „den Maximen, die sich auf Bedürfnis und Neigung fußen“ und dem „Gesetz der Pflicht“ (A 23 f. = IV 405). In der Dialektik der KpV dagegen geht es um jenes Unbedingte, das das „höchste Gut“ ist als die „unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (A 194). Die Dialektik besteht dort nicht zwischen einer empirisch bedingten praktischen Vernunft, deren Motivation im Gegenstand des Begehrens liegt, und einer Vernunft, die als rein „zur Bestimmung des Willens für sich allein zulangt“ (A 30), sondern zwischen einer praktischen Vernunft, die nach der unbedingten Totalität ihres Gegenstandes unter dem Namen des höchsten Gutes (A 194) sucht, und dem Unvermögen des Menschen, für sich allein diesen Gegenstand zu bewirken. 229
Vgl. M. Albrecht, Die Antinomie der praktischen Vernunft, 53–58.
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Kommentar zur „Kritik der praktischen Vernunft“
A 190: Abs. 19 ist methodologischen und persönlichen Charakters. In der Vorrede zur KpV hatte Kant mehrere Einwände gegen seine kritische Philosophie genannt, vor allem den der Inkonsequenz zwischen seiner Kritik der theoretischen Vernunft und seiner Ethik (so wie er letztere in der GMS bereits dargelegt hatte). Denn in der KrV hält Kant es für unmöglich, die Kategorien auf die noumenale Realität anzuwenden, während er dies „in Ansehung der Objekte der reinen praktischen Vernunft“ zuläßt (A 8). Was nun in der vorliegenden „Kritischen Beleuchtung“ zum „Rätsel der Kritik“ (A 8) ausgeführt worden ist und worauf Kant in der Vorrede (A 8 f.) im voraus hingewiesen hatte, in welchem Sinne nämlich etwa die Kategorien der Kausalität und die der Notwendigkeit sich auf die intelligible Welt anwenden lassen, zeigt die volle Übereinstimmung „der wichtigsten Sätze der praktischen Vernunft“ mit den „subtil scheinenden Bemerkungen der Kritik der spekulativen Vernunft“. Diese überraschende „Eintreffung“ sei das Resultat seiner Art zu argumentieren: Er setzt nämlich seinen Gedankengang unbekümmert bis zum Ende fort, und da zeigt sich, daß die eigenen Bedenken sowie die fremden Einwände sich von selbst aufgelöst haben.230 In der Tat ist es ein typisches Kennzeichen des Denkens Kants, ein Thema zu behandeln, ohne sich zu kümmern, wie er anderswo dasselbe oder benachbarte Themen behandelt hat. Ob daraus sich jene vollkommene Übereinstimmung ergibt, auf die Kant hier mit offensichtlicher Genugtuung hinweist, oder aber der gewissenhafte Leser sich mit unübersehbaren Sprüngen und unlösbaren Spannungen konfrontiert sieht, die ihn zur Verzweiflung bringen, ist eine andere Sache. Nicht ohne Grund haben Kant-Forscher (wie schon oben, S. 114, im Exkurs zum Autonomie-Gedanken bemerkt) auf die „aporetische Denkweise in Kant“ bzw. auf die „Zweigleisigkeit“ als „ein Spezifikum“ seines Denkens hingewiesen.
Zweites Buch. Dialektik der reinen praktischen Vernunft Erstes Hauptstück. Von einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft überhaupt (A 192–197) Wie schon im Ersten Teil, Nr. 14, gesagt, liefert der Dialektik-Teil der KpV das eigentlich Neue gegenüber der GMS, nämlich die Sicherung der ontologischen Prämissen, auf die die Moralität als Bestandteil des Menschen gründet: die Existenz Gottes 230 In der Vorrede zur zweiten Auflage der KrV, die vom April 1787 datiert ist, erwähnt Kant seinen Plan, „die Metaphysik der Natur sowohl als der Sitten, als Bestätigung der Richtigkeit der spekulativen sowohl als praktischen Vernunft, zu liefern“ (XLIII). Verwandt mit dem, was Kant hier über die von ihm befolgte „Maxime“ sagt, ist auch die von ihm der Transzendentalphilosophie empfohlene „skeptische Methode“: Durch den freien und ungehinderten Wettstreit entgegengesetzter Behauptungen lasse sich der etwaige „Punkt des Mißverständnisses“, aus dem der Streit hervorgeht, am besten entdecken. Vom Nutzen dieser Methode habe er in seiner Behandlung der Antinomien ein Beispiel vorgelegt (A 507).
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und die Fortdauer des Menschen als Person über die Zeit seiner irdischen Existenz hinaus. Es ist dies die sog. praktisch begründete Metaphysik, die Kant als „Ergänzung“ dessen galt, was er der spekulativen Vernunft in der ersten Kritik abgesprochen hatte. An diese Metaphysik schließen sich dann ausführliche Überlegungen zum epistemischen Stellenwert einer solchen „Erkenntnis“ des Transzendenten an. Daß Kant in seiner zweiten Kritik von einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft handeln würde, war von der ersten Kritik her nicht zu erwarten. Denn er verstand dort, im Anschluß an die Alten, unter Dialektik die „Logik des Scheins“, nämlich die sophistische Kunst, Unwissenheit und vorsätzlichen Blendwerken den Anstrich der Wahrheit zu geben. Deswegen wollte er, einem anderen Gebrauch dieses Terminus folgend, seine transzendentale Dialektik als Teil der Logik, und zwar als „Kritik des dialektischen Scheins“ (KrV A 61 f.) verstanden wissen. Die transzendentale Dialektik ist also eine Kritik der reinen Vernunft, insofern diese als spekulative Vernunft sich anmaßt, über die Grenzen der Erfahrung hinaus „Gegenstände, die ein großes Interesse für sie bei sich führen“, zu erkennen (A 796). An derselben Stelle des Kanon-Hauptstückes äußert Kant die Vermutung, daß auf dem Weg „des praktischen Gebrauchs besseres Glück für sie [die reine Vernunft] zu hoffen sei“. Da nun Kant unter einem Kanon der reinen Vernunft „den Inbegriff der Grundsätze a priori des richtigen Gebrauchs gewisser Erkenntnisvermögen überhaupt“ versteht (A 796), „so wird dieser nicht den spekulativen, sondern den praktischen Vernunftgebrauch betreffen“ (A 797). Damit wurde gesagt, daß es eine Dialektik der reinen praktischen Vernunft nicht geben kann, weil die reine praktische Vernunft nicht zu vermeintlich objektiven Aussagen führt, die eine Dialektik im Sinne einer entsprechenden Kritik verlangen würde. Die zitierten Äußerungen aus der KrV stimmen mit dem Vorhaben der KpV überein zu zeigen, daß es eine „reine praktische Vernunft gebe“ (A 3), so daß „eine Kritik der reinen praktischen Vernunft“ nicht nötig sei (A 30) Wir haben gesehen (vgl. am Ende des Kommentars zum vorletzten Abs. der Analytik: A 185–190), daß Kant in der GMS von einer „natürlichen Dialektik“ zwischen Wünschen und Neigungen einerseits und dem Gesetz der Pflicht andererseits gesprochen hat. Diese gehört aber zur Analytik der KpV und wurde tatsächlich in ihrem dritten Hauptstück behandelt. A 192: Abs. 1–2. Es überrascht deshalb, daß Kant zu Beginn des zweiten Buches der KpV schreibt: „Die reine Vernunft hat jederzeit ihre Dialektik, man mag sie in ihrem spekulativen oder praktischen Gebrauch betrachten“. Grund dafür ist, heißt es jetzt, daß die reine Vernunft „die absolute Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten verlangt, und diese kann schlechterdings nur in Dingen an sich selbst angetroffen werden“. Es folgt eine zusammenfassende Darlegung des „unvermeidlichen Scheins“, zu dem die Suche der spekulativen Vernunft nach dem Unbedingten führt. Im zweiten Abs. wird dasselbe leitende Vernunftprinzip der Totalität auf die reine praktische Vernunft angewandt. Auch sie sucht „zu dem Praktisch-Bedingten (was auf Neigungen und Naturbedürfnis beruht) ebenfalls das Unbedingte … [als?] die unbe-
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dingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts“. Was Kant genau mit dem Begriff des höchsten Guts als Gegenstand der reinen praktischen Vernunft (worauf er am Ende von A 113 bereits hingewiesen hatte) meint, wird zu Beginn des zweiten Hauptstücks, A 198ff., dargelegt. Wichtig zu bemerken ist aber, daß Kant, indem er die Dialektik der zweiten Kritik im Zusammenhang mit dem Begriff des Unbedingten aufrollt, sich noch mehr als in der ersten Kritik vom ursprünglichen Sinngehalt dieses Begriffes entfernt. Während man nämlich hinsichtlich der mannigfaltigen Gegenstände unseres freien und verantwortlichen Wollens einigermaßen sinnvoll von einer vollständigen Totalität sprechen kann, gilt dasselbe für die Bezeichnung „unbedingte“ Totalität nicht. Die Verwendung des Begriffes des Unbedingten erklärt sich vielmehr aus der Notwendigkeit, in der Kant sich befand, nachdem er sich entschieden hatte, die Struktur der ersten Kritik auch auf die zweite zu übertragen, ein Unbedingtes der reinen praktischen Vernunft einzuführen, um an diesen Begriff die vorausgesehene Dialektik der reinen praktischen Vernunft (die er früher bestritten hatte) anhängen zu können. Das Gesagte läßt sich durch folgende Bemerkungen bestätigen.231 Obwohl Kant sich sein Leben lang mit dem Begriff des höchsten Gutes beschäftigt hat, faßt er nur in der KpV das höchste Gut als eine „unbedingte Totalität“ auf. In seinen späteren Schriften verwendet er eine andere Terminologie (die sich bereits in der KrV A 806 [„Zweck“] und in der KpV A 233 [„Endzweck“] angekündigt hatte) nämlich „Endzweck“ (so in der KU B 423 f. und Religion B XI f Fn = VI 7 – was das Gemeinte besser trifft). Im Aufsatz „Über den Gemeinspruch“, A 211 f. Fn = VIII 279 f., ist sowohl vom „Endzweck“ wie auch von der „Idee des Ganzen aller Zwecke“ die Rede. Von Bedeutung zum Verständnis, daß die Lehre vom höchsten Gut im Rahmen einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft „eher einen momentanen Querschnitt durch einen nie zur Ruhe kommenden Reflexionsprozeß“ darstellt, ist auch der Umstand, daß Kant nur hier die Problematik vom höchsten Gut mit Hilfe der Begriffe „Dialektik“ und „Antinomie“ (A 204) behandelt hat.
Exkurs: Kants Idee des Unbedingten In der R 6414 der 90er Jahre hat Kant folgende Definition angegeben: „Das Unbedingte … ist die einzige theoretische Vernunftidee“ (XVIII 709). In der Vorrede B zur KrV wird das Unbedingte als eine Dynamik verstanden, die „uns notwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinaus zu gehen treibt“. Das Ziel einer solchen Dynamik wird zunächst „in den Dingen an sich selbst“ ermittelt, für die es gilt, daß sie „sind“, wobei der Geltungswert ihres „Seins“ nicht qualifiziert oder restringiert ist, wie es für die „Erscheinungen“ der Fall ist. Denn letztere sind nur, insofern sie vorgestellt, 231 Vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, 84 f. Diese Monographie ist besonders hilfreich für das Verständnis des ersten Teils der Dialektik der KpV. Außerdem hat sich der Vf. um eine vollständige Benutzung der einschlägigen Sekundärliteratur bemüht (10).
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bzw. gedacht werden. Daß wir imstande sind, das An-sich-Sein der Objekte unserer Erkenntnis zu erreichen, hängt davon ab, daß die Dynamik zum Unbedingten, die unsere Intentionalität kennzeichnet, in ihrer unbegrenzten Tragweite auf das hin geht, was schlechthin „ist“ und es in der absoluten Position des Urteils („est“, „ja“) erreicht. In dieser Position oder Bejahung einer Synthesis (d. h. des Inhalts eines Verstehensaktes) liegt das Proprium des Urteils als abschließendem Moment in der Struktur unserer Erkenntnis, und nicht in der Synthesis von Subjekt und Prädikat, wie oft behauptet wird (vgl. KrV A 6). Aus dieser Analyse wird deutlich, daß das Unbedingte eine konstitutive Funktion beim Zustandekommen unserer Erkenntnis ausübt. Aber die Dinge, die unserer Erkenntnisart proportioniert sind, „sind“ nicht schlechthin: Sie sind de facto, aber sie haben in sich keine zureichende Erklärung ihrer Existenz, warum nämlich sie sind und nicht vielmehr nicht sind. Demnach sind sämtliche Dinge der Welt kein Unbedingtes im eigentlichen Sinne des Wortes. Dieselbe Dynamik nach dem Unbedingten, die uns das reale, aber kontingente Sein der Weltdinge hat erkennen lassen, „treibt“ unsere Vernunft weiter zur Suche nach der Erkenntnis des schlechthin Unbedingten, des „ipsum esse subsistens“ (Gott), das als solches imstande ist, seine eigene Existenz zu erklären sowie die Existenz von all dem, was nur kontigenterweise existiert. Auch Kant erkennt diese weitere Frage nach dem Unbedingten oder Absoluten schlechthin an. Er faßt dieses Unbedingte als „den Begriff eines einzelnen Wesens“ auf, als „die Vorstellung von einem Individuum“, das er mit dem damaligen Terminus „ens realissimum“ bezeichnet (KrV A 576). Aber Kant vermochte nicht, trotz seines klaren Bewußtseins der uneingeschränkten Tragweite jener Dynamik unserer Vernunft, die er „Idee“ nennt, dieser Dynamik eine konstitutive Funktion beim Zustandekommen unserer Objekterkenntnis zuzuerkennen. Nach ihm hat sie nur eine regulative (systematisierende) Funktion, die sie erst dann ausübt, wenn unsere Erkenntnis der Objekte durch Anschauung und Begriff abgeschlossen ist (KrV A 50–52). Gerade weil die Suche nach dem Unbedingten kein Moment in unserer Objekterkenntnis ausmacht, weist das erkannte Objekt keinen absoluten ontologischen Status auf (d. h. es wird nicht als Sein erkannt), sondern nur einen relativen (den einer „Erscheinung“). Auf der Grundlage einer Erkenntnis, die im Bereich der Erscheinungen verhaftet bleibt, konnte die Stellung der KrV zur Frage nach dem Unbedingten schlechthin keine andere als die einer „Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft“ sein (KrV A 631). Aber die genannte „Grenzbestimmung“ der spekulativen Vernunft (KrV A 395) war für Kant nicht das letzte Wort. Denn am Ende jener Stelle der Vorrede, an der er am eindringlichsten die Tragweite unserer Vernunft als Dynamik nach dem Unbedingten hervorgehoben hatte, stellte er die Frage, „ob sich nicht in ihrer [der Vernunft] praktischen Erkenntnis Data finden, jenen transzendenten Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen“, so daß wir „auf solche Weise … über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus“ zu einer Erkenntnis desselben, „aber nur in praktischer Absicht“ gelangen können (B XXI). Wenn nun Kant in der „Einleitung“ zur transzendentalen Dialektik „das Prinzipium der reinen Vernunft“ folgendermaßen formuliert: „Wenn das Bedingte gegeben ist, so
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sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben“ (A 307 f.), so modifiziert er hier und dann noch ausdrücklicher im Ersten Buch derselben Dialektik seine ursprüngliche, sachlich zutreffende Auffassung vom Unbedingten nicht unwesentlich. Denn hier wird die oben besprochene Dynamik unserer Intentionalität, wie Kant sie später in der Vorrede B zur Sprache gebracht hat, im Hinblick auf die von ihm beabsichtigte Kritik an der herkömmlichen „metaphysica specialis“ definiert. Entsprechend den drei Teilen dieser Metaphysik (Psychologie, Kosmologie und Theologie) brauchte er nämlich drei Ideen (Seele, Welt und Gott) als Anhaltspunkte, um zu zeigen, daß ihr bloß regulativer Gebrauch232 zu keiner objektiv gültigen Erkenntnis dieser Realitäten als an sich Seiender zu führen vermag. Laut der angegebenen Definition besteht das Unbedingte in der vollständigen Reihe der Bedingungen selbst. Es scheint, daß Kant hier die Welt-Idee als Modell des Unbedingten vorschwebt. Dasselbe Modell ist für die Idee der Seele, unter der Kant in der Tat das menschliche Subjekt versteht, weniger geeignet. Vollends ungeeignet ist es für die Gottesidee, dessen Unbedingtheit in keiner Weise von der ganzen Reihe einander untergeordneter Bedingungen abhängt (diese Reihe bildet wohl den Weg für unsere Erkenntnis von ihm, durch die Gott als derjenige erkannt wird, der die Reihe transzendiert). Das Fragliche am genannten „Prinzipium der reinen Vernunft“ kommt unübersehbar ans Licht in der vierfachen Antinomie, in die die Weltidee gerät. Aufschlußreich ist der Umstand, daß bei den ersten zwei Fällen von „Widerstreit“ sowohl die Thesis wie auch die Antithesis falsch ist (KrV A 528; KpV A 186). Denn in ihnen geht es um quantitative, „mathematische“ Kategorien, für die eine Trennung von Bedingungen und Unbedingtem prinzipiell nicht möglich ist. Bei den letzten zwei Fällen von Widerstreit, an denen „dynamische“ Kategorien beteiligt sind, ist die Trennung von Bedingungen und Unbedingtem möglich, so daß Thesis und Antithesis beide wahr sein können (KrV A 532; KpV A 187). An unserer Stelle der Dialektik wird das Prinzip der Vernunft wie folgt formuliert: Die praktische Vernunft „sucht zu dem Praktisch-Bedingten … ebenfalls das Unbedingte … [als?] die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts“. Es handelt sich also um ein Unbedingtes, das in einer Totalität von Gegenständen besteht, von denen keines als kontingentes Ding bzw. endliches Gut unbedingt sein kann. Man fragt sich, worin die Unbedingtheit der Summe bestehen kann. Letzten Endes ist die Anwendung der Kantischen Idee vom Unbedingten auf den Begriff des höchsten Gutes und die daraus sich ergebende Dialektik in Form einer Antino232 Daß das Unbedingte keine konstitutive Funktion für unsere Erkenntnis ausüben kann, stand bei Kant von Anfang an aufgrund seiner intuitionistischen Auffassung der Erkenntnis fest (vgl. A 19!). Wie immer man des näheren die rationale Suche nach dem Unbedingten auffaßt, so läßt sie sich nicht als ein „Sehen“ vorstellen. Nun aber erkennt man – nach der Grundannahme der Intuitionisten – schließlich nur das, was man durch irgendeine Art „Sehen“ unmittelbar erreichen kann, wobei für die KrV die einzige Anschauung, über die der Mensch verfügt, die der Sinne ist.
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mie ein künstliches Netz, das um des Parallelismus zur ersten Kritik willen über ein reales Problem ausgelegt wurde. Das reale Problem ist kein anderes als die Frage nach dem Endzweck jener unbedingten Forderung, unter der der Mensch als moralisches Wesen steht. Wohin führt sie letztlich? Der Begriff des höchsten Gutes besagt in der damaligen Terminologie die Antwort auf diese Frage. Hieraus stammt die Spannung, auf die Kant selbst auf seinem verwickelten Weg der Antinomie der praktischen Vernunft hinweist, nämlich die zwischen einem der Absolutheit des moralischen Gesetzes adäquaten Ziel und dem (Un-)Vermögen des Menschen, es zu verwirklichen. Es scheint deshalb kein Zufall zu sein und auch nicht ein bloßer Wechsel in der Begrifflichkeit, wenn Kant kurz danach in der KU und später in der Religionsschrift genau dieses Problem unter dem viel geeigneteren Denkmittel des Endzwecks behandelt hat. Die naheliegende Perspektive eines Endzwecks, den die vom moralischen Gesetz in Anspruch genommene menschliche Freiheit verlangt, hat sich sogar an dieser selben Stelle der KpV (A 233; auch A 207: „höchster Zweck“) durchgesetzt, an der Kant sich auf die irreführende Perspektive einer Dialektik als Antinomie zweier widerstreitender Sätze eingelassen hat. A 194: Abs. 3 ist eine Art Exkurs, in dem Kant, wie mehrmals in der Ethik, seine eigene Position mit derjenigen der Alten konfrontiert. Der Kern der vorliegenden Überlegungen, die verwickelter sind, als ihr Inhalt erfordern würde, ist, daß die Philosophie nicht bloß Sache der Spekulation, sondern zugleich Sache eines dem Wissen entsprechenden Lebenswandels ist. Dies liegt auf der Linie jener verhaltenen, aber doch unmißverständlichen erzieherischen Zielsetzung, die seine Ethik charakterisiert. Die hier oben eingeführte praktische Idee des höchsten Gutes ist „Weisheitslehre“ – allerdings unter der „einschränkenden Bedingung“, daß Weisheitslehre als eine Lehre vom höchsten Gut verstanden wird, „sofern die Vernunft bestrebt ist, es darin zur Wissenschaft zu bringen“. In diesem Sinne bezeichnet der Terminus „Wissenschaft“ alle spekulative Erkenntnis der Vernunft, sofern diese Erkenntnis zur Festlegung des Begriffs vom höchsten Gut sowie zum angemessenen Verhalten „dienlich ist“. Damit meint Kant, sich an den Sinngehalt von „Philosophie“ angeschlossen zu haben, die die Alten zutreffend als „Weisheitslehre“ bestimmt hatten.233 „Weisheit“ war die Idee der Stoiker, schreibt Kant weiter unten (A 230 Fn) in einem nochmaligen Exkurs über die griechischen Schulen. Allerdings muß diese Zustimmung Kants zur Philosophie als Wissenschaft in Zusammenhang mit seiner Kritik an der „moralischen Untersuchung“ der Alten gerade 233 Es bleibt aber weiterhin der grundlegende Unterschied bestehen zwischen der Ethik der Antike als, wie oben gesagt, „Ethik des guten Lebens“ und der modernen Ethik, die sich selbst als „Ethik der Normen“ versteht. Deshalb lag für die Denker der Antike und des Mittelalters die Frage nach dem höchsten Gut als Ziel eines freien und verantwortlichen Lebenswandels schon in der Logik ihres Ansatzes. Bei Kant dagegen stellt sich die Frage nach dem höchsten Gut erst dann, wenn seine Theorie der Ethik, ohne der Materie der Handlungen überhaupt Rechnung getragen zu haben, beendet ist. In der nachkantischen ethischen Reflexion stellt sich die Frage nach dem höchsten Gut nicht mehr.
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im Hinblick „auf die Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut“ (A 113) gesehen werden. Denn Kant erläutert in dem erwähnten Exkurs (A 227–229), warum die griechischen Schulen „zur Auflösung ihres Problems von der praktischen Möglichkeit des höchsten Guts niemals gelangen konnten“. Sie sahen nämlich den freien Willen des Menschen als den für sich allein zureichenden Grund des Gutes, „ohne ihrem Bedünken nach das Dasein Gottes dazu zu bedürfen“. Damit würdigten sie ihr höchstes Gut einerseits ab, während sie andererseits „das moralische Vermögen des Menschen unter dem Namen eines Weisen über alle Schranken seiner Natur hoch“ spannten. Abgesehen von dieser Distanzierung von den Alten führt Kant im weiteren Verlauf des Absatzes Bedenkenswertes aus über das Ideal eines Philosophen als eines „Meisters“, für den die „Kenntnis der Weisheit“ zugleich eine Herausforderung an seinen eigenen Lebenswandel bedeutet. Weisheit „bedeutet, theoretisch betrachtet, die Erkenntnis des höchsten Guts und praktisch die Angemessenheit des Willens zum höchsten Gute“ (KpV A 235 f.). Demnach heißt es in der „Logik“: „Der praktische Philosoph, der Lehrer der Weisheit durch Lehre und Beispiel (!), ist der eigentliche Philosoph“ (A 25 = IX 24). Ähnliches über Begriff und Wesen der Philosophie zu Beginn der Vorlesung über „Philosophische Enzyklopädie“, XXIX 7f. A 196: Abs. 4 nimmt das Thema „höchstes Gut“ wieder auf. Angesichts der Dialektik („Widersprüche“), in die die reine praktische Vernunft bei ihrer Bestimmung des Begriffes vom höchsten Gut gerät, sei eine vollständige Kritik des Vernunftvermögens nötig. In der Vorrede (A 3) und in der Einleitung (A 30f.) hat Kant mit Nachdruck auf den Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Kritik hingewiesen. In der ersten wird die Vernunft kritisiert, insofern sie sich anmaßt, als reine (d.h. ohne auf die Erfahrung zu rekurrieren) die Realität zu erkennen; in der zweiten geht es um den Beweis, daß die Vernunft gerade als reine praktisch ist, d. h. den Willen bestimmen kann und soll. Also, heißt es in der Einleitung, „bedarf reine Vernunft keiner Kritik“. Die zweite Kritik habe vielmehr „die Obliegenheit, die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten“, den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen (A 30). Im darauffolgenden Absatz entwirft Kant den Abriß der KpV: Ihre Elementarlehre wird „eine Analytik als Regel der Wahrheit und eine Dialektik als Darstellung und Auflösung des Scheins in Urteilen der praktischen Vernunft haben müssen“ (A 32). Fazit: (1) In der Einleitung der KpV haben wir eine klare Behauptung, daß die KpV keiner Kritik bedarf. Damit ist eine Dialektik der reinen praktischen Vernunft ausgeschlossen; denn gäbe es sie, so bedürfte sie der Kritik. (2) In derselben Einleitung wird eine Dialektik als zweiter Teil der Elementarlehre angekündigt. (3) Hier, zu Beginn des Dialektik-Teils, wird gesagt, es gebe eine Dialektik der reinen praktischen Vernunft, die eine Kritik der Vernunft notwendig macht (A 196). Es ist schwer zu sehen, wie diese divergierenden Äußerungen zueinander passen. Eine Lösung könnte vielleicht darin gefunden werden, daß man die Behauptung (1) als nur auf den Analytik-Teil der KpV bezogen versteht, in dem die eigentliche Theorie der Ethik darge-
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legt wird: Die reine Vernunft allein bestimme durch die von ihr geforderte Form der Allgemeinheit den (sittlich guten) Willen. Die Ankündigung (2) bezieht sich auf den Dialektik-Teil der KpV, in dem die praktische Vernunft es mit dem Gegenstand des Wollens zu tun hat. Hier entstehe eine Dialektik, die eine Kritik erfordert, wie es in (3) gesagt wird. A 196: Abs. 5–6. Kant hat in der Analytik seine Theorie des Ethischen dargelegt: Das Wollen und Tun ist sittlich gut (wobei der gute Wille den einzigen absoluten Wert ausmacht, vgl. GMS zu Beginn. Urheber dieses Wertes ist allein der Mensch im Gebrauch seiner Freiheit), wenn deren Bestimmungsgrund das moralische Gesetz ist, welches „allein die Form der Maxime als allgemein gesetzgebend fordert“. Vom Gegenstand des sittlich guten Wollens und Tuns hat Kant folgendes gesagt: a) daß er zwar für das Wollen unentbehrlich ist (A 60), aber, b) was immer er sein mag, nicht als Bestimmungsgrund des Wollens wirken darf, ja c) daß er als Prinzip (Bestimmungsgrund) des Wollens „unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe oder der eigenen Glückseligkeit“ gehört, A 40. Erst am Anfang der Dialektik versucht Kant, positiv dem Gegenstand des Wollens in seiner Theorie des Ethischen Rechnung zu tragen: Die Vernunft sucht in ihrem praktischen Gebrauch ebenfalls das Unbedingte; dieses liegt in der „unbedingten Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ und wird „höchstes Gut“ genannt, A 194. Im vorliegenden Abs. 5 wird ausdrücklich gesagt, daß es das moralische Gesetz selbst ist, das uns auffordert, uns die „Bewirkung oder Beförderung“ des höchsten Gutes „zum Objekt zu machen“. Man fragt sich deshalb, ob Kant im DialektikTeil seinen Formalismus aufgeben will, wenn er sagt, daß die allumfassende Verbindlichkeit, die uns das moralische Gesetz auferlegt, jenen ebenfalls allumfassenden Gegenstand des Wollens betrifft, der das höchste Gut ist. Somit hätte Kant eine Verpflichtung zu einem bestimmten Gegenstand und nicht bloß zu einer Form anerkannt. Dies wäre in der Tat eine Rückkehr zum traditionellen Grundprinzip der Ethik, demzufolge die erste Quelle des moralischen Wertes im Objekt des Wollens liegt, das das „sittlich Gute“ genannt wird. Noch bevor Kant näher den Inhalt des höchsten Gutes angibt, beeilt er sich, den Formalismus uneingeschränkt zu bestätigen: „Das moralische Gesetz ist der alleinige Bestimmungsgrund des reinen Willens. Da dieses aber bloß formal ist …, so abstrahiert es als Bestimmungsgrund von aller Materie, mithin von allem Objekte des Wollens“, also auch von der jetzt eingeführten „Totalität des Gegenstandes“. Nun ist der Inhalt des höchsten Gutes, wie bald danach ausgeführt wird (A 198 f.), ein Doppeltes: Tugend bzw. Sittlichkeit und Glückseligkeit, wobei die erstere „Bedingung“ der anderen ist, während die Glückseligkeit etwas ist, „was dem, der sie besitzt, … angenehm“ ist (A 199). Mehr noch, im Abs. 6 wird geradezu gesagt, daß „im Begriff des höchsten Guts das moralische Gesetz als oberste Bedingung“ des zweiten Teils des höchsten Gutes „schon miteingeschlossen ist“. Daraus folgert Kant, daß „das höchste Gut nicht bloß Objekt, sondern auch … zugleich der Bestimmungsgrund des reinen Willens sei“. Dies sei aber keineswegs eine überfällige Rücknahme des Formalismus, „weil in der
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Tat das in diesem Begriff [des höchsten Gutes] schon eingeschlossene … moralische Gesetz und kein anderer Grund nach dem Prinzip der Autonomie den Willen bestimmt“.234 Diese zunächst unbedenklich erscheinende Argumentation, um Formalismus und verpflichtenden Inhalt des Wollens unter einen Hut zu bringen, wirft bei näherem Hinsehen schwerwiegende Fragen auf. a) Wir sollen, nach Kant, das höchste Gut als Objekt des Wollens bewirken. Was den Teil des Objektes betrifft, den Kant „Glückseligkeit“ nennt, gibt es an sich vom Standpunkt einer nicht formalistischen Ethik-Theorie keine Schwierigkeit. Wir dürfen im Moment davon absehen, daß Kant in der KpV eine empirische Auffassung der Glückseligkeit vertritt und daß eine Verpflichtung, die Glückseligkeit zu bewirken, sich nicht mit den für seine Ethik grundlegenden Lehrsätzen I und II vereinbaren läßt. b) Betrachten wir die zweite Komponente des höchsten Gutes als umfassenden Gegenstandes des Wollens, und zwar zunächst gemäß den Ausführungen von A 198 f., also die Sittlichkeit. Was bedeutet, daß Gegenstand des moralischen Gesetzes die Bewirkung der Sittlichkeit ist? Weil Sittlichkeit in der Befolgung des Sittengesetzes um des Sittengesetzes willen besteht, läuft das Gebot des Sittengesetzes, die Sittlichkeit zu bewirken, auf das Gebot hinaus, daß wir das Sittengesetz befolgen sollen. Was sollen wir dann in concreto tun? Was befiehlt das moralische Gesetz? Daß wir sittlich gut, tugendhaft, handeln sollen, daß wir ein unsittliches Verhalten verabscheuen sollen usw. (darin besteht die Sittlichkeit), gehört zu den sog. „reflexiven normativen Sätzen“235; ihr direkter Gegenstand ist genau der sittliche Wert des guten Willens. Solche Sätze, die die Pflicht zum sittlich Guten enthalten, drücken das sittlich gesollte Verhältnis des Menschen zu seiner eigenen sittlichen Verfassung aus. Sie haben einen sinnvollen Platz in der Paränese. Aber ihre Verwirklichung kann schließlich nur dadurch geschehen, daß man die nicht-sittlichen („physischen“) Güter verwirklicht, derentwegen Handlungen als sittlich gut gelten, etwa die Wahrheit sagen, einem Menschen in Not helfen usw., Handlungen also, die die vormoralischen Güter infolge der freien Selbstbestimmung des Menschen verwirklichen. Ohne den Rekurs auf vormoralische Güter laufen die hier in Frage stehenden reflexiven Sätze ins Leere. Was fügt nun die Verpflichtung zur Sittlichkeit als Bestandteil des höchsten Gutes zum sittlich Guten hinzu, zu dem uns das moralische Gesetz bereits verpflichtet? Offenkundig gibt es keine gute Entscheidung und Handlung, die nicht schon durch das moralische Gesetz der Analytik gedeckt ist – abgesehen freilich von der Grundschwierigkeit, die das rein formale Gesetz Kants bereitet. c) Wenn schon die Sittlichkeit als Bestandteil des Gegenstandes des moralischen Gesetzes Schwierigkeiten bereitet – die Schwierigkeit nämlich zu ermitteln, worauf sie als Teil des Gegenstandes des Gesetzes verpflichtet –, bereitet die Lehre, daß das morali234 Man beachte diesen Satz: Die Abhängigkeit der Moralität von einem zu bewirkenden oder zu erreichenden Gegenstand verstößt nach Kant gegen die Autonomie des Menschen. Der beiläufige Charakter dieses Satzes, ohne den das von Kant hier Gemeinte bereits vollständig wäre, erhöht die Bedeutung desselben für die Kantische Konzeption der Ethik. 235 Vgl. B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, 43.
Dialektik. Zweites Hauptstück (A 198–266)
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sche Gesetz selbst Bestandteil des höchsten Gutes ist, wie Kant im Abs. 6 behauptet, noch größere Schwierigkeiten. Denn das moralische Gesetz ist kein Objekt, das wir bewirken oder erreichen sollen – übrigens auf wessen Geheiß? Des Gesetzes selbst! Wie immer man den vorliegenden Versuch Kants, dem moralischen Wollen einen Gegenstand zu geben und ihm einen verpflichtenden Charakter zuzuschreiben, weiterdenkt, man gerät in unlösbare Ungereimtheiten. Auf eine sei hier hingewiesen.236 Wenn Kant der Behauptung, das höchste Gut sei „zugleich der Bestimmungsgrund des reinen Willens“ im Nachsatz hinzufügt: „weil alsdann in der Tat das in diesem Begriffe schon eingeschlossene und mitgedachte moralische Gesetz und kein anderer Gegenstand … den Willen bestimmt“, so ergibt sich folgendes Dilemma: a) Ist das moralische Gesetz allein Bestimmungsgrund des Willens, so ist die unmittelbar vorhergehende Behauptung, daß „das höchste Gut … zugleich der Bestimmungsgrund des Willens sei“ falsch. Denn das moralische Gesetz ist nicht das höchste Gut, sondern, nach der Behauptung Kants selbst, ein Teil davon. b) Ist das höchste Gut Bestimmungsgrund des Willens, so ist dieser Bestimmungsgrund nicht das moralische Gesetz allein, weil ja das höchste Gut per definitionem auch die Glückseligkeit enthält. Kant hat in der Analytik das moralische Gesetz allein durch seine Form unter strikter Ablehnung jeglichen Inhalts definiert. In der Dialektik führt er einen neuen Imperativ ein, der gerade durch den Inhalt definiert wird: Wir sollen uns das höchste Gut „zum Objekt machen“. Mit der Hinzufügung des Gesetzes selbst zum Inhalt dieses Imperativs ist ihm, scheinbar, gelungen, zwei unvereinbare Dinge zu vereinen. „Verwirkliche das höchste Gut“: dieses allumfassende Gebot hat einen Inhalt, nämlich all das, was zur Glückseligkeit der Menschen beiträgt; dasselbe Gebot ist, trotz seiner Materie, rein formal und völlig autonom, weil Bestimmungsgrund des Willens, nach Kants Dafürhalten, allein das moralische Gesetz ist. Es gibt Gründe genug, die Stichhaltigkeit des vorliegenden Versuchs, der Ethik, trotz ihres Formalismus, zumindest ansatzweise einen verpflichtenden Inhalt zu geben, anzuzweifeln. Einen weiteren, ähnlichen Versuch hat Kant später im „Gemeinspruch“ unternommen (A 210–214 = VIII 281f.).
Zweites Hauptstück. Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut (A 198–266) Das zweite Hauptstück steht unter demselben Titel „Dialektik“ wie das zweite Buch der Elementarlehre als Ganzes und das erste Hauptstück. Aber während beide vorhergehenden Überschriften unbestimmt von einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft sprachen (Kant hält die Vernunft als Vermögen des Unbedingten für dialektisch), wird diese Dialektik jetzt präziser in Zusammenhang mit dem Begriff des höchsten Gutes gebracht. Das höchste Gut, das Kant zusammen mit der Tradition wesentlich mit der moralischen Verfassung des Menschen verbunden sieht, ist ihm zu einem Problem geworden, seitdem er durch seinen Formalismus das Gute als das, wozu 236
Vgl. Beck, Kommentar 225f.; Albrecht, Kants Antinomie, 159f.
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Kommentar zur „Kritik der praktischen Vernunft“
der Mensch verpflichtet ist, im Imperativ von der Verpflichtung selbst getrennt hat. Anders gesagt, es geht um den Gegensatz zwischen einem moralischen Gesetz, das den Menschen anleitet (und verpflichtet!) zu dem für ihn in Wahrheit Guten, und einem Gesetz, das zu einer Form des Handelns verpflichtet, nämlich der Form der Allgemeinheit. Hinter dem letzteren steht die negative Konzeption der Moralität als in erster Linie Verpflichtung zur Überwindung der eigenen Ich-Zentriertheit. Eine erste Wiedergewinnung des Guten hat Kant bereits im 2. Hauptstück der Analytik durch die Definition des Guten anhand des Gesetzes vorgenommen. Hier in der Dialektik geht er an das Problem der Verwirklichung des höchsten Gutes als dem allumfassenden Gegenstand der reinen praktischen Vernunft heran. Der Weg dahin führt über die Feststellung einer Dialektik und deren Auflösung, in der die Postulate der reinen praktischen Vernunft als die Bedingungen, von denen das höchste Gut abhängt, als real „erwiesen“ werden. Der Abschnitt legt im 1. Absatz dar, was das höchste Gut ist. Die Absätze 2–5 bilden einen Exkurs über zwei Lehren vom höchsten Gut in der Antike. Absatz 6 schafft den Übergang zur Antinomie, deren Lösung durch die Postulate zeigt, daß das höchste Gut real möglich ist. A 198: Abs. 1. Kant legt den Begriff des höchsten Gutes fest, indem er zwischen a) höchstem Gut im Sinne von bonum supremum oder originarium: Tugend und b) höchstem Gut im Sinne von bonum consummatum oder perfectissimum: das Ganze aus Tugend und Glückseligkeit, unterscheidet. Nur die Tugend ist ein unbedingtes Gut. Der Anfang der GMS mit ihrer Schilderung des guten Willens als des einzigen absoluten Wertes und das zweite Hauptstück der Analytik der KpV haben diese Grundeinsicht der Ethik ausgeführt. So hieß es in A 109: Nur der Wille, dessen Maxime dem Gesetz gemäß ist, „ist schlechterdings, in aller Absicht gut und die oberste Bedingung alles Guten“. Aber nur die Tugend zusammen mit der Glückseligkeit ist das vollkommenste Gut. Wichtig bei der vorliegenden Begriffsbestimmung ist, daß Tugend „als die Würdigkeit, glücklich zu sein“ qualifiziert wird. Damit erkennt Kant die materiale Identität von moralischem Wert der Person und ihrer Glückswürdigkeit an. Tugend und Glückswürdigkeit sind formal zwei verschiedene Begriffe, aber der erstere impliziert den zweiten. Eine solche Identität gilt, so fährt Kant fort, „selbst im Urteile einer unparteiischen Vernunft, die jene [die Person] überhaupt in der Welt als Zweck an sich betrachtet. Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommensten Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, … gar nicht zusammen bestehen“. Mit dieser mehrmals geäußerten Einsicht, daß Glückseligkeit unabdingbar zur Sittlichkeit in der Beurteilung einer „unparteiischen Vernunft“ gehört (A 224) oder daß die Vernunft ein solches Urteil „parteilos“ fällt (Religionsschrift B IX = VI 6) will Kant sagen, daß die Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit von der Vernunft gefordert wird, oder, negativ, daß die Vernunft keine endgültige Trennung von Sittlichkeit und Glückseligkeit gutheißen kann. Anders gewendet: Die Vernunft erkennt an, daß Sittlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt, und umgekehrt, daß die Wirklichkeit
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der Sittlichkeit gegenüber nicht gleichgültig ist, d. h. also daß die Wirklichkeit letztlich moralisch ist. Damit ist sachlich dasselbe gemeint, was die traditionelle metaphysische Lehre von den Transzendentalien mit dem Prinzip „ens et bonum convertuntur“ meint. Gerade weil Tugend von ihrem Wesen her Glückswürdigkeit besagt, ist die Tugend zwar das unbedingte Gut, aber für sich allein „noch nicht das ganze und vollendete Gut, als Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen; denn um das zu sein, wird auch Glückseligkeit dazu erfordert“ (A 198). In den wechselnden Äußerungen Kants zum höchsten Gut – einem Thema, mit dem er sich sein Leben lang beschäftigt hat – bildet die Verbindung beider genannten Bestandteile eine Konstante. In der Reflexion 6584 (XIX 95) aus der Mitte der 60er Jahre heißt es, daß „die Glückseligkeit und das Gute, Sittlichkeit, zusammen summum bonum ausmachen“. Und spätestens seit der KrV hat Kant diese Verbindung mit Hilfe der Begriffe „Proportion“ oder „Angemessenheit“ (vgl. KrV A 809: „proportioniert“, A 811: „angemessen“, A 814: „Ebenmaße“) ausgedrückt. Weil sämtliche folgenden Überlegungen bis zum Abschnitt VI um das höchste Gut kreisen, sollen jetzt in einem Exkurs die diesbezüglichen Probleme exegetischer und systematischer Art erörtert werden, um danach einen möglichst ununterbrochenen Kommentar zum Text zu erleichtern.
Exkurs: Das höchste Gut und die Glückseligkeit als dessen Bestandteil 1. Das höchste Gut in den Schriften Kants Kant hat seine Theorie des Ethischen um den Begriff des kategorischen Imperativs als des rein formalen Gesetzes entwickelt, unter dem unser freies und verantwortliches Handeln steht. Den unentbehrlichen (A 60) Gegenstand des vom Gesetz geleiteten Wollens hat er in seine Handlungstheorie nicht einbezogen, außer freilich per exclusionem. Denn „was Pflicht sei“, so meint er, „bietet sich jedermann von selbst dar“ (A 64). In der Kantischen Begründung der Ethik bleibt die Frage nach dem höchsten Gut ausgeschlossen. In der Dialektik aber, die das „ergänzen“ (X 490) soll, was manche Leser der ersten Kritik infolge der dort gezogenen „Grenzen“ unserer Vernunft vermißt hatten, erhält der Gegenstand der reinen praktischen Vernunft als ganzer unter dem Namen vom „höchsten Gut“ eine Schlüsselfunktion. Auf ihm gründen jene Postulate, die der Vernunft erlauben, jene transzendenten Realitäten (in erster Linie Gott) zu erreichen, auf denen die moralische Dimension des Menschen gründet. Dies bedeutet aber nicht, daß der Begriff vom höchsten Gut erst hier, bei dem zweiten Anlauf, ein Konzept der Ethik vorzulegen, im Denken Kants auftaucht. Das höchste Gut, das aus Sittlichkeit und ihr entsprechender Glückseligkeit besteht, war vielmehr ein Thema, mit dem Kant sich sein Leben lang beschäftigt hatte. Schon von der Mitte der 60er Jahre an setzte sich Kant ausführlich mit der Lehre der Antike (und des Christentums) auseinander, für deren Konzeption der Ethik als Ethik vom guten Leben das höchste Gut ein ebenso selbstverständlicher wie fundamentaler Bestandteil war.
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Klaus Düsing hat in einer gründlichen Studie den ganzen Verlauf des diesbezüglichen Denkens Kants verfolgt und dabei eine signifikante Zäsur zwischen der „früheren Konzeption“ (vor allem wie sie aus den „Reflexionen“ der Zeit hervorgeht) und der „späteren Lehre“, nämlich von der KpV an, hervorgehoben.237 Zu erwähnen ist auch der bereits 1959 erschienene Aufsatz von John R. Silber, der gegen die seit langem herrschende Kritik und noch mehr gegen die Vernachlässigung des Themas „höchstes Gut“ eine Wende in die Kant-Interpretation brachte, weil sich an seine Veröffentlichung eine lebhafte Diskussion anschloß, die vorwiegend im angelsächsischen Raum ausgetragen wurde.238 Kurzum, das höchste Gut ist, nach Silbers Interpretation, an sich selbst, insofern es aus vollkommenster Sittlichkeit und vollständiger Glückseligkeit besteht, nicht zu erreichen und stellt als solches ein transzendentes Ideal dar, das für uns einen regulativen Gebrauch hat. Insofern wir aber all unsere moralischen Kräfte aufbieten, um es zu verwirklichen, findet ein konstitutiver Gebrauch des höchsten Gutes statt, das somit zu einem immanenten Maßstab unseres Handelns wird. Weder auf die Kantische Konzeption vom höchsten Gut in ihren konstanten wie in ihren wechselnden Elementen im Laufe der Zeit noch auf die unterschiedlichen Interpretationen, die sie erfahren hat, kann hier weiter eingegangen werden. Die folgenden Bemerkungen beschränken sich auf den Inhalt der KpV und damit auf einen allem Anschein nach zeitlich kurzen Querschnitt in Kants lebenslanger Beschäftigung mit dem höchste Gut. Der weitere Kommentar wird diese Vorwegnahme nach und nach vervollständigen. Kennzeichen für das höchste Gut in der KpV ist zunächst, daß es nur hier als „unbedingte Totalität“ bezeichnet wird. In der zwei Jahre später erschienenen KU (B 423 f.) und dann wieder in der Religionsschrift (B XI f Fn = VI 7) und im Aufsatz „Über den Gemeinspruch“ (A 211 f. Fn = VIII 279 f.) nennt Kant das höchste Gut „Endzweck“239 – eine Bezeichnung, die besser zur gemeinten Realität sowie auch zum Kontext des Postulats Gottes paßt, in dem das höchste Gut eine entscheidende Rolle spielt. Außerdem wird nur in der KpV das höchste Gut mit den Begriffen der Dialektik und der Antinomie in Verbindung gesetzt. Letzteres kann als ein ungewollter Beweis dafür angesehen wer237 Vgl. Klaus Düsing, „Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie“, in: KS 62 (1971) 5–42. Von Bedeutung sind auch die Bemerkungen Albrechts zu dieser Studie. Er wirft dem Autor die Tendenz vor, die Aussagen Kants während des wechselhaften Zeitraumes bis in die 80er Jahre in eine Konzeption zusammenfassen zu wollen (Kants Antinomien, 73). 238 John R. Silber, „Kant’s Conception of the Highest Good as Immanent and Transcendent“, in: The Philosophical Review 68 (1959) 469–492; dt.: „Immanenz und Transzendenz des höchsten Gutes bei Kant“, in: ZphF 18 (1964) 386–407; und auch seine Besprechung des Kommentars Becks: „The Importance of the Highest Good in Kant’s Ethics“, in: Ethics 73 (1962/63) 179–187; dt.: „Die metaphysische Bedeutung des höchsten Gutes als Kanon der reinen Vernunft in Kants Philosophie“, in: ZphF 23 (1969) 537–549. Albrecht (Kants Antinomie 48 f., 155–158) sieht im systematischen Interesse, mit dem der Autor an die KpV herangegangen ist, den Grund seiner eher eigenwilligen und Texte verschiedenster Provenienz vermischenden Interpretation. 239 In der KpV A 233 wurde bei der Definition der Religion das höchste Gut „Objekt“ und „Endzweck“ der reinen praktischen Vernunft genannt.
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den, daß das reale Problem, nämlich das höchste Gut als Ziel der Moralität, nur aufgrund der Absicht Kants, möglichst viel von der Gliederung und Terminologie der ersten Kritik auf die zweite zu übertragen, in die vorgefaßte Schablone einer als „Widerstreit der Gesetze“ verstandenen Dialektik (KrV A 407) hineingezwängt wurde. Denn auch nachher (vor allem in den späteren Fassungen des moralischen Gottesbeweises) hat Kant darum gerungen, das höchste Gut als Ziel der Moralität zusammen mit dem Formalismus und der Autonomie seiner Ethik unter ein Dach zu bringen, ohne daß er sich genötigt gesehen hätte, dies durch eine Dialektik in Form einer Antinomie zu bewältigen. 2. Die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Gutes Im Begriff des höchsten Gutes ist die Glückseligkeit der Bestandteil, der Kant zu schaffen gemacht hat, wie wir bereits in den beiden letzten Absätzen des einleitenden Abschnittes (A 196 f.) gesehen haben. Derselbe Bestandteil ist später zum Stolperstein für Anhänger und Gegner der Ethik Kants geworden. Er soll deshalb hier in einer ersten Erörterung vorgestellt werden. Schon im ersten Hauptstück der Analytik hat Kant die Glückseligkeit als „das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet“, definiert. Infolgedessen ist „das Prinzip, diese sich zum Bestimmungsgrund der Willkür zu machen, das Prinzip der Selbstliebe“ (A 40 f.). Diese Auffassung von der Glückseligkeit liegt offenkundig auf der Linie der wiederholten Aussagen im selben Hauptstück, denen zufolge „alle materialen [d. h. inhaltlichen] praktischen Prinzipien … unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit gehören“ (A 40). In den Überlegungen, die das Postulat Gottes vorbereiten, heißt es: „Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht“ (A 224). Daß Kant unter Glückseligkeit zumindest hauptsächlich das Gute im Sinne des Angenehmen meint, wird u. a. aus folgender Aussage zu Beginn des Triebfedern-Hauptstücks deutlich: „Alle Neigungen zusammen (die auch wohl in ein erträgliches System gebracht werden können, und deren Befriedigung alsdann eigene Glückseligkeit heißt) machen die Selbstsucht aus“ (A 129). Immer wieder hebt Kant hervor, daß die so verstandene Glückseligkeit empirisch bedingt ist – es kommt in ihr „auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an“ (A 46). Dasselbe Bild bot schon die GMS, in der es hieß: „Alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, sind insgesamt empirisch, d. i. müssen aus der Erfahrung entlehnt werden“. Demnach gilt die Glückseligkeit für Kant als „nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft“ (A 46 f. = IV 418). Dieses Ideal stellt eine Absicht dar, die alle vernünftigen Wesen „nach einer Naturnotwendigkeit haben“ (A 42 = IV 415). Von Bedeutung ist, daß Kant wiederholte Male von einer „Glückseligkeit in der Welt“ (KrV A 810) spricht, bzw. von einem höchsten Gut, das „in der Welt“ möglich ist (KpV A 225; KU A 424; Religion B XI Fn = VI 6). Wenn er dann in allen Fassungen seines moralischen Gottesbeweises Gott als denjenigen postuliert, der als „Ursache der Natur“ (KrV
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A 810) imstande ist, die Natur so zu lenken, daß sie diese Glückseligkeit für den Menschen herbeiführt, so bestätigt er, daß die genannte Glückseligkeit eine (zumindest hauptsächlich) materielle ist, weil ja die Naturursachen (direkt) nur materielle Güter bewirken können, die, indem sie Neigungen und Bedürfnisse erfüllen, ein Gefühl der Lust und Annehmlichkeit hervorrufen. Es ist nicht von ungefähr, daß Kant an der Stelle, wo er zum ersten Mal die Auflösung der Antinomie der reinen praktischen Vernunft nennt, von der „vermittelst eines intelligibelen Urhebers der Natur“ ermöglichten „Glückseligkeit als Wirkung in der Sinnenwelt“ (A 207) spricht – obwohl man zugeben muß, daß diese Redewendung nicht notwendig bedeutet, daß die Glückseligkeit in der Welt allein aus materiellen Gütern besteht.240 Über das Problem, worin die Glückseligkeit besteht, die von der Moralität selbst verlangt wird, soll weiter unten im Verlauf des Kommentars zum Text näher gesprochen werden, weil sowohl der Ansatz des Postulats Gottes wie auch gewisser Aussagen in den Argumentationen Kants zeigen, daß er, trotz seiner zumindest mißverständlichen Umschreibungen der Glückseligkeit, wie soeben belegt wurde, diese nicht auf eine „unbedingte (!) Totalität“ materieller Güter reduziert, also auf ein „bonum delectabile secundum sensum“.
3. Die Rezeption der Kantischen Lehre vom höchsten Gut Zur weiteren Klärung des höchsten Gutes als umfassendem Ziel des freien und verantwortlichen Handelns des Menschen soll untersucht werden, wie diese Lehre der Dialektik von den Kant-Forschern, ja überhaupt in der Kultur nach Kant, verstanden und rezipiert wurde. Abgesehen von einem Teil der zeitgenössischen Autoren, die sich naiv-unkritisch die Ethik Kants zu eigen machten, wurde die Lehre vom höchsten Gut wegen der Glückseligkeit als dessen Komponente von Anfang an zunehmend einer scharfen Kritik unterzogen. So z. B. meinte schon 1795 Gottlob Ernst Schulze, wenn das höchste Gut Endzweck sei, werde die Sittlichkeit zur „Glückseligkeits-Klugheits-Lehre“ erniedrigt.241 240 Damit entferne ich mich von Albrecht, der die These vertritt: „Die Glückseligkeit ist in der KpV offensichtlich empirisches Glück; für die menschliche Vorstellung hat sie ihren Ort ausschließlich in der Sinnenwelt“, insofern er seine These in einem exklusiven Sinne verstanden wissen will. Er fügt dann hinzu „daß es für den Kant der KpV die Möglichkeit einer ‘intellektuellen’ oder ‘moralischen’ (nichtsinnlichen) Glückseligkeit nicht gibt“ (Kants Antinomie, 51 f). Es stimmt, daß Kant nur eine Glückseligkeit in der Welt kennt, und zwar auch dort, wo er von der Unsterblichkeit der Seele spricht. Daraus aber folgt – logisch – nicht, daß diese Glückseligkeit nur in der Erfüllung unserer Bedürfnisse und sinnlichen Neigungen bestehe. Freilich wäre die Verwirklichung geistiger Elemente der Glückseligkeit, die der Mensch in seinem Erdenleben nicht schaffen konnte, nicht durch die von Gott geleitete Natur vermittelt. Ich glaube, daß man einen solchen reduktiven Begriff der Glückseligkeit Kant nicht zuschreiben kann, trotz gelegentlicher bedenklicher Aussagen wie: „Es kommt … was unsere Natur als sinnlicher Wesen betrifft, alles auf unsere Glückseligkeit an“ (A 107). 241 Einige Bemerkungen über Kants philosophische Religionslehre, 33, zitiert bei M. Albrecht, Kants Antinomie, 44.
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Obwohl der moralische Gottesbeweis, wenn auch in modifizierter Form, durch das ganze 19. Jahrhundert vertreten wurde, erneuerte niemand den Ansatz Kants beim Begriff des höchsten Gutes. Aus dem oft erhobenen Vorwurf, Kant falle selbst in den von ihm bekämpften Eudämonismus zurück, ist die besonders einprägsame Formulierung Schopenhauers zu zitieren: „Die Glückseligkeit im höchsten Gut soll nun zwar nicht eigentlich das Motiv zur Tugend sein: dennoch steht sie da, wie ein geheimer Artikel, dessen Anwesenheit alles Übrige zu einem bloßen Scheinvertrag macht: sie ist nicht eigentlich der Lohn der Tugend, aber doch eine freiwillige Gabe, zu der die Tugend, nach ausgestandener Arbeit, verstohlen die Hand offen hält“242. Für Adickes läßt Kant mit diesen Gedanken vom höchsten Gut „den ganzen Glückseligkeitsschwindel“ wieder herein.243 Die Sorge um die „Reinhaltung der moralischen Autonomie“ war besonders stark bei Hermann Cohen, der in seinem Werk „Kants Begründung der Ethik“ Fichte pries, der in dem Austeilen einer der Glückswürdigkeit entsprechenden Glückseligkeit „den Grund aller religiösen Verirrungen, den Gott der Selbstsucht, den Geber des Genusses“ erkannte. Deswegen lehnte er Kants Schritt von der Moral zur Religion über die Glückseligkeitslehre und die darauf basierende Postulatenlehre ab.244 In der Kritik der Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Gutes und damit als „Endzweck“ der Moralität waren sich Vertreter und Gegner der Ethik Kants weitgehend einig. Schon in der nachkantischen Philosophie, und zwar auch bei den Autoren, die sich grundsätzlich zur Kantischen Konzeption der Ethik bekannten, nahm das Interesse am Begriff des höchsten Gutes rapide ab. Dies fällt besonders auf, wenn man dieses (Des-)Interesse mit der früheren Tradition bis Wolff vergleicht. Es wundert deshalb nicht, daß schließlich sogar das Thema eines höchsten, letzten Zieles unseres moralischen Handelns, vor allem wenn dies als transzendent verstanden wird, in der Ethik verschwand – was freilich nicht nur wegen der philosophischen Schwierigkeiten geschah, die dieses Thema mit sich bringt, sondern auch wegen des Horizontes der Immanenz, der die gegenwärtige Kultur kennzeichnet.245
242 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, 621, in: A. Hübscher (Hrsg.), A. Schopenhauer. Sämtliche Werke, Bd. II. 243 E. Adickes, „Die bewegenden Kräfte in Kants philosophischer Entwicklung und die beiden Pole seines Systems“, in: KS 1 (1897) 396. 244 H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, 1871, 21910 (erw.), 360, und überhaupt das Kapitel über „Die Glückseligkeit des höchsten Gutes und die Postulate“ 344–369. 245 H. Schmitz geht in seinem Buch „Was sollte Kant?“ (1989) auf das Postulat Gottes in seiner Beziehung zur Ethik Kants ein (vgl. Kapitel II: „Der zynische Eudämonismus und die Achtung vor dem Gesetz“). Der Vf. zieht insbesondere die Fassung des moralischen Gottesbeweises von 1781 in Betracht und geht mit einer harschen Polemik gegen den dort vertretenen „zynischen Eudämonismus“ (95), wie er ihn nennt, ins Gericht. Gott werde von Kant als „Polizist“ und „Zahlmeister“ angestellt, nämlich „auf das Amt fixiert, dem einzelnen eine dessen Tugend genau angemessene Portion von Glückseligkeit zu besorgen“ (365, 84, 91). Mit Entrüstung wird auf das „merkantile Gepräge“ hingewiesen, das bei Kant „das Dreiecksverhältnis zwischen dem Tugendhaften, Gott und dem Sittengesetz“ kennzeichnet (87).
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4. Das höchste Gut und die Sinnhaftigkeit des Lebens Es soll hier versucht werden, die sachliche Begründetheit der Lehre Kants vom höchsten Gut zu zeigen, trotz aller Zweideutigkeiten und Unzulänglichkeiten, mit denen diese Lehre bei ihm behaftet ist. Für Kant gab es zwei Gründe, die ihm nahelegten, den Begriff vom höchsten Gut beiseite zu lassen, wie er es tatsächlich in seinem ersten Werk über Ethik getan hatte. Ein erster Grund war der Ansatz für seine Reflexion über die praktische Vernunft, nämlich der Ansatz, der einer Gesetzesethik eigen ist. Kant hat ja eine extrem konzipierte Fassung einer solchen Ethik vorgelegt. Eine Gesetzesethik, in deren Mitte ein rein formales Gesetz liegt und zusammen mit ihm eine absolut verstandene Autonomie, schließt von vornherein aus, daß in ihr dem Gegenstand und dem Ziel des Handelns (zumal wenn der Menschen bei der Verwirklichung des Gegenstandes bzw. bei der Erreichung dieses Zieles von einem anderen abhängen muß) eine signifikante Rolle zugeschrieben wird. Ein zweiter Grund war, daß die rigoristische Prägung seiner Ethik es ihm noch schwerer machte, das höchste Gut als Ziel einer so verstandenen moralischen Praxis anzuerkennen. Daß Kant selbst sich der Schwierigkeiten bewußt war, die gegen die Rolle sprechen, die er dem höchsten Gut in der Dialektik der KpV zuteilt, wird unübersehbar deutlich an seinen drei unterschiedlichen, nacheinander versuchten Fassungen des moralischen Gottesbeweises, dessen springender Punkt gerade im „unzertrennlichen“ Zusammenhang von Sittlichkeit und Glückseligkeit (KrV A 804), also eben im höchsten Gut, liegt. Einem solchen Unternehmen gegen die Logik seines eigenen Konzepts der Ethik liegt die Einsicht zugrunde, daß die unbedingte Pflicht, in die der Mensch durch die moralische Dimension seines Geistes genommen wird, unmöglich ist, wenn letztes Ziel dieser Verpflichtung das Nichts ist. Das moralische Gesetz erlegt ja dem Subjekt eine eigentümliche Notwendigkeit auf. Es ist nicht die Notwendigkeit eines Naturgesetzes, der die inframenschlichen Dinge sich nicht entziehen können. Die Notwendigkeit, die das moralische Gesetz dem Menschen auferlegt, ist ihm in seiner Freiheit überantwortet: Es hängt von ihm ab, dieser Notwendigkeit zu folgen oder nicht. Das moralische Gesetz appelliert an die Einsicht und die Freiheit des Menschen, das, was er in der konkreten Situation als gut erkannt hat, zu tun, bzw. das, was er als böse erkannt hat, zu unterlassen. Solange die Einsicht in das Gute erhalten bleibt, vermag der Mensch nur irrationalerweise (d. h. ohne zureichenden Grund) und damit schuldhaft, sich dem Anspruch des Gesetzes zu entziehen. Es ist nun die Frage, ob es einen Sinn hat, zu einem bestimmten Verhalten absolut verpflichtet zu werden, wenn dieses Verhalten sowie sein Gegenteil letztlich auf ein und dasselbe Resultat hinauslaufen, nämlich auf die völlige und unwiderrufliche Vernichtung der menschlichen Person, also auf das Nichts. Worin gründet dann die einen absoluten Charakter aufweisende Differenz von Gut und Böse? Wo nun kein Zweck ist, da ist auch kein Sinn. Die Kantische Frage nach dem höchsten Gut als Frage nach dem Zusammenhang von Sittlichkeit und Glückseligkeit führt schließlich zu der Frage, ob es einen Sinn hat, zum Nichts hin absolut in Anspruch genommen zu werden, ja ob dies überhaupt möglich ist.
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Freilich weist die Frage nach der Sinnhaftigkeit sittlichen Handelns mehrere Stufen auf. Ein nach dem Common Sense gutes zwischenmenschliches Verhalten hat zunächst, auch abgesehen vom höchsten Gut im Sinne eines letzten Zieles, seinen Sinn und Wert. Aber was für ein Wert ist das? Ein durch und durch begrenzter, relativer Wert, der als solcher nicht jene Unbedingtheit rechtfertigen kann, mit der sich das moralische Gesetz in unserem Gewissen kund tut. Sinn und „Rechtfertigung“ eines solchen Anspruchs kann nicht adäquat durch eine Zerstückelung des menschlichen Lebens in unzählig viele Momente erklärt werden, die keine innere Einheit bilden und dem Leben als ganzem keinen tragenden Sinn verleihen. Die Frage nach dem Sinn des moralischen Gesetzes ist in Wahrheit die Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt und damit der menschlichen Person – und diese Frage hängt von der Frage nach dem Endzweck der menschlichen Existenz ab. Das bloße sich auf die gute Tat Berufen, die ihren Wert bereits in sich trägt, vermag nicht die Kluft zu füllen zwischen der Unbedingtheit des moralischen Gesetzes und der Endlichkeit und Vergänglichkeit des Guten, das hier und jetzt zu tun ist, wenn dieses endliche Gute nicht vom Wert der menschlichen Person aufgrund ihrer transzendenten Dimension und damit im transzendenten Ziel der Person umfangen ist. Mag derjenige, der einen an sich endlichen Wert als unbedingt verpflichtend erfährt und dieser Verpflichtung gehorcht, nicht an die transzendente Dimension des Lebens denken, ja sie sogar in seiner Weltanschauung verneinen; in der Tat aber bejaht er, unthematisch, durch seinen guten Willen mehr als das, was er kategorial erkennt und bejaht. Kant hat in der Analytik der KpV seine Theorie des Sittlichen streng gemäß dem Prinzip entwickelt, daß das moralische Gesetz das Gesetz unserer praktischen Vernunft ist, die auf keine höhere Instanz verweist, und daß die Gutheit des Wollens und Tuns nicht von einem uns vorgegebenen Gegenstand oder Ziel abhängt. Wenn er sich aber nach Abschluß seiner Theorie auf Realitäten wie Gott und die Unsterblichkeit der Seele beruft – lauter transzendente Dinge jenseits jener „herkulischen Säule“, die die Natur selbst unserer Vernunft aufgestellt hat (KrV A 395) –, so steckt in seinem unerwarteten, unlogischen Vorgehen eine Einsicht der Art, wie ich hier versucht habe, auf den Begriff zu bringen. Es ist die Einsicht, die aus der Frage erwächst, ob der Mensch überhaupt für bestimmte Handlungen absolut in Anspruch genommen werden kann, wenn diese Handlungen und ihr Gegenteil letztlich auf ein und dasselbe alles nivellierende Nichts hinausgehen. Kant hat immer wieder mit Nachdruck den völlig uneigennützigen Charakter des guten Willens hervorgehoben (vgl. A 266, KU B 427, „Gemeinspruch“ A 211 f. = VIII 279 usw.), und wir haben gesehen, daß Anhänger und Gegner seiner Ethik gerade um der Reinhaltung der Moral willen die Lehre vom höchsten Gut verworfen haben. Wenn Kant dennoch, seiner eigenen Ethik-Auffassung zum Trotz, am höchsten Gut festgehalten hat, so deshalb, weil er doch zwischen Uneigennützigkeit und Sinnlosigkeit zu unterscheiden wußte. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die vermeintlich höhere Moral ohne höchstes Gut als Verneinung der Würde des Menschen als Person, dessen Freiheit und moralischer Ernst der endgültigen Nichtigkeit ausgeliefert wird. Diese Einsicht Kants kommt ziemlich deutlich im dramatischen Beispiel des Spinoza
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zum Vorschein, das er in der dritten Fassung seines Gottespostulats gebracht hat (KU B 427 f.). In den „Reflexionen“ wie in den Vorlesungen Kants kommt mehrmals der Gedanke der Sinnlosigkeit einer Moralität ohne Gott und das höchste Gut vor. R 4256 (XVII 485): „Wenn man Gott leugnet, so ist der Tugendhafte ein Narr und der kluge Mann ein Schelm“, R 5477 (XVIII 193): „Die bloße Würdigkeit [glücklich zu sein] kann nicht bewegen ohne Hoffnung, daß sie auch des Zweckes teilhaftig machen werde; also ist es eine notwendige moralische Hypothesis, eine andere Welt anzunehmen. Wer sie nicht annimmt, verfällt in ein absurdum practicum.“246 In der Metaphysik Pölitz heißt es: „Nehme ich keinen Gott an; so habe ich … nach Grundsätzen gehandelt, wie ein Narr… Nimmst du die moralischen Gesetze an, und handelst rechtschaffen; so hängst du einer Vorschrift nach, die dir keine Glückseligkeit erwerben kann, und die Tugend ist nur eine Chimäre; also verfällst du in ein absurdum pragmaticum und handelst als ein Tor“ (XXVIII 320). In der Metaphysik Volckmann lesen wir: „Wenn kein Gott und eine andere Welt ist, so muß ich entweder sehr standhaft die Tugendregeln befolgen, aber alsdenn bin ich ein tugendhafter Phantast, denn ich ginge der Glückseligkeit nach ohne zu hoffen, ihrer teilhaftig zu werden“ (XXVIII 385 f.).
5. Das Sittengesetz verpflichtet zu dem, was für den Menschen gut ist Der Vorwurf, der in der Lehre von einer „unzertrennlichen“ Verbindung von Tugend und Glückseligkeit eine Lohnmoral-Lehre sieht, kann nur durch eine präzise Analyse dessen, wozu das Sittengesetz uns verpflichtet, in seiner Unhaltbarkeit entlarvt werden. Die den Menschen konstituierende moralische Intentionalität – Kantisch gesprochen: die rein praktische Vernunft – ist das Streben nach dem Sein als gut, d. h. als der Anerkennung, Achtung und tätigen Förderung von seiten dessen wert, der zu ihm eine freie Stellung einnehmen kann; wobei das Sein in dem Maße gut ist, wie es in der konkreten Situation zur Vervollkommnung der menschlichen Person beiträgt. In einer solchen tätigen Anerkennung des Seins besteht der moralische Wert, dessen der Mensch aufgrund seiner Vernunft und Freiheit fähig ist, und weswegen er Endzweck der Schöpfung ist (vgl. KU § 84). Der gute Wille ist deshalb gut, weil und insofern er Wille des Guten bzw. zum Guten ist, d. h. weil er das, was objektiv gut ist, bejaht, wählt und ausführt. Damit ist auch gesagt, daß die Pflicht bejahen und das Gute bejahen auf dasselbe hinauslaufen: das eine Mal von der subjektiven Seite her gesehen, das andere Mal von der objektiven Seite. Wenn es nun das Gute ist, das das Recht hat, eine „Nötigung“ auf unseren nicht heiligen Willen auszuüben (GMS A 76 = IV 434; A 86 = IV 439, KpV A 150 f. u. ö.), so sehe 246 In der Tat würde die These einer absoluten Verpflichtung des Menschen, das ihm innewohnende moralische Gesetz einzuhalten, auch wenn er auf jeden Fall zum Nichts verdammt ist, der These gleichkommen, der Mensch sei vom Wesen her verpflichtet, als ein Held des Absurden zu leben.
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ich nicht ein, wieso ein Mensch gegen die Reinheit der Gesinnung verstößt, wenn er sich die Motivation zu eigen macht, die das Gebot selbst begründet, oder warum es besser sein soll, wegen der Pflicht als Nötigung denn wegen der Pflicht als Verpflichtung zum Guten zu handeln, oder schließlich wieso ein Mensch um der reinen Gesinnung willen seine eigene Person von der Ausrichtung der moralischen Intentionalität auf das Gute, und dies bedeutet auf die Vervollkommnung des Subjektes, ausnehmen soll. Die metaphysische Frage, worin der Imperativ gründet und worauf er abzielt, und die Frage nach der Gewissensbildung im Sinne der Bekämpfung des in uns tief sitzenden Egoismus, stehen auf zwei verschiedenen Blättern. Wenn Kant schreibt „Nicht jeder Zweck ist moralisch (z. B. nicht der der eigenen Glückseligkeit), sondern dieser muß uneigennützig sein“ („Gemeinspruch“ A 212 Fn = VIII 279 f.), so ist zu fragen, was er unter Glückseligkeit versteht. Wenn die Glückseligkeit in dem besteht, was in Wahrheit für den Menschen gut ist, und wenn das Sittengesetz genau das Gesetz ist, das den Menschen als freies Wesen dazu verpflichtet, Urheber seines eigenen Gutes zu sein, so ist der Ausschluß der eigenen Glückseligkeit aus der Absicht des handelnden Subjekts sinnlos. Die Perspektive der Moral ist die des Subjektes selbst, der „ersten Person“, die in seiner Verantwortung von niemandem ersetzt werden kann. Die Person als leib-geistige Einheit ist in ihrem vernunftgeleiteten Streben nach dem, was für sie in Wahrheit gut ist, zugleich für das wahre Gut der anderen offen (weil ja das Kriterium des Guten nicht in der Individualität als solcher liegt, wie aus der Erörterung der Allgemeinheit des moralischen Imperativs deutlich geworden sein dürfte), wie schwer auch immer in concreto es sein mag, dies zu ermitteln und in die Praxis umzusetzen.247 Die Frage, wozu das moralische Gesetz als das Gesetz des Wesens des Menschen uns verpflichtet, ist die Frage nach der ontologischen Dimension des Menschen selbst als moralischen Wesens. Die These, der zufolge endgültiges Ziel der Moralität das höchste Gut (die Glückseligkeit) ist, will sagen, daß der moralische Wert die Vergänglichkeit überdauert, aufgehoben, d. h. in jenem Zustand der menschlichen Person vollendet und aufbewahrt, den die philosophische Reflexion zur Zeit Kants mit dem der Theologie entlehnten Terminus „Seligkeit“ meinte.248 Anders ausgedrückt: Die Glückseligkeit ist die Vollgestalt der Moralität selbst, das Sein des moralisch bewährten Menschen, das „geglückte“ Leben des Menschen in seiner transzendenten Dimension. Voraussetzungen dafür sind die zwei „Postulate“, auf die der moralische Beweis schließt: Unsterblichkeit des Menschen und Existenz Gottes. Die Glückseligkeit ist der Mensch selbst als geglückte Person, zu der er sich durch die Erfüllung der Forderungen des Gesetzes seines Wesens gemacht hat. Das höchste Gut erweist sich bei genauem Hinsehen als die Sittlichkeit selbst, die dorthin gelangt ist, wohin sie von Anfang an, vom Erwachen des moralischen Gesetzes Vgl. M. Rhonheimer, Die Perspektive der Moral, 15–18. Kant spricht von einer „seligen Zukunft“ als einem „von allen zufälligen Ursachen der Welt unabhängigen vollständigen Wohl“ (A 222 Fn). Die Seligkeit steht bei Kant in Verbindung mit der Heiligkeit: A 232. 247 248
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im Menschen an, unterwegs war. Der moralische Wert, gerade weil absoluter Wert, geht in das Sein der unsterblichen Person ein. Das Gesetz, das den Menschen „in statu viae“ in die oft genug harte Pflicht genommen hat, offenbart sich „in statu termini“, wenn der Mensch hier auf Erden sich ihm unterworfen hat, als das vollkommene Gut, als des Menschen ewige Seligkeit, zu der das moralische Gesetz ihn angeleitet hat. Der doppelte Charakter des Menschen als moralisches Wesen hat seine Entsprechung in der Art und Weise, wie Kant durch seine Postulatenlehre die Verwirklichung des höchsten Gutes aufgefaßt hat. Der Mensch ist a) ein sich selbst überantwortetes Wesen: Er ist frei und verantwortlich; zugleich aber b) erweist sich seine mit dem Merkmal der Kontingenz gekennzeichnete Autonomie als eine ihm geschenkte Autonomie. Entsprechendes gilt für den Menschen in seinem überirdischen Endzustand: a’) Die „Glückseligkeit“ ist einerseits die Errungenschaft der Sittlichkeit, insofern die Sittlichkeit in der freien Vervollkommnung des Menschen besteht (denn das moralische Leben ist nichts anderes als ein Leben, das das verwirklicht, was für den Menschen gut ist); b’) andererseits ist die Glückseligkeit als metahistorische Daseinsweise der zur Vollendung gelangten Person Gabe desselben Gottes, von dem der Mensch sein Leben und das Gesetz dieses Lebens für die Bewährungszeit erhalten hat. Als Fazit kann folgendes gesagt werden: Die Analyse des Zusammenhanges von moralischem Gesetz und höchstem Gut bzw. Glückseligkeit zeigt, daß der Vorwurf einer „Lohnmoral“ gegen eine Ethik, welche diesen Zusammenhang vertritt, völlig daneben greift. Es geht in der Tat nicht um ein halbherzig bejahtes moralisches Gesetz, nicht um etwas anderes als das Gesetz selbst, sondern um das Wesen, also um den ontologischen Sinn und die ontologische Dimension dieses Gesetzes des Menschen. Die Glückseligkeit ist der Mensch selbst, der das geworden ist, was er gemäß dem Gesetz seines Wesens sein soll – eine Leistung seiner Freiheit und zugleich ein Geschenk desjenigen, der ihn ins Dasein gerufen und zur Seligkeit bestimmt hat. Das Gesagte über den doppelten Charakter des höchsten Guts ermöglicht eine adäquate Würdigung der Idee der Hoffnung, von der Kant im Kontext seiner Lehre vom höchsten Gut spricht. Kant weist mehrmals darauf hin, daß Tugend nie unser fester Besitz ist, sondern ein dauernd erkämpftes Streben nach jenem Urbild, in dem der Wille schon von selbst dem moralischen Gesetz vollkommen konform ist: dem „heiligen Willen“ Gottes (GMS A 39 = IV 414; KpV A 57 f.). Dem möglichen, schuldhaften Versagen unseres Willens, der den Weg der Tugend verläßt, setzt Kant die „tröstende Hoffnung, wenn gleich nicht Gewißheit“ (A 222 Fn) eines beharrlichen Fortschritts im Guten entgegen. Gerade weil die tatsächliche Verwirklichung des höchsten Gutes von Gott abhängt, spricht Kant im Postulat Gottes von der Glückseligkeit als „Gegenstand der Hoffnung“ (A 232; vgl. auch 230 Fn, 234). Erst nachdem im Menschen der Wunsch nach dem höchsten Gut als ein „moralischer Wunsch“ erweckt worden ist – ein Wunsch, der sich auf das Gebot, das höchste Gut zu befördern, gründet (A 225) – und zum Behuf dieses Wunsches „der Schritt zur Religion geschehen ist“, hebt die Hoffnung auf dieses Gut an (A 235), oder, wie sich Kant kurz vorher ausgedrückt hat, wenn der Moral als Lehre, wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen, die Religion hinzukommt, „tritt auch die Hoffnung ein, der Glückseligkeit
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… teilhaftig zu werden“ (A 234). Der Weg der Einhaltung des moralischen Gesetzes führt den Menschen zur Religion, weil nur von Gott her der Mensch hoffen kann, daß sein nie zu Ende gehender Fortschritt in der Tugend als eine völlige Angemessenheit zum moralischen Gesetz angenommen wird und damit als jene Heiligkeit, die Bedingung für die „Totalität“ des Wohls (A 223 Fn), d. h. für die Seligkeit ist. Mit der Aussage, daß „das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts … zur Religion führt“ (A 233) kündigt Kant seine Auffassung der Religion an, und zwar so, daß nicht nur die Moral zur Religion führt, sondern auch, daß die Religion in der Moral aufgeht, wie Kant selbst einige Jahre später in seiner Religionsschrift ausgeführt hat.
6. Eine verspätete Wiedergewinnung des Gutes als Gegenstand und Ziel menschlichen Handelns in der Dialektik Als Abschluß der bisherigen Ausführungen über den Begriff des höchsten Gutes im Rahmen der Dialektik der KpV mag die Frage angebracht sein, wieso Kant erst nach Beendigung seiner Theorie des Sittlichen auf diesen Begriff gekommen ist, der doch nach seinem Dafürhalten „unzertrennlich“ mit dem der Sittlichkeit verbunden ist (KrV A 809). Ich finde keine andere Erklärung als die Perspektive, unter der er an die sittliche Erfahrung des Menschen herangetreten ist, nämlich die Perspektive des moralischen Gesetzes. Es war die Perspektive, die sich in der Neuzeit durchgesetzt hatte, zu der aber bereits die mittelalterlichen Denker in ihrer Moral des guten Lebens wesentliche Elemente beigesteuert hatten.249 Für die antike Tugendethik lag es nahe und auf der Linie des Themas ihres zentralen Interesses – das Thema des guten Lebens –, die Reflexion auf das „höchste Gut“ zu erweitern, trotz der beträchtlichen Schwierigkeiten bezüglich einer solchen Erweiterung und Vervollständigung aufgrund der unzulänglichen Einsicht in das Los des Menschen jenseits des Erdenlebens. In dieser Hinsicht bedeutete die christliche Offenbarung mit ihrer Lehre über einen personalen transzendenten Schöpfer, der zugleich Gesetzgeber und Ziel des Menschen ist, für eine rein philosophische Ethik einen entscheidenden Beitrag. Die klassische Lehre von Thomas über das letzte Ziel des Menschen (Summa theol. I. II., q. 1 ff.) wie über das Sittengesetz als im göttlichen ewigen Gesetz verankert (ebd. I. II., q. 90 ff.) enthält in ihrem theologischen Kontext einen philosophischen Gehalt, der zusammen mit der mittelalterlichen Tradition insgesamt in der modernen Ethik der Normen weiter gewirkt hat. Kant hat in seiner Theorie des Sittlichen den Unterschied im Ansatz der modernen im Vergleich zur klassischen Ethik radikalisiert (ein Unterschied, der aber an sich keinen prinzipiellen Gegensatz bedeutet): Die sittliche Handlung wurde analysiert und nicht in 249 Thomas hat die Aristotelische Tugendlehre vor allem „um eine Theorie der Prinzipien praktischer Vernunft erweitert“ (M. Rhonheimer, Die Perspektive der Moral, 13), nämlich vor allem um die Theorie des Gesetzes und des Gewissens. Im Hinblick auf das moralische Gesetz war die Reflexion in der klassischen Tugendethik, vor allem bei Aristoteles, sehr beschränkt.
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ihrer Ausrichtung auf das Gute verstanden, sondern als eine Handlung, die um des Gesetzes willen getan werden soll. Das moralische Gesetz wurde von Kant zunächst als die Verpflichtung zu einem bestimmten Modus des Handelns aufgefaßt, dem Modus der Allgemeinheit, der am deutlichsten unserem Egoismus entgegensteht. Die an sich sinnvolle Unterscheidung zwischen „pflichtmäßiger“ Handlung und Handlung aus Pflicht, die Kant immer wieder einschärft, erhält deshalb bei ihm einen besonderen Sinn. Wenn Kant dennoch den Übergang vom „Wie“ der Handlung zum „Was“ derselben für unproblematisch hält, so weil er de facto unausgesprochen auf das traditionelle Prinzip des Menschen als Norm der Moralität rekurriert – in der Begrifflichkeit Kants: auf das Prinzip des Menschen als Zwecks an sich selbst.250 Zum Formalismus mit seinem Ausschluß des Objektes von der Funktion einer ersten Quelle der moralischen Qualifikation der Handlung kam das aufklärerische Prinzip der Autonomie hinzu, das als Unabhängigkeit von jeder vorgegebenen und damit die Freiheit des Menschen einschränkenden (?!) Realität verstanden wurde. Erst nachdem Kant diese Position eingenommen hatte, versuchte er das Objekt der Moralität, das Gute, in seine Theorie einzubeziehen. Dies geschah zuerst im zweiten Hauptstück der Analytik durch die Bestimmung des Begriffes des Guten nach dem moralischen Gesetz und durch dasselbe (A 110). Dasselbe, im ganzen Umfang, geschieht in der Dialektik mit dem Begriff der „unbedingten Totalität“ des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, und zwar unter einer Perspektive, die diesen Gegenstand im Leben des Menschen nach der irdischen Phase angesiedelt sieht, auch wenn Kant aufgrund seiner sehr unbestimmten Vorstellung von der Fortdauer der menschlichen Person immer wieder vom höchsten Gut in der Welt spricht. Hier scheint es, daß es Kant gelungen ist anzuerkennen, daß die Verbindlichkeit des Gesetzes, auf der er im ersten Hauptstück der Analytik sehr bestanden hat, das Gegenstück zur Verbindlichkeit des Guten als Gegenstand des Wollens ist, daß sie also im Guten ihre „Rechtfertigung“ findet. Denn im Gegensatz zur Analytik wird hier das Gebot, um das die Dialektik der reinen praktischen Vernunft kreist, nicht durch seine Allgemeinheit definiert, sondern durch seinen Gegenstand: „Wir sollen das höchste Gut … zu befördern suchen“ (A 225). Aber diese Überwindung des Formalismus geschieht auch hier nur halbherzig, wie wir schon in den letzten zwei Absätzen des einleitenden Abschnittes (A 196 f.) gesehen haben. Wir werden im weiteren Verlauf des Kommentars sehen, daß die längst überfällige Überwindung von Formalismus und Autonomie, die logisch im Postulat Gottes (dem Kern der Dialektik der KpV) impliziert ist, in einer Pendelbewegung von Bejahung und Verneinung geschieht, die zu keiner endgültigen Position gelangt. In der Tat schrieb Kant noch im Jahre 1793: „Bei der Frage vom Prinzip der Moral kann also die Lehre vom höchsten Gut … ganz übergangen und beiseite gesetzt werden“ („Gemeinspruch“, A 213 f. = VIII 280). 250 Denn die Allgemeinheit des Gesetzes wird, selbstverständlich, auf alle Menschen bezogen. Aber Kant thematisiert das Faktum nicht, daß dadurch das Kriterium für Gut und Böse nicht mehr bloß formal ist.
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A 199: Abs. 2. Die Bestimmung des höchsten Gutes im vorigen Abschnitt als Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit, bei der Kant hervorgehoben hat, daß Tugend die Bedingung der gemeinten Glückseligkeit ist, findet erst im Abs. 6 mit der Frage nach der Möglichkeit des höchsten Gutes ihre Fortsetzung. Dazwischen liegt ein historischer Exkurs darüber, wie die „alten griechischen Schulen“ die Verknüpfung beider Bestandteile des höchsten Gutes verstanden haben. Durch diese Auseinandersetzung mit den Alten, die bei Kant schon in früheren Reflexionen vorgebildet ist,251 wird weiter geklärt, was genau diese Bestandteile sind und wie sie eine Einheit bilden. Eines steht aus dem ersten Abs. fest: Tugend und Glückseligkeit sind im höchsten Gut wie Bedingung und Bedingtes verbunden; dies wird zu Beginn des Abs. 2 als Verknüpfung von Grund und Folge genannt. Mehr noch, es handelt sich um die Verknüpfung von „äußerst ungleichartigen“ Momenten (Abs. 4), wie die in der Analytik stark hervorgehobene Unterscheidung von Glückseligkeitslehre und Sittenlehre schon nahelegt (A 165; auch unten A 234). Zwei Möglichkeiten kommen in Frage: Entweder ist die Einheit beider Bestandteile analytisch, d. h. eine logische Verknüpfung gemäß dem Identitätsprinzip, oder aber ist sie synthetisch gemäß dem Kausalitätsprinzip.252 Das heißt also: Tugend kann mit Glückseligkeit so verbunden sein, daß a) das Streben nach Tugend und die „vernünftige (!) Bewerbung um Glückseligkeit“ identische Handlungen sind, die deshalb nach ein und derselben Maxime geschehen, oder b) die Tugend etwas Unterschiedenes von der Glückseligkeit ist, so wie die Ursache etwas Unterschiedenes von ihrer Wirkung ist. A 200–202: Abs. 3–5. Eine analytische Verknüpfung beider Bestandteile des höchsten Gutes sieht Kant in den alten Schulen der Epikureer und der Stoiker. Diese zwei Traditionen der hellenistisch-römischen Philosophie, deren Bedeutung vor allem im Bereich der Ethik lag, werden von Kant auch deswegen gerne zusammen in Betracht gezogen, weil er ihren Gegensatz im Grundprinzip der Moral aufschlußreich hinsichtlich der Bestimmung der eigenen Position findet. Außer mehreren gelegentlichen Erwähnungen geht Kant ausführlich auf sie im Abschnitt II (A 208) und im Abschnitt V (A 227–230) des vorliegenden Hauptstückes ein. Für die Epikureer bestand Tugend in der („vernünftigen“, wie im Abs. 2 antizipiert wurde) Suche nach der eigenen Glückseligkeit. Sie hielten also die Glückseligkeit schon für das ganze höchste Gut, während die Tugend in der Form der Maxime bestand, der zufolge die Glückseligkeit erreicht werden kann. Ihnen „war Klugheit soviel als Sittlichkeit“. In seiner Lehre von den drei Klassen von Imperativen nennt Kant diejenigen, die die Absicht auf Glückseligkeit betreffen, „Ratschläge der Klugheit“ (GMS A 43 = IV 416). Zu bemerken ist, daß Kant in A 208 versucht, der landläufigen VorstelVgl. Albrecht, Kants Antinomie, 89–93. „Synthetisch“ wird hier mit „real“ gleichgesetzt. An diese Gleichsetzung hält sich Kant aber nicht überall. So sind z. B. die Urteile der reinen Mathematik synthetisch (vgl. KrV, B 14–17), aber nicht sogleich real. Sie betreffen ja den Raum als Form a priori der Sinnlichkeit. 251 252
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lung des Epikureismus entgegenzutreten, indem er auf die Auffassung des „tugendhaften Epikurs“ von der Glückseligkeit näher eingeht: Dieser rechnete dazu die Ausübung des Guten sowie „Genügsamkeit und Bändigung der Neigungen“. Für die Stoiker war die Tugend das ganze höchste Gut und die Glückseligkeit der Zustand des sich seiner eigenen Tugend bewußten Subjektes. Obwohl also beide Schulen eine analytische Einheit der Elemente des höchsten Gutes vertraten, waren sie nicht einig in der Wahl des Grundelementes, das das andere enthält bzw. nach sich zieht. Damit aber vertraten sie zwei unterschiedliche Auffassungen des höchsten Gutes: Die Stoiker behaupteten, Tugend sei das ganze höchste Gut; für die Epikureer war die Glückseligkeit das höchste Gut. Kant drückt die „unendliche Weite“, die sie trennte, aus, indem er sagt, daß sie ihr eigenes Prinzip auf die ästhetische, bzw. auf die logische Ebene legten. Für die Epikureer nämlich lag die Tugend schon in der Maxime, die eigene Glückseligkeit zu befördern, für die Stoiker war die Glückseligkeit schon im Bewußtsein der eigenen Tugend enthalten. „Ästhetisch“ bedeutet hier: auf sinnliche Bedürfnisse bezogen (vgl. auch A 210 und 211), „logisch“ auf die Vernunft bezogen. In der „Logik“, Einleitung V (A 46–51 = IX 36–39) hat das Begriffspaar eine erkenntnistheoretische Bedeutung.253 A 202: Abs. 6. Bereits die Analytik hat gezeigt, daß die Maximen für die Einhaltung des moralischen Gesetzes und für die Tugend einerseits und die Maximen für die Suche nach der eigenen Glückseligkeit andererseits und damit auch die entsprechenden Wirklichkeiten „ganz ungleichartig sind“. Bei seiner Wiederaufnahme des Sachproblems stellt Kant deshalb die Frage: „Wie ist das höchste Gut“, das aus derart unterschiedlichen Wirklichkeiten zusammengesetzt ist, „praktisch möglich?“. Diese Möglichkeit zeigt sich aus der Erfahrung nicht; denn die tatsächliche Verteilung der Glückseligkeit in der Welt geschieht nicht gemäß der jeweiligen Moralität der Menschen. Die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit ist vielmehr eine Forderung der Vernunft, wie im Abs. 1 gesagt wurde, und ist damit a priori notwendig. Daß die Verbindung beider im höchsten Gut sich nicht analytisch nach dem Identitätsprinzip ergibt, wurde ebenfalls bereit geklärt. An unserer Stelle lehnt Kant nochmals beide oben erörterten „Koalitionsversuche“ ab; von besonderer Bedeutung ist die Widerlegung der diesbezüglichen Lehre der Stoiker, die er ansonst lobt, insofern sie „ihr oberstes praktisches Prinzip, nämlich die Tugend als Bedingung des höchsten Guts, ganz richtig gewählt“ haben (A 228): Für sie sei das Bewußtsein des eigenen tugendhaften Verhaltens „schon ipso facto“ die das höchste Gut konstituierende Glückseligkeit. Die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Gutes, von der oben im ersten Abs. die Rede war, ist nach Kant nicht die „Selbstzufriedenheit“, die das Bewußtsein der Tugend begleitet (A 212) und die, wie er bemerkt, „nicht Glückseligkeit heißen kann“ (A 213); sie ist nicht bloß innerlich, sondern bezeichnet den (künftigen) ganzheitlichen leiblich-geistigen Zustand des Menschen. Damit hebt Kant den Eigenwert der Glückseligkeit als eigenem Bestandteil des 253
Vgl. H. Vaihinger, Kommentar zu Kants KrV, II 118f.; I 136f.
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höchsten Gutes hervor.254 Weil also diese Verbindung voneinander verschiedener Elemente des höchsten Gutes „a priori notwendig“ ist, ist es nötig, eine „transzendentale Deduktion“ des höchsten Gutes, d. h. der „Bedingung der Möglichkeit desselben“, vorzunehmen.255
I. Die Antinomie der [reinen] praktischen Vernunft (A 204–205) Gemäß der in den vorigen drei Überschriften angekündigten „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ stellt Kant hier, nach dem Muster der ersten Kritik, eine „Antinomie“ (die deutlichste Form einer Dialektik) in bezug auf das im ersten Hauptstück eingeführte höchste Gut auf. Obwohl er bloß von „zwei Sätzen“ spricht (A 206), dürfen wir sie in Anlehnung an die KrV als Thesis und Antithesis bezeichnen. Thesis: Die Begierde nach Glückseligkeit muß die Bewegursache zu Maximen der Tugend sein. Antithesis: Die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein. Thesis und Antithesis drücken eine Kausalverknüpfung der zwei Bestandteile des höchsten Gutes aus, aber in jeweils umgekehrter Richtung. Nach der Thesis ist die Glückseligkeit, und zwar nicht im Sinne eines „Zustandes“ der Annehmlichkeit (vgl. A 224 und A 40), sondern als Streben danach, Ursache der Tugend. Dadurch nämlich, daß jemand nach der Glückseligkeit strebt, macht er sich Maximen für sein Verhalten zu eigen, die moralisch sind. Die Thesis vertritt offenkundig eine Lehre, die im Gegensatz zur Moralphilosophie steht, zumal für Kant, der in der Analytik unzählige Male gesagt hat, daß empirische Bestimmungsgründe (die alle auf die „eigene Glückseligkeit“ gerichtet sind: A 40 u.ö.) vom moralischen Gesetz fern zu halten sind. Die Antithesis geht von der Tugend (als ausgeübter Tugend) aus und behauptet, sie bringe die Glückseligkeit hervor, wohl im Sinne eines Status von Wohlbefinden, das zur Tugend in geziemender Proportion steht. Dieser zweite „Satz“ richtet eine Forderung an die Wirklichkeit, aber nicht infolge einer Erfahrung, sondern aufgrund jenes „Urteils einer unparteiischen Vernunft“ (A 199), von dem Kant in seiner Bestimmung Albrecht, Kants Antinomie, 91. In der KrV hatte Kant bestritten, daß die Begriffe und Grundsätze der Moral zur Transzendentalphilosophie gehören (A 14f./B 28f. In der zweiten Auflage wurde der Text etwas geändert), dann aber seine Auffassung der Transzendentalphilosophie stillschweigend geändert (vgl. Beck, 261 f. Fn 21). Diese Änderung zeigt sich u. a. darin, daß die zweite Kritik immer wieder den Begriffsapparat der Transzendentalphilosophie verwendet, um einzelne Probleme zu erörtern. Dies bedeutet aber nicht, daß der Kern der in der KpV ausgearbeiteten Ethik von der Transzendentalphilosophie abhängt. „Transzendentale Deduktion“ hat hier nicht den ursprünglichen Sinn von KrV A 85, nämlich als Beweis der objektiven Gültigkeit von Begriffen a priori, sondern den allgemeinen Sinn von Beweis a priori – gemäß der Tendenz Kants „transzendental“ einfach mit „a priori“ gleichzusetzen. Diese Deduktion erhält in der KpV die passendere Bezeichnung „Postulat der reinen praktischen Vernunft“ (vgl. etwa A 258: „Ich will, daß …“). 254
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des Begriffs vom höchsten Gut gesprochen hat. Die Antithesis gründet also auf der Vernunftidee der Totalität des Objektes sittlichen Handelns, ohne den Bedingungen Rechnung zu tragen, unter denen diese Aussage über die Welt der Erscheinungen möglich ist. Die Thesis wird von Kant als „schlechterdings unmöglich“ abgelehnt, nicht weil sie einen dialektischen Schluß enthalten würde, sondern einfach weil sie eine moralphilosophische Ansicht formuliert, die Kant im Analytik-Teil bereits als falsch erwiesen hat. Von ihr ist im folgenden nicht mehr die Rede, außer einer vorübergehenden Erwähnung in A 214. Der Antithesis hält Kant entgegen, daß der Erfolg unseres Handelns in der Welt nicht von unseren moralischen Gesinnungen abhängt256, sondern von unserer Kenntnis der Natur und vom Vermögen, sie zu unseren Absichten zu gebrauchen. Anders gesagt, wie sich Kant selbst mehrmals ausdrückt, die Natur richtet sich nicht nach unserer Moralität. Deshalb sei die Antithesis „auch“ unmöglich. Fazit: Trotz gelebter Tugend ist eine der Sittlichkeit proportionierte Glückseligkeit und damit die Verwirklichung des höchsten Gutes nicht zu erwarten. In seiner Ethik unterscheidet Kant mit Nachdruck zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit; zugleich aber gilt ihm die Sittlichkeit als Würdigkeit, glücklich zu sein. In diesem Sinne anerkennt er eine wesentliche Beziehung der Sittlichkeit zur Glückseligkeit, so daß er behaupten kann, daß die Moral die Lehre ist, „wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen“ (A 234). Daß der Tugendhafte der Glückseligkeit teilhaftig werden soll, ist nach Kant eine Forderung der Vernunft (A 199). Wenn er hier dennoch sagt, daß die Antithesis „auch unmöglich“ ist, so deutet er damit an, daß die Antithesis unter bestimmten Bedingungen doch wahr und so das höchste Gut möglich sein könnte. Daraus wird deutlich, daß die angekündigte Antinomie, d. h. der dialektische Charakter des Schlusses auf eine Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, nicht in den obigen zwei „Sätzen“, sondern allein in der Antithesis enthalten ist. Am Ende des Abschnittes wiederholt Kant, daß die Verwirklichung des höchsten Gutes „ein a priori notwendiges Objekt unseres Willens ist“; es ist ja „das Unbedingte“, nach dem unsere Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch sucht (A 194). Näherhin, es „hängt unzertrennlich mit dem moralischen Gesetze zusammen“. Daraus folgert Kant, daß die Unmöglichkeit des höchsten Gutes die „Falschheit“ des moralischen Gesetzes nach sich ziehen würde, d.h. „das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt“, also ebenfalls falsch wäre. Nicht nur der Inhalt dieser letzten Aussage, sondern auch die Ausdrucksweise erinnert an die erste Fassung des Postulats Gottes in der KrV. In ihm hatte Kant auf die 256 Dies gilt um so mehr vom Standpunkt des Kantischen Formalismus, für den der gute Wille seine Norm nicht im Objekt der Handlung, sondern im rein formalen Sittengesetz findet. Der Argumentation Kants liegt die Ansicht zugrunde, daß die der Tugend entsprechende Glückseligkeit sich in der Welt findet, also eine empirische ist, die zumindest hauptsächlich aus sinnlich-materiellen Gütern besteht.
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„Annahme“ der Existenz Gottes sowie auch eines „künftigen Lebens“ geschlossen, weil „das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich … in der Idee der reinen Vernunft verbunden“ ist (A 809). Als Bestätigung „e contrario“ seiner Argumentation hatte er hinzugefügt, daß ohne diese zwei Annahmen „die Vernunft sich genötigt sieht …, die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der notwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, … wegfallen müßte“ (A 811; ähnliches in A 813). In der KrV sowie, allem Anschein nach, auch an der vorliegenden Stelle der KpV vertritt Kant eine Abhängigkeit der Gültigkeit des moralischen Gesetzes vom Objekt, genau vom „materialen“ Endzweck desselben Gesetzes – was offenkundig gegen die zwei tragenden Säulen der Kantischen Ethik – Formalismus und Autonomie – verstößt. In der Tat war dies der Vorwurf, den die ersten Kritiker gegen Kant erhoben.257 Der Tübinger Professor Johann Friedrich Flatt spielte 1786 in seiner Rezension der GMS und dann 1789 (nach der KpV) in den „Briefen über den moralischen Erkenntnisgrund der Religion überhaupt, und besonders in Beziehung auf die Kantische Philosophie“ die Aussage der KrV A 813 gegen Kants Ablehnung der Glückseligkeit als Triebfeder unseres sittlichen Handelns sowie gegen Kants Autonomie-Lehre aus. August Wilhelm Rehberg vertrat ebenfalls in seiner Besprechung der KpV die These, daß die Ausübung des Sittengesetzesvon einer inneren sinnlichen Triebfeder abhängt. Kant hat in den 80er Jahren zwar den Eudämonismus vieler Autoren der Zeit nicht geteilt; seine Position im Kanon-Hauptstück der KrV kam jedoch der eudämonistischen Lehre der Zeit nahe. Kant war sich dessen bewußt, daß in seinem Entwurf der Moral in der KrV eine Spannung zu seiner Autonomie-Lehre vorlag. Deshalb versuchte er in seinen späteren Publikationen den Heteronomie-Verdacht und mit ihm den sog. religiösen Eudämonismus auszumerzen, ohne allerdings die Lehre vom höchsten Gut aufzugeben. So vor allem 1786 in der Abhandlung „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“ (A 315 f. = VIII 139; ähnliches in der KpV A 226, 2. Abs.-227; und nochmals im § 87 der KU). Über einen Wandel Kants in der Triebfeder-Lehre nach 1781 sind sich sämtliche Autoren einig. Die Frage aber ist, wie kohärent Kant sich in seinen Argumentationen hinsichtlich des höchsten Gutes als Endziel der Moralität daran gehalten hat. Denn es handelte sich nicht einfach darum, dem höchsten Gut die Funktion einer letztlich entscheidenden Motivation zugunsten der Einhaltung des moralischen Gesetzes (wie er es in der KrV getan hatte) zu entziehen, sondern zugleich auch darum, die moralischen Bemühungen des Menschen nicht einer endgültigen und unwiderruflichen Sinnlosigkeit auszuliefern. Das erstere Anliegen hat Kant ausdrücklich zur Sprache gebracht, das andere nur dann erwähnt, wenn er nicht umhin konnte, die existentielle Bedeutung einer moralischen Verpflichtung, deren Endresultat die „Nichtigkeit“ (KU B 428) wäre, in Betracht zu ziehen. Die Aussage am Ende des Abschnittes über die Falschheit des moralischen Geset257 Vgl. dazu die detaillierte Untersuchung von Eberhard Günther Schulz, Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik, Wien 1975.
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zes, die zumindest prima facie zur Position von 1781 zurückkehrt und damit „auf Heteronomie hinauszulaufen scheint“258, versucht Albrecht nach einer langen Untersuchung der mannigfaltigen einschlägigen Aussagen in ihrem Widerspruch zum fundamentalen Autonomie-Gedanken Kants zu entschärfen. Um zu vermeiden, daß die behauptete Falschheit des Sittengesetzes die Aufhebung der den Willen verpflichtenden Kraft desselben Gesetzes bedeuten würde, unterscheidet er zwei Bedeutungen von Falschheit. Erstens, die Unmöglichkeit eines Gesetzes, das bloß formal ist (und das als solches vom Objekt und Zweck absieht); zweitens, die Unmöglichkeit des Endzwecks eines solchen Gesetzes. Deshalb „kann das moralische Gesetz nur dann falsch sein, wenn eine Bestimmung des Willens durch ‘die bloße gesetzgebende Form der Maximen allein’ (A 51) nicht möglich ist“. Dies ist nun nach der Lehre der Analytik nicht der Fall. Aber das Gesetz „kann nicht falsch sein, wenn das höchste Gut unmöglich ist. Seine Gültigkeit kann durch die Frage nach der Möglichkeit des höchsten Gutes … nicht gefährdet werden, denn es verpflichtet ohne Rücksicht auf seinen Zweck“.259 Um den Preis seiner „Lösung“ weiß auch der Autor: „Wenn dieser Zweck unmöglich ist, so kann das aber dem Menschen, der aus Pflicht handelt, nicht gleichgültig sein. Er wüßte dann zwar, daß und wie er zu handeln hat, er wüßte aber zugleich, daß sein Handeln ‘auf leere eingebildete Zwecke gestellt’ (A 205) ist. Es wäre damit von vornherein folgenlos; es wäre nicht falsch, aber es wäre ein Handeln in einer Welt, die dem Leben in ihr keinen Sinn geben kann. Das Handeln aus Pflicht würde in einem eigenen, einschränkenden Sinn zum Selbstzweck. Nicht das Handeln, sondern das Leben selbst könnte [?!] hier ‘falsch’ genannt werden“260. Ich finde die These rational nicht nachvollziehbar, der zufolge unter der Hypothese, daß unser freies Handeln auf eine völlige „Nichtigkeit“ (KU B 428) hinausläuft, eine unbedingte Verpflichtung und damit das moralische Gesetz überhaupt möglich ist. Ich Albrecht, Kants Antinomie, 152. Für beide letzten Zitate vgl. Albrecht, Kants Antinomie, 162 f. Der ganzen Diskussion widmet Albrecht den § 18, 152–166. Auf S. 162 verweist er insbesondere auf A 78f.: Die Frage, „ob die Kausalität des Willens zur Wirklichkeit der Objekte zulange oder nicht … macht in der praktischen Aufgabe gar kein Moment derselben aus“. Nun aber muß man bei einer Aussage wie dieser, die in der Analytik in verschiedenen Formulierungen mehrmals vorkommt, die Zweideutigkeit des Terminus „Wirklichkeit“ beachten. Daß der gute Wille nicht von seinem tatsächlichen Resultat abhängt, ist das eine (vgl. außer unserer Stelle GMS A 3 = IV 394; KU B 426); daß das Objekt des Wollens prinzipiell unmöglich ist, ist etwas anderes. Hier geht es um das letztere. Die Analytik hat dem Objekt jegliche Relevanz für die moralische Qualifikation der Handlung abgesprochen. Das Neue der Dialektik liegt gerade darin, daß sie das Objekt in die Überlegung einbezieht. Mit seiner Distinktion entzieht Albrecht der Dialektik den Boden. Denn die prinzipielle Möglichkeit des höchsten Gutes ist für sie unentbehrlich. Ohne sie kann das ganze Unternehmen, die „höchsten Zwecke unseres Daseins“ (KrV B 395) wiederzugewinnen, nicht einmal in Angriff genommen werden. Die Vereinbarkeit dieses Unternehmens mit dem Formalismus kann nicht dadurch erreicht werden, daß man das Unternehmen (die praktisch gegründete Metaphysik) als unmöglich erklärt! Auch der Unterschied zwischen Pflicht und Bedürfnis bezüglich des höchsten Gutes (vgl. A 226), auf den Albrecht rekurriert (160f., 165), hilft m.E. nicht weiter. 260 Albrecht, Kants Antinomie, 163f. 258
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gebe zu, daß Kant mehrmals eine Lösung der Frage nach der Vereinbarkeit der Fundamente seiner moralischen Konzeption (Formalismus und Autonomie) mit der Forderung eines letzten, der Unbedingtheit des Gesetzes entsprechenden Ziels261 in der Richtung gesucht hat, wie Albrecht vorgeschlagen hat. Ja er hat an mehreren Stellen diese Lösung eindeutig formuliert (A 226, KU A 425). Ich bezweifle aber, daß er sich schließlich mit dieser Lösung abfinden konnte. Die Texte der letzten Fassung seines Postulats Gottes in der KU und in der Religion zeigen, daß dies nicht der Fall war. Er wollte oder konnte die Fundamente seines ethischen Gebäudes nicht revidieren; er wollte aber auch nicht als Befürworter des Menschen als Helden des Absurden hervortreten; er beließ die ganze Angelegenheit in suspenso.
II. Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft (A 205–215) Gliederung des Abschnittes: Abs. 1–3 arbeiten den Kern der Auflösung der Antinomie aus. Abs. 8 legt die zwei Gründe fest, die das höchste Gut ermöglichen. Abs. 4–7 stellen eine Abschweifung dar, in der philosophiegeschichtlich und systematisch das Wohlgefallen an einer moralischen Handlung erörtert wird. Sie ist mit der TriebfedernProblematik des dritten Stücks der Analytik verwandt und bestätigt den dortigen Rigorismus. A 205: Abs. 1. Kant beginnt seine Auflösung der Antinomie der reinen praktischen Vernunft, indem er diese Antinomie als parallel zur dritten Antinomie der reinen spekulativen Vernunft darstellt – was natürlich auch einen Parallelismus in der Auflösung erwarten läßt. Die genannte dritte Antinomie (KrV A 444 ff.) war die zwischen der Thesis, der zufolge es in der Welt außer der Kausalität nach Gesetzen der Natur auch eine Kausalität durch Freiheit gibt, und der Antithesis, der zufolge es in der Welt nur Naturkausalität gibt. Für ihre Lösung (KrV A 532 ff.) griff Kant zum Generalschlüssel seines Kritizismus, der Zwei-Welten-Theorie: In der Welt als Erscheinung – der Welt unserer objektiv gültigen Erkenntnis – gibt es nur Naturkausalität und damit herrscht in ihr, gemäß der naturwissenschaftlichen Ansicht der Zeit, ein durchgängiger Determinismus; in derselben (für uns unerkennbaren) Welt als Ding an sich gilt die Kausalität durch Freiheit. Demnach lautete die Lösung der Antinomie: Es ist kein wahrer Widerstreit, a) wenn eine Handlung des Menschen als Sinnenwesen dem Naturmechanismus untersteht, und b)wenn dieselbe Handlung als Noumenon ihren Bestimmungsgrund in der Freiheit desselben Menschen hat. A 207: Abs. 2. „Mit der vorliegenden Antinomie der reinen praktischen Vernunft ist es ebenso bewandt“. Trotz des angeblichen Parallelismus aber wendet Kant denselben 261 Es handelt sich um den „notwendigen höchsten Zweck eines moralisch bestimmten Willens“ (A 207).
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Generalschlüssel nur auf den zweiten der Sätze an, aus denen laut dem vorigen Abschnitt die Antinomie der reinen praktischen Vernunft besteht: Daß Tugend notwendig Glückseligkeit hervorbringe, ist falsch „nur, insofern sie als die Form der Kausalität in der Sinnenwelt betrachtet wird“, d. h. wenn man meint, das Wirken der Natur richte sich nach der Tugend des Menschen. Denn der Mensch als Sinnenwesen handelt nach der Naturkausalität wie alle anderen Weltdinge auch. Aber derselbe Mensch als zur Verstandeswelt gehörig steht unter einem anderen Gesetz, dem moralischen Gesetz, das eine Kausalität nach Freiheit besagt.262 Also ist (bzw. soll sein) das Wirken des Menschen in dieser Hinsicht ein tugendhaftes Wirken. Es ist leicht zu erkennen, daß Kant mit dieser Argumentation einfach seine Lösung der dritten Antinomie der spekulativen Vernunft wiederholt hat: In der Welt, genauer im Menschen, gibt es außer einem Handeln nach Naturnotwendigkeit auch ein Handeln aus Freiheit. Dies aber ist keine Lösung der in Frage stehenden Antinomie, welche in der „Antithesis“ von A 204 steckt, insofern in ihr behauptet wurde, daß die Tugend die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein muß und daß deshalb das höchste Gut (die Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit) als „unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (A 194) bzw. als Endzweck der reinen praktischen Vernunft möglich ist. Diese angebliche Lösung wirft vielmehr erst recht das Problem der Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit angesichts der Tatsache auf, daß die Naturursachen, von denen die Verwirklichung der Glückseligkeit abhängt, sich nicht nach der Tugend der Menschen richten. Kant muß doch, gleichsam in letzter Minute, bemerkt haben, daß der Parallelismus ihn in die Irre geführt hatte. Denn nachdem er zur Kausalität des Menschen nach einem intellektuellen Bestimmungsgrund (dem moralischen Gesetz) und damit zu seinem freien und tugendhaften Handeln gelangt ist, fügt er hinzu, daß diese Sittlichkeit des Menschen einen zwar nicht unmittelbaren (da die Natur sich nicht nach der Tugend des Menschen richtet), „so doch mittelbaren (vermittelst eines intelligiblen Urhebers der Natur) und zwar notwendigen Zusammenhang als Ursache mit der Glückseligkeit als Wirkung in der Sinnenwelt habe“. Das in Klammern Gesagte enthält „in versteckter Weise“263 die eigentliche Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft. In ihr liegt der Nerv der Argumentation, die im Abschnitt V als Postulat Gottes entfaltet werden wird. A 207: Abs. 3 bringt die eigentliche Lösung zur Sprache: Das höchste Gut, das hier ausdrücklich als der „höchste Zweck eines moralisch bestimmten Willens“ bezeichnet 262 Diese Kausalität nach Freiheit ist, heißt es hier, „Bestimmungsgrund jener Kausalität nach Naturgesetzen“, gemäß welcher der Mensch als Sinnenwesen handelt. Damit erinnert Kant an seine paradoxe Lehre von einer doppelten und einander widersprechenden Kausalität, die die Handlungen des Menschen kennzeichnet (vgl. A 174, 177f.; KrV A 554f.). 263 So Otto Lempp in: Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts bis auf Kant und Schiller, Leipzig 1910, 308; zitiert bei Albrecht, Kants Antinomie, 111.
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wird, ist praktisch möglich. Damit haben die Maximen des moralisch bestimmten Willens objektive Realität, d. h. das sittlich gute Verhalten hat das ihm angemessene Objekt, das höchste Gut. Mit der abschließenden Aussage scheint, daß Kant die vorher gemeinte Unmöglichkeit des höchsten Gutes nochmals darauf zurückführt, daß zwischen Sinnen- und Verstandeswelt nicht unterschieden wurde. Denn dadurch, schreibt er, wurde „das Verhältnis zwischen Erscheinungen für ein Verhältnis der Dinge an sich selbst zu diesen Erscheinungen“ gehalten. D.h., so würde ich diese nicht allzu deutliche Erklärung interpretieren, der durchgängige deterministische Mechanismus, für den es einen intellektuellen Bestimmungsgrund der menschlichen Kausalität und damit Tugend nicht gibt, wurde für das einzige Verhältnis des Menschen (der doch als frei handelndes Wesen ein Ding an sich selbst ist) zur Sinnenwelt gehalten. Damit aber fehlte die Basis, um zu postulieren, daß der intelligible Urheber der Natur gerade wegen der Tugend des Menschen, welche die Würdigkeit einer entsprechenden Glückseligkeit besagt, das höchste Gut in der Welt verwirklicht. Dieses Postulat und nicht die nochmals bemühte Zwei-Welten-Theorie leistet die Aufhebung der Antinomie. Die Zwei-Welten-Theorie hat nur insofern mit der Auflösung der Antinomie zu tun, als diese Auflösung, wie es gegen Ende des Abs. 1 gesagt wurde, „vermittelst eines intelligibelen Urhebers der Natur“ möglich ist, ja schon die Tugend, die eine entsprechende Glückseligkeit verlangt, gehört zur intelligiblen Welt. A 214: Abs. 8 schließt sich an die („diese“!) Auflösung der Antinomie an, deren Kern in den ersten drei Absätzen vorgelegt wurde. Die Lösung läßt die Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit erwarten, d. h. als wenigstens möglich denken. Die zwei genannten Bestandteile stehen zueinander als die Bedingung zum Bedingten, wie schon bei der Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut erläutert wurde (A 198 f.). Die reine praktische Vernunft muß sich das höchste Gut als notwendig vorstellen, „weil es ein Gebot derselben264 ist, zu dessen Hervorbringung alles mögliche beizutragen“. Wiederum erinnert Kant daran, daß die nötige Verbindung beider Bestandteile „nach Gesetzen der Sinnenwelt gar nicht gegeben werden kann“; deshalb sind die Bedingungen zu suchen, von denen beide Bestandteile und ihre Verbindung abhängen. Eine der Bedingungen ist – damit antizipiert Kant das Resultat der Suche – „unmittelbar in unserer Gewalt“ (die Sittlichkeit)265; eine andere wird uns von der Vernunft„als Ergänzung unseres Unvermögens“266 vorgestellt. Damit sind zwei Postulate der reinen praktischen Vernunft in einer ersten Umschreibung angegeben. Zusammen mit der Freiheit werden sie von Kant mehrmals in einer eigenen Trias genannt: Gott, Freiheit Die Aufstellung dieses Gebots macht den wesentlichen Unterschied zwischen dem Postulat Gottes in der Fassung der KrV und dem in der Fassung der KpV aus (vgl. dort A 225). 265 „Dem kategorischen Imperativ der Sittlichkeit Genüge zu leisten, ist in jedes Gewalt zu aller Zeit“ (A 64). 266 Es handelt sich um die Ergänzung unseres physischen Unvermögens (vgl. A 75), nicht um die Unterstützung unseres moralischen Verhaltens (Albrecht, Kants Antinomie, 121). 264
266
Kommentar zur „Kritik der praktischen Vernunft“
und Unsterblichkeit. Die Freiheit allerdings muß in einem eigenen Sinn zu den Postulaten gerechnet werden; sie ist genau gesagt die Grundvoraussetzung der Möglichkeit der Moralität überhaupt und erschließt sich uns als in jenem „Faktum der Vernunft“ (A 56) impliziert, in dem sich das moralische Gesetz bei uns meldet. Es ist schließlich ein besonderer Charakter der „Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft“ zu erwähnen: Sie ist nämlich abschließend, so daß kein transzendentaler Schein mehr verbleibt. Denn wenn es einen Gott gibt, der die Tugend mit angemessener Glückseligkeit „krönt“ (A 237), so gibt es das höchste Gut. Mit der Auflösung der Antinomie, die mit der Vernunftidee einer „unbedingten Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (A 194) zusammenhängt, verhält es sich also grundsätzlich anders, als mit den transzendentalen Ideen der spekulativen Vernunft. Diese sind Begriffe absoluter Geltung im Sinne von Realitäten in sich selbst, die wir aber spontan auf Erscheinungen anwenden (vgl. KrV A 506) – die einzigen Objekte unserer Erkenntnis. Dadurch fallen wir einem „transzendentalen Schein“ zum Opfer (A 297), der, obwohl wir ihn durch eine transzendentale Kritik durchschaut haben, „noch immer täuscht“ (A 422).267 A 207: Abs. 4. Für die Möglichkeit des höchsten Gutes hat Kant auf eine intelligible Welt verwiesen: auf den intelligiblen Urheber der Natur und, am Ende des Abschnittes, auf die Unsterblichkeit der Seele. Deswegen findet er es befremdlich, daß „Philosophen alter sowohl als neuer Zeit die Glückseligkeit mit der Tugend in ganz geziemender Proportion schon in diesem Leben (in der Sinnenwelt) haben finden … können“268. Dies veranlaßt Kant, sich nochmals mit Epikur und der Stoa hinsichtlich ihrer Auffassung von der Glückseligkeit auseinanderzusetzen, wie er es im vorigen Abschnitt, A 200–202, bereits getan hat. Dort hat er diese Schulen kritisiert, weil sie die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit für analytisch hielten und damit eine falsche Auffassung beider Bestandteile des höchsten Gutes vertraten. An unserer Stelle setzt Kant sich insbesondere mit Epikur auseinander. Von den zwei Bestandteilen des höchsten Gutes, Tugend und Glückseligkeit, hielt dieser die Glückseligkeit für den Grundbegriff, so daß für ihn die vernünftige Bemühung um Glückseligkeit eo ipso als Tugend galt. Zu dieser Glückseligkeit rechnete er die eigennützigste Ausübung des Guten, die Genügsamkeit und die Bändigung der Neigungen. Zugegeben, daß eine solche Glückseligkeit als Zufriedenheit mit sich selbst und als Seelenruhe in der Tat aus dem Bewußtsein der eigenen Rechtschaffenheit in der Suche nach Glückseligkeit entspringt, wendet Kant ein, daß Epikur gerade jene Rechtschaffenheit voraussetzt, für die er kein Kriterium angegeben hat, und die nur derjenige als Glückseligkeit erfahren Albrecht, Kants Antinomie, 13f., 113. setzt auch Kant das höchste Gut in der Sinnenwelt an, wenn auch in einer künftigen, wofür er die Unsterblichkeit der Seele postuliert. Denn er spricht mehrmals vom „höchsten in der Welt möglichen Gut“, wobei diese Welt auch eine materielle Dimension hat, weil es Naturursachen sind, die in ihr unter der Leitung des Urhebers der Natur die Glückseligkeit herbeiführen sollen. 267
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kann, der bereits tugendhaft ist und damit einen Sinn für moralische Werte hat. Zu dieser Problematik vgl. auch im ersten Hauptstück der Analytik, A 67f. A 209: Abs. 5 führt das Thema der folgenden drei Absätze ein. Eine sittlich gute Handlung ist diejenige, bei der unmittelbarer Bestimmungsgrund des Willens das moralische Gesetz ist. Konsequenz daraus ist im Subjekt ein Wohlgefallen an der durch das Gesetz bestimmten Handlung.269 Nun ist dieses Wohlgefallen oder „Gefühl der Lust“ dem Gefühl der Annehmlichkeit ähnlich, „die aus einer begehrten Handlung erwartet wird“ und die uns bewegt, die Handlung hervorzubringen. Infolgedessen halten wir – wegen eines „Fehlers des Erschleichens (vitium subreptionis)“ und gleichsam einer optischen Illusion in dem Selbstbewußtsein dessen, was wir tun im Unterschied zu dem, was wir empfinden – die Wirkung der Willensbestimmung durch das Gesetz, nämlich das Wohlgefallen, für die Ursache der Willensbestimmung. Anders gesagt, eine Handlung, die tatsächlich aus Pflicht getan wurde, wird für eine Handlung aus Neigung gehalten. Dieselbe Täuschung wird im Laufe dieses und des nächsten Abs. auch als die Verwechslung einer „praktischen“ oder „intelligiblen“ Bestimmung mit einer „ästhetischen“ oder „pathologischen“ bezeichnet (zu „ästhetisch“ vgl. den Kommentar zu A 201 am Ende, S. 258). Infolge der genannten Täuschung des inneren Sinnes nehmen wir das moralische Wohlgefallen für ein sinnliches Gefühl und preisen die intellektuelle Bestimmung des Willens als eine sinnliche hoch. Dies verleitet uns, sinnliche Gefühle zu Bestimmungsgründen des Willens zu machen und so allenfalls „bloß pflichtmäßig (angenehmen Gefühlen zufolge)“ zu handeln. Die Sorge um die „moralische Bildung“ (Ende des Abs.) ist offenkundig Bestandteil der wissenschaftlichen Argumentation Kants. A 211: Abs. 6. Kant versucht, das Wohlgefallen, das „das Bewußtsein der Tugend notwendig begleitet“270 mit einem Wort zu präzisieren. Das Wort soll nicht einen sinnlichen Genuß wie das Wort Glückseligkeit bezeichnen, wohl aber einen Genuß, der diesem analog ist. Das gesuchte Wort ist „Selbstzufriedenheit“, die Kant für ein negatives Wohlgefallen an der eigenen Existenz hält, wegen des Bewußtseins der Freiheit bei In GMS A 38 Fn = IV 413 f. hat Kant zwischen einem praktischen (moralischen) Interesse an der Handlung und einem pathologischen Interesse am Gegenstand der Handlung unterschieden (vgl. auch KpV A 144). Die Distinktion hängt offensichtlich mit dem Formalismus zusammen, für den moralischer Bestimmungsgrund des Willens nur die gesetzmäßige Form der Handlung sein kann und keineswegs der Gegenstand. 270 In einer langen Fußnote erörtert Albrecht (Kants Antinomie, 116) die überaus schwierigen interpretatorischen Probleme, die der grammatikalisch und syntaktisch nicht ganz korrekte Text Kants, um den sich mehrere Kantforscher bemüht haben, aufwirft. Unter anderem erwähnt der Autor die Konjektur von Emil Wille (KS 8 [1903] 471), der im Satz „welche das Bewußtsein der Tugend notwendig begleitet“ (A 211 f.) das Wort „welche“ in „welches“ ändert (und damit auf „Analogon“ bezieht): Das gemeinte Wohlgefallen als moralisches Wohlgefallen, ist kein sinnlicher Genuß. Der Grund ist, wie Kant nachher in A 213 f. mit Nachdruck hervorhebt, daß das Wohlgefallen, das er Selbstzufriedenheit nennt, keine Glückseligkeit ist. 269
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der Befolgung moralischer Maximen, bzw. der Unabhängigkeit von Neigungen. Es handelt sich um eine intellektuelle, beständige Zufriedenheit im Unterschied zu den wechselnden Neigungen, die schließlich eine noch größere Leere hinterlassen, „als man auszufüllen gedacht hat“. Anschließend äußert sich Kant zu den Neigungen in einer Weise, die an das erinnert, was er im Triebfedern-Hauptstück geschrieben hat (A 145–154): Sie gelten ihm ausschließlich als Hindernis der reinen praktischen Vernunft. Gutartige Neigungen, Gefühl des Mitleids, selbst eine „Neigung zum Pflichtmäßigen“ sind einem sittlich gesinnten Menschen „lästig“, weil sie ihn davon abbringen könnte, das Gesetz als den einzigen Bestimmungsgrund seines Verhaltens zu nehmen. Auch schon in der GMS, A 65 = IV 428, hieß es: „… gänzlich davon frei zu sein, muß der allgemeine Wunsch eines jeden vernünftigen Wesens sein“. Für eine Moralität, die den ganzen Menschen als Leib-Seele Einheit in Anspruch nimmt und für die Neigungen und Affekte durch Kultivierung als Vorwegnahme und zugleich Wirkung echter moralischer Gesinnung gelten können, scheint es in der extremen Gesetzesethik Kants keinen Platz zu geben (vgl. den Exkurs über „Pflicht, Neigung und Liebe im Menschen als moralischem Wesen“, S. 177). A 213: Abs. 7 wiederholt die hohe Einschätzung des Bewußtseins der eigenen Unabhängigkeit von den Neigungen. Es handelt sich um ein negatives Wohlgefallen an seinem eigenen Zustand, das Zufriedenheit mit seiner eigenen Person hervorbringt, die die Erhabenheit ihrer übersinnlichen Existenz spürt (vgl. A 158). Als an sich negativer Genuß kann dieser Zustand nicht Glückseligkeit genannt werden; es fehlt ihm ja der positive Beitritt eines (sinnlichen) Gefühls. Noch weniger kann er Seligkeit genannt werden (die Kant immer mit der Heiligkeit verbindet), weil dieser Zustand keine völlige Unabhängigkeit von Neigungen und Bedürfnissen enthält. Insofern man aber imstande ist, seine Willensbestimmung vom Einfluß der Neigungen und Bedürfnisse frei zu halten, ist dieser Zustand dem der Selbstgenügsamkeit analog, die man dem höchsten Wesen zuschreibt. Kants Plädoyer zugunsten der mit der Moralität verbundenen Selbstzufriedenheit übernimmt in manchem das, was er ansonsten als typisch für den stoischen Weisen hält, nämlich „einen gewissen Heroismus des über die tierische Natur des Menschen sich erhebenden Weisen, der ihm selbst genug ist“. Das Übrige aber, das er im stoischen Weisen hervorhebt, nämlich, daß er „anderen zwar Pflichten vorträgt, selbst aber über sie erhaben und keiner Versuchung zu Übertretung des sittlichen Gesetzes unterworfen ist“ (A 229 f. Fn; vgl. auch A 150 f.) übernimmt Kant in seinen Begriff der Selbstzufriedenheit nicht. Von einer Zufriedenheit hat Kant schon im ersten Hauptstück der Analytik, A 67 f., gesprochen, aber nicht im Sinne eines dem tugendhaften Handeln folgenden Zustandes, sondern im Sinne eines Gefühls, das der Erkenntnis des moralischen Gesetzes und seiner Verbindlichkeit vorausgeht und sie begründet. Gemeint war also ein moralisches Gefühl, das der Tugend als Triebfeder zugrunde liegt. Diesen Begriff hat Kant dort als „platten Widerspruch“ abgelehnt. Denn „man muß wenigstens auf dem halben Weg“
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ein guter Mensch sein, um sich von solchen Gefühlen wie Seelenruhe bzw. -unruhe auch nur eine Vorstellung machen zu können (vgl. auch oben zu A 207–209, Abs. 4).
Exkurs: Ein irreführender Versuch, den Dialektik-Teil zu einer „Auflösung des Scheins“ zu machen Der Umstand, daß die obigen Ausführungen über die Selbstzufriedenheit kaum einen sachlichen Zusammenhang mit der Auflösung jener Antinomie erkennen lassen, die der Begriff vom höchsten Gut als Endzweck der reinen praktischen Vernunft impliziert, wirft die Frage auf, wie Kant hier überhaupt auf sie kommen konnte. Als Antwort verweist Albrecht271 auf die Einleitung der KpV. Zum dort entworfenen „Abriß“ des Werkes gehört auch „eine Dialektik als Darstellung und Auflösung des Scheins in Urteilen der praktischen Vernunft“ (A 31). Es ist deshalb naheliegend, die „optische Illusion“, mit der Kant seine Überlegungen zur „Selbstzufriedenheit“ beginnt, im Sinne des Scheins zu verstehen, in dem nach Kant eine Dialektik besteht. In der Tat kommt das Wort „Illusion“ mehrfach auch in der KrV im Sinne von „Schein“ vor (A 298, 582, 341, 696 Fn) und auch dort (A 297, 644 f.) wird der Begriff des transzendentalen Scheins mit Hilfe einer optischen Illusion verdeutlicht. Außerdem besteht an unserer Stelle wie in KrV A 509 die Illusion in einer „Subreption“. Aber um welchen „Schein in Urteilen der praktischen Vernunft“ (A 31) handelt es sich bei den Ausführungen über das Wohlgefallen an der Bestimmung des Willens allein durch die Vernunft? Sie handeln von einer „Täuschung“ (A 210), die, wie gesagt, dazu verleitet, eine Handlung aus Pflicht für eine Handlung zu halten, die „angenehmen Gefühlen zufolge“ (A 211) getan wurde. Diese Thematik hat nun keinen unmittelbaren Bezug zur Frage nach der Möglichkeit des höchsten Gutes und damit auch nicht zur Aufhebung der mit dieser Vernunftidee verbundenen Dialektik. Sie bezieht sich vielmehr auf die Fragestellung der Analytik, näherhin auf das Triebfedern-Thema des dritten Hauptstückes, wo es geheißen hat: „Es ist von der größten Wichtigkeit in allen moralischen Beurteilungen, auf das subjektive Prinzip aller Maximen mit der äußersten Genauigkeit acht zu haben, damit alle Moralität der Handlungen in der Notwendigkeit derselben aus Pflicht und aus Achtung fürs Gesetz, nicht aus Liebe und Zuneigung zu dem, was die Handlungen hervorbringen sollen, gesetzt werde“ (A 145). Das Fazit Albrechts lautet: Der Grund, der Kant veranlaßt hat, die Schein-Problematik in der vorliegenden Form hier einzuführen, wo sie nichts zur Auflösung der Dialektik beiträgt, ja vielmehr den Unterschied zur Auflösung der Dialektik in der KrV zu verwischen droht272, ist kein anderer als ein Systemzwang. In der KrV wurde der Begriff der Albrecht, Kants Antinomie, 114–119. Außer dem, was zum Charakter der Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft im Kommentar zum Abs. 8 gesagt wurde, ist auch folgender Unterschied von Bedeutung: Die Auflösung des Scheins in der KrV bestand darin zu zeigen, warum ein konstitutiver Gebrauch der transzendentalen Ideen und damit eine Erkenntnis ihrer Objekte als Dinge an sich auf dem spe271
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Dialektik als eine „Kritik des dialektischen Scheins“ eingeführt (A 62); in der Einleitung zur KpV wurde eine Dialektik als „Auflösung des Scheins“ (A 31) angekündigt. Deswegen meinte Kant, auch im Kontext der Auflösung der Dialektik der praktischen Vernunft einen Schein erörtern zu müssen. Nun stand die These, daß „Grundsätze der Bewerbung um Glückseligkeit unmöglich Sittlichkeit hervorbringen können“ (der erste „Satz“ der Antinomie in A 204), von der im Abs. 8 behauptet wird, sie folge „aus dieser Auflösung“, bereits als Ergebnis der Analytik (!) fest und wurde zu Beginn des 2. Hauptstückes der Dialektik bei der Vorstellung des Begriffs vom höchsten Gut durch die Analyse dieses Begriffes und insbesondere durch die Festlegung, wie seine zwei Bestandteile miteinander zusammenhängen, explizit gemacht. Kurzum, im Problem der Verwirklichung des höchsten Gutes liegt wohl eine Spannung, eine Dialektik, wenn man diese Spannung so nennen will, zwischen der Forderung einer „unparteiischen Vernunft“ (A 199) und dem Vermögen des Menschen. Aber es liegt kein „Schein“, keine Täuschung vor. Die „Illusion“, von der Kant hier in den Abs. 5–7 handelt, betrifft die Frage nach dem Bestimmungsgrund eines sittlich guten Willens – eine Frage, die zur Analytik der KpV gehört und die dort bereits schon geklärt worden war.
III. Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen (A 215–219) Bevor es Kant unternimmt, die Realität der zwei Bedingungen zu beweisen (d. h. zu postulieren), von denen die Möglichkeit des höchsten Gutes abhängt, schaltet er einen Abschnitt über jenen Primat der reinen praktischen Vernunft ein. Dieser Primat zeigt sich darin, daß die praktische Vernunft zu Realitäten gelangen kann, die jenseits der Grenzen liegen, auf die die Tragweite der spekulativen Vernunft beschränkt ist. Um den Sinn der Kantischen Lehre von einem Primat der reinen praktischen Vernunft genau zu erfassen, sind zwei Voraussetzungen dieser Lehre in Erinnerung zu rufen: a) Reine spekulative Vernunft und reine praktische Vernunft sind ein und dieselbe Vernunft, die einen doppelten Gebrauch hat: die „Erkenntnis des Objekts bis zu den höchsten Prinzipien a priori“ und „die Bestimmung des Willens in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks“. Diese Einheit, die in der KrV zwar vorausgesetzt, aber nicht ausdrücklich behauptet wurde (vgl. u. a. A 15, 815 in fine), wurde bereits in der GMS thematisiert: A XIV = IV 391, und wird in der KpV bestätigt: A 218, 159, 162. b) Am Ende der Analytik hat Kant die völlige Übereinstimmung der zwei Kritiken hervorgehoben, und zwar so, daß die erste in der zweiten ihre Bestätigung findet (vgl. etwa über die Beziehung der Kategorien zum Übersinnlichen in der Vorrede, Abs. 8–10). Daraus ergibt sich ein wichtiges Kriterium für die Interpretation der KpV, kulativen Weg nicht möglich ist. Die Auflösung der Dialektik der KpV besteht darin zu zeigen, wodurch das höchste Gut als Ziel der reinen praktischen Vernunft möglich ist. Diese Lösung erweist sich zugleich als die praktische Begründung jener Metaphysik des Übersinnlichen, die sich auf dem spekulativen Weg in dialektische Schlüsse verwickelt.
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nämlich daß Kant mit seiner Lehre vom Primat die Lehre von den Grenzen der theoretischen Erkenntnis zwar präzisieren, aber keineswegs zurücknehmen wollte. A 215: Abs.1 legt die relevanten Begriffe fest. Primat im engeren, praktischen Sinne bedeutet den Vorzug eines Dinges, weswegen seinem Interesse das Interesse anderer mit ihm zusammenhängender Dinge untergeordnet ist. Das gemeinte Interesse ergibt sich aus dem Ausübungsprinzip des betreffenden Dinges (Vermögens). Andere Definitionen von Interesse siehe in GMS A 38 Fn = IV 413; A 121 Fn = IV 460. Nun führt die Vernunft überhaupt als das Vermögen der Prinzipien den Primat über alle anderen Gemütskräfte. Es stellt sich die Frage, wie es zwischen spekulativer und praktischer Vernunft hinsichtlich des Primats steht. In den folgenden Absätzen 2 bis 4 wird der Primat der praktischen Vernunft über die spekulative mit einem nicht leicht durchsichtigen Ausschlußverfahren (per exclusionem) bewiesen.273 A 216: Abs. 2–4. 1. Die theoretische Vernunft führt den Primat. Dies könnte aus zwei verschiedenen Gründen der Fall sein: 1a) [Abs. 2 zu Beginn] weil die praktische Vernunft keine eigenen ursprünglichen Prinzipien hat, so daß sie völlig auf die Einsichten der spekulativen Vernunft angewiesen ist; diese Hypothese ist falsch, weil die reine praktische Vernunft eigene Prinzipien a priori hat (das Sittengesetz); 1b) [Abs. 3, die ersten zwei Sätze] weil die praktische Vernunft als sinnlich bedingt (= pathologische Vernunft) verstanden wird. Unter diesem Aspekt kann ein Primat der praktischen Vernunft mit ihren Ungeheuern der spekulativen Vernunft nicht zugemutet werden. Mit dem hier erwähnten „Mystizismus“ meint Kant in erster Linie die Platonische Theorie, insofern sie die Anschauung der Ideen in Gott für den Ausgangspunkt des sittlichen Lebens hält.274 Auch diese Hypothese ist falsch, da es hier um die reine praktische Vernunft geht. 2. [Abs. 4, zweiter Satz] Spekulative und praktische Vernunft sind koordiniert. Jede für sich, unabhängig von der anderen, würde ihr Gebiet bestimmen, und es käme zu einem Widerstreit einander widersprechender Bestimmungen: Die spekulative Vernunft würde nichts von der praktischen in ihr Gebiet aufnehmen; die praktische würde versuchen, die spekulative in ihre eigenen Grenzen einzuschließen. Deshalb [wie es im Abs. 2, „oder ob …“ heißt] würde die spekulative Vernunft hartnäckig der „Kanonik des Epikur“ folgen und alle Erweiterung der Erkenntnis über die Grenzen der Erfahrung hinaus ablehnen. Unter der „canonica Epicuri“ (Logik A 5 = IX, 13) dürfte die sensualistische Erkenntnislehre des Epikur in seinem „Peri kriterion he kanon“ geVgl. dazu die Analyse von M. Casula „La fondazione del trascendentale su basi morali: il mito del primato della ragion pratica“ in: Studi Kantiani sul trascendentale, Milano 1963, 165–218. Zusammenfassend: „Der Mythos des Primats der praktischen Vernunft“, in: Akten des 4. Internat. Kant-Kongresses, Berlin 1974, II. 1, 362–371. 274 Vgl. Kl. Düsing, „Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie“, in: KS 62 (1971) 7f. 273
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meint sein, der eine Einschränkung unserer Erkenntnis auf das sinnlich Erfahrbare wie Kant, aber in einem anderen Kontext, vertrat.275 3. Es bleibt nur der Fall übrig, daß die praktische Vernunft den Primat führt. In diesem Fall ist die spekulative Vernunft berechtigt, Sätze, die mit dem Interesse der praktischen Vernunft zusammenhängen, als einen ihr fremden (aber ihr nicht widersprechenden) Besitz aufzunehmen [Abs. 2 „ob spekulative …“; Abs. 3 „Allein wenn …]. Derselbe Primat wird aber auch positiv anhand des Prinzips begründet, daß, wie es am Ende des Abs. 4 heißt, „alles Interesse zuletzt praktisch ist“ (vgl. auch A 95, und GMS A 22 gegen Ende = IV 405). Dieses Prinzip hat Kant schon in der KrV, Transzendentaler Methodenlehre, „Kanon der reinen Vernunft“ ausführlich erläutert (A 797–801): Die Bestrebung der Vernunft, über den Bereich der Erfahrung hinauszugehen, ist auf ihr praktisches Interesse gegründet, nämlich auf das Moralische, dessen Voraussetzungen Freiheit, geistige Natur der Seele und Gott sind. Der Primat der praktischen Vernunft bedeutet also, daß die spekulative Vernunft Sätze aufzunehmen hat, die die praktische Vernunft ihr als etwas Transzendentes liefert und die sie (d. h. die spekulative Vernunft) mit ihren eigenen Erkenntnissen zu vereinbaren versuchen muß, weil sie eine Erweiterung der reinen Vernunft in einer anderen Absicht ausmachen. In seiner Darlegung des Primats der praktischen Vernunft führt Kant schon den Begriff vom Postulat ein: Die praktische Vernunft hat ursprüngliche Prinzipien a priori, mit denen gewisse theoretische Positionen verbunden sind, die sich der spekulativen Vernunft entziehen, ohne ihr aber zu widersprechen, und die die spekulative Vernunft im Hinblick auf die praktische Vernunft annehmen muß (vgl. Abs. 2 und 3). Am Kantischen Primat der praktischen Vernunft hat Fichte seinen Idealismus entwickelt: Aus moralischen Gründen heraus argumentiert er zugunsten eines Idealismus, in dem allein nach seinem Dafürhalten jene Freiheit angenommen werden kann, die zur Würde des Menschen gehört. In der bereits im Exkurs über Freiheit und Naturdeterminismus, Nr. 4, zitierten Abhandlung „Diesseits von Idealismus und Realismus“ hat Nicolai Hartmann Kants Lehre vom Primat der praktischen Vernunft kritisiert (174 f.). Er rechnet diese Lehre zu den standpünktlichen, also nicht übergeschichtlichen Thesen Kants, die als solche nicht notwendig mit dem transzendentalen Standpunkt zusammenhängen. Wie Hartmann die Freiheit des Willens nicht durch die Zwei-Welten-Theorie erklärt hat, sondern durch die Zweischichtigkeit der Realität, so ist er der Ansicht, daß Freiheit ohne eine Überordnung des Praktischen über das Theoretische bestehen kann. Mit einer solchen Überordnung münde vielmehr der transzendentale Idealismus in einen transzendentalen Voluntarismus. Mit dem „Primat der praktischen Vernunft“ hat Kant eine Lehre vorgelegt, die sowohl im damaligen Kontext wie auch wirkungsgeschichtlich von großer Bedeutung ist. In der vor allem in Deutschland überwiegend rationalistischen Tradition der Zeit und 275 Vgl. A. Szabó u. a., Art. „Kanon“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. IV, 688–691, bes.: 689; und Th. Rentsch, Art. „Kanonik“, ebd. 692.
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in der zeitgenössischen, aufklärerischen Einschätzung der Macht der Vernunft schien Kants Grenzbestimmung der theoretischen Vernunft in seiner ersten Kritik genau in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Der Primat der praktischen Vernunft bedeutete deshalb die volle Wiedergewinnung der Bedeutung der menschlichen Vernunft, aber unter der Perspektive der Freiheit und der moralischen Praxis. Dies entsprach der Grundtendenz des Philosophierens Kants: Ohne das große theoretische Interesse Kants schmälern zu wollen, erweist sich doch sein Denken an entscheidenden Stellen als auf die freie und verantwortliche Praxis orientiert, in der der Mensch als Person seine höchste Verwirklichung findet. Daß die Lehre vom Primat der praktischen Vernunft wir kungsgeschichtlich zu einem Kennzeichen der modernen Weltanschauung geworden ist, beweisen die Geistesrichtungen, die auf den Zusammenbruch des Deutschen Idealimus nach und nach folgten. Denker wie Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche, Dilthey, Bergson, so wie der amerikanische Pragmatismus und der europäische Existentialismus schlugen den Weg des Willens, des Glaubens, der Sorge um das konkrete menschliche Leben ein; in der gesellschaftlich-politischen Praxis forderte Marx, von der Interpretation der Welt zu ihrer Veränderung überzugehen; in der Theologie kam der Vorrang der Orthopraxie vor der Orthodoxie zum Tragen.
IV. Die Unsterblichkeit der Seele als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft (A 219–223) Die Unsterblichkeit der Seele im Sinne einer Fortdauer der Identität der Person über die Zeit der irdischen Existenz hinaus – wie immer sie des näheren aufgefaßt wird – gehörte, zusammen mit der Freiheit und damit der moralischen Dimension des Menschen und mit der Existenz Gottes, zu den sog. „drei Dogmen der Aufklärung“. Von den damaligen zahlreichen Schriften über die Unsterblichkeit sei hier auf die Abhandlung Moses Mendelssohns von 1767 „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“ hingewiesen, die zu einem Bestseller des Jahrhunderts wurde. Was Kant betrifft, „geht das Problem der Unsterblichkeit durch alle Epochen seiner Spekulation hindurch“276, beginnend mit der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ von 1755. Er teilte diese Überzeugung, war aber eher reserviert gegenüber den herkömmlichen Argumenten zu ihrem Beweis. Am Ende der „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ (1763) äußerte sich Kant skeptisch hinsichtlich des traditionellen Beweises aus der geistigen Natur der Seele; er selbst wolle eher den Glauben an die Unsterblichkeit auf die Sittlichkeit, statt umgekehrt die Sittlichkeit auf die Hoffnung künftiger Belohnungen gründen (A 125–128 = II 372 f.). Im Paralogismen-Hauptstück der KrV, A 351–361, kritisierte er den Beweis der „Simplizität“ der Seele, die in der Rationalpsychologie als medius terminus für den Unsterblichkeitsbeweis galt. In der B-Fassung der Paralogismen widerlegte er den Mendelssohnschen Beweis der Beharrlichkeit der Seele (B 413 ff.) und sah das Fehl276
E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, 284.
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schlagen der diesbezüglichen spekulativen Beweise als einen „Wink“ dafür an, sich dem praktischen Gebrauch der Vernunft zuzuwenden (B 421). Tatsächlich hat er im zweiten Abschnitt des Kanon-Hauptstücks desselben Werkes die Existenz Gottes und ein künftiges Leben als notwendige Voraussetzungen für die Bewirkung des höchsten Guts, das ihm hier als Ausübungsprinzip der Sittlichkeit galt, bewiesen. In der KpV werden nochmals Gott und die Unsterblichkeit auf dem Weg des höchsten Gutes bewiesen. Das höchste Gut wird eingeführt, wie wir gesehen haben, als der umfassende Gegenstand der praktischen Vernunft (A 194), bzw. als Endzweck derselben (A 205, 207, 233). Da nun von den zwei Bestandteilen dieses Gegenstandes aus der Analytik bereits feststeht, daß Tugend (die Bedingung der Glückseligkeit) für den Menschen möglich, ja gesollt ist, läuft die Frage nach der Möglichkeit des höchsten Gutes auf die Frage der Möglichkeit der Glückseligkeit hinaus. Die schon zu Beginn der Dialektik gegebene Antwort lautet: Diese Möglichkeit hängt vom „intelligibelen Urheber der Natur“ ab (A 207). Am Ende seiner Argumentation, die zum Beweis der realen Möglichkeit des höchsten Gutes führen soll, spricht Kant von zwei (!) Gründen dieser Möglichkeit (A 215). Einer steht unmittelbar in unserer Gewalt – und dies ist offenkundig die Sittlichkeit –, ein anderer ist derjenige, der unser Unvermögen ergänzt – und dies ist der bereits erwähnte Urheber der Natur. Die Logik der Ausführungen über das höchste Gut läßt deshalb auf den Beweis jenes „vernünftigen Wesens“ warten, welches imstande ist, den der Glückseligkeit würdigen Menschen einer entsprechenden Glückseligkeit teilhaftig werden zu lassen (A 199). In der Tat aber folgt im Text der KpV, nach dem dazwischen eingeschalteten Abschnitt über den Primat der praktischen Vernunft, das in Verbindung mit der Sittlichkeit des Menschen stehende Postulat der Unsterblichkeit der Seele. Auf der Grundlage einer umfassenden Sichtung der einschlägigen Literatur konnte Albrecht folgendes feststellen: „Ein Autor, der die Unsterblichkeit der Seele als Bedingung der Möglichkeit des höchsten Gutes akzeptiert, dürfte wohl kaum zu finden sein. Im Gegenteil, die Einfügung dieses Postulats in die ‘Auflösung’ ist immer wieder abgelehnt worden.“277 Auf den ersten Blick scheint diese „sententia communis“ der Kant-Forscher im Text Kants wohlbegründet zu sein. Kant hat zu Recht bemerkt, daß es eine Forderung der „unparteiischen Vernunft“ ist (A 199), daß der Tugendhafte der Glückseligkeit teilhaftig wird. Auf dieser Basis konnte er folgerichtig die Existenz Gottes postulieren – wobei es sich in der Tat um einen durchaus stichhaltigen Beweis handelt. Mehr für den Beweis der Möglichkeit des höchsten Gutes braucht man nicht. Kant hat nicht erklärt, warum er es dennoch für notwendig hielt, diese Möglichkeit des höchsten Gutes eigens auch auf die Unsterblichkeit der Seele zurückzubeziehen. Vielmehr hat er durch manches dazu beigetragen, den wahren Grund seines Verfahrens zu verhüllen. Dieser Grund ist m. E. folgender: Die Unsterblichkeit der Seele ist die unerläßliche Bedingung für eine dem unbedingten Charakter der moralischen Verpflichtung entsprechende Glückseligkeit. Es geht also um die bereits aufgeworfene Frage, ob der Mensch un277
Albrecht, Kants Antinomie, 126.
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bedingt in die Pflicht genommen werden kann, wenn diese Verpflichtung schließlich nicht zu einem ebenfalls absoluten Resultat führt. Das Resultat, das höchste Gut, könnte aber nicht absolut sein, wenn es zeitlich beschränkt wäre wie sein Träger, falls die Existenz des Menschen die Zeit des irdischen Lebens nicht überdauern würde. Nun aber hat Kant zwei Hindernisse für eine angemessene Würdigung seines Unsterblichkeitspostulats in den Weg gelegt: das eine betrifft seine Auffassung von der Glückseligkeit, das andere betrifft seine Auffassung von der Unsterblichkeit. 1. Zur Glückseligkeit: Kant bezieht das höchste Gut immer wieder auf diese Welt. So heißt es zu Beginn unseres Abschnittes: „Die Bewirkung des höchste Gutes in der Welt ist das notwendige Objekt eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens“ (A 219, dasselbe schon in A 215: „die Handlungen, die darauf abzielen … gehören zur Sinnenwelt“; weiter in A 225, 226, 242, 251, Religion B XI Fn = VI 7). Dieser Auffassung vom höchsten Gut gemäß sieht Kant die Lösung des Problems des immer wieder zu erfahrenden Mißverhältnisses von Sittlichkeit und Glückseligkeit in einem „intelligibelen Urheber der Natur [!]“, der allein imstande ist, den „notwendigen Zusammenhang [der Natur] als Ursache mit der Glückseligkeit als Wirkung in der Sinnenwelt“ zu bewirken (A 207). Gott allein als „Ursache der gesamten Natur“ (A 225) kann bewirken, daß die Naturursachen, die, wie die Erfahrung lehrt, nicht auf die Würdigkeit des Tugendhaften achten (vgl. KU B 428), einst (?) die Glückseligkeit des Menschen herbeiführen werden. Die Glückseligkeit, die Bestandteil des höchsten Gutes in der Welt ist und die der Naturkausalität unterliegt, ist offenkundig (zumindest auch) eine sinnliche Glückseligkeit. Kant beschreibt sie als „den Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht“ (A 224); Ähnliches im „Bruchstück eines moralischen Katechismus“ der MS, Tugendlehre, § 52 (A 168 f. = VI 480). Vgl. auch KrV A 806; GMS A 46 = IV 418 usw. Eine so verstandene Glückseligkeit und damit das höchste Gut, heißt es im Postulat Gottes, ist „nur möglich, sofern eine oberste Ursache der Natur angenommen wird, die eine der moralischen Gesinnung gemäße Kausalität hat“ (A 225). Die Unsterblichkeit der Seele ist dafür nicht nötig. Aber dann drängt die Frage, ob ein solches höchstes Gut der adäquate Endzweck eines Gesetzes ist, das dem Menschen auch die größten Aufopferungen bis zur Hingabe seines Lebens auferlegen kann. Als sinnlich untersteht dieses angeblich höchste Gut der Vergänglichkeit, so daß letztlich der Ausgang eines guten Lebenswandels genau derselbe wäre wie der eines sittlich schlechten Lebenswandels, nämlich das Nichts des Subjektes.278 Es kommt erschwerend hinzu, daß sich Kant in seiner Religionsschrift (B 191–193 Fn = VI 128 f.) sehr abschätzig über eine Fortdauer der Existenz geäußert hat, falls sie im Sinne des „Materialismus der Persönlichkeit des Menschen“ verstanden wird. Gemeint ist eine Unsterblichkeit, die „auf dem Zusammenhalten eines gewissen Klumpens Materie in gewisser Form beruhen soll …, so geläutert dieser Körper auch sein mag“. Diesem Materialismus setzt Kant „die Hypothese des Spiritualismus vernünftiger Wesen“ entgegen, „wo der Körper tot in der Erde 278
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Andererseits trifft man im Verlauf des Dialektik-Teils mehrere Aussagen, die die Glückseligkeit ins Jenseits verlegen oder zumindest zu verlegen scheinen. So wirft Kant bereits in A 208 den Philosophen „alter sowohl als neuer Zeiten“ vor, daß sie „die Glückseligkeit mit der Tugend in ganz geziemender Proportion schon in diesem Leben (in der Sinnenwelt) haben finden können“. In A 239 wird das Dasein Gottes die „Bedingung zu einer solchen intelligiblen Welt, um das höchste Gut zu sein“, und kurz danach gilt dasselbe Urwesen als „oberstes Prinzip des höchsten Guts in einer intelligiblen Welt“ (A 240). Allerdings könnte man unter „intelligibler Welt“ in diesen Aussagen die Sinnenwelt verstehen, insofern sie als die Welt genommen wird, in der Gott die Natur „zwingt“, die Glückseligkeit für die tugendhaften Menschen hervorzubringen gemäß der programmatischen Aussage von A 207. Mehr noch, man könnte darauf hinweisen, daß die „intelligible Welt“ gar nicht als künftig oder jenseitig gedacht werden muß; denn infolge des Phänomenalismus Kants entspricht schon jetzt der Sinnenwelt als Erscheinung eine reale, intelligible Welt als ein Ding an sich! Wie immer man eine Aussage Kants in diesem Bereich versteht, sieht man sich mit Schwierigkeiten und Ungereimtheiten konfrontiert. In der langen Fußnote des Unsterblichkeitsabschnitts verläßt Kant seine übliche Rede von einer Glückseligkeit, die durch Naturursachen unter der Leitung Gottes hervorgebracht wird, zugunsten einer „Aussicht auf eine selige Zukunft“, nämlich auf „ein von allen zufälligen Ursachen der Welt unabhängiges vollständiges Wohl“. Dabei scheint es aber vor allem aufgrund der Art, wie Unsterblichkeit in diesem Abschnitt aufgefaßt wird (nämlich als ein „ins Unendliche gehender Progressus“), als werde die Verwirklichung der Glückseligkeit und damit des höchsten Guts ins Jenseits verlegt. Es soll deshalb der Text untersucht werden. 2. Zur Unsterblichkeit: A 219: Abs. 1–2. Die Auffassung von der Unsterblichkeit, die Kant hier im Zusammenhang mit der Frage nach dem höchsten Gut vertritt, ergibt sich aus der Argumentation selbst, in der das Postulat besteht.279 Sie geht nicht vom Begriff der Tugend aus, sondern von dem der Heiligkeit als der „vollkommenen Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetz“.280 Kant hat im Triebfedern-Hauptbleiben und dennoch dieselbe Person lebend da sei“. Dieser „der Vernunft günstigeren“ Hypothese gemäß „kann der Mensch dem Geiste nach und (in seiner nicht sinnlichen Qualität) zum Sitz der Seligen … gelangen“. Auch in dem Streit der Fakultäten hält Kant die Frage nach einer endgültig leiblichen Verfaßtheit des Menschen im Sinne der christlichen Lehre von der Auferstehung des Fleisches für „in praktischer Absicht ganz gleichgültig“ (A 52 f. = VII 40). Damit erweisen sich die Überlegungen über eine von den Naturursachen zu bewirkende Glückseligkeit als gegenstandslos. Zu der Auffassung Kants von der Unsterblichkeit im Rahmen seiner Religionsphilosophie vgl. G. Sala, Die Christologie in Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 63–65. 279 In den Schriften Kants findet sich diese Argumentation zum „Beweis“ der Unsterblichkeit nur hier. 280 Kant nennt mehrmals den göttlichen Willen heilig, weil er (allein) von selbst der Vernunft bzw. dem moralischen Gesetz gemäß ist: GMS A 38 Fn = IV 413; A 39 = IV 414; A 86 = IV 439; KpV A 58.
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stück ausdrücklich zwischen Heiligkeit und Tugend unterschieden (A 150 f.). Die erstere ist ein Ideal, das von keinem Geschöpf erreichbar ist, dennoch als Urbild dient, „welchem wir uns zu nähern und in einem ununterbrochenen, aber unendlichen Progressus gleich zu werden streben sollen“ (A 149). Diese Heiligkeit wird hier als zur Möglichkeit des höchsten Gutes „praktisch notwendig gefordert“ hingestellt – im Unterschied zur sonstigen Lehre Kants, der zufolge zum höchsten Gut Tugend gehört, wohl als Fortschreiten zum Ziel der Heiligkeit, aber nicht letztere selbst. Es handelt sich also um eine ad hoc eingeführte Prämisse, die sich u. a. schwer mit der Lehre von einer „Glückseligkeit genau in Proportion der Sittlichkeit“ (A 199) vereinbaren läßt. Denn diese Lehre setzt verschiedene Grade von Sittlichkeit, d. h. von Konformität mit dem Sittengesetz voraus. Wenn nun die Heiligkeit gefordert ist und wenn sie nur in einem unendlichen moralischen Progressus zu erreichen ist, so ist diese „Fortschreitung … das reale Objekt unseres Willens“. Aber ein solcher Progressus ist nur unter der Voraussetzung einer ins Unendliche fortdauernden Existenz der Person möglich (eine solche Existenz „nennt man die Unsterblichkeit der Seele“). Das höchste Gut kann also nur „unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele“ verwirklicht werden. Damit sind wir berechtigt, die Unsterblichkeit zu postulieren. Der Gedanke von einem sittlichen Streben nach der höchstmöglichen Vervollkommnung und damit nach Glückseligkeit mittels eines unbegrenzten Fortschritts war Kant auch schon durch Wolff bekannt (vgl. dessen „Philosophia practica universalis, § 374, sowie die Deutsche Ethik § 44 und 139 ff.: „Von der Art und Weise, wie der Mensch das höchste Gut oder seine Glückseligkeit auf Erden erlangen kann“). Ein solcher Optimismus war für die Aufklärung überhaupt charakteristisch. Daß Kant ihn teilte, wird am deutlichsten an seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ von 1784. Zehn Jahre später konnte er von den „Erfahrungsbeweisen des Vorzugs der Sittlichkeit in unserem Zeitalter in Vergleichung mit allen vorigen“ sprechen.281 A 221: Abs. 3 erläutert den Progressus unserer Moralität ins Unendliche weiter, auf dem das Postulat gründet. Da aber Kant hier eine nur kurze Erklärung dieses Begriffs liefert, der doch wegen seiner Beziehung zu anderen philosophischen und theologischen Lehrstücken ziemlich komplex ist, ist es angebracht den späteren, bereits erwähnten Aufsatz über „Das Ende aller Dinge“ heranzuziehen, in dem Kant die postmortale Existenz des Menschen ausführlicher behandelt, wenn auch unter einer anderen Perspektive. Im ersten Teil des Aufsatzes über „das natürliche Ende aller Dinge nach der Ordnung moralischer Zwecke göttlicher Weisheit“ (A 508 = VIII 333) wird gesagt, daß die mit dem Tod beginnende ununterbrochene Fortdauer des Menschen „eine mit der Zeit ganz unvergleichbare Größe (duratio Noumenon)“ ist, „von der wir uns freilich keinen 281 Kant, Das Ende aller Dinge, A 507 = VIII 332. In der Religionsschrift antwortet Kant auf die Frage nach der besten Zeit in der Kirchengeschichte mit: „die jetzige“, und zwar wegen der Annäherung zum Ideal „eines ethischen gemeinen Wesens“ (B 197 = VI 131).
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(als bloß negativen) Begriff machen können“. Der Tod ist „zugleich der Anfang einer Fortdauer eben dieser als übersinnlicher, folglich nicht unter Zeitbedingungen stehender Wesen, die also und deren Zustand keiner anderen als moralischer Bestimmung ihrer Beschaffenheit fähig sein wird“ (A 495–497 = VIII 327). Wie beschaffen sollen wir diese ununterbrochene Fortdauer denken? In diesem Aufsatz tritt, im Unterschied zum Postulat der Unsterblichkeit in der KpV, die Idee eines unendlichen Fortschritts zunächst zurück, weil in der Ewigkeit, die nicht als „eine ins Unendliche fortgehende Zeit verstanden werden“ soll (A 495 = VIII 327), „nichts mehr geschieht, weil das Zeitfortsetzung sein würde“ (A 495 = VIII 328). Denn, wie Kant zu Beginn des Aufsatzes gesagt hat, mit dem Tod kommt der Mensch „aus der Zeit heraus“ (A 495 = VIII 327). Das Urteil des Weltrichters am Ende unseres Lebens markiert „den Anfang der (seligen oder unseligen) Ewigkeit, in welcher das jedem zugefallene Los so bleibt, wie es in dem Augenblick des Ausspruchs … ihm zuteil ward“ (A 497 f. = VIII 328). Anders gesagt, „welche Prinzipien unseres Lebenswandels wir bis zu dessen Ende in uns herrschend gefunden haben (sie seien die des Guten oder des Bösen), auch nach dem Tod fortfahren werden es zu sein; ohne daß wir eine Abänderung derselben in jener Zukunft anzunehmen den mindesten Grund haben“ (A 502 = VIII 330). Der zweite Teil des Aufsatzes handelt vom „mystischen (übernatürlichen) Ende derselben [Dinge] in der Ordnung der wirkenden Ursachen“ (A 508 = VIII 333). Da nun unsere Vernunft mit dem „Prinzip der Unveränderlichkeit des Zustandes der Weltwesen … in gänzliche Gedankenlosigkeit geraten würde“, so „bleibt ihr nichts übrig, als sich eine ins Unendliche (in der Zeit) fortgehende Veränderung im beständigen Fortschreiten zum Endzweck zu denken, bei welchem die Gesinnung (welche nicht wie jenes ein Phänomen, sondern etwas Übersinnliches, mithin nicht in der Zeit veränderlich ist) bleibt und beharrlich dieselbe ist“. Als „Regel des praktischen Gebrauchs der Vernunft … müssen wir unsere Maxime so nehmen, als ob bei allen ins Unendliche gehenden Veränderungen vom Guten zum Besseren unser moralischer Zustand der Gesinnung nach … gar keinem Zeitwechsel unterworfen wäre“. Dem Gesagten fügt Kant aber hinzu, daß ein Aufhören aller Veränderung und mit ihr der Zeit „eine die Einbildungskraft empörende Vorstellung ist“, eine Lehre, die „der Vernichtung“ des Lebens „gleich scheinen muß“ (A 510f. = VIII 334). In der vorliegenden Argumentation zugunsten der Unsterblichkeit der Seele, deren springender Punkt in der „völligen Angemessenheit der Gesinnung zum moralischen Gesetz“ liegt, die also allein die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guts in Rechnung stellt, wird das System der Dualisten“ (entweder ewige Seligkeit oder ewige Verdammnis) (A 499 f. = VIII 328 f.) mit Stillschweigen übergangen. Andererseits aber wird auch nicht ausdrücklich (wie im späteren Aufsatz der Fall ist) eine Unveränderlichkeit der Gesinnung angenommen, so wie sie im Augenblick des Todes war. Im letzten Teil des Abs. spricht Kant vielmehr vom Bewußtsein der eigenen „erprüften Gesinnung“ aus dem bisherigen Fortschritt vom Schlechteren zum Moralisch-Besseren, die uns erlaubt, „selbst über dieses Leben hinaus zu hoffen“, daß wir im selben Vorsatz weiterhin fortfahren werden. Im selben Sinne ist in der Fußnote von einer „tröstenden Hoffnung“ wenngleich nicht Gewißheit die Rede (vgl. auch A 231).
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Es bleibt aber noch die Schwierigkeit, daß „kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkt seines Daseins“ der geforderten „völligen Angemessenheit des Willens zum moralischen Gesetz“ fähig ist. Dieser Schwierigkeit begegnet Kant, indem er sich auf die „intellektuelle Anschauung Gottes“ beruft, die den ganzen unendlichen Fortschritt übersieht, so daß dieser für ihn als Besitz der Heiligkeit gilt. Später, in der Religionsschrift, wird Kant nochmals auf das Denkmittel der der Zeit nicht unterstehenden Anschauung Gottes rekurrieren. Dies ist der Fall im ersten Stück (B 54 f. = VI 47 f.) hinsichtlich der Revolution der Denkungsart, die nötig ist, damit der Mensch seine ursprüngliche Anlage zum Guten, von der er durch das radikale Böse abgefallen ist, wiederherstellt. Denn Gott sieht die dem Menschen allein mögliche unendliche allmähliche Reform als vollendete Einheit und somit als die erforderte Revolution. Im zweiten Stück (B 84–86 = VI 66f.) fragt sich Kant, wie der eingeborene Sohn Gottes als die Idee des sittlichen Prinzips „in dem Menschen Platz“ nehmen konnte, der von dessen Heiligkeit unendlich entfernt ist. Die Lösung dieser Schwierigkeit liegt wieder in der intellektuellen Anschauung Gottes, der die hinter unseren nach und nach zu vollbringenden Taten liegende moralische Gesinnung „als ein vollendetes Ganzes“ sieht. Zu Beginn des Abs. weist Kant daraufhin, daß der Umstand, daß unsere Natur nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus zur völligen Angemessenheit mit dem Sittengesetz gelangen kann, mit einem doppelten Nutzen verbunden ist. Erstens, der geforderte Progressus berechtigt uns, existentiell relevante Wirklichkeiten, nämlich Unsterblichkeit und Gott („die höchsten Zwecke unseres Daseins“: KrV B 395 Fn) zu postulieren, und damit dorthin zu gelangen, wohin die spekulative Vernunft nicht reicht. Zweitens, derselbe unendliche Fortschritt nutzt (wegen des Gebots der Heiligkeit) auch der Religion – wobei Kant an die „Religion des guten Lebenswandels“ oder moralische Religion denkt. Denn er bewahrt uns davor, einerseits das moralische Gesetz als nachsichtig zu „verkünsteln“, andererseits unser Vermögen zu überspannen und uns schwärmerischen Träumen hinzugeben, als ob wir die Heiligkeit erreichen könnten. In der Kant-Forschung hat man oft auf die Dunkelheit der Kantischen Auffassung von der Unsterblichkeit der Seele sowie auf die mannigfaltigen Schwierigkeiten hingewiesen, die die damit verbundene Lehre von der Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Gutes belasten. Dunkelheit und Schwierigkeiten kreisen um folgende Lehrstücke, die zur Kantischen Auffassung von der Unsterblichkeit gehören: 2a) Die Unsterblichkeit hängt mit dem ins unendliche gehenden Fortschritt auf die Heiligkeit hin zusammen. 2b) Der Gegenstand bzw. Endzweck des Willens ist das höchste Gut in der Welt. Zu 2a) Fortschritt bedeutet Wechsel, andauernde Änderung; damit würde die immer fortdauernde Existenz des Menschen weiterhin unter Zeitbedingungen stehen; sie wäre also nicht das, was man gemeinhin mit dem Begriff „Unsterblichkeit“ versteht. Letztere gilt vielmehr als eine Teilhabe an der Ewigkeit Gottes – wie immer wir auch des näheren die Teilhabe an der zeitlosen Existenz Gottes analog (!) zu verstehen ver-
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mögen. Außerdem stellt sich die Frage, weshalb wir mit einem ununterbrochenen Fortschritt im Guten (ohne den es keine Glückseligkeit geben kann) rechnen oder auf ihn hoffen können. Denn insofern Kant von einem weiteren Fortschritt in der Tugend spricht, versteht er den Menschen auch nach dem Tod als immer noch in einem Bewährungszustand (status probationis), so daß wegen seines nicht-heiligen Willens ein Rückschritt zum Bösen immer möglich bleibt. Was wäre dann mit der Glückseligkeit? Ähnlich wie hier mit der Frage nach dem Fortschritt im Guten nach dem Tod hat Albert Schweitzer282 in seiner philosophischen Dissertation darauf aufmerksam gemacht, daß bei der Annahme einer unendlichen Existenz in der KpV die moralische Beurteilung unseres jetzigen irdischen Lebens keine Rolle spielt. Wie immer es auch ausgeht, wird unsere Person fortdauern und zwar im Hinblick auf eine ununterbrochene Annäherung zur geforderten Heiligkeit. Damit wird unserem Erdenleben jeglicher moralischer Ernst genommen. In der Religionsschrift ist Kant wieder auf das Thema der „Wirklichkeit und Beharrlichkeit einer im Guten immer fortrückenden (nie daraus fallenden) Gesinnung“ eingegangen (B 86–94 = VI 67–71). Das Zeugnis des Geistes Gottes (auf das er in der Fußnote des Unsterblichkeitspostulats verwiesen hatte) wird mit der Bemerkung abgefertigt, daß „es mit solchen vermeinten Gefühlen nur mißlich bestellt ist“. In einer langen Fußnote erörtert Kant auch das damit zusammenhängende Problem des Schicksals des Menschen nach seinem Tod. Seine Position lautet: „Weder Vernunfteinsicht noch Schriftauslegung“ berechtigen uns zu behaupten, daß dieses Schicksal irgendwann für immer festgelegt sein wird. Zu 2b) Zum „Ort“ des höchsten Gutes. Die in der Dialektik gestellte Frage nach dem Endzweck des vom moralischen Gesetz in die Pflicht genommenen Menschen ist die Frage nach der Möglichkeit des höchsten Gutes in der Welt, d. h. in der Sinnenwelt (A 207 f., 215, 219). Infolgedessen hängt seine Verwirklichung (auch) von den Naturgesetzen ab (A 205, 224 f.), die sich nach unserer gegenwärtigen Erfahrung nicht nach der Moralität des Menschen richten und über die wir nur zum Teil verfügen können. Andererseits gehört nach Kant die von der Vernunft geforderte Verbindung von Tugend und Glückseligkeit „zum übersinnlichen Verhältnisse der Dinge“ (A 215), also zu einer intelligiblen Welt, die keine raumzeitliche Wirklichkeit ist und in der der Mensch nicht unter den Bedingungen seiner Sinnlichkeit steht. Oben habe ich auf mehrere Aussagen hingewiesen, die ziemlich deutlich das höchste Gut gerade wegen der Glückseligkeit als in einer künftigen, intelligiblen, jenseitigen Welt angesiedelt nahelegen. Besonders beweiskräftig in diesem Sinne ist die ebenfalls bereits zitierte Aussage in der Fußnote des Unsterblichkeitspostulats, die das höchste Gut „ein von allen zufälligen Ursachen der Welt unabhängiges vollständiges Wohl“ nennt. In seiner Monographie besteht Albrecht mit Nachdruck darauf, daß die Problemstellung der Dialektik der KpV das höchste Gut in der Welt meint. Dennoch räumt er ein, infolge seiner sorgfältigen Analyse sämtlicher Aussagen Kants, vor allem aber wegen der Auffassung des A. Schweitzer, Die Religionsphilosophie Kants von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1899; ND 1974, 180ff. 282
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höchsten Gutes, wie sie aus dem Kantischen Postulat der Unsterblichkeit hervorgeht, daß „man mit einem gewissen Recht behaupten kann, für die KpV liege das höchste Gut in der intelligibelen Welt bzw. im Jenseits“283. Kant hat die herkömmliche metaphysische Frage nach der Unsterblichkeit der Seele in engem Zusammenhang mit der Moralität des Menschen und deren Endzweck behandelt. Auf diese Weise hat er ein für die Theologie klassisches Thema, die Eschatologie oder Lehre vom Ausgang der Geschichte der Menschheit und des einzelnen Menschen, unter seine umfassende moralische Perspektive gestellt. In seiner Auslegung des Christentums wurde er einige Jahre später nochmals, und zwar diesmal direkt, mit demselben Thema konfrontiert (Religion, B 202–208 = VI 134–137). Wir haben gesehen, daß Kant dazu tendiert, die postmortale Existenz als eine Fortsetzung des moralischen Auftrags des Menschen zu interpretieren, nämlich als eine nie zu Ende gehende Annäherung an die Heiligkeit, die das Sittengesetz von ihm fordert. Es wundert deshalb nicht, daß er die Vollendung der Heilsgeschichte, die gemäß der biblischen Vorlage eine Wirklichkeit jenseits der Geschichte ist, zu einer innerweltlichen Eschatologie machte: Wir sollen „im kontinuierlichen Fortschreiten und Annäherung zum höchsten auf Erden (!) möglichen Guten (worin nichts Mystisches, sondern alles auf moralische Weise natürlich zugeht) hinaussehen“. Das Weltende ist für uns nichts anderes als die Aufforderung, „uns jederzeit wirklich als berufene Bürger eines göttlichen (ethischen) Staates anzusehen“ (B 205 = VI 136). Zum Schluß der Analyse des Postulats von der Unsterblichkeit, dessen fragwürdige Aspekte der Verfasser selbst sich wahrscheinlich bewußt war (er hat ja einen „Beweis“ in dieser Form danach fallen lassen), ist es angebracht, daran zu erinnern, wie schwierig für die menschliche Vernunft dieses Thema ist, das doch eine höchst existentielle Bedeutung hat. Beweis dafür ist u. a. der Umstand, daß selbst die großen Denker der Antike, deren Einsichten über den Menschen in seiner geistigen und moralischen Verfassung heute noch nichts von ihrer Tiefe und Wahrheit verloren haben, zum Weiterleben des Menschen nach dem Tode kaum etwas über die mythischen und obskuren volkstümlichen Vorstellungen hinaus sagen konnten. Die Geschichte der Religionen mit ihren vagen Aussagen über das Schicksal des Menschen jenseits des Todes bestätigt dasselbe Bild. Geistesgeschichtlich steht fest, daß erst die christliche Religion etwas Präziseres und Stimmigeres über das hinaus gelehrt hat, was die menschliche Vernunft von sich aus allein einsehen konnte. Diese offenbarte Lehre ist im Laufe der Zeit zum Grundbestandteil der sog. westlichen Kultur auch jenseits des strikt religiösen Glaubens und der entsprechenden Praxis geworden. Als Christ und zugleich als Gelehrter war Kant mit der christlichen Lehre insgesamt und mit der Lehre über das Los des Menschen nach dem Tod sowie über die Bedeutung des moralischen Verhaltens des Menschen für seine künftige Existenz vertraut. Gemäß dem damaligen geistesgeschichtlichen Horizont der Aufklärung hat er einige Jahre nach der KpV versucht, die übernatürliche christliche Offenbarung als Ganze zu rationalisieren. Hier, im Rahmen der Ethik, 283
Albrecht, Kants Antinomie, 130.
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Kommentar zur „Kritik der praktischen Vernunft“
konnte er nicht umhin, die Frage nach dem Endziel jener Verbindlichkeit zu stellen, die das moralische Gesetz uns auferlegt. Die Lehre vom höchsten Gut und die damit verbundene Lehre von der Unsterblichkeit der Seele sind das Ergebnis einer solchen rationalen Bemühung. Sie sind, plakativ ausgedrückt, die Rückkehr der Kultur zu dem Zustand, als die Vernunft (sich noch auf sich allein stützend) danach suchte, ob sie ertastend eine Antwort finden könne auf die Frage: „Wenn ich mich so verhalte, wie das mir innewohnende Gesetz fordert, was darf ich erwarten?“ (vgl. KrV A 809). Es ist deswegen nicht zu verwundern, daß die Antwort Kants nicht viel befriedigender ausgefallen ist, als die der Philosophen der Antike, namentlich als die Platos oder der von ihm beeinflußten Mysterien-Religionen.
V. Das Dasein Gottes als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft (A 223–237)284 1. Einleitung Mit dem Abschnitt über das Postulat Gottes arbeitet Kant die „versteckte“ Lösung der Dialektik hinsichtlich des höchsten Gutes aus, die er im Abschnitt II erwähnt hatte, nämlich daß der Zusammenhang der Sittlichkeit der Gesinnung mit einer entsprechenden Glückseligkeit nur „vermittelst eines intelligibelen Urhebers der Natur“ (A 207) möglich ist. Näherhin geht es in diesem Abschnitt um die Verwirklichung des Bestandteiles, der „nicht in unserer Gewalt steht“, der Glückseligkeit (A 215). Mit dem vorliegenden Postulat schließt sich Kant – allerdings in einer ihm eigenen Fassung – an die lange Tradition einer Argumentation an, die gemeinhin „moralischer Gottesbeweis“ genannt wird. Dafür verwendet er in der KpV den Terminus „Postulat“, aber in der dritten Kritik, § 87, spricht auch er von einem „moralischen Beweis des Daseins Gottes“. Dieser Beweis ist, wie es scheint, aus der augustinischen Gedankenwelt erwachsen, und zwar unter einem doppelten Aspekt. Erstens: Das dem Menschen innewohnende Sittengesetz ist Teilhabe an der lex aeterna, die für die christlichen Denker identisch mit der Weisheit Gottes war. Denn wie Gott alle Geschöpfe mit einem Gesetz für ihrWirken ausstattet, so gibt er auch dem Menschen als rationalem Wesen die Norm für seine freie Lebensführung. Zweitens: Gott selbst ist das objektive letzte Ziel aller Geschöpfe; dieses Ziel bedeutet für den Menschen jenen Zustand, der mit dem Terminus „beatitudo“ (Seligkeit) gemeint ist. Aber weder Augustinus noch die Meister des Mittelalters haben diese intensiv untersuchten Aspekte der Beziehung des Menschen zu Gott zu einem regelrechten Gottesbeweis ausgeformt. 284 Für die folgenden Ausführungen stütze ich mich auf den vierten Teil meines Buches, Kant und die Frage nach Gott. Das Thema habe ich ein zweites Mal in „Theologie und Philosophie“ 68 (1993) 182–207, 368–398 behandelt. Der erste Teil untersucht die Struktur des Beweises, der zweite geht hauptsächlich auf die Frage ein, in welchem Sinne ein Beweis, der auf Gott als Bedingung für die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit schließt, eine eudämonistische Ethik impliziert.
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Erst in der Neuzeit ging daraus eine eigene Argumentation zum Beweis der Existenz (und des Wesens) Gottes hervor. Für den geistesgeschichtlichen Kontext der Kantischen Gotteslehre ist von besonderer Bedeutung das 1746 erschienene Werk des Philosophen und Mathematikers Johann Nikolaus Frobesius „Brevis ac dilucida scriptorum atque argumentorum quibus numinis divini existentia comprobatur recensio“285. In ihm werden fünf verschiedene „argumenta moralia“ bei den Autoren der Zeit dokumentiert. Mit Blick auf Kant seien hier zwei genannt: 1. Der Beweis aus der „lex naturalis“, der sich der Mensch verpflichtet weiß und von der aus auf Gott als Gesetzgeber geschlossen wird. 2. Der Beweis, der das Phänomen des Gewissens auf Gott als Richter zurückführt. Letzterer wurde insbesondere von Crusius entwickelt. In seiner Ethik, §§ 132–138, ist er ausführlich auf den, wie er ihn nennt, „Gewissenstrieb“ eingegangen und daraus hat er in der Metaphysik, § 232 (vgl. auch § 284 in fine), wie auch Wolff es vorher getan hatte, die Wirklichkeit Gottes erschlossen, ohne allerdings dieser Argumentation eine eigene Beweiskraft zuzuschreiben. Kant hat beide Formen des Beweises vertreten: Den Beweis von der objektiven Notwendigkeit des Sittengesetzes auf einen transzendenten Urheber des Gesetzes bzw. Regierer des Menschen (RR 4253 und 4254: XVII 482–484); den Beweis vom Gewissen auf Gott als Richter. Zum letzten vgl. aus den Vorlesungsnachschriften die „Praktische Philosophie Powalski“ (XXVII 197) und vor allem die MS, Tugendlehre, § 13: Der Mensch denkt sich den „inneren Richter“, der er selbst als „homo noumenon“ ist, als ein „höchstes Wesen außer sich“. Im Kontext der mannigfaltigen Formen eines moralischen Gottesbeweises zeichnet sich das Postulat Gottes dadurch aus, daß Kant hier seine ältere Lehre vom höchsten Gut als Verbindung von Tugend und Glückseligkeit übernommen und sie zu einem moralischen Gottesbeweis ausgeformt hat, in dem Gott als Urheber dieser Verbindung postuliert wird. Als solcher ist diese Art moralischen Gottesbeweises in „hohem Maße Kants eigene Leistung“286.
2. Die zwei Versionen des moralischen Gottesbeweises Obwohl der Zusammenhang zwischen dem Menschen als moralischem Wesen und Gott unter mehreren Aspekten analysiert werden kann und so mehrere Arten moralischer Gottesbeweise möglich sind, laufen sie alle auf zwei Versionen hinaus, die sich dadurch unterscheiden, daß sie zwei verschiedene Ausgangspunkte der sittlichen Verfassung des Menschen in den Blick nehmen. Denn diese Verfassung zeichnet sich durch zwei Grundcharaktere aus. Erstens: Sie weist das Merkmal einer unbedingten Verbindlichkeit auf. Dies gilt auch für die vielen Fälle, in denen wir frei unter mehreren Möglichkeiten wählen dürfen. Denn sie alle liegen innerhalb des Bereichs des in der konkreten Situation sittlich 285 286
Vgl. Albrecht, Kants Antinomie, 141f. Albrecht, Kants Antinomie, 146.
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Guten, auf das das moralische Gesetz uns unbedingt verpflichtet. Demnach fragt eine erste Version des moralischen Gottesbeweises nach der Begründung des Sollensanspruchs, der sich im Gewissen kund tut. Wer nimmt uns unbedingt in die Pflicht? Auf diesem Weg erschließt sich Gott als derjenige, der das „Du sollst“ letztlich erläßt. Diese am meisten bekannte Version des Beweises stellt das Pendant zum klassischen Kontingenzbeweis dar. Der Unterschied zwischen beiden liegt darin, daß sie eine je andere Wirklichkeit als Ausgangspunkt nehmen. Der Kontingenzbeweis geht von der Welt aus und fragt nach der Erklärung ihres Daseins. Der moralische Beweis geht ebenfalls von einer (ebenfalls kontingenten) Wirklichkeit aus, nämlich von der Moralität als konstitutiver Dimension des Menschen, und fragt nach deren Erklärung. Die Antwort auf diese zweite Frage lautet: Die unbedingte Verpflichtung des Gewissens, der kategorische Imperativ, wie Kant diese Verpflichtung nennt, kann nur von einem absoluten und daher transzendenten „Imperator“ (Gesetzgeber) stammen. Eine zweite Version nimmt als Ausgangspunkt das letzte Zielobjekt des Lebens, insofern dieses Leben als Ganzes unter den Forderungen des moralischen Gesetzes steht. Sie fragt danach, was aus der Einhaltung des Gesetzes schließlich herauskommt. Nun ist das Gute, wonach der Mensch als Mensch strebt, der Gegenstand eines vernunftgeleiteten Strebens. Dieses Gute, das bonum honestum, wird um seiner selbst willen erstrebt, und es allein erfüllt das Streben, „sättigt“ den Willen, indem es sein Streben stillt. Darin besteht jenes Glück, wozu wir aus „Naturnotwendigkeit“ (GMS A 42 = IV 416) tendieren und das das Motiv überhaupt darstellt, warum wir etwas wollen und tun. Weil aber die einzelnen Güter in unserem irdischen Leben die Dynamik nach Glück nicht restlos zu stillen vermögen, stellt sich die Frage, ob es ein letztes Gut gibt, das um seiner selbst willen erstrebt werden und zugleich als letztes Ziel des Willens das Glücksstreben restlos erfüllen kann. Dies ist der sachlich richtige Sinn des Kantischen höchsten Gutes, das als „unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (A 194) all die echte Güter umfaßt, die der Mensch in seiner tugendhaften Lebensführung erstreben soll. Gerade als letztes Ziel der Moralität sieht Kant das höchste Gut unter der Perspektive der Unsterblichkeit: das bonum honestum und die damit verbundene Glückseligkeit unterstehen nicht der Vergänglichkeit und der Nichtigkeit. Weil nun der Sinn einer Handlung letztlich von ihrem Zweck herrührt, können wir sagen, daß die zweite Version des Postulats Gottes den Weg der Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens im Ganzen geht und die Existenz Gottes als Bedingung für eine solche Sinnhaftigkeit postuliert. Etwas anders gesagt, die zweite Version des Postulats Gottes geht von der Einsicht aus, daß eine unbedingte Verpflichtung nicht möglich ist, wenn die Einhaltung und die Nicht-Einhaltung des Gesollten schließlich gleicherweise auf ein und dasselbe alles nivellierendes Nichts, d. h. auf die Auflösung des Subjekts hinauslaufen. Daß das Nichts vernünftige Wesen in ihrer Freiheit absolut in Anspruch nehmen kann, ist eine rational nicht nachvollziehbare Behauptung.287 Bei dieser zustimmenden Beurteilung des Postulats Gottes sehe ich von den Schwierigkeiten ab, die Grundelemente dieses Postulats bei Kant bereiten. Es geht vor allem um seine Auffas287
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Kant hat den ersten Weg über die Begründung der Verbindlichkeit des Sittengesetze gekannt und an mehreren Stellen seines handschriftlichen Nachlasses, in seinen Vorlesungsnachschriften und gelegentlich auch in den Druckschriften vorgelegt. So z. B. schreibt er im Theologie-Hauptstück der KrV: „Da es praktische Gesetze gibt, die schlechthin notwendig sind (die moralischen), so muß, wenn diese irgendein Dasein, als die Bedingung der Möglichkeit ihrer verbindenden Kraft, notwendig voraussetzen, dieses Dasein postuliert werden.“ (A 633f.).288 Aber diesen Weg (erste Version) ist Kant nicht gegangen, wo er thematisch jenen „moralischen Glauben“ (A 828) an die Existenz Gottes begründen wollte, für dessen Möglichkeit er sich genötigt gesehen hatte, das Wissen aufzuheben (B XXX). Der Grund dafür liegt ohne Zweifel in der Lehre von der Autonomie: Seine Auffassung von der Eigengesetzlichkeit des Gewissens hinderte ihn, das Sittengesetz als von Gott stammend zu verstehen. Für Kant ist der „Imperator“, der den Menschen durch den kategorischen Imperativ in Anspruch nimmt, der Mensch selbst in seiner praktischen Vernunft.289 Moralische Autonomie des Menschen und Theonomie schließen einander aus. Für sein Postulat hat Kant deshalb den anderen Ansatzpunkt genommen. Aber auch abgesehen davon, daß nach dem Formalismus seiner Ethik die Verbindlichkeit des Gesetzes weder vom Objekt noch vom Ziel abhängt, stellt sich heraus, daß der zweite Weg in den ersten Weg einmündet, weil es nicht möglich ist, von Gott zu erwarten, daß er einem Gesetz zu seinem Ziel verhilft, das er gar nicht erlassen hat und das uns angeblich ohne ihn in die Pflicht nimmt. Damit befand sich Kant schließlich in einer Sackgasse, aus der kein Ausweg möglich war, ohne etwas zu opfern, das an die Wurzel seiner Ethik gerührt hätte. Dies ist der Grund, warum Kant nacheinander in drei verschiedenen Fassungen des Postulats versuchte, über diese Schwierigkeit hinwegzukommen – was sich aber bei gleichzeitiger Beibehaltung von Autonomie und Formalismus als unmöglich erwies. Eine Bemerkung ist angebracht, um einem möglichen Mißverständnis hinsichtlich des Zwecks eines moralischen Gottesbeweises vorzubeugen. Der Versuch in der Tradition sowie bei Kant vom moralischen Gesetz her auf die Existenz Gottes zu schließen, sung von der Glückseligkeit. Kant versteht diese als einen Zustand, der „nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft ist, was bloß auf empirischen Gründen beruht“ (GMS A 47 = 418). Als solche ist sie nicht an das vernünftige Streben und die Tugend rückgebunden, sondern an das untere Begehrungsvermögen. 288 Kant verweist hier auf den „künftigen“ Beweis. Gemeint ist zweifelsohne die erste Fassung des moralischen Gottesbeweises im zweiten Abschnitt des Kanon-Hauptstücks. Der Verweis ist allerdings irreführend, insofern der Beweis dort vom Endzweck des moralischen Gesetzes, dem höchsten Gut (genauer von der Glückseligkeit), ausgeht und nicht von der Verbindlichkeit des Gesetzes selbst. 289 Angesichts der Schwierigkeiten, die die Konzeption des Menschen als letzter gesetzgebender Instanz nach sich zieht, wundert es nicht, daß Kant hie und da nicht umhinkonnte, die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes doch auf Gott zurückzuführen. Vgl. dazu Seite 114 in diesem Buch (im Rahmen des Exkurses über den Autonomie-Gedanken bei Kant).
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beruht nicht auf der Voraussetzung, daß ohne den Glauben an Gott ein Mensch gar nicht moralisch leben kann, bzw. daß ohne den Glauben an Gott der Sollensanspruch in unserem Gewissen seinen verpflichtenden Charakter verliert. Denn das moralische Gesetz ist quoad nos (für uns) ein Erstes – Kant nennt es ein „Faktum der Vernunft“ (A 56). Daß wir unter einem „Sollen“ stehen, ist eine Erfahrung, die jeder Erwachsene macht und die sein Menschsein mitkonstituiert. Das Sollen des Gewissens nimmt ihn in Anspruch, noch bevor er die Frage nach Ursprung und Fundierung des Sollens stellt und unabhängig davon, wie er diese Frage beantwortet.290 Die ganze Problematik des moralischen Gottesbeweises spielt sich auf der Ebene der Reflexion ab – eine Reflexion, auf die die gelebte Existenz selbst drängt. Ein Atheist oder Agnostiker kann und soll moralisch leben; nur vermag er mit seiner Weltanschauung die unbedingte Verpflichtung, an die er sich in seinem Gewissen gebunden erfährt, nicht stichhaltig zu erklären.
3. Die Textlage: Drei verschiedene Fassungen des moralischen Gottesbeweises Der moralische Gottesbeweis Kants ist an sich sehr einfach: Sittlichkeit besagt Würdigkeit, glücklich zu sein. Nun aber vermögen wir nicht, eine unserem eigenen moralischen Verhalten entsprechende Glückseligkeit hervorzubringen, während die Natur sich nicht nach unserer Moralität richtet. Also sind wir berechtigt, Gott als denjenigen zu postulieren, der vermittelst der Natur (!) die Glückseligkeit herbeiführen wird. Da nun dieses Argumentationsschema in allen drei Kritiken (und in der Religionsschrift) wiederkehrt, liegt die Annahme nahe, daß es sich um im wesentlichen dieselbe Argumentation handelt. Diese Annahme aber erweist sich bei einer aufmerksamen Lektüre der Texte als falsch. Deswegen führt der Versuch, mit einzelnen Stücken aus den drei verschiedenen Fassungen des Postulats einen einzelnen, möglichst kohärenten Gottesbeweis zusammenzubasteln, zu einem Postulat, das auf das Konto des Interpreten, aber nicht Kants geht. Das Resultat einer solchen harmonisierenden Rekonstruktion würde divergierende Positionen Kants vermischen und genau über jene Schwierigkeiten hinweggleiten, die Kant veranlaßt haben, das Problem mehrmals in Angriff zu nehmen. Ein aufschlußreiches Beispiel einer solchen selektiven Auslegung bietet der jüngst erschienene Sammelband zur KpV.291 In ihm werden zudem Lehrstücke Kants oder des philosophischen Diskurses der damaligen Zeit bemüht, die entweder nichts mit den eigentlichen Schwierigkeiten des Unternehmens Kants zu tun haben, oder die Kant im selben Text erwähnt, dann aber fallen läßt. Als ein „Deus ex machina“ wirkt dort der Rekurs auf den „mundus intelligibilis“, in dem weder die Frage nach einer empirischen Glückseligkeit noch die nach dem Beitrag von Naturursachen dazu entstehen können. 290 Damit ist freilich nicht gesagt, daß es für das moralische Verhalten irrelevant sei, ob ein Mensch an Gott glaubt oder nicht. Aber dies ist ein anderes Problem, das hier nicht zu behandeln ist. 291 F. Ricken, „Die Postulate der reinen praktischen Vernunft“, in: O. Höffe (Hrsg.), I. Kant. Kritik der praktischen Vernunft, 192–197.
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Kant rekurriert wohl auf den „intelligibelen Urheber der Natur“ (A 207); aber dies ist eine andere Sache. Andererseits aber ist es nicht angebracht, die Untersuchung auf eine einzige Fassung zu beschränken, etwa die der KpV. Denn es ist gerade die Ermittlung der Unterschiede zwischen den drei Fassungen, d. h. der Änderungen, Auslassungen und Hinzufügungen einer jeden Fassung, die erlaubt, den springenden Punkt der jeweiligen Fassung zu erfassen und damit einzusehen, warum Kant sich mit ihr nicht zufrieden geben konnte. Ich werde deshalb die drei Fassungen getrennt analysieren, freilich mit einer besonderen Aufmerksamkeit auf die der KpV.
4. Der moralische Gottesbeweis in der KrV Zusätzlich zu den Ausführungen über die Auflösung der dritten Antinomie (A 532– 558), in denen Kant in Zusammenhang mit dem Beweis der „Freiheit im praktischen Verstande“ einige Überlegungen über das „Sollen“ und den „intelligibelen Charakter“ des Menschen als moralisches Wesen vorgetragen hat, geht er im Kanon-Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre auf die moralischen Gesetze ein. Im zweiten Abschnitt entwickelt er zum ersten Mal im Anschluß an die Hoffnungsfrage den moralischen Gottesbeweis. Auf der Basis der nicht weiter erörterten Einsicht, daß die Einhaltung des Sittengesetzes die Würdigkeit, glücklich zu sein, nach sich zieht, stellt Kant die Frage: „Wenn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdann hoffen? (A 805). Weil nun nach dem Urteil der reinen Vernunft die Sittlichkeit mit der Glückseligkeit unzertrennlich verbunden ist (A 809), so sind wir berechtigt, die Bedingungen anzunehmen, von denen die Verwirklichung dieser Verbindung abhängt. Es sind a) ein künftiges Leben, weil die genannte Verbindung in dieser Welt offenkundig nicht zustande kommt, b) ein höchstes Wesen, das den Ausgleich von Sittlichkeit und Glückseligkeit bewirkt. Fazit: „Gott also und ein künftiges Leben sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennenden Voraussetzungen“ (A 811) – wobei Gott hier als „Ursache der Natur“ (A 810) angesehen wird, weil die von Kant empirisch aufgefaßte Glückseligkeit (A 806) von den Naturursachen abhängt. Der Beweis wird e contrario bestätigt, indem Kant schreibt: Ohne die Annahme Gottes „sieht sich die Vernunft genötigt …, die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der notwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, … wegfallen müßte“ (A 811). Nur Gott kann mittels der Naturursachen den moralischen Gesetzen „den angemessenen Effekt, mithin auch für uns verbindende Kraft geben“ (A 815). Ohne Gott sind „die Ideen der Sittlichkeit … nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung“ (A 813).292 292 Schon im dritten Abschnitt des Theologie-Hauptstückes der KrV sprach Kant von „Verbindlichkeiten, die … ohne Triebfedern sein würden, wo nicht ein höchstes Wesen vorausgesetzt würde, das den praktischen Gesetzen Wirkung und Nachdruck geben könnte“ (A 589).
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Diese erste Fassung des moralischen Gottesbeweises im Zusammenhang mit dem höchsten Gut als Endzweck der reinen praktischen Vernunft stimmt mit der sonstigen früheren Lehre Kants überein, der die Annahme des Daseins Gottes (und der Unsterblichkeit der Seele) als „Triebfeder“ des sittlichen Handelns ansah. So z. B. in der von Menzer 1924 herausgegebenen Vorlesung über Ethik, die jetzt in der AkademieAusgabe als Moralphilosophie Collins vorliegt. Nach dieser Vorlesung wirkt die Religion, zu der die Anerkennung des Daseins Gottes führt, deswegen als „Triebfeder der Moral“, weil Gott allein die Glückseligkeit, deren der moralisch gesinnte Mensch würdig ist, herbeiführen kann (Menzer 101f. = XXVII 307f.; auch R 6858: XIX 181). In dieselbe Richtung gehen die zahlreichen „Reflexionen“, die die moralische Bemühung ohne Glauben an Gott als Unsinn qualifizieren.293 Nach der Veröffentlichung der KrV wandte sich Kant intensiv dem Problem einer Grundlegung der Ethik zu. Resultat davon waren die GMS und die KpV. In beiden Werken hat Kant den Formalismus und die Autonomie, die in seinen fragmentarischen Äußerungen der 60er Jahre zur Ethik enthalten waren, nicht nur bestätigt, sondern sogar radikalisiert: Jegliches Objekt und Ziel wurde von der Rolle eines Prinzips der Moralität von Handlungen ausgeschlossen. Wenn aber das menschliche Subjekt sich selbst unbedingt verpflichtet (Autonomie), und zwar unabhängig davon, was bei der Einhaltung des eigenen Gesetzes herauskommt (Formalismus), dann liefert die so verstandene moralische Verfassung des Menschen keine Grundlage dafür mehr, die Existenz Gottes zu postulieren. Anders ausgedrückt: Die logische Konsequenz von Autonomie und Formalismus ist, falls sie ernst genommen werden, folgende: Das Sittengesetz erhält seine verbindende Kraft aufrecht, auch wenn es keinen Gott gibt (die Absolutheit der Pflicht als Eigengesetzlichkeit des Menschen braucht ja keine Theonomie) und auch wenn die Einhaltung des Sittengesetzes nicht zur Glückseligkeit führt (der Formalismus trennt ja völlig die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes vom Objekt und Resultat der Handlung). Der Widerspruch zwischen der KrV und der GMS hinsichtlich des Beweggrunds, also des „principium executionis“ der Moral entging den Zeitgenossen Kants nicht. Besonders zu erwähnen ist der in den Erläuterungen zur Vorrede (Abs. 6–8) bereits erwähnte Tübinger Professor Flatt.294 In seiner Besprechung der GMS versuchte Flatt seine eigene Position, der zufolge die bloße Vorstellung des Sittengesetzes keine hinreichende Triebfeder zur Ausübung der Sittlichkeit liefert, mit der Aussage Kants zu untermauern, der „doch (KrV A 813) bei der Ableitung der natürlichen Theologie von der Moral dies als einen Hauptgrund gebraucht, daß ohne einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte, Welt die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfeder des Vorsatzes und der Ausübung seien“.295 Vgl. den Exkurs über „das höchste Gut und die Glückseligkeit“, vor allem S. 252. Vgl. die genau belegte Untersuchung von Eberhard Günther Schulz, Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik, Köln – Wien 1975, über die von Kants Zeitgenossen an dessen Moralphilosophie geübte Kritik und die damit verursachte Entwicklung im Denken Kants. 295 Tübingische gelehrte Anzeigen, 1786, 14. Stück, S. 112, zitiert bei Schulz, Rehbergs Opposi293
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Die erste Stelle in den Veröffentlichungen Kants, die den Wechsel in der Triebfedern-Lehre zur Position seiner Grundlegungsschriften zur Ethik dokumentiert, der zufolge „Triebfeder des menschlichen Willens … niemals etwas anderes als das moralische Gesetz sein könne“ (A 127), findet sich im Aufsatz von 1786 „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“. Im Rahmen seiner Absicht, die Grenzen der Vernunft gegen die Gefahr einer „philosophischen Schwärmerei“ (A 314 Fn = VIII 138) zu bestimmen, unterscheidet Kant das Bedürfnis der Vernunft im theoretischen von dem im praktischen Gebrauch. Im ersteren Fall müssen wir die Existenz Gottes annehmen, wenn wir über das Kontingente und das Geordnete in der Welt urteilen (es erklären) wollen. Im anderen Fall müssen wir die Existenz Gottes annehmen, weil wir urteilen müssen. Denn hier führen alle moralischen Gesetze „auf die Idee des höchsten Gutes … in der Welt“. Der Gang der Argumentation, die bis Ende des Absatzes folgt, läßt sich schwer ermitteln. Ich würde ihn versuchsweise folgendermaßen wiedergeben. 1) Das moralische Gesetz schreibt vor: „Tue das höchste Gut“. Dies besteht: a) aus dem, was durch unsere Freiheit möglich ist, nämlich der Beobachtung des Gesetzes (= Sittlichkeit) und b) aus dem, was von der Natur abhängt (= Glückseligkeit). 2) Im Hinblick auf das höchste Gut muß die Vernunft eine oberste Intelligenz annehmen: nicht für a), denn die „verbindende Kraft“ (vgl. KrV A 815) des Gesetzes hängt nicht vom höchsten Gut bzw. von der höchsten Intelligenz ab, sondern für b). 3) In der Tat aber schreibt Kant: Die Vernunft muß eine oberste Intelligenz annehmen „nur [?] um dem Begriff vom höchsten Gut objektive Realität zu geben“. Diese Aussage wird dann dahingehend erläutert: Um „zu verhindern, daß es [das höchste Gut] zusammt der ganzen Sittlichkeit nicht bloß für ein bloßes Ideal gehalten werde, wenn dasjenige nicht existierte, dessen Idee die Moralität unzertrennlich begleitet“. Was meint Kant mit diesem letzten Zitat, das die Argumentation abschießt? Das, was „die Moralität unzertrennlich begleitet“, ist offenkundig die Glückseligkeit. Denn Sittlichkeit besagt, Würdigkeit glücklich zu sein (A 199; KrV A 809). Man fragt sich: Wieso wird das höchste Gut, wenn es nicht realisierbar ist, weil mangels einer obersten Intelligenz (Gott) die Glückseligkeit nicht realisierbar ist, „zusammt der ganzen Sittlichkeit“ für irreal gehalten? Hat Kant nicht unmittelbar vorher gesagt, daß die Triebfeder zur Beobachtung des moralischen Gesetzes nicht von der obersten Intelligenz bzw. vom davon abhängigen höchsten Gut abzuleiten ist? Die ganze Argumentation scheint mir unverständlich, außer, man nimmt an, daß Kant, nachdem er behauptet hat, das moralische Gesetz brauche keine Triebfeder außer seiner selbst, sich doch nicht imstande sieht, eine absolute Verpflichtung zu bejahen, die zu keiner entsprechenden Realität führt. tion, 105. Kurz vorher hatte aber Kant im selben Kanon-Hauptstück geschrieben, „daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, d. i. Glückseligkeit,) das Tun und Lassen … bestimmen“ (A 807). Wenn man diese Aussage mit den bereits zitierten von A 811 und 813 vergleicht, so kann man kaum umhin, sich zu fragen: Was will Kant in diesem selben Kontext sagen? Hängt die Verbindlichkeit des Gesetzes nun von der Glückseligkeit ab oder nicht?
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Die Änderung in der Triebfedern-Lehre, die Kant in diesem Aufsatz vorzulegen versucht hat, findet im Postulat Gottes der KpV (Abs. 3: A 226; aber auch schon in der Vorrede, Abs. 4: A 5 f.) und in der Fassung der KU (B 425) ihren deutlichen Ausdruck: Wir benötigen die Annahme Gottes für die Verwirklichung des höchsten Gutes, nicht für die Einhaltung des Gesetzes. Wir werden sehen, daß der Rückzug, den Kant im zitierten Aufsatz ausgerechnet dort andeutet, wo er dabei ist, seine frühere Position zu ändern, in der Fassung des Postulats Gottes in der KU und wieder in der Religionsschrift noch offener zu Tage tritt.
5. Das Postulat Gottes in der KpV Die Argumentation, in der das Postulat besteht, umfaßt die ersten zwei Abs. Ihr folgt im Abs. 3 eine Präzisierung dessen, wofür das Dasein Gottes „angenommen“ wird. Dieser Teil des Abschnittes soll jetzt erläutert werden. Danach gehe ich auf die dritte Fassung des Postulats in der KU ein. Die übrigen Abs. 4 bis 10 des Abschnittes V behandeln Themen, die nicht direkt zum Postulat gehören. Der Kommentar dazu erfolgt nach Beendigung der Untersuchung des Postulats Gottes.
Zum Text des Postulats (A 223–227) A 223: Abs. 1–2. Wie im vorigen Abschnitt das moralische Gesetz zum ersten Bestandteil des höchsten Gutes (d. h. des Gegenstandes der praktischen Vernunft), der Sittlichkeit, und dadurch zur Unsterblichkeit als ihrer Voraussetzung geführt hat, so führt dasselbe Gesetz auch zum zweiten Bestandteil des höchsten Gutes, der der Sittlichkeit angemessenen Glückseligkeit und dadurch zur Existenz Gottes als ihrer Voraussetzung. Die Struktur der Argumentation ist folgende: a) Kant definiert die Glückseligkeit in einer Weise, die sie als eine zumindest hauptsächlich empirische erkennen läßt. Diese Qualifikation wird dadurch bestätigt, daß eine solche Glückseligkeit „auf der Übereinstimmung der Natur“ mit der Moralität des Menschen beruht. Der Mensch aber hat nicht die Macht, die Natur mit seinem eigenen moralischen Verhalten „einstimmig“ zu machen. Damit scheint die Argumentation sich auf denselben Bahnen zu bewegen wie in der KrV. Sie läuft nämlich auf die Annahme Gottes als Bedingung für die Glückseligkeit hinaus und gerät so in dieselbe Schwierigkeit wie bei der ersten Fassung des moralischen Gottesbeweises: Das moralische Gesetz kann ohne Gott den Menschen nicht verpflichten296 – was evidentermaßen gegen die Autonomie des Menschen verstößt. b) Dem Dilemma zwischen einerseits der Geltung des Sittengesetzes bei gleichzeitiger Aufhebung der Autonomie des Menschen und andererseits der Aufrechterhaltung der Autonomie des Menschen bei gleichzeitiger Preisgabe des Endzwecks des Geset296
Es wäre ja die Verpflichtung zum Unmöglichen; das Gesetz wäre also „falsch“ (vgl. A 205).
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zes und somit bei der sich ergebenden Sinnlosigkeit des Sittengesetzes meint Kant entgehen zu können, indem er ein besonderes Gebot aufstellt: „Wir sollen das höchste Gut … zu befördern suchen“.297 Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, daß der eigentliche Gegenstand dieses Gebotes ein Teil des höchsten Guts ist, nämlich die Glückseligkeit. Denn daß wir gemäß dem Sittengesetz handeln und damit Tugend verwirklichen sollen, steht aus der Analytik bereits fest, ohne daß dort auf den Begriff des höchsten Guts rekurriert wird. In diesem Gebot liegt das Neue der zweiten Fassung des moralischen Gottesbeweises. c) Der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Fassung des Postulats ist also folgender: Wegen des Mißverhältnisses zwischen Forderung der Vernunft nach einer Austeilung der Glückseligkeit der Moralität der Person entsprechend (A 198 f.) und dem Unvermögen des Menschen (und der Natur), diese Forderung zu erfüllen, geht Kant in der KrV direkt dazu über, Gott zu postulieren. In der KpV dagegen schaltet er ein Gebot dazwischen, das direkt den Menschen betrifft – ein Gebot, „welches also doch möglich sein muß“ (A 225 zu Beginn). Der Grund, warum Kant zu diesem Gebot greift, legt nahe, daß Kant dieses Gebot als ein einzelnes, spezifisches Ad-hocGebot versteht und nicht als das allumfassende moralische Gesetz, das den Menschen verpflichtet, überhaupt das Gute zu tun. Denn nur so konnte Kant – scheinbar – erreichen, daß die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes überhaupt von der Realisierung der Glückseligkeit und von der damit vorauszusetzenden Existenz Gottes abgekoppelt wird. Denn wenn das Postulat Gottes als Bedingung der Möglichkeit des höchsten Gutes (näherhin der Glückseligkeit) auf diesem (partikulären!) Gebot beruht, würde logischerweise die Verneinung der Existenz Gottes nicht die Aufhebung der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes im ganzen nach sich ziehen, sondern „nur“ dieses einzelnen Gebotes (weil unrealisierbar), während das Sittengesetz als solches weiterhin gelten würde. In der Tat stellt Kant in der KpV nicht die Frage, was mit dem verpflichtenden Charakter des Sittengesetzes geschehen würde, falls es keinen Gott gibt. Die Behandlung dieser Frage wird die Fassung des moralischen Gottesbeweises in der Kritik der Urteilskraft auszeichnen. Gegen ein solches Gebot haben mehrere Autoren Bedenken geäußert. Abgesehen von der systemimmanenten Schwierigkeit, daß der kategorische Imperativ durch die Form und nicht durch irgendwelchen Inhalt definiert wurde, liegt der Einwand auf der Hand, daß es ungereimt ist, ein Gebot aufzustellen und im selben Atemzug einzuräumen, dieses Gebot nicht erfüllen zu können.298 So fragwürdig die Art und Weise sein mag, wie Kant hier versucht, die von der „unparteiischen Vernunft“ (A 199) eingesehene Verbindung des moralischen Gesetzes mit Daß Kant ein wirkliches Gebot, das höchste Gut zu verwirklichen, meint, ist aus den verschiedenen Formulierungen erkennbar, die er verwendet und in denen Redewendungen vorkommen wie: „das Gesetz gebietet“, „das Gesetz macht es verbindlich …“ (vgl. A 203, 226, 233, 242, 243, 259; KU B 423 usw.). Freilich steckt in diesem Gebot eine Spannung: Der Mensch erläßt ein Gebot, etwas zu tun, was er aber nicht vermag und was er deshalb sofort auf Gott abwälzt. 298 Vgl. Beck, Kommentar, 227. 297
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der ganzheitlichen Vervollkommnung des Menschen (unter dem Namen der „Glückseligkeit“) als realisierbar zu beweisen, so bemerkenswert bleibt jedoch, daß er, den Hindernissen seiner eigenen Ethik zum Trotz, an dieser Verbindung festhält. Offensichtlich war er nicht gewillt, die Sinnhaftigkeit des moralischen Gesetzes und damit des menschlichen Lebens überhaupt zugunsten einer angeblich höheren Moral aufzugeben (vgl. den Exkurs über das höchste Gut und die Glückseligkeit, Nr. 4, S. 250). Dies bedeutet wahrhaftig kein „schmähliches“ Ende des „Mannes des kategorischen Imperativs“299; es paßte vielmehr zu dem, was er von Rousseau (und gewiß nicht nur von ihm) gelernt hatte: „Rousseau hat mich zurecht gebracht … ich lerne die Menschen ehren“300. A 226: Abs. 3. Zu beachten ist zunächst die hier gegebene Erklärung, in welchem Sinne es notwendig ist, das Dasein Gottes anzunehmen. Die Erklärung bestätigt die im Aufsatz über das „Sich im Denken Orientieren“ vorgenommene Änderung in der Triebfedern-Lehre: Es ist notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen, nicht um die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes zu begründen (diese „beruht lediglich auf der Autonomie der Vernunft selbst“), sondern um das höchste Gut zu befördern. Das Übrige erläutert, was der Satz „Es ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen“ bedeutet. Um welche Art von Erkenntnis handelt es sich? Zunächst weist Kant darauf hin, daß diese moralische Notwendigkeit eine subjektive Notwendigkeit (= Bedürfnis), und nicht eine objektive (= Pflicht) ist. Denn die Annahme einer Existenz (eines Seins also, nicht eines Sollens) geht den theoretischen Gebrauch der Vernunft an. Durch diese „Annahme“ erkennt die Vernunft zwar nicht, daß Gott existiert (und daß die Seele unsterblich ist), wenn man Erkenntnis in dem Sinne nimmt, wie die KrV sie versteht, nämlich als „Erfahrung“, d. h. als Intellektualisierung des sinnlich Gegebenen mittels eines entsprechenden Begriffs (KrV A 50–52); die theoretische Erkenntnis der reinen Vernunft bekommt aber, schreibt Kant weiter unten, „einen Zuwachs“ (A 242). Die Annahme ist dadurch gerechtfertigt, daß unsere Vernunft die Möglichkeit des höchsten Gutes in der Welt, dessen Hervorbringung die praktische Vernunft dem Subjekt zur Pflicht macht, „nicht anders denkbar findet als unter Voraussetzung einer höchsten Intelligenz“. Kant bezeichnet die genannte Annahme, insofern die theoretische Vernunft sie von der praktischen Vernunft „aufnimmt“, als eine „Hypothese“. Sie ist eine Erklärung der Möglichkeit des höchsten Gutes durch die Existenz Gottes – was für sie „überschwenglich“ ist (vgl. A 217). Dieselbe Annahme, die die praktische Vernunft infolge „eines Bedürfnisses in praktischer Absicht“ vornimmt, ist für dieselbe Vernunft „Glaube“, und zwar „reiner Vernunftglaube“. Denn die Quelle der Annahme ist ein Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft. Kant nennt aber auch die theoretische Vernunft 299 E. Adickes, „Die bewegenden Kräfte in Kants philosophischer Entwicklung und die beiden Pole seines Systems“, in: KS 1 (1897) 396. 300 Kant, „Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, XX 44.
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als Quelle derselben Annahme. Dies dürfte als nur sekundär gemeint sein, nämlich in dem Sinne, daß die theoretische Vernunft als spekulativ imstande ist, das Transzendente zwar nicht zu erkennen, wohl aber zu denken (vgl. KrV A 634f.). Die zum Teil ähnliche Unterscheidung zwischen Hypothese und Postulat zu Beginn des Abschnittes VIII soll an ihrer Stelle besprochen werden.
Exkurs: Der epistemische Stellenwert der Postulate – Wissen und Glauben Die im Abs. 3 angeschnittene Frage, was für eine Art Erkenntnis ein Postulat oder, wie Kant es oft auch nennt, eine „Annahme“ der reinen praktischen Vernunft ist, wird Kant bis zum Ende des Werkes und auch darüber hinaus intensiv beschäftigen. Dieses Thema soll hier in einem ersten, grundsätzlichen Anlauf untersucht werden. Einzelne Aspekte werden weiter unten nochmals in Zusammenhang mit den Stellen erörtert, an denen Kant vom Stellenwert der Erkenntnis spricht, die er auf die moralische Dimension des Menschen zurückführt. Was ist der „Vernunftglaube“ oder „moralische Glaube“, zu dessen Gunsten Kant 1787, laut seiner bekannten Aussage in der Vorrede zur zweiten Auflage der KrV, also in unmittelbarer Nähe zur KpV, das „Wissen aufheben müßte“ (B XXX)? Nach dieser programmatischen Aussage ist der moralische Glaube kein Wissen. 1. Zum Verständnis dieser für die Philosophie Kants zentralen These ist es deshalb nötig, möglichst exakt zu ermitteln, was seine KrV unter „Wissen“ versteht.301 Denn daß der Glaube eine Art von Wissen ist, wenn wir den zweiten Terminus in seinem Alltagsgebrauch nehmen, würde auch Kant nicht bestreiten. Zumal er vom moralischen Glauben als von einem „Zuwachs“ (A 242, 244, 246) oder einer „Erweiterung“ (A 241) in der theoretischen Erkenntnis spricht und behauptet, daß durch diesen Glauben die „Realität“ dessen, was geglaubt wird, „hinreichend gesichert“ (A 246) ist. Ganz allgemein gilt für Kant, daß die drei Vernunftbegriffe – Freiheit, Unsterblichkeit und Gott – als Bedingungen des vom moralischen Gesetz geforderten höchsten Gutes „objektive Realität“ bekommen (A 241–243). Nach der KrV kommt unsere unmittelbare erkenntnismäßige Beziehung zur Realität, an die alle anderen mittelbaren, durch andere Erkenntnisakte zustande kommenden Beziehungen, anknüpfen müssen, um überhaupt Erkenntnis der Wirklichkeit zu sein, durch den Akt der Sinne zustande, den Kant global mit dem Terminus „Anschauung“ bezeichnet (KrV A 19 f.). Daß nach Kant diese sinnliche Erfahrung dem Subjekt eigentlich nicht die Realität, sondern die „Erscheinung“ der Realität vermittelt, und daß zur menschlichen Erkenntnis im vollen Sinne des Wortes noch der Begriff hinzukommen muß (A 50–52), sind wichtige Präzisierungen, die für die Erkenntnislehre der KrV konstitutiv sind. Aber für die hier beabsichtigte Klärung der Frage, warum für Kant der Glaube kein Wissen ist, können sie unberücksichtigt bleiben. Vgl. dazu das im Kommentar zum Lehrsatz I, Fußnote 81, S. 87 f., und im Exkurs über die Grenzbestimmung der menschlichen Erkenntnis Gesagte, S. 187. 301
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Kommentar zur „Kritik der praktischen Vernunft“
Der Glaube ist kein Wissen, keine Erkenntnis der Realität, weil ihm jener fundamentale, ja einzige Akt fehlt, der die Realität erreicht, die in dem Begriff, mit dem der Glaube zum Ausdruck kommt, gemeint ist. Kurzum: Um eine Realität zu erkennen (nicht bloß sie zu denken!), muß man sie anschauen, muß man durch sie sinnlich affiziert werden; aber genau dies fehlt dem Glauben. Von dieser Auffassung vom Erkennen her lassen sich m. E. die immer wieder vorkommenden Versuche Kants verstehen, dem Glauben doch eine Art von Erkenntnis zuzuerkennen, und zugleich läßt sich verstehen, warum diese Versuche von vornherein zum Scheitern verdammt sind. Denn in der nirgends von Kant in Zweifel gezogenen Prämisse (dem „Prinzip Anschauung“ in seiner sensualistischen Version) steht bereits der explizite Widerstreit zu dem, was diese Versuche erreichen möchten. 2. Eine Alternative zur Kantischen Lehre vom Wissen, die ermöglicht, einerseits den Glauben als eine eigene Art von Wissen um die Wirklichkeit anzuerkennen, andererseits den primären Sinn von Wissen beizubehalten, ist folgende introspektiv (d. h. durch Thematisierung der verschiedenen Handlungen, die wir vollziehen, wenn wir erkennen) verifizierbare Erkenntnistheorie auf der Linie der Tradition, die sich auf Aristoteles und Thomas von Aquin beruft: Die menschliche Erkenntnis besteht in einer dreigliedrigen Struktur aus Erfahrung, Einsicht (mit entsprechender Begriffsbildung) und Urteil. Diese Struktur ist von einer unbegrenzten Intentionalität getragen, die intelligent und rational ist und nach der Erkenntnis der Realität (des Seins) strebt. Erst im Urteil, d. h. in der absoluten Setzung des „est“, „ja, es ist so“, wird die Realität erreicht, wonach sie von Anfang an strebt. Auf diese Weise lassen sich folgende Formen von Erkenntnis unterscheiden: a) Die Erkenntnis der unserer Erkenntnisart proportionierten Realität: der Welt. Eine solchen Erkenntnis beginnt mit der äußeren oder inneren Erfahrung und endet mit einem Tatsachenurteil über die materielle Welt oder unser Ich. Sie ist Erkenntnis im ersten und vollen Sinne des Wortes: cognitio propria. b) Die Erkenntnis der unsere Erkenntnisart transzendierenden Realität, d. h. der Realität, die zwar innerhalb der unbegrenzten Tragweite der Intentionalität liegt (eine Realität jenseits der unbegrenzten Tragweite der Intentionalität, deren Zielobjekt „Sein“ genannt wird, müßte ein „Nicht-Sein“ sein, also Nichts), aber jenseits der Tragweite unserer Erfahrung. Eine solche Erkenntnis nimmt als Ausgangspunkt eine bereits erkannte „weltliche“, d. h. erfahrbare Realität (zur Welt gehört in diesem Sinne auch unser eigenes Ich) und gelangt durch eine analoge von der Welt her gewonnene Einsicht und den entsprechenden Begriff zum Urteil: „Diese transzendente Realität (de facto Gott) existiert.“ Solcherart, d. h. eine analoge Erkenntnis ist unsere Erkenntnis Gottes. Zu dieser Erkenntnis führt auch der moralische Gottesbeweis in beiden oben erwähnten Formen. Was Kant „Vernunftglaube“ oder „moralischen Glauben“ (KrV A 828) nennt, ist genau diese analoge Erkenntnis des Transzendenten. Kant erkennt auf seine Weise die Rationalität (d. h. Begründetheit) der Argumentation an, die er Postulat nennt. Trotzdem kann er sie nicht für ein Wissen um die Realität Gottes halten aus dem einfachen Grund, weil es für ihn nicht die rationale Bejahung des Urteils ist, die unsere erkenntnismäßige Beziehung zur Wirklichkeit herstellt, sondern die sinnliche Erfahrung, die im Falle der
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Realität Gottes ausgeschlossen ist. Für diese analoge (!) Erkenntnis des Transzendenten gilt als angemessene Bezeichnung auch der Terminus „Glaube“, mit der existentiellen und religiösen Konnotation, die dieser Terminus mit sich bringt. Aber sowohl die Bezeichnung „analoge Erkenntnis“ wie auch die Bezeichnung „Glaube“ dürfen nicht als Alternativen zur Bezeichnung „Wissen“ verstanden werden; sie weisen vielmehr auf die Eigenart dieses Wissens im Unterschied zum Wissen der „cognitio propria“ der Welt hin. 3. Die vorhin skizzierte Erkenntnistheorie läßt auch den Unterschied zwischen Wissen und Glauben (letzterer in seinem primären Sinn verstanden) festlegen. Innerhalb dieser Distinktion bezeichnet Wissen eine immanent erzeugte Erkenntnis, d. h. eine Erkenntnis der Wirklichkeit, zu der jemand gelangt durch seine eigene Erfahrung der gemeinten Wirklichkeit, seine eigene Einsicht in die Intelligibilität dieser Wirklichkeit und sein eigenes, innerlich motiviertes Urteil, in dem er behauptet: (1) Dieses erfahrene und (2) so und so verstandene Ding (3) ist. Glauben bezeichnet eine Erkenntnis, zu der jemand nicht durch seine eigene Erfahrung und sein eigenes Verstehen der gemeinten Realität gelangt, sondern dadurch, daß er das versteht (wenn auch durch eine einfache, deskriptive Art von Verstehen), was jemand ihm mitteilt, und aufgrund der Glaubwürdigkeit der mitteilenden Person ein rationales Urteil über die Sache fällt. Gerade wegen dieser Begründung des Urteils stellt der so verstandene Glaube einen durchaus rationalen Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit dar. Es ist leicht einzusehen, daß dieser Glaube eine fundamentale Form des Wissens ist nicht nur innerhalb unseres alltäglichen interpersonalen Lebens, sondern auch, ja noch mehr in der Wissenschaft. Denn der Fortschritt der letzteren gründet weitgehend auf der Kooperation zwischen Fachleuten, die das übernehmen, was ihre Kollegen in der wissenschaftlichen Kommunität mitgeteilt haben, ohne daß sie deren Resultate nochmals direkt zu überprüfen brauchen. Der so verstandene Glaube ist aber nicht die Form des Wissens, mit dem Kant sich in der Dialektik der KpV intensiv beschäftigt, aber ohne ein dafür passendes Instrumentarium zu haben. Glaube als eine Form von Wissen, das auf interpersonaler Mitteilung und Glaubwürdigkeit des Mitteilenden gründet, ist kein Thema in beiden Schriften zur Grundlegung der Ethik. In der KrV findet sich eine kurze Behandlung im Abschnitt „Vom Meinen, Wissen und Glauben“ (A 820 ff.), und in der MS, Tugendlehre, § 9, kommt der Glaube „e contrario“ beim Thema „Lüge“ vor. 4. Vom Glauben als einem auf Mitteilung gegründeten Wissen handelt Kant in seiner „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Dort ist der Terminus „Vernunftglaube“ zu einem Grundbegriff der Kantischen Religionsphilosophie avanciert. Er kommt besonders häufig im dritten Stück des Werkes vor, das von der Kirche als „Reich Gottes auf Erden“ handelt. Der Sinngehalt von „Vernunftglauben“, auch „moralischer Vernunftglaube“ genannt (B 248 = VI 164), zusammen mit den äquivalenten Termini „reiner Glaube“, „Religionsglaube“, wird als Gegenstück zu „historischem Glauben“ (auch „Offenbarungsglaube“, „Kirchenglaube“ „Geschichtsglaube“) festgelegt. Die zweite Reihe der Termini bezeichnet einen Glauben, dessen Inhalt auf eine historische, positive Offenbarung zurückgeht (de facto die christliche Offenbarung zusammen mit ihrer Vorbereitung in der alttestamentlichen Offenbarung), die der sichtbaren Kirche zur
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Bewahrung und Auslegung anvertraut ist. Der Vernunftglaube ist jene Erkenntnis, zu der die menschliche Vernunft aus eigener Kraft gelangen kann. Sie entsteht durch eine Reflexion auf die eigene moralische Verfaßtheit des Menschen, also auf das ihm innewohnende moralische Gesetz. Die dadurch ermittelten Vorschriften der praktischen Vernunft werden für göttliche Gebote gehalten (vgl. KpV A 233 und Parallelstelle in: Religion A 229–231 = VI 153 f.) und machen die wahre Religion aus, „die Religion des guten Lebenswandels“ (Religion B 61 = VI 51). Der Offenbarungsglaube als Kirchenglaube hat die provisorische Funktion eines „Vehikels“ zur Förderung der Alleinherrschaft des Vernunftglaubens oder des reinen Religionsglaubens. Kants Religionsschrift ist nichts anderes als eine systematische Umsetzung der von Lessing in seiner „Erziehung des Menschengeschlechtes“ (1780) formulierten Ansicht, daß die Lehren der christlichen Offenbarung geoffenbart wurden, um Vernunftwahrheiten zu werden (§ 72). Demnach ist Kant in seiner Religionsschrift durch eine kritischphilosophische, oft symbolisierende Auslegung des christlichen Offenbarungsglaubens auf der Suche nach einem Vernunftglauben, d. h. nach einem Inbegriff moralischer Wahrheiten, die für die Vernunft einsichtig und damit annehmbar sind. Während also Vernunftglaube im Kontext der Postulatenlehre einen irrationalistisch-fideistischen Sinn hat („Annahme“ dessen, was über den Bereich unserer objektiv gültigen Erkenntnis hinausliegt), erhält er in der Religionsschrift einen rationalistisch-antisupranaturalistischen Sinn. Man könnte auch sagen, daß in der Postulatenlehre der Akzent des zusammengesetzten Terminus „Vernunftglaube“ auf Glaube im Gegensatz zu Wissen liegt (vgl. KrV, B XXX), in der Religionslehre hingegen liegt der Akzent auf Vernunft – die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft beruht ja auf einem Wissen durch die reine Vernunft. 6. Der moralische Gottesbeweis in der „Kritik der Urteilskraft“ und in der Religionsschrift Ein Postulat beruht auf jener von der Vernunft geforderten Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit, in der als „höchstem Gut“ der Endzweck des moralischen Willens liegt (A 207). Nun aber endete die erste Fassung des Postulates, der zur Annahme Gottes und der Unsterblichkeit der Seele führte, mit der Infragestellung der moralischen Autonomie des Menschen. Diese mit seiner Ethik unvereinbare Konsequenz meinte Kant in der zweiten Fassung seines Gottespostulats, das diesmal von dem der Unsterblichkeit getrennt wurde, dadurch umgehen zu können, daß er die von der Sache her geforderte Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit durch ein Ad-hoc-Gebot der autonomen Vernunft ersetzte. Denn so würde eine etwaige Unmöglichkeit des höchsten Gutes nur diese partikuläre (?) „Pflicht“ aufheben – wie die Distinktion im dritten Absatz des Abschnittes über das Postulat Gottes (A 226 f.) nahelegte. Was die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes überhaupt angeht, begnügte sich Kant dort mit der Auskunft: „Die Annehmung des Daseins Gottes“ sei nicht „Grund aller Verbindlichkeit überhaupt“. Was dies in concreto bedeutet, darauf ging Kant dort nicht ein.
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Die Klärung dieser existentiell höchst wichtigen Frage geschah zwei Jahre später im § 87 der KU. Die Argumentation dieser dritten Fassung wiederholt im wesentlichen die der zweiten. Allerdings fällt in dieser Fassung auf, wie stark Kant einerseits hervorhebt, daß das moralische Gesetz verpflichtet, „ohne von irgendeinem Zweck als materialer Bedingung abzuhangen“, und andererseits darauf besteht, daß dieses Gesetz „uns verbindlich macht“, einem Endzweck nachzustreben (B 423). Neues dagegen findet sich in den drei letzten Absätzen des Paragraphen nach dem Abschluß des Argumentationsgangs. Zunächst (B 425) nimmt Kant mit Nachdruck das Junktim seiner ersten Fassung des Beweises zurück: Das moralische Gesetz bleibe in Kraft ohne Rücksicht auf die Realisierbarkeit seines Endzweckes. Positiv bedeutet dies: „Ein jeder Vernünftige würde sich an die Vorschrift der Sitten immer noch als strenge gebunden erkennen müssen; denn die Gesetze derselben sind formal und gebieten unbedingt, ohne Rücksicht auf Zwecke.“ Das Gesagte wird dramatisch durch das Beispiel eines „rechtschaffenen Menschen (wie etwa des Spinoza)“ exemplifiziert, für den es weder einen Gott noch ein künftiges Leben gibt. In diesem Fall kann die „innere Zweckbestimmung“ (B 427) des Menschen durch das moralische Gesetz keine andere als „ein weites Grab“ sein, das schließlich „sie insgesamt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt“ (B 428). Daß Kant hier unerschrocken die Unbedingtheit eines auf das Nichts hinauslaufenden Sollensanspruchs vertritt, entspricht durchaus der Logik seines Ansatzes, in dem die Pflicht unter Ausschluß jeglichen Zweckes statuiert wurde. Aber im nachhinein scheint Kant seiner Position nicht mehr so sicher zu sein. Er äußert die Befürchtung, daß doch „die Nichtigkeit des… Endzweckes“ der Bereitschaft, dem sittlichen Gesetz zu gehorchen, Abbruch tun könnte, insofern dem Menschen die Absurdität aufgehen würde, absolut zum Nichts hin in Anspruch genommen zu werden. Deswegen „muß“ der rechtschaffene Mensch, „das Dasein eines moralischen Welturhebers, d. i. Gottes annehmen“ (B 428 f.), eben um die Verbindlichkeit des Sittengesetzes aufrechtzuerhalten.302 Es ist sehr lehrreich, daß derselbe Nachgedanke als unerwartete radikale Kehrtwendung gegen die Logik der eigenen Prämissen auch an anderen Stellen vorkommt, an denen Kant seine zunächst einmal endgültige Lösung des Problems vorlegt, nämlich den Pflichtcharakter des Gesetzes als unabhängig von einem transzendenten Gesetzgeber und von einem Endzweck über das irdische Leben hinaus. So gibt Kant in einer ausführlichen Fußnote des § 91 zu, daß die Vernunft, „ohne Gott und Unsterblichkeit anzunehmen“, die Erwartung des höchsten Guts „für eine ungegründete und nich302 G. Krüger kommentiert die Stelle, wie folgt: „Es ist der ehrliche Ausdruck der geschichtlichen Aporie, wenn Kant die Verlegenheit schildert, in der er sich einen rechtschaffenen Mann wie den Spinoza denkt, der genau weiß, daß nur das Gesetz praktisch notwendig ist, nicht die Annahme des Daseins Gottes, der aber doch an der Erfüllbarkeit seiner Pflicht zweifeln müßte, wenn er der Sinnlosigkeit des bloß ‘empirischen’ Weltlaufes nicht mit der Überzeugung vom Dasein Gottes begegnen dürfte. Kant könnte hier sagen wie Voltaire: Si Dieu n’éxistait pas, il faudrait l’inventer“ (Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik, 204).
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tige … halten und, wenn sie von diesem Urteile völlige Gewißheit haben könnte, das moralische Gesetz selbst als bloße Täuschung … ansehen“ muß (B 461). In der Vorrede zur Religionsschrift drei Jahre später hat Kant noch zweimal seinen moralischen Gottesbeweis vorgelegt. Im ersten wird zuerst gesagt, daß die Moral „keines Zweckes“ bedarf, weder zur Erkenntnis der Pflichten noch zur Ausübung derselben (B IV = VI 3f.). Dann aber wird hinzugefügt, daß „es der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein kann, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was denn aus diesem unserem Rechthandel herauskomme“ (B VII = VI 5), ja es gebe im Menschen ein „moralisch gewirktes Bedürfnis …, zu seinen Pflichten sich noch einen Endzweck, als den Erfolg derselben, zu denken“. Also bedarf doch die Moral eines der absoluten Verbindlichkeit des Gesetzes entsprechenden Zwecks. Auf diesem Weg gelangt die Moral zur „Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers“, der den Endzweck zu verwirklichen vermag (B IX = VI 6). Im zweiten Beweis (Fußnote B IX–XIII = VI 6–8) vertritt Kant nochmals die Ansicht, daß das moralische Gesetz uns verpflichtet, „es mag nun auch mit dem irdischen Leben alles aus sein“. Und doch macht auch hier Kant, von der Logik der Sache gleichsam bezwungen, die schon besprochene Kehrtwendung: Über die „Einschränkung [!] des Menschen … sich bei allen Handlungen nach dem Erfolg aus denselben umzusehen“ holt Kant den „Endzweck“, und zwar als „moralischen Endzweck der Vernunft“ wieder ein, wofür dann ein „allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher“ angenommen werden „muß“. Über diese Pendelbewegung zwischen einer weder rein formalen noch absolut autonomen Moral und einer formalen und autonomen aber absurden Moral geht auch diese Fassung von Kants moralischem Gottesbeweis nicht hinaus. Diese letzte Fassung des Postulats Gottes ist auch deshalb wichtig, weil hier die anvisierte Situation (das Ende des irdischen Lebens) Kant zwingt, endlich die Mehrdeutigkeit seiner Auffassung von der Glückseligkeit zu überwinden. Nicht um das höchste Gut in der Welt, nicht um eine von Naturursachen bewirkte Glückseligkeit handelt es sich, wenn, durchaus richtig, Tugend für „Würdigkeit, glücklich zu sein“ gehalten wird. Der eigentliche Zweck, den der wohlgesinnte Spinoza „vor Augen hatte und haben sollte“ (KU B 428), ist der Zweck nach der Probezeit des zeitlichen Erdenlebens. Ein solcher kann kein anderer sein als das Ende im Sinne einer Auflösung der Person ins Nichts oder aber im Sinne der Vollendung der Person gemäß der inneren Dynamik des moralischen Gesetzes als das Gesetz dessen, was für den Menschen gut ist. Das zweite Glied der Alternative kann nur derjenige vertreten, der in einem personalen, transzendenten und absoluten Wesen den Schöpfer, Gesetzgeber und das Ziel des Menschen anerkennt. Der moralische Gottesbeweis stellt einen Weg dar, der dem Menschen ermöglicht, eine solche Erkenntnis vor seiner eigenen Vernunft zu verantworten.
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7. Kommentar zu den Abs. 4–10 (A 227–237) Die nun folgenden Abs. kreisen zwar um das höchste Gut und Gott als denjenigen, der dies allein zustandebringen kann, fügen aber der Argumentation des Postulats nichts hinzu. A 227: Abs. 4 nennt den soeben vorgelegten Gottesbeweis „Deduktion“, so wie auch vorher (A 203) von einer transzendentalen Deduktion des Begriffs vom höchsten Gut die Rede gewesen ist. Dieser Terminus wird von Kant mehrmals in einem eher vagen Sinn verwendet, der nicht der Definition entspricht, die der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe vorangestellt wurde (KrV A 85). Was dann kommt, reiht sich in die Auseinandersetzung mit der Ethik der Alten ein, die wie ein roter Faden durch die eigenen Schriften zur Ethik hindurch geht (vgl. auch schon in der vorliegenden Dialektik: A 194 f., 200–202). Kant will auf den Grund eingehen, warum die griechischen Schulen (deren Ethik im Unterschied zu derjenigen Kants eine Ethik vom guten Leben war, dennoch) nicht imstande waren, die Möglichkeit des höchsten Gutes zu erklären. Er kritisiert an ihnen keineswegs die nicht-theonome Begründung des Prinzips der Sittlichkeit (so wie Kant die Alten etwas einseitig interpretiert), sondern daß sie die Sittlichkeit und mit ihr deren Prinzip zwar richtig „zur obersten praktischen Bedingung des höchsten Gutes machten“ („oberst“ im Sinne von „supremum“: A 198), aber nicht beachteten, daß dies „nicht die ganze Bedingung der Möglichkeit desselben“ ist. M.a.W., sie übersahen die Glückseligkeit als einen eigenständigen Bestandteil des höchsten Gutes; damit fühlten sie sich nicht gezwungen, Gott als Bedingung der Möglichkeit des höchsten Gutes zu postulieren. Der Grund dieser Position lag, wie Kant vorher schon erläutert hat (A 199 f.), darin, daß sie die Verknüpfung der zwei Bestandteile des höchsten Gutes für analytisch hielten. Weil nun die Epikureer fälschlicherweise die Glückseligkeit für das Prinzip der Sittlichkeit hielten (die Sittlichkeit bestehe in der klugen Suche nach Glückseligkeit, vgl. A 200), mußten sie das höchste Gut herabsetzen. Die Stoiker dagegen wählten richtig die Tugend als oberste Bedingung des höchsten Gutes, aber a) sie meinten, der geforderte Grad der Tugend sei schon in diesem Leben erreichbar und b) deshalb überschätzten sie das moralische Vermögen des Menschen (vgl. A 221 zur schwärmerischen Überspannung). Was das höchste Gut anbelangt, hielten sie es für schon im Bewußtsein der eigenen moralischen Vortrefflichkeit enthalten (vgl. A 200) – gegen die Stimme unserer Natur, die uns zu verstehen gibt, daß die „Zufriedenheit mit seinem persönlichen Wert“ die verlangte Glückseligkeit nicht mit sich bringt. Es hat einen gewissen Reiz festzustellen, daß ausgerechnet Kant, der entschiedenste Verfechter der moralischen Autonomie des Menschen, den Moralsystemen der Antike als Fehler ankreidet, daß sie die theologische und damit religiöse Dimension der Ethik übersehen haben (vgl. R 6876: XIX 188). A 229: Abs. 5 liefert in kleinem Umfang die Kostprobe einer Auslegung der christlichen Lehre aus bloßer Vernunft, die dahin tendiert, das Christentum als eine rein mo-
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ralische Religion zu verstehen, wie Kant es 1793 in der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ in größerem Umfang tun wird. Grundlegend für diese philosophische Interpretation des Christentums („noch nicht als Religionslehre“, bzw. in der Fußnote: „Wenn ich die christliche Moral von ihrer philosophischen Seite betrachte“) ist die Identifizierung des „Reiches Gottes“ (des Kerns der Predigt Jesu: vgl. Mk 1, 15) mit dem höchsten Gut.303 Das Christentum vertritt ein heiliges moralisches Gesetz, weiß aber zugleich um unseren „Hang zur Übertretung“304 und fordert deshalb einen Fortschritt ins Unendliche. In der Lehre des Christentums findet Kant dieselbe Antinomie, die er im Abschnitt I des vorliegenden Hauptstücks (in der „Antithesis“) herausgestellt hat: Der moralische Wert ist zwar unendlich (vgl. zu Beginn der GMS), bewirkt aber von selbst keine Glückseligkeit. Die Lösung dieser Antinomie sieht Kant an unserer Stelle in der Lehre vom Reich Gottes als Harmonie von Natur und Sitten durch einen heiligen Urheber. Im weiteren Verlauf seiner Darstellung der christlichen Morallehre schwenkt Kant, fast unmerklich, auf dieselbe Vorstellung der Sittlichkeit ein wie schon im Postulat der Unsterblichkeit. Denn er spricht nicht mehr von der uns hier auf Erden möglichen Tugend, sondern von der Heiligkeit der Sitten, welche als Urbild dienen soll für unser tugendhaftes Verhalten in einem nie zu Ende gehenden Fortschreiten, so daß die Seligkeit (im Unterschied zur Glückseligkeit) „als nur in einer Ewigkeit erreichbar vorgestellt“ wird. Dementsprechend wird sie „lediglich zum Gegenstand der Hoffnung“. Kant sorgt aber sofort dafür, daß seine Übernahme typisch christlicher Begriffe wie Reich Gottes, Heiligkeit, Seligkeit und Hoffnung nicht im Sinne einer theologisch begründeten Auffassung der Moral verstanden wird. Denn, fährt er fort, selbst das christliche Prinzip der Moral liegt (nach seinem Dafürhalten!) in der „Autonomie der reinen praktischen Vernunft“. Die Erkenntnis Gottes und seines Willens sei weder der Grund der moralischen Gesetze noch „Triebfeder zur Befolgung“ derselben. Sie sei vielmehr Bedingung der „Gelangung zum höchsten Gut“ in dem Sinne, wie er in der vorliegenden Fassung des Gottespostulats (Abs. 3) erklärt hat, nämlich Bedingung für die Verwirklichung des höchsten Gutes. In der Fußnote geht Kant von der obigen Interpretation der christlichen Lehre im Lichte seiner eigenen Ethik zum Vergleich des Christentums „mit den Ideen der griechischen Schulen“, insbesondere mit den Stoikern, über. Von ihrer Morallehre, der Kant nahestand, werden hier eher negative Aspekte zur Sprache gebracht: Bewußtsein der Seelenstärke und ein gewisser Heroismus sind Kennzeichen des stoischen Weisen. Darin sieht Kant sowohl eine Überschätzung des moralischen Vermögens des Menschen (vgl. schon A 221) als auch einen Abstrich an der „Reinigkeit und Strenge“ des moralischen Gesetzes. Hinsichtlich der christlichen Moral weist Kant darauf hin, daß 303 Im dritten Stück seiner Religionsschrift wird Kant unter der Bezeichnung „Reich Gottes auf Erden“ seine Lehre von der Kirche als „ethischem gemeinem Wesen“ darlegen. Der Begriff „Reich Gottes“ findet bei Kant erst in der KpV ausdrückliche Erwähnung. 304 Im ersten Stück der Religionsschrift über das „radikale Böse“ handelt der II. Abschnitt „Von dem Hange zum Bösen in der menschlichen Natur“.
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ihre Vorschriften „rein und unnachsichtlich“ sind. Deshalb hat er vorher die Idee dieser Moral einfach „Heiligkeit“ und die angemessene Einstellung ihr gegenüber „Demut“ genannt. Zugleich aber läßt die christliche Moral uns auf eine anderweitige Ergänzung unseres Unvermögens hoffen, wenn wir tun, was in unserem Vermögen steht. Letztere auffallend zurückhaltende und vage Aussage ist typisch für die Religionsschrift Kants, sofern sie die Anerkennung eines göttlichen Beistandes (christlich gesprochen: Gnade) behandelt (vgl. dort B 62 f., 141, 176–178 = VI 51 f., 100f, 119–121 usw. und bereits im Brief an Lavater vom 28. April 1775, in dem Kant den Kern seiner viel späteren Religion des „guten Lebenswandels“ mit erstaunlicher Klarheit skizzierte). In der Religionsschrift tritt die skeptische bis ablehnende Einstellung Kants zu jeglicher übernatürlichen Hilfe, die das ergänzen oder gar ersetzen soll, was eigentlich wir tun sollen, weil es unsere Pflicht ist, viel deutlicher zutage. Zu den hier mit verschiedenen Termini bezeichneten Ideen der praktischen Vollkommenheit nach den verschiedenen Schulen hat Kant in der Vorrede, A 22, bemerkt, daß er ansonsten Weisheit und Heiligkeit, die er hier den Schulen der Stoiker bzw. der Christen zugeschrieben hat, für objektiv einerlei hält. Deshalb könnte die genannte subjektive Weisheit, die der Stoiker sich anmaßt, vielleicht angemessener „Tugend“ genannt werden. A 233: Abs. 6. Indem das moralische Gesetz, wie die Argumentation des Postulats gezeigt hat, durch den Begriff des höchsten Gutes zur Annahme Gottes führt, führt sie auch zur Religion. Religion wird von Kant genau in dem Sinne verstanden – nicht mehr und nicht weniger –, wie die Argumentation auf Gott geschlossen hat. Gott hat sich auf dem Weg des Postulats als jenes höchste Wesen erschlossen, das allein „das höchste Gut, welches zum Gegenstande unserer Bestrebung zu setzen uns das moralische Gesetz zur Pflicht macht“ verwirklichen kann. Gerade weil die Verwirklichung des „Endzwecks der reinen praktischen Vernunft“ von Gott abhängt, führt das Postulat „zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“. Die letztzitierten Worte enthalten den Kern des Kantischen Religionsbegriffs, der von diesem Werk an in fast all seinen späteren Veröffentlichungen, meistens wortwörtlich, übernommen wird. Die Verbindung, die Kant zwischen dem Postulat Gottes und seinem Religionsbegriff sieht, sowie der sprachliche Ausdruck, mit dem der Begriff bezeichnet wird, enthalten unvermeidlich dieselbe fragwürdige Schlußfolgerung, die schon die Argumentation des Postulats kennzeichnet. Gemeint ist, daß Kant von einem Gesetz unserer eigenen Vernunft ausgegangen ist305 und auf Gott als denjenigen geschlossen hat, der ein von ihm nicht erlassenes Gesetz zum Gelingen bringen soll. Es handelt sich freilich Kant ging nämlich aus von dem „partikulären“ Gebot: „Wir sollen das höchste Gut zu befördern suchen“ (A 225). Aber auch abgesehen von der Frage, ob das höchste Gut Zielobjekt eines partikulären Gebots ist – wie es Kant gedeutet hat, um die Sackgasse der ersten Fassung des Postulats zu umgehen – oder aber Zielobjekt des moralischen Gesetzes als Ganzem, wie es Kant in der Tat auch oft ausdrückt, steht fest, daß sein Ausgangspunkt ein Gesetz ist, das von der menschlichen Vernunft stammt. 305
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nicht bloß um einen einzelnen mißlungenen Gedankengang; es geht vielmehr um eine Grundlehre (die Autonomie!), auf der, zusammen mit der Lehre vom Formalismus, das ganze Gebäude der Ethik Kants beruht. Daß der Übergang von der Moral zur Religion nicht ganz geglückt ist, scheint Kant selbst, wenn auch nur ansatzweise, eingesehen zu haben. Deshalb greift er in seiner Definition zu einem „als“, das vom Kontext her den Sinn von „als ob“ hat306 und notdürftig die Gebote unserer eigenen Vernunft als Gebote Gottes hinstellt. In der Tat zeigt das, was nach der Definition folgt, die Bemühung Kants, die Definition so auszulegen, daß sie die Autonomie der praktischen Vernunft nicht in Frage stellt: Die genannten Gebote Gottes seien ja nicht „Verordnungen eines fremden Willens“, sie seien vielmehr „wesentliche Gesetze eines jeden freien Willens, die aber dennoch als Gebote des höchstens Wesens angesehen werden müssen“. Dies aber hindert Kant nicht daran, hier die Sittlichkeit, die uns der Glückseligkeit würdig macht, als Übereinstimmung nicht mit unserer gesetzgebenden Vernunft, sondern mit dem Willen Gottes anzusehen und deshalb als Grund unserer Hoffnung, zum höchsten Gut zu gelangen, weil nur Gott den Endzweck unserer praktischen Vernunft verwirklichen kann. 306 Auf dieses Mittel rekurriert Kant in seinen Schriften mehrmals. Ich verweise auf den abschließenden Abschnitt des Elementarlehre-Teils in der KrV „Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“, in dem der Ausdruck 17mal vorkommt, um den heuristisch-regulativen Gebrauch (vgl. A 671) der Ideen der reinen Vernunft zu bezeichnen. Wichtig ist auch die Stelle A 616–619, an der Kant der Idee eines notwendigen Wesens außerhalb der Welt die Funktion eines regulativen Prinzips der Vernunft im Hinblick auf die Verbindungen in der Welt zuschreibt, so daß wir in der Naturwissenschaft so verfahren können, als ob es dieses Wesen nicht gäbe, um immer wieder eine Erscheinung von einer anderen ableiten zu können, und zugleich als ob es dieses Wesen gäbe, um die synthetische Einheit der Erscheinungen und die Vollständigkeit ihrer Ableitbarkeit zu erklären. Heutzutage können wir beiden Anliegen Kants – der Beschränkung der Naturwissenschaft auf das empirisch Nachprüfbare und der Anerkennung eines transzendenten Wesens – unbeschwert gerecht werden, ohne auf ein „als ob“ rekurrieren zu müssen. Denn die methodische Beschränkung der Naturwissenschaft gerät in keiner Weise mit der rationalen Erkenntnis eines transzendenten Wesens in Konflikt. Wenn ich das „als“ der Kantischen Definition der Religion im Sinne von einem „als ob“ verstehe, so will ich es nicht im Sinne der fiktionalistischen Theorie von Hans Vaihinger verstanden Wissen (vgl. H. Vaihinger, Die Philosophie des Als ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, 1910). Er interpretiert das „als“ in der Definition der Religion im Sinne seiner fiktionalistischen Theorie, wonach die Beziehung der Pflicht auf Gott, sowie der Gottesbegriff selbst nichts als Fiktionen seien. Allerdings bezieht sich Vaihinger direkt wohl nur auf die Definition der Religion im Opus postumum. M.E. ist das „als“ hier und auch an anderen Stellen eher Ausdruck einer Spannung im Denken Kants wegen diverser Elemente, die er in einer bestimmten Sachproblematik für impliziert hielt, die er aber nicht zu einer kohärenten Einheit bringen konnte. Ein anderer wichtiger Fall dieser Art ist die „pragmatische“ Regel, die er in der KrV den Forschern „im Felde der Erfahrung“ nahelegt, nämlich die „Erscheinungen als Gegenstände an sich selbst“ zu behandeln, ohne sich um den transzendenten und deshalb uns unerkennbaren ersten Grund dieser Erscheinungen zu kümmern (KrV A 393). Kant hielt sicher die Erkenntnis- und Seinstheorie der KrV trotz der ungelösten Fragen, die seine Theorie aufwarf, nicht für eine bloß „nützliche“ Fiktion.
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Die weiteren Ausführungen befassen sich nochmals mit der Gesinnung („uneigennützig“; vgl. auch A 223), mit der wir das höchste Gut „befördern“ sollen. Zu bemerken ist auch, daß die Art und Weise, wie hier das höchste Gut beschrieben wird („die größte Glückseligkeit mit dem größten Maße sittlicher … Vollkommenheit“), im Sinne der zu Beginn der Dialektik angegebenen Definition des höchsten Gutes (A 199) zu verstehen ist, wie aus den Ausdrücken „in Geschöpfen möglicher“ und „in der genauesten Proportion“ hervorgeht, d. h. also nicht als die Verbindung von „Heiligkeit“ (vgl. im Postulat der Unsterblichkeit) und „Seligkeit“ (vgl. A 232). Von Bedeutung ist auch die beiläufige Erwähnung, daß das moralische Gesetz unser Verlangen nach Glückseligkeit „einschränkt“. Gemeint ist die Einschränkung auf das für den Menschen wahrhaftig Gute, also auf das sittlich Gute. Damit geht Kant, wie ich im Kommentar zu A 61 (wo von der Einschränkung der Materie des Wollens die Rede ist, damit die Maxime zum Gesetz taugt) dargelegt habe, implizit über den Formalismus seiner Ethik hinaus. Kant hat die hier vorgelegte Definition der Religion in mehreren späteren Veröffentlichungen übernommen. Es sind chronologisch geordnet folgende: KU in der abschließenden „Allgemeinen Anmerkung zur Teleologie“, und zwar in Zusammenhang mit der „moralischen Theologie“: B 476–478; Religionsschrift, IV. Stück: B 229–231 = VI 153 f.; MdS, Tugendlehre, § 18, sowie auch im „Beschluß: A 181 = VI 486; Streit der Fakultäten, 1. Abschnitt über den Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen, II. Anhang zur „Materie des Streits“: A 44 f. = VII 36; außerdem in einigen religionsphilosophischen Bemerkungen aus dem handschriftlichen Nachlaß, die auf den Zeitraum 1794–1795 datiert werden (XIX 643–651), vor allem die R 8104. Von besonderer Bedeutung für die Kantische Konzeption der Religion ist der Abschnitt in der Religionsschrift. Zwei Kennzeichen sind für die Religion an dieser Stelle charakteristisch. Erstens, was die von der Religion vorausgesetzte Erkenntnis Gottes anbelangt, ist „das Minimum der Erkenntnis (es ist möglich, daß ein Gott sei) subjektiv schon hinreichend“. Zweitens, was die in der Definition genannten Pflichten angeht, handelt es sich ausschließlich um „ethisch-bürgerliche Menschenpflichten (von Menschen gegen Menschen)“. Denn „in einer allgemeinen Religion“ gibt es keine besonderen Pflichten gegen Gott, die Kant hier „Hofdienste“ nennt. Die allgemeine Religion Kants, die Religion des Deismus und der Aufklärung, geht aus der Moral hervor und geht in der Moral auf. Hinsichtlich der theologischen Quellen der Auffassung Kants von der Religion verweist Bohatec307 auf den reformierten schweizerischen Theologen Joh. Fr. Stapfer (1708–1775), aus dessen Schriften Kant seine theologischen Kenntnisse in erster Linie geschöpft hat. Bohatec bemerkt in diesem Zusammenhang auch, daß die Verknüpfung des Pflichtgedankens mit dem Religionsbegriff ein Charakteristikum des Wolffschen Rationalismus war. A 234: Abs. 7–8. Nachdem Kant die Religion mittels des Pflichtbegriffs, also in bezug auf den ersten Bestandteil des höchsten Gutes, definiert hat, behandelt er die Bezie307
J. Bohatec, Die Religionsphilosophie Kants, 45–50.
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hung der Moral und damit der Religion zum anderen Bestandteil: zur Glückseligkeit. Wenn von der Glückseligkeit die Rede ist, gilt für Kant als das Fundamentale die „Würdigkeit, glücklich zu sein“, die mit der Tugend material identisch ist (vgl. A 198). Zur These: „Die Moral ist eigentlich nicht die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen“, vgl. die im Kommentar zu A 166 f. zitierte Parallelstelle aus dem Aufsatz „Über den Gemeinspruch“ (S. 202), wo Kant die Unterscheidung nicht so verstanden wissen will, als müsse der Mensch seinem natürlichen Streben nach Glückseligkeit entsagen (wohl aber soll er von dieser Rücksicht abstrahieren). Erst danach, wenn wir Gott zur Verwirklichung des unbedingt gebotenen höchsten Guts postuliert haben, und damit „Religion dazu kommt“, können wir auf Glückseligkeit hoffen. Es folgt dann eine Definition des Begriffs „Würdigkeit“, der zufolge es bei der Würdigkeit auf das sittliche Verhalten ankommt, weil ein solches Verhalten im Begriff des höchsten Gutes die Bedingung des Anteils an der Glückseligkeit ausmacht, wie bei der Vorstellung des höchsten Gutes bereits gesagt wurde (A 198 f.). Es gilt deshalb, „daß man die Moral an sich niemals als Glückseligkeitslehre behandeln müsse“. Moral hat mit der „conditio sine qua non“ der Glückseligkeit zu tun, nicht mit einem Erwerbsmittel. D. h. Moral ist nicht Mittel zur Glückseligkeit. Tatsächlich war in dem geistesgeschichtlichen Kontext, in dem Kant seine Ethik verfaßte, die Orientierung der Morallehre an der Glückseligkeit gängig, etwa bei Leibniz, Thomasius und Wolff. So z. B. lautet der Titel der deutschen Ethik Wolffs: „Vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen zu Beförderung ihrer Glückseligkeit“. In seiner „Philosophia moralis sive ethica“ schreibt Wolff: „Finis Ethicae est felicitas hominis“ (I, § 8). Dies bedeutet aber nicht notwendig, daß die damaligen Autoren, insbesondere die führenden, einen Eudämonismus im pejorativen Sinne vertreten hätten. Kant führte seinerseits in der KpV alle bis dahin vertretenen Prinzipien der Sittlichkeit auf das Prinzip der Glückseligkeit zurück (A 67–71), was wohl mit dem Formalismus der Analytik der zweiten Kritik zusammenhängt. Was Kant hier über die Glückseligkeit sagt, gehört zu jenem Kampf gegen den Eudämonismus, der ein ständiges Anliegen seiner Schriften zur Moral darstellt. Auch die Einführung des Begriffs „Eudämonismus“ geht auf ihn zurück (vgl. den „Streit der Fakultäten“, A 134–137 = VII 81 f.; MS, Tugendlehre, Vorrede: A VIII f. = VI 377 f.; hier kommt auch der Terminus „Eudämonie“ vor).308 Wenn aber Tugend „Würdigkeit, glücklich zu sein“ besagt (A 198), wobei die Vernunft selbst die Glückseligkeit für den tugendhaften Menschen fordert (A 199), so stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen unserem freien Wollen (dessen Norm das moralische Gesetz ist) und der Glückseligkeit. Dem Verfasser der KpV (sowie auch dem Leser!) ist diese Frage ständig präsent. Aber anstatt einer prinzipiellen Antwort findet der Leser mehrere Antworten, die sich schwer zu einem eindeutigen Verhaltensprinzip vereinen lassen. Es heißt: „Glücklich zu sein, ist notwendig das H. Reiner, Art. „Eudämonismus“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. II, 1972, 819–823. 308
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Verlangen eines jeden vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögen“. Dieses Verlangen erklärt sich daraus, daß der Mensch „bedürftig ist, und dieses Bedürfnis betrifft die Materie seines Begehrungsvermögens“ (A 45). Man würde erwarten, daß Kant angibt, welche Materie der Mensch „begehren“ darf, ja soll, um der Bedürftigkeit seines Wesens nachzukommen. Die Antwort auf diese Frage hat Kant bereits in vorhergehenden Lehrsatz II gegeben: „Keine“! Denn „alle materialen praktischen Prinzipien … gehören unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit“ (A 40). Beide Termini „Selbstliebe“ und „eigene Glückseligkeit“ bezeichnen hier offenkundig einen negativen Wert: Das Begehren, das vom Inhalt des Wollens motiviert ist, ist eo ipso ein sittlich schlechtes Wollen, weil hier der Wille im Dienst des „unteren Begehrungsvermögens“ handelt, wie es kurz danach heißt (A 41). Deswegen ist die Frage nicht abwegig, ob Kant ein rationales Begehrungsvermögen im Menschen überhaupt anerkennt (vgl. den Exkurs zu dieser Frage, S. 163). Ich sehe hier vom „Prinzip der Menschheit“ ab (GMS A 69 = IV 430), das in der Tat die Norm ist, die der Materie des sittlich guten Wollens und zugleich der Bedürftigkeit des Menschen Genüge tut. Denn Kant hat dieses Prinzip nicht in seine Handlungstheorie als Maßstab für die Universalisierbarkeit der Handlungen eingearbeitet. Die Frage nach der Glückseligkeit bedrängt den Philosophen immer wieder im Verlauf seiner Ausführungen über unser freies und verantwortliches Wollen. Die Antworten, die er von Fall zu Fall gibt, sind jeweils verschieden. Die wichtige Stelle von A 165–167 kann als eine Zusammenfassung der verschiedenen Antworten angesehen werden: a) Sie lehnt eine „Entgegensetzung“ von Sittlichkeit und Glückseligkeit ab; b) da, wo von Pflicht die Rede ist, soll man auf Glückseligkeit „gar nicht Rücksicht nehmen“. Nun aber gibt es keinen freien Willensakt, der nicht unter dem moralischen Gesetz steht!; c) Es „kann sogar in gewissem Betracht Pflicht sein, für seine Glückseligkeit zu sorgen“. Dieser „Betracht“, der nach dem in b) Gesagten nicht zu erwarten war, wird an einigen „rhapsodischen“ Common-Sense-Fällen exemplifiziert. Was der Leser vermißt, ist eine prinzipielle Klärung der Frage, was die Glückseligkeit mit dem Strebevermögen des Menschen zu tun hat und worin sie besteht. Zwei Dinge sind dafür von entscheidender Bedeutung309: 1) Wir streben notwendigerweise nach einem Letzten, das um seiner selbst willen erstrebt wird und gerade als solches das Streben (welches all unserem freien Wollen und Handeln zugrunde liegt und es trägt) erfüllt. Die Erfüllung dieses Strebens ist das, was alle Glück nennen. Auf dieses bezieht sich Kant, wenn er von einem notwendigen Verlangen, „glücklich zu sein“ spricht (A 45; GMS A 42 = IV 415; MS, Tugendlehre, Einleitung IV). 2) Das Eigentümliche des Menschen im Unterschied zu allen sinnenbegabten Lebewesen (animalia) ist, daß er mit einem vernünftigen oder vernunftgeleiteten Streben ausgestattet ist. Dieses Streben kann und soll das sinnliche Streben aufnehmen (nicht 309
Vgl. dazu M. Rhonheimer, Die Perspektive der Moral, 62–65.
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eliminieren) und es in den Dienst jenes Strebens nach Glück stellen, das dem Menschen als einer Leib-Geist-Wesenseinheit entspricht. Ein Leben gemäß dem vernünftigen Streben ist das, was die klassische Ethik ein „gutes Leben“ genannt hat. Weit entfernt davon zu verlangen, daß wir auf Glückseligkeit „gar nicht Rücksicht nehmen“, verweist vielmehr das moralische Gesetz als das Gesetz der Vernunft auf den Maßstab, demgemäß wir unser wahres Glück erstreben sollen. A 235: Abs. 9. Nachdem Kant vom höchsten Gut gesprochen hat – wobei er immer wieder die Sittlichkeit als bonum originarium und Bedingung des anderen Bestandteiles (Glückseligkeit) hervorgehoben hat (A 198) –, ist er nun imstande, in dem so verstandenen und von Gott letztlich abhängigen Gut „den letzten Zweck Gottes in Schöpfung der Welt“ zu sehen. Weisheit bedeutet nun die Erkenntnis des höchsten Gutes und die Angemessenheit des Willens zum höchsten Gute;310 demnach erweist der Urheber der Welt seine Weisheit gerade darin, daß er das höchste Gut als Zweck seiner Schöpfung nicht bloß auf Gütigkeit gegründet hat (nämlich auf den Willen, die vernünftigen Wesen glücklich zu machen), sondern unter die Bedingung gestellt hat, daß die vernünftigen Wesen durch „Beobachtung der heiligen Pflicht, die uns sein Gesetz auferlegt“311, mit seiner Heiligkeit übereinstimmen. Genau diese Achtung für sein Gebot von seiten der Geschöpfe ehrt Gott am meisten. Die These, daß „der letzte Zweck Gottes in Schöpfung der Welt“ das höchste Gut sei, kommt also, nach Kants Interpretation, der herkömmlichen theologischen These gleich, daß der Zweck der Schöpfung die Ehre Gottes sei. Ein Gott, der seine Geschöpfe mit Glückseligkeit beschenkt, ist liebenswürdig; aber ein Gott, der Glückseligkeit unter die Bedingung der Sittlichkeit stellt, ist der Anbetung und Ehre würdig (zur „Ehre Gottes“ vgl. auch KU § 87: B 422 Fn; MS, gegen Ende der „Schlußanmerkung“; „Fortschritte der Metaphysik“: XX 306). Die Lehre von der Ehre Gottes (gloria Dei) als letztem Ziel der Schöpfung war damals nicht nur in der Theologie, sondern auch in der Philosophie vertraut. Hier sei auf Wolffs Leipziger Habilitationsschrift verwiesen: „Philosophia practica universalis mathematica methodo conscripta“ von 1703. Die Verherrlichung Gottes als letztes Ziel des Menschen bildet geradezu den Leitbegriff dieser ethischen Frühschrift des jungen Magisters: „Gloriae divinae illustratio est finis hominis ultimus“312. Infolge einer detaillierten Besprechung dieser Schrift, die Leibniz in einem Brief Wolff zukommen ließ, änderte dieser seine Position, bzw. entwickelte sie dahingehend weiter, daß, während 1703 die Vervollkommnung der eigenen Natur als Mittel zur Verherrlichung Gottes galt, da310 Vgl. A 194 f., wo Kant die ihm geläufige Ansicht, daß die Weisheit sich auf das höchste Gut richtet, dahingehend präzisiert, daß die Weisheit als Wissenschaft ein Doppeltes enthält: Sie lehrt, worin das höchste Gut besteht und durch welches Verhalten es zu erwerben ist. 311 Man beachte, wie selbstverständlich Kant von einer Pflicht spricht, die das Gesetz Gottes uns auferlegt, so als ob er nicht der strenge Verfechter der Autonomie des Menschen wäre. 312 Chr. Wolff, „Meletemata mathematico-philosophica“, Halle 1755, Sect. II, Prop. 12, Corol. 4 in: Gesammelte Werke, ND, Hildesheim 1974, Bd. II.35, S. 208.
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nach die eigene Vollkommenheit, das Gemeinwohl und die Ehre Gottes ein Ganzes bildeten, wobei Wolff von einer Über- und Unterordnung hinsichtlich ihrer gegenseitigen Beziehung zu sprechen vermied.313 Die Idee von Leibniz, daß Gott seine Verherrlichung gerade dann finde, wenn jedes Geschöpf nach der je eigenen Vollkommenheit strebe und auch der Mensch seine Handlungen auf dieses Ziel hin ausrichte, war eine alte, geläufige Lehre in der Theologie. Sie wurde schon vom hl. Irenäus von Lyon in der einprägsamen Formulierung ausgedrückt: „Gloria Dei vivens homo“314. Zum biblisch-theologischen Begriff „Ehre Gottes“ sei darauf hingewiesen, daß das I. Vatikanische Konzil definiert hat: „mundum ad Dei gloriam conditum esse“ (DS 3025), wobei die gloria Dei objektiv in den Gütern besteht, die Gott den Geschöpfen mitteilt und die die Vollkommenheit Gottes offenbaren (DS 3002). Für die Lehre von der Ehre Gottes in der geistlichen Tradition sei auf die Anfangsworte im Exerzitienbuch des heiligen Ignatius von Loyola verwiesen. Im Zusammenhang mit der Heiligkeit Gottes entwickelt Kant in der Fußnote einen kleinen Traktat über die Eigenschaften Gottes, der als Pendant zur „Quaestio de divinis nominibus“ in der mittelalterlichen Theologie angesehen werden darf. Eine solche Lehre kann nicht umhin, auf das Analogie-Verfahren zu rekurrieren (Qualitäten der Geschöpfe „werden zum höchsten Grad erhoben“, vgl. auch KU, B 435). Kant weist insbesondere auf drei moralische Eigenschaften hin, die von sich aus Uneingeschränktheit besagen und die deshalb Gott allein zukommen: Gott ist der Heilige, der Selige, der Weise. Ihnen entsprechend ist Gott „der heilige Gesetzgeber (und Schöpfer), der gütige Regierer (und Erhalter) und der gerechte Richter“. Dieselbe dreifache Qualifikation Gottes kommt in der Religionsschrift (III. Stück, Allgemeine Anmerkung, B 211–215 = VI 139–142) als die erste von vier verschiedenen Interpretationen des Geheimnisses der Heiligsten Dreifaltigkeit wieder. Die drei staatsrechtlichen Gewalten drücken in diesem Lehrstück des christlichen Glaubens, so Kant, „lediglich das moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlecht“ aus. A 237: Abs. 10. Von den obigen Ausführungen über den Zweck Gottes in der Schöpfung und über die Heiligkeit seines Willens als „einschränkender Bedingung“ (!) seiner Gütigkeit geht Kant eher infolge einer Begriffsassoziation als wegen einer sachlichen Konsequenz aus dem vorhergehenden Thema zum Menschen über, dem „als Subjekt des moralischen Gesetzes, mithin dessen, was an sich heilig ist“, die Menschheit in seiner Person „heilig sein müsse“. Ein so verstandener Mensch gilt als „Zweck an sich selbst, [der] niemals bloß als Mittel … ohne hierbei zugleich selbst Zweck zu sein, könne gebraucht werden“. Diese Aussage, auch wenn sie nicht als eine Formulierung des moralischen Gesetzes angegeben wird, nimmt de facto die zweite Formel des kate313 Vgl. Cl. Schwaiger, Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 95–101. Zu „gloria Dei“ vgl. auch Baumgarten, „Metaphysica“, § 947 (XVII 194); „Ethica Philosophica“ §§ 30 und 31 (XXVII 749f.). 314 Irenaeus v. Lyon, Adversus haereses, IV, 7, Migne, Patrologia Graeca 7, 1037.
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gorischen Imperativs in der GMS (A 66f. = IV 429) wieder auf.315 Es folgt dann, wieder ohne einsehbare Beziehung zum Vorhergehenden, eine nochmalige Behauptung der Autonomie des Menschen, der zugleich als seiner eigenen Gesetzgebung unterworfen charakterisiert wird (vgl. GMS A 77 = IV 434).
VI. Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft überhaupt (A 238–241) Einleitung: Der Begriff von Postulat bei Kant vor der KrV Nachdem Kant schon unter der Bezeichnung von „Postulaten“ Argumentationen zugunsten der Realität der zwei Bedingungen vorgelegt hat, von denen die Möglichkeit des höchsten Gutes abhängt, gibt er hier an, was mit „Postulat“ genau gemeint sei. Dieser Terminus kommt in den Schriften Kants mehrmals vor, und zwar in einem jeweils etwas anderen Sinn, je nach dem Kontext, in dem er verwendet wird. Bevor ich an die Ausführungen des vorliegenden Abschnittes herangehe, sollen einige der früheren Stellen untersucht werden. 1. In der KrV, Analytik der Grundsätze, werden als vierte Gruppe der synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes (die Gruppe, die den Kategorien der Modalität – Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit – entspricht) die „Postulate des empirischen Denkens überhaupt“ ausgeführt (A 218–235). Kant sieht das Gemeinsame dieser Postulate mit denen der Mathematik (von denen er deshalb die Bezeichnung „Postulat“ übernimmt) darin, daß die ersteren von einem Begriff nur sagen, wie er mit der Erkenntniskraft verbunden ist, ob nämlich der Begriff im Verstande 1) bloß mit den formalen Bedingungen der Erfahrung verknüpft ist oder 2) auch mit einer tatsächlichen Erfahrung, oder 3) so, daß die Verknüpfung mit der Erfahrung nach Begriffen bestimmt ist. In diesem Sinne besagen die Postulate des empirischen Denkens von einem Begriff nur „die Handlung des Erkenntnisvermögens, dadurch er erzeugt wird“. Genau dies gilt für die Postulate der Mathematik (wobei Kant vor allem an die drei ersten Postulate Euklids denken dürfte): Sie sind praktische Sätze, die die Synthesis besagen, „wodurch wir einen Gegenstand [eine Figur] uns zuerst geben“ (A 233–235). 2. Im Theologie-Hauptstück derselben Kritik, A 633 f., erörtert Kant den Unterschied von theoretischem Gebrauch der Vernunft (= Erkenntnis dessen, „was da ist“) und praktischem Gebrauch derselben (= Erkenntnis dessen, „was da sein soll“). Letzterer ist der, der sich auf moralische Gesetze bezieht. Wenn nun diese Gesetze als Bedingung der Möglichkeit ihrer „verbindenden Kraft“ irgendein Dasein voraussetzen, so muß dieses „postuliert“ werden. Den moralischen Gottesbeweis im Kanon-Hauptstück vorwegnehmend, fährt Kant fort: „Wir werden künftig von den moralischen Gesetzen zeigen, daß sie das Dasein eines höchsten Wesens nicht bloß voraussetzen, sonDer Sache nach, d. h. in der Konzeption des Menschen, ist diese Formel sowie die der Autonomie in der KpV durchgängig präsent. 315
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dern auch, da sie in anderweitiger Betrachtung schlechterdings notwendig sind, es mit Recht, aber freilich nur praktisch, postulieren“316. Zu beachten ist, daß Kant hier, wie schon vorher gesagt, seine ältere Triebfedern-Lehre vertritt. 3. Im Aufsatz von 1786 über das „Sich im Denken orientieren“ ist Kant nochmals auf den Unterschied von theoretischem und praktischem Gebrauch der Vernunft eingegangen (A 315–321 = VIII 139–142). Letzteren hat er wiederum anhand des moralischen Gottesbeweises exemplifiziert, in dem Gott vorausgesetzt wird, „um dem Begriff von höchstem Gut objektive Realität zu geben“, wobei Kant hier seine neue Triebfedern-Lehre vorgelegt hat. In diesem Kontext kommt Kant auf den „Vernunftglauben“ zu sprechen. Aller Glaube sei „ein subjektiv zureichendes, objektiv aber mit Bewußtsein unzureichendes Fürwahrhalten“. Als solcher ist der Glaube dem Wissen entgegengesetzt. Im Falle des „reinen Vernunftglaubens“ ist nun der Grund des Fürwahrhaltens ein notwendiges Bedürfnis der Vernunft, nämlich ein Bedürfnis ihres Gebrauchs in praktischer Absicht. Derart ist im moralischen Gottesbeweis die Absicht der praktischen Vernunft im Hinblick auf ihren Endzweck, das höchste Gut, das sie zwar verwirklichen soll, für dessen Bestandteil der Glückseligkeit sie aber die nötige Macht nicht hat. An dieser Stelle schlägt Kant vor, dieses Fürwahrhalten („Es ist ein Gott“), das „dem Grade nach keinem Wissen nachsteht“, Postulat zu nennen. 4. In der Vorrede zur KpV (A 22 f. Fn) hat Kant wieder die Postulate der Mathematik als Bezugspunkt genommen, diesmal aber um einem möglichen Mißverständnis seiner Rede von den „Postulaten der reinen praktischen Vernunft“ vorzubeugen. Ein Postulat der Mathematik bedeutet einen technisch-praktischen Satz, der die Regeln der Synthesis zu einem Gegenstand in der Anschauung enthält. Dabei ist die Möglichkeit des Gegenstandes selbst für die theoretische Vernunft völlig gewiß. In der Ethik dagegen postuliert man die Möglichkeit eines Gegenstandes (Gott und die Unsterblichkeit der Seele) aus notwendigen, praktischen Gesetzen, also nur zum Behuf der praktischen Vernunft. Deshalb ist die Gewißheit der postulierten Möglichkeit gar nicht theoretisch, d. h. sie gilt nicht in Ansehung des postulierten Objektes, sondern in Ansehung des postulierenden Subjektes. Wenn dann in diesem Text der Vorrede die Behauptung, daß Gott und die Unsterblichkeit „zum Behuf der praktischen Vernunft“ postuliert werden, so verstanden wird, daß diese Realitäten „zur Befolgung ihrer [der praktischen Vernunft] … praktischen Gesetze“ postuliert werden, so liest sich dies zunächst als eine unschuldige Erläuterung. In der Tat aber entspricht sie der Position Kants bis zur KrV, wurde aber seit 1786 als mit dem Autonomie-Gedanken unvereinbar von Kant zurückgenommen. Als „Interpretation“ dieses „lapsus“ schlägt Albrecht die Lesart „bei der Befolgung“ vor.317 Zu diesem Zitat vgl. oben im Kommentar zum Abschnitt V, Nr. 2 über „die zwei Versionen des moralischen Gottesbeweises“, Fn 288, S. 285. 317 Albrecht, Kants Antinomie, 50. Zur Änderung in der Triebfedern-Lehre vgl. S. 289 f. zum Abschnitt V (A 223–237), Nr. 4 „Der moralische Gottesbeweis in der KrV“, wo die Stelle aus dem Aufsatz „Sich im Denken orientieren“ besprochen wird, an der Kant seine TriebfedernLehre änderte. 316
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5. Im schmalen „Traktat zum ewigen Frieden in der Philosophie“ von 1796 wird „Postulat“ als „praktischer Imperativ“ definiert. Die dort angegebene Anwendung der gemeinten „Maxime der Handlung“ auf das höchste Gut zeigt, daß die ungewöhnliche Bezeichnung sachlich doch auf das hinausläuft, was die Hauptstelle der KpV unter Postulat versteht: „Man postuliert nicht Sachen, oder überhaupt das Dasein irgend eines Gegenstandes, sondern nur eine Maxime (Regel) der Handlung eines Subjekts. – Wenn es nun Pflicht ist, zu einem gewissen Zweck (dem höchsten Gut) hinzuwirken, so muß ich auch berechtigt sein anzunehmen: daß die Bedingungen da sind, unter denen allein diese Leistung der Pflicht möglich ist, obzwar dieselben übersinnlich sind, und wir (in theoretischer Rücksicht) kein Erkenntnis derselben zu erlangen vermögend sind“ (A 497 Fn = VIII 418). Kommentar zum Text (A 238–241) A 238: Abs. 1 liefert eine Definition von Postulat, die derjenigen ähnlich ist, die im Abs. 2 des Abschnittes über die Unsterblichkeit der Seele angegeben wurde. Postulate sind a) negativ: keine theoretischen Dogmata; b) positiv: Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht; c) obwohl sie die spekulative Erkenntnis nicht erweitern, geben sie doch den Ideen der spekulativen Vernunft (vermittelst ihrer Beziehung auf das Praktische) objektive Realität. Zur letzten Charakterisierung des Postulats wird hinzugefügt: Die Postulate „berechtigen sie [die Ideen der spekulativen Vernunft?] zu Begriffen, deren Möglichkeit auch nur zu behaupten sie [die spekulative Vernunft?] sich sonst nicht anmaßen könnte“. Der ungewöhnliche Ausdruck „die Ideen zu Begriffen berechtigen“ ist vielleicht eine Anspielung auf den erkenntnistheoretischen Unterschied zwischen Ideen und Begriffen nach der KrV. Die transzendentalen Ideen üben keine konstitutive Funktion zur Objekterkenntnis aus; sie sind vielmehr Quelle eines „transzendentalen Scheins“ (KrV A 295), falls sie sich anmaßen, transzendente Objekte erkennen zu lassen. Was aber für die spekulative Vernunft nicht möglich ist, ist für die praktische Vernunft in dem Sinne möglich, daß sie wegen des Zwecks des Sittengesetzes, des höchsten Gutes, berechtigt ist, transzendente Realitäten zu postulieren und ihnen damit „objektive Realität“ zu geben. Auf diese Weise wird der Begriff „Wirklichkeit“ sowie auch andere Begriffe von Objekten ausgesagt, von denen die spekulative Vernunft nicht einmal die Möglichkeit behaupten konnte. Zu bemerken ist auch die Aussage: Der Grundsatz der Moralität (vgl. § 7) ist „kein Postulat, sondern ein Gesetz“. In A 79 hatte Kant die Bezeichnung „praktische Postulate“ für die moralischen Gesetze verwendet. Die Postulate sind „nicht theoretische Dogmata“. Für das Verständnis der Aussage dürfte der Abschnitt „Die Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauch“ (KrV A 712–738), der erste im ersten Hauptstück der Transzendentalen Methodenlehre über die „Disziplin der reinen Vernunft“, relevant sein.318 Kant bejaht das dog318
Der Begriff „Dogma“ wird in der KrV nur an dieser Stelle, genauer in A 736 f. behandelt.
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matische Verfahren im Sinne eines Verfahrens, das auf ein apodiktisches und zugleich systematisches Wissen abzielt, also auf ein „Lehrgebäude“ sowohl in der Mathematik als auch in der Philosophie. In diesem Zusammenhang unterscheidet er Dogmata und Mathemata (A 731). Beide sind synthetische (und damit erweiternde) Sätze a priori; aber die ersten aus Begriffen allein, die anderen aus der Konstruktion der Begriffe (in der reinen Anschauung). In diesem Sinne sind Dogmata für die reine Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch nicht möglich (genau dies ist das Thema der transzendentalen Dialektik). Dem Dogmatismus des zeitgenössischen Rationalismus wirft Kant vor, daß er sich anmaßt, ein solches Lehrgebäude (die traditionelle metaphysica specialis) aus so verstandenen Dogmen zu errichten. Ein Postulat dagegen, so schreibt Kant zu Beginn unseres Absatzes, geht zwar vom Grundsatz der Moralität (dem Sittengesetz) aus, aber nicht um daraus einen synthetischen Satz (im kognitiven Sinne) aus bloßen moralischen Begriffen zu gewinnen, sondern um eine Forderung der praktischen Vernunft (bzw. des reinen Willens) zu stellen. Dabei ist zu erinnern, daß die Annahme der geforderten Realität „für die theoretische Vernunft gehört“ (A 227); demnach ist nach Kant ein Postulat der reinen praktischen Vernunft ein „theoretischer Satz“ (A 220; auch A 241). Dies bedeutet, daß ein praktischer Satz für die Praxis nicht gültig sein kann, wenn nicht zugleich, gerade wegen des praktischen Satzes, auch ein theoretischer Satz anerkannt wird.319 A 238: Abs. 2 gibt an, welches die Postulate sind: Unsterblichkeit, Freiheit und Gott. Sie werden in den Rahmen der Bearbeitung der „Absicht auf das höchste Gut“, wie es im darauffolgenden Absatz heißt, gestellt. Zu bemerken ist insbesondere, daß hier, im Zusammenhang mit dem Postulat Gottes, das höchste Gut als Endzweck unseres moralisch bestimmten Willens „intelligibele Welt“ genannt wird. Das hinter dieser Bezeichnung stehende Problem hat Albrecht auf der Basis der diesbezüglich unterschiedlichen Äußerungen Kants sowie auch unter Berücksichtigung der sehr divergierenden Interpretationen der Autoren untersucht.320 Fest steht, daß die Problematik des höchsten Gutes in seinem Bezug auf die Welt der Naturgesetzlichkeit, also auf die gegenwärtige sinnliche Welt und nicht auf eine künftige intelligible Welt besteht. Der Ort der der Tugend proportionierten Glückseligkeit ist die Sinnenwelt; denn sie soll von den Naturursachen unter der Leitung des „intelligiblen Urhebers der Natur“ (A 207) herbeigeführt werden. Wenn man sich aber auf denjenigen Begriff des höchsten Gutes bezieht, von dem das Unsterblichkeitspostulat mit seiner Forderung nach „Heiligkeit“ auszugehen scheint, und wenn man zudem die nicht seltenen, mehr oder weniger deutlichen Redewendungen wie an unserer Stelle oder im darauffolgenden Absatz berücksichtigt, in dem Gott als „Prinzip des höchsten Gutes in einer intelligibelen Welt“ bezeichnet wird, so kann man mit einem gewissen Vereinzelt kommt der Terminus auch in A 755 und 818 vor. Die letzte Stelle ist von besonderer Bedeutung. 319 Beck, Kommentar, 241. 320 Albrecht, Kants Antinomie, Fußnoten 315(S. 101), 384 (S. 128), 389 (S. 130), 390 (S. 131f.).
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Recht behaupten, daß für die KpV das höchste Gut in der intelligiblen Welt bzw. im Jenseits liegt, wie es tatsächlich zahlreiche Autoren verstanden haben. Als mögliche Entschärfung, wenn nicht Lösung des Problems, könnte man die zunächst einmal selbstverständliche Gleichsetzung von „intelligibler Welt“ und „Jenseits“ in Frage stellen, da wir ja nach Kants Zwei-Welten-Theorie immer schon beiden Welten angehören (allerdings müssen wir nach KrV A 811 die intelligible Welt „als eine für uns künftige Welt annehmen“! Mehr noch, die raumzeitliche Darstellungsweise der wirklichen Welt ist ein Produkt des Auffassungsvermögens des Menschen, während Kant für die Bewirkung des höchsten Gutes in der Welt Gott postuliert). Als Fazit möchte Albrecht mit Albert Schweitzer321 lieber von einer in der KpV stattfindenden „stufenweise Verschiebung des mit dem Begriff ‘höchstes Gut’ gemeinten Inhalts von der empirischen zur intelligiblen Welt“ oder auch von einem „Schwanken Kants“ sprechen.322 Letztere „Lösung“ kann sich gewiß auf andere Lehrstücke bei Kant berufen. A 239: Abs. 3. Was für die spekulative Vernunft unlösbare Aufgaben waren, wird durch die Postulate der praktischen Vernunft gelöst – allerdings nur in praktischer Absicht. Die Aussage zu Beginn des Absatzes von einer „notwendigen Absicht auf das höchste Gut“ enthält die Zweideutigkeit, die Kant in seinem moralischen Gottesbeweis zu klären versucht. a) Sie kann nämlich bedeuten, daß das moralische Gesetz von seinem Wesen her das höchste Gut verlangt. In diesem Sinne hat Kant in seiner ersten Fassung des Beweises das Gesetz tatsächlich verstanden, dann aber infolge seiner Änderung in der Triebfedern-Lehre dieses Junktim von moralischem Gesetz und höchstem Gut (bzw. Glückseligkeit) zurückgewiesen. Im Sinne seiner neuen Position schreibt Kant in der dritten Fassung des Gottesbeweises: „Das moralische Gesetz, als formale Vernunftbedingung des Gebrauches unserer Freiheit, verbindet uns für sich allein, ohne von irgendeinem Zwecke als materialer Bedingung abzuhangen“ (KU B 423). b) Dieselbe Aussage kann aber auch als mit der neuen Triebfedern-Lehre vereinbar verstanden werden, wenn die Absicht auf einen Endzweck (das höchste Gut) auf einem partikulären Ad-hoc-Gebot der praktischen Vernunft beruht, wie es Kant in der zweiten Fassung des Gottespostulats dargelegt hat (A 225). Die hier festgestellte Doppeldeutigkeit war auch schon im Abs. 4 der Vorrede vorhanden (A 5 f.). Es hieß dort: „Die Ideen von Gott und Unsterblichkeit sind … Bedingungen des notwendigen Objektes eines durch dieses [moralische] Gesetz bestimmten Willens“. Aber an dieser Stelle hatte Kant ausdrücklich gesagt, daß diese Ideen „nicht Bedingungen des moralischen Gesetzes“ sind (es sind die im Zitat ausgelassenen Worte), so daß nur noch offen blieb, worauf die Notwendigkeit eines solchen Objekts gründet. Die Klärung dieser Frage und damit die Klärung des Zusammenhangs zwiA. Schweitzer, Die Religionsphilosophie Kants, 145f. 390. Eine solche Verschiebung bzw. Korrektur ist außerdem nötig angesichts der Problematik der Glückseligkeit als der unbedingten moralischen Verpflichtung angemessenes Resultat, wie wir bereits bei der Untersuchung des moralischen Gottesbeweises gesehen haben. 321
322 Albrecht, Kants Antinomie, 131, Fn
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schen höchstem Gut und Existenz Gottes ist erst bei der dritten Fassung des moralischen Gottesbeweises erfolgt; aber so, daß Kant auch dort nicht ohne weiteres bereit war, die Konsequenzen aus einem von sich aus nicht auf das höchste Gut ausgerichteten Gesetz zu akzeptieren. Es folgt dann eine kurze Beschreibung der dreifachen Aufgabe, die die spekulative Vernunft uns mit ihren transzendentalen Ideen auferlegt, die aber nur durch die praktische Vernunft gelöst werden kann: 1) Das Postulat der Unsterblichkeit (unendlicher Fortschritt zur Heiligkeit) impliziert analytisch die Beharrlichkeit des Ich in der Zeit (unendliche „Dauer“) und damit seine Substantialität, während die spekulative Vernunft diesbezüglich sich nur in Paralogismen verwickeln konnte (vgl. KrV A 348–351). 2) Die spekulative Vernunft gerät bezüglich der dritten kosmologischen Idee – Naturkausalität und Freiheit – in Antinomien (KrV A 444 ff.) und kann nur eine problematische (denkbare) Lösung entwerfen (vgl. A 531 f., und den darauffolgenden Abschnitt III), indem sie ein Vermögen annimmt, „im [mechanischen] Laufe der Welt verschiedene Reihen, der Kausalität nach, von selbst anfangen zu lassen“ (A 450). Das moralische Gesetz dagegen, das der Absicht auf das höchste Gut zugrunde liegt, führt zur Anerkennung der Freiheit (vgl. das „Faktum der Vernunft“) und damit zur Anerkennung einer intelligiblen Welt, in der allein Freiheit möglich ist.323 3) Die Absicht auf das höchste Gut verschafft schließlich der theologischen Idee als Bedingung der Möglichkeit dieses Objektes objektive Bedeutung. Damit führen die Postulate zu dem, was eine praktisch gegründete (spezielle) Metaphysik genannt wurde. Vgl. dazu Kants Brief an Kästner vom 5. August 1790: XI 186, in dem Kant bestreitet, daß seine „auf Kritik gerichteten Bemühungen … darauf angelegt sind, der Leibniz-Wolffschen entgegen zu arbeiten“. Er wolle nur „durch einen Umweg … die Metaphysik in einem zusammenhängenden Systeme aufstellen“. In der II. Abteilung der Preisschrift über die „Fortschritte der Metaphysik“ schreibt Kant, daß das dritte und letzte Stadium der Metaphysik das des „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ sei (XX 293–296). Allerdings krankt diese Metaphysik an derselben Zweideutigkeit wie die sie begründenden Postulate. Denn ein Postulat der praktischen Vernunft enthält de facto zwei Behauptungen: Daß wir um die postulierten Objekte nicht wissen (es ist kein Objekt der „theoretischen“ Vernunft), zugleich aber, daß die betreffenden Begriffe wahr324 und damit ihre Objekte wirklich Zu bemerken ist, daß hier von den vier kosmologischen Antinomien nur die dritte berücksichtigt wird. Die vierte (von der absoluten Totalität der Abhängigkeitsbedingungen im Dasein) wird de facto in der dritten „Aufgabe“ unter dem „transzendentalen Ideal“ behandelt. 324 Am Ende des vorliegenden Abschnittes sagt Kant ausdrücklich, daß alle drei Ideen, denen wir infolge der Postulate „objektive Realität“ (A 238) zuzuerkennen berechtigt sind, „wahre Begriffe“ (A 241) sind. Worin unterscheidet sich diese „praktische“ Wahrheit von der „theoretischen“? Gibt es nicht nur eine Wahrheit (nämlich die Übereinstimmung der Aussage mit der gemeinten Wirklichkeit), ungeachtet dessen, auf welchem Weg auch immer wir zu ihr gelangen können? Entscheidend ist doch vielmehr, ob der Argumentationsgang (der Weg) stichhaltig ist. 323
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sind. Je nachdem ob der erste oder der zweite Bestandteil des Postulats in den Vordergrund rückt, muß man von einem fiktiven Charakter oder aber vom Wahrheitscharakter der postulatorischen Metaphysik Kants sprechen. A 240: Abs. 4 handelt vom erkenntnismäßigen Stellenwert der Postulate: Durch sie wird unsere Erkenntnis wirklich erweitert, sofern das, was für die spekulative Vernunft transzendent war, für die praktische Vernunft immanent ist (zum Begriffspaar immanent-transzendent vgl. KrV am Anfang der Dialektik: A 295 f., und am Anfang des Anhangs zur Dialektik: A 643; dasselbe in der 1. Fußnote am Anfang des Anhangs zu den Prolegomena: A 204 = IV 373f.; dieser Text legt auch klar die Hauptbedeutung des Terminus „transzendental“ fest!). An all diesen Stellen erläutert Kant, was unter immanentem bzw. transzendentem Gebrauch der Ideen oder der Verstandesbegriffe zu verstehen ist. Es ist außerdem zu beachten, daß bei Kant transzendent eine zweifache Bedeutung hat: 1) Transzendent ist das, was über den Bereich unserer möglichen Erfahrung hinaus liegt. Derart sind alle nicht materiellen, nicht „weltlichen“ Dinge. 2) Weil wir nun die erfahrbaren Dinge bloß als Erscheinungen erkennen, so sind dieselben materiellen Dinge als Dinge an sich selbst uns unerkennbar und in diesem Sinne transzendent. Anders gesagt: Transzendent im ersten Sinne hängt mit der sensualistischen „Grenzbestimmung“ Kants zusammen (= jenseits der Erfahrung); transzendent im zweiten Sinne hängt mit dem Phänomenismus seiner Erkenntnistheorie zusammen (= jenseits der Erscheinung). Erkenntnis, aber nur in praktischer Absicht, bedeutet für Kant: a) negativ: Keine Einsicht in die betreffende Wirklichkeit; b) positiv: Die Begriffe der in Frage stehenden Wirklichkeiten werden „im praktischen Begriff des höchsten Guts vereinigt“ – in dem Sinne wohl, daß sie als dessen Bedingungen erkannt und daher postuliert werden. Um diese Art von Erkenntnis der transzendenten Wirklichkeiten (transzendent im ersten Sinne) ringen die drei folgenden Abschnitte der Dialektik.
Exkurs: Postulate der reinen praktischen Vernunft oder analoge Erkenntnis? Das sachliche Problem hinsichtlich des Erkenntniswertes der Postulate ist m. E. folgendes: Was ist die Wirklichkeit, und welches ist das Kriterium für die Erkenntnis der Wirklichkeit? Aufgrund seiner Erkenntnistheorie, der zufolge die Realität uns nur durch die sinnliche Erfahrung vermittelt wird (KrV A 19) – auch wenn der Begriff für eine menschliche Erkenntnis nötig ist (vgl. KrV A 50–52), ohne daß allerdings dieses intellektuelle Moment von sich aus imstande wäre, eine eigene Wirklichkeit zu vermitteln –, befindet sich Kant in folgendem Dilemma: entweder Erkenntnis der erfahrbaren (Schein-)Wirklichkeit oder überhaupt keine Erkenntnis. Hieraus stammt sein wiederholter Versuch, doch eine Art von Erkenntnis für die Realität jenseits der von ihm festgelegten „Grenzbestimmung“ zu finden – wobei hier der erste Sinn von Grenzbestimmung gemeint ist: die Grenze, die die Tragweite unserer Sinne markiert. Im letzten Absatz des Abschnittes über den Begriff eines Postulats wie auch in den
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folgenden drei Abschnitten ringt Kant um eine „Erweiterung“ unserer Erkenntnis, für die er zwei Bezugspunkte angibt: ein „Nicht-wissen“ und zugleich die „wahren Begriffe“ der nicht-erkennbaren Realitäten. Die naheliegende Lösung dieser Spannung ist die Distinktion zwischen „daß“ und „wie“ bzw. „was“. Eine solche Lösung wird tatsächlich von vielen Kant-Interpreten vertreten, ja, Kant selbst greift immer wieder mit verschiedenen Formulierungen und unter verschiedenen Aspekten zu ihr. Diese Lösung ist aber keine. Denn was heißt etwa: Wir wissen nicht, was (oder wer) Gott ist, aber wir wissen, daß er ist? Wir wissen nicht, wie er die Welt erschaffen hat und erhält, aber wir wissen, daß er sie erschaffen hat und erhält (vgl. die Fußnote zu A 236)? Wir wissen nicht, was die Freiheit, d. h. was „diese Art von Kausalität“ ist, aber wir wissen, „daß eine solche sei“? Wenn das zweite Glied der hier beispielsweise genannten Alternativen sinnvoll ist (und dies wird von den Vertretern dieser Lösung angenommen), dann müssen wir einen Begriff der in Frage stehenden Realitäten haben (d. h. wissen, was sie sind) und dazu vorher eine Einsicht in dieselben Realitäten, weil sonst der Begriff ein bloßer „flatus vocis“ wäre und das Urteil in der Tat nichts behaupten würde. Genauer gesagt: Dieser Begriff muß a) etwas Bestimmtes bedeuten (ein völlig unbestimmter Begriff ist keiner) und b) die gemeinte Realität treffen – wofür er freilich nicht ein exhaustiver Begriff zu sein braucht. Ist dies der Sinn der „Daß“-Aussage, so stellt sich die Frage, wie wir diesen Begriff bilden und das entsprechende Urteil fällen konnten. Kurzum, die Lehre von den Postulaten vermag in keiner Weise als Ersatz für die herkömmliche Analogie-Lehre zu gelten, sondern verweist geradezu auf sie. Analoge Erkenntnis bedeutet nun, daß wir von der unserer Erkenntnisart proportionierten Realität (d. h. von der „Welt“) her eine Intelligibilität der transzendenten Realität erfassen können (wie unermeßlich entfernt diese Intelligibilität auch von der die transzendente Realität konstituierenden Intelligibilität sein mag). Erst auf der Grundlage unseres Begriffs, der diese Realität meint, vermögen wir, wiederum im Rückgriff auf die als tatsächlich existierend erkannte Welt, begründeterweise zu behaupten, z. B. daß Gott ist (bzw. die Existenz Gottes zu postulieren), daß er die Welt erschaffen hat, daß er sie erhält. Erst kraft dieses Urteils wissen wir, daß Gott existiert. Der Umstand, daß die unserer Erkenntnisart proportionierte Realität, von der der Prozeß zu einer analogen Erkenntnis ausgeht, eine materielle Realität ist (die Welt) oder aber eine geistig-moralische, wie im Falle des moralischen Gottesbeweises, macht keinen wesentlichen Unterschied hinsichtlich der Gültigkeit der gewonnenen Erkenntnis; der Unterschied betrifft vielmehr den Aspekt, unter dem wir die unendliche Realität Gottes erkennen. Das hier Gesagte führt auch zu einer wichtigen Unterscheidung hinsichtlich der drei Postulate Kants. Es muß nämlich unterschieden werden zwischen dem Postulat Gottes und den zwei anderen. Denn der Ausgangspunkt für das Postulat der Unsterblichkeit der Seele und für das der menschlichen Freiheit liegt im Bereich unserer inneren Erfahrung – die Erfahrung unserer selbst im Vollzug geistiger und moralischer Akte. Auch für die Erkenntnis der Seele und der Freiheit (so wie für all unsere Erkenntnis) gilt die Distinktion von „daß“ und „was“. Denn wir gelangen zu einer Erkenntnis der Wirklichkeit dadurch, daß wir von einer (äußeren oder inneren) Erfahrung ausgehend ein Intelli-
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gibles in den Daten der Erfahrung erfassen und den dadurch gedachten Gegenstand in einem Urteil absolut setzen, d. h. bejahen. Der Unterschied zwischen der Erkenntnis der „Welt“ und der Erkenntnis der transzendenten Realität liegt darin, daß für die erstere uns die Erfahrung die nötigen Daten liefert, in denen wir eine Intelligibilität der betreffenden Realität erfassen können; für die andere dagegen müssen wir den Umweg über die Welt in ihrer Intelligibilität und Existenz beschreiten. Nun aber gehören die Freiheit und die geistige Dimension unserer Person zu der unserer Erkenntnisart proportionierten Wirklichkeit. In diesen Fällen handelt es sich deshalb weder um ein Postulat noch um eine analoge Erkenntnis. Es bleibt deshalb für das, was Kant Postulat nennt, nur Gott übrig. Von dieser eigentlich transzendenten Wirklichkeit ist uns eine wahre, wenngleich nur analoge Erkenntnis möglich. Sie ist keine „Erkenntnis“ (?!) der praktischen Vernunft, d. h. des Wollens. Kant selbst kam nicht umhin zu behaupten, daß die „Annehmung“, in der das Postulat besteht, „für die theoretische Vernunft gehört“ (A 227). Daß für diese Erkenntnis die existentielle Einstellung des Menschen eine wichtige Rolle spielt, soll später in einem Exkurs über „Wissen oder Glaube an Gott?“, S. 336, erörtert werden. Aber unsere Erkenntnis Gottes ist nicht die Errungenschaft einer „Forderung“ der praktischen Vernunft („Ich will, daß ein Gott … sei“: A 258), sondern einer intelligenten und rationalen Intentionalität, deren Frage nach dem Sein keine Grenzen kennt.
Exkurs zur Dreierzahl der Postulate In unserem Abschnitt setzt Kant ohne weiteres die drei transzendentalen Ideen der Dialektik der KrV (Seele, Welt und Gott) mit den drei Postulaten der reinen praktischen Vernunft in Verbindung, obwohl die Entsprechung der Unsterblichkeit und der Freiheit zur Idee der Seele bzw. der Welt nicht ohne weiteres einleuchtend ist. Der Parallelismus läßt sich allerdings rechtfertigen. Denn a) die ethische Reflexion über die Seele ist an ihrer Substantialität als Grundlage der Beharrlichkeit derselben interessiert, weil diese Bedingung für den unendlichen Fortschritt in Richtung auf Heiligkeit ist, und b) dieselbe Reflexion über Welt ist an deren intelligibler Dimension als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit interessiert. Die Trias Gott, Freiheit und Unsterblichkeit kehrt bei Kant häufig wieder: KrV A 798 zum ersten Mal (soviel ich sehe) in einer Veröffentlichung und dann mehrmals in der zweiten Auflage des Werkes, in welchem Kant (in unmittelbarer Nähe zur KpV mit ihrer Absicht einer „Ergänzung“325 der ersten Kritik) die positive Seite seines Systems hervorheben wollte. Es ist deshalb kein Zufall, daß Kant bereits in der Einleitung zur zweiten Auflage der KrV diese drei Termini als ebendie „Aufgaben“ seiner kritisch begründeten Metaphysik benennt (B 7) und daß sie dann in B 395 Fn vorkommen (weiterhin in der Vorrede zur KpV A 4 f. als Vorwegnahme ihrer ausführlichen Behandlung im DialektikTeil und in der KU, § 91: B 457 f., 465, 467 f.). Vgl. den bereits zitierten Brief Kants an Schütz vom 25. Juni 1787 (X 490; siehe oben „Der Werdegang der Ethik Kants“, Nr. 14, S. 55) sowie KpV A 221. 325
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Die Postulate Kants sind keine isolierte Schöpfung seiner Ethik, sondern schließen sich an die großen Anliegen der philosophischen Tradition an, wie Kant selbst bemerkt, indem er sie als „die höchsten Zwecke unseres Daseins“ bezeichnet, auf die alles in der Metaphysik gerichtet sein muß (KrV 395 Fn; vgl. auch B 7). Zugleich geben sie die Themen wieder, die für die damalige geistesgeschichtliche Situation derart charakteristisch waren, daß sie wegen des Eifers der Intellektuellen um ihre Verbreitung die „drei Dogmen der Aufklärung“ genannt wurden.326 Dazu paßt auch, daß Kant im zweiten Entwurf zur „Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik“ drei Glaubensartikel nach dem Muster eines Katechismus des christlichen Glaubens formuliert hat: „Das Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft: Ich glaube an einen einigen Gott, als Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck; ich glaube an die Möglichkeit, zu diesem Endzweck, dem höchsten Gut in der Welt … zusammenzustimmen …; ich glaube an ein künftiges ewiges Leben“ (XX 298). Hinsichtlich der Zuweisung von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu den Postulaten ist zweierlei zu bemerken. Erstens: Während Gott und Unsterblichkeit immer genannt werden, wenn es um sämtliche Postulate geht,327 fügt Kant ihnen gelegentlich als drittes ein Postulat hinzu, das nicht (direkt) das der Freiheit ist. So ist in A 246 das dritte Glied „eine intelligible Welt (das Reich Gottes)“; im Abschnitt über die „Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“, A 79, sagt Kant, wegen der engen Beziehung der Freiheit zum moralischen Gesetz, daß Freiheit „notwendig ist, weil jene Gesetze als praktische Postulate notwendig sind“. Dieser weitere Sinn von Postulat wird aber zu Beginn unseres Abschnittes zurückgewiesen, weil der „Grundsatz der Moralität … kein Postulat“ ist (A 238). Nach der KU, § 91, ist „das oberste Prinzip aller Sittengesetze [doch wieder] ein Postulat“. Infolgedessen „wird zugleich die Möglichkeit ihres höchsten Objektes, mithin auch die Bedingung, unter der wir diese Möglichkeit denken können, dadurch mit postuliert“ (B 459). Kurz zuvor im selben Paragraphen hatte Kant „das höchste durch Freiheit zu bewirkende Gut … zusamt den einzigen für uns denkbaren Bedingungen ihrer [„dieser gebotenen Wirkung“] Möglichkeit, nämlich das Dasein Gottes und der Seelenunsterblichkeit“ zu den „Glaubenssachen“ gezählt (B 457 f.). Der gemeinte „moralische Glaube“ ist „ein Fürwahrhalten in reiner praktischer Absicht“ (B 459) oder, anders formuliert, „bloß Annahme in praktischer und dazu gebotener Beziehung für den moralischen Gebrauch unserer Vernunft“ (B 460). Zweitens: Obwohl in den meisten Aufzählungen der Postulate die Freiheit enthalten ist, ist sich Kant der Sonderstellung der Freiheitsidee gegenüber den zwei anderen bewußt. Beweis dafür ist vor allem, daß er es nicht für nötig gehalten hat, ein eigenes 326 So Karl Vorländer in seiner Geschichte der Neuzeit. Die Aufklärung (Geschichte der Philosophie V), Hamburg 1967, 51. 327 Im Abschnitt II über „Die Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft“ verweist Kant genau auf diese zwei Realitäten als die „Gründe“ der Möglichkeit des höchsten Gutes (A 215). Es sei daran erinnert, daß Kant beansprucht, mit seinen drei „transzendentalen Begriffen der Vernunft … ihre bestimmte Zahl, über die es keine mehr geben kann“, angegeben zu haben (KrV A 338).
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Postulat der Freiheit im Dialektik-Teil seiner zweiten Kritik zu entwickeln. In der Vorrede zur KpV (eine Vorrede ist bekanntlich eine nachträgliche Reflexion über ein bereits abgeschlossenes Werk) wird diese Sonderstellung hervorgehoben. „Der Begriff der Freiheit, sofern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht den Schlußstein“ eines Systems der reinen Vernunft. „Alle anderen Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit) … schließen sich an ihn an und bekommen … durch ihn … objektive Realität, d. i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz“ (A 4 f.). Dies entspricht der Position der Analytik, in der „das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft“ genannt wurde (A 55 f.), von dem her wir zur Erkenntnis der Freiheit gelangen (A 5 Fn). Im bereits zitierten § 91 der KU hat Kant diese Sonderstellung der Freiheit weiter entfaltet. Weil die Realität der Freiheit „sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen … dartun läßt“, so ist sie „die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache ist und unter den scibilia mit gerechnet werden muß“ (B 457; vgl. auch den letzten Absatz des § 91 [B 467 f.]). Daß die Freiheit trotz ihrer Sonderstellung ein Postulat genannt wird, läßt sich wie folgt verstehen. „Ein Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft führt zu Postulaten“ (A 256). Nun ist „ein Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft auf einer Pflicht gegründet, etwas (das höchste Gut) zum Gegenstande meines Willens zu machen, um es nach allen meinen Kräften zu befördern; wobei ich aber die Möglichkeit desselben, mithin auch die Bedingungen dazu, nämlich Gott, Freiheit und Unsterblichkeit voraussetzen muß“ (A 257). M.a.W., man kann sinnvollerweise alles Postulat nennen, was nötig für die Verwirklichung des Endzwecks unseres moralischen Gesetzes ist, auch wenn der Zugang zu den drei dafür nötigen Realitäten verschieden ist. In der Perspektive der Kantischen „Grenzbestimmung“ unserer spekulativen Vernunft kann selbst dieser Endzweck Postulat genannt werden, insofern seine Erreichbarkeit den (moralischen) Glauben an Gott miteinschließt.
VII. Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft in praktischer Absicht, ohne damit ihre Erkenntnis als spekulativ zugleich zu erweitern, zu denken möglich sei? (A 241–255) Die Lösung der Dialektik der reinen praktischen Vernunft gipfelt in den Postulaten, die den transzendentalen Ideen objektive Realität zuschreiben, aber nur „in Ansehung des praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft“ (A 243). Im vorliegenden Abschnitt versucht Kant zu klären, was es bedeutet, daß diesen Ideen der ontologische Stellenwert von „objektiver Realität“ zuerkannt wird, d. h. daß sie „real und wirklich sind“ (A 242), aber nur „in praktischer Absicht“, wie es in der Überschrift heißt. Daß diese Klärung schwierig ist, erkennt man schon daran, daß das Vorhaben in den folgenden zwei Abschnitten fortgesetzt wird. Kant geht zuerst, im Abschnitt VII, auf die Frage
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nach der Erweiterung der Erkenntnis ein. Die Frage stellt sich, weil diese Ideen laut der KrV, weit entfernt davon etwas Erkennbares zu besagen, vielmehr Quelle eines natürlichen und unvermeidlichen „transzendentalen Scheins“ sind (KrV A 297f.). Im Abschnitt VIII geht Kant dann auf die Frage ein, um welche Erkenntnisart es sich handelt; schließlich erörtert er im Abschnitt IX die Beziehung von theoretischer und praktischer Vernunft. In der Tat drehen sich sämtliche Ausführungen um die zumindest auf den ersten Blick paradoxe Lehre, daß etwas rational, d. h. begründeterweise, als eine Realität behauptet wird, ohne aber als Realität erkannt zu werden, wenn man von dem Terminus „Erkenntnis“ in dem Sinne der Erkenntnistheorie ausgeht, den Kant in der KrV ausgearbeitet hat. Wichtig ist dabei auch, folgende terminologische Festlegung Kants zu beachten: Aufgrund des praktischen Vernunftgebrauchs räumt er den drei Ideen objektive Realität ein, bestreitet aber, daß es sich um eine objektive Erkenntnis handelt. Was in diesem Abschnitt vorgetragen wird, wurde schon zum Teil am Ende des ersten Hauptstücks der Analytik im Abschnitt „Von dem Befugnisse der reinen Vernunft im praktischen Gebrauche zu einer Erweiterung, die ihr im spekulativen für sich nicht möglich ist“ (A 87–100) erörtert, wo es um die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe „auf Dinge als reine Verstandeswesen“ ging (A 97). In der Vorrede zur zweiten Auflage der KrV hat Kant die Problematik einer Erkenntnis „in praktischer Absicht“ vorweggenommen, die uns erlauben würde, „über die Grenzen aller möglichen Erfahrung hinaus“ zu gelangen (B XXI, auch XXV, XXVIII–XXX; dasselbe nochmals in „Fortschritte der Metaphysik“, wo aber die Anerkennung des Realitätswertes der „drei Artikel des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ abgeschwächt wird: Gemäß diesem Bekenntnis handeln wir, „als ob wir wüßten, daß diese Gegenstände wirklich wären“, XX 298f.). In den vorliegenden Überlegungen hat Kant in erster Linie die Gottesidee vor Augen. Deshalb geht er nach der Festlegung seiner Grundthese (Abs. 1) zu der schon mehrmals behandelten Frage nach der Anwendung der Kategorien jenseits der Erfahrung über (Abs. 2) und in Zusammenhang damit zu den Prädikaten, mit denen wir die Idee Gottes bestimmen können (Abs. 3–4); weiter zum Begriff Gottes als einem ursprünglich moralischen Begriff (Abs. 5–7) und schließlich nochmals zum Problem des Gebrauchs der Kategorien (Abs. 8).
Exkurs: Theoretische und praktische Erkenntnis; spekulative Erkenntnis und Naturerkenntnis (KrV A 633–635) Zum Verständnis der Ausführungen Kants über den erkenntnistheoretischen oder epistemischen Stellenwert der Postulate ist es angebracht, eine doppelte Distinktion von Erkenntnisvollzügen aus der ersten Kritik in Erinnerung zu rufen, die Kant in der zweiten voraussetzt, ohne sie eigens zu thematisieren. Erstens: die Distinktion von theoretischer und praktischer Erkenntnis. Durch die erstere erkennen wir, „was da ist“, durch die andere erkennen wir, „was da sein soll“ (KrV
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A 633). Von einem systematischen Standpunkt aus würde ich dazu sagen: Erkennen ist von sich aus etwas als Sein erkennen, näherhin, erkennen, daß etwas ist oder sein kann oder notwendig ist, weil die Erkenntnis eine Antwort auf die Frage nach dem Sein ist. In diesem Sinne ist die Kantische Redewendung „theoretische Erkenntnis“ eine Verdoppelung und besagt einfach Erkennen. Nun aber ist unsere Intentionalität, die als intelligent und rational nach dem Sein strebt, zugleich moralisch und als solche strebt sie nach dem Sein als gut. Kant selbst weist ausdrücklich darauf hin, daß der theoretische und der praktische Gebrauch der Vernunft (KrV A 633) Vollzüge ein und derselben Vernunft sind (KpV A 218, auch 162). Die Vernunft übernimmt in ihrem moralischen oder praktischen Gebrauch den theoretischen als ein Moment ihres eigenen Vollzugs. Denn die moralische Frage „Was soll ich tun?“ fragt nach einem realen oder möglichen Objekt – dies zu ermitteln ist Aufgabe der Vernunft in ihrem theoretischen Vollzug –, den dieselbe Vernunft in ihrem moralischen Vollzug als gut oder böse beurteilt (praktisches Urteil), d. h. als etwas, das getan werden soll (oder darf) oder aber gemieden werden soll. Zweitens, die theoretische Erkenntnis wird von Kant weiter in spekulative Erkenntnis und Naturerkenntnis unterteilt (A 634 f.). Die erstere erstreckt sich auf einen Gegenstand oder den Begriff eines Gegenstandes, der nicht zum Bereich der Erfahrung gehört. Ihr wird die Naturerkenntnis entgegengesetzt, die „auf keine anderen Gegenstände oder Prädikate derselben geht, als die in einer möglichen Erfahrung gegeben werden können“ KrV A 634 f.). Die hier genannte Naturerkenntnis koinzidiert mit der „objektiven Erkenntnis“, deren Analyse die KrV als ganze gilt. Sie entsteht aus der Zusammensetzung einer empirischen Erfahrung (Erfahrung der Natur- oder Weltdinge) und eines entsprechenden Begriffs (vgl. KrV B 1 f.; A 19; A 50–52). Kant nennt sie oft „Erfahrung“ in prägnantem Sinn.328 Allerdings verwendet Kant oft die Termini „spekulativ“, „spekulativer Gebrauch der Vernunft“, „spekulatives Wissen“ einfach im Sinne von „theoretischer“ Erkenntnis (und damit nicht notwendig als Gegensatz zur „Naturerkenntnis“), also ohne damit sagen zu wollen, daß die Erkenntnis auf einen Gegenstand außerhalb der möglichen Erfahrung geht. Dann gilt die spekulative Erkenntnis als Gegenstück zu „praktischer Erkenntnis“. So z. B. wenn er schreibt, daß „es eine notwendige Regel des spekulativen Gebrauchs der Vernunft ist, Naturursachen nicht vorbeizugehen“ (A 799), oder wenn es heißt, daß „das eigentliche spekulative Wissen überall keinen anderen Gegenstand, als den der Erfahrung treffen kann“ (A 471). Für die spekulative Erkenntnis aber im strengen Sinne des Wortes (also im Gegensatz zur Naturerkenntnis) gilt, daß sie „kein einziges direkt synthetisches Urteil aus Begriffen enthält“ (A 736), und daß die „spekulative Vernunft in Der doppelte Sinn von „Erfahrung“ bei Kant ist: a) der Sinn des Terminus, wie er zu Beginn des ersten Absatzes der Einleitung B zur KrV zum Ausdruck kommt und b) der Sinn des Terminus am Ende desselben Absatzes. Im erstgenannten Sinne bedeutet Erfahrung Sinnesempfindung, im zweitgenannten hingegen menschliche Erkenntnis im vollen Kantischen Sinne des Wortes, d. h. Objekterkenntnis, die dadurch entsteht, daß ein reiner Verstandesbegriff auf eine (sinnliche) Anschauung angewandt wird. 328
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ihrem transzendentalen Gebrauch329 an sich dialektisch ist“ (A 777). Wichtig für die Problematik der letzten Abschnitte des Dialektik-Teils der KpV ist die Bemerkung in A 776 der ersten Kritik: „In Ansehung des praktischen Gebrauchs habe die Vernunft das Recht, etwas anzunehmen, was sie auf keine Weise im Felde der bloßen Spekulation, ohne hinreichende Beweisgründe, vorauszusetzen befugt wäre“. Dasselbe hat Kant in der zweiten Kritik, A 218, wiederholt. A 241: Abs. 1 faßt zunächst den argumentativen Weg zusammen, der dazu geführt hat, eine „objektive Realität“ der drei reinen Vernunftbegriffe zu postulieren: Sie sind Bedingungen der Möglichkeit des höchsten Gutes, das das moralische Gesetz uns zu verwirklichen gebietet. Aufgrund dieser Postulate bekommt die theoretische Erkenntnis der reinen Vernunft einen „Zuwachs“, insofern sie, die diese Begriffe bloß denken konnte, sie jetzt „assertorisch“ für solche erklären kann, „denen wirklich Objekte zukommen“. Weil nämlich die praktische Vernunft die Existenz dieser Realitäten zur Möglichkeit ihres notwendigen Objektes bedarf, so ist die theoretische Vernunft berechtigt, sie vorauszusetzen. Nachdem Kant infolge des bereits in der KrV A 776 aufgestellten Prinzips einen Zuwachs der theoretischen Erkenntnis eingeräumt hat, also eine Erkenntnis – via Ausleihung aus der praktischen Vernunft – dessen „was da ist“ (KrV A 633), beeilt er sich, die Grenzen dieser Erkenntnis von Wirklichkeiten, die außerhalb der möglichen Erfahrung liegen, anzugeben. Bezug nehmend auf die doppelte Art von theoretischer Erkenntnis bestreitet er, daß es sich um eine objektive Erkenntnis im Sinne der Erkenntnistheorie der KrV handelt, welcher zufolge eine objektive Erkenntnis nur durch die Anwendung eines Begriffes auf eine korrespondierende Anschauung zustande kommt (Naturerkenntnis). Daß dem so ist, zeigt sich daran, daß wir von den in Frage stehenden übersinnlichen Objekten keinen synthetischen Satz aufstellen können weder als Erweiterung der Erkenntnis dieser Objekte selbst noch als Erkenntnis ihrer Beziehung zu den Objekten im Bereich unserer Erfahrung. Eine solche Erkenntnis ist nur von „gegebenen“ Objekten möglich; dies aber ist hinsichtlich übersinnlicher Gegenstände von vornherein ausgeschlossen. Die einzig mögliche Anwendung der durch die Postulate gewonnenen theoretischen Erkenntnis ist, daß diese Objekte als „Grund“ der Möglichkeit (im Sinne von Verwirklichung) des höchsten Gutes erkannt werden, also nur in bezug auf die praktische Vernunft, von der her diese theoretische Erkenntnis geborgt worden ist. Von sich aus sind die transzendentalen Vernunftbegriffe (Ideen) „bloß regulative Prinzipien der spekula329 Die Redewendung „transzendentaler Gebrauch“ steht bei Kant oft für „transzendenter Gebrauch“, d. h. für einen Gebrauch von Begriffen oder Ideen außerhalb der möglichen Erfahrung. Die spekulative Vernunft ist dialektisch, d.h. sie verfällt in einen „transzendentalen Schein“ (KrV A 295), wenn sie sich anmaßt, durch ihre transzendentalen Ideen etwas als Objekt zu erkennen (etwa Gott), das ihr nicht gegeben werden kann, weil es außerhalb des Bereichs möglicher Erfahrung liegt. M.a.W., die spekulative Vernunft wird dialektisch, wenn sie versucht, durch bloße Begriffe oder Ideen objektive Erkenntnis (= Erkenntnis von Objekten) zu gewinnen.
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tiven Vernunft, die ihr nicht ein neues Objekt über die Erfahrung hinaus anzunehmen, sondern nur ihren Gebrauch in der Erfahrung der Vollständigkeit zu nähern auferlegen“ (A 244). Einen solchen regulativen Gebrauch der transzendentalen Ideen hat Kant im ersten Teil des „Anhangs zur transzendentalen Dialektik“ der KrV, A 642– 668, ausgeführt: Sie dienen dazu, den Objekten unserer Naturerkenntnis „die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen“ (A 644). Kant möchte dennoch dem genannten Zuwachs unserer theoretischen Erkenntnis im Bereich des Übersinnlichen einen Gebrauch, wenn auch einen negativen, einräumen: Diese Erkenntnis ermöglicht uns, den „Anthropomorphismus“ (als Folge einer vermeinten Erfahrung des Übersinnlichen) wie auch den „Fanatizismus“ (auf der angeblichen Basis einer Anschauung oder eines Gefühls des Übersinnlichen) abzuwehren. Damit ist gesagt, daß wir auf dem Weg der Postulate eine Erkenntnis der Noumena zwar erreichen, aber nur „in negativer Bedeutung“, wie Kant vor allem in der zweiten Auflage der KrV präzisiert hat (B 307–309), was aber schon in der Auflage A eindeutig gemeint war: Noumenon als „Grenzbegriff“ (A 255), als „ein unbekanntes Etwas“, so daß es sich um „eine negative Erweiterung“ der Verstandeserkenntnis handelt (A 256). Für eine systematische Reflexion darüber, um welche Erkenntnis es sich bei den Postulaten der praktischen Vernunft handelt, verweise ich auf den Exkurs „Postulate der reinen praktischen Vernunft oder analoge Erkenntnis?“, S. 314. Ein Postulat besteht, wie Kant selbst dargelegt hat, in einer Argumentation, die uns ermöglicht, von „denkbaren Begriffen“ zur Behauptung derselben („assertorisch erklären“) überzugehen. Die Antwort auf die Frage danach, um welche Erkenntnis es geht, hängt davon ab, welcher von den verschiedenen Erkenntnisakten es ist, der uns die Wirklichkeit als Wirklichkeit vermittelt: die sinnliche Anschauung oder das rationale (fundierte) Urteil? Weil Kant sich von Anfang an für die erste Alternative ausgesprochen hat (vgl. KrV A 19), kann er die Begründetheit der postulatorischen Assertion anerkennen und zugleich bestreiten, daß dadurch die gemeinte Realität erkannt wird. Um diese Realität „wissen“ wir nur durch die praktische Vernunft aufgrund ihres Bedürfnisses und „nur zum praktischen Gebrauch“.330 Optiert man dagegen für die zweite Alternative, so gibt es keinen Grund zu bestreiten, daß es sich um eine Erkenntnis der (transzendenten) Wirklichkeit handelt – freilich um jene Erkenntnisart, die im Exkurs „analoge“ Erkenntnis genannt wurde. A 245: Abs. 2. Sind die Objekte der drei Vernunftbegriffe als real anerkannt, so benötigen wir die reinen Verstandesbegriffe, um sie zu denken. Damit sieht sich Kant erneut mit dem Problem des „übersinnlichen Gebrauchs“ (A 8) der Kategorien konfron330 Dazu schreibt M. Wundt, in: Kant als Metaphysiker, 337: „Die praktische Vernunft, welche in dem moralischen Gesetz ein Faktum zugrunde legte, das ihr an Stelle der Anschauung dienen kann, verwandelt damit diesen problematischen Gebrauch in einen assertorischen, d. h. sie gewinnt den Vernunftbegriffen ihre Bestimmtheit, so daß sie sich aus bloßen Regeln des Verfahrens in inhaltlich erfüllte [?] Begriffe verwandeln.“
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tiert, das er bereits in der Vorrede erörtert hat und dann, außer gelegentlicher Erwähnungen, im letzten Abschnitt des ersten Hauptstückes der Analytik, das sich ebenfalls mit der „Erweiterung der reinen Vernunft in praktischer Absicht“ (A 87) befaßt, ausführlich behandelt (A 94 ff.), sowie gegen Ende der „Kritischen Beleuchtung der Analytik“ hinsichtlich der Kategorie der Kausalität aus Freiheit (A 185–191). Wie sehr Kant sich von diesem Problem bzw. von den gegen ihn erhobenen Einwänden gedrängt fühlte, geht auch aus dem gereizten Ton hervor, mit dem er am Ende der KU, B 478 ff., einen weiteren Versuch unternahm, beides zu verbinden, nämlich a) die Kategorien haben nur dann „Sinn und Bedeutung“, wenn sie auf eine sinnliche Anschauung angewandt werden (KrV B 149, A 155 u. ö.) und b) denselben Kategorien kann in Ansehung der übersinnlichen Objekte der reinen praktischen Vernunft … Realität“ zugestanden werden (A 8): „Um bei dieser Gelegenheit der Mißdeutung jener sehr notwendigen, aber auch zum Verdruß des blinden Dogmatikers die Vernunft in ihre Grenzen zurückweisenden Lehre der Kritik ein Ende zu machen, füge ich hier nachstehende Erläuterung derselben bei“ (B 479). Die fragliche Anwendung ist möglich, „weil die Kategorien im reinen Verstande unabhängig und vor aller Anschauung lediglich aus dem Vermögen zu denken, ihren Sitz und Ursprung haben,331 und sie immer nur ein Objekt überhaupt bedeuten, auf welche Art auch immer es uns gegeben werden mag“.332 In der KrV hieß es im selben Sinne: „Die reinen Verstandesbegriffe … erstrecken sich auf Gegenstände der Anschauung überhaupt“ (B 148), und dies bedeutet, daß sie „sich sofern weiter als die sinnliche Anschauung erstrecken, weil sie Objekte überhaupt denken“ (KrV A 254). Nun aber bietet die praktische Vernunft einer jeden der transzendentalen Ideen ihr „Objekt … im Begriff des höchsten Gutes ungezweifelt dar“. Freilich vermag die damit ermöglichte Anwendung keine Erweiterung der spekulativen Erkenntnis, weil das gemeinte Objekt nicht direkt der theoretischen Vernunft selbst gegeben wird. Bei aller Bemühung, die unüberschreitbare Grenze einzuhalten, die die übersinnliche Realität von der sinnlichen trennt, erweist sich diese Grenze bei Kant immer wieder als durchlässig. Denn vor allem von der transzendentalen Idee Gottes weiß Kant vieles zu sagen: Daß Gott existiert, daß er mit diesen und jenen Eigenschaften, und zwar nicht bloß moralischer Natur, ausgestattet ist usw. A 246: Abs. 3. Nachdem Kant eine kategoriale Bestimmung intelligibler Objekte für möglich erklärt hat, gibt er näher an, wie diese hinsichtlich der drei postulierten Letztere Aussage wird in A 254 am Ende wiederholt. Zum Verständnis der verschiedenen Äußerungen Kants über die Anwendung der Kategorien unterscheidet Adickes, indem er direkt den vorliegenden Abschnitt berücksichtigt, eine doppelte Bedeutung des Terminus „Kategorie“ bei Kant. Entweder bezeichnet er synthetische Funktionen unserer transzendentalen Apperzeptionseinheit; in welchem Falle ihre Verwendung sinnliches Anschauungsmaterial voraussetzt, oder aber er bezeichnet a priori gegebene Begriffe, die ihren Sitz im Verstand haben und auf Objekte überhaupt gehen; in diesem Falle hindert nichts daran, daß sie für jede Art begrifflicher Erkenntnis und für jede Art des Seins gültig sind (Kant und das Ding an sich, 56f.). 331
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Gegenstände aussieht. Die gesuchten Prädikate – in der Tat geht es vor allem um die Prädikate Gottes – „sind keine anderen als Verstand und Wille, und zwar so im Verhältnisse gegeneinander betrachtet, als sie im moralischen Gesetze gedacht werden müssen, also nur, soweit von ihnen ein reiner praktischer Gebrauch gemacht wird“. Was Kant damit meint, hat er ausführlicher am Ende des oben erwähnten letzten Abschnittes des ersten Stückes der Analytik dargelegt. Dort ist vom „Begriff einer empirisch unbedingten Kausalität“ die Rede, dem „in praktischer Beziehung … wirkliche Anwendung“ und damit „praktische Realität“ gegeben werden kann (A 98 f.). Hat man einem reinen Verstandesbegriff objektive Realität auf dem Felde des Übersinnlichen zuerkannt, so gilt dasselbe auch für alle übrigen Kategorien, insofern sie mit dem Bestimmungsgrund des reinen Willens (dem moralischen Gesetz) in notwendiger Beziehung stehen. Das Fazit an dieser früheren Stelle lautete: Die Kategorien „haben immer nur auf Wesen als Intelligenzen, und an diesen auch nur auf das Verhältnis der Vernunft zum Willen, mithin immer nur aufs Praktische Beziehung“ (A 99). An unserer Stelle formuliert Kant seine Position zur Bestimmung des Übersinnlichen überhaupt: „Von den Begriffen, durch die wir uns ein reines Verstandeswesen denken, bleibt nichts mehr übrig, als gerade zur Möglichkeit erforderlich ist, sich ein moralisch Gesetz zu denken, mithin zwar eine Erkenntnis Gottes, aber nur in praktischer Beziehung“ (A 247). Von besonderer Bedeutung ist hier etwas, das Kant hier eher nebenbei erwähnt, daß er nämlich bei der Dualität Anschauen und Denken (wobei „Denken“ als Bezeichnung sämtlicher unterschiedlicher Erkenntnisakte des Verstandes gilt, wie es aus KrV A 19 hervorgeht) für das Anschauen optiert (wie schon in der KrV, B 71; auch R 6041: XVIII 431), um es Gott (analog!) zuzuschreiben. Damit bestätigt Kant seine intuitionistische Auffassung von der Erkenntnis.333 A 248: Abs. 4 setzt die These fort, daß die Prädikate, mit denen wir die Idee Gottes bestimmen können, nur aus unserer eigenen moralischen Dimension zu gewinnen sind. 333 Eine Option für den Akt des „Denkens“ in bezug auf Gott bedeutet nicht, daß man ihm auch die Diskursivität des menschlichen Verstandes notwendigerweise zuschreibt. Das AnalogieVerfahren schließt immer ein Moment der Negation mit ein. Abgesehen von der Mehrdeutigkeit des Terminus „Denken“ bei Kant ist es höchst lehrreich, daß Aristoteles angesichts derselben Dualität für das „noein“ (im Sinne von „intelligere in sensibili“, vgl. De anima, III, 7: 431b 2) als „princeps analogatum“ optiert, so daß für ihn das eigentümliche Erkennen Gottes in einer „noesis noeseos“ (Metaphysik XII, 9: 1074 b 34) besteht, d. h. also in einem „Verstehen des Verstehens“ (bei Thomas von Aquin: „intelligentia intelligentiae“, vgl. In Metaphysicorum Aristotelis, XII, lect. 11: 2617, 2620) und nicht, wie die konzeptualistische Tradition ihn mißverstanden hat, in einem „Denken des Denkens“. Kant steht offenkundig in der konzeptualistischen Tradition, für die im Mittelpunkt der Verstandestätigkeit der Begriff und nicht der Akt steht, aus dem er hervorgeht, nämlich das Verstehen im Sinnlichen. Am nächsten zu diesem Akt kommt Kant da, wo er von der Konstruktion der Begriffe in der Anschauung spricht (KrV A 47 f.; 716 f.), aber auch dort entgeht ihm dieses vorbegriffliche Moment in unserem Erkenntnisprozeß. Konsequenz daraus ist seine Lehre von den Begriffen a priori.
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Seine Position versteht Kant als Gegensatz zu jener der Philosophen, die meinen, die Eigenschaften des göttlichen Verstandes und Willens bestimmen zu können. Die „natürlichen Gottesgelehrten“ – gemeint dürften hier die Vertreter der damals hoch im Kurs stehenden Physikotheologie sein, von der im folgenden die Rede ist – beanspruchen von ihrem Ansatz her den Begriff Gottes zu bestimmen, einschließlich der Eigenschaften des Verstandes und des Willens (jeder für sich genommen). Ihre Prädikate erweisen sich jedoch als bloße Worte – wendet Kant ein –, sobald sie von allem Anthropomorphismus abgesondert werden. Dem setzt Kant entgegen, was er bereits im vorigen Abs. vorgetragen hat: Eine theoretische Erkenntnis des Übersinnlichen ist nicht möglich; Verstand und Wille Gottes vermögen wir nur unter der moralischen Perspektive zu bestimmen, nämlich als Schlußfolgerung vom Objekt unseres moralisch bestimmten Willens (dem höchsten Gut) her auf die Bedingungen seiner Möglichkeit. Damit erhalten die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit „auch Realität, aber immer nur in Beziehung auf die Ausübung des moralischen Gesetzes“. In der Fußnote kritisiert Kant den Terminus „Gottesgelehrter“. Dabei bezieht er sich auf eine Distinktion zwischen historischer und rationaler Erkenntnis (A 836f.), die er in der transzendentalen Methodenlehre der KrV vorgenommen hat. Die erstere ist eine positive Erkenntnis („cognitio ex datis“); sie kann nur von einer fremden Quelle geschöpft werden, sei es durch persönliche Erfahrung, sei es durch Mitteilung. Die andere ist eine Erkenntnis aus eigener Vernunft („cognitio ex principiis“). Ein Philosoph (wobei die Philosophie eine „Vernunfterkenntnis“ ist) würde sich deshalb als Gottesgelehrter blamieren, weil er nur eine historische, d. h. positive Wissenschaft (die geoffenbarte Theologie) vertreten würde, also nichts, auf das man „von selbst durch Vernunft“ kommen könnte. A 249: Abs. 5–6 handeln in einer ungeordneten Weise sowohl vom Begriff als auch von der Existenz Gottes. 1. Bezüglich des Begriffes Gottes steht schon aus dem vor allem in den letzten zwei Absätzen Gesagten fest, daß dieser Begriff nicht „zur Physik (mithin auch zur Metaphysik, als die nur die reinen Prinzipien a priori der ersteren in allgemeiner Bedeutung enthält)“,334 sondern zur Moral gehört. Dies wird hier dadurch bestätigt, daß der Rekurs auf Gott in naturwissenschaftlichen Fragen keine physische Erklärung der NaturphänoDas hier über die Beziehung von Physik und Metaphysik Gesagte entspricht der damals allgemein vertretenen Auffassung. Mit der KrV verfolgte Kant den Zweck, eine solche apriorische Begründung der Naturwissenschaft zu liefern, während er mit dem Werk von 1786 „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ versucht hat, die Brücke zwischen dieser Metaphysik und dem Material aus der empirischen Beobachtung zu schlagen. Kant nennt seine Kritik einen „Traktat der Methode“ (B XXII). In der Tat stellt sie ein Moment auf dem Weg zur Thematisierung der bereits praktizierten Experimentalmethode dar, der schließlich dazu geführt hat einzusehen, daß die Naturwissenschaft selbst ihre eigenen Fachbegriffe und Grundsätze festlegen kann und muß, ohne sie von der Metaphysik zu entlehnen. Dies bedeutet aber nicht, daß eine 334
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mene darstellt.335 Auf diesen Gedanken kommt Kant in seinen Schriften mehrmals zu sprechen, und zwar im Zusammenhang mit dem Stichwort „faule Vernunft“ (vgl. „einzig möglicher Beweisgrund“ A 108–117 = II 119–123; KrV A 689–693, 772–774). 2. Was die Existenz Gottes betrifft, faßt Kant das zusammen, was er in seiner wiederholten Beschäftigung mit der Frage nach der Erkennbarkeit Gottes vor allem im Werk von 1763 „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“ und im Theologie-Hauptstück der KrV bereits ausgeführt hatte.336 Hier geht er auf den physikotheologischen und den ontologischen Beweis ein. Zum physikotheologischen Beweis („Durch Metaphysik aber … möglich war“, A 250, und weiter A 251 „Da wir diese Welt“ bis Ende der Seite) wiederholt Kant im wesentlichen seine Kritik, wie er sie schon im EmBg, III. Abt., Nrn. 3–4, und in der KrV, Theologie-Hauptstück, VII Abschnitt (A 620–630) ausgeführt hat: Wegen der Proportion von Ursache und Wirkung können wir nicht von der Beschaffenheit dieser Welt her ausgehend auf ihren Urheber als ein ens infinitum oder perfectissimum mit Sicherheit schließen. Dafür wäre es nötig, von der vollkommensten Welt (und damit von der Erkenntnis aller möglichen Welten) auszugehen. Wir müßten uns deshalb mit einer wohl „vernünftigen Hypothese“ zufrieden geben. Daß dieselbe Unzulänglichkeit des physikotheologischen Weges auch für die Einzigkeit Gottes gilt, wird nur beiläufig erwähnt: „daß sie nur durch einen Gott … möglich war“ (A 250). 3. Zur Widerlegung des ontologischen Beweises („vollends aber … Schluß herauszubringen“, A 250) bedient sich Kant des Prinzips, daß ein Existentialsatz (ein Satz, der von etwas sagt, daß es „ist“, „existiert“) ein synthetischer Satz ist. Dieses Prinzip hat er im „einzig möglichen Beweisgrund“, erster Betrachtung, ausgearbeitet. Deshalb kann das Dasein Gottes nicht aus dem Begriff des vollkommensten Wesens abgeleitet (erkannt) werden. Im Rahmen der KrV werden die Kategorien der Modalität – Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit – in den „Postulaten des empirischen Denkens überhaupt“ erörtert (A 218–235; die „Wirklichkeit“ insbesondere in A 225f.). 4. „Also bleibt nur ein einziges Verfahren für die Vernunft übrig …“ nämlich der moralische Gottesbeweis, der hier kurz skizziert wird. Hinzu kommt, daß auf diesem Weg nicht nur die Existenz Gottes erkannt wird, sondern auch „ein genau bestimmter Begriff dieses Urwesens“ gebildet werden kann – ein Begriff, den die Vernunft „auf dem Naturwege“ (A 251), d.h. von der Welt her nicht erreichen konnte. Der folgende Abs. 6 bestätigt die These, daß „der Begriff von Gott ein ursprünglich … zur Moral gehöriger Begriff“ ist, sowie auch die anderen zwei Vernunftbegriffe, deren Realität die Postulate „bewiesen“ haben. philosophische Reflexion die Beziehungen zwischen beiden Wissenssparten nicht ermitteln könnte und sollte. Aber diese liegen in der Struktur unserer erkenntnismäßigen Intentionalität selbst und der ihr proportionierten Wirklichkeit. 335 Vgl. S. 134 über die methodische Selbstbeschränkung der Naturwissenschaft auf den Bereich der Erfahrung (Kommentar zu A 95f., „Naturkenntnis“). 336 Für beide hier nochmals erörterten Beweise verweise ich auf mein Buch: Kant und die Frage nach Gott. Gottesbeweise und Gottesbeweiskritik in den Schriften Kants, Berlin 1990.
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A 253: Abs. 7. Seine Ansicht über den Begriff Gottes als einen zur Moral gehörigen Begriff findet Kant in der Geschichte der Philosophie bestätigt. Wegen der „Übel in der Welt“ (Theodizeeproblem!) haben die älteren griechischen Philosophen nicht den an sich naheliegenden Weg des physikotheologischen Beweises eingeschlagen, sondern „in den Naturursachen herumgesucht“, um dort die Erklärung der Welt zu finden. Kant spielt hier auf die alten Naturphilosophen (Atomisten, Hylozoisten) an, die auf der Suche nach letzten, unveränderlichen Naturstoffen („archai“) waren, um mittels ihrer Vereinigung miteinander und Sonderung voneinander Werden und Vergehen im Universum zu erklären. Erst nachdem sie sich ethischen Problemen zugewandt hatten, „fanden sie… ein neues Bedürfnis, nämlich ein [moralisch-] praktisches, welches nicht ermangelte, ihnen den Begriff des Urwesens bestimmt anzugeben“. Dabei blieb der spekulativen Vernunft nur eine Ausschmückungsarbeit „aus der Naturbetrachtung“ übrig. In der KrV A 817 f. wird diese Entwicklung eher dem Christentum zugeschrieben, insofern sein „äußerst reines Sittengesetz“ eine „größere Bearbeitung sittlicher Ideen“ veranlaßte. A 254: Abs. 8 nimmt das Thema der Kategorien zur Bestimmung des Gottesbegriffes wieder auf (vgl. Abs. 2). Zur Rechtfertigung dieser Anwendung der Kategorien auf das Übersinnliche beruft sich Kant auf „jene mühsame Deduktion der Kategorien“ in seiner ersten Kritik. Eine solche war gewiß die „transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“.337 In der Tat aber beruft sich Kant eher auf jene sehr knappe Deduktion (KrV A 67, 70, 79f.), die er erst in der zweiten Auflage des Werkes „metaphysische Deduktion“ genannt hat (B 159) und die von jenem Ursprung der reinen Verstandesbegriffe handelt, von dem abhängt, daß sie sich weiter erstrecken als auf den Bereich der Erfahrung, in dem allein sie eine objektive Geltung erlangen, wie die transzendentale Deduktion zu zeigen versucht hat. Gemäß dieser metaphysischen Deduktion sind die Kategorien weder „angeboren“, wofür Plato sie gehalten hat (zu Platos Ideenlehre vgl. KrV A 312–320), noch „erworben“, wofür Epikur sie gehalten hat (in der KrV B 127 hatte Kant Locke genannt). Diesen Mittelweg zwischen Innatismus und Empirismus in der Ursprungsfrage hatte Kant aber in der KrV merkwürdigerweise nicht erwähnt, denn dort ist nur davon die Rede, daß diese Begriffe „aus dem Verstande … entspringen“ (A 70), bzw. daß ihr Ursprung „a priori“ ist (B 159). In der Dissertation von 1770 aber führte Kant am Ende 337 Bekanntlich ist Kant mehrmals auf das Problem der objektiven Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe eingegangen, das den „articulus stantis et cadentis“ seiner Transzendentalphilosophie darstellt: von der Neufassung in der zweiten Auflage der KrV über die reflektierende Urteilskraft der dritten Kritik bis zu den wiederholten Versuchen im „Opus Postumum“, sich einen „Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik“ zu bahnen (XX 174), ohne daß er das Problem als gelöst betrachten konnte. Noch 1798 mußte Kant in zwei Briefen zugestehen, daß die „Lücke“ in seinem System der Philosophie noch nicht geschlossen war. Dazu verweise ich auf meinen Aufsatz „Ein Experimentum crucis der Transzendentalphilosophie Kants: Die Erkenntnis des Besonderen“, in: Im Ringen um die Wahrheit (Festschrift für Prof. Dr. Alma von Stockhausen), Weilheim-Bierbronnen 1997, 111–126.
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des § 15 aus, daß beide Formen der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, die „conceptus“ im allgemeinen Sinne genannt werden, „acquisiti“ (erworben) sind, und zwar aus einer „lex animi“, die ihrerseits „connata“ (angeboren) ist. Derselbe Ursprung galt auch für die im § 8 angegebenen metaphysischen Begriffe (die späteren Kategorien der KrV): Sie sind nicht „conceptus connati“, sondern „e legibus menti insitis (attendendo ad eius actiones occasione experientiae) abstracti, adeoque acquisiti“ (aus den dem Geiste innewohnenden Gesetzen – durch Aufmerksamkeit auf ihre Handlungen bei Gelegenheit der Erfahrung – abstrahiert und also erworben). In der späteren Streitschrift gegen Eberhard von 1790 („Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll“) wurde diese Lehre dahin präzisiert, daß Kant von einer „acquisitio originaria“ (ursprünglichen Erwerbung) kraft eines „Grundes“ sprach, der angeboren ist, wobei der Grund eine unserem Gemüte innewohnende Gesetzlichkeit ist (A 68–71 = VIII 221–223, vgl. dazu H. Vaihinger, „Kommentar zu Kants KrV“, II 89ff.). Aus dieser Auffassung von den Kategorien zieht Kant hier eine doppelte Konsequenz: 1) Die Kategorien „bringen nur in Anwendung auf empirische Gegenstände theoretische Erkenntnis zustande“, weil sie dadurch zu einer Erkenntnis bestimmter Objekte werden, wie es in der transzendentalen Deduktion erwiesen wurde. 2) Weil sie aber im reinen Verstand „Sitz und Ursprung haben“ (A 246), dienen sie „auch, auf einen durch reine praktische Vernunft gegebenen Gegenstand angewandt, zum bestimmten Denken des Übersinnlichen“, jedoch nur durch moralische Prädikate. Der Absatz endet mit einer für das Denken Kants programmatischen Aussage über „spekulative Einschränkung der reinen Vernunft und praktische Erweiterung derselben“.
VIII. Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der reinen Vernunft (A 255–263) Im vorigen Abschnitt hat Kant dargelegt, daß die Postulate der reinen praktischen Vernunft zu einer Erkenntnis der uns sonst unerkennbaren, weil transzendenten Realität von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit führen. Jetzt erläutert er näher, um welche Art von Erkenntnis es sich handelt, wobei er in vielem bereits Vorgetragenes wiederholt. Mit bezug auf drei Arten von Erkenntnis, die Kant in der KrV unterschieden hatte, nämlich Meinen, Wissen und Glauben (A 820–831), zählt Kant für gewöhnlich die durch die Postulate gewonnene Erkenntnis zum Glauben, noch präziser zum „moralischen Glauben“ (A 828); im vorliegenden Abschnitt, wie auch in A 227 und 263, nennt er sie „Vernunftglauben“ – mit einem Terminus, den er auch in der KrV, und zwar ein einziges Mal (A 828), verwendet hatte. A 255: Abs. 1 unterscheidet ein Bedürfnis der spekulativen Vernunft und eines der praktischen Vernunft. Das erstere „führt nur auf Hypothesen“. Denn in diesem Fall steigt die Vernunft von einem „Abgeleiteten“, das wir durch Erfahrung schon kennen,
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hinauf zu einem ersten Grund als Erklärung des Abgeleiteten. Kant exemplifiziert dies anhand des physikotheologischen Beweises (vgl. auch schon kurz vorher: A 251). Sowohl im „einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“ wie auch in der KrV hatte Kant diesen Beweis abgelehnt, weil der Schluß von einer beschränkten Wirkung auf eine unbeschränkte Ursache nicht stichhaltig ist (vgl. auch R 6110: XVIII 458). An unserer Stelle drückt sich Kant eher vage hinsichtlich des Grundes aus, warum er diese Schlußfolgerung bestenfalls als eine „Meinung“ gelten läßt, wenn auch eine durchaus vernünftige. Anscheinend betrachtet er den Beweis als einen Fall des hypothetischen Schlusses, der aus der Position des Bedingten auf die Existenz der Bedingung schließt und der bekanntlich ungültig ist, falls die Bedingung nicht bereits als die alleinige und deshalb notwendige feststeht (zur gemeinten logischen Regel vgl. R 2679: XVI 466). In der anschließenden Fußnote führt Kant dieses Bedürfnis der spekulativen Vernunft auf den Begriff des „schlechterdings notwendigen Wesens“ zurück, der für unsere Vernunft problematisch, zugleich aber unvermeidlich ist. Die Vernunft wird genötigt, diesen Begriff (das „notwendige Problem“ unserer Vernunft) näher zu bestimmen; dies tut sie, indem sie zu Begriffen aufsteigt (zu den verschiedenen Begriffen, mit denen Gott aufgefaßt werden kann?), denen der Begriff des notwendigen Wesens zugrunde liegt. Höchstwahrscheinlich denkt Kant hier an jene Tendenz zum „Unbedingten“, das die Vernunft „mit allem Recht zu allen Bedingten … verlangt“ (KrV A XX; auch GMS, Schlußanmerkung) und das in der Tat „die einzige theoretische Vernunftidee“ darstellt (R 6414: XVIII 709; KrV A 417 Fn: „die eigentliche transzendentale Idee“). Von ihr sind die drei transzendentalen Ideen der KrV begriffliche Spezifikationen, die dem Philosophen als Anhaltspunkte für seine Kritik der herkömmlichen metaphysica specialis dienen. Im Unterschied zum Bedürfnis der spekulativen Vernunft führt ein Bedürfnis der praktischen Vernunft zu Postulaten. Das gemeinte Bedürfnis gründet in einer Pflicht, nämlich in dem Gebot, das höchste Gut zu verwirklichen. Dies verpflichtet uns zu gesetzmäßigen Handlungen. Aber die nötige subjektive Gesinnung dieses Handelns, die Achtung fürs Gesetz, setzt voraus, daß das höchste Gut möglich ist. Denn „es wäre praktisch unmöglich“, einem an sich unmöglichen Objekt „nachzustreben“. Daraus ergibt sich für den „Rechtschaffenen“ ein Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft „in schlechterdings praktischer Absicht“, das ihn ermächtigt und dazu drängt, die „in der Natur der Dinge liegenden Bedingungen der Möglichkeit des höchsten Gutes“ zu postulieren – was, wie Kant eigens bemerkt, etwas anderes als eine bloß erlaubte Hypothese ist. Ein solches Postulieren weist einen ausgesprochen „voluntaristischen“ Charakter auf: „Ich will, daß ein Gott … sei (vgl. auch KrV A 829). Dieses Wollen drückt einen „Glauben“ an das aus, was unser einziges unverzichtbares „Interesse“ darstellt. Es ist, wie es in der KrV, A 830, Fußnote, hieß, unser „natürliches Interesse an der Moralität“. Kant erläutert in der anschließenden Fußnote den Schluß vom Gebot des Gesetzes auf die Bedingungen seiner Ausführbarkeit, also auf die Postulate, indem er darauf besteht, daß es sich nicht um ein auf Neigung gegründetes Bedürfnis handelt, sondern um
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ein „Vernunftbedürfnis aus einem objektiven Bestimmungsgrunde des Willens, nämlich dem moralischen Gesetze entspringend“. Für jedes vernünftige Wesen ist es deshalb unvermeidlich, dasjenige vorauszusetzen, was zur objektiven Möglichkeit des gebotenen höchsten Gutes notwendig ist. „Die Voraussetzung ist so notwendig als das moralische Gesetz, in Beziehung auf welches sie auch nur gültig ist.“ Das hier Gesagte über den Vernunftglauben läßt sich in Zusammenhang mit A 227, wo Kant schon zwischen Hypothese und Vernunftglauben unterschieden hat, wie folgt zusammenfassen: Es ist Pflicht, das höchste Gut zu befördern; daraus folgt, daß es notwendig ist, seine Möglichkeit vorauszusetzen. Diese Voraussetzung der Gründe der Möglichkeit des höchsten Gutes, die so notwendig ist, wie das moralische Gesetz selbst, ist an sich Sache der theoretischen Vernunft. Demgemäß ist sie, als Erklärung einer solchen Möglichkeit, eine Hypothese, insofern unsere Vernunft die Möglichkeit des höchsten Gutes „nicht anders denkbar als unter Voraussetzung“ dieser Realitäten findet;338 insofern aber diese Voraussetzung einem Bedürfnis der praktischen Vernunft begegnet, ist sie Vernunftglaube.
Exkurs zum Problem des „ens necessarium“ Zu Beginn des Abs. hat Kant von der forschenden Vernunft gesprochen, die von der Ordnung der Welt zu einer Erklärung hinaufsteigt und diese Erklärung in einer Gottheit findet. Damit sei aber weder eine apodiktische Erkenntnis erreicht, noch eine solche, die den Inhalt des Gottesbegriffes adäquat bestimmt. In der Fußnote zu A 256 fügt Kant hinzu, daß hinter diesem Bedürfnis der Vernunft mehr als eine beliebige Neugier steht; es steht nämlich „ein problematischer, aber doch unvermeidlicher Begriff der Vernunft …, der eines schlechterdings notwendigen Wesens“ dahinter, den die Vernunft „näher zu bestimmen“ sucht. Was Kant hier eher beiläufig erwähnt, stellt in der Tat die Problematik des Daseinsnotwendigen dar, die im Mittelpunkt seiner langjährigen Beschäftigung mit der Erkennbarkeit Gottes gestanden hatte. Im metaphysischen Werk von 1763 „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“ hat Kant eine zweite, ausführlichere Fassung seines „ontotheologischen“ Beweises vorgelegt (die erste legte er in der Dissertation von 1755 „Nova dilucidatio“ vor), wie er ihn in der R 4647 (XVII 624) einmal genannt hatte. Ausgehend vom Möglichen als Möglichem schließt Kant dort auf ein schlechthin notwendiges Wesen im Sinne einer Realnotwendigkeit – einer Notwendigkeit also, die nicht die eines Wesens ist, dessen Verneinung einen Widerspruch nach sich ziehen würde („logische Notwendigkeit“, die beim Sein als absoluter Position eines Dinges nie der Fall ist), sondern die eines Wesens, dessen Verneinung die Aufhebung 338 In A 226 hat Kant schon weiter präzisiert, daß die Notwendigkeit der Erklärung durch die Annahme des Daseins Gottes „subjektiv, d. i. Bedürfnis, und nicht objektiv, d. i. Pflicht sei; denn es kann keine Pflicht geben, die Existenz eines Dinges anzunehmen (weil dieses bloß den theoretischen Gebrauch der Vernunft angeht)“.
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aller Möglichkeit zur Folge hätte (was für Kant dem Unmöglichen schlechthin gleichkommt!). Um das so verstandene ens necessarium ringt Kant immer wieder in seiner Gotteslehre. Wegen der Radikalisierung einer empiristischen Phase im Denken Kants, die sich bereits seit Beginn der 60er Jahre abgezeichnet hatte, ließ Kant kurz danach zusammen mit der rationalistischen Ontologie seinen darauf basierenden, hochgeschätzten „einzig möglichen Beweisgrund“ fallen. Aber das Problem des ens necessarium blieb. Eine aufmerksame Lektüre des Theologie-Hauptstücks der KrV, wo Kant seine vorkritische „Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft“ (A 631) im wesentlichen wiederholt, stellt fest, daß Kant dort viel mehr als um die einzelnen traditionellen Gottesbeweise, die ihm schon längst als unschlüssig galten, um den „Begriff eines absolut notwendigen Wesens“ (A 592) ringt – vor allem in den ersten fünf Absätzen des Abschnittes über den ontologischen Beweis (A 592–595). Eine Namensdefinition des Daseinsnotwendigen hilft nichts, weil sie keine Auskunft über die Bedingungen gibt, die es uns unmöglich machen, das Nichtsein des ens necessarium zu denken. Darum hat dieser Begriff keinen bestimmten Inhalt, so daß ein Beweis, daß der entsprechende Gegenstand existiert, buchstäblich sinnlos wäre. Die Beispiele von absoluter Notwendigkeit, die gemeinhin gebracht werden (etwa die Sätze der Geometrie) besagen nur die Notwendigkeit einer Essenz, aber keine Notwendigkeit der Existenz. Zur Frage nach dem ens absolute necessarium: Es ist wohl wahr, daß uns eine direkte und positive Einsicht in die innere Notwendigkeit des Daseinsnotwendigen nicht möglich ist. Eine solche absolute Realnotwendigkeit ist nur einem unendlichen Verstehen einsichtig, das a) uns nicht beschieden ist und das b) die Notwendigkeit eines Beweises überflüssig machen würde. Dies bedeutet aber nicht, daß wir vom „schlechterdings notwendigen Wesen“ nur die bloß „logische Notwendigkeit“ einer „Namenserklärung“ oder aber die bloß „begriffliche Notwendigkeit“ des ens perfectissimum erfassen können, mit denen gewiß keine rationale Erkenntnis der Existenz Gottes erreicht werden kann. Denn wir vermögen die reale Notwendigkeit der kontingent existierenden Welt zu erfassen und somit einen analogen Begriff der absoluten realen Notwendigkeit zu bilden, die dann durch Rückbezug auf die tatsächlich existierende Welt zum rationalen Urteil führt, mit dem wir erkennen, daß „Gott ist“.339 A 259: Abs. 2 handelt wieder vom erkenntnistheoretischen Status des Vernunftglaubens. Es ist nicht Gebot, „das höchste Gut für möglich anzunehmen“; schon deswegen nicht, weil die spekulative Vernunft eine Verbindung von Moralität und tatsächlichem Besitz von Glückseligkeit nicht als an sich unmöglich behaupten kann. Die theoretiDie hier vorgelegte Problematik des „schlechterdings notwendigen Wesens“ habe ich an mehreren Stellen meines Buches „Kant und die Frage nach Gott“ ausgeführt, insbesondere auf S. 128–130 im Zusammenhang mit der Ontotheologie Kants und S. 275–281 im Zusammenhang mit der Erörterung der Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises. Zusammenfassend im Artikel „Die Gottesfrage in den Schriften Kants“, Zeitschrift für katholische Theologie, 123 (2001) 143–171. 339
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sche Vernunft hat deshalb „nichts dawider“. Nur in Ansehung der Art und Weise, wie diese „Harmonie der Naturgesetze mit denen der Freiheit“ in einklang gebracht werden soll, kann die theoretische Vernunft nichts mit Gewißheit entscheiden. Genau hier gibt unser moralisches Interesse (vgl. A 258f.) „den Ausschlag“. A 261: Abs. 3 erklärt weiter, warum das bisher Gesagte über das höchste Gut die Möglichkeit nicht präjudiziert, daß unser moralisches Interesse über die Art und Weise entscheide, wie wir uns das höchste Gut als realisierbar denken können und sollen. Denn oben wurde lediglich gesagt, daß eine solche Verbindung „nach einem bloßen Naturgange in der Welt“ nicht zu erwarten, aber auch nicht für unmöglich zu halten sei. Unmöglich für unsere Vernunft (also subjektiv!) ist nur, sich den genauen Zusammenhang der natürlichen und der moralischen Gesetzlichkeit im Hinblick auf das höchste Gut zu erklären, obwohl sie andererseits diesen auch nicht als objektiv unmöglich beweisen kann. A 262: Abs. 4. Das „Schwanken der spekulativen Vernunft“ wird überwunden, indem man für die Verbindung beider Bestandteile des höchsten Gutes von der Kausalität in der Sinnenwelt zu derjenigen in der intelligiblen Welt übergeht, wie schon an der Schüsselstelle der „Kritischen Auflösung der Antinomie“ erwähnt wurde (A 206 in fine und f.) – in der Welt nämlich, zu der die reine praktische Vernunft Zugang hat. Das etwas komplizierte Bild der verschiedenen Elemente und Aspekte, die den Begriff des Kantischen Vernunftglaubens betreffen, sieht also wie folgt aus: a) Das Gebot, das höchste Gut zu befördern, ist objektiv, weil es in der praktischen Vernunft gegründet ist. b) Damit ist auch die Möglichkeit desselben objektiv gegründet. Die theoretische Vernunft hat nichts gegen diese Möglichkeit. c) Bezüglich der Art und Weise, wie wir uns diese Möglichkeit (Verwirklichung!) vorstellen sollen, hat die (spekulative) Vernunft keinen objektiven Grund für eine eigene Entscheidung. d) Aber dieselbe Vernunft hat wohl eine eigene Vorstellung, wie das höchste Gut realisierbar sei (eben durch einen „moralischen Welturheber“, wie im vorigen Absatz gesagt wurde). Diese Vorstellung ist subjektiv bedingt, insofern die Vernunft keine andere Erklärung kennt, aber zugleich der Moralität konform. e) Da nun die Verwirklichung des höchsten Gutes für die praktische Vernunft objektiv notwendig ist, entscheidet das moralische Interesse der Vernunft zugunsten der Annahme dieser von der spekulativen Vernunft selbst eingesehenen Möglichkeit, nämlich für die Annahme eines moralischen Welturhebers (vgl. A 207). f) Das Prinzip, „was unser Urteil hierin bestimmt“ – und dies bedeutet das Prinzip, das uns befugt, die Existenz Gottes zu postulieren,340 – ist also als Bedürfnis einer theoretischen Erklärung subjektiv be340 Immer wieder endet die Argumentation hinsichtlich des höchsten Gutes mit dem Postulat Gottes, der in der Tat als der einzige Grund der Realisierbarkeit des höchsten Gutes angesehen werden kann, weil die Möglichkeit des anderen Bestandteils, der Sittlichkeit, schon wegen des moralischen Gesetzes feststeht (und zwar ohne das Postulat Gottes – nach Kants Dafürhalten! Vgl. KU B 425).
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stimmt, aber als Mittel zur Verwirklichung dessen, was für die praktische Vernunft objektiv notwendig ist, Grund einer Maxime des Fürwahrhaltens in moralischer Absicht, d. h. des moralischen Glaubens. g) Der reine praktische Vernunftglaube entspringt also aus der moralischen Gesinnung. Er ist eine freiwillige Bestimmung unseres Urteils, günstig für unsere (gebotene) Absicht und außerdem übereinstimmend mit dem theoretischen Bedürfnis der Vernunft, die Existenz Gottes anzunehmen und sie dem Vernunftgebrauch zugrunde zu legen. Die abschließende Aussage darüber, daß ein „Wohlgesinnter“ den hier besprochenen Glauben nicht verlieren kann, erinnert an den Zusammenhang von moralischem Glauben und moralischer Praxis, auf den Kant auch an anderen Stellen hinweist, z. B. in KrV A 830 Fn: „Sorget ihr aber nicht dafür, daß ihr vorher, wenigstens auf dem halben Weg, gute Menschen macht, so werdet ihr auch niemals aus ihnen aufrichtiggläubige Menschen machen“ oder KU B 458 Fn: „ein freies Fürwahrhalten … ist als solches nur mit der Moralität des Subjektes vereinbar“. Aufschlußreich für das Thema der drei letzten Abschnitte der Dialektik ist die Entwicklung, auf die M. Wundt im Blick auf die von Kant verwendete Terminologie hingewiesen hat. Am Ende der GMS nennt Kant unseren Zugang zur Verstandeswelt, zu der die moralische Nachforschung vorstößt, „vernünftigen Glauben“ (A 127 = IV 462) und löst damit den Ausdruck „moralischen Glauben“ der KrV (A 828) ab.341 Im Aufsatz „Sich im Denken orientieren“ zwei Jahre danach ist Vernunftglaube der geläufige Terminus für die moralische Gewißheit des Übersinnlichen geworden (A 318 ff. = VIII 140 ff.). Aber auch diese „angemessenere“ Benennung war nur ein Schritt in der weiteren Entwicklung in Richtung auf den später am liebsten gebrauchten Begriff der „praktischen Erkenntnis“. „So spiegelt sich in dem Wandel von Kants Sprachgebrauch seine mehr und mehr auch theoretisch begründete Überzeugung von der Realität des Übersinnlichen“342. Von der KpV an ist der Begriff „praktische Erkenntnis“ bzw. „Erkenntnis in praktischer Absicht“ ein ständiger Ausdruck in Kants Sprachgebrauch.343 Schon in der Vorrede (A 4 f.) bezeichnet Kant es als eigentliche Aufgabe der Schrift, den Begriff der Freiheit in seiner Realität zu erweisen. Diese Aufgabe wird in der Analytik in Zusammenhang mit dem „Faktum der Vernunft“ (A 56), das für die Ideen der Vernunft die Stellung der Anschauung für die Verstandesbegriffe einnimmt, gelöst. Die praktische Erkenntnis der Realität der Ideen von Gott und der Unsterblichkeit, die sich an den Begriff der Freiheit anschließen, ist die Aufgabe der Dialektik. „Vernunftglaube“ kommt als hapax legomenon in KrV A 829 vor. M. Wundt, Kant als Metaphysiker, 316. 343 „Der Begriff der ‘praktischen Erkenntnis’ … findet sich bereits an einer Stelle der KrV, A 633 [diese Stelle wurde oben im Hinblick auf die Distinktion theoretische und praktische Erkenntnis angeführt]. Doch wird hier nur die Erkenntnis des moralischen Gesetzes selbst als solche bezeichnet, nicht die der (theoretischen) Folgerungen, die sich unter der Voraussetzung des moralischen Gesetzes ergeben. Nach dieser Stelle wird durch die praktische Erkenntnis nur erkannt, was geschehen soll. Nach dem späteren Sprachgebrauch dagegen richtet sich auch die praktische Erkenntnis auf das, was ist (Freiheit, Gott, Unsterblichkeit), nur erweist sie ihre Sätze, indem sie das Sollen als Voraussetzung zugrundelegt“ (M. Wundt, Kant als Metaphysiker, 321). 341 342
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IX. Von der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen (A 263–266) Die Dialektik der KpV steht unter dem Leitwort einer „Ergänzung“ dessen, was die erste Kritik der spekulativen Vernunft abgesprochen hatte (X 490; auch A 221; KU am Ende des § 86). Im Abschnitt III derselben Dialektik hat Kant die entsprechende Lehre vom Primat der praktischen Vernunft ausgeführt. Im vorliegenden letzten Abschnitt wird dieses Lehrstück wieder aufgenommen und vertieft. Denn in der gemeinten Ergänzung geht es nicht bloß um die „technische“ Frage, welches der Erkenntnisvermögen, mit denen der Mensch ausgestattet ist, oder welcher Gebrauch der Vernunft was tun kann. In der „Ergänzung“ bzw. im „Primat“ kommt vielmehr die dem Menschen eigentümliche Verfassung zum Vorschein, derentwegen sein Ziel und seine Würde darin besteht, ein moralisches Wesen, bzw. Person zu sein, deren Wert der ihrer sittlich guten Handlungen ist. Es liegt nahe, den vorliegenden Abschnitt mit dem ersten Satz der GMS über den guten Willen als den einzigen absoluten Wert in der Welt in Verbindung zu bringen. Zwischen diesen zwei programmatischen Aussagen befindet sich der Text beider Grundlegungsschriften zur Ethik, in denen Kant seine Auffassung vom Menschen entfaltet. Der hier vorgelegte Gedanke ist, daß die Verfassung des Menschen in seinen Erkenntnisvermögen eine „weislich angemessene Proportion“ aufweist, die Kant sich nicht scheut, auf „die unerforschliche Weisheit“ zurückzuführen, „durch die wir existieren“. Diese Weisheit zeigt sich „nicht minder verehrungswürdig in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zuteil werden ließ“. Gemeint ist zweifelsohne die am Ende des Abschnittes VII erwähnte „spekulative Einschränkung der reinen Vernunft“ einerseits und „praktische Erweiterung derselben“ andererseits. Die Argumentation des Abschnittes schließt sich an das behandelte Thema der Realitäten an, von denen die Möglichkeit jenes höchsten Gutes abhängt, das den Endzweck des Menschen darstellt, in erster Linie an unsere Erkenntnis Gottes, die eine Sache nicht des Wissens, sondern des moralischen Glaubens ist. Der Zugang zu den „höchsten Zwecken unseres Daseins“ (KrV B 395 Fn) wird uns durch die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch und damit durch den auf dem moralischen Gesetz gegründeten Vernunftglauben eröffnet. Zu seiner offenkundig hohen Einschätzung des Glaubenswegs ist Kant gelangt, nicht indem er aus der Not, d.h. aus der Einschränkung unserer theoretischen Erkenntnis auf den Bereich der „Welt“, eine Tugend gemacht hätte. Vielmehr ist sie allmählich in einer mehr als zwei Jahrzehnte langen Reflexion gewachsen. Schon 1766, am Ende seines in mancher Hinsicht absonderlichen Werkes über die „Träume eines Geistersehers“, gelangte Kant zu der Einsicht, daß der moralische Glaube so beschaffen ist, daß „dessen Einfalt mancher Spitzfindigkeit des Vernünftelns überhoben sein kann, und … einzig und allein dem Menschen in jeglichem Zustande angemessen ist, indem er ihn ohne Umschweif zu seinen wahren Zwecken führt“. Zu diesen wahren Zwecken gehört gewiß „die wichtigste aller unserer Erkenntnisse: Es ist ein Gott“, wie Kant zu Beginn seines „einzig möglichen Beweisgrundes zu einer De-
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monstration des Daseins Gottes“ wenige Jahre vorher geschrieben hatte. Und schon damals bekannte Kant offen an derselben Stelle, trotz seines hochgeschätzten einzig möglichen (!) metaphysischen Gottesbeweises, daß „die Vorsehung nicht gewollt hat, daß unsere zur Glückseligkeit höchstnötigen Einsichten auf der Spitzfindigkeit feiner Schlüsse beruhen sollten, sondern sie dem natürlichen gemeinen Verstande unmittelbar überliefert“. Derselbe Gedanke kam später in der KrV, A 831, am Ende des Abschnittes über die drei Arten des Fürwahrhaltens vor; was aber in den „Träumen“ der Vorsehung zugeschrieben worden war, wurde in der ersten Kritik auf die Natur zurückgeführt. In einer Überlegung kurz nach dem metaphysischen Werk über die Gottesfrage, die uns in den „Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ erhalten geblieben ist, heißt es: „Die Erkenntnis Gottes ist entweder spekulativisch und diese ist ungewiß und gefährlichen Irrtümern unterworfen, oder moralisch durch den Glauben“ (XX 57). Aus den siebziger Jahren ist uns eine Reflexion erhalten, die wie ein Stück Vorarbeit zu der viel später verfaßten KpV aussieht: „Die Menschen möchten wohl gern eine theoretische Gewißheit vom Dasein Gottes haben, unabhängig von allen Gründen des Verhaltens, damit es ihnen frei bliebe, sich nach den Erkenntnissen zu richten, entweder den sittlichen oder den Gesetzen der Neigung gemäß zu verfahren, nachdem sie erkenneten, daß ein Gott sei oder nicht. Aber die sittlichen Gesetze sind von der Art, daß bei ihnen keine Freiheit zu wählen ist; und es ist keine sittliche Reinigkeit möglich, wenn vor denen Entschließungen derselben Erkenntnisse vorhergehen, welche sie unnötig machen und alles auf Klugheit reduzieren. Daher ist uns nur so viel Licht gegeben, als mit der Ursprünglichkeit der sittlichen Bewegungsgründe und ihrer treibenden Gewalt zusammen bestehen kann. Wenn wir in Ansehung deren gleichgültig wären, so würden die Beweisgründe (logischen) uns nicht allein überzeugen. Der freie Glaube an Gott ist ein Verdienst, die apodiktische Gewißheit und Zwangsglaube aus Furcht keines“ (R 5495: XVIII 198f.). Der Parallelismus zur zentralen Aussage unseres Abschnittes liegt auf der Hand. Der Gedanke von der Weisheit Gottes sowohl hinsichtlich dessen, was Gott den Menschen hat erkennen lassen, wie auch dessen, was er ihnen vorenthalten hat, kam auch schon 1760 in Kants Trostschreiben an die trauernde Mutter seines früh verstorbenen Schülers Johann Friedrich von Funk zum Ausdruck: „Wir finden die Wege der Vorsehung allemal weise und anbetungswürdig in den Stücken, wo wir sie einigermaßen einsehen können; sollten sie es da nicht noch weit mehr sein, wo wir es nicht können?“.344 Die Überzeugung, daß unser Vermögen unserer Lage und unseren Bedürfnissen angemessen sei, kam bereits deutlich zur Sprache in dem Werk, das als Grundtext der Aufklärung gilt, nämlich in Lockes „Versuch über den menschlichen Verstand“ von 1689. In der Einleitung, Nr. 5, schrieb der Vater der Aufklärung: „Wenn auch die Fassungskraft unseres Verstandes weit hinter dem gewaltigen Umfang der Dinge zurückbleibt, so haben wir doch noch Grund genug, den gütigen Urheber unseres Dasein für jenen Grad und für jenen Anteil der Erkenntnis zu preisen, den er uns … verliehen hat … Wir werden nicht viel Grund haben, uns über die Beschränktheit unseres Geistes zu beklagen, wenn wir ihn nur zu den Dingen gebrauchen, die für uns von Nutzen sein können; denn dazu ist er gut geeignet.“ 344
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Die hier zitierten Stellen sind längst nicht die einzigen, in denen Kant nicht nur auf die Moralität als den Weg zur Erkenntnis Gottes hinweist, der allen Menschen zugänglich ist, sondern auch – und darin liegt die Pointe seines Gedankens – die Angemessenheit dieser Erkenntnisart für eine gelebte moralische Praxis hervorhebt.345 So lesen wir in der R 6111 „Wäre die Erkenntnis Gottes ein Wissen und nicht ein Glauben, würde alsdann wohl die Moralität übrig bleiben?“ (XVIII 459), und nach der R 6108 ist sogar „das Wissen hier schädlich“ (XVIII 456). Aufschlußreich ist die Behauptung in der Religionslehre Pölitz, daß ein Wissen um die Existenz Gottes einerseits unsere Moralität zu einer Sache eines klugen Kalküls von Kosten und Ertrag machen, andererseits die Vernunft und mit ihr unsere moralische Einstellung erdrücken würde: „Dieser Glaube ist daher auch nicht Wissen, und, Heil uns! daß er es nicht ist; denn eben darin erscheint die göttliche Weisheit, daß wir nicht wissen, sondern glauben sollten, daß ein Gott sei. Denn gesetzt, wir könnten durch die Erfahrung …, oder auf diese oder jene Art zu einem Wissen vom Dasein Gottes gelangen; gesetzt, wir könnten davon wirklich, so wie durch die Anschauung vergewissert werden; so würde alle Moralität wegfallen. Der Mensch würde sich sogleich Gott bei einer jeden Handlung als Vergelter und Rächer vorstellen; das Bild würde sich ganz unwillkürlich in seine Seele drängen; an die Stelle der moralischen Bewegungsgründe würden Hoffnung der Belohnung, und Furcht vor Strafen treten; der Mensch würde aus sinnlichen Antrieben tugendhaft sein“ (XXVIII 1083 f.; zu einer ähnlichen Auffassung Gottes, falls er der unmittelbare Beweggrund unseres Handelns wäre, vgl. GMS A 92 = IV 443).
Exkurs: Wissen oder Glauben an Gott?346 Nach seiner ersten Fassung des Postulats Gottes als Antwort auf die Frage: „Was darf ich hoffen?“ schreibt Kant: „Niemand wird sich rühmen können: er wisse, daß ein Gott und daß ein künftig Leben sei … Nein, die Überzeugung ist nicht logisch, sondern moralische Gewißheit“ (KrV A 829). Ein Postulat der reinen praktischen Vernunft führt zum Glauben, wobei (moralisch) Glauben ein Fürwahrhalten bezeichnet, das subjektiv zureichend, aber objektiv unzureichend ist (A 822).347 Indem Kant vom Vernunftglauben 345 Vgl. bei G. Schneeberger Kants Konzeption der Modalbegriffe weitere Aussagen zu dieser Würdigung unseres Wesens vor allem aus seinem handschriftlichen Nachlaß, 59–62, und bei A. Winter, in: „Der Gotteserweis aus praktischer Vernunft“, 163f. 346 Zu diesem Thema vgl. auch im Exkurs über den epistemischen Stellenwert der Postulate, Nr. 1 und 2, S. 293–295, sowie den Exkurs „Postulate der reinen praktischen Vernunft oder analoge Erkenntnis?“, S. 314. 347 In der Dialektik der KpV findet sich keine ausdrückliche entsprechende Begriffsdefinition von Glaube, wohl aber der Sache nach. Denn Kant schließt hier ein Wissen aus, weil es sich, vor allem im Falle Gottes, um transzendente Realitäten handelt; zugleich aber besteht er darauf, daß das in Frage stehende Fürwahrhalten auf „einem objektiven Bestimmungsgrund des Willens, nämlich dem moralischen Gesetze“ beruht (A 259 Fn), das freilich dem Menschen keine Einsicht in ein transzendentes Wesen gewährt (deshalb ist das so gegründete Fürwahrhalten objektiv un-
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spricht, will er sagen, daß unsere Aussage: „Es ist ein Gott“ (Religion B IX Fn) eine fundierte ist, zugleich aber, daß wir durch sie keine Erkenntnis dessen erlangen, wovon die Aussage redet. Kurzum, der Kantische Vernunftglaube besagt ein Doppeltes: in seinem subjektiven Aspekt (Glaube) ein Nicht-Wissen, in seinem objektiven Aspekt (Postulat) die begründete Behauptung der Realität des Nicht-Gewußten! (vgl. A 827). Eine solche Position ist auf der Grundlage der KrV durchaus verständlich; denn für sie ist der eigentlich kognitive Akt die Anschauung und nur sie (KrV A 19), wobei für uns Menschen erschwerend hinzukommt, daß die einzige Anschauung, mit der wir ausgestattet sind, eine sinnliche ist. Die Frage: Wissen oder Glaube? weist also auf die prinzipielle erkenntnistheoretische Frage zurück: Was ist die menschliche Erkenntnis überhaupt? Oder, was auf dasselbe hinausläuft: In welchem Akt erschließt sich uns ein Objekt als Sein? In einer Anschauung, d. h. in einem Akt, der in sich das verwirklicht, was wir exemplarisch im Akt des Sehens (oder allgemeiner in einem Akt sinnlicher Erkenntnis) erfahren, oder aber im Akt des Urteils, d. h. in jener Bejahung aus einem inneren rationalen „Zwang“, mit der wir einen gedachten Inhalt unbedingt mit „ja“, „ist“ setzen – also im abschließenden Moment des Vollzugs jener unbegrenzten, intelligenten und rationalen Dynamik, die unserem ganzen Erkenntnisprozeß zugrunde liegt und ihn trägt? Für denjenigen, der die zweite Alternative und deshalb ein Wissen um das Dasein Gottes vertritt, verliert der Terminus „Glaube“ jedoch keineswegs seine Angemessenheit als Bezeichnung dieser Erkenntnis. Und dies aus zwei Gründen: Erstens, weil die These, der zufolge das rationale Urteil als Kriterium für die Erkenntnis sowohl der weltlichen Dinge als auch der transzendenten Realität gilt, in keiner Weise den wesentlichen qualitativen Unterschied zwischen etwa der Aussage „Es gibt den Wendelstein“ und „Es gibt Gott“ verwischt. Beide werden erst im Urteil erkannt, aber nur der oberbayerische Berg liegt innerhalb der unserer Erkenntnisart proportionierten Wirklichkeit. Derart ist die Erkenntnis, die bei einer (äußeren oder inneren) Erfahrung anfängt und über die darauffolgende Phase des Verstehens der Daten zur Setzung des Urteils gelangt. Gott dagegen liegt außerhalb der uns eigentümlichen Erkenntnisart (aber nicht außerhalb der Tragweite unseres Erkenntnisstrebens!). Deswegen ist unsere Erkenntnis Gottes sowohl im Begriff, den wir von ihm bilden, wie auch im Urteil, in dem wir das im Begriff gedachte Wesen absolut setzen,348 nur auf dem Umweg über die Welt möglich. Eigens zu bemerken ist, daß mit dem Umweg über die Welt, um zur Erkenntnis Gottes zu gelangen, auch, ja vor allem der Rückgriff auf den Menschen in seiner Erkenntnisfähigkeit und in seiner Moralität gemeint ist, worauf Kant mit Nachdruck hinweist, wenn er vom Begriff Gottes als einem moralischen Begriff spricht (A 249–252). Eine solche Erkenntnis nennt man analoge Erkenntnis. Der Terminus „Glaube“ als Bezeichnung unserer Erkenntnis Gottes weist auf diese Eigenart des Urteils über Gott hin, zureichend), ihn aber berechtigt, dessen Realität anzunehmen (deshalb ist das Fürwahrhalten subjektiv zureichend). 348 Wenngleich im Rahmen einer anderen Erkenntnistheorie bezieht sich auch Kant auf diesen Übergang vom Begriff zum Urteil, wenn er vom „problematisch“ Gedachten und vom „assertorisch“ Erklärten, d.h. Behaupteten, als von zwei verschiedenen Momenten spricht (A 242f.).
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ohne dadurch den rationalen, stichhaltigen Charakter zu bestreiten, und ohne damit sagen zu wollen, daß dieses Fürwahrhalten objektiv unzureichend sei. Es gibt einen zweiten Grund, warum unser Wissen um Gott angemessen auch Glauben genannt werden kann, nämlich die existentielle und damit affektiv-volitive Dimension dieser Erkenntnis. Denn es gilt, daß der Erkenntnisprozeß nicht ohne verantwortliches Engagement des Subjektes stattfindet: Nicht ohne seine Aufmerksamkeit auf die Daten, seine Bemühung, die Daten zu verstehen, seine Unparteilichkeit im Urteilen. Dieses Forderung an unsere Erkenntnistätigkeit überhaupt, diese Moralität des Erkennens, stellt sich a fortiori im Falle der Erkenntnis des absolut transzendenten Wesens. Gott ist nicht eine neutrale Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit, die den höchsten und allumfassenden Wert darstellt. Die Existenz Gottes anerkennen, bedeutet nicht bloß einen Gegenstand mehr im Zeughaus, wo unsere sonstigen Erkenntnisse gelagert liegen, sondern eine positive Einstellung zur Wirklichkeit insgesamt und zum eigenen freien und verantwortlichen Lebenswandel insbesondere, nämlich daß die Welt und unser eigenes Leben sinnvoll und gut sind. Wenn die Erkenntnis Gottes solcherart ist, so gilt in erster Linie von ihr, daß unsere moralische Einstellung und unsere freie Entscheidung zugunsten der Wahrheit ein inneres Moment der Erkenntnis der Wahrheit selbst ausmacht.349 Der Terminus „Glaube“ weist auf die besondere Relevanz des existentiellen Moments in dieser Erkenntnis hin. Zum selben existentiellen Moment gehört auch die personale Dimension des Glaubens. Denn mit der Anerkennung Gottes hängt die Antwort auf die menschliche Frage nach dem Sinn und dem endgültigen Los des je eigenen Lebens zusammen. Diese Antwort verweist auf das personale transzendente Wesen, von dem wir durch die Analogie nur rätselhafte Umrisse wie in einem Spiegel wahrnehmen können (vgl. 1 Kor 13, 12). Demnach kann die Zustimmung zu dieser durch unsere Rationalität erreichten Antwort sachgemäß Glauben/Vertrauen genannt werden, insofern dieser Terminus (freilich nicht in seinem abgeschwächten Sinngehalt von Meinen, Vermuten) die personale Beziehung zu einer Person in ihrer Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit einschließt. Das Gesagte über das existentielle Moment in unserer Gotteserkenntnis expliziert ein Körnchen Wahrheit, das in der Postulatenlehre Kants enthalten ist. Unsere „Erkenntnis“ Gottes stellt nach Kant eine Forderung der praktischen Vernunft dar. Diese Forderung unserer Freiheit steht aber nicht im Gegensatz zu einer Argumentation gemäß den Normen unserer Intelligenz und unserer Vernunft; sie ist keine Alternative und kein Ersatz dafür; sie ermöglicht sie vielmehr. Denn derjenige, der erkennt, ist keine „reine“ Vernunft, sondern ein konkreter Mensch, dessen intelligente und rationale Intentionalität zugleich eine willensmäßige und damit moralische ist, der außerdem mit Neigungen, Gefühlen und Affekten ausgestattet ist, die seine Suche nach Wahrheit begünstigen 349 Damit aber soll nicht behauptet werden, daß die gelebte Moralität allein erklärt, warum einer zur Erkenntnis Gottes gelangt und ein anderer nicht. Es gibt auch andere Gründe, die dies erklären könnten. Von besonderer Bedeutung in dieser Hinsicht ist das geistesgeschichtliche Milieu, in dem jemandem sein Wissen und seine Mentalität vermittelt worden sind. Diese in der Theologie intensiv diskutierte Frage kann hier nicht weiter erörtert werden.
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oder aber beeinträchtigen können. Wenn es überhaupt gilt, daß „echte Objektivität die Leistung authentischer Subjektivität ist“350, so gilt dies insbesondere für eine objektiv gültige Erkenntnis Gottes. Wenn solcherart die Entstehung und der Inhalt unseres Wissens um Gott ist, so sieht man ein, daß ein solches Wissen „das Verhalten der Menschen … [keineswegs] in einen bloßen Mechanismus verwandeln“ würde (A 265).351 Vielmehr muß man sagen, daß der Vernunftglaube „selbst aus der moralischen Gesinnung“ entspringt (A 263; vgl. auch oben im Kommentar zu A 262 f. die bereits zitierte Fußnote von KrV A 830). In der ebenfalls angeführten R 5495 (XVIII 198 f.) hat Kant den Zusammenhang zwischen der Moralität des Subjektes und seiner Fähigkeit bzw. Unfähigkeit, die Stichhaltigkeit der Argumente zugunsten der Existenz Gottes zu erfassen, wie folgt ausgedrückt: „Uns ist nur so viel Licht gegeben, als mit der Ursprünglichkeit der sittlichen Bewegungsgründe und ihrer treibenden Gewalt zusammen bestehen kann. Wenn wir in Ansehung deren gleichgültig wären, so würden die Beweisgründe (logische) uns nicht allein überzeugen“. Deshalb kann er unmittelbar danach eine solche Erkenntnis als frei bezeichnen: „Der freie Glaube an Gott ist Verdienst“.
B. Lonergan, Methode der Theologie, Leipzig 1991, 169, 295, 338. Eine analoge Erkenntnis, die nur eine unendlich entfernte, durch die Intelligibilität der Welt vermittelte Einsicht ins Wesen Gottes erreichen kann, gilt beileibe nicht soviel wie dasjenige, „wovon wir uns durch den Augenschein versichern“ (A 265); die „schwachen Blicke“ (A 266), von denen Kant spricht, passen zu einer analogen Erkenntnis Gottes. 350
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Der Kritik der praktischen Vernunft zweiter Teil: Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft (A 267–288) Gemäß dem Muster der KrV (A 15 f.) folgt auch in der KpV der „Elementarlehre“ eine „Methodenlehre“. Diese Grundeinteilung entspricht der damals gebräuchlichen Zweiteilung der Logik. Auch die Logik Kants ist in einen dogmatischen Teil (Elementarlehre) und einen praktischen oder technischen Teil (Methodenlehre) gegliedert, wobei der zweite Teil sich mit „der Anordnung und den logischen Kunstausdrücken und Unterschieden, um dem Verstand dadurch sein Handeln zu erleichtern“ beschäftigt (IX 18; vgl. auch die Definitionen in den §§ 94–96). Zu Beginn der Methodenlehre der KrV findet sich eine Anspielung auf diesen Ursprung der transzendentalen Methodenlehre: „Wir werden … in transzendentaler Absicht leisten, was, unter dem Namen einer praktischen Logik, in Ansehung des Gebrauches des Verstandes überhaupt in den Schulen gesucht, aber schlecht geleistet wird“ (A 708). In der Tat knüpft Kant hier an den Aufbau der herkömmlichen Logik an, in der zumindest seit der Logik von Port-Royal der scholastischen Dreiteilung (gemäß den „tres operationes mentis“) eine Methodenlehre hinzugefügt wurde.352 Was nun die KrV betrifft, kann eine gewisse Entsprechung zwischen Bezeichnung und tatsächlichem Inhalt des ersten Teils des Werkes nicht geleugnet werden. In der „Elementarlehre“ wird ja das „Bauzeug überschlagen“, d. h. die Materialien, mit denen das „Gebäude“ unserer Erkenntnis errichtet werden kann (A 707). Dasselbe kann kaum von der „Methodenlehre“ gesagt werden, die sich, nach Kants Aussage, „auf die Methode der Erkenntnis aus reiner Vernunft richte“ (A 712), und zwar durch „die Bestimmung der formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft“ (A 707 f.). Was Kant tatsächlich in der Methodenlehre der ersten Kritik getan hat, ist die Behandlung einiger Themen, die ihm am Herzen lagen, die aber nicht zu den Prinzipien a priori gehören, die in den „zwei Stämmen der menschlichen Erkenntnis“ (A 15) enthalten sind, also die Behandlung bestimmter Parerga. Anderes ist von der Grundzweiteilung der KpV zu sagen. Hier ermittelt die Elementarlehre de facto das einzige „Bauzeug“ der Kantischen Ethik, das moralische Gesetz als ein rein formales Gesetz, an welches sich die untergeordneten Begriffe des Gegenstandes der praktischen Vernunft, der Achtung fürs Gesetz und der Triebfedern anschließen. Dagegen findet sich zwischen der Bezeichnung des zweiten Teils des Werkes und seinem Inhalt eine größere Entsprechung. Im ersten Absatz dieses Teils will Kant die Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft nicht als die Art verstanden wissen, „mit reinen praktischen Grundsätzen in Absicht auf eine wissenschaftliche ErVgl. die Einführung von H.W. Arndt in die Deutsche Logik Wolffs, Gesammelte Werke, 1. Abtlg., Bd. 1, Hildesheim 1965, 37. 352
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kenntnis derselben zu verfahren“, sondern als „die Art, wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüt“ verschafft (A 269).353 Tatsächlich weist der letzte Teil des Werkes einen weitgehend populären Charakter auf, so daß die Lektüre keine besondere Schwierigkeit bereitet (allerdings werden gegen Ende des Stückes subtilere Fragen angesprochen, bzw. in subtilerer Art und Weise behandelt). Uns liegt hier eine Art Moralpädagogik vor, die die Tendenz fortführt, die sich schon im Analytik-Teil der KpV immer wieder bemerkbar gemacht hat, daß nämlich Kant nicht so sehr eine völlig kohärente Theorie des Sittlichen vorlegt, sondern viel mehr eine Gewissensbildung betreibt.354 Es ist deshalb zu erwarten, daß die Methodenlehre sich vor allem an den rigoristischen Teil des dritten Hauptstücks der Analytik anschließt. A 269: Abs. 1–3. Im Hinblick auf das in der Methodenlehre zu behandelnde Problem, daß das objektiv praktische Gesetz tatsächlich auch subjektiv als solches wirken soll, stellt Kant die Frage, ob die bloße Vorstellung des Gesetzes in seiner Reinheit imstande ist, uns zur Befolgung zu bewegen, oder aber ob nicht vielmehr Lockungen und Drohungen stärker wirken würden. Im letzteren Fall läge lediglich Legalität vor, und damit würden wir uns in unseren eigenen Augen als Nichtswürdige vorkommen; zugleich aber könnten wir uns für diese innere Kränkung dadurch entschädigen, daß wir den Vergnügen nachgehen, die mit einer bloß äußerlichen Einhaltung des Gesetzes zu vereinbaren wären. Kant räumt ein, daß Anlockungen durch Vorteile und Androhungen von Nachteilen sinnvoll zwar bei ungebildeten und verwilderten Gemütern als Vorbereitung eingesetzt werden können; sobald aber „dieses Gängelband nur einige Wirkung getan hat“, muß man das rein moralische Motiv wirken lassen. Denn es allein „gründet einen Charakter (praktische konsequente Denkungsart nach unveränderlichen Maximen)“. Mehr noch, es „lehrt den Menschen, seine eigene Würde fühlen“ und verleiht ihm die Kraft, „sich von aller sinnlichen Anhänglichkeit“ loszureißen, so daß er „eines reinen moralischen Interesses“ fähig wird. Gegen diese Methode könne man nicht einwenden, sie bringe zwar sittliche Gefühle, aber keine sittliche Besserung hervor; denn, kontert Kant, „diese Methode wurde noch niemals“ angewandt. Kant will deshalb Beweise zugunsten ihrer Wirksamkeit vorlegen, „und danach die Methode der Gründung und Kultur echter moralischer Gesinnungen“ kurz skizzieren. Kant möchte an dieser Stelle die Rücksicht auf den „eigenen Vorteil“ (und, wie der Tenor der Stelle nahelegt, die Rücksicht auf die eigenen sinnlichen oder geistigen Neigungen), wenn auch mit Vorbehalt, als „vorbereitende Anleitung“ zur wahren Moralität gelten lassen. Eine solche merkwürdige Pädagogik (sie bedeutet, genau genommen, die Zulassung des sittlich Bösen als Weg zu einer „moralischen Gesinnung“) ist 353 Vgl. in der Logik § 94 den Unterschied zwischen „Methode“ und „Manier“, der auch an unserer Stelle der KpV erwähnt wird, aber in einem etwas anderen Sinn. 354 Vgl. das beredte Zeugnis von Jachmann, einem Schüler des Philosophen, das zu Beginn des Abschnittes über die „Wirkungsgeschichte der Ethik Kants“, S. 352, zitiert wird.
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im Zusammenhang mit dem umfassenden Problem zu verstehen, das auf der Ethik Kants lastet, nämlich ihr Formalismus und des näheren ihr „psychologischer Hedonismus“. Beide haben ihre prinzipielle Formulierung im Lehrsatz II (A 40). Nun kann die Lösung der Spannung zwischen dem Ausschluß des Objektes als (unsittlicher!) Motivation des Wollens und der Unverzichtbarkeit desselben Objektes für das Wollen überhaupt (A 60) nicht die zeitlich begrenzte Duldung unsittlicher Triebfedern bei bestimmten Menschen sein. Die Lösung verlangt vielmehr a) eine Handlungstheorie, die die primäre Rolle des Objektes für die Moralität des Wollens anerkennt, b) näherhin – im Hinblick auf die von Kant angesprochene Frage nach „der Gründung und Kultur echter moralischer Gesinnungen“ – die Ermittlung der Rolle, die die sinnlichen und geistigen Strebungen und Neigungen für eine ganzmenschliche moralische Praxis haben können und sollen. Man bringt einen Menschen nicht dadurch „ins Geleis des Moralisch-Guten“, daß man ihn das Angenehme erfahren läßt, das die Verfolgung der eigenen (egoistischen) Interessen mit sich bringt, sondern dadurch, daß man ihm beibringt, daß das sittlich Gute das für ihn in Wahrheit Gute ist und zugleich in keiner Weise die berechtigten Interessen der Mitmenschen beeinträchtigt. Die leib-geistige Wesenseinheit des Menschen mit ihren zwei ganz verschiedenen und doch komplementären Bestandteilen verlangt nicht eine provisorische Berücksichtigung des Leibes bzw. der spontanen Strebungen, um sie schließlich zu umgehen. Der Weg zur Moralität besteht vielmehr in einer beständigen Integration all dieser Strebungen in das vernunftgeleitete Streben des Willens nach dem sittlich Guten. Zu dieser Problematik verweise ich auf den Exkurs über „Pflicht, Neigungen und Liebe im Menschen als moralischem Wesen“, S. 177. A 272: Abs. 4–6. Daß im Menschen eine Empfänglichkeit für die reine sittliche Triebfeder vorhanden ist, ergibt sich aus der Neigung, sittliche Werturteile zu fällen, die jedem Menschen, „auch Leuten von Geschäften oder Frauenzimmern“, innewohnt.355 Bei Gesprächen „in gemischten Gesellschaften“ zeigt sich ein bemerkenswerter Scharfsinn solcher moralischer Beurteilungen selbst bei Menschen, die ansonsten kaum Interesse an subtilen theoretischen Fragen aufweisen. Deswegen fordert Kant die Erzieher der Jugend auf, zusätzlich zum abstrakten moralischen Unterricht Biographien zu verwenden, um ihren Zöglingen Beispiele vorzulegen, an denen sie ihren Scharfsinn in moralischen Urteilen üben können. Denn eine wiederholte Übung im Loben bzw. Tadeln moralischer Verhaltensweisen bildet eine gute Grundlage für den künftigen Lebenswandel der Jugendlichen selbst. In seinem nüchternen Realismus warnt Kant aber die Erzieher davor, auf Beispiele „überverdienstlicher Handlungen“ zu rekurrieren, weil diese eher – wie bei den Romanhelden der Fall ist – „das Gefühl für das überschwenglich Große“ fördern und 355 In der MS spricht Kant mehrmals von einer spontanen Erfassung der Prinzipien der Moralität im Sinne einer „dunkel gedachten Metaphysik, die jedem Menschen in seiner Vernunftanlage beiwohnt“: Tugendlehre, Vorrede, A VI = VI 376; Rechtslehre, Vorrede, A V = VI 206; Einleitung II, A 11 = VI 216.
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dabei „von der Beobachtung der gemeinen … Schuldigkeit freisprechen“356 (vgl. einen ähnlichen Gedanken in A 151 f.). Bei der Erziehung komme es auf „die Herzensunterwerfung unter Pflicht“ an. Was nun die „reine Sittlichkeit sei“, ist sie „in der gemeinen Menschenvernunft“ bekannt „gleichsam als der Unterschied zwischen rechter und linker Hand“. Zum Beweis dafür führt Kant im Verlauf seiner Ausführungen drei Beispiele an.357 Das erste (Abs. 6) ist „die Geschichte eines redlichen Menschen, den man bewegen will, den Verleumdern einer unschuldigen … Person … beizutreten“. Dies exemplifiziert Kant anhand des Schicksals der zweiten Gemahlin Heinrichs VIII. von England, Anna Boleyn, die wegen angeblichen Ehebruchs 1536 hingerichtet wurde. Erzählt man diese Geschichte „einem zehnjährigen Knaben“, so wird man beim jugendlichen Zuhörer feststellen, daß „die Sittlichkeit auf das menschliche Herz desto mehr Kraft [aufweist], je reiner sie dargestellt wird“. Es sind also die von der eigenen Glückseligkeit hergenommenen Triebfedern, die daran hindern, daß das moralische Gesetz Einfluß aufs menschliche Herz ausübt. A 281: Abs. 7–8. Das zuletzt Gesagte weiterführend, besteht Kant mit Nachdruck auf der Methode einer „trockenen und ernsthaften Vorstellung der Pflicht“. Denn eine solche Methode ist „der menschlichen Unvollkommenheit und dem Fortschritt im Guten angemessener“, während großmütige Handlungen zum Muster aufzustellen, Kinder „beizeiten zu Phantasten“ macht und für erfahrenere Menschen von keiner echten moralischen Wirkung ist. Gefühle reizen das Herz, stärken es aber nicht. Deswegen müssen moralische Grundsätze „auf Begriffe errichtet werden“.358 Damit aber 356 A 276. Zu den „Romanschreibern“ vgl. R 7236 (XIX 291 f.). Man denkt unwillkürlich an die sog. „sekundären Tugenden“. Die Sittlichkeit, für die Kant plädiert, beruht auf „Grundsätzen“, nicht auf „Aufwallungen“, heißt es in der Fußnote. Die beiläufige Erwähnung in derselben Fußnote von der „Schuld, die [ein Mensch] sich irgendwodurch in Ansehung des Menschengeschlechts aufgeladen hat (sollte es auch nur die sein, daß man durch die Ungleichheit der Menschen in der bürgerlichen Verfassung Vorteile genießt, um deren willen andere desto mehr entbehren müssen)“ liest man überrascht bei einem Gelehrten, der in der damaligen Klassengesellschaft lebte. Diese Bemerkung steht offenkundig in Zusammenhang mit der autobiographischen Notiz aus den 60er Jahren: „… ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurecht gebracht … ich lerne die Menschen ehren“ (Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, XX 44). 357 Zu den Beispielen sei an die Warnung Kants erinnert: Sie setzen die Beurteilung der Sittlichkeit nach Prinzipien voraus; diese ist also nicht von ihnen zu entlehnen: GMS A 29 = IV 408. 358 E. Cassirer zitiert die unmittelbar danach folgenden Worte Kants: „Auf alle andere Grundlage können nur Anwandlungen zustande kommen, die der Person keinen moralischen Wert, ja nicht einmal eine Zuversicht auf sich selbst verschaffen können“ und fährt dann fort: „Auf den vielberufenen und vielbeklagten ‘Rigorismus’ der Kantischen Ethik fällt erst in diesem Zusammenhange volles Licht. Er ist die Reaktion von Kants durch und durch männlicher Denkweise gegen die Verweichlichung und Verzärtelung, die er rings um sich überall herrschend sah. In diesem Sinne ist er in der Tat von denen verstanden worden, die den Wert und die Kraft des Kantischen Befreiungswerkes an sich selbst erfahren haben“. Er zitiert dafür Schiller, Wilhelm
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diese Begriffe subjektiv praktisch werden, genügt es nicht, sie „in Beziehung auf die Menschheit hochzuschätzen“. Sie müssen vielmehr in Relation zu den einzelnen Menschen betrachtet werden. Nur so nötigt das moralische Gesetz den einzelnen, das ihm gewohnte Element „oft nicht ohne Selbstverleugnung zu verlassen und sich in ein höheres zu begeben“, nämlich das der Pflicht, worin er sich nur mit Mühe halten kann. „Mit einem Worte, das moralische Gesetz verlangt Befolgung aus Pflicht, nicht aus Vorliebe, die man gar nicht voraussetzen kann und soll“. A 282: Abs. 9–10. Um zu ermitteln, ob in der Vorstellung einer großmütigen Handlung mehr subjektiv bewegende Kraft liege als in der Vorstellung einer Handlung bloß als Pflicht, betrachtet Kant zunächst Handlungen der ersteren Art: Den Versuch, andere auf Kosten des eigenen Lebens zu retten, oder unbefohlen sein eigenes Leben für das Vaterland zu opfern. Bei aller Hochschätzung haben diese Beispiele nicht die ganze Kraft eines Musters und Antriebes zur Nachahmung, weil man doch damit gegen eine Pflicht gegen sich selbst (die Pflicht zur Erhaltung des eigenen Lebens) verstößt. Handelt es sich aber um eine „unerläßliche Pflicht, deren Übertretung das moralische Gesetz an sich und ohne Rücksicht auf Menschenwohl verletzt und dessen Heiligkeit mit Füßen tritt“, so bringen wir der Befolgung dieses Gesetzes auch unter größter Aufopferung die allervollkommenste Hochachtung entgegen und finden unsere Seele durch ein solches Beispiel gestärkt, da wir sehen, zu welcher Erhebung die menschliche Natur fähig ist. Als Fall von Befolgung einer Pflicht als Pflicht, nämlich die Ablehnung eines unter Todesandrohung verlangten Meineids, zitiert Kant einige Verse aus der achten Satire Juvenals. Man soll, folgert er, „der Heiligkeit der Pflicht allein alles nachsetzen und sich bewußt werden, daß man es könne, weil unsere eigene Vernunft dieses als ihr Gebot anerkennt und sagt, daß man es tun solle [vgl. A 54; 259 Fn], das heißt sich gleichsam über die Sinnenwelt selbst gänzlich erheben“. Wenn auch das Bewußtsein, daß das Gesetz die Sinnlichkeit zu beherrschen vermag, nicht immer mit diesem Effekt verbunden ist, so geben doch die anfangs kleineren, aber wiederholten Versuche Hoffnung, in uns das größte moralische Interesse daran nach und nach hervorzubringen. A 284: Abs. 11. Der letzte Teil der Überlegungen zu jener moralischen Bildung, die dem Gesetz ermöglichen soll, Einfluß auf unsere Handlungsmaximen zu üben, geht über die bisherige eher äußerliche Beschreibung hinaus und leitet zu einer subtilen Analyse dessen über, was das tatsächliche Wirken des Gesetzes in uns zunächst auf der Ebene der Erkenntnis und dann auf der Ebene des Willens voraussetzt bzw. bewirkt. Kant unterscheidet zwei Momente in der Methode, wie man dem Gesetz der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüt verschaffen kann. Erstens: Man soll sich angewöhnen, die eigenen sowie die fremden Handlungen vom von Humboldt, Goethe und Hölderlin. Ob dieses unbestreitbare Verdienst der Ethik Kants auf ihren „formalistischen Charakter“ zurückzuführen sei, wie Cassirer behauptet, ist eine andere Frage (Kants Leben und Lehre, 287f.).
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Standpunkt der Moralität aus zu beobachten und zu beurteilen. Dabei ist zu beachten, welche Art von Gesetz und damit welche Pflicht in Frage kommt. Namentlich unterscheidet Kant die Gesetze, die bloß einen Grund zur Verpflichtung enthalten, von denen, die jemanden tatsächlich verpflichten. Als zweites Moment nennt Kant die schon zu Beginn der GMS (A 9 = IV 397f.) eingeführte und dann immer wieder erwähnte (KpV A 127, 144 usw.) Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität einer Handlung, hier als Unterscheidung zwischen „sittlicher Richtigkeit als Tat“ und „sittlichem Wert als Gesinnung“ bezeichnet. Die hier empfohlene Übung der über das Praktische urteilenden Vernunft bringt ein gewisses Interesse am Gesetz der Vernunft selbst und damit an sittlich guten Handlungen hervor. Denn wir gewinnen das lieb, dessen Betrachtung den Gebrauch unserer Erkenntniskräfte erweitert. Nun aber findet eine solche Erweiterung vornehmlich dann statt, wenn wir uns mit der moralischen Richtigkeit beschäftigen, weil die Vernunft in diesem Falle sich in ihrem eigenen Bereich befindet, indem sie a priori nach Prinzipien (d. h. nach ihrem eigenen Gesetz) bestimmt, was geschehen soll, um zu ermitteln, ob die Tat pflichtmäßig ist. A 285: Abs. 12–13. Die im vorigen Absatz angepriesene Beschäftigung mit unserer Urteilskraft läßt uns unsere eigenen Erkenntniskräfte fühlen. Infolgedessen unterhalten wir uns gerne mit moralischen Beurteilungen. Das so entstehende Wohlgefallen wird hier von Kant mit dem ästhetischen Wohlgefallen verglichen. Denn wie man das schön nennt, was in uns ein interesseloses Wohlgefallen hervorruft (KU § 2), so können wir auch die Tugend oder die Denkungsart nach moralischen Gesetzen schön nennen und damit ihr gleichsam die Form der Schönheit verleihen. Kant präzisiert und führt die Parallele weiter, indem er auf eine doppelte Gemeinsamkeit zwischen der Beschäftigung mit moralischen Beurteilungen und der Erfahrung des Schönen hinweist. 1) In beiden Fällen bewirkt die Betrachtung des sittlich Richtigen bzw. eines schönen Gegenstandes im Subjekt ein Bewußtsein der Harmonie seiner Vorstellungskräfte. 2) In beiden Fällen richtet sich das dadurch hervorgerufene Wohlgefallen nicht auf die Existenz des Gegenstandes. Der Gegenstand wird nur als das angesehen, was uns veranlaßt hat, uns der in uns vorliegenden Talente bewußt zu werden, derentwegen wir über die bloße Tierheit erhaben sind. Die hier hergestellte Verbindung von Moralität und Ästhetik erinnert an die Position, die Kant in der 1763 verfaßten Schrift „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ bezogen hatte. Die Lehre vom moralischen Gefühl, die er in der früheren Preisschrift „Über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral“ vertreten hatte, wurde in den „Beobachtungen“ als Gefühl von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur interpretiert (vgl. „Der Werdegang der Ethik Kants“, Nr. 7, S. 35). Außerdem nimmt die an unserer Stelle knappe Erläuterung des Wohlgefallens an der „Beschäftigung der Urteilskraft“ die Theorie des Geschmacksurteils vorweg, die Kant zwei Jahre später in seiner „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ entwickelt hat. In ihr faßt Kant das Geschmacksurteil in seinem ersten Moment – dem Moment der
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Qualität – als ein Urteil über einen Gegenstand aus einem interesselosen Wohlgefallen auf. Nach dem dritten Moment in der Analyse dieses Urteils – dem Moment der Relation – ruft ein Gegenstand deshalb ein Wohlgefallen hervor, weil wir in ihm eine Form der Zweckmäßigkeit ohne die Vorstellung eines Zwecks wahrnehmen. Diese Form besteht in einer allumfassenden Ordnung, die wir ohne Begriff im Gegenstand entdecken, wobei diese Entdeckung in uns Einbildungskraft (als Inbegriff der Sinnlichkeit) und Verstand in jene harmonische Beziehung („freies Spiel“) versetzt, die sie haben, wenn sie „eine gegebene Vorstellung auf Erkenntnis überhaupt beziehen“ (KU § 9: B 28). Zum bisher geschilderten ersten Moment der Methode, das eingegangen ist auf die Erkenntnistätigkeit in Sachen der Moral durch Erörterung der im Subjekt kämpfenden Triebfedern bis das moralische Gesetz die Oberhand gewonnen hat, tritt ein zweites Moment hinzu: Die Beispiele lenken die Aufmerksamkeit auf die Reinheit des Willens. Diese erscheint zunächst als negative Vollkommenheit, nämlich als Entsagung an sämtliche Neigungen als Bestimmungsgründe der Handlung. Dies verursacht zwar anfänglich Schmerz; insofern es aber von der mit dem Zwang zu allerlei Bedürfnissen zusammenhängenden Unzufriedenheit befreit, macht ein solcher Verzicht das Gemüt für eine Zufriedenheit aus anderen Quellen empfänglich. Damit wird dem Menschen ein ihm innewohnendes Vermögen, nämlich seine innere Freiheit, aufgedeckt. Die negative Vollkommenheit als Befreiung „von der ungestümen Zudringlichkeit der Neigungen“ erweist sich somit als ein positiver Wert: die Möglichkeit, sich selbst genug zu sein.359 Die Achtung für uns selbst als moralische Wesen ist in der Tat „die Achtung für uns selbst im Bewußtsein unserer Freiheit“. Diese gewonnene Achtung für sich selbst erleichtert die Befolgung des moralischen Gesetzes als Quelle des eigenen Wertes. Und weil der Mensch nichts stärker scheut, als sich selbst „geringschätzig und verwerflich zu finden“, so ist die Achtung für sich selbst der beste Wächter, um das Eindringen verderbter Antriebe vom Gemüt abzuhalten. Aus den obigen, sehr persönlich gehaltenen Ausführungen geht besonders deutlich hervor, daß Kant die Freiheit nicht so sehr für den Modus hält, wie wir das Gute tun können und sollen, sondern vielmehr für das Ziel der Moralität selbst bzw. den höchsten Wert, der die Würde des Menschen ausmacht. Diese Sichtweise hängt offensichtlich mit Kants Auffassung von der Autonomie des Menschen zusammen, die er als eine absolute versteht. Daraus erklärt sich auch, warum Kant an einer Stelle der GMS die Moralität nicht durch die Beziehung unseres Wollens und Tuns zum Guten, sondern zum Wollen selbst als autonom definiert: „Moralität ist das Verhältnis zur Autonomie des Willens“ (A 85 = IV 439). Kants Ethik ist letztlich eine Ethik der Autonomie des Willens, in der der Vernunft die Aufgabe zukommt, diese Freiheit und Autonomie des 359 In der ausführlichen Fußnote zu A 229, in der Kant die verschiedenen Systeme der Moral untereinander vergleicht, hat er den Weisen der Stoiker zwar gerade deswegen getadelt, weil dieser meine, sich selbst „genug“ zu sein. Allerdings war die dort kritisierte Selbstgenügsamkeit in einem etwas anderen Sinn zu verstehen als hier.
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Willens zu wahren.360 Die Grundfrage seiner Ethik ist nicht die Frage nach dem Guten, auf die zunächst die Vernunft zu antworten hat, damit der Wille es in Freiheit und Verantwortung tue; es ist vielmehr die Frage nach der Freiheit als Autonomie des Willens und damit nach den Bedingungen, die eine solche Freiheit ermöglichen (vgl. den Exkurs über den Autonomie-Gedanken in der Ethik Kants, S. 111).
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Vgl. M. Rhonheimer, Die Perspektive der Moral 230.
Beschluß (A 288–291) „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Es ist dies das vielleicht berühmteste Wort Kants, dessen letzter Teil auf einer grauen Marmortafel gegenüber der Grabstätte des Philosophen in Goldbuchstaben eingemeißelt wurde.361 Der ansonsten trockene und spröde Stil Kants weist in den angeführten Worten und überhaupt im ganzen Beschluß eine Ergriffenheit auf, die sich nur dadurch erklären läßt, daß hinter den vorliegenden Aussagen über das Unendliche der sichtbaren Welt um uns und der sittlichen Welt in uns ein persönliches Erhabenheitserlebnis stand. Dasselbe Erlebnis, wohl in der Stille und Ausdauer einer lebenslangen philosophischen Reflexion verarbeitet, bildete den Hintergrund und die Quelle seines Denkens als Lehrer und Schriftsteller. In diesem Zusammenhang wurde zu Recht auf das Elternhaus hingewiesen als den Ort, wo der heranwachsende Kant die Grundzüge seines Charakters und seines Denkens entwickelte. Der Diakonus Wasianski, einer der ersten Biographen des Philosophen, berichtet, daß „nach Kants Urteil seine Mutter eine Frau von großem natürlichen Verstande …, einem edlen Herzen und einer echten, durchaus nicht schwärmerischen Religiosität war“. Sie ging mit dem Knaben „oft ins Freie, sie machte ihn auf die Gegenstände in der Natur und manche Erscheinungen in derselben aufmerksam … und sagte ihm sogar vom Bau des Himmels so viel, als sie selbst wußte“. Auch Kants Bewunderung des moralischen Gesetzes wurzelte im tagtäglichen Umgang mit den Eltern, von denen er später bezeugen konnte, daß „beide Freunde der Wahrheit waren; da aus ihrem Munde keine einzige Lüge ging“362. In einem 1797 verfaßten Brief schrieb der betagte Kant, daß „meine beide Eltern … in Rechtschaffenheit, sittlicher Anständigkeit und Ordnung musterhaft … mir eine Erziehung gegeben haben, die von der moralischen Seite betrachtet gar nicht besser sein konnte“ (XIII 461). Der ergreifende Satz zu Beginn des letzten Abschnittes der KpV gibt zweifelsohne Kants eigene Anschauungen wieder, insofern er zwei Grundthemen seiner Philosophie nennt. Dennoch wurde mehrmals darauf hingewiesen, daß man aus ihm Anklänge auch an ältere Autoren heraushört. Es ist durchaus möglich, daß Kant, der, wie seine ersten Biographen Borowski und Jachmann berichten, die klassische, vor allem lateini361 Die an der Nordseite des Königsberger Doms befindliche sog. Kant-Kapelle bzw. Halle wurde im Laufe der Jahre mehrmals umgestaltet. 362 F. Groß (Hrsg.), Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, Berlin 1912; ND Darmstadt 1968, 251f.
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sche Literatur kannte (insbesondere wird Seneca genannt), bei der Abfassung des einleitenden Satzes von den antiken Autoren inspiriert wurde.363 Mit dem ersten hier genannten Gegenstand von Bewunderung und Ehrfurcht, dem unendlich weiten und wunderbar gebauten Kosmos, hatte sich schon der dreißigjährige Kant in seiner „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ beschäftigt. In ihr hatte er sowohl den systematischen Bau als auch die mechanische Entstehung des Weltalls dargelegt. Daß es sich dabei für Kant nicht bloß um eine rein physikalische Frage handelte, sondern um etwas, das zu seiner existentiellen Weltanschauung gehörte, zeigen zahlreiche Stellen des Werkes, das außerdem eng mit dem damals weitverbreiteten und beliebten physikotheologischen Beweis verbunden war. Eigens zu erwähnen ist der letzte Absatz des Buches, in dem Kant in einer dem vorliegenden Text ähnlichen Stimmung vom „Anblick eines bestirnten Himmels bei einer heiteren Nacht“ spricht und daraus zu unaussprechlichen „unausgewickelten Begriffen“ übergeht, die der „unsterbliche Geist“ des betrachtenden Menschen empfindet. Es geht um jenes Gefühl, das Kant anderswo „Achtung für unsere eigene Bestimmung“ nennt (KU B 97), und das er immer wieder mit dem Glauben an Gott in Verbindung setzt. Der Übergang von der Betrachtung der Natur zur moralischen Anlage des Betrachters selbst stellt ein Charakteristikum des Denkens Kants dar. Bei diesem Übergang nimmt der Glaube an Gott oft eine Mittelstellung ein, insofern die Herrlichkeit des Kosmos auf einen göttlichen Schöpfer hinweist. Aber es ist das moralische Gesetz im Menschen, dem Mikrokosmos, das hinsichtlich des dadurch gewonnenen Begriffes von Gott „das ergänzt, was der Naturerkenntnis abging“ (KU B 418) – so endet die große „Anmerkung“ zum § 86 der KU, die mit der Erwähnung eines Menschen beginnt, der „sich umgeben von einer schönen … Natur befindet“.364 Während der erste Gegenstand des Nachdenkens vom Platz anfängt, den der Mensch in der Sinnenwelt einnimmt, beginnt der zweite, das moralische Gesetz, bei seinem unsichtbaren Selbst, seiner Persönlichkeit, und stellt ihn in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit aufweist und mit der er in einer allgemeinen und notwendigen Verknüpfung steht. Damit meint Kant wahrscheinlich die geistigen Realitäten, mit denen der Mensch als intelligibles Wesen notwendig verknüpft ist (vgl. die Postulatenlehre und die Lehre vom mundus intelligibilis als Reich der Zwecke). Daß der Mensch 363 Ebd. 14, 125, 138. Vgl. dazu H. Vaihinger, in: KS 2 (1899) 491–493, der den Trostbrief Senecas „Ad Helviam Matrem“ (Kap. VIII) anführt. Mehrere Stellen aus der antiken Literatur, an denen die Themen des Kosmos und des moralischen Gesetzes bzw. der Tugend zur Sprache kommen, hat Edmund O. von Lippmann in: KS 34 (1929) 258–261, und 35 (1930) 409 f. zusammengetragen. Zum Sternhimmelmotiv vgl. R. Unger, „Der bestirnte Himmel über mir …“ zur geistesgeschichtlichen Deutung eines Kant-Wortes, in: Festschrift zur zweiten Jahrhundertfeier seines Geburtstages, hrsg. v.d. Albertus-Univ. i. Königsberg/Pr, Leipzig 1924, 241–270. 364 Die Physiko-Theologie gilt Kant als Hinführung zur Ethiko-Theologie. Siehe in der KU die Abfolge der §§ 85 und 86. Heimsoeth bemerkt, daß in diesem Zusammenhang der Ausdruck „schön“ nicht in einem bloß ästhetischen Sinn zu verstehen ist, sondern primär in Richtung auf umgreifende Weltgesetzlichkeiten, durch welche eine große und weite Mannigfaltigkeit auf einfachst-einheitliche Weise durchgeordnet erscheint (Transzendentale Dialektik, 516f.).
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als moralisches Wesen sich dennoch in notwendiger Verknüpfung auch mit der sichtbaren Welt erkennt, entspricht der Lehre Kants, der zufolge die unbedingte Verpflichtung des Gesetzes in dieser raumzeitlichen Welt umzusetzen ist (vgl. A 74 f. und überhaupt den Begriff vom „höchsten Gut in der Welt“. Nach A 155 gehört der Mensch zu beiden Welten). Weiter: Während der erste Anblick uns unsere Unbedeutsamkeit als materielle Geschöpfe bewußt macht, erhebt uns der zweite Anblick über die ganze Sinnenwelt, weil die Zweckbestimmung unseres unter dem moralischen Gesetz stehenden Daseins nicht auf die Grenzen des irdischen Lebens eingeschränkt ist. A 290: Abs. 2. Die Bewunderung und Achtung, die die Betrachtung der physikalischen und der moralischen Welt hervorruft, reizen zwar zum Nachforschen über diese Welten, lassen aber zugleich die Frage aufkommen, wie ein solches Nachforschen anzustellen sei. Denn das, was bisher in diesem Sinne an „Nachforschung“ betrieben wurde, ist durchaus ambivalent: Es kann sich mit der Zeit entweder als nachahmenswert herausstellen oder aber als Abweg, auf dem man nicht weitergehen sollte. In der Tat hat die Weltbetrachtung zunächst im Altertum die Astronomie hervorgebracht, ist aber dann in die Astrologie verfallen. Ähnliches ist der Moral passiert: Von der anfänglichen Aufmerksamkeit auf die edlen moralischen Eigenschaften des Menschen, die auf Entwicklung und Kultur angelegt sind, ist sie in die Schwärmerei oder in den Aberglauben abgeglitten. Daraus ergibt sich, daß beim Gebrauch der Vernunft – der für die Naturforschung wie für das verantwortliche Verhalten des Menschen nötig ist – die bloße Ausübung nicht genügt, zumal dort, wo das Resultat dessen, was man tut, nicht so unmittelbar in seinem Nutzen und Wert erkennbar ist. An den Folgen zeigt sich, daß das, was in letzter Zeit im Bereich der Naturforschung getan wurde, nachahmungswert ist. Hier übernimmt Kant in knapper Andeutung, was er ungefähr zur selben Zeit in der Vorrede zur zweiten Auflage der KrV (die auf den Aprilmonat 1787 datiert war) über den methodischen Weg der Experimentalwissenschaft ausgeführt hatte. Es heißt dort: „Ob die Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäfte gehören, den sicheren Gang einer Wissenschaft gehe oder nicht, das läßt sich bald aus dem Erfolg beurteilen“ (B VII). An unserer Stelle weist Kant auf die Untersuchung der Fallbewegung durch Galilei hin – dies war auch das erste Beispiel wissenschaftlichen Vorgehens in der Vorrede B – und auf die Analyse der Schleuderbahn, die eine entscheidende Rolle bei Keplers Bestimmung der Planetenbewegung gespielt hatte. Die „überdachte Methode“, die nötig ist, um einen fortschreitenden Gang der Naturwissenschaft zu sichern, besteht also Kant zufolge in jener Auflösung und mathematischen Bearbeitung der physikalischen Phänomene in ihre Elemente und Kräfte, die zuletzt (wohl mit Newton) eine klare Einsicht in den Weltbau hervorgebracht habe und Hoffnung auf einen sich immer erweiternden Fortschritt in der Naturforschung gebe. A 291: Abs. 3. In der Vorrede zur KrV hatte Kant den Vorschlag gemacht, die Metaphysik, die sich immer noch im Zustand eines „bloßen Herumtappens“ befindet (B VII), solle das erfolgreiche Verfahren der Mathematik und vor allem der Naturwis-
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senschaft, ihre „Umänderung des Denkart“, soweit die Analogie mit ihnen es gestattet, nachahmen (B XV f.). Ähnliches will er jetzt der Erforschung unserer moralischen Anlage anraten. Man solle die Beispiele moralischer Urteile mit einem der Chemie ähnlichen Verfahren in ihre Elementarbegriffe analysieren, indem man versuche, das Empirische vom Rationalen zu scheiden, um so zu ermitteln, was jedes für sich allein leisten könne. Gemeint ist offenkundig die Scheidung der reinen praktischen Vernunft als Bestimmungsgrund des guten Willens von sämtlichen empirischen, vom Objekt stammenden Bestimmungsgründen, wie es schon zu Beginn der Vorrede und noch deutlicher in der Einleitung der KpV als Leitfaden des Werkes in der Frage zum Ausdruck gekommen ist, ob „reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange, oder ob sie nur als empirisch bedingte ein Bestimmungsgrund desselben sein könne“ (A 30). Auf diese Weise werde man sowohl der Verwirrung einer rohen und ungeübten Beurteilung als auch mehr noch den „Genieschwüngen“ entgehen. Letztere werden hier mit den Alchemisten verglichen, die auf der Suche nach dem Stein der Weisen (lapis philosophorum) geträumte Schätze versprochen, in der Tat aber wahre Schätze verschleudert hätten. Zu der von Kant durchgeführten Analyse drängt sich am Ende dieses Kommentars die Frage auf, ob die von ihm vorgenommene Scheidung nicht doch eine tiefe Kluft zwischen praktischer Vernunft und Sinnlichkeit, zwischen dem rein formalen Gesetz und der konkreten Welt herbeigeführt habe, in der der Mensch als Wesenseinheit von Leib und Geist seine freien Entscheidungen treffen muß. Die Parallele dieser Frage zu dem oben (in der Fußnote zu A 254) erwähnten Problem, mit dem sich Kant infolge seiner Analyse der spekulativen Vernunft konfrontiert sah, nämlich dem Übergang von dem von ihm freigelegten Apriori zur konkreten Welt der Natur, weist auf einen im Denken Kants tiefverwurzelten Dualismus hin. Wie nach der KrV nur „die dornigen Pfade der Kritik“ zur „höchstnotwendigen Wissenschaft der reinen Vernunft führen“ (B XLIII), so kann nach Kant an unserer Stelle nur eine „kritisch gesuchte und methodisch eingeleitete“ Wissenschaft als „enge Pforte“ (Mt 7,13) zur Weisheitslehre führen. Mit diesem Ausdruck meint Kant das, was den Lehrern selbst als Richtschnur dienen soll, damit sie für jedermann kenntlich den Weg zur wahren Moralität bahnen. Denn eine solche Aufgabe verlangt eine subtile Untersuchung, die nicht Sache aller Menschen ist. Das große Publikum soll sich das zu eigen machen, was die Lehrer erst „recht hell“ gemacht haben. Das volkspädagogische Vorhaben der damaligen aufgeklärten Schicht, ihr Bewußtsein eines geistesgeschichtlichen Auftrags, der ihr zugefallen war, kommt hier viel deutlicher zum Vorschein als vier Jahre zuvor im berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“.
Zur Wirkungsgeschichte der Ethik Kants 1. Kants Vorlesungen über Ethik haben auf seine Hörer einen außerordentlichen Eindruck gemacht. Ein Schüler von ihm, der später Direktor eines Erziehungs-Instituts war, R. B. Jachmann, hat uns in seiner Biographie Kants ein lebhaftes Bild des Philosophen als Lehrer und zugleich Erzieher der Studenten, die seine Moralvorlesungen hörten, gezeichnet: „Ach, wie oft rührte er uns bis zu Tränen, wie oft erschütterte er gewaltsam unser Herz, wie oft erhob er unsern Geist und unser Gefühl aus den Fesseln des selbstsüchtigen Eudämonismus zu dem hohen Selbstbewußtsein der reinen Willensfreiheit, zum unbedingten Gehorsam gegen das Vernunftgesetz und zu dem Hochgefühl einer uneigennützigen Pflichterfüllung! … Seine Zuhörer verließen gewiß keine Stunde seiner Sittenlehre, ohne besser geworden zu sein“365. Was vom mündlichen Vortrag Kants gilt, scheint nicht minder von seinen beiden Grundlegungsschriften der 80er Jahre zu gelten: Sie lassen sich in ihrem oft paränetischen Duktus auf weite Strecken vielmehr als eine Gewissensbildung denn als eine kohärent durchdachte Begründung der Moral lesen. Die Reinheit, Strenge und Erhabenheit der Kantischen Lehre von der Ethik erklären zur Genüge die Faszination und die Wirkung, die sie gezeitigt hat. Viele Termini und Redewendungen – wie guter Wille, kategorischer Imperativ, Heiligkeit des moralischen Gesetzes, Achtung fürs Gesetz, der Mensch als Zweck in sich selbst, Autonomie, Würde des Menschen – sind in der allgemeinen Kultur vielfach zu Losungsworten geworden, unabhängig vom schwer durchschaubaren System, in dem sie beheimatet sind, und vor allem unabhängig von der Stichhaltigkeit der nicht leicht nachvollziehbaren Argumentation, die sie begründen soll. Wenn man aber Kants Beweisgänge ohne selektives und harmonisierendes Verfahren auf ihre Geltung und Kohärenz hin überprüft, läßt sich nicht übersehen, daß diese Ethik ihren epochalen Einfluß zu einem beträchtlichen Teil der Faszination verdankt, die die Einseitigkeit kräftig formulierter Halbwahrheiten auszustrahlen pflegt. Die Theorie des kategorischen Imperativs in ihrer, nach Kants Dafürhalten, fundamentalen und schon allein zureichenden Version der Allgemeinheit ist mit einer derartigen Übersimplifizierung behaftet, daß Kant immer wieder die Ansicht äußern kann: „Was Pflicht sei, bietet sich jedermann von selbst dar“, und deshalb ist es „für den gemeinsten Verstand ganz leicht und ohne Bedenken einzusehen“ (A 64). Die Wirkungsgeschichte scheint die Beurteilung zu bestätigen, der zufolge „die Faszination, die die Kantische Ethik seit eh und je auf die philosophische Diskussion ausübt, in einem seltsamen Kontrast zu der Bedeutungslosigkeit steht, die man ihr ebenfalls seit eh und je für das tatsächliche Handeln attestieren kann“366. 365 F. Groß (Hrsg.), I. Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, Berlin 1912. ND Darmstadt 1968, 133f. 366 Oswald Schwemmer, „Die praktische Ohmacht der reinen Vernunft. Bemerkungen zum
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Die dem Meister zeitgenössische Generation des Kantianismus war um eine Erläuterung sowie Verbreitung seiner Philosophie bemüht. Was die Ethik anbelangt, die an sich nicht so erklärungsbedürftig wie die KrV war, überwog eine enthusiastische Bewunderung für Kants reine und strenge, mit religiösem Pathos verbrämte Moral, wie vor allem aus dem Briefwechsel mit dem Meister hervorgeht.367 Von dieser Faszination haben wir ein merkwürdiges Zeugnis aus der frühesten Zeit. Im Jahrgang 1791 der „Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung“ war zu lesen, „daß in einer schwäbischen Reichs-Abtei die Kantische Moralphilosophie zur ersten Bildung der Novizen angewandt wird … Auch ist unseres Gedünkens das Kantische Moral-System vor allen anderen … zur Bildung von Ordensleuten vorzüglich geschickt“368. Denn während „dem Eudämonismus des 17. und 18. Jahrhunderts … vielfach das imperativische Moment, das Sollen fehlte“, insofern jener „sich in ein bloßes Beschreiben der gutartigen Menschennatur verlor“, hat Kant „den pädagogisch wirksamsten Ausdruck für die von ihm angestrebte Aufklärung des sittlichen Bewußtseins über seinen eigenen Inhalt gefunden“369. 2. Hinsichtlich der daran sich anschließenden zweiten Rezeptionswelle der Philosophie Kants gilt für die Ethik Kants, wie überhaupt für die Transzendentalphilosophie, daß der Deutsche Idealismus sie nur rezipierte, indem er sie umformte. Gerade in der Ethik bezog der Deutsche Idealismus weitgehend eine Position gegen Kant.370 Eigens zu erwähnen ist hier Fichte, der den auf halbem Weg stehengebliebenen Transzendentalidealismus Kants in einen restlosen Idealismus überführte, von dem Kant sich in seiner „Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre“ von 1799 auf entschiedenste Weise öffentlich distanzierte (XII 370 f.). Fichtes konsequenter Idealismus ist aus ethisch-anthropologischen Wurzeln erwachsen, nämlich aus der Lehre von der Freiheit, die er bei Kant vorfand. Es war gerade die Lehre vom kategorischen Imperativ, der für den Meister in einer absolut verstandenen Gesetzgebung des Menschen selbst bestanden hatte, die Fichte zur Auffassung eines absoluten, sich selbst setzenden Ich führte. Dementsprechend schreibt Fichte in der „Grundlage der Wissenschaft des Praktischen“ (dem dritten Teil seiner „Wissenschaftslehre“): „Wie hätte Kant jemals auf einen kategorischen Imperativ, als absolutes Postulat der Übereinstimmung mit dem reinen Ich, kommen können, ohne aus der Voraussetzung eines absoluten Seins kategorischen Imperativ Kants“, in: Kants Ethik heute (Neue Hefte der Philosophie, 22), Göttingen 1983, 1. 367 Vgl. z. B. den Brief Reinholds vom 19. I. 1788 (X 524) und den des Theologen Spalding vom 8. II. 1788 (X 528), so wie andere Zeugnisse in der Einleitung K. Vorländers zu seiner Edition der KpV 91963, XX–XXVI. 368 Winfried Heizmann, Kants Kritik spekulativer Theologie und Begriff moralischen Vernunftglaubens im katholischen Denken der späten Aufklärung, Göttingen 1976, 40f. 369 Friedrich Jodl, Geschichte der Ethik, 11882, 41930, Bd. II, 20 f. 370 So urteilt auch Karl Vorländer, der sich für die Edition der Werke Kants in der „Philosophischen Bibliothek“ des Verlags Meiner (1905ff.) große Verdienste erworben hat; vgl. in seiner Einleitung zur KpV, 91929 (ND 1963), XLII.
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des Ich, durch welches alles gesetzt wäre, und, inwiefern es nicht ist, wenigstens sein sollte“371. Ganz allgemein läßt sich über die Wirkungsgeschichte der Ethik Kants ein Doppeltes sagen. Einerseits bildete diese Ethik bei den meisten Autoren, die während der letzten zwei Jahrhunderte über diese Sparte der Philosophie geschrieben haben, zumindest unterschwellig einen obligaten Bezugspunkt, sei es, daß sie die Kantische Grundlegung der Ethik prinzipiell bejahten und auf ihre je eigene Weise weiterführten, sei es, daß sie diese Grundlegung ablehnten. Diese Präsenz Kants erklärt sich auch schon daraus, daß es während dieser Zeit kein Werk eines anderen einflußreichen Philosophen gab, das mit einer vergleichbaren Originalität und Ausführlichkeit das Thema des Menschen als moralischem Wesen behandelt hätte. Andererseits aber ist es, angesichts der Schärfe und nicht selten Einseitigkeit der Grundthesen und zugleich der Spannungen, die die ganze Konzeption durchziehen, verständlich, daß die Rezeption dieser Ethik nur so geschehen konnte, daß man sie umgestaltet hat und vielfach über sie hinausgegangen ist. 3. Erst nach dem Zusammenbruch des Deutschen Idealismus nach der Mitte des 19. Jahrhunderts vermochte das Denken Kants in seiner eigenen Identität (und nicht mehr bloß als Ausgangspunkt anderer Systeme oder als Lieferant bestimmter Grundbegriffe) mit dem Neukantianismus zum Tragen zu kommen. Die führende Strömung des Neukantianismus – die Marburger Schule mit Hermann Cohen, Paul Natorp und Ernst Cassirer – wandte sich vor allem dem erkenntnistheoretischen Strang des Denkens Kants zu und entwickelte ihn im Hinblick auf eine Begründung von Mathematik und Naturwissenschaft. Aber auch die Ethik und die Ästhetik gelangten bald in den Blick der Kant-Forscher. Zu erwähnen ist der sog. werttheoretische Kritizismus der westdeutschen Schule. Dazu äußerte sich 1883 W. Windelband, wohl der wichtigste Repräsentant dieser Spielart des Neukantianismus, im Vorwort seines Sammelbandes „Präludien“. Er wehrte sich gegen eine „Rückkehr“ zu Kant, verstanden als eine „bloße Erneuerung der historisch bedingten Gestalt …, in welcher Kant die Idee der kritischen Philosophie darstellte“. „Vielmehr“, schrieb er weiter, „je tiefer man den Antagonismus erfaßt, der zwischen den verschiedenen Motiven seines Denkens besteht, um so mehr findet man darin die Mittel zur Bearbeitung der Probleme, die er durch seine Problemlösung geschaffen hat. Kant verstehen, heißt über ihn hinausgehen“372. Von Bedeutung hinsichtlich der Rezeption der Ethik war Cohen. In seinem Kommentarband373 arbeitete er in streng transzendentalem Verfahren mit Scharfsinn und eigenwilliger Abstrusität eine Begründung der Ethik aus, die auf eine Theorie des rei371 J. G. Fichte, „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“, in: J. H. Fichte (Hrsg.), Fichte. Sämtliche Werke, Bd. I, 260 Fn. 372 Wilhelm Windelband, Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. I, Tübingen 61919, IV. 373 H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, Berlin 1871, 21910.
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nen Willens hinausläuft. Dies brachte mit sich, daß Cohen das ganze Postulatenkapitel, in erster Linie die Lehre von der Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guts, „bedenklich und anstößig“374 fand. Es handle sich um „Interessen-Annahmen“375, die aus einer reinen Pflichtethik ausscheiden müßten. Von Cohen wie auch von seinem Mitstreiter Paul Natorp ist der Versuch einer ethischen Begründung des Sozialismus zu erwähnen. Cohen sah die Leibnizsche Frage des Optimismus durch das Problem des Sozialismus abgelöst. Denn „der Hiob unseres Zeitalters fragt nicht mehr, ob der Mensch überhaupt mehr Sonnenschein als Regen habe; sondern … ob in der austeilenden Lust-Gerechtigkeit der berechenbare Zusammenhang bestehe, daß ein Mehr an Lust für das eine Mitglied im Reich der Sitten das Minder des Anderen zum logischen Schicksal macht“376. Zu diesem Versuch bot sich als Leitprinzip der kategorische Imperativ in seiner zweiten Formel an. In der Tat hat diese Auffassung des moralischen Gesetzes, Kants Humanitätsprinzip, über alle systeminternen Fragen nach ihrer Ableitbarkeit vom Prinzip der Allgemeinheit hinweg, am meisten in Richtung auf eine rein humanistische Ethik gewirkt, die, allem Anschein nach, das Erbe der europäisch-christlichen Tradition antreten kann, ohne sich auf den christlichen Glauben berufen zu müssen. Im Kontext der Wirkung der Ethik Kants auf die Sozialphilosophie sind auch der Philosophie-Historiker Karl Vorländer und Franz Staudinger zu erwähnen, die sich um eine Synthese zwischen Kant und Marx bemühten. Eine besondere Stellung unter den Austromarxisten nahm Max Adler ein, der sich auf der Grundlage der Kantischen Erkenntnistheorie um eine Entfaltung der ethischen Aspekte des Marxismus bemühte. Auch wenn dem Neukantianismus in der Marburger sowie in der austromarxistischen Version in dieser Hinsicht kein breiter Erfolg beschieden wurde, so hat die sozialistische Bewegung im deutschsprachigen Raum und insbesondere die Sozialdemokratie von der Philosophie Kants doch immer wieder Impulse erhalten. 4. Die um das Kant-Jubiläumsjahr von 1924 begonnene „metaphysische Kantinterpretation“, die den Neukantianismus ablöste, bestand im Unterschied zu diesem auf der geschichtlichen Kontinuität Kants mit seinen Vorgängern und mit der philosophischen Tradition überhaupt. Sie sah deshalb in Kant eine Fortsetzung der herkömmlichen metaphysischen Themen, wenn auch unter der neuen Perspektive des Transzendentalidealismus. Die Vertreter dieser Richtung – Max Wundt, Nicolai Hartmann, Heinz Heimsoeth, Julius Ebbinghaus und etwas später Gottfried Martin – haben sich zwar hauptsächlich mit der theoretischen Philosophie Kants beschäftigt. Aber man erkannte an, daß das neuartige Denken Kants doch Wesentliches der früheren Tradition verdankte; dies machte den Blick frei auch für die Kontinuität mit der praktischen Philosophie der Vergangenheit frei. Andere Gelehrte haben dann diese Kontinuität erEbd. 357. Ebd. 359. 376 Ebd. 368. Einer ähnlichen Reflexion sind wir schon bei Kant in der Fußnote zu A 276 begegnet. 374 375
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forscht: Dieter Henrich und vor allem Joseph Schmucker; schon früher, auf eine eher systematische, aber stark harmonisierende Weise, H. J. Paton mit „The Categorical Imperativ. A Study in Kant’s Moral Philosophy“, 1947 (deutsch 1962). Mit der Ermittlung vielfacher Beziehungen zu „kleineren“ Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts hat Giorgio Tonelli den Hintergrund der Ethik Kants weiter durchleuchtet. Gegenwärtig führt Clemens Schwaiger diesen Strang in der Forschung der Ethik Kants weiter. 5. Bezüglich des gegenwärtigen Interesses an der praktischen Philosophie ist die Ethik der konsensualen Normenbegründung (oft als „Diskursethik“ bezeichnet) zu nennen, weil sie sich als eine Umbildung und Weiterführung der Ethik Kants versteht. Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel haben diese Perspektive eröffnet. Als Ansatz dient – vor allem bei Apel – eine fruchtbare Begegnung von Hermeneutik und Sprachphilosophie einerseits und transzendentaler Argumentation andererseits. Deswegen nennt Apel seinen Entwurf eine transzendentalpragmatisch begründete Ethik.377 Der reflexive Rückgang auf die Voraussetzungen der Argumentation, die eine verantwortbare Entscheidung verlangt, führe zur Thematisierung des Prinzips, das wir im Argumentieren selbst immer schon anerkannt haben, daß wir nämlich verpflichtet sind, uns um einen vernünftigen Konsens in praktischen Fragen zu bemühen. Deshalb sei eine vernünftige Antwort auf die Frage: „Was soll ich tun?“ schon ihrem Anspruch nach eine solche, der jedermann zustimmen könne. Diese Grundnorm sei nun imstande, durch ein zweistufiges Normenbegründungsverfahren inhaltlich bestimmte Normen zu begründen. Unmittelbar ließen sich aus ihr die normativen Bedingungen des idealen Konsensbildungsverfahrens (also der idealen Argumentationsgemeinschaft aller Betroffenen) ableiten; mittelbar, durch den tatsächlichen praktischen Diskurs, ergäben sich aus der Grundnorm die situationsbezogenen Einzelnormen. Auf diese Weise überwinde die kommunikative Ethik den methodischen Solipsismus des kategorischen Imperativs Kants, in dem, zwar unter Berücksichtigung und gleichsam im Namen aller, doch der einzelne allein die Norm aufstellt. Woher aber nimmt die Argumentationsgemeinschaft den Maßstab, anhand dessen ihr herrschaftsfreier Diskurs die Handlungsnorm herbeiführen kann? Apel lehnt die diesbezügliche Antwort der aristotelisch-thomistischen Ethik von einer natürlichen Bestimmung des Menschen sowie „ein metaphysisches Verständnis des Seins der Natur“ ab. Der Machtspruch der Kommunikationsgemeinschaft, wenn sie die Ansprüche der Betroffenen ausdiskutiert und zum Konsens gebracht hat, tritt an die Stelle eines „ontologisch begründeten letzten Zwecks“ und ermöglicht somit, zu Handlungsnormen zu gelangen.378 Damit ist der Weg einer Ethik der Emanzipation zu Ende gegangen, den Kant mit seinem Prinzip der Autonomie eingeschlagen hatte. Der Mensch legt in gewaltfreiem 377 Zum folgenden vgl. die zusammenfassende Darlegung von K.-O. Apel und W. Kuhlmann in: K.-O. Apel u. a. (Hrsg.), Funkkolleg praktische Philosophie. Ethik, Weinheim 1984. Vor allem die Studieneinheiten 4.2, 19, 20. 378 Ebd. 623, 628f.
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Diskurs fest, wozu des Menschen Leben da ist und welche kategorischen Imperative ihn überhaupt verpflichten, d. h. verpflichten dürfen! Von diesem Ansatz her sehen die Vertreter der Kommunikationsethik die metaphysischen Voraussetzungen der Moralität fallen, die Kant in seinen Postulaten noch zum Ausdruck gebracht hatte, wenn auch auf einem verschlungenen Weg und, was das Postulat Gottes betrifft, in Spannung zum Prinzip der Autonomie. Statt dessen „würde der Interaktions- und Kommunikationsgemeinschaft der Menschen selbst die Sorge – und somit auch die Pflicht – einer solidarischen Verantwortung für alles, was mögliche Folge ihrer Aktivitäten ist, zufallen“379. Mit diesem Abschied von einem gesetzgebenden (und richtenden) Gott wird ein Strang im vielschichtigen Denken Kants – aber eben nur ein Strang – konsequent zu Ende gebracht. Aber damit stellt sich erneut die Frage nach Möglichkeit und Sinn einer im Horizont der Endlichkeit und Zeitlichkeit absoluten Verpflichtung. 6. Infolge der technischen Revolution im Bereich der Kommunikation hat auch die philosophische Reflexion eine internationale Dimension angenommen. Was die KantForschung betrifft, wird dies durch die neulich von M. Ruffing herausgegebene „KantBibliographie. 1945–1990“ (Frankfurt a. M. 1999) auf eindrucksvollste Weise belegt. Zum Abschluß des vorliegenden Überblicks möchte ich auf die Rezeption der Kantischen Ethik im englischsprechenden Kulturraum, vor allem in den USA, hinweisen.380 In den letzten Jahrzehnten hat die angelsächsische Philosophie begonnen, in Kant eine willkommene Alternative zu ihrem traditionellen Utilitarismus zu finden. Sie hat sich deshalb für ihre Erörterung der Grundfragen der Ethik auf ihn berufen. Hier ist in erster Linie John Rawls zu nennen, der in den angelsächsischen Ländern zu einer philosophischen Leitfigur in den Diskussionen zu Ethik, Rechtsphilosophie und politischer Philosophie wurde. Ein Grundzug dieser Rezeption scheint – mit wenigen Ausnahmen – die Absicht zu sein, Kants theoretische und praktische Philosophie von jeglicher Metaphysik zu „befreien“. Für seine „Theorie der Gerechtigkeit“ greift Rawls den kategorischen Imperativ Kants auf und interpretiert ihn als eine Prozedur, die die Forderungen des moralischen Gesetzes den Umständen der Menschen anpaßt und via Universalisierung zu einem Inhalt gestaltet, der wie ein Naturgesetz anzuwenden ist. Dabei setzt Rawls, wie auch andere angloamerikanische Denker, für den Inhalt des Imperativs die Erfordernisse der praktischen Vernunft im alltäglichen Bewußtsein voraus. Auf diese Weise meint er, das Grundhindernis eines rein formalen Gesetzes umgehen zu können, ähnlich wie auch viele andere Interpreten Kants dem „formalen Prinzip des Wollens“ (GMS A 14 = IV 401) eine zweckrationale Maxime vorausschalten, die das tun kann, was das moralische Gesetz nicht darf. Aber das auffallendste Merkmal der angelsächsischen Interpreten liegt darin, daß sie die „Befreiung“ der Ethik von deren metaphysischen Prämissen – denjenigen des Transzendentalidealismus – mit einer großzügigen Verwendung anderer Schriften Ebd. 126. Vgl. Gustavo Leyva, „Notizen zur neueren Rezeption der kantischen Ethik in der angloamerikanischen Philosophie“, in: Philosophische Rundschau 49 (2002) 290–304; 50 (2003) 43–61. 379
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Kants als der GMS und der KpV verbinden. Gemeint sind die kleineren, eher populären Schriften zur Geschichts- und Religionsphilosophie, die Vorlesungen zur Anthropologie, aber auch die großen Werke der 90er Jahre, die Religionsschrift und die Metaphysik der Sitten mit ihrer Rechtsphilosophie und normativen Ethik. Auf diese Weise konnten sie der Ethik Kants einen viel konkreteren und den gegenwärtigen Fragen entsprechenden anthropologischen, kultur- und geschichtsphilosophischen Inhalt verleihen, als dieser in den zwei „kanonischen“ Grundlegungsschriften vorliegt. Hier seien die Namen von zwei Rawls-Schülerinnen, Barbara Herman und Christine Korsgaard, sowie Paul Guyer, Henry Allison, Allen Wood und Jerome Schneewind genannt. Die Ausführungen all dieser Autoren weisen ein hohes Argumentationsniveau auf, das nicht selten zu Einsichten und Fragen führt, die sich ansonsten bei einem textnahen Zugang nicht ergeben würden. Trotzdem drängt sich die prinzipielle Frage auf, auf wessen Konto die jeweils vorgelegte Meinung geht. Wenn man am Grundprinzip der Hermeneutik festhält, nämlich der Unterscheidung zwischen „Bedeutung“ und „Bedeutsamkeit“ eines Textes,381 so erweist sich diese Kant-Interpretation als fragwürdig. Dasselbe gilt m.E., in je verschiedenem Maße, auch für nicht wenige moderne Kantforscher auf dem alten Kontinent. Es geht nämlich darum, möglichst sauber zu unterscheiden zwischen einerseits dem objektiven Sinn eines Textes (Ähnliches gilt für jegliches Produkt des menschlichen Geistes: Denkmäler, Überreste der Vergangenheit, historische Ereignisse usw.), den sein Autor bzw. eine vergangene Kultur in ihm zum Ausdruck gebracht hat und der ein eigenes Selbstsein hat, und andererseits der Relevanz, die derselbe Text für andere und vor allem für künftige Leser haben kann und ihm de facto im Laufe der Zeit beschieden wird. Die Bedeutung, die ein Autor seinem Werk gegeben hat, ist an sich abgeschlossen; die Bedeutsamkeit desselben Werkes dagegen ist offen. Was diese betrifft, so hängt es vom Leser ab, sich vom Text inspirieren zu lassen, um ihn für die Fragen seiner Zeit fruchtbar zu machen, wobei der objektive Sinn des Textes differenziert, bereichert, korrigiert, anders gestaltet, weiterentwickelt und auf neue Fragestellungen angewandt wird. Zu den klassischen Werken schreibt Gadamer, daß „die Fortdauer der unmittelbaren Sagkraft eines Werkes grundsätzlich unbegrenzt ist“. Dazu zitiert er ein Wort von Friedrich Schlegel: „Eine klassische Schrift muß nie ganz verstanden werden können. Aber die, welche gebildet sind und sich bilden, müssen immer mehr draus lernen wollen“382. All dies ist die Leistung des Lesers bzw. des Interpreten. Sowohl die Auslegung eines Textes, um dessen objektive Bedeutung zu ermitteln, als auch seine Wiederaufnahme, Ich übernehme diese Terminologie für eine Distinktion, auf die auch andere mit unterschiedlichen Bezeichnungen hingewiesen haben, von Emilio Betti, dem Verfasser der höchst gelehrten „Teoria generale dell’ interpretazione“, Milano 1955. Näherhin verweise ich hierzu auf seine kleine Schrift: Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1962, 28f. 382 H.- G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 21965, 274. 381
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um ihn für die Gegenwart fruchtbar zu machen, können als nie vollendete Aufgaben gelten, aber in einem je anderem Sinne. Denn während die Bedingungen für die Freilegung der Bedeutsamkeit hauptsächlich im Horizont der Kultur und in der Geisteskraft des späteren Interpreten liegen und ihm an sich völlige Freiheit lassen, ist die Ermittlung der Bedeutung desselben Textes, weil dieser die Objektivation der Schöpferkraft seines ursprünglichen Autors enthält, an den von ihm intendierten und tatsächlich zum Ausdruck gebrachten Sinngehalt gebunden. Diese Bindung drückt sich in den anerkannten Verfahrensregeln der Hermeneutik aus, so daß die Richtigkeit des vom Interpreten freigelegten Sinngehalts im Prinzip kontrollierbar ist. Es ist deshalb durchaus möglich, daß ein alter Text in einem neuen Verstehenshorizont bzw. von einem anderen Menschen gelesen einen z. T. neuen Sinn aufweist; aber einer solchen Neuheit und Umwandlung sind Grenzen gesetzt, weil sich im Text ein fremder Geist zu diesen und nicht anderen sinnhaltigen Formen objektiviert hat. Wenn man die Eigenart eines nicht leichten Klassikers wie Kant und nicht zuletzt seinen aporetischen Charakter bedenkt, ist die hier genannte Distinktion besonders wichtig. Die von Kant gestellten, aber unbeantwortet gebliebenen Fragen, die Spannungen zwischen unterschiedlichen Texten zum selben Problem, die Unvollendetheit mancher seiner Argumentationen fordern den Interpreten auf, eine Antwort auf die Fragen selbst zu suchen, die Spannung zu lösen, den abgebrochenen Versuch zu Ende zu führen und seine Resultate dem Leser zu präsentieren. All dies kann seine Berechtigung haben. Nur soll klar gemacht werden, daß diese Resultate auf das Konto des späteren Denkers und Interpreten zurückgehen; d. h. sie dürfen nicht als die Lehre Kants ausgegeben werden. M. E. ist im Falle der Schriften Kants vor allem die Versuchung einer harmonisierenden Auslegung besonders groß: Was im Text Kants steht, sich aber nicht in eine glatte Lesart integrieren läßt, wird einfach ignoriert oder aber nebenbei erwähnt, wobei dann aber im weiteren Verlauf so argumentiert wird, als ob dieses Hindernis gegen die gewünschte Interpretation nicht existierte. Eine solche gefällige Interpretation wirkt sich auf den nicht bereits mit den Hauptschriften Kants vertrauten Leser folgendermaßen aus: Er, der von vornherein Furcht vor dem bekanntlich höchst schwierigen Philosophen aus Königsberg empfand, fühlt sich angesichts der ihm vorgelegten Lesart erleichtert und befriedigt. Wenn er sich dann aber an den Text Kants heranwagt, so wie dieser nun einmal ist, gelingt es ihm kaum, diese Interpretation im Originaltext wiederzufinden. Eine naheliegende Lösung dieses Zwiespalts wird es dann sein, die Interpretation einfach in gutem Glauben zu übernehmen. Auf beiden Wegen, auf denen man an die Schriften Kants herangehen kann, lauern Gefahren. Will jemand das Denken Kants für gegenwärtige Fragen fruchtbar machen, so ist er in Gefahr, die Lösung dieser Fragen, die er sich, irgendwie durch eine Schrift Kants veranlaßt, ausgedacht hat, unter der Autorität Kants selbst der Öffentlichkeit zu präsentieren. Will jemand den zeitgenössischen Wißbegierigen die Schriften Kants erschließen, so ist er in Gefahr, den heutigen Lesern, die philosophische Voraussetzungen und kulturelle Interessen mit sich bringen, welche sich sehr stark von denen Kants unterscheiden, einen harmonisierten Doppelgänger des Königsberger Philosophen „ad usum Delphini“ vorzulegen.
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7. Seit einigen Jahrzehnten herrscht in der Philosophie für das Fach Ethik Hochkonjunktur. Dies hat mit sich gebracht, daß das Interesse an den einschlägigen Schriften Kants sowohl von einem historisch-exegetischen als auch von einem sachlichen Gesichtspunkt aus zusehends gewachsen ist. Auf der Suche nach einem tragfähigen Fundament der ethischen Reflexion und nach einer Rechtfertigung der von ihr aufgestellten Handlungsnormen spielt die Lehre Kants vom Menschen als Zweck an sich selbst und die damit zusammenhängende Lehre von der Würde des Menschen (vgl. GMS A 77 und 87 = IV 434 und 440) eine wichtige Rolle. Was im vorliegenden Kommentar zu diesen Lehrstücken gesagt wurde, mag diese Bedeutung Kants erklären. Was für die Ethik im engeren Sinne gilt, gilt noch mehr für die gegenwärtige weltweite Debatte über ethische Fragen angesichts der Umwälzungen, die sich im privaten wie auch im öffentlichen Verhalten der Menschen ereignet haben. Noch auffälliger gilt es für die Diskussion über die Perspektiven, die sich der Molekularbiologie zu eröffnen beginnen und die immer dringender eine Entscheidung darüber verlangen, ob und in welchem Maße die sich abzeichnenden Möglichkeiten, bis zur Quelle des menschlichen Lebens einzugreifen, benutzt werden dürfen. Gerade in diesem Zusammenhang wird von seiten der Politiker, Juristen, Soziologen, Philosophen, Theologen und in den Massen-Medien darauf hingewiesen, daß der Mensch nie bloß als Mittel „gebraucht“ werden darf und daß seine Würde unantastbar ist. Es ist hier nicht der Ort, weiter zu untersuchen, wie wirksam diese an sich zu begrüßende Berufung auf Lehrstücke der Ethik ist. Im Zusammenhang mit der durchgeführten Analyse der KpV möchte ich realistischerweise auf die Grenzen der Ethik Kants aufmerksam machen, soweit sie für eine Antwort auf die uns heute bedrängenden Fragen in Anspruch genommen wird. Die Berufung auf den Menschen als Selbstzweck und auf seine Würde hat ebensoviel und ebensowenig normative Kraft, wie die des tatsächlichen Inhalts, der mit diesen Begriffen gemeint ist. Die in der Diskussion über „Bioethik“ immer wieder festzustellende Unfähigkeit, den Begriff des Menschen in dem zu präzisieren, was unverzichtbar zu ihm gehört,383 erklärt, warum aus der Berufung auf denselben Orientierungspunkt sehr verschiedene, ja sogar auch einander widersprechende Konsequenzen gezogen werden können. Damit aber droht die gutgemeinte Berufung auf einen weltweit anerkannten „Weisen“ zu einer rhetorischen Phrase zu werden. Zwei Grundbestandteile der Ethik Kants scheinen mir die auffallende praktische Ohnmacht einer Lehre (zumindest teilweise) zu erklären, gerade heute, wo sie so hochgeschätzt wird. Was ich hier nur kurz erwähnen kann, wurde im Verlauf des Kommentars ausführlich angesprochen. Ein erster Grundbestandteil der Ethik Kants ist das, worin er die Grundlage und den Sinn der Menschenwürde sieht. Er spricht von der „Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetz gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt“ (GMS A 77 = IV 434), wobei etwas weiter unten gesagt wird, daß „die Würde der Menschheit eben in dieser Fähigkeit besteht, allgemein gesetzgeGerade dies ist die andere Seite des vielberufenen Pluralismus von Sinngehalten und Wertvorstellungen, die die gegenwärtige Kultur kennzeichnet. 383
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bend … zu sein“ (A 87 = IV 440). Wie absolut kann nun eine Gesetzgebung sein, wenn ihre „verbindende Kraft“ (KrV A 815) vom Menschen selbst stammt? Der Charakter von Allgemeinheit dieser Gesetzgebung ändert nichts am Mißverhältnis zwischen dem kontingenten Gesetzgeber und der angeblichen Absolutheit dessen, was er befiehlt. Wir haben gesehen, daß Kant selbst mehrmals die gesetzgeberische Vollmacht des Menschen relativiert, ohne aber eine prinzipielle Änderung seiner Autonomie-Lehre vorzunehmen. So stellt sich z. B. die Frage: Ist die Würde des Menschen auch dann absolut zu setzen, wenn dieses Leben für das betreffende Subjekt selbst wie für andere eine unzumutbare jahrelange Belastung wäre? Ein zweiter Grundbestandteil der Ethik Kants ist seine Auffassung von der Dimension der menschlichen Person über die Zeit der irdischen Existenz hinaus. Die „Unsterblichkeit der Seele“ hat Kant entschieden vertreten, so wie es auch in der Aufklärung zu seiner Zeit weitgehend üblich war. Aber sowohl seine Argumentation (der unendliche moralische Progressus in Richtung auf „Heiligkeit“) als auch die daraus sich ergebende Konzeption des „künftigen“ Lebens stellen eine Position dar, die sich heute kaum jemand mehr zu eigen machen würde (wie auch, so scheint es, bereits zur Zeit Kants nur wenige sich ihm in diesem Punkt anschlossen). Vor allem aber ist es der weiterhin unentschiedene Status des Menschen im Hinblick auf sein endgültiges Los, der logischerweise unserem Erdenleben (in dem die Entscheidungen zu treffen sind, die heute anstehen) jeglichen moralischen Ernst nimmt. Allerdings gilt für diese fragwürdige Lehre Kants dasselbe, was ich zu Beginn meiner Ausführungen über das Postulat Gottes geschrieben habe. Wenn ich einen wesentlichen Zusammenhang zwischen der moralischen Verfassung des Menschen und seinem Fortleben als Person nach dem Tode behaupte, so will ich sagen, daß eine metaphysische Reflexion keine andere adäquate Begründung der moralischen Verpflichtung, unter der der Mensch steht, finden kann, als daß Ziel und endgültiges Resultat dieser Verpflichtung jener Zustand sein muß, den die religiöse Tradition „beatitudo“ und die Philosophie zur Zeit Kants „Glückseligkeit“ genannt hat. Da aber der Mensch die Absolutheit der moralischen Verpflichtung erfährt, noch bevor er nach deren Ursprung und Fundierung fragt, so ist die Möglichkeit eines echt moralischen Lebenswandels hier auf Erden im Prinzip unabhängig von der Antwort, die er auf diese Frage zu geben vermag. Damit aber ist wiederum nicht gesagt, daß die Anerkennung der personalen Unsterblichkeit für unser konkretes Verhalten irrelevant sei. Kant hat seine Lehre vom Menschen als moralischem Wesen im Postulat Gottes verankert. Gott (wie auch die geistige Dimension der menschlichen Person) ist Gegenstand eines „Vernunftglaubens“; d. h. unser Wissen um ihn beruht auf Gründen, die subjektiv zureichend, aber objektiv unzureichend sind. Sie können also nicht durch Argumente vertreten werden, die vor dem Forum unserer Rationalität Bestand haben. Außerdem ist das Postulat Gottes mit einem unlösbaren Dilemma verknüpft, das in der Kantischen Konzeption vom Menschen, der als absolut autonom verstanden wird, gründet: das Dilemma zwischen einer unbedingten Geltung des Sittengesetzes (infolge der Anerkennung Gottes als Gesetzgeber) bei gleichzeitiger Aufhebung der absolut verstandenen Autonomie des Menschen einerseits und, andererseits, der Aufrechter-
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haltung der Autonomie des Menschen bei gleichzeitiger Preisgabe seines transzendenten Endzwecks und somit der Sinnhaftigkeit des moralischen Gesetzes und des menschlichen Lebens überhaupt. Diese Spannung vermochte Kant nicht zu lösen, wie wir beim dramatischen Beispiel von Spinoza in der KU gesehen haben. Dort räumt Kant die „Nichtigkeit“ der Verpflichtung eines moralischen Gesetzes ohne transzendenten Endzweck ein. Der Horizont der Immanenz, der bereits die Ethik Kants bedrohte, ist danach (und nicht ohne Einfluß von Kant) weitgehend der Horizont unserer Kultur heute geworden. Gerade innerhalb dieses Horizontes stellt sich die Frage, wie tragfähig für ein echt humanes Leben der Verweis auf den Menschen als Zweck an sich selbst und auf seine Würde tatsächlich sein kann.
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Paton, Herbert, J., Kant’s Metaphysics of Experience, 2 Bde., London 1938. Poser, Hans, „Die Bedeutung der Ethik Christian Wolffs für die Aufklärung“, in: Theoria cum praxi (Akten des 3. Internat. Leibniz-Kongresses), Bd. I, Wiesbaden 1980, 206–217. Reiner, Hans, Die goldene Regel, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 3 (1948) 74–105. Rhonheimer, Martin, Die Perspektive der Moral. Philosophische Grundlagen der Tugendethik, Berlin 2001. – Sexualität und Verantwortung. Empfängnisverhütung als ethisches Problem, Wien 1995. Ricken, Friedo, Homo noumenon und homo phaenomenon, in: O. Höffe (Hrsg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, 234–252, Frankfurt a.M. 1989. – Die Postulate der reinen praktischen Vernunft, in: I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hrsg. von O. Höffe, Berlin 2002, 187–202. Ross, David, Kant’s Ethical Theory. A Commentary on the „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, Oxford 1954. Sala, Giovanni B., Kant und die Frage nach Gott. Gottesbeweise und Gottesbeweiskritik in den Schriften Kants (Kantstudien, E. H. 122), Berlin 1990. – Kants Lehre von der menschlichen Erkenntnis: eine sensualistische Version des Intuitionismus, in: Theologie und Philosophie 57 (1982) 202–224, 321–347; 59 (1984) 249–264. – Wohlverhalten und Wohlergehen. Der moralische Gottesbeweis in den Schriften Kants, in: Theologie und Philosophie 68 (1993) 182–207. – Wohlverhalten und Wohlergehen. Der moralische Gottesbeweis und die Frage einer eudämonistischen Ethik, in: Theologie und Philosophie 68 (1993) 369–398. – Das Gesetz oder das Gute? Zum Ursprung und Sinn des Formalismus in der Ethik Kants, in: Gregorianum 71 (1990) 67–95, 315–352. – Ein Experimentum crucis der Transzendentalphilosophie Kants: Die Erkenntnis des Besonderen, in: R. Bäumer u. a. (Hrsg.), Im Ringen um die Wahrheit (Festschrift für Alma von Stockhausen), Weilheim – Bierbronnen 1997, 111–126. – Die Christologie in Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, WeilheimBierbronnen 2000. – Die Gottesfrage in den Schriften Kants, in: Zeitschrift für katholische Theologie 123 (2001) 143–171. – Das Böse und Gott als Erstursache nach dem hl. Thomas von Aquin, in: Theologie und Philosophie 77 (2002) 23–53. Schmitz, Hermann, Was Wollte Kant?, Bonn 1989. Schmucker, Josef, Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen, Meisenheim am Glan, 1961 – Der Formalismus und die materialen Zweckprinzipien in der Ethik Kants, in: J. B. Lotz SJ (Hrsg.), Kant und die Scholastik heute, Pullach 1955, 155–205. Wieder abgedruckt in: H. Oberer (Hrsg.), Kant, Analysen – Probleme – Kritik, Bd. 3, Würzburg 1997, 99–156. Schneeberger, Guido, Kants Konzeption der Modalbegriffe, Basel 1952. Schneiders, Werner, Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Hamburg 1990. Schönecker, Dieter, Kants Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs, Freiburg 1999. Schüller, Bruno, Die Begründung sittlicher Urteile. Typen ethischer Argumentation in der katholischen Moraltheologie, Düsseldorf, 1973. Schulz, Eberhard Günter, Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik, Köln 1975. Schwaiger, Clemens, Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995.
Verzeichnis der zitierten Schriften
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– Kategorische und andere Imperative. Zur Entwicklung von Kants praktischer Philosophie bis 1785, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999. – Vollkommenheit als Moralprinzip bei Wolff, Baumgarten und Kant, in: M. Oberhausen (Hrsg.), Vernunftkritik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Kants und seines Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2001, 317–328. Schwemmer, Oswald, Die praktische Ohnmacht der reinen Vernunft. Bemerkungen zum kategorischen Imperativ Kants, in: Kants Ethik heute (Neue Hefte der Philosophie, 22), Göttingen 1983, 1–24. Silber, John, Kant’s Conception of the Highest Good as Immanent and Transcendent, in: The Philosophical Review 68 (1959) 469–492; deutsch: Immanenz und Transzendenz des höchsten Gutes bei Kant, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 18 (1964) 386–407. – The Importance of the Highest Good in Kant’s Ethik, in: Ethics 73 (1962/63) 179–187; deutsch: Die metaphysische Bedeutung des höchsten Gutes als Kanon der reinen Vernunft in Kants Philosophie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 23 (1969)537–549. Stangneth, Bettina, Das „Faktum der Vernunft“. Versuch einer Ortsbestimmung, in: Akten des 9. Internat. Kant-Kongresses, Bd. 3, Berlin 2001, 104–112. Tröltsch, Ernst, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft. Eine Untersuchung über die Bedeutung der Kantischen Religionslehre für die heutige Religionswissenschaft, Tübingen 1905. Tugendhat, Ernst, Antike und Moderne Ethik, in: ders., Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, 33–56. Unger, R., „Der bestirnte Himmel über mir …“. Zur geistesgeschichtlichen Deutung eines KantWortes, in: Immanuel Kant. Festschrift zur zweiten Jahrhundertfeier seines Geburtstages, hrsg. v. d. Albertus-Universität i. Königsberg/Pr., Leipzig 1924, 241–270. Vaihinger, Hans, Kommentar zu Kants KrV, 2 Bde., Stuttgart 1881 und 1892 (ND Aalen 1970). – Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Leipzig 81922. Vorländer, Karl, I. Kant. Kritik der praktischen Vernunft, Einleitung des Herausgebers, Hamburg 91963, XI–XLVII. – Geschichte der Neuzeit. Die Aufklärung (Geschichte der Philosophie V), Hamburg 1967. Wasianski, Ehregott Andreas Christoph, Immanuel Kant in seinen letzten Jahren, in: F. Groß (Hrsg.), I. Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, Berlin 1912 (ND Darmstadt WBG, 1968). Windelband, Wilhelm, Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. I, Tübingen 61919. Winter, Alois, Der Gottesbeweis aus praktischer Vernunft. Das Argument Kants und seine Tragfähigkeit vor dem Hintergrund der Vernunftkritik, in: Klaus Kremer (Hrsg.), Um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit natürlicher Gotteserkenntnis heute, Leiden 1985, 109–178. Wolff, Robert Paul, The Autonomy of Reason. A Commentary on Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals, New York 1973. Wundt, Max, Die Deutsche Schulmetaphysik des 17.Jahrhunderts, Tübingen 1939. – Die Deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945. – Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Deutschen Philosophie im 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1924.
Auswahlbibliographie zur Ethik Kants Eine umfassende bibliographische Information bietet das Werk: Kant-Bibliographie 1945–1990 begründet von Rudolf Malter und herausgegeben von Margit Ruffing, Frankfurt a.M. 1998.
1. Gesamtdarstellungen Krüger, Gerhard, Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik, Tübingen 1931, 21967. Paton, Herbert J., Der kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über Kants Morallehre, Berlin 1962 (Original, London 1947). Ross, David, Kant’s Ethical Theory. A Commentary on the Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Oxford 1954. Beck, Lewis White, Kants Kritik der praktischen Vernunft. Ein Kommentar, München 1974 (Original, Chicago 1960). Delekat, Friederich, Immanuel Kant. Historisch-kritische Interpretation der Hauptschriften, Heidelberg 1963, 31969. Luño, Rodríguez Angel, Fundamentación de la metafísica de las costumbres, Madrid 1977. Kaulbach, Friedrich, Immanuel Kants GMS. Interpretation und Kommentar, Darmstadt 1988. Höffe, Otfried, Immanuel Kant, München 1983, 21988. – (Hrsg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt 1989. – (Hrsg.), Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft (11 Beiträge zur Erläuterung des Textes), Berlin 2002. O’ Neill, Onora, Constructions of Reason. Explorations of Kant’s Practical Philosophy, Cambridge 1989. Willaschek, Marcus, Praktische Vernunft – Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart 1992. Wood, Allen W., Kant’s Ethical Thought, Cambridge 1999. Guyer, Paul, Kant on Freedom, Law and Happiness, Cambridge 2000. Steigleder, Klaus, Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft, Stuttgart 2001. Schönecker, Dieter und Wood, Allen, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Ein einführender Kommentar, Stuttgart, 2002.
2. Werdegang der Ethik Kants Schmucker, Josef, Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen, Meisenheim am Glan 1961. Henrich, Dieter, Hutcheson und Kant, in KS 49 (1957/58) 49–69. – Über Kants früheste Ethik. Versuch einer Rekonstruktion, in: KS 54 (1963) 404–431. – Über Kants Entwicklungsgschichte, in: Philosophische Rundschau 13 (1965) 252–263.
370
Auswahlbibliographie zur Ethik Kants
Ward, Keith, The Development of Kant’s View of Ethics, Oxford 1972. Sala, Giovanni B., Das Gesetz oder das Gute? Zum Urprung und Sinn des Formalismus in der Ethik Kants, in: Gregorianum 71 (1990) 67–95, 315–352. Schwaiger, Clemens, Kategorische und andere Imperative. Zur Entwicklung von Kants praktischer Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1999.
3. Kategorischer Imperativ Ebbinghaus, Julius, Deutung und Mißdeutung des kategorischen Imperativs, in: Ders., Gesammelte Schriften I, Bonn 1986, 279–295. – Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bonn 1988, II 209–229. Moritz, Manfred, Kants Einteilung der Imperative, Lund 1960. Fleischer, Margot, Das Problem der Begründung des kategorischen Imperativs bei Kant, in: P. Engelhardt (Hrsg.), Sein und Ethos. Untersuchungen zur Grundlegung der Ethik, Mainz 1963, 383–404. – Die Formeln des kategorischen Imperativs in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, in: Archives für Geschichte der Philosophie 46 (1964) 201–226. Patzig, Günther, Die logische Form praktischer Sätze in Kants Ethik, in: KS 57 (1966) 237– 252. Cramer, Konrad, Hypothetische Imperative?, in: M. Riedel (Hrsg.), Rehabilitierung der praktischen Vernunft, Bd. I, Freiburg 1972, 159–212. Hoerster Norbert, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, in: M. Riedel (Hrsg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. II, Freiburg 1974, S. 455–475. Höffe, Otfried, Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 31 (1977) 354–384. Baumanns, Peter, Kants kategorischer Imperativ und das Problem der inhaltlichen Bestimmung, in: Herta Nagl-Docekal (Hrsg.), Überlieferung und Aufgabe, Wien 1982, II, 165–179. Timmons, Mark, Contradictions and the Categorical Imperative, in: Archiv für Geschichte der Phil. 66 (1984) 294–312.
4. Erste Formel des kategorischen Imperativs und Formalismus Singer, Marcus G., Verallgemeinerung in der Ethik. Zur Logik moralischen Argumentierens, Frankfurt a.M. 1975 (Original: Generalization in Ethics, 1961). Maliandi, Ricardo, Bedeutung und Zweideutigkeit des „als-ob“ in der Naturgesetz-Formel des kategorischen Imperativs, in: Akten des 4. Internat. Kant-Kongresses, Teil II. 2, Berlin 1974, 540–549. Wimmer, Reiner. Universalisierung in der Ethik. Analyse, Kritik und Rekonstruktion ethischer Rationalitätsansprüche, Frankfurt a.M. 1980. Aul, Joachim, Aspekte des Universalisierungspostulats in Kants Ethik, in: Neue Hefte für Philosophie, 22 (1983) 62–94. Korsgaard, Christine M., Kant’s Formula of Universal Law, in: Pacific Philosophical Quarterly, 66 (1985) 24–47. Rossvaer, Viggo, The Categorical Imperative and the Natural Law Formula, in: O. Höffe (Hrsg.), Grundlegung zur MdS. Ein Kooperativer Kommentar, Frankfurt 1989, 194–205.
Auswahlbibliographie zur Ethik Kants
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Schmucker, Josef, Der Formalismus und die materialen Zweckprinzipien in der Ethik Kants, in: Lotz, Johannes B. (Hrsg.), Kant und die Scholastik heute, Pullach 1955, 155–205. ND in: Oberer, H. (Hrsg.), Kant. Analyse – Probleme – Kritik, Bd. III, Würzburg 1997, 99–156. Werner, Hans-Joachim, Moralität ohne Inhalt? Zum Problem der Bestimmbarkeit allgemeiner ethischer Normen im Anschluß an die Ethik Kants, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 28 (1974) 585–598. Klein, Hans-Dieter, Formale und materiale Prinzipien in Kants Ethik, in: KS 60 (1969) 183–198. Stangneth, Bettina, Das „Faktum der Vernunft“. Versuch einer Ortsbestimmung, in: Akten des 9. Internat. Kant-Kongresses, Bd. 3, Berlin 2001, 104–112.
5. Zweite Formel des kategorischen Imperativs Zeltner, Hermann, Kants Begriff der Person, in: W. Arnold/H. Zeltner (Hrsg.), Tradition und Kritik (Festschrift für R. Zocher), Stuttgart-Bad Cannstatt 1967, 331–350. Johannes Schwartländer, Der Mensch ist Person. Kants Lehre vom Menschen, Stuttgart 1968. Atwell, John, Are Kant’s first two Moral Principles Equivalent?, in: The Journal of the History of Philosophy, 7 (1969) 273–284. Jones, Hardy E., Kant’s Principle of Personality, Madison-London 1971. Marshall, John, Man as an End in Himself, in: Actes du Congrès dÓttawa sur Kant, Ottawa 1976, 467–473. Derbolav, Josef, Praktische Vernunft und die politische Ideologie. Die Ambivalenz der Menschheitsformel in Kants kategorischem Imperativ, in: Perspektiven der Philosophie, 4 (1978) 37–60. Korsgaard, Christine M., Kant’s Formula of Humanity, in: KS 77 (1986) 183–202. Haardt, Alexander, Die Stellung des Personalitätsprinzips in der GMS und in der KpV, in: KS 73 (1982) 157–168. Wolbert, Werner, Der Mensch als Mittel und Zweck. Die Idee der Menschenwürde in normativer Ethik und Metaethik, Münster 1987. Mendonça, W. P., Die Person als Zweck an sich, in: KS 84 (1993) 167–184.
6. Dritte Formel des kategorischen Imperativs Bache, Kurt, Kants Prinzip der Autonomie im Verhältnis zur Idee des Reiches der Zwecke (KS EH 12), Berlin 1909. Schwartländer, Johannes, Sittliche Autonomie als Idee der endlichen Freiheit. Bemerkungen zum Prinzip der Autonomie im kritischen Idealismus Kants, in: Theologische Quartalschrift 161 (1981) 20–33. Hill, Thomas E. Jr., The Kingdom of Ends, in: L. W. Beck (Hrsg.) Proceedings of the Third International Kant Congress, Dordrecht 1972, 307–315. Feil, Ernst, Autonomie und Heteronomie nach Kant. Zur Klärung einer signifikanten Fehlinterpretation, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 29 (1982) 389–441. Bittner, Rüdiger, Moralisches Gebot oder Autonomie, Freiburg 1983. Watson, Stephen H., Kant on Autonomie, the Ends of Humanity and the Possibility of Morality, in: KS 77 (1986) 165–182.
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Auswahlbibliographie zur Ethik Kants 7. Achtung für das Gesetz
MacBeath, Murray A., Kant on Moral Feeling, in: KS 64 (1973) 283–324. Funke, Gerhard, „Achtung fürs moralische Gesetz“ und Rigorismus/Impersonalismus-Problem, in: Akten des 4. Internat. Kant-Kongresses, I, Berlin 1974, 45–67. Martin, Conor, Emotion in Kant’s Moral Philosophy, in: Philosophical Studies 28 (1980) 16–28. Lauener, Henri, Der systematische Stellenwert des Gefühls der Achtung in Kants Ethik, in: Dialectica 35 (1981) 243–264. Walker, Ralph C. S., Achtung in der „Grundlegung“, in: Grundlegung zur MdS. Ein Kooperativer Kommentar, hrsg. von O. Höffe, Frankfurt 1989, 97–116.
8. Antinomie und Postulate Lorentz, Paul, Über die Aufstellung von Postulaten als philosophische Methode bei Kant, in: Philosophische Monatshefte 29 (1893) 412–433. Doescher, Waldemar O., Kant’s Postulate of Practical Freedom, in G. T. Whitney und D. F. Bowers (Hrsg.), The Heritage of Kant, Princeton 1939, 197–225. Axin, Sidney, Kant and the Moral Antinomie, in: Actes du Congrès dÓttawa sur Kant, Ottawa 1976, 459–466. Albrecht, Michael, Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim 1978. Guyer, Paul, In praktischer Absicht: Kants Begriff der Postulate der reinen praktischen Vernunft, in: Philosophisches Jahrbuch 104 (1997) 1–18. Milz, Bernhard, Dialektik der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch und Religionsphilosophie bei Kant, in: Theologie und Philosophie 63 (1988) 481–518. – Der gesuchte Widerstreit. Die Antinomie in Kants Kritik der praktischen Vernunft in: KS EH 139, 2002. 9. Moralischer Gottesbeweis Lauth, Reinhardt, Die Bedeutung des Sinnbegriffs in Kants praktischer Postulatenlehre, in: H. Rahner und E. von Severus (Hrsg.), Perennitas. Beiträge zur christlichen Archeologie und Kunst, Münster 1963, 585–601. Schmucker, Josef, „Kapitel III: Das Kantische Postulat des Daseins Gottes als Lösung der Gottesfrage vom personalen Pol aus“, in: Ders., Die primären Quellen des Gottesglaubens, Freiburg 1967. Wood, Allen W., Kant’s Moral Religion, Ithaca 1970. Zeldin, Mary-Barbara, Principles of Reason, Degrees of Judgment, and Kant’s Argument for the Existence of God, in: The Monist 54 (1970) 285–301. – The Summum Bonum, the Moral Law and the Existence of God, in: KS 62 (1971) 43–54. – Belief as a Requirement of Pure Reason: The Primacy of Kant’s Moral Argument and its Relation to Spekulative Arguments, in: International Studies in Philosophy 6 (1974) 99–114. Sessions, William Lad, Kant and Religious Belief, in: KS 71 (1980) 455–468. Kuehn, Manfred, Kant’s Transcendental Deduction of God’s Existence as a Postulate of Pure Practical Reason, in: KS 76 (1985) 152–169. Winter, Alois, Der Gotteserweis aus praktischer Vernunft. Das Argument Kants und seine Tragfähigkeit vor dem Hintergrund der Vernunftkritik, in: Klaus Kremer (Hrsg.), Um Möglichkeit oder Unmöglichkeit natürlicher Gotteserkenntnis heute, Leiden 1985, 109–178.
Auswahlbibliographie zur Ethik Kants
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Sala, Giovanni B., Kant und die Frage nach Gott. Gottesbeweise und Gottesbeweiskritik in den Schriften Kants (KS EH 122) 1990 (vgl. IV Teil: Der moralische Gottesbeweis in den drei Kritiken und in der Religionsschrift). – Wohlverhalten und Wohlergehen. Der moralische Gottesbeweis in den Schriften Kants, in: Theologie und Philosophie 68 (1993) 182–207. – Wohlverhalten und Wohlergehen. Der moralische Gottesbeweis und die Frage einer eudämonistischen Ethik, in: Theologie und Philosophie 68 (1993) 368–398. Voeller, Carol W., The Metaphysics of Moral Law. Kant’s Deduction of Freedom, New York 2001 (Chapter I: The Moral Argument for God’s Existence).
10. Höchstes Gut Spaemann, Robert, Art. „Gut, höchstes“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 973–976. Düsing, Klaus, Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie, in: KS 62 (1971) 5–42. Silber, John, Immanenz und Transzendenz des höchsten Gutes bei Kant, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 18 (1964) 386–407. – Die metaphysische Bedeutung des höchsten Gutes als Kanon der reinen Vernunft in Kants Philosophie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 23 (1969) 538–549. Murphy, Jeffrie G., The Highest Good as Content for Kant’s Ethical Formalism. Beck versus Silber, in: KS 56 (1965/66) 102–110. Fischer, Norbert, Tugend und Glückseligkeit. Zu ihrem Verhältnis bei Aristoteles und Kant, in: KS 74 (1983) 1–21. Pleines, Jürgen Eckhardt, Eudämonie zwischen Kant und Aristoteles. Glückseligkeit als höchstes Gut menschlichen Handelns, Würzburg 1984.
11. Freiheit Körner, Stephan, Kant’s Conception of Freedom, in: Proceedings of the British Academy, 53 (1967) 193–217. McCarthy, Michael H., Kant’s Justification of Freedom, Diss., Toronto 1973. Forschner, Maximilian, Gesetz und Freiheit. Zum Problem der Autonomie bei Kant, München 1974. Potter, Nelson Th., Does Kant have two Concepts of Freedom?, in: Akten des 4. Internat. KantKongresses, Teil II. 2, Berlin 1974, 590–596. Brandt, Reinhard, Emanzipation und Freiheit, in: Akten des 4. Internat. Kant-Kongresses, Teil II. 2, Berlin 1974, 633–647. Röd, Wolfgang, Kants Annahme einer Kausalität aus Freiheit und die Idee einer transzendentalen Ethik, in: Dialectica 35 (1981) 223–241. Ameriks, Karl, Kant’s Deduction of Freedom and Morality, in: Journal of the History of Philosophy 19 (1981) 53–79. Zeldin, Mary-Barbara, Aspects of Freedom, in Akten des 5. Internat. Kant-Kongresses, Teil I 1, Bonn 1981, 604–613. Böckerstette, Heinrich, Aporien der Freiheit und ihre Aufklärung durch Kant, Stuttgart 1982.
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Auswahlbibliographie zur Ethik Kants
Funke, Gerhard, Kants Satz: die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden, in: Revue Internationale de Philosophie 35 (1981) 207–221. Prauss, Gerold, Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt 1983.
12. Verschiedenes Käubler, Bruno, Der Begriff der Triebfeder in Kants Ethik, Weide in Thüringen 1917 (Diss. Leipzig 1914). Moritz, Manfred, Studien zum Pflichtbegriff in Kants kritischer Ethik, Lund 1951. – Pflicht und Moralität. Eine Antinomie in Kants Ethik, in: KS 56 (1965/66) 412–429. Reiner, Hans, Pflicht und Neigung. Die Grundlage der Sittlichkeit erörtert und neu bestimmt mit besonderem Bezug auf Kant und Schiller, Meisenheim am Glan 1951 (2. Aufl.: Die Grundlage der Sittlichkeit, 1974). Welding, Steen O., Über den Begriff der Pflicht bei Kant, in: Ratio 13 (1971) 148–173. Wilkerson, Terence E., Duty, Inclination, and Morals, in: Philosophical Quarterly 23 (1973) 28–40. Bittner, R. und Cramer, K. (Hrsg.), Materialien zu Kants KpV, Frankfurt 1974, 21985. Zeldin, Mary-Barbara, Kant’s Postulate of Immortality, in: Actes du Congrès d’Ottawa sur Kant, Ottawa 1976, 450–458. Prauss, Gerold, Kants Problem der Einheit theoretischen und praktischer Vernunft, in: KS 72 (1981) 286–303. Stekeler Weithofer, Pirmin, Willkür und Wille bei Kant, in: KS 81 (1990), 304–320. Albrecht, Michael, Kants Maximenethik und ihre Begründung, in: KS 85 (1994) 129–146.
Register Personen Abel, Jacob Friedrich 55 Adickes, Erich 55, 133, 249, 292, 323 Adler, Max 355 Albrecht, Michael 12, 49, 53, 136, 143, 200, 223, 236, 246, 248, 257, 259, 264–267, 269, 274, 281, 283, 309, 311 f., 312 Apel, Karl-Otto 356 Aristoteles 71, 83, 86, 89, 103 f., 146, 179 f., 199, 255, 294, 324, 356 Arndt, Hans-Werner 27, 340 Augustinus, Aurelius 206, 282 Baader, Franz 176 Baumgarten, Alexander Gottlieb 23, 26, 32, 164, 307 Beck, Lewis White 11, 89, 148, 243, 259, 291, 311 Benton, Robert J. 148 Bergson, Henri 273 Bering, Johann 53 Betti, Emilio 358 Bittner, Rüdiger 63, 100 Bobzien, Susanne 148, 150 Bock, J. G. 25 Bohatec, Josef 66, 185, 209, 227, 303 Böhr, Christoph 200 Borowski, Ludwig Ernst 185, 348 Brandt, Reinhard 195–197 Brülislauer, Bruno 102 Cassirer, Ernst 273, 343 f., 354 Casula, Mario 271 Cicero, Marcus Tullius 142 Cohen, Hermann 249, 354f. Crusius, Christian August 24, 30, 32 f., 94, 120, 207, 283 Curtius, Ernst Robert 155 Delekat, Friedrich 184 Denzinger-Schönmetzer 207, 307
Descartes, René 206f. Dilthey, Wilhelm 273 Dionysius Areopagita 104 Düsing, Klaus 199 f., 246, 274 Ebbinghaus, Julius 355 Eberhard, Johann August 328 Epikur 91, 266, 271 Erdmann, Benno 70 Feder, Johann Georg Heinrich 55, 69, 74 Fichte, Johann Gottlieb 353f. Flatt, Johann Friedrich 63, 94, 261, 288 Fontenelle, Bernard 172 Förster, Eckart 143 Friedrich Wilhelm I. 182 Frobesius, Johann Nikolaus 283 Funk, Johann Friedrich von 355 Gadamer, Hans-Georg 358 Galilei, Galileo 112, 350 Garve, Christian 69, 74 Gottsched, Johann Christoph 25 Grotius, Hugo 112 Guyer, Paul 358 Haas, Bruno 148 Hallison, Henry 358 Hartknoch, Johann Friedrich 53 Hartmann, Nicolai 114, 219, 272, 355 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 103 Heimsoeth, Heinz 62, 219, 349, 355 Heizmann, Winfried 353 Henrich, Dieter 22–24, 51, 53, 67, 98, 100, 202 Herman, Barbara 358 Herz, Marcus 47 f., 120, 133 Hoche, Hans-Ulrich 102 Höffe, Otfried 104, 143 Holzhey, Helmut 131
376 Hume, David 23, 74, 130 f Hutcheson, Francis 23 f., 33, 35, 47 Ignatius von Loyola 307 Irenäus von Lyon 307 Jachmann, Reinhold Bernhard 341, 348, 352 Jacobi, Friedrich Heinrich 225 Jakob, Ludwig Heinrich 53 Jansen, Cornelius 206 Jodl, Friedrich 353 Juvenal 99, 114, 344 Kalter, Alfons 53 Kästner, Abraham Gotthelf 313 Kepler, Johannes 350 Kierkegaard, Søren 273 Knutzen, Martin 26 Korsgaard, Christine 358 Krämer, Hans 83, 113 Krüger, Gerhard 297 Kuhlmann, Wolfgang 356 Lambert, Johann Heinrich 50, 98 Laplace, Pierre Simon 212 Lehmann, Gerhard 23, 164 Leibniz, Gottfried Wilhelm 21, 27 f., 30, 134, 206 f., 307, 355 Lempp, Otto 264 Lessing, Gotthold Ephraim 225 Leyva, Gustavo 357 Lippmann, Edmund O. von 349 Locke, John 335 Lonergan, Bernard 73, 170, 206, 219, 228, 339 Machiavelli, Niccolò 112 Martin, Gottfried 54, 355 Marx, Karl 355 McCarty, Michael H. 52 Mendelssohn, Moses 225, 273 Menzer, Paul 22–24, 39, 119, 162, 288 Moritz, Manfred 68, 89 Natorp, Paul 63, 354f. Newton, Isaac 350 Nietzsche, Friedrich 273
Register Paton, Herbert J. 53, 356 Pistorius, Hermann Andreas 63, 65, 131, 145, 230 Pohlmann, R. 111 Pölitz, Karl Heinrich Ludwig 66, 336 Poseidonios 142 Poser, Hans 21, 27 Rawls, John 357f. Rehberg, August Wilhelm 261 Reiner, Hans 102, 304 Rentsch, Th. 272 Rheinhold, Karl Leonhard 353 Rhonheimer, Martin 67, 81, 84, 90, 99, 116, 178, 182, 186, 253, 255, 305, 347 Ricken, Friedo 191, 286 Rischmüller, Maria 23, 37 Ross, David 117, 218 Rousseau, Jean-Jacques 23 f., 37 f., 41–44, 111, 168, 192, 198, 343 Ruffing, Margit 357 Ruhnau, J. 225 Sala, Giovanni 51, 88, 170, 228, 276, 282, 326 f. Schlegel, Friedrich 358 Schmitz, Hermann 249 Schmucker, Josef 22, 24, 32, 145, 356 Schneeberger, Guido 336 Schneiders, Werner 20 Schnelle, W. 206 Schönecker, Dieter 52 Schopenhauer, Arthur 175 f., 249, 273 Schubert, Friedrich Wilhelm 23 Schüller, Bruno 102, 177, 242 Schulz, Eberhard Günter 230, 261, 288 Schulze, Gottlob Ernst 248 Schultz, Johann 63 Schütz, Christian Gottfried 53, 55, 316 Schweitzer, Albert 280, 312 Schwaiger, Clemens 19, 22 f., 26 f., 32, 161, 307, 356 Schwemmer, Oswald 352 Seneca, Lucius Annaeus 349 Shaftesbury, Antony Ashley-Cooper 23 Silber, John R. 246 Spaemann, Robert 207 Spalding, Johann Joachim 55, 343 Spener, Philipp Jacob 185
Sachen
377
Unger, R. 349
Spinoza, Baruch 207, 225 f., 297 f., 362 Stangneth, Bettina 98 Stapfer, Johann Friedrich 303 Staudinger, Franz 355 Swedenborg, Emanuel 44 Szabó, A. 272
Vaihinger, Hans 49, 70 f., 73, 126, 154, 160, 188, 195, 258, 302, 349 Vorländer, Karl 317, 353, 355
Thomas von Aquin 71, 83 f., 89, 103 f., 113, 199, 205 f., 212, 225, 228, 255, 294, 324, 356 Thomasius, Christian 20 Tittel, Gottlob August 65, 94, 198, 201 Tonelli, Giorgio 356 Tröltsch, Ernst 217 Tugendhat, Ernst 83
Warnach, W. 206 Wasianski, Ehregott Andreas Christoph 348 Windelband, Wilhelm 354 Winter, Alois 336 Wolff, Christian 19–21, 24–30, 32 f., 36, 39, 50, 78, 91, 98, 200, 277, 306 Wolff, Robert Paul 98, 107 Wundt, Max 20, 25, 219, 224, 322, 333, 355
Sachen Achtung fürs Gesetz 160 f., 165, 171–174 Allgemeinheit des Gesetzes 38 f., 88, 101–108, 192, 256 Allgemeinheit und Notwendigkeit a priori 71–73, 132 Als ob 302, 319 Anordnung der KpV 54 f., 76, 122, 195–197 Antinomie 48, 213–215, 238 – der praktischen Vernunft 259–263 Apriori 70, 87 – als bewußte intentionale Dynamik 73, 138 Autonomie 43, 67, 94 f., 109, 111–114, 168, 192, 261, 346 f., 356 f. – bei Wolff 29 Beatitudo 115 f., 282, 361 Begehrungsvermögen 86, 92 f., 139f. Begriff des Guten 89 f., 136 ff. – Priorität des Gesetzes vor dem Begriff des Guten 137–140, 146f. Bestimmungsgrund des Willens (Handlungsmotiv) 86–89, 91, 93, 95, 110 f., 116, 124, 174, 193 – Tafel aller Bestimmungsgründe 119f. Charakter 208, 211, 218 Dialektik 235, 240 f. – in der GMS 233
Dilemma (das der Argumentation zugunsten des Formalismus zugrunde liegt) 87 f., 109, 146, 194 Ding an sich 64, 95, 129, 132 Dualismus von Leib und Geist 185, 178f. – Naturdeterminismus (Mechanismus) 60 f., 126, 130, 135, 154 – Freiheit und Naturdeterminismus 210, 211–221 Einsicht (intelligere in sensibili) 71, 87, 179, 188, 199, 324 Erfahrung 74, 320 – liefert weder Realität noch Erscheinung 101 Ergänzung durch die KpV 55, 123, 235, 316, 334 Erkenntnis 128 – Erweiterung ins Übersinnliche 229–234 – in praktischer Absicht 318 ff., 333 – praktische, speculative und Naturerkenntnis 319–321 – Wissen oder Glauben an Gott? 336–339 Ethik des guten Lebens/der Normen 34, 83–86, 200, 239, 255 Faktum der Vernunft 52, 94, 96, 99 f., 100 f., 112, 121 f., 158, 198, 203, 232, 286 Formalismus 37, 44, 76, 86 f., 93, 95, 104, 144–146, 241, 288 – erstmal in der GMS bewiesen 51
378
Register
Formalismus (Forts.) – Autonomie und Formalismus 263 Freiheit (kosmologische, transzendentale, praktische, komparative) 30 f., 49, 60, 62, 67, 75, 94 f., 125, 127 f., 167 f., 175, 204 f., 215 – als Abwesenheit von Zwang 206–208 – und Gott als Erstursache 227–229 – und Gott als Schöpfer 221 ff. – und Naturdeterminismus 211–221 – Kategorien der Freiheit 147–153 Fürwahrhalten 63, 329 f., 336 Gefühl (moralisches) 33, 35, 40 f., 45, 47, 67, 118 Gegenstand einer menschlichen Handlung 80–83 – als intentionaler Gehalt 125 Gesetz 77 f., 97f. Gewissensbildung 186 Glauben, Vernunftglaube 60, 292, 309, 333 f., 361 – Wissen und Glauben 293–296 Glückseligkeit 49, 92, 110, 115–118, 142 f., 201 – Bestandteil des höchsten Gutes 245 ff., 275 f., 298, 305 f., 311 Glückseligkeitslehre – Sittenlehre 94, 186, 199–202 Grenzbestimmung 59, 100, 127, 131, 187–189, 237 Das Gute 65 – Arten des Guten 89 f. – das höchste Gut und die Glückseligkeit 245–256 – Definition 140 ff. – höchstes Gut 123, 236, 241–245
Interesse – moralisches 173, 186, 267, 329, 332 – pathologisches 197, 267 Intuitionismus (sensualistischer) 88, 100, 124, 179, 188, 238, 293 f., 324 Kategorien – Anwendbarkeit 63 f. – Anwendbarkeit jenseits der Erfahrung 123, 129 ff., 133, 322 f. – Deduktion 327f. – mathematische/dynamische 231 – Objektivität 133 Kausalitätsprinzip und Hume 131, 135 – Freiheit als zeitlose Kausalität 213–215 – Kausalität als Zeitfolge 135, 204 Liebe – Gottes- und Menschenliebe 182f. – Pflicht und Liebe 176 ff. Materialismus – Spiritualismus der Persönlichkeit 275 Materie des Wollens 86 f., 115, 138, 180, 305 Maxime 77–79, 92, 94, 104, 125, 357 –, die zum Gesetz taugt 110 f., 165 Mensch, als Zweck an sich selbst 36, 105–108, 360, 362 –, als objektive Norm der Moralität 106 Notion: transzendentale Notion des Intelligiblen, des Rationalen und des Guten 73, 100, 137 f. Objekt des Begehrens 89–90
Handlungstheorie 80, 163f. Hedonismus (psychologischer) 68, 89, 139, 177, 197 Hoffnung 254, 278 Hoffnungsfrage 287 Imperativ – Arten 51, 78, 117 – kategorischer Imperativ 34, 36, 45, 79, 108, 144 Intentionalität (intelligente, rationale, moralische) 73, 137 f. – unbegrenzte 294
Paränetischer Duktus der KpV 352 – KpV als Gewissensbildung 186 Pathologisch 166 – pathologisch/praktisch 171, 183, 197 Pflicht (Verbindlichkeit, Nötigung) 28, 32–34, 40, 43, 45, 65, 88, 99, 117, 174 f., 190 – Handeln aus Pflicht, nicht aus Liebe 176, 182 – Pflichtenlehre 151 – Pflicht – Neigung 177–182 Postulate 63, 69, 97, 107, 189 – drei Fassungen des Gottespostulats 285
Sachen – Dreierzahl 316–318 – epistemischer Stellenwert 293–296, 308 ff., 314–316 Problemstellung der KpV 59, 75, 124 Progressus (unendlicher) 184, 277–280, 361
– Tatsachenurteil 72 – Wesensurteil 72
Religion 301–303 Rigorismus 143, 179, 181, 185, 189, 193, 343
Verallgemeinerung (Universalisierbarkeit) 38–40, 124 Voluntarium in causa 209f.
Selbstliebe 91, 107, 159, 165 f., 198 Selbstzufriedenheit 118, 258, 267 f., 299 Stoiker 189, 257, 299 f., 346 Triebfeder 49, 161–163, 193, 300 – Gottes Existenz als Triebfeder 288 – Wechsel in der Triebfeder-Lehre 289f. Tugend 35, 178, 182, 185 – Strebungen im Dienst der Sittlichkeit 177–181 Urteil – Setzung einer Synthesis 72, 237 – als Kriterium für die Erkenntnis der Wirklichkeit 128, 315 f., 337
379
(Das) Unbedingte 230, 236–239 – als Totalität des Gegenstandes 235f.
Wille 93, 126 – allgemeiner Wille 42–44, 51, 67 – als rationales Strebevermögen 139, 146, 163 f. – Bestimmungsgrund des Willens (Handlungsmotiv) 86–89, 91, 93, 110 f., 116, 124, 174, 193 – Tafel aller Bestimmungsgründe 119 Wille – Willkür 109, 149, 167–170 Würde des Menschen 35, 111 f., 341, 360 f. Zwei-Welten-Theorie 61, 123, 191, 208 f., 210, 216–218, 221 f., 227, 263