Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne: Eine theoretische Betrachtung und eine Interpretation des Falls Brasilien [1 ed.] 9783428473625, 9783428073627


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German Pages 257 Year 1992

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Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne: Eine theoretische Betrachtung und eine Interpretation des Falls Brasilien [1 ed.]
 9783428473625, 9783428073627

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MARCELO NEVES

Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne

Schriften zur Rechtstheorie Heft 150

Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne Eine theoretische Betrachtung und eine Interpretation des Falls Brasilien

Von Marcelo Neves

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme Neves, Marcelo: Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne : eine theoretische Betrachtung und eine Interpretation des Falls Brasilien / von Marcelo Neves. — Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 150) Zugl.: Bremen, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-7362-2 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin 49 Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-07362-2

Zur Einführung Das Konzept der Verfassung, das in den demokratisch legitimierten Staaten der sogenannten „westlichen" Welt vertreten wird, entstammt der Ideenwelt des politischen Liberalismus, ist also in seinen Grundlagen mehr als zweihundert Jahre alt. Kaum irgendeine Institution der Moderne hat dieses Alter erreicht. Der Zusammenbruch der sozialistischen Systeme des Ostens und die unübersehbare Schwäche der antiliberalen Polemik religiöser, romantischer oder gar platonischaristotelischer Provenienz lassen dieses Verfassungskonzept gleichsam konkurrenzlos überleben. Gewiß hat sich manches geändert. Vor allem ist die Bildung politischer Parteien hinzugekommen, womit in Philadelphia 1787 und in Paris 1790/91 niemand gerechnet hatte. Dadurch ist einiges, etwa die Gewissensbindung der Abgeordneten, zur Floskel geworden. Politik wird gebündelt, bevor sie die verfassungsmäßig vorgesehenen Organe erreicht. Das heißt auch, daß die Breite der Interessenbeteiligung, auf die Madison Wert legte, nicht die vorgesehene Bedeutung erlangt hat. Sie wird ersetzt durch die Einschätzung des Stimmgewichts von Interessengruppen von Seiten der politischen Parteien. Die politische Garantie der Unantastbarkeit des Eigentums, nach liberaler Einschätzung eine unerläßliche Voraussetzung für die Möglichkeit politischen Dissenses und öffentlicher politischer Opposition, ist nach wie vor unentbehrlich. Die politischen Zugriffe auf Eigentum haben allerdings Ausmaße angenommen, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts niemand vorstellen konnte; aber dies gerade deshalb, weil sie im Schutze der Verfassung vollzogen werden und nicht die Form der Enteignung annehmen. Der Wohlfahrtsstaat hat sich ausgewirkt, vor allem in der Rechtsprechung zu Grundrechtsfragen. An der Bindung der Grundrechte an die Form subjektiver Rechte kommt man trotzdem schwer vorbei; denn wer anders als der Rechtsinhaber soll entscheiden, ob er sein Recht wahrnimmt oder nicht. Dem Grundrechtsprogramm ist ein Werteprogramm entnommen worden, das aber hauptsächlich dazu dient, den Gesetzgeber verfassungsgerichtlichen Kontrollen zu unterwerfen. Damit kommen Abgrenzungen zwischen Politik und Justiz zunehmend ins Gleiten. Wir haben schließlich eine alte Diskussion über Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, die all diese Variationen ausmalt — und dabei stehen bleibt. Die Darstellung der brasilianischen Verfassung, ihrer Geschichte und ihrer gegenwärtigen Wirklichkeit, die Marcelo Neves vorlegt, verfolgt ganz andere Ziele. Sie bemüht sich nicht um eine Anpassung des liberalen Diskurses an die tatsächlich gegebenen Verhältnisse. Sie setzt dessen Sinngebung voraus. Ihr geht es um die Frage, ob diese Gedankenwelt überhaupt auf die brasilianische Gesellschaft übertragbar ist.

2

Zur Einführung

Die Typik des konstitutionellen Staates hat sich in den Ländern der Zentren moderner Gesellschaft bewährt — oder so scheint es jedenfalls. Sie ist nach der Art eines kulturellen und politischen Imperatives von wohl allen Staaten der Welt übernommen worden. Ohne Verfassung kann man sich keinen Staat denken. Wo Staaten neu gegründet werden oder eine Revolution durchleben, scheint es unvermeidlich zu sein, eine Verfassung schriftlich zu fixieren; denn wie anders sollte man jetzt Adressen und Regeln für politische Aktivitäten erkennen? Schon in der ersten, sich entkolonialisierenden Gesellschaft, den ehemals englischen Kolonien Nordamerikas, war Verfassunggebung die Form gewesen, sich die nationale und politische Einheit vor Augen zu führen. Seitdem gehören Textcorpus und einige wenige organisatorische Optionen (Präsidialprinzip oder parlamentarische Demokratie, Verfassungsgerichtsbarkeit) zu den kanonischen Beständen. Anderes, etwa eine unabhängige Zentralbank, zählt aus mehr zufälligen Gründen des historischen Zuspätkommens nicht zum formellen, sondern allenfalls zum materiellen Verfassungsrecht. Die Bill of Rights ist im Laufe des 19. Jahrhunderts aufgenommen worden. Einige Staatszielbestimmungen kommen hinzu. Die Textmasse ist gewachsen. Juristen rechnen unbefangen damit, sie auf sehr verschiedene Verhältnisse übertragen zu können — wie einst die Transplantationen des römischen Zivilrechts oder der großen europäischen Kodifikationen des 18. und 19. Jahrhunderts. Aber trifft diese Voraussetzung zu, wenn man über die semantische Ebene der Texte hinausblickt? Und wenn nicht: woran genau scheitert der Versuch? Die begrifflichen Instrumente seiner Analyse bezieht Neves aus dem hierzulande üblichen Theoriearsenal. Auch wenn systemtheoretische, also kontroverse, Positionen einbezogen werden, steckt darin zunächst nichts Ungewöhnliches. Das Recht wird als positives Recht gesehen, die moderne Gesellschaft als bestimmt duch funktionale Differenzierung. Daraus ergibt sich dann aber zwanglos die Schlüsselfrage: Setzt positives Recht bei allem Streit um Legitimität des Gesetzes- bzw. Richterrechts nicht zunächst einmal Ausdifferenzierung eines Rechtssystems mit funktionaler Autonomie und Selbstorganisation voraus? Ist nicht, ungeachtet aller Werte und Interessen, die berücksichtigt werden, zunächst einmal zu erwarten, daß rechtlich geregelte Entscheidungen überhaupt durch das Recht bestimmt werden? Und mehr noch: daß Verhaltensweisen, die rechtlicher Beurteilung unterliegen, im Streitfalle überhaupt unter dem Gesichtspunkt von Recht und Unrecht behandelt und dem geltenden Recht unterworfen werden? Neves geht davon aus, daß diese Voraussetzungen in Brasilien nicht erfüllt sind. Auch in Brasilien muß man zwar seine Hotelrechnungen bezahlen, will man die Schwierigkeiten vermeiden, die anderenfalls auch hierzulande üblich sind. Aber es kommt eine sehr hohe Verflechtung von Staat und Wirtschaft hinzu, die so aussieht, als ob sie zum Zwecke der Korruption erfunden sei; ferner die nur begrenzte, selektive Verfügbarkeit der Polizei; und schließlich mehr und mehr: die Unregulierbarkeit der physischen Gewalt. Unter solchen Bedingungen

Zur Einführung

kann man von Autonomie des Rechts kaum sprechen, und wenn das Recht nicht selbstbestimmt operiert, hat auch die Superstruktur einer Verfassung wenig Einsatzmöglichkeiten. Das Problem liegt nicht nur in der Verfassungsmäßigkeit des Rechts, es liegt vorab schon in der Rechtgemäßheit der Verfassung. Und es hat eine Form und ein Ausmaß, das sich der Korrektur durch wohlmeinendes, gesetzestreues Verhalten im Einzelfall entzieht. Soll ein Richter nur in den von der Verfassung vorgesehenen Fällen verhaften lassen, auch wenn er weiß, daß der Beschuldigte, in Freiheit gelassen, ermordet werden wird? Neves' soziologische Interpretation zielt auf Zweifel in der Frage, ob man in einem solchen Falle überhaupt von funktionaler Differenzierung des Gesellschaftssystems sprechen kann. Man sieht außerdem, wie stark das frühmoderne, dann liberale und schließlich das heutige Konzept der Gesellschaft dem Recht — warum gerade dem Recht? — eine tragende Rolle zugewiesen hatte. Das Recht ist danach selbst ein ausdifferenziertes System — und eben deshalb in der Lage, Trennfunktionen in anderen Bereichen (Religion/Politik, Religion/ Wissenschaft, Politik/Massenmedien, Wirtschaft/Politik) zu garantieren. Andererseits: wenn nicht funktionale Differenzierung, welches Konzept würde dann die Lage in Brasilien erklären? Klassenherrschaft oder Ausbeutung der Massen durch eine kleinere Oberschicht? Sicher nicht, denn wenn man den Zustand der unteren Schichten ansieht, dann findet man hier weder etwas zu beherrschen noch etwas auszubeuten. Es ist einfach kein einsetzbares Potential vorhanden — und das bei einem rasch wachsenden Teil der Bevölkerung. Das weist auf Probleme hin, auf die weder die Klassentheorie marxistischer oder postmarxistischer Provenienz noch das übliche Konzept funktionaler Differenzierung der Gesellschaft eine Antwort weiß. Sind damit diese Theorien widerlegt? Aber wie, wenn nicht durch eine andere Theorie? Vielleicht erlauben die geschilderten Sachverhalte schon, wahrzunehmen, daß weitere Unterscheidungen sich den viel zu einfach gebauten Theorien unserer Tradition überlagern. Vielleicht besagt die Realisierung funktionaler Differnzierung auf weltgesellschaftlicher Ebene mit einer hohen Eigendynamik von Wirtschaft, Wissenschaft, Massenmedien, Politik noch lange nicht, daß die entsprechenden Bedingungen sich auch regional realisieren lassen. Und vielleicht gibt es inzwischen schon Anzeichen für eine vorgeordnete, primordiale Differenz, die den Zugang zu den Vorteilen funktionaler Differenzierung reguliert, nämlich die von Inklusion und Exklusion, mit der das System nicht zuletzt auf unkontrolliertes demographisches Wachsen reagiert. Das würde bedeuten, daß die Gesellschaft in Brasilien auf doppelte Weise integriert ist, nämlich positiv durch das Netzwerk der Gefälligkeiten, der Gunsterweise, der Patron/Klient-Verhältnisse, der Korruptionen und negativ durch den praktischen Ausschluß vieler von der Teilnahme an allen Funktionssystemen, wobei ein Ausschluß (kein Ausweis, keine Arbeit, kein regelmäßiges Essen, keine elementare Bildung, keine Kranken-

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Zur Einführung

Versorgung, keine Sicherheit von Leib und Leben) die jeweils anderen zwangsläufig mit sich bringt. Dann findet aber auch das Recht auf beiden Ebenen der positiven und der negativen Integration keinen Rückhalt in den Einstellungen und Erwartungen der Bevölkerung. Und Einstellungen sind allemal stärker als Texte. Man möchte hoffen, daß die Abhandlung von Marcelo Neves nicht nur als Information über die etwas exotischen Rechtsverhältnisse in einem Lande der peripheren Moderne gelesen wird, sondern auch dazu anregt, darüber nachzudenken, in welcher Gesellschaft wir heute leben. Niklas Luhmann

Inhaltsverzeichnis Einleitung

9 Erster Teil Eine theoretische Betrachtung Kapitel I Positivierung des Rechts

1. Die Dichotomie Tradition/Modernität

11

2. Positives Recht: Ein mehrdeutiger Ausdruck

17

3. Positivierung des Rechts (Luhmann) 3.1. Das Recht im Kontext des Gesellschaftssystems 3.2. Die Entwicklung zur Positivierung des Rechts 3.3. Positivität als Gesetztheit und Änderbarkeit des Rechts 3.4. Positivierung des Rechts und Verrechtlichung 3.5. Die politische und die wirtschaftliche Voraussetzung der Positivierung des Rechts 3.6. Der „Engpaß" der Evolution des positiven Rechts

21 22 24 27 30

4. Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts (Luhmann) 4.1. Soziale Systeme als selbstreferenzielle Systeme 4.2. Die Ausdifferenzierung des Rechtscodes. Positivität als Kombination normativer Geschlossenheit und kognitiver Offenheit des Rechts 4.3. Positivität des Rechts und postmodernistische Ansätze

32 33 34 34 37 41

Kapitel II Die Verfassungskonzeption 1. Herkömmliche Verfassungsbegriffe

45

2. Ein systemtheoretischer Verfassungsbegriff

50

3. Verfassungstext und VerfassungsWirklichkeit 3.1. Die Beziehung von Verfassungstext und Verfassungs Wirklichkeit als Konkretisierung von Verfassungsnormen 3.2. Verfassungskonkretisierung und Semiotik 3.3. Verfassungstext und symbolische Politik

56

4. Die Klassifizierung der Verfassung von Karl Loewenstein: Eine Reinterpretation

56 58 61 65

Inhaltsverzeichnis

6

Kapitel III Recht und Verfassung in den peripheren Ländern 1. Die periphere Modernität 1.1. Der Anstoß: Die entwicklungstheoretische Diskussion 1.2. Periphere Moderne in systemtheoretischer Perspektive 2. Externe Asymmetrisierung des Rechtssystems über normative Orientierung 2.1. Semantische Präzisierung 2.2. Externe Normasymmetrisierung des Rechtssystems unmittelbar im Moment der Rechtssetzung 2.3. Externe Normasymmetrisierung des Rechtssystems im Laufe des Konkretisierungsprozesses 2.4. Zwischenresümee 3. Die Bedeutung der Verfassung für die periphere Modernität 3.1. Externe Asymmetrisierung des Rechtssystems auf der Verfassungsebene. Zwischen Verfassungsnominalismus und Verfassungsinstrumentalismus 3.2. Der Verfassungsnominalismus: Implikationen für das Rechtssystem .... 3.2.1. Import von Verfassungsmustern versus Verfassungs Wirklichkeit der peripheren Länder 3.2.2. Die Beziehung von Sub- und Überintegration in das Verfassungssystem versus das Prinzip der Nicht-Identifikation der Verfassung 3.2.3. Verrechtlichende Verfassunggebung versus entrechtlichende Verfassungswirklichkeit 3.2.4. Symbolische Verfassunggebung bzw. Verfassungstexte 3.2.5. Die „gag rules" versus die nominalistischen Verfassungen 3.3. Übergang zum Verfassungsinstrumentalismus 3.4. Das Abwechseln zwischen Verfassungsnominalismus und Verfassungsinstrumentalismus

72 72 75 81 81 82 83 88 89 89 91 91 94 98 104 106 107 109

Zweiter T e i l Eine Interpretation des Falls Brasilien Vorbemerkungen

110 Kapitel IV

Entstehungszusammenhänge und Wirkungsbedingungen der brasilianischen Verfassungstexte. Ein Überblick 1. Die Verfassungscharta von 1824

116

2. Die Verfassungsurkunde von 1891

122

3. Der Verfassungstext von 1934

126

4. Die Verfassungscharta von 1937

129

5. Der Verfassungstext von 1946

132

Inhaltsverzeichnis

6. Der Verfassungsbruch von 1964: ,Atos Institucionais' und Verfassungstexte von 1967/1969

135

7. Der Verfassungstext von 1988

140

8. Der Teufelskreis von Verfassungsnominalismus und Verfassungsinstrumentalismus

144

Kapitel V Verfassung und Umwelt des Rechtssystems 1. Verfassung und Gesellschaft. Funktionsprobleme 1.1. Verfassung, Rechtsfunktion und Rechtscodierung 1.2. Grundrechte als Institution 1.3. Wohlfahrtsstaatliche Verfassungseinrichtungen versus Exklusion 1.4. Zwischenresümee 2. Die Verfassung und die Beziehung des Rechtssystems zu anderen sozialen Systemen. Leistungsprobleme 2.1. Verfassung und Konfliktlösung als Leistung des Rechtssystems im allgemeinen 2.1.1. Ausdifferenzierung der konfliktlösenden Leistung des Rechts .... 2.1.2. Verfassungsrecht und konfliktlösende Leistung des Rechtssystems in Brasilien 2.1.3. Konfliktlösende Leistung des positiven Rechts und Konflikte innerhalb der Marginalisierten: ein Beispiel 2.1.4. Die Konflikte um das Eigentumsrecht zwischen Sub- und Überintegration: ein Beispiel 2.1.5. Schlußfolgerung 2.2. Verfassung und spezifische Leistung des Rechtssystems an das politische System 2.2.1. Rechtsregulierung des Wahlverfahrens 2.2.2. Die Trennung von Politik und Verwaltung 2.2.3. Die Gewaltenteilung 2.2.4. Gegenleistung und strukturelle Kopplung

147 147 151 155 160 160 160 160 162 164 166 168 169 170 177 179 180

Kapitel VI Verfassung und Rechtssystem. Reflexionsprobleme 1. Elementare Selbstreferenz und Legalität 183 1.1. Der Begriff der elementaren bzw. basalen Selbstreferenz 183 1.2. Legalität als elementare Selbstreferenz: das Problem der Illegalität in Brasilien 185 2. Reflexivität und Verfassungsmäßigkeit 2.1. Begriff der Reflexivität 2.2. Verfassungsmäßigkeit als umfassendste Reflexivität im Rechtssystem 2.3. Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit in den brasilianischen Verfassungstexten: Bedeutung für die Reflexivität im Rechtssystem 2.4. Mangelhafte Relevanz der Verfassungsmäßigkeit als Maßstab der Rechtsentwicklung

192 192 193 195 203

8

Inhaltsverzeichnis

3. Reflexion und Legitimität 3.1. Reflexionsbegriff und Ebenen der Reflexion im Rechtssystem 3.2. Reflexionsprobleme des Rechtssystems in Brasilien 3.3. Legitimationsbegriff 3.4. Legitimationsproblem in Brasilien

204 204 205 211 213

Literaturverzeichnis

216

Namenregister

248

Einleitung In der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, im Spannungsfeld der Verfassungstheorie und Rechtssoziologie eine interdisziplinäre Diskussion über die Problematik der Verfassungs- und Rechtsentwicklung der peripheren Länder zu eröffnen. Daß die Untersuchung einen interdisziplinären Anspruch erhebt und darüber hinaus auf zwei unterschiedlichen Argumentationsebenen — einer abstrakten, allgemein-theoretischen (erster Teil) und einer konkreten, auf den Fall Brasilien gerichteten (zweiter Teil) — entwickelt wird, erfordert die Handhabung sehr heterogener Ansätze. Daraus soll sich aber auf keinen Fall eine eklektische Zerstreuung ergeben. Als Leitgedanke dient die Konfrontation der Konzepte der Verfassung und Positivität des Rechts im Rahmen der systemtheoretischen Begrifflichkeit Luhmanns mit der Rechts- und Verfassungswirklichkeit der peripheren Gesellschaften. Es handelt sich aber auch weder um eine Widerlegung noch um eine Bestätigung der sehr abstrakten theoretischen Konstruktion Luhmanns, sondern um eine kritische Infragestellung ihrer konkreten Anwendbarkeit bzw. Anwendungsgrenze: die Warnung vor leichtfertigen Übertragungen einer Theorie auf die peripheren Länder, die eher im Hinblick auf die zentrischen Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas an empirischer Plausibilität gewinnt. Dennoch, insofern es um ein und dieselbe Weltgesellschaft geht und gleichzeitig die empirische Plausibilität der begrifflichen Konstruktion in Frage gestellt wird, beinhaltet die folgende Darstellung „Irritationen" für Luhmanns Modell der funktionalen (horizontalen) Systemdifferenzierung als dominierenden Prinzips der modernen (Welt-)Gesellschaft und damit für seine Konzeption der Positivierung des Rechts. Andererseits wird die Luhmannsche Rechtssoziologie als Gegenmittel gegen die Tendenz zum Rechtssoziologismus in den peripheren Ländern eingesetzt. Die soziologische Jurisprudenz kann lediglich zur Auflösung der Autonomie des Rechtssystems beitragen bzw. dessen Entdifferenzierung fördern, keineswegs zur adäquaten Problemlösung führen. Hier wird davon ausgegangen, daß das Problem der Funktion und Leistung des Rechtssystems unter den Bedingungen der Unterentwicklung eher in der mangelhaften operativen Geschlossenheit gegenüber der gegenläufigen Umwelt liegt als in der kognitiven Geschlossenheit. Dieses Buch ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil werde ich zunächst Überlegungen über das Konzept der Positivität des Rechts (Kap. I.) und den Verfassungsbegriff (Kap. II.) anstellen, all dies unter besonderer Berücksichtigung der Luhmannschen Auffassung, obwohl sie mit anderen theoretischen Konstellationen in Zusammenhang gebracht wird (Kap. I.I., Kap. II.3. und 4.) und

10

Einleitung

herkömmliche Konzeptionen des positiven Rechts und der Verfassung zwecks semantischer Präzisierung in Betracht gezogen werden (Kap. I.2., Kap. II.l.). Daraus soll eine allgemein-theoretische Erörterung über die Relevanz des positiven Rechts und der Verfassung für die peripheren Teilgesellschafte/z der modernen (Welt-)Gesellschaft folgen (Kap. III.). Im Lichte dieser theoretischen Betrachtung soll im zweiten Teil der Fall Brasilien interpretiert werden. Zunächst wird ein Überblick über die „Verfassungsentwicklung" Brasiliens vorgelegt (Kap. IV.); hier sollen Hinweise auf Ereignisse und bibliographische Quellen der Information insbesondere der deutschen Leser dienen. In einem engeren Zusammenhang mit der Luhmannschen Systemtheorie werden zuletzt die Probleme der Fremdreferenz und Selbstreferenz des Rechtssystems in der brasilianischen Erfahrung anhand der Begriffe der Funktion (Kap. V.l.), Leistung (Kap. V.2.) und Reflexion (Kap. VI.) behandelt. Speziell für den zweiten Teil sind noch einige Vorbemerkungen ausgeführt (S. 110-115). Die vorliegende Untersuchung wurde nicht als das Endergebis theoretischer Überlegungen konzipiert, sondern als Ausgangspunkt eines Theorieansatzes über die Auseinanderentwicklung des Rechts- und Verfassungssystems in „Zentrum" und „Peripherie" der modernen Gesellschaft.

Erster

Teil

Eine theoretische Betrachtung Kapitel I

Positivierung des Rechts 1. Die Dichotomie Tradition / Modernität Daß der Begriff,Positivierung des Rechts' mit dem Konzept,moderne Gesellschaft' in einem engen Zusammenhang steht,1 rechtfertigt hier einige Vorbemerkungen über die Dichotomie »traditionelle/moderne Gesellschaft'. 2 Was die Klassiker der Soziologie betrifft, dienten schon die Tönniesschen Konzepte der Gemeinschaft und Gesellschaft als Problemstellung für die späteren Diskussionen über die Moderne. Ausgehend von den psycholgischen Begriffen ,Wesenswille' und ,Kürwille' 3 unterscheidet Tönnies die („alte") Gemeinschaft („organische Bildung") von der („neuen") Gesellschaft („mechanische Bildung") 4 u. a. durch die folgenden Merkmale: 1. wesentliche Verbundenheit versus wesentliche Trennung des Menschen5; 2. Gefühls- versus Zweckorientierung der Tätigkeiten 6 ; 3. Geschlossenheit versus Offenheit 7; 4. Vergangenheits- versus Zukunftsbezug 8. Abgesehen vom Psychologismus9, dem Pessimismus10 und dem ι Vgl. ζ. B. Luhmann, 1981b. In bezug auf die heutige Lebensführung läßt sich hierbei in Anlehnung an Offe (1986) der Ausdruck „Gütekriterium" verwenden, ohne daß damit aber dessen „normative" Implikationen übernommen werden müssen. 3 Vgl. Tönnies, 1979: 73 ff. 4 Vgl. Tönnies, 1979: 3-6. 5 Tönnies, 1979: 34. 6 Tönnies, 1979: 74 u. 106 ff. 7 ,AHes vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben (so finden wir) wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt" (Tönnies, 1979: 3). » Vgl. Tönnies, 1979: 73. 9 Vgl. Blüm, 1967: 77 ff. 10 Vgl. Blüm, 1967: 111. Zum Briefwechsel zwischen Tönnies und H. Höffding über die Frage des Sozialpessimismus siehe Jacoby, 1971: 72 ff. Siehe auch den ersten Brief Höffdings an Tönnies (vom 2.7.1888) und die Antwort Tönnies' an Höffding (vom Okt. 1888), in: Blüm, 1967: 145-157. 2

12

1. Teil, Kap. I: Positivierung des Rechts

Fatalismus11 als innewohnende Kennzeichen des Tönniesschen Werks ist anzumerken, daß sich in seinem Beitrag embryonale Formen der später sozialwissenschaftlich entwickelten Begriffe der sozialen Differenzierung, Zweckrationalität und Zukunftsoffenheit befinden. Besonders die Begriffe »Verbundenheit4 und »Trennung4 lieferten schon Elemente für die heutigen Diskussionen über den neuzeitlichen Mangel an einheitlicher Verhaltensorientierung. Durch die Unterscheidung zwischen der durch „repressives Recht" geschützten mechanischen Solidarität und der durch »»restitutives Recht" geschützten organischen Solidarität drückt sich bei Durkheim die Dichotomie Tradition / Modernität aus. 12 Erstere beruhe auf den Ähnlichkeiten und impliziere den segmentären Typus der sozialen Strukturen, 13 letztere hingegen setze Unähnlichkeiten voraus, 14 hänge von der Arbeitsteilung ab 15 und entspreche dem „organisierten" Typus der sozialen Strukturen. 16 Seiner evolutionären Perspektive nach spricht Durkheim von fortschreitendem Übergewicht der organischen Solidarität. 17 Dieser Evolutionsvorgang habe in erster Linie eine moralische Bedeutung: „ . . . die ökonomischen Dienste, die sie leisten kann, [sind] gering, verglichen mit der moralischen Wirkung, die sie hervorruft, und ihre wahre Funktion besteht darin, zwischen zwei oder mehreren Personen ein Gefühl der Solidarität herzustellen." 18 Hinzu tritt die Luhmannsche Kritik an der moralischen Grundlage des Begriffs von Arbeitsteilung bei Dürkheim. 19 „ A m meisten erstaunt vielleicht," so Luhmann, „erstaunt vor allem bei einer nach Karl Marx entworfenen Theorie, daß die Effekte des Geldmechanismus, Moral in der Interaktion zu neutralisieren, π Vgl. Blüm, 1967: 112-114. 12 Vgl. Durkheim, 1986: 35-102, dt. 1977: 111-173 (I. Buch, 2. und 3. Kap.). 13 Vgl. Dürkheim, 1986: 149-57, dt. 1977: 215-22 (I. Buch, 6. Kap., Abschn. I.). 14 „Trotzdem genügen nicht irgendwelche Unähnlichkeiten, um diese Wirkung hervorzurufen. [ . . . ] Es handelt sich also nur um die Unterschiede einer bestimmten Art, die sich zueinander hingezogen fühlen. Es sind diejenigen, die, statt sich zu widersetzen und auszuschließen, sich gegenseitig ergänzen." (Durkheim, 1986: 18; zit. nach der dt. Übers., 1977: 95). Vgl. im Widerspruch dazu Souto, 1984: 58 f. 15 „Aber die Arbeitsteilung ist nicht nur der ökonomischen Welt eigentümlich; man kann ihren zwingenden Einfluß in den verschiedensten Gebieten der Gesellschaft beobachten" (Dürkheim, 1986:2; zit. nach der dt. Übers., 1977:80). „Einerseits setzt Durkheim soziale Differenzierung noch wie im 19. Jahrhundert mit Arbeitsteilung gleich, sprengt aber andererseits diesen Begriff zum Beispiel durch Hereinnahme des Funktionsunterschiedes der Geschlechtsrollen" (Luhmann, 1984 a: 111 Anm. 30). 16 Vgl. Durkheim, 1986: 157-67, dt. 1977: 222-31 (I. Buch, 6. Kap., Abschn. II). Hier ist zu bemerken, daß Dürkheim im Gegenteil zu Tönnies mit den Begriffen »mechanisch* und »organisch* jeweils auf das Alte und das Neue hinweist. Daß sich Dürkheim optimistisch und Tönnies pessimistisch gegenüber der Neuzeit zeigen, läßt sich also durch deren Übernahme des damals einflußreichen moralischen Organizismus in Zusammenhang mit der Interpretation der modernen sozialen Strukturen jeweils als organisch oder mechanisch erklären. π Vgl. Dürkheim, 1986: 119-76, dt. 1977: 188-239 (I. Buch, 5. und 6. Kap). is Dürkheim, 1986: 19; zit. nach der dt. Übers., 1977: 96. 19 Vgl. Luhmann, 1977: insb. 25 ff.

1. Die Dichotomie Tradition/Modernität

13

außer acht bleiben." 20 Diese „Blindstelle", das Außerachtlassen der moralneutralisierenden Folgerungen der modernen Arbeitsteilung, hängt damit zusammen, daß die organische Solidarität immer noch einen traditionellen Mechanismus darstellt: „Für Luhmann [ . . . setzt... ] diese Solidarität immer noch zwar hochgeneralisierte, aber doch für alle Subsysteme gemeinsame gesellschaftliche Normen . . . " 2 1 Jedoch, was das Konzept der Modernität anbelangt, trug die klassische Konzeption der Arbeitsteilung Dürkheims zur Problemstellung, nicht zur Problemlösung bei. 22 Unter dieser Perspektive ist die Durkheimsche Relevanz für die spätere sozialwissenschaftliche Konstruktion des Begriffs »soziale Differenzierung' als Merkmal der Moderne besser zu verstehen. Webers Ansatz der Modernität hebt den Prozeß der Rationalisierung der Gesellschaft heraus. Nach den verschiedenen Bestimmungsgründen zeichnet sich das soziale Handeln als traditional, affektuell, wertrational oder zweckrational aus.23 Den beiden ersten (irrationalen) Typen entspricht die soziale Beziehung »Vergemeinschaftung 4, den letzten (rationalen) die soziale Beziehung »Vergesellschaftung 4 . 24 Was das rationale Handeln betrifft, geht es aber um eine Einstufung in dem Maß, wie sich gegenüber dem zweckrationalen das wertrationale Handeln als irrational kennzeichnet.25 In Zusammenhang damit klassifiziert Weber die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft: (kraft Satzung geltende) rationallegale Herrschaft, traditionale und (außeralltäglich-affektuelle) charismatische Herrschaft. 26 Die Modernisierung impliziert also die durch die Legalrationalisierung der Herrschaft institutionalisierte Zweckrationalisierung der Lebensführung. Obgleich sich von wertrationalen „Startbedingungen" (protestantische Ethik) sprechen läßt, stellt sich aus der Weberschen Konzeption heraus, daß die Entwicklung der zweckrationalen Vergesellschaftung die Abkoppelung der Wirtschaft und des Rechts von ihren ethischen (wertrationalen) Grundlagen erforderte. 27 So wirkt das moralneutralisierte formale Recht als normativ-institutionelle Ordnung des zweckrational funktionierenden freien Marktes und des strategischen Machtkampfes. 28 Webers Perspektive entsprechend bedeutet Modernität in erster Linie 20 Luhmann, 1977: 31 f. 21 Teubner, 1982: 46. 22 Vgl. Luhmann, 1977: 19. 23 Vgl. Weber, 1985: 12 f.; Schluchter, 1979: insb. 191-195; Habermas, 1982 a I: 379-384. 24 Weber, 1985: 21-23 25 Vgl. Weber, 1985: 13. „Webers vier Typen des Handelns44, so Schluchter (1979: 191), „ . . . scheinen entlang einer Rationalitätsskala angeordnet44. In dieser Skala stehe das „rein" traditionale Handeln auf der Grenze sinnhaften Handelns gegen ein „bloß reaktives Sichverhalten" (Webern 1985: 2). 26 Vgl. Weber, 1968 a, 1985: 124 ff. 27 Vgl. Habermas, 1982 a I: 314 u. 330. Das gilt auch für das moderne Naturrecht (vgl. Weber, 1985: 502). 28 Vgl. z. B. Weber, 1985:198. Dazu s. auch die kritische Interpretation von Habermas, 1982 a I: 331 ff. Über die rational-formalen Qualitäten des modernen Rechts und die

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1. Teil, Kap. I: Positivierung des Rechts

Zweckrationalismus, zu Ungunsten der traditionalen, affektuellen und (irrationalen) wertrationalen Bestimmungsgründe des sozialen Handelns; aber das impliziert wechselseitig soziale Differenzierung. Geht man auf Marx zurück, läßt sich feststellen, daß bei ihm bereits die Modernisierung der Gesellschaft als die moralneutralisierende zweckrationale Ausdifferenzierung der Wirtschaft und des Staats begriffen wurde. 29 In diesem Sinn hob er hervor: „Erst in dem 18. Jahrhundert, in der »bürgerlichen Gesellschaft', treten die verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem einzelnen als bloßes Mittel für seine Privatzwecke entgegen, als äußerliche Notwendigkeit." 30 Sogar der Begriff Gerechtigkeit lasse sich nach den zweckrationellen Regeln des Marktes messen.31 Wenn es beschreibend möglich ist, diese Parallele zwischen Marx und Weber zu ziehen, ist der radikale Unterschied zwischen den jeweiligen Erklärungsmustern offensichtlich zu beachten. Das eine geht „von oben" (protestantische Ethik) aus 32 , das andere „von unten" (Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen) 33. Aber, was hier interessiert, ist das Herauslesen, daß für beide Modernität als moralneutralisierende zweckrationale Ausdifferenzierung des Wirtschafts-, Politik- und Rechtssystems zu verstehen ist. Habermas' „Rekonstruktion" 34 der Weberschen und Marxschen Beiträge zum Begriff der Moderne vermißt in beiden die Berücksichtigung des normativen Aspekts des Konzepts.35 Indem Habermas das zweckrationale (instrumentale und strategische) von dem kommunikativen Handeln unterscheidet, 36 behauptet er den zweckrationalen Reduktionismus in beiden Konzeptionen der Modernität. Die Entstehung und Entwicklung der Moderne setzten die Evolution der Bewußtseinsstrukturen (post-konventionelle, universalistische Moral- und Rechtsvorstellung) voraus, d. h. sie hingen von einer autonomen Entwicklungslogik ab. 37 Die Gegentendenzen s. Weber, 1985: 503-513; vgl. auch die kritischen Betrachtungen von Teubner, 1982: insb. 14-16 u. 24 ff.; ders. u. Willke, 1984: insb. 20 f.; Eder, 1986: insb. 6-9. Kritisch gegenüber den „etikettierenden Begriffen »formal· und »material4" bei Weber drückt sich Luhmann (1987 a: 17) aus. 29 Vgl. Habermas, 1982 a I: 226. 30 Marx, 1982: 20. 31 Vgl. Marx, 1987: 351 f. Hier ist anzumerken, daß im Rahmen des heutigen Neoliberalismus — im Gegensatz also zur kritischen Einstellung von Marx — Nozick (1976: 143 ff.) in „normativer" Einstellung die Gerechtigkeit ausschließlich auf die Marktprinzipien zurückführt. 32 Habermas, 1982a I: 299 f. u. 307. 33 Siehe z. B. als klassische Stelle Marx, 1975: 8 f. Hierüber vgl. auch Zapf, 1975: 218. Über die Webersche und die Marxsche Perspektive zur Analyse der Strukturprobleme der modernen Gesellschaft s. Münch, 1982: 428-70. 34 Zum Begriff der „Rekonstruktion" s. Habermas, 1982 b: 9. 35 Vgl. Habermas, 1982b: 9-48, 1982a I: 207-366 (Kap. II). 36 Vgl. Habermas, 1969: 62-65, 1982a I: 384 ff. 37 Vgl. Habermas, 1982b: insb. 12 ff.

1. Die Dichotomie Tradition/Modernität

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empirische Hypertrophie der zweckrationalen Vergesellschaftung solle nicht bedeuten, daß sich das Konzept der Moderne darauf beschränkt. Das besagt ja: Die Modernität verwirklichte sich nur teilweise in dem Maß, wie die kontrafaktisch entworfene intersubjektiv-praktische Rationalisierung der Gesellschaft nicht zustande kam. 38 So fordert Habermas die Berücksichtigung der rational-kommunikativen, normativen Dimension des Begriffs goderne' . Unter diesem Gesichtspunkt ist es möglich, von einer (normativ) unmodernen (empirischen) Modernität zu sprechen. Obwohl die philosophische und sozialwissenschaftliche Bedeutung der Überlegung über die „Normrationalität" 39 als Dimension des Konzepts der Modernität anzuerkennen ist, gehe ich von einer empirischen Perspektive aus, in der Begründungsprobleme nur in dem Maß zu bedenken sind, wie sie tatsächlich soziale Wirkungen haben. Derart bleibt von Habermas besonders die Anerkennung, daß empirisch gesehen die Modernität der Zeitraum des (instrumentalen und strategischen) zweckrationalen Handelns ist. Mit Anspruch auf ein umfassenderes Erklärungsmuster für die Dichotomie »Tradition / Modernität 4 benutzt Niklas Luhmann in erster Linie das Kriterium »Komplexität4,40 an Hand dessen die (System-)Differenzierung und die (System-) Rationalität 41 als Merkmale der Moderne besser zu begreifen sind. Ausgehend vom Unterschied ,exogene / endogene Evolution4 und der Charakterisierung der drei Mechanismen der endogenen Evolution (Variierung, Selektion und Stabilisierung) 42 läßt sich nach dem Luhmannschen Muster verstehen, wie die zusammenhängende Steigerung der Umwelt- und Systemkomplexität43 zur Steigerung des Selektionszwangs führt. 44 Diesem Modell nach zeichnet sich die moderne Gesellschaft als hochkomplex aus. „Die moderne Gesellschaft, 44 so meint Luhmann, „ist im Hinblick auf Zahl, Verschiedenartigkeit und Interdependenz möglicher 38 Vgl z. B. Habermas, 1982a I: 304-306. Siehe auch in ähnlicher Perspektive Offe, 1986: 98 ff. 39 Über diesen Begriff vgl. Habermas, 1982b: 262. 40 „Unter Komplexität wollen wir verstehen, daß es stets mehr Möglichkeiten gibt, als aktualisiert werden können" (Luhmann, 1987 a: 31). Bei Luhmann setzt das Rationalitätsproblem die Frage voraus, „wie es möglich ist, durch Reduktion von Komplexität erfaßbare Komplexität zu steigern" (1987 b: 236). Im Hinblick auf die Luhmannsche Theorie behauptet Habermas (1982b: 261): „Systemrationalität ist die auf selbstgeregelte Systeme übertragene Zweckrationalität". Diese Interpretation ist m. E. deshalb nicht richtig, weil nach Luhmann im Vorgang der Reduktion von Komplexität die Zweckmodelle erst „eingesetzt werden, wenn die Probleme schon spezifischere Strukturen gewonnen haben, wenn also Komplexität schon weitgehend absorbiert ist" (Luhmann, 1973 a: 156; vgl. auch ders., 1983 a: 223, 1971: 294). 42 Vgl. Luhmann, 1981c: 14 ff. 43 „Der Motor der Evolution . . . ist die steigende Komplexität der Gesellschaft..." (Luhmann, 1987 a: 106). „Nach wie vor wird Evolution als Steigerung der Komplexität [ . . . ] begriffen" (Luhmann, 1981 c: 13). Parsons sprach von Steigerung der Anpassungsfähigkeit (vgl. ders., 1975: 40 und 46). 44 „Komplexität heißt also praktisch Selektionszwang" (Luhmann, 1987 a: 31).

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1. Teil, Kap. I: Positivierung des Rechts

Handlungen hochkomplex — sehr viel komplexer als irgendeine der regional limitierten Gesellschaftsformationen älteren Typs." 45 Die Hochkomplexität impliziert Hochkontingenz46 und Zukunftsoffenheit 47 einerseits und erregt Selektionszwang und Systemdifferenzierung andererseits. In diesem Zusammenhang wird dann die funktionale Systemdifferenzierung als Kennzeichen der modernen Gesellschaft aufgefaßt. 48 Das Luhmannsche Modell unterliegt aber einer anderen Lektüre, in deren Rahmen das empirische Konzept der Modernität erweitert wird. Eine Gesellschaft ist ja modern in dem Maße, als sie einen Hochgrad an Komplexität, Kontingenz und Zukunftsoffenheit erreicht. Das erfordert zwar systemrationale Funktionsdifferenzierung; aber deren Verwirklichung ist sehr oft unzulänglich, ohne daß die Gesellschaft weniger komplex, kontingent und zukunftsoffen wird (vielleicht wird sie komplexer, kontingenter und zukunftsoffener). Es handelt sich hier nicht um ein „Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt" als „Antrieb und Regulativ der Evolution". 49 Es geht ja um nicht hinreichend komplexe „Kopplungen zwischen System und Umwelt", die das Degenerieren der „entsprechenden Erwartungssicherheit" hervorbringen 50 und ein Übermaß an neuen Problemen (mehr Möglichkeiten) auftauchen lassen. In diesem Fall besteht keine adäquate selektive Beziehung zwischen (komplexen) Systemen und ihren jeweiligen (komplexen) Umwelten: Es fehlt an adäquater Steigerung der Systemkomplexität und entsprechender Reduktion der Umweltkomplexität. Es gibt einen hochgradigen Mangel an Funktionsfähigkeit und Leistungsfähigkeit der differenzierten Systeme; sie sind nicht in der Lage, Komplexität hinreichend zu strukturieren, zu bestimmen.51 Diese Situation kennzeichnet sehr oft die peripheren Länder, insofern sie im Weltmarkt integriert sind und an den internationalen Beziehungen teilnehmen. Hiernach scheint mir möglich zu sein, in der heutigen Weltgesellschaft von einer 45 Luhmann, 1981 d: 80. 46 „Unter Kontingenz wollen wir verstehen" — so definiert Luhmann (1987 a: 31) —, „daß die angezeigten Möglichkeiten weiteren Erlebens auch anders ausfallen können, als erwartet wurde". Er behauptet dann (1987 a: 136): „Das Prinzip der Entwicklung ist die steigende Komplexität und Kontingenz der Gesellschaft". 47 „Gesellschaften, die die Schwelle zur Hochkultur überschreiten, distanzieren sich von ihrer Vergangenheit und öffnen sich ihrer Zukunft in weit stärkerem Maße . . . " (Luhmann, 1987 a: 344). 48 Vgl. ζ. B. Luhmann, 1981 e: 159. Für Parsons findet die zentrale Entwicklung beim Übergang der „intermediären" zur modernen Gesellschaft in der Institutionalisierung autonomen Rechtssystems statt (vgl. ders., 1975: 46 u. 48). 49 Luhmann, 1987 a: 136. 50 Luhmann, 1981 f: 96. 51 Über den Unterschied zwischen strukturierter und unstrukturierter Komplexität s. Luhmann, 1987a: 6 f., 1987b: 383. Parallel dazu schlägt er das Schema unbestimmte/ unbestimmbare versus bestimmte / bestimmbare Komplexität vor (vgl. z. B. ders., 1971: 300-302, 1975a: 209 ff.).

2. Positives Recht: Ein mehrdeutiger Ausdruck

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peripheren Modernität im Gegensatz zu einer zentrischen Modernität zu sprechen. Wenn als „normativ" die Behauptung anzuerkennen ist, daß wegen Mangels an regulativ-koordinierenden Mechanismen nicht die Gesellschaften der entwickelten (zentrischen) Länder, sondern ihre leistungsfähigen Teilsysteme modern sind, 52 wäre auch kontrafaktisch-normativ zu behaupten, daß wegen Mangels an systemrationaler Funktionsdifferenzierung die als kochkomplex, hochkontingent und zukunftsoffen charakterisierten Gesellschaften der Peripherie nicht modern sind. Zumindest darf man sie nicht als traditionale Gesellschaften behandeln: ihre „condition moderne" 53 ist zuzugeben. Ich komme bes. im Kap. III. 1. auf das Thema zurück.

2. Positives Recht: Ein mehrdeutiger Ausdruck Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nimmt der Ausdruck »positives Recht' eine sehr spezifische, genaue Bedeutung an. Dessen Vieldeutigkeit aber führt oft zu Ambiguitätsfallazien 54 im Laufe der rechts wissenschaftlichen, -soziologischen und -philosophischen Diskussionen. Um eine solche eventuelle Interpretation der hier entwickelten Argumentation zu verhindern, mache ich einige Bemerkungen über die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks, bevor ich mich spezifisch mit dem innerhalb dieser Arbeit verwendeten Begriff des positiven Rechts beschäftige (s. Abschn. 3. und 4. dieses Kap.). „Der Terminus ,positives Recht4 ist, historisch genommen, ein Überbleibsel der alten Teilung des Rechts in Naturrecht und positives Recht." 55 Nach dieser Dichotomie 56 fungiert das „ewige, „unabänderliche", „wesentliche", „vernünftige" (Natur-) Recht als Maßstab der Richtigkeit oder sogar der juristischen Qualität 57 des „wirklichen", „existentiellen", „änderbaren", „empirischen" (positiven) Rechts58. „Bald dient das Naturrecht einer tieferen Befestigung des gesetzten 52 In diesem Sinn vgl. Offe, 1986: insb. 106 u. 110. 53 Hier paraphrasiere ich Lyotard (1979), um zu behaupten: Wenn nicht das „Ziel" (die Ordnung der Hochkomplexität) oder die „Idee" (die Verwirklichung der emanzipatorischen Moralvorstellung) besteht, doch der moderne Zustand. 54 Über Ambiguitätsfallazien vgl. Copi, 1978: 91 ff. 55 Opalek, 1982: 449. 56 Zu deren Formulierungen in der abendländischen Überlieferung vgl. Bobbio, 1979: 5 -15. Im christlichen Naturrecht aber erweitert sich dieser Dualismus „zu einer Trichotomie: ius positivum, ius naturale humanum und ius divinum voluntarium, das unverrückbare Rechtsgebot der Offenbarung" (Wieacker, 1967: 262). Bei Thomas von Aquin (1977: 16 ff. — Frage 91) kommt das „ewige Gesetz" hinzu; vgl. auch Bobbio, 1979: 10 f. 57 Es hieß z. B. bei Thomas von Aquin, 1977: 97 (Frage 95, 2): „Somit hat jedwedes vom Menschen erlassene Gesetz soweit die Bewandtnis des Gesetzes, als es sich vom Naturgesetz herleitet. Wenn es hingegen irgendwo vom natürlichen Gesetz abweicht, ist es nicht mehr Gesetz, sondern eine Zerstörung des Gesetzes." Bei Kant gewinnt das positive Recht juristische Qualität nur im Rahmen des (Vemunfts-)Rechtsbegriffs (vgl. ders., 1986: 37 f.; auch Habermas, 1987 a: 7). 2 Neves

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1. Teil, Kap. I: Positivierung des Rechts

Rechts, bald gerade umgekehrt dem Kampfe gegen das gesetzte Recht." 59 Manchmal aber lassen die naturrechtlichen Konzeptionen „das Naturrecht im bestehenden Recht aufgehen." 60 Diesem Dualismus entsprechend impliziert der Terminus »positives Recht' einen sehr umfassenden Begriff: im allgemeinen wird unter positivem Recht die in menschlichen Gesellschaften der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wirklich herrschende normative Zwangsordnung verstanden. In diesem Sinn ist es nebensächlich, ob es sich um gesetztes oder Gewohnheitsrecht, um traditionales oder modernes Recht handelt. Es besteht keine Beschränkung auf eine bestimmte geschichtliche Entwicklungsstufe des Rechts oder auf spezifische Formen seiner „Erscheinung" 61 . Weist man die naturrechtlichen Voraussetzungen oder zumindest das „Naturrecht" (Rechtsidee) als konstitutive Dimension des Rechtsbegriffs zurück, so bedeutet positives Recht in all seinem möglichen historischen „Auftreten" das Recht überhaupt. 62 Die historische Rechtsschule führte einen neuen, besonderen Begriff des positiven Rechts ein. Als Volksrecht betrachtet lebe es „in dem gemeinsamen Bewußtsein des Volkes" 63 , dessen „Erzeuger und Träger" 64 . So seien das Gewohnheitsrecht, die Gesetze und das „wissenschaftliche Recht" Kennzeichen, Organe, Ergänzung oder Unterstützung des schon vorhandenen positiven Rechts.65 Obgleich Savigny anerkennt, daß in bestimmten Entwicklungsstufen und Zuständen der Geschichte jedes Volkes die Gesetzgebung ein Übergewicht hat, 66 stellt das 58 Luhmann behauptet den fortschrittlichen Charakter des Naturrechtsgedanken in dem Maße, als ,»nicht mehr alles Recht einheitlich auf Vergangenheit bezogen und aus der Überlieferung legitimiert wird. Dem Recht wird ein Teilbereich des Andersseinkönnens konzediert" (ders., 1981b: 119 f.). 59 Radbruch, 1973: 102. 60 So betrachtet Wieacker (1967: 269) die Naturrechtslehren Hobbes' und Rousseaus. In ähnlicher Einstellung s. Welzel, 1962, insb.: 116, 122 u. 156 f. Was Hobbes betrifft, ist zu bemerken, daß sein Naturrechtssystem nicht zu einer uneingeschränkten Rechtfertigung der Staatsgewalt dient: „Die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän dauert nur so lange, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger. Denn das natürliche Recht der Menschen, sich selbst zu schützen, wenn niemand dazu in der Lage ist, kann durch keinen Vertrag aufgegeben werden" (Hobbes, 1966: 171). Vgl. dazu Neumann, 1980: 128 ff.; Welzel, 1962: insb. 121. 61 Hobbes aber sprach spezifisch von den bürgerlichen Gesetzen, den durch Willensakt der Staatsgewalt gesetzten Regeln (vgl. Hobbes, 1966: 203). Bei Bodin (1977: 150) macht das positive Recht eine hierarchische Struktur aus (von unten nach oben): (1) Verträge und Testamente zwischen einzelnen, (2) Edikte der Magistrate, (3) Gewohnheitsrecht und (4) Gesetze des souveränen Fürsten. 62 Vgl. Somló, 1917: 130; Stammler, 1922:94 f., 1911:120 f., 123; Opalek 1982:449. 63 Savigny, 1840: 14. 64 Savigny, 1840: 20. Nach Kelsen ist die Savigny sehe Theorie des Volksrechts eine Variante der Naturrechtslehre so wie die Theorie der „solidarité sociale" von Léon Duguit (vgl. Kelsen, 1983: 233 f., 1946: 126 f). Über die Theorie der „solidarité sociale" s. Duguit, 1901: insb. 16-105. 65 Vgl. Savigny, 1840: 35 ff.

2. Positives Recht: Ein mehrdeutiger Ausdruck

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positive Recht (Volksrecht) bei ihm ein traditionales Recht dar, insofern dessen „stete Erhaltung . . . durch Tradition" bewirkt wird, und diese „durch den nicht plötzlichen, sondern ganz allmählichen Wechsel der Generationen" bedingt und begründet ist. 67 Der Inhalt des Gesetzes, des Organs des Volksrechts (positiven Rechts), sei dieses schon vorhandene traditionale Volksrecht. 68 Die methodologische Diskussion dieses Jahrhunderts zwischen Rechtspositivismus und Rechtsrealismus wirft die Frage auf, ob das positive Recht ein ideales Sinngefüge oder ein reales Phänomen ausmacht. Bei Kelsen bildet das positive Recht eine auf der vorausgesetzten Grundnorm 69 gegründete ideal-normative Zwangsordnung. 70 Die Effektivität der Rechtsordnung als Ganzes und die Wirksamkeit einer einzelnen Norm seien lediglich Bedingung ihrer Geltung, kein Geltungsgrund. 71 Die generellen und individuellen Normen ließen sich als idealer objektiver Sinn von Willensakten interpretieren. 72 Aber Kelsen beschränkt den Begriff des positiven Rechts weder auf das legislative (lato sensu) noch auf das moderne Recht. Er betont, daß die Geltung des Gewohnheitsrechts nicht von dessen Anerkennung im Gesetzesrecht (Verfassung, Gesetzen) oder durch die Gerichte abhängt.73 Die Aufhebung der Gesetzes- und sogar der Verfassungsnormen durch Gewohnheitsrecht sei juristisch-positiv immer möglich. 74 In diesem letzten Fall (Verfassungsnormen) beruhe das Gewohnheitsrecht unmittelbar auf der Grundnorm. 75 Damit zusammenhängend machen auch die primitive Rechtsordnung sowie das Völkerrecht positives Recht aus. 76 In dieser Perspektive bildeten archaisches Recht, Recht der vorneuzeitlichen Hochkultur und modernes Recht, als ideal-normative Zwangsordnungen, im gleichen Maße positives Recht, was sehr umstritten macht, unter diesem Aspekt „eine weitgehend kongruente Darstellung" bei Kelsen und Luhmann zu behaupten.77

66 Vgl. Savigny, 1840: 17 f., 42 f., 50 f. 67 Savigny, 1840: 20. 68 Savigny, 1840: 39. 69 Über die „vorausgesetzte" Grundnorm als Geltungsgrund einer Rechtsordnung s. Kelsen, 1960: insb. 200 ff.; Bobbio, 1960: 51 ff. Indem Kelsen später die Grundnorm als eine Fiktion kennzeichnet, entzieht er ihr den Charakter einer Hypothese (vgl. ders., 1979: 206 f.). 70 Vgl. Kelsen, 1960: passim. Was spezifisch die staatliche Rechtsordnung betrifft, vgl. ders., 1966: 13 ff. 71 Vgl. Kelsen, 1960: insb. 218 f., 1979: 112 f., 1946: 41 f. u. 118-20. 72 Vgl. Kelsen, 1960: 4-9, 1979: 2. Dagegen s. Luhmann, 1987a: 43 f. 73 Kelsen, 1946: 127 f., 1960: 9 u. 230-35. 74 Vgl. Kelsen, 1946: 119 u. 260, 1960: 220 u. 232 f. 75 Vgl. Kelsen, 1960: 229 u. 232. 76 Vgl. Kelsen, 1946: 338-41, 1960: 64, 289 f., 323 f. Er beobachtet aber, daß die „dezentralisierte Zwangsordnung der primitiven Selbsthilfe" Recht in statu nascendi ist (ders., 1946: 339). 77 Wie trotzdem H. Dreier (1983: 427) vorschlägt. Auf den Luhmannschen Begriff der Positivierung gehe ich in den beiden nächsten Abschn. ein. 2*

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1. Teil, Kap. I: Positivierung des Rechts

Im epistemologischen Gegensatz zu Kelsens Auffassung definiert Alf Ross das positive Recht als ein reales Normsystem. 78 Die Positivität der juristischen Normen beruhe auf der Wirklichkeit des sozialen Willens und setze ein System koordinierter Willenshandlungen voraus. 79 Von diesem Gesichtspunkt aus kann man sagen, „daß das Recht Funktion einer Willenstotalität ist" 8 0 , und daraus schließen: „Die Positivität einer Norm liegt so, richtig ausgedrückt, in ihrer Zugehörigkeit zu einem System, das Funktion einer entsprechenden wirklichen Willenstotalität ist." 8 1 Abgesehen von den erkenntnistheoretischen Besonderheiten der Ross'sehen Konzeption der Positivität (Willenstotalität - » Geltung der Normen) 82 ist im Rahmen dieser Arbeit zu bemerken, daß bei ihm positives Recht einfach „existierendes", „wirkliches", „geltendes" Recht bedeutet.83 Das Konzept weist nicht auf einen bestimmten geschichtlichen Moment der Rechtsevolution hin und umfaßt also auch traditionales Recht. In einer wertbezogenen Perspektive nimmt der Begriff der Positivität bei Radbruch einen anderen Platz ein als in der methodologischen Diskussion ,Rechtspositivismus / Rechtsrealismus4. Indem das Recht als „die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen " 8 4 , und Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit als Bestandteile der Rechtsidee85 begriffen werden, wird behauptet, die Rechtssicherheit fordere die Positivität des Rechts,86 d. h. diese sei die Dimension des Rechts, die der Rechtssicherheit als Bestandteil der Rechtsidee diene. Aber die Anforderungen der Rechtssicherheit könnten in Widerspruch zur Positivität treten in dem Maße, wie im Interesse der Rechtssicherheit derogatorisches Gewohnheitsrecht oder revolutionäres Recht geltend gemacht werden. 87 Hiernach nimmt der Begriff des positiven Rechts unter zwei Aspekten einen engeren Sinn an: 1. da die Positivität der Rechtsidee diene, sei positives Recht Voraussetzung der (ideellen) Richtigkeit des Rechts und habe die Aufgabe, inhaltlich richtig zu sein; 88 2. die Positivität beschränkt sich auf das durch eine Machtfestgesetzte Recht. 89 Andererseits aber hat das Konzept eine umfassendere Bedeutung, insofern nicht ausschließlich auf das

78 Vgl. Ross, 1929: insb. 279-88. 79 Ross, 1929: 280. so Ross, 1929: 285. 81 Ross, 1929:286. Im Unterschied zu Stammler kennzeichnet Ross weder den „sozialen Willen" als eine selbständige Realität noch die Positivität als deren „Durchsetzbarkeit" (vgl. Ross, 1929: 285; Stammler, 1922: 98, 1911: 117). 82 In kritischer Einstellung zu einer solchen Konstruktion s. Luhmann, 1981 g: 217 f. 83 Ross 1929: 279 f. 84 Radbruch 1973: 119. 85 Vgl. Radbruch, 1973: 164 ff. 86 Radbruch, 1973: 164-166. 87 Radbruch, 1973: 167. 88 Radbruch, 1973: 165. Anders vgl. Somló: 1917: 126. 89 Vgl. Radbruch: 1973: 165 f.

. Positivie

des Rechts (Luhmann)

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moderne Recht verwiesen wird: die Festsetzung des Rechts findet man im Altertum und im Mittelalter, ohne daß dem Recht die Merkmale der Gesetzheit und Änderbarkeit zugeschrieben werden können (s. unten S. 27). Eine andere Richtung nimmt die Diskussion über den Begriff des positiven Rechts, wenn die Streitfrage aufgeworfen wird, ob die Positivität in der Rechtssetzung, -anwendung oder -befolgung liegt. In dieser klassischen Auseinandersetzung tendieren der Gesetzespositivismus90, die Freirechtsbewegung und der soziologische Rechtsrealismus 91 dazu, die Positivität des Rechts jeweils im Gesetz (lato sensu: den durch die staatlichen Organe gesetzten generell-abstrakten Normen), in der schöpferischen Aktivität der Richter oder in der Rechtsbefolgung bestehen zu lassen. Die Einseitigkeit solcher Perspektiven macht offensichtlich das Verständnis des Rechtsphänomens schwierig. 92 Der Sinn der Rechtssetzung ist erst im Rahmen der Rechtsanwendung und Rechtsbefolgung zu begreifen; umgekehrt gewinnen die rechtsanwendenden Tätigkeiten und das rechtsbefolgende Verhalten ihren juristischen Sinn im Rahmen des gesetzten Rechts. Die wechselseitige Implikation dieser Dimensionen des Juristischen — oder systemtheoretisch ausgedrückt: das zirkuläre Verhältnis zwischen diesen Elementen93 — weist auf den umfassenderen und komplexeren Charakter des Begriffs des positiven Rechts hin. Andererseits aber haben die obengenannten einseitigen Perspektiven nicht die Absicht, das Konzept des positiven Rechts auf eine bestimmte Phase der Rechtsgeschichte, das moderne Recht, zu beschränken. Selbst im Gesetzespositivismus waren die Gesetzheit und Änderbarkeit als Merkmale des positiven (modernen) Rechts nicht klar. 94

3. Positivierung des Rechts (Luhmann) In der vorliegenden Arbeit wird Luhmanns Begriff der Rechtspositivität verwendet, ohne damit die system- und evolutionstheoretische erklärende Dimension des Konzepts uneingeschränkt zu übernehmen. Strategisch aber wird in diesem 90

Zu einem Überblick über den Gesetzespositivismus s. Bobbio, 1979: insb. 54 ff., 67 ff. Spezifisch über die Wirkung des Gesetzespositivismus auf das Privatrecht s. Wieacker, 1967: 458 ff. 91 Über diese beiden ,»realistischen" Strömungen s. zusammenfassend Larenz, 1975: 64-74. 9 2 Vgl. dazu Opalek, 1982: 453 ff. Dieser Autor (1982: 452 ff.) versucht aufzuzeigen, wie der philosophische Begriff der Positivität von A. Comte (»positiv4 als ,real', »nützlich4, »sicher4, »exakt4 und »konstruktiv4 im Gegensatz zu »imaginär4, ,unergiebig4, ,labil4, ,unklar4 und »destruktiv4) die rechts wissenschaftliche Diskussion über das Konzept des positiven Rechts beeinflußte und zu Schwierigkeiten führte. Vgl. dazu Comte, 1987: 63-69 (Abschn. 30-33). 9 3 Vgl. dazu Luhmann, 1983 b: 140 f. 94 Hierzu erklärt Luhmann (1981 h: 434): „Eine (unvermeidlich brisante, hochkontingente) theoretische Konzeption von Positivität blieb der neu sich etablierenden bürgerlichen Gesellschaft erspart44.

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1. Teil, Kap. I: Positivierung des Rechts

und im nächsten Abschnitt die Luhmannsche Konzeption des positiven Rechts behandelt, ohne eine bestimmte kritische Stellung einzunehmen. D. h.: ich beabsichtige hier, innerhalb der systemtheoretischen Begrifflichkeit die Rechtspositivität aufzufassen, und so immanent verankert erst unten (ab dem Kap. III.) die eventuellen theoretisch-erklärenden Unzulänglichkeiten oder Anwendungsgrenzen zu betrachten. Im Rahmen der mit ihm direkt zusammenhängenden systemtheoretischen Begrifflichkeit ist Luhmanns Konzept des positiven Rechts besser zu erfassen. Deren Behandlung wird im folgenden zusammenfassend unternommen.

3.1. Das Recht im Kontext des Gesellschaftssystems Bei Luhmann spielt die Unterscheidung ,normative / kognitive Erwartungen* eine zentrale Rolle. 95 Die normativen Erwartungen implizieren prinzipiell eine nichtlernende, lemunwillige Einstellung der Erwartenden zu den Enttäuschungsfällen. Gegenüber der enttäuschenden Wirklichkeit sind die Erwartenden nicht bereit zu lernen. Sie halten an ihren Erwartungen fest, protestieren gegen die Wirklichkeit, sind nicht anpassungsfähig. Bei kognitiven Erwartungen demgegenüber behalten die Erwartenden eine lernwillige Einstellung zu den Enttäuschungsfällen. Für sie ist die Lernbereitschaft kennzeichnend. Die Erwartenden zeigen sich in der Lage, sich der Wirklichkeit anzupassen, auf ihre Erwartungen in Enttäuschungsfällen zu verzichten oder sie zu verändern. 96 Kurzum: während normative Erwartungen „durch die Entschlossenheit, aus Enttäuschungen nicht zu lernen", 97 ausgezeichnet sind, charakterisieren sich kognitive Erwartungen durch die Bereitschaft, sich auf die enttäuschende Realität umzustellen. Diese Dichotomie hängt mit dem klassischen Dualismus ,Sein / Sollen' zusammen. Bei Luhmann aber bedeutet der kontrafaktische Sinn des Sollens nicht dessen Idealität, Irrealität. Im direkten Gegensatz zu Kelsen (s. oben S. 19) behauptet er den faktischen Charakter des Sollens: „Obwohl kontrafaktisch ausgerichtet, ist der Sinn des Sollens nicht weniger faktisch als der Sinn des Seins. Faktisch ist alles Erwarten, seine Erfüllung ebenso wie seine Nichterfüllung. Das Faktische umfaßt das Normative. Die übliche Entgegensetzung von Faktischem und Normativem sollte deshalb aufgegeben werden. [ . . . ] Seinen adäquaten Gegensatz hat das Normative nicht im Faktischen, sondern im Kognitiven." 98

95 Vgl. hierzu Luhmann, 1987a: 40-53, 1987b: 436-43. 96 Vgl. Luhmann, 1987a: insb. 42,1981 b: 115 f., 1987b: insb. 437. „In dieser (unüblichen) Fassung ist die Unterscheidung von kognitiv und normativ weder semantisch noch pragmatisch definiert, weder auf das begründende Aussagensystem bezogen noch auf den Gegensatz von informierenden und direktiven Feststellungen, sondern funktional auf die Lösung eines bestimmten Problems" (Luhmann: 1987 a: 42). 97 Luhmann, 1987 a: 43, 1981b: 116.

. Positivie

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Außerdem wird betont, daß die Trennung von Sein und Sollen — und damit der Dualismus Cognitive / normative Erwartungen ' — ,»keine a priori vorgegebene Weltstruktur, sondern eine evolutionäre Errungenschaft" ist." So ist in einfacheren Gesellschaften die Unterscheidung von Normativem und Kognitivem noch nicht klar. 1 0 0 Andererseits ist zu bemerken, daß die Grenze zwischen normativen und kognitiven Erwartungen immer flüssig bleibt. „Die Gemengelage von kognitiven und normativen Erwartungskomponenten ist ein alltagsweltlich normaler Sachverhalt..." 1 0 1 Außerdem, was heute normative Erwartungen fördert, kann morgen kognitive Erwartungen erfordern, und umgekehrt: Inhalt gestriger kognitiver Erwartungen kann zum Inhalt heutiger normativer Erwartungen werden. Nach dieser Unterscheidung lassen sich Normen als „ kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen " 102 definieren. Der kontrafaktische Charakter bedeutet, daß die faktische Erfüllung oder Nichterfüllung der Normen prinzipiell irrelevant für ihre Geltung ist. 103 Der an Normen orientierte Erwartende wird nicht ihre Geltung im Fall der Nichterfüllung leugnen, sondern dieselbe bestätigen, insofern er an seinen Erwartungen festhalten und sich über das gegen die Normen verstoßende Verhalten beklagen wird. In bestimmtem Umfang aber kann die stetige Nichterfüllung der Normen ihre Geltung so beeinträchtigen, daß das Festhalten an den jeweiligen Erwartungen als „abnormal", „unsinnig", „lächerlich" oder sogar „gefährlich" erscheinen kann. In diesen Fällen stützen sich die normativen Erwartungen nicht mehr auf sozial geltende Normen (ich komme noch an anderen Stellen auf dieses Thema zurück). Die Normen begriffen als kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen, definiert Luhmann das Recht „als Struktur eines sozialen Systems, die auf kongruenter Gener alisier ung normativer Verhaltenserwartungen beruht. " 104 Diese kongruente Generalisierung umfaßt die Zeit-, Sozial- und Sachdimension, d. h. sie stützt sich auf die Normierung, Institutionalisierung und Sinnidentifikation als Generalisierungsmechanismen. 105 Im Hinblick auf die natürliche Inkongruenz 98 Luhmann, 1987 a: 43 f. Hiergegen schreibt Cossio (1964: insb. 554 f., 1965) in einer sehr komplizierten und verwirrenden Konstruktion den Normen als „Verhaltensbegriffen" kognitive Qualität zu. 99 Luhmann, 1987 a: 44. 100 Luhmann, 1981b: 116. Siehe dazu in anderer Perspektive Kelsen, 1982: 7 ff., 1960: 86-88. ιοί Luhmann, 1987b: 438; vgl. dazu auch ders., 1987a: 44-46. 102 Luhmann, 1987 a: 43; vgl. auch ders., 1981c: 17. 103 Luhmann, 1987 a: 43. 104 Luhmann, 1987a: 105. An anderer Stelle (1987a: 99) wird das Recht einfach als diese „kongruent generalisierten normativen Verhaltenserwartungen" bezeichnet. Anders formuliert heißt es, daß „das Recht umfassende Funktionen der Generalisierung und Stabilisierung von Verhaltenserwartungen [erfüllt]" (Luhmann, 1974: 24). 105 Vgl. Luhmann, 1987 a: 94 ff. Hier bezieht sich das Konzept der Institutionalisierung nur auf die Sozialdimension (unterstellten Konsens) (vgl. auch Luhmann, 1987 a: 64 ff.); aber an anderer Stelle nimmt der Begriff »Institution4 eine umfassende Bedeutung an:

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dieser Generalisierungsmechanismen, die ein Strukturproblem jeder Gesellschaft bildet, hat das Recht seine gesellschaftliche Funktion. 106 Diese funktional-selektive Aufgabe des Rechts besagt weder das Glauben an die Rechtsnormen noch die Zustimmung der Erwartenden zur geltenden Rechtsstruktur. Die kongruent generalisierten normativen Verhaltenserwartungen genießen keine allgemeine inhaltliche Zustimmung, sondern lediglich „besondere Prominenz und Sicherheit" 1 0 7 , welche die instrumenteile oder expressive Anpassung der Betroffenen an die jeweiligen Normen fördern. 108 Die wechselseitige Orientierung an den kongruenten generalisierten Verhaltenserwartungen stabilisiert die sozialen Kommunikationen zwischen Erwartenden, oder zumindest reduziert sie die Instabilität auf Erträgliches. 109 Andererseits müssen sich sogar die Verbrecher, die erfolgreich sein möchten, „negativ" an dem Recht als kongruent generalisierten Verhaltenserwartungen orientieren. 110 Die revolutionäre Gruppe kann sich nicht naiv von den geltenden Normen abwenden: um ihnen zuwiderzuhandeln oder sogar dieselben aufzuheben, muß sie sie als kongruent generalisierte Verhaltenserwartungen betrachten. 1 1 1 Derart werden die „besondere Prominenz und Sicherheit" bestimmter Verhaltenserwartungen unabhängig von inhaltlicher Zustimmung oder Glauben der Handelnden durch das Recht hervorgehoben.

3.2. Die Entwicklung zur Positivierung des Rechts Wie aber das Recht diese kongruent generalisierende Funktion erfüllt, variiert stark im Laufe der Geschichte. Laut Luhmann unterscheidet man drei Hauptstufen der gesellschaftlichen Evolution: die archaischen Gesellschaften, die vorneuzeitlichen Hochkulturen und die moderne Gesellschaft. Die archaischen Gesellschaften „gründen sich primär auf das Prinzip der Verwandtschaft" 112 und werden segmen„Institutionen sind zeitlich, sachlich und sozial generalisierte Verhaltenserwartungen und bilden als solche die Struktur sozialer Systeme" (Luhmann, 1965: 13). 106 Vgl. Luhmann, 1987 a: 95-98. 107 Luhmann, 1987 a: 99 los über instrumentelle und expressive Variable s. Luhmann, 1983 a: 223-32, 1987 a: 315 ff. 109 Dementsprechend behauptet Luhmann (1987 a: 100): „Recht ist keinesfalls primär eine Zwangsordnung, sondern eine Erwartungserleichterung." no Trotz anderer Voraussetzungen („auf Glauben beruhende Geltung") äußert sich Weber (1985: 16 f.) ähnlich dazu. m Selbstverständlich kann man nicht mehr von kongruenter Generalisierung der Verhaltenserwartungen sprechen, falls der Mangel an Befolgung und Durchsetzung eine bestimmte Grenze überschreitet, von welcher an das Recht seine erwartungssichernde Funktion verliert. In anderer Perspektive macht Weber (1985: 17) eine ähnliche Bemerkung. Nach Geigers „realistischer" Auffassung wäre die „Geltung" oder Verbindlichkeit der Rechtsnormen graduell, meßbar (vgl. Geiger, 1970: insb. 207 ff.; kritisch dazu Luhmann, 1987 a: 43 Anm. 32). Ich komme darauf unter III.2.3. zurück. 112 Luhmann, 1987 a: 148.

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tär ausdifferenziert. Sie zeichnen sich durch Alternativlosigkeit aus. 113 Die vorneuzeitlichen Hochkulturen sind „unvollständig funktional", nach hierarchischem Organisationsprinzip differenziert. 114 Die moderne Gesellschaft wird durch die Hochkomplexität, Hochkontingenz und Zukunftsoffenheit gekennzeichnet und beruht auf der funktionalen Differenzierung (s. oben S. 15 f.). 1 1 5 Jeder dieser drei Stufen der gesellschaftlichen Evolution entspricht nach Luhmann ein bestimmter Grundtypus des Rechts, d. h. eine spezifische Grundform, die kongruente Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen zu erreichen und zu sichern. „Wir begnügen uns mit einer Grobeinteilung je nachdem, ob es ausdifferenzierte rechtliche Entscheidungsverfahren nicht gibt oder gibt und ob diese sich nur auf Rechtsanwendung oder auf Rechtssetzung beziehen. [ . . . ] In diesem Sinne unterscheiden wir das archaische Recht, das Recht der vorneuzeitlichen Hochkulturen und das positive Recht der modernen Gesellschaft." 116 In den alternativlosen archaischen Gesellschaften wird das Recht in den Enttäuschungsfällen durch Selbsthilfe der Betroffenen oder ihrer Sippe behauptet. Die Institutionalisierung dieser unmittelbaren Reaktion des Enttäuschten macht ein rechtsdurchsetzendes Verfahren unvorstellbar. Das Recht wird primär nicht (instrumenteil) durchgesetzt, sondern durch den Verletzten (expressiv) sichergestellt und behauptet.117 Es wird konkret und gegenwärtig festgestellt, 118 so daß eine klare Trennung zwischen Norm und Handlung noch nicht besteht.119 Die zeitlichsachlich-soziale kongruente Generalisierung der Verhaltenserwartungen drückt sich durch Vergeltung und Reziprozität 120 , nicht durch Verfahren aus. Was die Π3 Luhmann, 1987 a: 148, 1981c: 28. 114 Vgl. Luhmann, 1987 a: 166 ff., 1981e: 159. h 5 Über die drei Stufen der gesellschaftlichen Evolution bei Luhmann s. zusätzlich Kiss, 1986: 50-59. h 6 Luhmann, 1987 a: 147. Diese dreistufige Typologie findet man auch bei Eder (1980: 158-66), obgleich seine Aufgliederung auf der Evolution der Moralvorstellung beruht. In Weberscher Perspektive unterscheidet Schluchter (1979: 145 ff.) offenbartes, traditionales, erschlossenes und gesatztes Recht je nachdem, ob der Inhalt und Geltungsbasis des Rechts in Handlung, Norm, metarechtlichem Prinzip oder rechtlichem Prinzip besteht. Dem dritten Typus (erschlossenes Recht) entspricht in der Luhmannschen Aufgliederung die naturrechtliche Übergangsphase zur Positivierung des Rechts (s. unten S. 26). Gurvitch (1940: 210-42, dt. 1960: 179-203) schlug eine siebenstufige Typologie vor. 117 Vgl. Luhmann, 1987 a: 150. us „So wird auch das Gottesurteil konkret und gegenwärtig als Rechtsfeststellung erlebt, aber nicht als Präjudiz für künftige Fälle oder gar als Offenbarung einer allgemeinen Regel ausgedeutet." (Luhmann, 1987 a: 154). 119 Vgl. Schluchter, 1979: 146. Nach Hart (1961: 89 ff., dt. 1973: 131 ff.) geht es um einen Komplex primärer Verpflichtungs-Regeln, welcher durch drei Hauptmängel gekennzeichnet ist: Unbestimmtheit, statischen Charakter und Unwirksamkeit. Das Heilmittel dagegen bestehe darin, die primären Regeln durch die drei Arten der sekundären Regeln (jeweils: Erkenntnis-, Änderungs- und Entscheidungsregeln) zu ergänzen (Hart, 1961: 91 ff., dt. 1973: 134 ff.). 120 Vgl. Luhmann, 1987a: 154-57.

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Evolution des archaischen Rechts betrifft, liegt der „Engpaß" im Mechanismus der Variation, d. h. in der Möglichkeit, ausreichende Variabilität an normativen Strukturen zu erreichen. 121 Das Recht der vorneuzeitlichen Hochkulturen impliziert die Institutionalisierung des Verfahrens der Rechtsanwendung.122 Das setzt eine hierarchische Differenzierung der Gesellschaften voraus, nach der die politische Herrschaft an der Spitze steht. So wird das Recht primär nicht durch die konkrete Behauptung der Parteien dargestellt, sondern durch Entscheidung Dritter gemäß abstrakten Normen und Werten angewandt bzw. durchgesetzt. Auf dem rechtsanwendenden Verfahren, das die Ungewißheit des Ausgangs voraussetzt, 123 beruht das Recht der vorneuzeitlichen Hochkultur in seiner Funktion kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen. 124 Aber die abstrakten Prinzipien und Normen, nach denen sich die rechtsanwendende Aktivität der Richter ausrichten soll, werden — selbst wenn durch Gesetzgebung eingeführt — nicht als änderbar vorgestellt. 125 Damit zusammenhängend wird das Recht „als wahr vorgestellt, das heißt trotz seiner Normativität dem Modus der Behandlung kognitiver Erwartungen unterworfen." 126 Nach dieser Betrachtungsweise läßt sich behaupten, daß der evolutive „Engpaß" im Recht der vorneuzeitlichen Hochkulturen im Problem der Selektivität bei zunehmend variierenden normativen Erwartungen liegt, also im Problem der „Kapazität von Entscheidungsverfahren", ihre selektive Funktion zu erfüllen. 127 Im Übergang der vorneuzeitlichen Hochkultur zur modernen Gesellschaft spielt die Konzeption des Naturrechts eine wichtige evolutionäre Rolle in Richtung auf die Positivierung des Rechts. Die Dichotomie .Naturrecht / positives Recht' (s. oben S. 17 f.) impliziert die Abgrenzung des Umfangs invarianten Rechts durch die Vorstellung variablen, änderbaren Rechts. 128 Aber nach der naturrechtlichen Auffassung bleibt noch immer Änderbares unter Unveränderbarem: Das positive Recht gilt demnach auf Grund seiner Konformität mit dem nicht veränderlichen Naturrecht. Der Geltungsanspruch der rechtsetzenden Entscheidung drückt sich durch die Berufung auf die naturrechtlichen Prinzipien aus. Es ist noch nicht die Vorstellung eines völlig und stetig änderbaren Rechts aufgetreten. Das kommt erst mittels der Positivierung des Rechts als Errungenschaft der modernen Gesellschaft auf. 129 121 Luhmann, 1981c: 27, 1987 a: 297; Teubner, 1989: 70, 1982: 36. 122 Hierüber s. Luhmann, 1987 a: insb. 171 ff. Nach Hart (1961: 94 f., dt. 1973: 138 f.) würde es sich hier um die Einführung der (sekundären) „Entscheidungsregeln" handeln (s. oben Anm. 119). Luhmann (1987 a: 79) spricht von „Institutionalisierung des Institutionalisierens von Verhaltenserwartungen." 123 Luhmann, 1987 a: 172, 1983 a: 116. 124 Luhmann, 1987 a: 182. 125 Luhmann, 1987a: 183. 126 Luhmann, 1987 a: 185. 127 Luhmann, 1987 a: 297, 1981c: 27 u. 29; Teubner 1982: 36, 1989: 70. 128 Vgl. Luhmann, 1987 a: 186, 1981b: 119 f.

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3.3. Positivität als Gesetztheit und Änderbarkeit des Rechts Durch Einführung des Verfahrens der Rechtssetzung als Kriterium der Geltung des Rechts entsteht in der Neuzeit die positive Rechtsordnung. Daß die Normen durch Gesetzgebung „auftreten", reicht nicht aus zur Kennzeichnung des positiven Rechts. Man findet Gesetzgebung bereits in frühen Hochkulturen. 130 Aber „trotz zugelassener Gesetzgebung war das Recht im Ganzen altes, kraft Wahrheit, sakraler Einsetzung oder Tradition geltendes, nicht aber hergestelltes, jederzeit änderbares, positives Recht." 131 Erst wenn die Gesetzheit und die Änderbarkeit zu Hauptmerkmalen des Rechts werden, läßt sich von Positivität sprechen. Die Setzung dient dann nicht mehr einfach zur Feststellung oder Kompilation des schon geltenden Rechts, sondern sie fungiert als Grundlage der Rechtsgeltung.132 „Genaugenommen", betont Luhmann, „kann man von Positivität — wenn das heißen soll, daß das Recht auf Grund seiner Gesetzheit gilt — erst sprechen, seitdem die Setzung, also die Entscheidung, Rechtsgrundlage geworden ist." 1 3 3 In- und Außerkrafttreten der Rechtsnormen hängen also in erster Linie von Entscheidungen ab. Dementsprechend definiert Luhmann: „Unter positivem Recht sind Rechtsnormen zu verstehen, die durch Entscheidung in Geltung gesetzt worden sind und demgemäß durch Entscheidung wieder außer Kraft gesetzt werden können." 134 Man könnte einwenden: Schon bei Weber ist deutlich gemacht worden, daß sich das moderne Recht, im Unterschied zu den normativen Ordnungen der traditionellen Gesellschaften, als kraft Satzung geltendes Recht kennzeichnet, was dessen stetige Revidierbarkeit impliziert. 135 Bei Luhmann aber nimmt m. E. das Konzept des positiven Rechts im Rahmen der systemtheoretischen Begrifflichkeit eine voraussetzungsvollere Bedeutung an. Im Zusammenhang mit Begriffen wie Komplexität, Kontingenz, Zukunftsoffenheit, Selektivität u. ä. gewinnt das Konzept der Rechtpositivität einen umfassenderen erklärenden Anspruch. Die Positivierung des Rechts kann erst unter den Bedingungen der hochkomplexen und -kontingenten modernen Gesellschaft Zustandekommen.136 Im Bereich 129 Hierzu s. im allgemeinen Luhmann, 1981b, 1987a: 190ff., 1983a: 141-50. 130 Luhmann, 1987 a: 192 ff., 1981b: 124 f. 131 Luhmann, 1987a: 195. Siehe ähnlich Weber, 1985: 131 132 Vgl. Luhmann, 1987 a: 196. 133 Luhmann, 1987 a: 203. 134 Luhmann, 1983 a: 141. „In der Ära des positiven Rechts", fügt Luhmann (1981b: 145) hinzu, „kann das Bewegliche nicht mehr auf das Feste gegründet werden; es muß umgekehrt das Feste auf das Bewegliche gegründet werden. Recht, das jeweils gilt, hat sein Recht zu gelten daraus, daß es geändert werden könnte" (vgl. auch ders., 1981b: 125). Jedoch macht er den Vorbehalt: „In einer positivierten Rechtsordnung kann zwar alles Recht durch Entscheidung geändert werden, aber nicht alles auf einmal" (1983 a: 149; vgl. auch 1987 a: 349). 135 Vgl. Weber, 1968a: 215 f., 1985: 125; Schluchter, 1979: 146. Trotz anderer Voraussetzung („Begründbarkeit") definiert Habermas (1982a I: 351 f., 1982b: 264) ähnlich die Positivität des Rechts.

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des Rechts äußert sich diese Situation durch den Überschuß an normativen Erwartungen. Die Komplexität erstreckt sich auf die Zeit-, Sach- und Sozialdimension: die verschiedenen Erwartungen ändern sich im Laufe der Zeit; die Zahl der juridifizierbaren Themen nimmt stark zu; die Erwartenden erheben die verschiedensten und widersprüchlichsten Ansprüche. 137 Die umweltliche Komplexität erfordert die komplexe selektive Einsetzung des Rechtssystems. „Zur Positivität gehört, daß das jeweils 4 geltende Recht als Selektion aus anderen Möglichkeiten bewußt wird und kraft dieser Selektion gilt." 1 3 8 Die Rechtsgeltung ergibt sich aus der selektiven Reduktion der Komplexität / Kontingenz durch Rechtssetzung, insofern die selegierten normativen Erwartungen kongruent generalisiert werden. Es handelt sich dann nicht um Herstellung des Rechts durch den Gesetzgeber. Das rechtssetzende Verfahren läßt sich als Filterungsprozeß kennzeichnen, der Gesetzgeber arbeitet also auf der Basis einer Fülle normativer Erwartungen. 139 Die selektive Funktion der Rechtssetzung in der modernen Gesellschaft impliziert ja die Hervorhebung des geltenden Rechts, d. h. der kongruent generalisierten normativen Verhaltenserwartungen, aus der Vielzahl prinzipiell inkongruenter normativer Erwartungen. Die Änderbarkeit des kraft Setzung geltenden positiven Rechts spiegelt die Zukunftsoffenheit der modernen Gesellschaft wider. Die schnell sich wandelnde Umwelt zwingt zu ständigen Veränderungen des Rechtssystems durch Entscheidungen. Das gegenwärtige Recht richtet sich jetzt nach der Zukunftsaussicht. Die Positivität führt dazu, daß „die Gegenwart als Konsequenz der Zukunft" gesehen wird. 1 4 0 Mit Geigers Worten: an die Stelle der retrospektiven Struktur der habituellen Normen tritt die prospektive Struktur der statuierten Normen (Satzung) auf. 141 Das Übermaß an gesellschaftlicher Komplexität im Hinblick auf die Zeit-, Sozial- und Sachdimension bringt einen Hochbedarf für selektive, kongruentgeneralisierende Einsetzung des Rechtssystems durch Normierung, Institutionalisierung und Identifikation von Erwartungszusammenhängen als Generalisierungsmechanismen. 142 Die Positivität läßt sich also als „gesteigerte Selektivität des Rechts" begreifen, 143 was die strukturelle Ausdifferenzierung und funktionale Spezialisierung des Rechtssystems voraussetzt. 144 Die selektive, kongruent gene-

136 Vgl. ζ. B. Luhmann, 1987a: 190-92. 137 Vgl. Luhmann, 1987a: 211 f., 1983a: 144, 1981b: 128 f. u. 132. 138 Luhmann, 1981b: 125. 139 Vgl. Luhmann, 1981b: 123, 1983a: 141 Anm. 2. 140 Luhmann, 1987a: 345. 141 Vgl. Geiger, 1970: 120-22. 142 „Die Gesellschaft wird überkomplex, da sie mehr Möglichkeiten konstituiert, als sie aktualisieren kann. Und sie braucht entsprechend wirksamere Selektionsmechanismen" (Luhmann, 1981b: 130). 143 Luhmann, 1987 a: 204.

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ralisierende Funktion des positiven Rechts ist dann auch ausschließend gegenüber einer Fülle normativer Verhaltenserwartungen. Es geht nicht um faktischen Konsens oder „volonté générale", sondern um Konsensunterstellung. 145 Abwicklung von Enttäuschungen durch Sanktion, Institutionalisierung durch Verfahren und Identifikation von Erwartungszusammenhängen durch Programme, 146 alles dies auf der symbolischen Funktion der physischen Gewalt 147 und einem hohen Niveau der Indifferenz gestützt, 148 führt zur instrumenteilen und auch expressiven Anpassung der Erwartenden an das Rechtssystem. Nach dieser systemtheoretischen Konstruktion aber ist nicht zu leugnen, daß das Recht seine selektive, kongruent generalisierende (ausschließende) Funktion zu ungunsten „unterer", „schwächerer" Gruppen, Klassen, Interessen erfüllt, sofern die funktional-horizontale Ausdifferenzierung als Medium der Selektivität die soziale Stratifizierung als Faktor der Selektion nicht ausschließt. Mit dem ausschließenden Charakter der kongruent generalisierenden Funktion des positiven Rechts hängt die konditionale Programmierung des rechtsprechenden Verfahrens zusammen.149 Über die Reduktion der Unsicherheit für die erwartenden Parteien, die Eröffnung von Variationsmöglichkeiten, die Technisierbarkeit und den Aufwand an Kommunikation 150 hinaus erlaubt die Wenn/DannBeziehung des konditionalen Programms „ die Entlastung von Aufmerksamkeit und Verantwortlichkeit für Folgen der Entscheidung. " 151 Gegenüber der konkret enttäuschten Partei bleibt der Richter von einer Rechtfertigung außerhalb des konditional programmierten Verfahrens befreit. 152 Das dient zur sogenannten „Unabhängigkeit der Gerichte" 153 und zur konkret politischen Neutralisierung des rechtsprechenden Verfahrens. 154 144 Hierzu s. im allgemeinen Luhmann, 1981 i, 1987a: 217-226. Vgl. auch ders., 1983 a: 145 f. 145 Vgl. ζ. B. Luhmann, 1981b: 132, 1987a: 67 f., 94 u. 261 f. 146 Vgl. Luhmann, 1987 a: 102 f. 147 Vgl. Luhmann, 1981b: 138-40, 1987a: 106-15 u. 262f. 148 Vgl. Luhmann, 1987 a: 212 f. 149 Über die konditionale Programmierung als Eigenschaft des positiven Rechts s. Luhmann, 1987a: 227-34, 1981b: 140-43, 1981 j: 275 ff., 1973a: 88 ff. (insb. 99). 150 Luhmann, 1987a: 229 ff., 1981b: 141-43. 151 Luhmann, 1987 a: 231. 152 „Man wird daher vermuten dürfen, daß eine Legitimation durch Verfahren nur in Verbindung mit konditionaler Programmierung des Entscheidens institutionalisiert werden kann" (Luhmann, 1983 a: 133). 153 Luhmann, 1987 a: 232. 154 Jedoch schließt konditionale Programmierung der rechtsprechenden Verfahren das „Richterrecht" nicht aus (vgl. Luhmann, 1981b: 127). Durch den Begriff der formalen Rationalität des Rechts (s. oben S. 13 f.) wurde bei Weber die konditionale Programmierung der rechtsprechenden Entscheidung betrachtet (für Luhmann aber sehr unzulänglich — 1987 a: 228 Anm. 43). Weber betonte den Zusammenhang mit dem Kapitalismus: „was er braucht, ist ein Recht, das sich ähnlich berechnen läßt wie eine Maschine" (Weber, 1985: 817).

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Das konditional programmierte rechtsanwendende Verfahren setzt im Rahmen des positiven Rechts das programmierende Verfahren der Rechtssetzung voraus. 1 5 5 Die unter Zweckgesichtspunkten politisch orientierte rechtssetzende Entscheidung ist in der Lage, die Einseitigkeit der Optik von Konditionalprogrammen zu korrigieren. 156 Es läßt sich behaupten, daß der Gesetzgeber unter Zweckprogrammen handelt. 157 Durch seine Tätigkeit erweist sich das normative Rechtssystem fähig zu lernen. Obgleich die entlastende Struktur in der Situation, die sie strukturiert, weder in Frage gestellt noch verändert werden darf, legitimiert sich ihre Veränderung auf der strukturierenden Ebene. 158 Die „schneilaufende" Umwelt erfordert eine kognitiv offene Einstellung des rechtssetzenden Verfahrens zur normativen Struktur. Normatives und Kognitives ergänzen sich im Interesse der Bestandserhaltung und Kontinuität des Rechtssystems. „Für das Recht", betont Luhmann, „wird eine solche Ordnung gleichzeitigen Nichtlernens und Lernens durch Positivierung erreicht." 159 Wie im nächsten Abschn. zu sehen ist (4.2.), bedeutet Positivität normative Geschlossenheit und kognitive Offenheit des Rechtssystems, d. h. bewußte Variabilität dessen normativer Struktur.

3.4. Positivierung des Rechts und Verrechtlichung Die Steigerung der Zahl der juridifizierbaren Themen infolge der Positivierung des Rechts 160 wirft die Frage nach dem Zusammenhang zwischen diesem geschichtlichen Vorgang und dem der Verrechtlichung der Gesellschaft auf. Begriffen „nach außen" als Ausdehnung des Rechts und „nach innen" als dessen Detaillierung und Spezialisierung (Verdichtung) 161 wird Verrechtlichung in drei Grundtypen eingeteilt: Vergesetzlichung, Bürokratisierung und Justizialisierung. 162 Die verrechtlichenden Wirkungen auf die Gesellschaft werden einerseits 155

Über die Differenzierung dieser Entscheidungsverfahren als Eigenschaft des positiven Rechts s. Luhmann, 1987 a: 234-42, 1981b: 133 ff. Neuerdings unterscheidet Luhmann (1990 a: insb. 10 ff.) analog die primär auf Interessen gerichtete Gesetzgebung (Fremdreferenz) und die primär an Begriffen orientierte Rechtsprechung (Selbstreferenz), und er bezeichnet diese Innendifferenzierung von Verfahren als „ Gegendifferenzierung, die bestimmte vorgefundene soziale Differenzierungen neutralisiert" (4 f.). 156 Luhmann, 1987 a: 234. 157 Luhmann, 1987 a: 241. Über die selektiv-legitimierende ergänzende Beziehung von Zweckprogrammen und Konditionalprogrammens. Luhmann, 1983 a: 130 ff., 1973 a: 101 ff. iss Vgl. Luhmann, 1981b: 128, 1987a: 238, 1983a: 146. 159 Luhmann, 1981b: 128. 160 Vgl. Luhmann, 1981b: 129, 1987a: 211, 1983a: 144. 161 Voigt, 1980: 16; Habermas, 1982a II: 524; Werle, 1982: 4. 162 Voigt, 1980: 18-23. Werle (1982: 5 f.) plädiert für die Begrenzung des Verrechtlichungsbegriffes auf die Zunahme von Gesetzen und Rechtsverordnungen in einem bestimmten Zeitraum. Hiergegen s. Voigt, 1983: 18 f., unter Berücksichtigung der „qualitativen Aspekte" der Verrechtlichung.

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negativ (Entfremdung, Bürokratisierung, „Kolonialisierung der Lebenswelt"), andererseits positiv (Freiheitssicherung, Statussicherung) beurteilt. 163 Nach Habermas lassen sich vier Phasen der Verrechtlichungsprozesse unterscheiden, die jeweils dem bürgerlichen Staat, dem bürgerlichen Rechtsstaat, dem demokratischen Rechtsstaat und dem sozialen und demokratischen Rechtsstaat entsprechen. 164 Die Verrechtlichung im bürgerlichen Staat führte zu den klassischen subjektiven privaten Rechten. Im bürgerlichen Rechtsstaat führte sie zu den liberalen subjektiven öffentlichen Rechten. Im demokratischen Rechtsstaat setzten sich die demokratischen subjektiven öffentlichen Rechte (Verrechtlichung des Legitimationsprozesses) „in Form des allgemeinen und gleichen Wahlrechts sowie der Anerkennung der Organisationsfreiheit für politische Verbände und Parteien durch." 165 Was spezifisch den sozialen und demokratischen Rechtsstaat anbelangt, impliziert Verrechtlichung die Entstehung der sozialen Rechte, den ausgleichenden Eingriff in die Klassenstruktur, die Intervention in die Ökonomie, die staatliche Sozialpolitik, die Rechtsregulierung der Familien- und Erziehungsverhältnisse. Im Hinblick auf diese „soziale und demokratische" Phase beurteilt Habermas die Verrechtlichung der Gesellschaft anhand der Unterscheidung zwischen dem „Medium Recht" und dem „Recht als Institution". Im ersten Fall „wird das Recht mit den Medien Geld und Macht so kombiniert, daß es selber die Rolle eines Steuerungsmediums übernimmt" 166 , wie im Bereich des Wirtschafts-, Handels-, Unternehmens- und Verwaltungsrechts. Unter Rechts Institutionen versteht Habermas „Rechtsnormen, die durch den positivistischen Hinweis auf Verfahren nicht hinreichend legitimiert werden können." 167 Indem sie zu „den legitimen Ordnungen der Lebenswelt" (Rahmen des Kommunikativen Handelns) gehören, bedürfen sie „einer materiellen Rechtfertigung." 168 Das Recht als Medium habe also konstituierende Kraft, das Recht als Institution nur regulative Funktion. 169 In dem Maße, wie das Recht fungiert als Medium in den informell geregelten Sphären der Lebens weit, wie ζ. B. das Familien- und Schulrecht, habe die Verrechtlichung negative, dysfunktionale Wirkungen. Hier spricht man von innerer Kolonialisierung der Lebenswelt: „Die These der inneren Kolonialisierung besagt, daß die Subsysteme Wirtschaft und Staat infolge des kapitalistischen Wachstums immer komplexer werden und immer tiefer in die symbolische Reproduktion der Lebenswelt eindringen." 170 Andererseits aber kann für Habermas die Verrechtli163 Voigt 1980: 30. 164 Habermas, 1982a II: 524 ff. Vgl. auch Voigt, 1983: 21 f.; Werle, 1982: 9 f. 165 Habermas, 1982 a II: 529. 166 Habermas, 1982a II: 536. 167 Habermas, 1982 a II: 536. 168 Habermas, 1982 a II: 536. 169 Habermas, 1982a II: 537. 170 Habermas, 1982a II: 539.

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chung auch positiven, funktionalen Charakter haben, wenn das Recht als Institution zugunsten des an Verständigung orientierten Handlungszusammenhangs der Lebenswelt seine regulative Rolle spielt, oder als Steuerungsmedium für die Handlungssysteme der Ökonomie und des Staats dient. 171 In der systemtheoretischen Perspektive ist das Problem der Verrechtlichung nicht auf der Basis des Dualismus »System/Lebenswelt', sondern anhand der Dichotomie ,System / Umwelt 4 zu behandeln. So könnte die Verrechtlichung ζ. B. als „Ausdehnung des Rechtssystems zulasten anderer Sozialsysteme" definiert werden. 172 Hierin wäre die Verrechtlichung dysfunktional. Nach der Luhmannschen Systemtheorie aber ist m. E. Verrechtlichung anders zu interpretieren. Insofern die Positivierung des Rechts die Juridifizierbarkeit der verschiedensten sozialen Beziehungen (sachliche Hochkomplexität) impliziert, sind verrechtlichende Folgen der Positivität tendenziell zu erwarten. Diese können aber umweltadäquat oder dysfunktional sein. Prinzipiell ist Verrechtlichung nicht negativ. Insoweit unter normativer Geschlossenheit und kognitiver Offenheit das Rechtssystem auf den umweltlichen Bedarf für Regulierung antwortet, ohne die Autonomie anderer sozialer Systemen zu verletzen, wird Verrechtlichung adäquat und funktional angesehen. Außerdem ist hier schließlich zu bemerken, daß die Positivierung nicht notwendigerweise zur Verrechtlichung führe: durch Rechtssetzung können sich entrechtlichende Tendenzen173 durchsetzen, ohne daß die Prinzipien der Gesetzheit und Änderbarkeit zurücktreten. Hiernach läßt sich behaupten, daß der Begriff des positiven Rechts bei Luhmann sowohl liberales als auch sozialstaatliches Recht einbezieht.

3.5. Die politische und die wirtschaftliche Voraussetzung der Positivierung des Rechts Dem Luhmannschen systemtheoretischen Ansatz nach sind zwei gesellschaftliche Vorbedingungen der Positivierung des Rechts zu betrachten: die Demokratie und die wirtschaftliche Gesellschaft. 174 171 Vgl. Habermas, 1982 a II: 536 ff. So rechtfertigt sich die Kritik von Nahamowitz (1985) an Teubner und Willke, insofern letztere in ihrem Versuch, Habermas' Diskursethik und Luhmanns Systemtheorie zusammenzuführen (s. unten S. 41 f.), neoliberale Folgen aus der Habermasschen Konzeption der Verrechtlichung ziehen (vgl. Teubner u. Willke, 1984: 24 u. 29; Teubner, 1982: 26 f. u. 41 -44; anders aber ders., 1989: 81 f., 85 f.). „Für Habermas", so Nahamowitz (1985: 42), „ist das interventionistische Recht für die Subsysteme Wirtschaft und Verwaltung ein adäquates und wirksames Steuerungsmedium, nicht aber für die kommunikativ strukturierten Bereiche wie Erziehung und Familie. Habermas' Unterscheidung von System und Lebens weit geht daher im Konzept des »reflexiven Rechts' unter." 172 Voigt, 1980: 27 173 Über Entrechtlichung als Gegentendenz zur Verrechtlichung s. Voigt, 1983, insb. 28 ff. 174 Vgl. Luhmann, 1981b: 148-53.

. Positivie

des Rechts (Luhmann)

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Im Hinblick auf die erste Vorbedingung wird das Argument vorgebracht: In dem Maße, wie das politische System die volle Verantwortung für das Recht übernimmt und eine hohe Entscheidungsfreiheit in Anspruch nimmt, 1 7 5 also seine ethische, wahre Grundlage verliert, bedarf es der gesellschaftlichen Unterstützung durch die entlastenden und Konflikte absorbierenden demokratischen Mechanismen wie Wahl, politische Parteien und pluralistische Gesetzgebung, muß es für die gesellschaftlichen widersprüchlichen Einflüsse offengehalten bleiben, Werte opportunistisch, pluralistisch behandeln.176 Die andere Vorbedingung „voller" Positivierung des Rechts, die wirtschaftliche Gesellschaft, muß unter Vorbehalt betrachtet werden. Die Hypothese, „daß das politische Teilsystem der Gesellschaft seine führende Stellung an die Wirtschaft abgibt, das heißt sich primär wirtschaftlichen Problemstellungen unterordnet", und „daß die Positivierung des Rechts einen gesellschaftlichen Primat der Wirtschaft voraussetzt, einen Übergang von politischer Gesellschaft (societas civilis) zu wirtschaftlicher Gesellschaft", 177 schrumpft im Rahmen der Luhmannschen Systemtheorie, indem die Selbststeuerung der sozialen Systeme immer stärker betont wird: »„Steuern' kann jedes System also nur sich selber, weil alle Unterscheidungen systemeigene Konstruktionen sind." 178 Was spezifisch das Verhältnis von Wirtschaft und Politik betrifft, handelt es sich dementsprechend nicht um Unterordnung, sondern um „funktionsbedingte Unterschiede" und „Parallelitäten im Systemaufbau." 179 Hiernach läßt sich bei Luhmann die zweite Vorbedingung „voller" Positivierung des Rechts m. E. nicht mehr durch den Ausdruck „wirtschaftliche Gesellschaft" bezeichnen. In Luhmanns systemtheoretischer Perspektive geht es vielmehr um die volle funktionale Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems, die zu hoher Komplexität führe und damit ein lernfähiges, ständig änderbares, von „absoluten" Werten befreites Rechtssystem erfordere.

3.6. Der „Engpaß" bei der Evolution des positiven Rechts Zum Schluß ist zu bemerken, daß der Engpaß der Evolution des positiven Rechts laut Luhmann nicht mehr in der Variation (archaisches Recht) oder der Selektivität (Recht vorneuzeitlicher Hochkultur) liegt, sondern in den Stabilisierungsmechanismen, d. h. in der Insuffizienz der primär an Rechtsanwendung gerichteten rechtswissenschaftlichen Begrifflichkeit, auf die Rechtsstruktur lernfähig-stabilisierend zu wirken. 180 Für Luhmann fehlt es andererseits an rechtspoli175 Luhmann, 1981b: 147. 176 Vgl. dazu auch Luhmann, 1987a: 247 ff., 1983a: 151-54. 177 Luhmann, 1981b: 149 f. Vgl. auch ders., 1973b: 5, 1981c: 32. 178 Luhmann, 1988 a: 27. 179 Luhmann, 1988 a: 26. Vgl. in kritischer Einstellung zu dieser Veränderung in Luhmanns Systemtheorie Nahamowitz, 1985: 41. Ich komme darauf zurück (s. insb. Anm. 23 des Kap. III.). 3 Neves

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1. Teil, Kap. I: Positivierung des Rechts

tischer Begrifflichkeit, die im Gesetzgebungsverfahren stabilisierend zu lernen gestatten würde, was einen auf sehr konkreten Interessen beruhenden, „fast archaischen Stil von Politik" impliziert. 181 Nach der Systemtheorie würde sich also die heutige Krise des positiven Rechts aus diesen Stabilisierungsproblemen ergeben.

4. Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts (Luhmann) Mit der Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie läßt sich Positivität vor allem als Selbstbestimmtheit des Rechts kennzeichnen.182 Das bedeutet, daß sich die Erhaltung / Änderung des Rechtssystems nicht unmittelbar aus Umweltdeterminationen, sondern aus seinen eigenen Kriterien, Operationen und Elementen ergibt. Im folgenden werde ich zuerst auf die Selbstreferenz als Merkmal der sozialen Systeme im allgemeinen eingehen (4.1.); zweitens soll sich die Erörterung spezifisch auf die Ausdifferenzierung des Rechtscodes und die Autonomie / Lernfähigkeit des positiven Rechts konzentrieren (4.2); zuletzt wird die postmodernistische Lektüre der Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts in Betracht gezogen (4.3.).

4.1. Soziale Systeme als selbstreferenzielle Systeme Die Charakterisierung des Rechts als selbstbestimmtes System wird im Rahmen der Theorie der selbstreferenziellen oder autopoietischen Systeme betrachtet. 183 „Ein System kann man", so Luhmann, „als selbstreferenziell bezeichnen, wenn es die Elemente, aus denen es besteht, als Funktionseinheiten selbst konstituiert . . . " 1 8 4 Hier handelt es sich primär um die einheitliche Reproduktion der durch das System konstituierten und das System konstituierenden Elemente, 185 nicht um die Selbstorganisation, die strukturelle Bestandserhaltung des Systems.186 Im Anschluß an die biologische Theorie der Autopoiesis, vor allem von Maturana und Varela entwickelt, 187 begreift Luhmann die Einheit des Systems in erster 180 Vgl. Luhmann, 1981c: 27 u. 30, 1987 a: 297 f.; Teubner 1982: 36, 1989: 70 f. lei Luhmann, 1981c: 30 f. 182 Vgl. Luhmann, 1988b, 1983b, 1985, 1981h. 183 Hierzu s. vor allem Luhmann, 1987 b. Eine diskurstheoretische kritische Besprechung bietet Habermas, 1988. 184 Luhmann, 1987 b: 59. 185 „Elemente sind Elemente nur für die Systeme, die sie als Einheit verwenden, und sie sind es nur durch diese Systeme." (Luhmann, 1987 b: 43). 186 Luhmann, 1983b: 132. 187 Hierzu s. Maturana u. Varela, 1987: insb. 55-60; Maturana, 1982: insb. 141 f., 157 ff., 279 f. Zur Kritik an der sozialwissenschaftlichen Rezeption des Begriffs der Autopoiesis s. Bühl, 1989, unter besonderem Hinweis auf Luhmanns Paradigma (229 ff.).

4. Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts (Luhmann)

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Linie als „Einheit der Letztelemente, aus denen das System besteht, und Einheit der Prozesse, zu denen die Operationen des Systems diese Elemente zusammenfügen". 1 8 8 Demgemäß formuliert er, „daß ein autopoietisches System die Elemente, aus denen es besteht, durch die Elemente, aus denen es besteht, konstituiert und dadurch Grenzen zieht, die in der Unterbaukomplexität der Umwelt des Systems nicht bestehen."189 An anderer Stelle werden drei Formen der Selbstreferenz getrennt: basale Selbstreferenz, Reflexivität (prozessuale Selbstreferenz) und Reflexion je nachdem, ob die Unterscheidung von Element und Relation, von vorher und nachher oder von System und Umwelt zu Grunde liegt. 190 Nur im letzten Falle (Reflexion) koinzidieren Selbstreferenz und Systemreferenz: „In diesem Falle ist das Selbst das System, dem die selbstreferenzielle Operation sich zurechnet. Sie vollzieht sich als Operation, mit der das System sich selbst im Unterschied von seiner Umwelt bezeichnet." 191 Aber die Reflexion als umfassenderer Mechanismus setzt die basale und prozessuale Selbstreferenz voraus (ich komme im Kap. VI. darauf zurück). Begreift man dementsprechend die Selbstreferenz als operationeile Selbstproduktion der nacheinander selegierten Elemente und Relationen 192 innerhalb des Systems, so stößt man auf das Problem der Geschlossenheit. Hier weicht Luhmann von Maturanas Auffassung der Autopoiesis ab in dem Maße, wie zwischen (psychischen und sozialen) Sinnsystemen und (chemischen und organischen) nichtsinnhhaften Systemen unterschieden wird. 1 9 3 Bei biologischer Autopoiesis besteht nach Luhmann eine radikalisierte Konzeption der Geschlossenheit, insofern zur Herstellung von System / Umwelt-Beziehungen ein Beobachter außerhalb des Systems, also ein anderes System, erfordert wird. 1 9 4 Bei sinnhaften Systemen aber „wird Selbstbeobachtung zur notwendigen Komponente autopoietischer Reproduktion." 195 Die Sinnsysteme erhalten also ihren autopoietischen Charakter, insofern sie auf sich selbst (nach innen) und auf ihre Umwelt (nach außen) mitlaufend verweisen, und dadurch mit der Hauptdifferenz System / Umwelt intern operieren. 196 Ihre vollständige Geschlossenheit wird damit nicht beeinträchtigt, insoweit sich Sinn nur auf Sinn bezieht und nur durch Sinn verändert

iss Luhmann, 1983 b: 131. 189 Luhmann, 1983b: 132. Siehe unten S. 183. 190 Vgl. Luhmann, 1987 b: 600-602. 191 Luhmann, 1987b: 601. 192 „So wenig wie es Systeme ohne Umwelten gibt oder Umwelten ohne Systeme, so wenig gibt es Elemente ohne relationale Verknüpfung oder Relationen ohne Elemente" (Luhmann, 1987b: 41). 193 Anders interpretiert Ladeur, 1985: 408 f. Vgl. auch Teubner, 1988: 51, 1989: 38, 43 u. 46, gegen die von Luhmann (1985: 2) im Anschluß an Maturana (1982: 301) behauptete Nichtmöglichkeit der partiellen Autopoiesis auch bei sozialen Systemen. 194 Luhmann, 1987 b: 64. 195 Luhmann, 1987 b: 64. 196 Luhmann, 1987 b: 64. 3*

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1. Teil, Kap. I: Positivierung des Rechts

werden kann. 197 Aber der Einbau der System / Umwelt-Differenz in die Sinnsysteme (die Selbstbeobachtung als „operatives Moment der Autopoiesis") 198 ermöglicht eine neue Kombination von Geschlossenheit und Umweltoffenheit, so daß durch Umweltbezug die Zirkularität der Autopoiesis unterbrochen werden kann. 199 Nach Luhmann fungiert also die Umwelt gegenüber dem System weder lediglich als „infrastrukturelle Bedingung der Möglichkeit der Konstitution der Elemente" 200 noch nur als Störung, Lärm, „Bruit" 2 0 1 : sie ist etwas mehr, „der Grund des Systems." 202 Auf das System wirken die um weltlichen Determinationen verschiedenartig ein, jedoch ihre Einschaltung in das System kommt erst zustande, wenn es ihnen nach eigenen Differenzen seine Form erteilt. 203 Unterscheidet man Luhmanns Ansatz der Geschlossenheit selbstreferenzieller Sinnsysteme, besonders sozialer Systeme, von der biologischen Theorie der Autopoiesis, läßt sich sein Widerspruch zur klassischen theoretischen Entgegensetzung von geschlossenen und offenen Systemen204 noch klarer feststellen. 205 Der Begriff der geschlossenen Systeme gewinnt, „im Vergleich zur älteren Systemtheorie, einen neuen Sinn. Er bezeichnet nicht mehr Systeme, die (quasi) umweltlos existieren, also sich selbst (nahezu) vollständig determinieren können." 206 Also: „Geschlossenheit heißt jetzt weder Umweltlosigkeit noch vollständige Determination durch sich selbst." 207 Es handelt sich um Autonomie des Systems, nicht um dessen Autarkie. 208 Die operative Geschlossenheit „ist vielmehr Bedingung der Möglichkeit für Offenheit. Alle Offenheit stützt sich auf Geschlossenheit."209 Die Kombination von Geschlossenheit und Offenheit läßt sich unter zwei Perspektiven betrachten: 1. obwohl ein Sinnsystem die „Kontrolle der eigenen Negationsmöglichkeiten bei der Herstellung der eigenen Elemente" 2 1 0 ausübt (Geschlossenheit), hängt diese Kontrolle von den Bedingungen der Wahl zwischen Ja und Nein ab (Offenheit) 211 ; 2. die Kontrolle der Negationsmög197 Luhmann, 1987 b: 64. 198 Luhmann, 1987b: 63. 199 Luhmann, 1987 b: 64 f. 200 Luhmann, 1987 b: 60. 201 Für Varela (1983) fungiert der Lärm („bruit" — „couplage par clôture" im Gegensatz zu „couplage par input") als typische Form der umweltlichen Einwirkung auf die autonomen Systeme. 202 Luhmann, 1987 b: 602. 203 „Grund ist immer etwas ohne Form" (Luhmann, 1987 b: 602). 204 In dieser Richtung s. Bertalanffy, 1957: 10 ff. 205 Luhmann, 1987 b: 63 f. 206 Luhmann, 1987 b: 602. 207 Luhmann, 1983 b: 133. 208 Luhmann, 1983 a: 69; Teubner, 1982: 20. „Autonomie des Rechts bezieht sich auf die Zirkularität seiner Selbstreproduktion und nicht auf seine kausale Independenz von der Umwelt" (Teubner, 1989: 47). 209 Luhmann, 1987 b: 606. 210 Luhmann, 1987 b: 603. 211 Luhmann, 1987b: 603. Vgl. ders., 1986a: 83.

4. Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts (Luhmann)

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lichkeit (Geschlossenheit) ermöglicht eine ständige und stabilere (oder zumindest weniger instabile) selektive Beziehung des Systems zu ihrer Umwelt (adäquate Offenheit). Was die sozialen Systeme, „als konstituiert auf der Basis eines einheitlichen (selbstreferenziellen) Kommunikationszusammenhanges"212, betrifft, bildet die Gesellschaft das umfassendste System. Seine Elementareinheiten, die Kommunikationen 213 , die es durch Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen konstituiert, 214 gibt es nur innerhalb desselben, nicht in seiner Umwelt, so daß es sich als „real-notwendig geschlossen" bezeichnen läßt. 215 Obgleich sich die Reproduktion von Kommunikationen ausschließlich im Schoß der Gesellschaft befindet (selbstreferenzielle Geschlossenheit), bestehen zwangsläufig Kommunikationen über ihre (psychische, organische und chemische) Umwelt (Offenheit). 216 Der autopoietische Charakter der gesellschaftlichen Teilsysteme aber kann nicht derart geklärt werden: die Kommunikation ist die Elementareinheit aller sozialen Systeme; in der Umwelt aller gesellschaftlichen Teilsysteme gibt es Kommunikation; für diese Teilsysteme bilden sich nicht nur Kommunikationen über ihre Umwelt aus, sondern auch Kommunikationen mit ihrer Umwelt. 217 Erst wenn ein soziales System über eine spezifische Code-Differenz von Ja und Nein verfügt, läßt es sich als selbstreferenziell geschlossen (umweltoffen) kennzeichnen. 218 Mittels systemeigener binärer Codierung von Ja und Nein werden die Elementareinheiten des Systems intern reproduziert und von den äußeren Kommunikationen klar unterschieden. 219

4.2. Die Ausdifferenzierung des Rechtscodes. Positivität als Kombination normativer Geschlossenheit und kognitiver Offenheit des Rechts Die Ausdifferenzierung des Rechts in der modernen Gesellschaft läßt sich derart als Kontrolle der Code-Differenz von Recht und Unrecht durch ein darauf spezialisiertes Funktionssystem interpretieren. 220 Nach Luhmann setzt diese neue Position des Rechts die Aufhebung der nach dem Stratifizierungsprinzip (vertikal) 212 Luhmann, 1987 b: 92. 213 Luhmann, 1987b: 192 f. 214 Luhmann, 1983b: 137. Siehe dazu ders., 1987b: 193 ff. 215 Luhmann, 1987 b: 60 f. 216 Luhmann, 1983b: 137. 217 Luhmann, 1983b: 137 f. 218 Vgl. Luhmann, 1983b: 134, 1987b: 603, 1986a: 83, 1986c: 171 f. 219 Über binäre Codierung im allgemeinen s. Luhmann, 1986 a: 75 ff. 220 Luhmann, 1986c: 171. Vgl. im Hinblick auf die sozialen Systeme im allgemeinen, ders., 1986a: 85 f.

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1. Teil, Kap. I: Positivierung des Rechts

differenzierten, vormodernen Gesellschaft voraus. In dem Maß, wie das Differenzierungsprinzip auf einer Unterscheidung von oben und unten beruhte, hatte lediglich das oberste, politische System die selbstreferenzielle Autonomie. 221 Das Recht bleibt supradeterminiert durch die Politik und die politisch-legitimierende statische Moralvorstellung, es verfügt nicht ausschließlich über eine spezifische Code-Differenz von Ja und Nein. Die Rechtspositivierung in der modernen Gesellschaft impliziert also Kontrolle der Code-Differenz von Recht und Unrecht ausschließlich durch das Rechtssystem, welches damit seine operative Geschlossenheit gewinnt. 222 In diesem Zusammenhang wird die Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts begriffen. Wie für die anderen ausdifferenzierten sozialen Systeme handelt es sich hierbei nicht um Autarkie, (quasi) Umweltlosigkeit. Mag die Verfügung über die Code-Differenz von Recht und Unrecht zur operativen Geschlossenheit führen, ist die Wahl zwischen Recht und Unrecht um weltlich bedingt (vgl. oben S. 36 f.). Andererseits beruht die Selbstbestimmtheit des Rechts auf der Unterscheidbarkeit von normativen und kognitiven Erwartungen, 223 die erst mit der binären Codierung von Recht und Unrecht ausschließlich durch das Rechtssystem klar geworden ist. Anhand der Unterscheidung ,Normatives/Kognitives 4 wird die operative Geschlossenheit des Rechtssystems gleichzeitig mit dessen Umweltoffenheit gesichert. Hierzu schreibt Luhmann: „Rechtssysteme benutzen diese Differenz, um Geschlossenheit der rekursiven Selbstproduktion und Offenheit ihres Umweltbezugs zu kombinieren. Das Recht bildet, mit anderen Worten, ein normativ geschlossenes, aber kognitiv offenes System. [ . . . ] Die Normqualität dient der Autopoiesis des Systems, seiner Selbstkontinuierung in Differenz zur Umwelt. Die kognitive Qualität dient der Abstimmung dieses Prozesses mit der Umwelt des Systems." 224 Damit hängt zusammen, „daß das Rechtssystem die Selbstreferenz über Begriffe, die Fremdreferenz dagegen über Interessen ,faktorialisiert 4."225 So kann das Rechtssystem die umweltlichen Faktoren nach seinen eigenen Kriterien verarbeiten, aber nicht direkt durch diese Faktoren beeinflußt werden. Die Rechtsgeltung der normativen Erwartungen läßt sich nicht unmittelbar gemäß ökonomischen Interessen, politischen Kriterien, ethischen Vorstellungen oder gar wissenschaftlichen Sätzen bestimmen, 226 sie hängt von selektiven, begriffli221 Luhmann, 1981 e: 159 f. 222 Luhmann, 1986 a: 125 f. Spezifisch über die binäre Codierung des Rechtssystems s. umfassend ders., 1986c. Es ist hier anzumerken, daß das Recht sich in der Beobachtungsperspektive des politischen Systems als eine Zweit-Codierung der politischen Macht bezeichnen läßt (ders., 1986c: 199, 1988c: 34, 48 ff., 56). 223 Luhmann, 1983 b: 138 ff. 224 Luhmann, 1983b: 139. Vgl. auch ders., 1984b: 110 ff. 225 Luhmann, 1990 a: 10. 226 Was spezifisch die wissenschaftliche Erkenntnis anbelangt, behauptet Luhmann (1985: 17) im Einklang damit: „Es wäre für das Rechtssystem aber sicherlich fatal —

4. Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts (Luhmann)

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chen Filterungsprozessen innerhalb des Rechtssystems ab. 227 Die Lernfähigkeit (kognitiv offene Dimension) des positiven Rechts ermöglicht, daß es sich ändert, um sich an die komplexe und „schneilaufende" Umwelt anzupassen. Die normative Geschlossenheit verhindert die Verschmelzung Rechtssystem / Umwelt, erfordert die interne „Digitalisierung" von umweltlichen Informationen. Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung des Rechts ist nicht anders als die Ermöglichung der rechtssystemeigenen Vermittlung dieser beiden Orientierungen. 228 Die Änderbarkeit des Rechts wird derart verstärkt, nicht — wie im Hinblick auf eine umweltlose Geschlossenheit zu behaupten wäre — verhindert; aber sie geschieht nach den inneren, spezifischen Kriterien eines lernfähigen, umweltsensiblen Systems. 229 In dieser Perspektive dient die selbstreferenzielle Geschlossenheit, also die Normativität für das Rechtssystem, nicht als Selbstzweck des Systems, vielmehr ist sie Bedingung der Offenheit. 230 Die Radikalisierung der These der Geschlossenheit als Umweltlosigkeit verkennt das zentrale Problem der Anschlußfähigkeit (im Unterschied zu dem der Wiederholung) zwischen Elementarereignissen. 231 Nur unter den Bedingungen der kognitiven Umweltoffenheit (Lernfähigkeit) kann das Rechtssystem Vorkehrungen für Entparadoxierung der Selbstreferenz, für Anschlußfähigkeit treffen. 232 Kognitive Geschlossenheit des Rechtssystems würde eine unüberwindliche Paradoxie der Autopoiesis hervorbringen, keine Interdependenzunterbrechung ermöglichen. 233 Andererseits aber würde die Unterbrechung der normativen Geschlossenheit durch die Infragestellung der Code-Differenz von Recht und Unrecht die Autonomie des Rechtssystems beeinträchtigen, zu heteronomisierenden Paradoxien führen: „Wenn ein System eine Leitdifferenz als Code der Gesamtheit seiner Operationen einsetzt, muß diese Selbstanwendung des Code auf den Code ausgeschlossen werden. Die Selbstreferenz wird nur innerhalb des Code zugelassen, und hier als Negation operationalisiert. [ . . . ] Die Autonomie des Systems ist dann und vor allem politisch fatal —, wenn es durch einen Austausch zentraler Theorieelemente oder auch durch einen Paradigmawechsel revolutioniert werden könnte." Demgegenüber läßt sich in der eigentümlichen Perspektive von C. Souto u. S. Souto das Recht ζ. T. nach den Kriterien der empirischen wissenschaftlichen Erkenntnis definieren (vgl. Souto u. Souto, 1981, insb. 101 u. 106-113; Souto 1984: 82-84 u. 91 f., 1978: 85-117). 227 „Externe Entwicklungen", so betont Teubner (1982: 21), wenngleich mit anderen Folgerungen, „werden einerseits nicht ignoriert, noch wèrden sie andererseits nach dem ,Stimulus-response-Schema' direkt in interne Wirkungen umgesetzt, sondern sie werden nach Kriterien eigener Selektivität in die Rechtsstrukturen gefiltert und eingepaßt in die interne Logik normativer Entwicklung." 228 Luhmann, 1983 b: 152 f. 229 Vgl. Luhmann, 1983 b: 136. 230 Luhmann, 1987 b: 606. 231 Vgl. Luhmann, 1987b: 62. 232 Vgl. Luhmann, 1987 b: 59. 233 Vgl. Luhmann, 1987b: 65.

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1. Teil, Kap. I: Positivierung des Rechts

nichts anderes als das Operieren nach Maßgabe des eigenen Code, und zwar deshalb, weil dieser die Paradoxie der Selbstreferenz entparadoxiert." 234 Nach Luhmanns Auffassung würde die „Selbstanwendung des Code auf den Code" nicht nur heteronomisierende Folgen, sondern auch Starrheit des Rechtssystems implizieren, insofern die Anschlußfähigkeit der autopoietischen Reproduktion derart blockiert würde. Besonders in diesem Punkt tauchen die Divergenzen zwischen Luhmanns Theorie der Positivität und den neuen wertbezogenen Konzeptionen des Rechts auf. 235 Daß der Positivität des Rechts nicht nur die Aufhebung der unmittelbaren Determination des Rechts durch die politischen Interessen, Willen oder Kriterien der Machthaber, sondern auch die Moralneutralisierung des Rechtssystems innewohnend ist, macht für Luhmann eine Theorie der Gerechtigkeit als Außer-, Suprakriterium des positiven Rechts irrelevant: „Alle Werte, die im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs kursieren mögen, sind iiach Ausdifferenzierung eines Rechtssystems entweder rechtlich irrelevant oder Eigenwerte des Rechts" 236 . Gerechtigkeit läßt sich dann nur innerhalb des Rechtssystems als adäquate Komplexität (äußere Gerechtigkeit) oder als Konsistenz der Entscheidungen (innere Gerechtigkeit) konsequent betrachten. 237 Es handelt sich, mit anderen Worten, einerseits (extern) um adäquate kognitive Umweltoffenheit, anpassende Lernfähigkeit, andererseits (intern) um die Anschlußfähigkeit der normativen autopoietischen Reproduktion. Hiernach beschränkt sich die Positivität des Rechts nicht auf die Verlagerung der Begründungsprobleme im Sinne Habermas4 Diskursethik, 2 3 8 sie bedeutet die Beseitigung der Begründungsproblematik. Daß das Recht seine Funktion kongruenter Generalisierung von Verhaltenserwartungen gegenüber einer hochkomplexen, mit verschiedensten normativen Erwartungen überfluteten Umwelt erfüllt, erfordert nach Luhmann eine radikalere Entlastung von ethischer Begründung, sei es material oder argumentativ-prozedural. 239 Eventuel234

Luhmann, 1985: 6. In bezug auf die sozialen Systeme im allgemeinen vgl. auch ders., 1986 a: 76 f. u. 80 f. 235 Siehe vor allem Luhmann, 1981 k, 1988b; und kritisch dazu R. Dreier, 1981. Vgl. auch als Kritiker des Luhmannschen Ansatzes Alexy, 1983: 161-65; und als Vertreterin Kasprzik, 1985. 236 Luhmann, 1988b: 27. Hiernach wird von Kasprzik (1985: 368 ff.) Luhmanns Ansatz als „Entfundamentalisierung" bezeichnet. 237 Luhmann, 1988b: 26 f. Vgl. auch ders., 1981 k: 388 ff. 238 „Die eigentümliche Leistung der Positivierung der Rechtsordnung besteht darin, Begründungsprobleme zu verlagern, also die technische Handhabung des Rechts über weite Strecken von Begründungsproblemen zu entlasten, aber nicht darin, die Begründungsproblematik zu beseitigen " (Habermas, 1982 a I: 354). Später wird der Widerspruch zu Luhmanns Konzeption der Positivität als Systemautonomie schärfer ausgedrückt: „Autonomie erwirbt ein Rechtssystem nicht nur für sich alleine. Autonom ist es nur in dem Maße, wie die für Gesetzgebung und Rechtssprechung institutionalisierten Verfahren unparteiliche Urteils- und Willensbildung garantieren und auf diesem Wege einer ethischen Verfahrensrationalität gleichermaßen in Recht und Politik Eingang verschaffen" (Habermas, 1987 a: 16).

4. Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts (Luhmann)

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le Relevanz von wertbezogenen Bedenken würde dementsprechend Starrheit des Rechtssystems, Blockierung dessen selektiver Aufgabe zur Folge haben, hätte also dysfunktionale Wirkungen. Kurzum: nach Luhmanns Konzeption der Rechtspositivität, d. h. der normativen Geschlossenheit und kognitiven Offenheit des modernen Rechts, wird das Problem der Gerechtigkeit auf die Frage nach der adäquaten Komplexität des Rechtssystems und der Konsistenz seiner Entscheidungen umgestellt.

4.3. Positivität des Rechts und postmodernistische Ansätze Im Rahmen des Begriffs „reflexives Recht" von Teubner und Willke nimmt die Konzeption der Systemautonomie einen anderen Sinn an als nach Luhmanns Ansatz. In einem Versuch, die Theorie des „responsiven" Rechts (Nonet/Selznick) mit der Theorie der prozeduralen Rationalität (Habermas) und der Rechtspositivität (Luhmann) zusammenzuführen, unterschied Teubner drei Dimensionen (interne, Norm- und Systemrationalität) und drei Typen (formal, material und reflexiv) der Rechtsrationalität, 240 um den Konvergenzpunkt „Reflexionsstrukturen und demokratischer Diskurs in den gesellschaftlichen Teilsystemen " zu behaupten, den ein reflexives Recht fördern müsse.241 In dieser systemtheoretischen Variante ist das Wichtigste, „daß Selbstreferenz in der Rechtsentwicklung unmittelbar zu einem Konzept des post-modernen Rechts führt." 242 Diese Konstruktion wurde später von Teubner und Willke wieder bearbeitet. 243 Es handelt sich hier um die Frage, wie das Recht, als autonomes soziales Teilsystem, zur Kontextsteuerung einer überkomplexen Gesellschaft beitragen kann. Mittels Umformulierung Habermasscher Differenzierungen im Hinblick auf die Rationalität des modernen (formalen) Rechts 244 unterscheiden sich die Rechtstypen bei Teubner und Willke „spezifisch (1) in der internen Systematisierung des Rechtsstoffes (,interne Rationalität (), (2) im spezifischen Modus der Rechtfertigung von Geltungsansprüchen (.Normrationalität') und (3) in ihrem 23

9 Laut Luhmann (1981 k: 389 Anm. 33) „ . . . bleiben diskursive, vernünftige Formen der Klärung von akzeptablen bzw. unakzeptablen Wertpositionen heute im Bereich bloßen Erlebens stecken. Die zentrale Voraussetzung der praktischen Philosophie, daß man im Argumentieren über das, was man heute Werte nennt, dem Handeln näher kommen könne, läßt sich unter den heutigen Bedingungen einer sehr viel möglichkeitsreicheren Welt nicht mehr halten". 240 Teubner, 1982: 22-29. 241 Teubner, 1982: 47 ff. 242 Teubner, 1982: 21 f. 243 Vgl. Teubner u. Willke, 1984. Kritisch dazu s. in unterschiedlichen Perspektiven Luhmann, 1985; Nahamowitz, 1985; Münch, 1985. Unter Berücksichtigung der verschiedenen Kritiken formuliert Teubner neuerdings (1989: 81 ff.) mit einigen Revisionen seine Konzeption des reflexiven Rechts. 244 Vgl. Habermas, 1982a I: 351 ff., 1982b: 262 ff.

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1. Teil, Kap. I: Positivierung des Rechts

Beitrag zur Bestandserhaltung der Gesellschaft (,Systemrationalität')." 245 Dementsprechend kennzeichnet man: das formal-rationale Recht als (1) regel-orientiert, (2) proskriptiv und (3) auf die Marktgesellschaft orientiert; das materialrationale Recht als (1) zweckorientiert, (2) präskriptiv und (3) interventionistisch; das (postmoderne) reflexive Recht durch (1) Verfahrensorientierung, (2) fazilitative Normrationalität und (3) integrative Funktion. 246 Damit zusammenhängend wird — im Vergleich mit der niedrigen externen Komplexität (trotz interner Hochkomplexität) des liberalen Strukturtypus und der niedrigen internen Komplexität (trotz externer Hochkomplexität) des sozialistischen — die interne und externe Hochkomplexität des postmodernen gesellschaftlichen Strukturtypus ( —> reflexive Steuerung) betont. 247 Hiernach erfordere die postmoderne Gesellschaft in erster Linie dezentrale Steuerung statt residualer (liberalistischer) oder direktiver (sozialstaatlicher) Steuerung. 248 Nach Teubner und Willke taucht das reflexive Recht als Reaktion auf funktionale gesellschaftliche Differenzierung (Luhmann) und als „äußere Verfassung" für die diskursive Selbstreflexion in den anderen sozialen Systemen (Habermas) auf. 249 „Die Rolle des reflexiven Rechts," so behaupten sie, „besteht dann darin, integrative Mechanismen für Verfahren und Organisation innerhalb der betroffenen Teilsysteme selbst bereitzustellen, ihnen eine Sozialverfassung zu geben, die ihre Eigendynamik respektiert, ihnen aber zugleich jene gesellschaftliche Restriktionen auferlegt, die aus den Bedingungen des Zusammenspiels aller Teile als Kontextregeln für jedes einzelne Teil folgen." 250 Nach diesem Muster spricht man von doppelter Autopoiesis des Rechts und der gesellschaftlichen Teilsysteme. 251 Aber abweichend von Luhmanns Modell setzt diese Konstruktion voraus, daß die sozialen Teilsysteme nicht nur in Beziehungen wechselseitiger Beobachtungen stehen: Interferenz und Kommunikation über Organisation sind nicht auszuschließen.252 In anderer Richtung, aber auch auf der Suche nach einem postmodernen Recht, übt Ladeur Kritik an Luhmanns Konzeption infolge ihrer „starke(n) Betonung der Selbstreferenz des Systems auf der Ebene der Reproduktion der »Elemente'", wodurch „die gerade wegen der sich andeutenden Perspektive einer neuen interdisziplinären, integrativen Theoriekonstruktion faszinierenden Möglichkeiten des Autopoiese-Konzepts nicht ausgeschöpft" würden. 253 Ladeur betont u.a. die Bestimmung der Funktion des Systems „eher im Verhältnis zu anderen Swòsyste-

245 Teubner, 1982: 23; ders. u. Willke, 1984: 19. 246 Teubner u. Willke, 1984: 20-24; Teubner, 1982: 24-29. 247 Teubner u. Willke, 1984: 12 f. 248 Vgl. Teubner u. Willke, 1984: 32 f. 249 Teubner u. Willke, 1984: 24-30; Teubner, 1982: 44-51. 250 Teubner u. Willke, 1984: 7. 251 Vgl. Teubner, 1988: 46-48, 1989: 88 ff. 252 Vgl. Teubner, 1988: 52 ff., 1989: 96 ff. 253 Ladeur, 1985: 407.

4. Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts (Luhmann)

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men," 2 5 4 die Pluralität der „Beobachterstellen" innerhalb des Systems,255 die „Kompatibilisierung statt der Generalisierung von Erwartungen", 256 die strategische Orientierung des Rechtssystems,257 das flexible Operieren mit Ungewißheit, was nicht-lineares Gleichgewicht impliziert, 258 und eine lokale Logik für die Dogmatik. 259 Im Rahmen des Postmodernismus geht er von der Krise der Subjektidentität aus 2 6 0 und damit zusammenhängend von der Virtualität der Sprache. 261 Die Vorstellung des Rechts als kongruente Generalisierung von Verhaltenserwartungen wird deshalb kritisiert, weil damit eine Sprachtheorie assoziiert ist, „für die Sprache primär als »Zeichensystem', als Übertragungsmedium fungiert", 262 und derart die historische Heterogenität und Diskontinuität der „Sprachspiele" nicht berücksichtigt werden. 263 Hieraus folgt, daß nicht von (unterstelltem) Konsens, sondern von Kompatibilisierung des Dissenses zu sprechen ist. 2 6 4 Die Autopoiesis wird insofern gelockert, als die Ebene der Virtualisierung von Struktur und Funktion 265 die Vernetzung der verschiedenen sozialen Systeme ermöglicht. 2 6 6 In Radikalisierung seiner These schlägt Ladeur Pluralisierung statt Einheit des Rechts 267 und den konstitutiven Charakter der „Unordnung" für die Abwägung als Rechtsparadigma 268 vor. Alles dies setzt „die zunehmende Heterogenität und situative Ausdifferenzierung der Arenen gesellschaftlichen und administrativen Handelns" voraus 269 und erfordert situativ-topische Handhabung des Rechts (Abwägung). 270 In der paradoxen Perspektive des Postmodernismus ist das allgemeine Paradigma (die Abwägung) die Negation von allgemeinen Paradigmen. Für Teubner, Willke und Ladeur wäre nur ein postmodernes Recht wirklich reflexives, autopoietisches Recht. Für Luhmann ist das positive (selbstbestimmte) 254 Ladeur, 1985: 407. 255 Ladeur, 1985: 412. 256 Ladeur, 1985: 418. 257 Ladeur, 1985: 419 ff. 258 Ladeur, 1985: 421 ff. 259 Ladeur, 1985: 426. 260 Vgl. insb. Ladeur, 1983: 466ff, 1984: 160 ff. 261 Vgl. Ladeur, 1983: 476. In diesem Punkt schließt sich Ladeur an Atlan (1983) an. 262 Ladeur, 1985: 415 (vgl. auch 417 f. Anm. 131). 263 Ladeur, 1986: 268 Anm. 8. 264 Vgl. Ladeur, 1986: 273. 265 Vgl. Ladeur, 1985: 414. 266 in Hinsicht darauf behauptet Ladeur (1985: 423): „Erforderlich ist ein Modell der Steuerung von komplexen Handlungs- und Ursachennetzwerken statt von Handlungsketten, eine Rechtskultur der Ungewißheit." Dazu s. neuerdings ders., 1990. 267 Vgl. Ladeur, 1983: insb. 479 ff. 268 Ladeur, 1983:478. Als Anwendung dieses theoretischen Musters auf eine konkrete Verfassungsfrage s. ders., 1987; und in Kontroverse dazu Blanke, 1987. 269 Ladeur, 1986: 273. 270 Ladeur, 1983: 472. Dazu auch ders., 1984: insb. 205 ff.

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1. Teil, Kap. I: Positivierung des Rechts

Recht das spezifisch moderne Recht, das sich in verschiedenen Graden entwickelt. Luhmanns Ansatz bezieht also nicht nur etwa im Sinne von Teubner/ Willke oder Ladeur „reflexives" bzw. „postmodernes" Recht ein, sondern auch das liberale („formale Rationalität") und das sozialstaatliche Recht („materiale Rationalität"), insofern diese Erscheinungsformen sich in einer anderen Perspektive als gesetzte / änderbare und vor allem als operativ selbstbestimmte Rechtssysteme charakterisieren lassen. Zweckmäßig wird in dieser Untersuchung spezifisch Luhmanns Begriff der Positivität benutzt und nur komplementär die Beiträge von Ladeur, Teubner und Willke berücksichtigt. Was aber Ladeurs postmodernistischen Ansatz betrifft, läßt sich merkwürdigerweise feststellen, daß der situativdiffuse Charakter des Rechts viel mit der Rechtswirklichkeit der peripheren Länder zu tun hat, die sehr oft als (quasi) vormodern, traditionell gekennzeichnet wird. In diesem Punkt nähern sich interessanterweise die Hypothese des postmodernen Rechts und die Rechtswirklichkeit der Peripherie, worauf ich zurückkommen werde.

Kapitel II

Die Verfassungskonzeption 1. Herkömmliche Verfassungsbegriffe So wie für viele andere Ausdrücke im Bereich der Sozialwissenschaften gilt, ist der Terminus »Verfassung 1 durch Vieldeutigkeit bzw. semantische Wendungen gekennzeichnet. Man stößt derart auf verschiedenste Definitionen, was einige Vorbemerkungen über die herkömmlichen Verfassungskonzepte rechtfertigt, bevor die in dieser Untersuchung zu verwendende Auffassung dargestellt wird (s. unten Abschn. 2 dieses Kap.). Die Diskussion über den Begriff der Verfassung geht auf Aristoteles zurück, bei dem sich Verfassung (politeia), in einem sehr umfassenden Sinn, als die Ordnung der Polis verstehen ließ: „ . . . Verfassung ist die Ordnung (taxis) der Staaten in Bezug auf die Regierungsämter (arché), wie sie zu verteilen sind, und die Bestimmung der obersten Regierungsgewalt im Staate wie auch des Endziels (telos) der jeweiligen Gemeinschaft (koinonia)" l . Dieses strukturelle und teleologische Elemente einbeziehende Konzept der Polis-Organisation, nach dem Verfassung und Staat gleichgesetzt werden konnte,2 spielte eine wichtige Rolle bis in die frühe Neuzeit hinein. 3 Aber im Übergang zur Moderne öffnet sich eine neue semantische Konstellation, hinsichtlich derer Verfassung besonders als Freiheitsbrief oder Herrschaftsvertrag begriffen wird. 4 Im Unterschied zu dem nur „herrschaftsmodifizierenden", „punktuellen" und „partikularen" Charakter der Herrschaftsverträge entsteht im Rahmen der bürgerlichen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts der moderne Konstitutionalismus, dessen Semantik sowohl auf die normative als auch auf die „herrschaftskonstituierende", „umfassende" und „universale" Funktion und Geltung der Verfassung hinweist. 5 ι Aristoteles, 1968: 124 f. (IV, 1, 1289a); vgl. auch 80 (ΠΙ, 1, 1274b) u. 91 f. (III, 6, 1278 b). 2 Smend, 1968: 196. Vgl. hierzu Aristoteles, 1968: 85 (III, 3, 1276b). 3 Hierzu vgl. Stourzh, 1975: 99 ff. bzw. 1989a: 3 ff. Jedoch betont er: „Erst seit dem späten 18. und dem 19. Jahrhundert ist es üblich geworden, in den Aristoteles-Übersetzungen politeia mit »Verfassung4 wiederzugeben" (1975: 101 bzw. 1989a: 5). In der frühen Neuzeit wird politeia besonders mit dem englischen Wort »government' wiedergegeben (1975: 102 ff. bzw. 1989a: 6 ff.). 4 Vgl. dazu Böckenförde, 1983: 7 ff. 5 Grimm, 1987 a: insb. 48 ff. Vgl. auch ders., 1989: 633 f.

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1. Teil, Kap. II: Die Verfassungskonzeption

Diesem mit den revolutionären Veränderungen verbundenen, innovativen Sprachgebrauch 6 folgte jedoch auf keinen Fall Eindeutigkeit in bezug auf den Konstitutionsbegriff. Im Gegenteil verstärkte sich seit der Entstehung der modernen, liberalen Staaten das Problem der Mehrdeutigkeit des Wortes »Verfassung 4 bzw. »Konstitution4. Vor allem in der „klassischen" deutschen Staats- und Verfassungslehre kam das zum Ausdruck; aber trotz der Vielheit von Begriffen, die dabei formuliert wurden, 7 lassen sie sich in vier Haupttendenzen klassifizieren, die jeweils durch die Schlagwörter „soziologisch", „juristisch-normativ", „ideal" und „kulturell-dialektisch" zu bezeichnen sind und die noch bis heute eine wichtige Rolle spielen. Die klassische „soziologische" Definition der Verfassung formulierte Lassalle in seinem berühmten Vortrag vom April 1862: „die in einem Lande bestehenden tatsächlichen Machtverhältnisse". 8 Er beschränkte sich nicht darauf: Außerdem wurde der Begriff der Verfassung einfach auf seine sozial-ökonomische Dimension eingeschränkt, insofern die Verfassungsnormen als bloßer Ausdruck der „wirklichen" Verfassung anzusehen wären, von der sie absoluterweise abhingen, ohne jede gegenbedingende Reaktion.9 Diese „soziologistische" (sogar „ökonomistische") und „mechanistische" Einstellung von Lassalle verkennt, daß die (rechtsnormative) Verfassungsordnung eine relative Autonomie hat und in bestimmtem Grad als Grenzbedingung gegenüber den wirklichen Machtverhältnissen fungiert. Es wird nicht eingesehen, daß die „materialen" Machtfaktoren und die „juristische" Verfassungsordnung in stetigen wechselseitigen Beziehungen zueinander stehen, besonders durch Grenzziehung, wie es sich auch im Rahmen der Marxistischen Theorie anerkennen läßt. 10 Andererseits ist anzumerken, daß Lassalle eine Gleichstellung von Verfassungstext und -norm voraussetzte 11 und 6 „Konzentriert man sich auf Fragen der Begriffspolitik und der semantischen Innovation, so ist leicht zu erkennen, daß revolutionäre Veränderungen einen innovativen Sprachgebrauch motivieren" (Luhmann, 1990 b: 177). 7 Vgl. Schmitt, 1970: 3 ff.; Heller, 1934: 249 ff. (insb. 274-76). Diese Vielheit von Verfassungskonzepten wäre nach Vilanova (1953: insb. 19 u. 98 f.) auf die Vielfältigkeit des Gegebenen zurückzuführen. Laut Luhmann (1990b: 212) dienten hingegen die unterschiedlichen Verfassungsdefinitionen im Rahmen der deutschen Staatslehre zum Überdecken des Defizits, „die eigentliche Funktion und damit auch de(n) Begriff von Verfassung" klar zu fassen bzw. zu erklären. 8 Lassalle, 1987: 130. Im Anschluß an Lassalle vgl. Weber, 1985: 27. Engels' Analyse der „englischen Konstitution" (1988: insb. 572 ff.) läßt sich mit Lassalles Verfassungskonzeption in Zusammenhang bringen. 9 „Die tatsächlichen Machtverhältnisse, die in einer jeden Gesellschaft bestehen, sind jene tätig wirkende Kraft, welche alle Gesetze und rechtlichen Einrichtungen dieser Gesellschaft so bestimmt, daß sie im wesentlichen gar nicht anders sein können, als sie eben sind" (Lassalle, 1987: 125). „Verfassungsfragen sind ursprünglich nicht Rechtsfragen, sondern Machtfragen; die wirkliche Verfassung eines Landes existiert nur in den reellen, tatsächlichen Machtverhältnissen, die in einem Lande bestehen; geschriebene Verfassungen sind nur dann von Wert und Dauer, wenn sie der genaue Ausdruck der wirklichen in der Gesellschaft bestehenden Machtverhältnisse sind" (ders., 1987: 147). 10 Vgl. ζ. B. Poulantzas, 1967: 160; Nersesiants, 1982: 177 f.

1. Herkömmliche Verfassungsbegriffe

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davon ausging, Verfassungsnormen bildeten keine Wirklichkeit. Die Verfassunggebung wird derart nicht als ein Filterungsprozeß von normativen Verhaltenserwartungen und die Verfassung also nicht als geltende rechtsnormative Erwartungen verstanden (s. unten Abschn. 2. dieses Kap.). Im Gegensatz zu der klassischen „soziologischen" Konzeption der Verfassung treten die ausschließlich „juristisch-normativen" Verfassungsbegriffe der Reinen Rechtslehre auf: „positivrechtliche höchste Stufe" (Verfassung im materialen Sinne) oder die im Vergleich mit gewöhnlichen Gesetzen nur unter erschwerten Bedingungen abänderbaren Rechtsnormen (Verfassung im formalen Sinne). 12 Hier wird eine Identifikation von staatlicher Rechtsordnung und Staat vorausgesetzt13 sowie die Normen als sinnlich-ideale Objekte aufgefaßt (s. oben S. 19). Obwohl es dabei nicht um Identität von Norm und Normtext geht, 14 wird die Wirklichkeit der verfassungsnormativen Erwartungen verkannt, was eine solche Verfassungsvorstellung für die vorliegende Untersuchung unbrauchbar macht. Insoweit aber die Reine Rechtslehre — im Gegensatz zu anderen rechtsdogmatischen Ansätzen — anerkennt, daß ein bestimmter Grad an Effektivität der Rechtsordnung und einer einzelnen Norm Bedingung ihrer Geltung ist (s. oben S. 19), läßt sie schon einen Spielraum — ohne daß ihre Orientierung diese ist — für eine rechtssoziologische Interpretation der Beziehung »Geltung / Effektivität 4 der Verfassung. In einer dritten Perspektive wird die Verfassung in der Konstellation des sogenannten Konstitutionalismus konzipiert, der sich insbesondere mit den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts durchsetzte, also dem Verfassungsideal des bürgerlichen Rechtsstaates entspricht. 15 Hier hängt das Konzept »Verfassung 4 mit dem Begriff »Verfassungsstaat 4 zusammen.16 Dementsprechend 11

In herabsetzender Einstellung bezeichnete Lassalle (1987: 134 u. 136) die moderne geschriebene Verfassung als „Blatt Papier". 12 Kelsen, 1960: 228-30, 1946: 124 f., 1966: 251-53, mit Variationen im Hinblick auf den Inhalt der „Verfassung im materiellen Sinne" (vgl. Neves, 1988: 56 f.). Daß die Frage, welche Normen als „materielle Verfassung eines Staates" zu bezeichnen sind, „ein kontingentes Problem der Klassifikation" sei (Vemengo, 1976: 310), führte in der herkömmlichen staatsrechtlichen Diskussion viele Autoren dazu, nur dem Begriff der „Verfassung im formalen Sinne" rechtsnormative Bedeutung zuzuschreiben (vgl. ζ. B. Jellinek, 1976: 534; Carré de Malberg, 1922: 572 ff.; Heller, 1934: 274; Ferreira, 1975: 433 f.). Im Gegensatz dazu s. Kelsen, 1946: 258 f. 13 Vgl. Kelsen, 1966: 13-21, 1946: 181-92, 1960: 289-320. 14 „Für das logische Problem kommt es nicht auf den sprachlichen Ausdruck, sondern auf dessen Sinn an; und diesen Sinn kann man dem sprachlichen Ausdruck an sich nicht immer ansehen. Der Sinn hängt von der Absicht dessen ab, der den sprachlichen Ausdruck gebraucht. [ . . . ] Die Norm kann, muß aber nicht, in einem Satz, das ist in einem aus Subjekt und Prädikat bestehenden sprachlichen Gebilde, ausgedrückt werden" (Kelsen, 1979: 120; Hervorhebung von mir). Anders interpretiert Müller (1984: 148 u. 268). In Kontroverse zu Müller vgl. hierüber Walter, 1975: 444. 15 Vgl. Schmitt, 1970: 36-41. 16 Hollerbach, 1969: 47.

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1. Teil, Kap. II: Die Verfassungskonzeption

spricht man von „konstitutionellen" versus „verfassungslosen" Staaten, „sogar von einer »konstitutionellen Staatsverfassung', d. h. einer verfassungsmäßigen Staatsverfassung". 17 Das Problem der Verfassung wird auf seine axiologische Dimension beschränkt: In dieser Orientierung wäre „wahre" Verfassung nur diejenige, die einem bestimmten idealen Wertmuster entsprechen würde. Ein klassischer Ausdruck des Verfassungsidealismus findet sich im Art. 16 der Déclaration des Droits de L'Homme et du Citoyen von 1789: „Toute société dans laquelle la garantie des droits n'est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n'a point de constitution." 18 Hiernach impliziert Verfassung ein System von Garantien der bürgerlichen Freiheit, die Gewaltenteilung und eine geschriebene Form. 19 Lehnt man diese strikte liberale Auffassung des Konstitutionalismus zugunsten einer demokratischen — sogar sozial-demokratischen — Konzeption des Verfassungsstaates ab, bleibt immer noch als inhaltlicher Kern des Begriffs die „Gewährleistung" der sogenannten Grundrechte und die rechtliche Begrenzung der Staatsmacht. In diesem Sinn hätten die autoritären und totalitären Staaten20 keine Verfassung in dem Maße, wie sie die Verfassungs/?rmzipien nicht verwirklichen. 21 Dieser Begriff der Verfassung steht nur in einer indirekten Form in Beziehung mit dem im Rahmen dieser Untersuchung zu verwendenden Konzept: Da die Verfassung im modernen Sinn nur durch die Positivierung des Rechts entsteht (s. Abschn. 2. dieses Kap.), läßt sich systemtheoretisch auch von Mangel an Verfassung in den vormodernen sowie in den totalitären und autoritären Staaten der Neuzeit sprechen. Die Erklärungsmuster aber sind ganz unterschiedlich. Das eine geht von der „Erklärung" rechtswesentlicher Grundwerte oder von der Evolution der Moralvorstellung aus, das andere von der Ausdifferenzierung des Rechtssystems. Diesen „einseitigen" Verfassungsbegriffen treten die sogenannten „kulturelldialektischen" Verfassungskonzeptionen entgegen, nach denen die Verfassung als umfassendere Synthese derjenigen drei Hauptdimensionen zu verstehen ist. Die Staatsverfassung ergebe sich aus der wechselseitigen Beziehung zwischen („ideellem") Verfassungssollen und („wirklichem") Verfassungssein. Bei Heller drückt sich diese Formel durch die Dialektik ,Normativität/Normalität' aus, 22 die zu einem sehr umfassenden Konzept führt: „Die so entstandene Staatsverfassung bildet ein Ganzes, in dem Normalität und Normativität, sowie rechtliche und außerrechtliche Normativität im Verhältnis gegenseitiger Ergänzung zueinander stehen."23 So begreift man die Verfassung — im Gegensatz sowohl zu den

π Schmitt, 1970: 36. ι» Unter anderem in: Duverger (Hg.), 1966: 3 f. (4). 19 Schmitt, 1970: 38-40. 20 Über den Unterschied zwischen Autoritarismus und Totalitarismus s. unten S. 70. 21 In dieser Richtung ζ. B. Loewenstein, 1975: 128 f. 22 Vgl. Heller, 1934: 249 ff. 23 Heller, 1934: 254.

1. Herkömmliche Verfassungsbegriffe

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einseitigen Konzeptionen von Kelsen und Schmitt 24 als auch zu Jellineks Dualismus 25 — als Synthese von Sein und Sollen, setzen die Teil-Analysen der Verfassung diese Gesamtauffassung voraus, ist die rechtlich normierte Staatsverfassung als Teil-Ausdruck eines Ganzen zu verstehen. 26 Die juristische Verfassung als ideales Sollen „ist und bleibt" also „der Ausdruck der sowohl physischen wie auch psychischen Machtverhältnisse." 27 Eine Variante der „kulturell-dialektischen" Verfassungskonzeption findet sich bei Rudolf Smend. Der Staat wird hiernach als Integrationsprozeß konzipiert 28 und die Verfassung als dessen Rechtsordnung, d. h. als „die gesetzliche Normierung einzelner Seiten dieses Prozesses" begriffen. 29 Aber die Verfassung im strikt rechtlichen Sinn bildet hier — abweichend von den Auffassungen Jellineks, Kelsens, Schmitts und Hellers — nicht nur ein (ideelles) normatives Sinngefüge: „Als positives Recht ist die Verfassung nicht nur Norm, sondern auch Wirklichkeit." 3 0 Daraus ergibt sich eine dynamische Konzeption, nach der das Verfassungssystem „sich gegebenenfalls von selbst ergänzt und wandelt" 31 , insoweit die Verfassung in politisches Leben umgesetzt wird 3 2 und damit abweichende Verfassungsauslegungen fordert. 33 In den „kulturell-dialektischen" Verfassungsansätzen Hellers und Smends wird das Sollen als idealer Sinnzusammenhang begriffen, welcher aber von (wirklichem) Sein bedingt wird bzw. seine gesellschaftliche Bedeutung bekommt. Ein Unterschied besteht u. a. darin, daß bei Heller die Verfassung im strikt juristischen Sinne ein (ideales) Normengefüge ist, bei Smend dagegen die politische Wirklichkeit zum Verfassungsrecht gehört. In beiden Auffassungen wird nicht eingesehen, daß sich das Verfassungssollen als Wirklichkeit, d. h. die Verfassungsnormen als stabiliserte Verhaltenserwartungen bezeichnen lassen. In dieser Perspektive sind die Verfassungsnormen, wie im nächsten Abschnitt zu sehen ist, die spezifisch durch die verfassunggebenden und Verfassungskonkretisierenden Entscheidungsverfahren gefilterten rechtsnormativen Verhaltenserwartungen. Es handelt sich nicht um ein ideales Sinngebilde in wechselseitigen Beziehungen mit der

24 Heller, 1934: 259 u. 276 f. 25 Heller, 1934: 259. Hierzu vgl. Jellinek, 1976: 10-12, 20. 26 „Deshalb kann der einzelne Rechtssatz grundsätzlich erst aus der Totalität der politischen Gesamtauffassung voll begriffen werden" (Heller, 1934: 255). 27 Heller, 1934: 259 f. 28 Vgl. Smend, 1968: 136 ff. Zur Auswirkung der Konzeption von Smend auf den Bedeutungswandel der Verfassung im Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland vgl. Böckenförde, 1983: 17 ff. 29 Smend, 1968: 189. 30 Smend, 1968: 192. 31 Smend, 1968: 191. 32 Smend, 1968: 189. Stern (1984: 73) spricht von „stärkere(r) Einbeziehung des politischen Prozesses in das Verfassungsrecht" bei Smend. 33 Smend, 1968: 190. 4 Neves

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1. Teil, Kap. II: Die Verfassungskonzeption

sozialen Wirklichkeit, sondern um ein rechtsnormatives Teilsystem, welches einerseits eine bestimmte Autonomie hat, andererseits mit den primär kognitiven sozialen Systemen, den anderen primär normativen Systemen und besonders den anderen Teilen des Rechtssystems in stetigen und verschiedenen Verhältnissen steht.

2. Ein systemtheoretischer Verfassungsbegriff Im Anschluß an die Betrachtungen über Positivierung des Rechts (s. oben Kap. I. 3. u. 4.) wird in diesem Abschnitt ein systemtheoretisches Konzept der Verfassung angeführt, anhand dessen die in den nächsten Kapiteln aufzuwerfenden Fragen der nicht hinreichenden Positivität (als Selbstbestimmtheit) des Rechts in den peripheren Ländern besser zu untersuchen sind. 34 Es handelt sich hierbei primär weder um einen politisch-soziologischen Begriff, nach dem die Verfassung in das politische System eingefügt wird, 35 noch um die umfassende Konzeption der Verfassung als struktureller Kopplung von Politik und Recht, 36 sondern um ein aus der Rechtssoziologie von Luhmann, namentlich aus seiner Theorie der Rechtspositivierung, herauszukonstruierendes Konzept, nach dem die Verfassung in das Rechtssystem als dessen Teilsystem (Verfassungsrecht) eingeordnet wird. 3 7 Jedoch, was die spezifische Beziehung des Rechtssystems zum politischen System betrifft (s. insb. Kap. V. 2.2.), gewinnen die beiden erst genannten Auffassungen an Bedeutung (vor allem die Vorstellung der Verfassung als struktureller Kopplung — vgl. Kap. V. 2.2.4.), insoweit sie mit der hier als primär bezeichneten Perspektive nicht im Widerspruch stehen. Die Verfassungsnorm als Sonderfall von Rechtsnorm stellt in dieser Perspektive eine Art von kontrafaktisch stabilisierter Verhaltenserwartung dar, sie wird nicht als ideales Sollen verstanden. 38 Das impliziert nicht zwingend den Begriff der Verfassung als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens39, der voraussetzt, „daß auch in unserer Gesellschaft konstituierende' Strukturen die Form normativer Verhaltenserwartungen annehmen können." 40 Aber wenn sich die 34

„Was ist Verfassung? Die Richtung, in die diese Frage zielen muß, hängt von der Aufgabe ab, die mit dem zu gewinnenden Begriff gelöst werden soll" (Hesse, 1980: 3). 35 Siehe dazu Luhmann, 1973 b. 3 6 Hierzu s. Luhmann, 1990b: insb. 193 ff. 37 Über diese Möglichkeit vgl. neuerdings Luhmann, 1990b: 185 ff. 38 Obwohl Luhmann in rechtssoziologischer Perspektive (Fremdbeobachtung) die Rechtsnorm als Fakten (Verhaltenserwartungen) begreift (s. oben S. 22 f.), erkennt er an, daß unter rechtstheoretischem Gesichtspunkt (Selbstbeobachtung) Normen nicht aus Fakten abzuleiten sind (vgl. ders., 1986b: 21). 3 9 So ζ. B. Hesse, 1980: 11; Hollerbach, 1969: 46; Böckenförde, 1983: 16 ff. 40 Luhmann, 1973 b: 2. „Entsprechend gerät das Interesse an Verfassungswirklichkeit in eine Perspektive, die nach normkonformem oder abweichendem Verhalten fragt" (ebd.).

2. Ein systemtheoretischer Verfassungsbegriff

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Verfassung unter einem rechtssoziologischen Gesichtspunkt auch als ein Teilsystem des Rechts begreifen läßt, so sind die Verfassungsnormen als kongruent generalisierte, kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen zu verstehen (s. oben S. 23 f.). Hiernach ist zu fragen, welche Bedeutung die (moderne) Verfassung für die Positivierung des Rechts hat, welche gesellschaftliche Funktion das positive Verfassungsrecht erfüllt; es geht nicht nur spezifisch um die Frage nach der Leistung der Verfassung gegenüber dem politischen System.41 Daß die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft zur Positivierung des Rechts führte, ist einer der wichtigsten Ansatzpunkte der Luhmannschen Rechtssoziologie. Damit hängt zusammen, daß der Rechtspositivierung die Entstehung der Verfassung im modernen Sinn entspricht, 42 d. h. die Innendifferenzierung des Verfassungsrechts im Rechtssystem. Insoweit die für alle sozialen Bereiche geltenden, morallegitimierten Vorstellung ihre gesellschaftliche Funktion und Bedeutung verloren, konnte die Geltung der rechtsanwendenden und rechtssetzenden Entscheidungen offensichtlich nicht weiter darauf beruhen. Die Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts bedeutet den Ausschluß jeder unmittelbaren Überdetermination des Rechts durch andere soziale Systeme: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft u. s. w. (s. oben Kap. I. 4). Hiernach ist die Beziehung zwischen Rechtssystem und politischem System horizontal-funktional, also nicht mehr vertikal-hierarchisch. In dieser neuen Konstellation, ohne dessen politische und moralische Grundlagen, 43 bedarf das Rechtssystem der internen Kriterien nicht nur für die Rechtsanwendung, sondern auch für die Rechtssetzung. Diese Rolle wird dem Verfassungsrecht zugeordnet. Insofern „ist die Verfassung diejenige Form, mit der das Rechtssystem auf die eigene Autonomie reagiert. Die Verfassung muß, mit anderen Worten, Außenanlehnungen, wie sie das Naturrecht postuliert hatte, ersetzen." 44 Mangel an rechtlich ausdifferenzierter Verfassung führt in der hochkomplexen und -kontingenten modernen Gesellschaft zur willkürlichen politischen Handhabung des Rechts, was dessen Positivierung verhindert. Gesetztheit und Änderbarkeit steht also im Widerspruch zur Fremdbestimmtheit des Rechts.

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Dieser Frage würde die These von Luhmann ( 1973 b: 171) entsprechen, „Verfassungen hätten die Bedingungen gesellschaftlicher Kompatibilität für das politische System der Gesellschaft zu reformulieren." Aber in diesem Aufsatz wird die Verfassung als reflexiver Mechanismus des politischen Systems betrachtet in dem Maße, in dem sie „soziologisch als ein Regulativ für System / Umwelt-Beziehungen des politischen Systems der Gesellschaft zu begreifen ist" (165). 42 So daß der „Erlaß" (?) von Verfassungen als Beweis für die Wirklichkeit der Positivierung des Rechts bezeichnet wird (Luhmann, 1984 a: 95 f.). 4 3 Die These von Timasheff, daß das Recht als sekundäres Phänomen die Kombination von Ethik und Politik als primären Phänomenen ist (ders., 1937-38: 230 f., 1936: insb. 143 u. 155 ff.), gilt also nicht einmal für das moderne Recht, obgleich sie für die vormodernen Gesellschaften Bedeutung hat. 44 Luhmann, 1990b: 187. 4*

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1. Teil, Kap. II: Die Verfassungskonzeption

Einer uneingeschränkten Gesetzgebung, die den Bruch der Autopoiesis des Rechtssystems, d. h. die Allopoiesis der Reproduktion der rechtlichen Kommunikationen zur Folge hat, tritt die interne Form der Hierarchisierung durch die übergesetzliche Geltung des Verfassungsrechts entgegen.45 Das hat nicht nur eine rechtstechnische Bedeutung.46 Es handelt sich nicht um mehrere gegeneinander isolierte Ebenen, sondern um „tangled hierarchies" 47: Die Geltung und der Sinn des Verfassungsrechts hängt von der gesetzgebenden und der konkret rechtsanwendenden Tätigkeit ab. Die interne Hierarchisierung ,Verfassungsrecht / Gesetzesrecht' fungiert als Bedingung der autopoietischen Reproduktion des modernen Rechts, sie dient also dessen operativer, normativer Geschlossenheit.48 Auf diese Weise wird jeder gesetzgebende Eingriff des politischen Systems in das Rechtssystem durch die Verfassungsnormen mediatisiert. Das Rechtssystem gewinnt dadurch Kriterien für die Anwendung des Codes ,Recht / Unrecht' auf die gesetzgebenden Verfahren. 49 Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich sagen, daß die Positivierung des Rechts in der modernen Gesellschaft über die Trennung ,Rechtssetzung/Rechtsanwendung' (s. oben S. 30) hinaus den Unterschied von Verfassung und Gesetz voraussetzt. Im Lichte des Begriffs von reflexiven Mechanismen 50 kann man dies so ausdrücken: die Verfassung als Normierung von Normierung von Normierung ist unentbehrlich für die Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts. Das Verfassungsrecht, so läßt es sich rechtssoziologisch behaupten, funktioniert als systeminterne Grenze für die Lernfähigkeit des positiven Rechts, mit anderen Worten: die Verfassung bestimmt, wie und wieweit das Rechtssystem lernen kann, ohne seine Autonomie auflösen zu lassen.51 Eine nicht strikt rechtliche Regelung der Lernfähigkeit des Rechtssystems führt, in einer hochkomplexen Gesellschaft mit sehr problematischen Konsequenzen, zu unmittelbaren Eingriffen anderer sozialer Systeme, vor allem des politischen Systems, in das Recht. Aber es ist auch anzumerken, daß das Verfassungssystem zugleich lernfähig hinsichtlich dessen ist, was es vorschreibt. Dieser kognitive Charakter des Verfas45 Vgl. Luhmann, 1990b: 190. 46 Anders aber Luhmann, 1973 b: 1. 47 Ein von Luhmann (1986b: 15 f.) in diesem Zusammenhang verwendetes Konzept Hofstadters (1986: 12, 728 ff.). Vgl. auch Teubner, 1989: 9. 48 In diesem Sinne betont Luhmann neuerdings: „die Verfassung schließt das Rechtssystem, indem sie es als einen Bereich regelt, in dem sie selbst wiedervorkommt. Sie konstituiert das Rechtssystem als geschlossenes System durch Wiedereintritt in das System" (1990b: 187). 49 Über die Differenz von Codes und Kriterien bzw. Programmen vgl. Luhmann, 1986a: 82 f., 89 ff.; im Hinblick spezifisch auf das Rechtssystem ders., 1986c: 194 ff. 50 Siehe hierzu Luhmann, 1984 a. 51 In Konsonanz damit schreibt Luhmann: „Sinn und Funktion der Verfassung werden unter Verwendung expliziter Negationen, Negationen von Negationen, Abgrenzungen, Verhinderungen gekennzeichnet; die Verfassung selbst ist, ihrem formalen Verständnis nach, die Negation der uneingeschränkten Abänderbarkeit des Rechts" (Luhmann, 1973 b: 165).

2. Ein systemtheoretischer Verfassungsbegriff

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sungssystems drückt sich zwar durch das spezifische Verfahren der Verfassungsänderung aus, wohl aber auch durch die Verfassungskonkretisierung. Es handelt sich also nicht um absolute Hierarchisierung. Besonders die gewöhnlichen Gesetze und die Entscheidungen der für Verfassungsfragen zuständigen Gerichte, die unter technisch-juristischer Betrachtungsweise Unterverfassungsrecht bilden, bestimmen den Sinn und bedingen die Geltung der Verfassungsnormen. 52 Die Zirkularität bleibt erhalten, zumindest im „Mischungsverhältnis" von Rechtsschöpfung und Rechtsanwendung.53 Nach dem systemtheoretischen Ansatz erfüllt die Verfassung eine entlastende Funktion für das positive Recht als Teilsystem der hochkomplexen modernen Gesellschaft. Sie verhindert die Blockierung des Rechtssystems durch die verschiedensten Verhaltenserwartungen, die sich in dessen Umwelt entwickeln. Diese entlastende Funktion ist nur mittels der Übernahme des „Prinzips der Nicht-Identifikation" 54 möglich. Für die Verfassung bedeutet es ihre Nicht-identifikation mit religiösen, moralischen, philosophischen oder weltanschaulichen Gesamtkonzeptionen.55 Die Identifikation der Verfassung mit einer dieser Konzeptionen würde das Rechtssystem blockieren, so daß es keine adäquate interne Komplexität gegenüber seiner hochkomplexen Umwelt produzieren könnte. Eine „sich identifizierende Verfassung" könnte nur unter den Bedingungen einer vormodernen Gesellschaft in Einklang mit ihrer Umwelt funktionieren. Hier setzt die Herrschaft von gesamtgesellschaftlich geltenden Moralvorstellungen eine einfache, möglichkeitsarme Gesellschaft voraus, die noch nicht eine volle Ausdif52

„Es mag Einflußdifferenzen, Hierarchien, Asymmetrisierungen geben, aber kein Teil des Systems kann andere kontrollieren, ohne selbst der Kontrolle zu unterliegen; und unter solchen Umständen ist es möglich, ja in sinnhaft orientierten Systemen hochwahrscheinlich, daß jede Kontrolle unter Antezipation der Gegenkontrolle ausgeübt wird" (Luhmann, 1987b: 63; vgl. im Hinblick spezifisch auf das Rechtssystem ders., 1981 o: 254 f.). 53 Aus der als Variante der Reinen Rechtslehre zu bezeichnenden Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung Öhlingers (1975) liest Luhmann heraus, daß die Abstufung des „Rechtssystems" sich nur auf das „Mischungsverhältnis" von Rechtsschöpfung und Rechtsanwendung bezieht, um hinzuzufügen: „Ein Schritt darüber hinaus wäre, das Verhältnis von Rechtsschöpfung / Rechtsanwendung auf jeder Stufe als zirkulär, also als selbstreferenziell zu begreifen. Dann wäre Stufenbau eine Dekomposition und Hierarchisierung der grundlegenden Selbstreferenz des Systems" (Luhmann, 1983 b: 141 Anm. 26; vgl. auch ders., 1990a: 11). 54 Ich verwende hier im Lichte der systemtheoretischen Perspektive das Konzept der Nicht-Identifikation (des Staates) von Krüger (1966: 178-85), das Hollerbach (1969: 52-57) im Hinblick auf die Verfassung übernahm, welches allerdings eine starke ideologische Rolle in der Diskussion um die „Verfassungsfeindlichkeit" spielt. In der wertbezogenen, „prozeduralen" Perspektive von Habermas handele es sich hierbei um die Unverfügbarkeit des Rechts bzw. die Unparteilichkeit des Rechtsstaates (vgl. ders., 1987 a: 3 f., 5 f., 11 f.). 55 Hollerbach, 1969: 52. Damit zusammenhängend, obwohl in anderer Perspektive, behauptet Grimmer (1976:9): „Die Zielsetzungen gesellschaftlicher Gruppen oder politischer Parteien und die diesen Zielsetzungen zugrunde liegenden Anliegen, Interessen und Bedürfnisse für staatliches Handeln haben keine unmittelbare Allgemeingültigkeit."

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1. Teil, Kap. II: Die Verfassungskonzeption

ferenzierung (Positivierung) des Rechtssystems ermöglicht. Eine „sich identifizierende Verfassung" bringt unter den heutigen Bedingungen der Hochkomplexität und -kontingenz der Gesellschaft entdifferenzierende dysfunktionale Wirkungen auf das Rechtssystem hervor in dem Maße, wie es an Abstimmung zwischen unterkomplexem Rechtssystem und hochkomplexer Umwelt fehlt. Man kann in dieser Perspektive sogar hinzufügen, daß eine „sich identifizierende Verfassung" — insoweit sie um der „Identifikation" willen keine rechtlich ausdifferenzierte Verfassung bildet, sondern bestimmte höchste konstituierende Prinzipien, die für alle sozialen Bereiche bzw. Mechanismen zu gelten beanspruchen — Verfassung im modernen Sinne nicht ist. In Anbetracht des „Prinzips der Nicht-Identifikation" läßt sich system-theoretisch erklären, welche Funktionen die modernen Verfassungen durch die Institutionalisierung von Grundrechten, Gewaltenteilung und politischer Wahl erfüllen. Durch die „Erklärung" der Grundrechte erkennt die Verfassung die Hochkomplexität der Gesellschaft, den Wegfall von gesamtgesellschaftlichen Kriterien der Verhaltensorientierung, das Nicht-Bestehen eines höchsten sozialen Systems an. Grundrechte dienen zur Entfaltung von Kommunikationen auf verschiedenen ausdifferenzierten Niveaus; ζ. B.: die unmittelbare Determination der Liebesverhältnisse oder der Kleidungsmode durch Politik oder Religion wird ausgeschlossen sowie die direkte Einwirkung der Ökonomie oder Familienverhältnisse auf die politische Kommunikation. Die Funktion der Grundrechte bezieht sich also auf die „Gefahr der Entdifferenzierung" (besonders der „Politisierung"), d. h. positiv ausgedrückt auf die „Erhaltung einer differenzierten Kommunikationsordnung". 5 6 Im Rahmen einer „sich identifizierenden Verfassung" wird die Institution der Grundrechte ausgeschlossen oder verzerrt, die Vielheit und Kontingenz der Erwartungen nicht beachtet, eine für die Komplexität der heutigen Gesellschaft inadäquate Entdifferenzierung hervorgebracht. 57 Kurzum: Durch Grundrechte antworten die modernen Verfassungen auf die umweltlichen Anforderungen nach freier Entfaltung der Kommunikation (und der Persönlichkeit) gemäß verschiedenen ausdifferenzierten Codes.58 Spezifisch gegen die Möglichkeit der politischen Entdifferenzierung des Rechts institutionalisieren die modernen Verfassungen die Gewaltenteilung. Die Einwirkung der Kommunikation nach dem Machtcode auf die Kommunikation nach dem Rechtscode wird derart durch das Recht vermittelt. Luhmann fügt hinzu: „Durch Gewaltenteilung wird nun im Prinzip der Machtcode mit dem Recht verknüpft. Entscheidungsprozesse werden auf den Weg des Rechts geleitet." 59 56 Luhmann, 1965: 23-25. 57 Hiermit läßt sich die Kritik von Lefort (1981) an den gegen die „droits de l'homme" gerichteten totalitären Tendenzen in Zusammenhang bringen, indem er die Institutionalisierung der „Menschenrechte" auf die Differenzierung („Entwirrung" — „désintrication") von Macht, Recht und Wissen zurückführt (1981: 64). 58 Ich komme darauf besonders im Kap. V. 1. zurück, wo das Problem der Inklusion mit in Betracht gezogen wird.

2. Ein systemtheoretischer Verfassungsbegriff

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Andererseits ist anzumerken, daß die Einführung von horizontal differenzierten Verfahren durch die Institutionalisierung der Gewaltenteilung die Leistungsfähigkeit des Rechtssystems und der Politik steigert, auf die Anforderungen der von den verschiedensten Erwartungen überfüllten Umwelt zu antworten. 60 Wegfallen oder Verzerrung der „Gewaltenteilung" führt zur Entdifferenzierung (Politisierung), erweist dich deswegen als unvereinbar mit der Hochkomplexität der heutigen Gesellschaft (darauf komme ich besonders unter V. 2.2.3. zurück). Auch mit dem „Prinzip der Nicht-Identifikation" der Verfassung hängt die Institution der politischen Wahl zusammen in dem Maße, in dem die Allgemeinheit des Wahlrechts, die Gleichheit des Stimmengewichts und die Geheimhaltung der Stimmabgabe die Indifferenz gegenüber den anderen Rollen der Wähler sichern 61 und auf diese Weise das Wahlverfahren gegen Status- und Meinungsunterschiede immunisieren. 62 Das impliziert nach Luhmann den Übergang von askriptiven (statischen) zu eignungs- oder leistungsorientierten (dynamischen) Kriterien für die Besetzung politischer Rollen. 63 In dieser neuen Konstellation fungiert die demokratische Wahl als entlastende Unterstützung für das politische System, das „die volle Verantwortung für das Recht" übernimmt. 64 Daß die Politik und damit das Rechtssystem sich nicht mit bestimmter weltanschaulicher Konzeption oder privilegierter Gruppe identifiziert, wäre unvorstellbar ohne die Institution der demokratischen Wahl oder eines funktionalen Äquivalentes. Da das Wahlverfahren auch die „wesentliche Funktion" hat, „Alternativen zu formulieren und offenzuhalten", 65 dient es zur Steigerung der Komplexität des politischen und damit des Rechtssystems, eine Anforderung der Hochkomplexität der entsprechenden Umwelten. Ein Wegfallen von demokratischen Wahlen in den heutigen Verfassungen führt zu der Identifikation des Staates mit bestimmten Gruppen 66 und damit zu einer für die Komplexität der Gesellschaft inadäquaten Entdifferenzierung des Rechts- und des politischen Systems (s. unten S. 97 f. u. Kap. V. 2.2.1.). 59 Luhmann, 1973 b: 11. 60 Hierzu Luhmann, 1983 a. 61 Luhmann, 1983 a: 159. 62 „Alle Unterschiede dürfen bzw. sollen ignoriert werden außer solchen, die sich in einem funktionsspezifischen Zusammenhang als sinnvoll begründen lassen" (Luhmann, 1983 a: 160). 63 Luhmann, 1983 a: 156-58. Aber eine zu weit getriebene Interpretation des Übergangs zur leistungsorientierten Rekrutierung in der Neuzeit, als ob die Demokratie zur Wahl der besten Kandidaten führte, hält offensichtlich einer Ideologiekritik nicht stand; vgl. Rubinstein, 1988: 539 f., im Rahmen einer Kritik an der Konzeption des „achievement" als allgemeinen Verteilungsprinzips der modernen Gesellschaft. 64 Luhmann, 1981b: 147. 65 Luhmann, 1983 a: 161. 66 Dementsprechend „verlangt die Ordnung ohne Wahlrecht, daß der Bürger sich in seinen Kommunikationen mit dem politischen Handlungssystem (und nicht etwa nur mit einer normativen Rahmenordnung: der Verfassung) identifiziere, sich selbst also als vollkommen loyal darstelle" (Luhmann, 1965: 149).

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1. Teil, Kap. II: Die Verfassungskonzeption

Wenn rechtssoziologisch sich die Verfassung als Teilsystem des positiven Rechts kennzeichnen läßt, kann man auch die Verfassungsnormen als kongruent generalisierte normative Verhaltenserwartungen bezeichnen (s. oben S. 23 f.). Die verfassungsnormativen Erwartungen gewinnen ihre Geltung nicht nur aus der Verfassunggebung und Verfassungsänderung als spezifisch darauf ausgerichteten Filterungsprozessen, sondern auch aus der Verfassungskonkretisierung als Vielheit von Filterungsprozessen. — Daraus resultiert, daß die Verfassung nicht nur in struktureller Hinsicht (als Erwartungen) zu definieren ist, sondern gleichzeitig unter operativem Gesichtspunkt: Sie bezieht diejenigen Kommunikationen ein, die einerseits auf den geltenden Verfassungserwartungen beruhen und die andererseits deren Geltung zugrunde liegen. — Die geltenden Verfassungsnormen bieten schon Kriterien für die Anwendung des Rechtscodes an, so daß es in einer Vielzahl von Situationen möglich ist, mit relativer Sicherheit allein durch die Verfassungsnormen zu unterscheiden, ob man im Recht oder im Unrecht ist. 67 Die Verfassung dient also auch zur Erwartungssicherung und Verhaltenssteuerung. 68 Sehr oft aber versagt die „Verfassung" in ihrer Funktion kongruenter Generalisierung von Verhaltenserwartungen. Besser gesagt: dem Verfassungstext entsprechen nicht kongruent generalisierte Verhaltenserwartungen. Das heißt: Bürger, Behörde und sogar höchste Staatsorgane richten sich nicht nach den Vorschriften des Verfassungstextes. Dazu gehören besonders die Probleme der Positivierung des Verfassungsrechts in den peripheren Ländern. Anhand der in diesem und im ersten Kapitel selegierten Begrifflichkeit werden solche Probleme ab dem Kap. III. spezifisch analysiert. Zum Schluß ist hinzuzufügen: Ob dieses hier ausgeführte begriffliche Muster der Wirklichkeit der heutigen konstitutionellen Staaten Westeuropas und Nordamerikas entspricht, läßt sich in bestimmten Perspektiven in Frage stellen; 69 ich werde mich aber darauf beschränken zu überprüfen, inwieweit es der Wirklichkeit der peripheren modernen Länder nicht entspricht.

3. Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit 3.1. Die Beziehung von Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit als Konkretisierung von Verfassungsnormen Dieser systemtheoretische Begriff läßt sich auf fruchtbare Weise durch die verfassungstheorethische Erörterung der Beziehung zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit ergänzen. Es handelt sich hier nicht um die alte 67 Eine solche Sicherheit setzt voraus, daß „nur ein einziges System der Gesellschaft" (also: das Rechtssystem) „diesen Code" benutzt (Luhmann, 1986 a: 126). 68 Hierzu s. Luhmann, 1981 d. 69 Vgl. z. B. Burdeau, 1962; Loewenstein, 1975 : 157-166.

3. Verfassungstext und Verfassungs Wirklichkeit

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Dichotomie,Verfassungsnorm / Verfassungswirklichkeit 4.70 Es geht vielmehr um die Frage nach der „Konkretisierung" der Verfassungsnorm 71, die in dieser Betrachtungsweise nicht mit dem Verfassungstext identisch ist. 72 Unter diesem neuen Gesichtspunkt stehen Verfassungstext und -Wirklichkeit in Beziehung durch die im Laufe des Konkretisierungsprozesses zu gewinnende Verfassungsnormativität. In der deutschen Verfassungstheorie sind in dieser Richtung die Ansätze von Friedrich Müller und Peter Häberle zu erwähnen. Nach Müllers Auffassung setzt sich die Rechtsnorm aus Normprogramm (Sprachdaten) und Normbereich (Realdaten) zusammen.73 Die Normstruktur ergibt sich aus dem Zusammenhang dieser beiden Bestandteile der Rechtsnorm. 74 Dementsprechend läßt sich die Konkretisierung der Rechtsnorm, vor allem der Verfassungsnorm, nicht auf eine „anwendende Interpretation" des verschiedene Verständnismöglichkeiten anbietenden Normtextes 75 (der nur einen Teil-Aspekt des Normprogramms bildet 76 ) einschränken; sie bezieht über das Normprogramm hinaus den Normbereich ein als „die Menge der für die einzelne Konkretisierung normativ erheblichen Realdaten."77 Hiernach definiert Müller die Normativität in zwei Dimensionen: „»Normativität 4 heißt die dynamische Eigenschaft der so aufgefaßten Rechtsnorm, die ihr zuzuordnende Wirklichkeit zu beeinflussen (konkrete Normativität) und dabei durch diesen Ausschnitt von Realität selbst wieder beeinflußt und strukturiert zu werden (sachbestimmte Normativität)." 1* Versagt der Normbereich, der eine selektive Leistung gegenüber dem Sachbereich und dem Fallbereich voraussetzt, 79 so wird die Normativität des entsprechenden Verfassungstextes betroffen. 80 Es fehlt an den Bedingungen und Voraussetzungen 70 Jellineks Lehre von der normativen Kraft des Faktischen (1976: 337 ff.) löst sich nicht von dieser Tradition. Hesse (1984) bleibt ζ. T. noch immer an diesen Dualismus gebunden, insoweit es bei ihm nur um die „Wirklichkeitsbezogenheit der rechtlichen Verfassung" (8) geht. Vgl. hierzu kritisch Müller (1984: 77-93). Siehe auch unter anderem Gesichtpunkt die Bedenken von Ritter (1968) zur Konzeption der Verwassungswirklichkeit als Rechtsquelle. Luhmann kritisiert seinerseits die überlieferte Diskussion über die Diskrepanz zwischen Verfassungstexf und Verfassungswirklichkeit, denn „dazu brauchte man keinen Verfassungsbegriff und keine Verfassungstheorie 44 (ders., 1973 b: 2), was in der vorliegenden Arbeit offensichtlich nicht der Fall ist. Schließlich ist hier anzumerken, daß im Rahmen dieser Untersuchung die Unterscheidung von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit nur als verfassungsrechtlicher Ausdruck der Differenz von System und Umwelt auftritt (s. unten S. 61 u. 91 f.). 71 Vgl. hierzu Müller, 1984: passim; Hesse, 1980: 24 ff. 72 Vgl. hierzu Müller, 1984: insb. 147-67 u. 234-40. 73 Müller, 1984: 232-34, 1975: 38 f. 74 Müller, 1984: 17 u. 250. 75 „Die komplexen hermeneutischen Probleme liegen innerhalb des Spielraums, den der Normtext verschiedenen Verständnismöglichkeiten offen läßt4' (Müller, 1984: 160) 76 Müller, 1984: 252. 77 Müller, 1984: 253. 78 Müller, 1984: 258. 79 Vgl. Müller, 1984: 253-56. so Vgl. Müller, 1984: 171.

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1. Teil, Kap. II: Die Verfassungskonzeption

für die „Erzeugung" der „einen bestimmten Fall mittelbar regierende(n)" Rechtsnorm und also der „unmittelbar normativ(en), den bestimmten Fall regelnd(en)" Entscheidungsnorm. 81 In dieser Konstellation spricht man nicht von Gesetzgebung oder Verfassunggebung, sondern von „Gesetzestextgebung" oder „Verfassungstextgebung".82 Die Rechtsnorm, insbesondere die Verfassungsnorm, wird im Verlauf ihres Konkretisierungsprozesses erzeugt. 83 Mit Müllers „sachbezogener" Perspektive paßt die „personale" / "gruppenbezogene" 84 Orientierung von Peter Häberle zusammen. Durch den Aufsatz ,Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten 4 8 5 stellt Häberle über die Frage nach den Zielen und Methoden der Verfassungsinterpretation hinaus vor allem die „Beteiligtenfrdige", um die These aufzustellen: „In Prozesse der Verfassungsinterpretation sind potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen eingeschaltet."86 Daß das „materiale" Verfassungsrecht in dieser Perspektive aus einer Vielzahl von Interessen und Funktionen entsteht, impliziert die praktische Verschiedenheit der Verfassungs'mterpretation. 87 Auf diese Weise wird die Bedeutung des Verfassungstextes nicht überschätzt wie in der herkömmlichen Interpretationslehre. 88 Im Vordergrund des Interpretationsprozesses steht die „pluralistische Öffentlichkeit". 89 Hiernach läßt sich sagen: Der Verfassungstext gewinnt seine Normativität erst mittels der Einbeziehung der „pluralistischen Öffentlichkeit" in den Interpretationsvorgang, d. h. in den Prozeß der Verfassungskonkretisierung.

3.2. Verfassungskonkretisierung und Semiotik Die Verfassungsansätze Müllers und Häberles unterliegen einer Betrachtung nach dem semiotischen Unterschied zwischen Syntaktik, Semantik und Pragmatik. 9 0 Bei Müller geht es um die semantische Eigenschaft der juristischen Sprache, 81

Über den Unterschied »Rechtsnorm / Entscheidungsnorm' s. Müller, 1984: 264 ff. 82 Vgl. Müller, 1984: 264 u. 270. 83 „Die Rechtsnorm selbst ist im Verlauf der Fallösung erst zu erzeugen" (Müller, 1984: 273). 84 So adjektiviert Ladeur, 1985: 384 f. ss Häberle, 1980. 86 Häberle, 1980: 79 f. 87 Häberle, 1980: 93 f. ss Häberle, 1980: 90. 89 „Der Verfassungsjurist ist nur ein Zwischenträger" (Häberle, 1980: 90). Derart läßt Häberle m. E. die selektive Rolle außer acht, die die Verfahrensbeteiligten im engeren Sinne (vgl. ders., 1980: 82 f.) gegenüber der „Öffentlichkeit" spielt. Da die „Öffentlichkeit" keine Einheit bildet, sondern eine Vielheit von verschiedenen Interessen, entstehen widersprüchliche Verfassungserwartungen, die im verfassungsinterpretierenden Verfahren selegiert bzw. ausgeschlossen werden. 90 Diese Einteilung der Semiotik in drei Dimensionen, die auf Peirces Begriff der „Thirdness" als triadischen Relation zwischen einem Zeichen, einem Objekt und dem

3. Verfassungstext und Verfassungsirklichkeit

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besonders der Verfassungssprache, mehrdeutig und vage zu sein, 91 was einen „Konkretisierungsprozeß" erfordert, nicht einfach einen „Anwendungsvorgang" nach Subsumtionsregeln. Bei Häberle handelt es sich um die pragmatische Eigenschaft der Verfassungssprache, sich auf verschiedene Erwartende und „Gebraucher" zu beziehen, was einen konfliktträchtigen und „ideologischen" Diskurs impliziert. Die semantischen und pragmatischen Aspekte aber hängen miteinander zusammen: Die Mehrdeutigkeit und Vagheit der Verfassungssprache führen die Entstehung verschiedener und widersprüchlicher normativer Erwartungen im Hinblick auf die Normtexte herbei, andererseits verstärken die Interessen- und Meinungswidersprüche zwischen Verfassungserwartenden die Variabilität der Bedeutung des Verfassungstextes. 92 Nur unter den Bedingungen einer Interessenund Weltanschauungseinheit würden die Verfassungsfragen ihre semantischpragmatische Relevanz verlieren, um primär eine nach den Regeln der logischen Ableitung und Subsumtion orientierte, syntaktische Frage zu werden. Das ist aber unvereinbar mit der Komplexität der modernen Gesellschaft. In dieser semiotischen Perspektive rechtfertigt sich dann die kritische Reaktion der Topik (Viehweg), der Hermeneutik (Müller) und der pluralistischen Verfassungsinterpretation (Häberle) auf den Anspruch des Rechtspositivismus, die Verfassungsfrage als Rechtsfrage primär unter ihren syntaktischen Aspekten zu behandeln. „Situative Denkweise" 93 , „Konkretisierungsprozeß" und „pluralistische Öffentlichkeit" sind unterschiedliche Formeln, die semantische Uneindeutigkeit des Verfassungstextes und die pragmatische Vielheit der Verfassungserwartungen (Wert- bzw. „ideologischen" Dissens in der diskursiven „Gemeinschaft") hervorzuheben. Derart bleibt die syntaktische Dimension — im Gegensatz zu dem Rechtspositivismus — der semantisch-pragmatischen untergeordnet. 94

interpretierenden Denken zurückgeht (vgl. Peirce, 1985: insb. 149 ff.), wurde von Morris (1938: 6 ff.) formuliert und von Carnap (1948: 8-11) übernommen. Verschiedene Strömungen der Rechtstheorie haben sie verwendet; vgl. z.B. Schreiber, 1962: 10-14; Viehweg, 1974: 111 ff.; Ross, 1971: 14-16; Kalinowski, 1971: 77 f., 82-93; Capeila, 1968: 22 u. 76; Warat, 1972: 44-48, 1984: 39-48; Reale, 1968: 173. Das ist zwar weitgehend unumstritten, es werden aber unterschiedliche Schlußfolgerungen daraus gezogen — vgl. z. B. Kelsen, 1960: 348 f.; Smend, 1968: 236; Ehrlich, 1967: 295; Ross, 1971: 111 f., 130. Spezifisch über die Mehrdeutigkeit und Vagheit der juristischen Sprache s. Canio, 1986: 28 ff.; Koch 1977: 41 ff.; Warat, 1984: 76-79, 1979: 96-100. Im Zusammenhang mit der symbolischen Funktion des Rechts s. auch hierüber Edelman, 1976: 173-176. 92 Hierzu behauptet Edelman (1976: 175): „Für die direkt Beteiligten unterliegt die Bedeutung des Rechts einer dauernden und beobachtbaren Wandlung je nach den veränderten Machtpositionen der beteiligten Gruppen." 93 Hierzu Viehweg, 1974: insb. 111 ff. Hier ist anzumerken, daß bei Viehweg das semantische Denkmuster nichtsituativ ist in dem Maße, wie die Bedeutung der Wörter „im Grunde ein für allemal" feststehe (1974: 114). Man kann aber zwischen der eine eindeutig festgesetzte Bedeutung des Zeichens implizierenden, sintaktisch-semantischen Denkweise (vgl. ders., 1974: 111 f.) und der die Variabilität des Sinnes der Termini und Ausdrücke voraussetzenden, semantisch-pragmatischen Denkweise unterscheiden.

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1. Teil, Kap. II: Die Verfassungskonzeption

A l l das setzt voraus, daß die Rechtssprache, namentlich die Verfassungssprache, keine „künstliche" Sprache ist, sondern ein spezialisierter Typus der „gewöhnlichen" Sprache, 95 die sich also grundsätzlich aus der semantisch-pragmatischen Situation heraus entwickelt. 96 Somit ist eine syntaktische Isolierung durch Neutralisierung der semantischen und pragmatischen Probleme zugunsten der Eindeutigkeit und Erwartungseinheit unvorstellbar. Möglich ist jedoch die Konkretisierungsselektivität durch Verfahren und Argumente, die aber von Fall zu Fall stark variieren kann. Im Anschluß daran ist anzumerken, daß auch in einer semiotischen Perspektive die hierarchische normative Überlegenheit der Verfassung relativiert werden muß. Die vollständige Trennung von Metasprache und Objektsprache 97 hat Bedeutung nur auf der syntaktischen Ebene. In der semantisch-pragmatischen Dimension bedingen sich Metasprache und Objektsprache gegenseitig. Andererseits, obgleich der Verfassungstext im Hinblick auf die „Verfassungskonkretisierung" als Metasprache fungiert, bilden die Verfassungsinterpretierenden Entschei-

dungen Metasprache hinsichtlich des Verfassungstextes (Objektsprache). 98 Hat man dieses Merkmal des Verfassungstextes vor Augen, im Verhältnis zur Konkretisierungssprache gleichzeitig Meta- und Objektsprache zu sein, so läßt sich unter semiotischen Gesichtspunkten sowohl der Unterschied von Verfassungsnorm und 94 Dem linguistischen Strukturalismus entsprechend würde man dazu sagen: Was die Verfassungssprache anbelangt, haben die paradygmatischen (assoziativen) Beziehungen Vorrang vor den syntagmatischen. Über diesen Unterschied s. Saussure, 1922: 170-75; Barthes, 1964: 114-30. 95 Vgl. Visser't Hooft, 1974; Carrió, 1986: 49 ff. Es läßt sich nach Luhmanns Ansatz behaupten, daß die Spezialisierung der „gewöhnlichen" Sprache mit der getrennten Entwicklung von Zusatzeinrichtungen zur Sprache „in der Form symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien für je spezifische Funktionsbereiche" (hierzu Luhmann, 1975d) und daher mit dem Ausbilden entsprechender binärer Schematismen zusammenhängt, im Fall der juristischen Sprachen also dem Gebrauch der Code-Differenz von Recht und Unrecht ausschließlich in einem dafür ausdifferenzierten Funktionssystem (vgl. Luhmann, 1974: 62, wo jedoch diese Code-Differenz mit dem Kommunikationsmedium Macht verbunden wird, nicht genauer mit dem Kommunikationsmedium Recht — aber vgl. oben Anm. 222 des Kap. I.). 96 Hierfür gilt die berühmte Behauptung von Wittgenstein, 1960: 311 (§ 43): „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache". Daran schließt sich z. B. Müller (1975: 32-34) an. 97 Über diese Paar-Begriffe vgl. Carnap, 1948: 3 f.; Barthes, 1964: 130-32. 98 Vgl. hierzu Neves, 1988: 160-162. Aber in diesem früheren Beitrag (162) wurde im Unterschied zum „präskriptiven" Charakter der Verfassungsnormen für deren eigene Interpretation / Anwendung die Verfassungsinterpretierende Entscheidung als „deskriptive" (d. h. kognitive) Metasprache bezüglich der Verfassungsnormen gekennzeichnet. In der vorliegenden Arbeit handelt es sich vielmehr um das zirkuläre Verhältnis von Verfassungstejtf und dessen eigene Interpretation, die auch normative Implikationen hat. In diesem Sinne betont Luhmann (1990 b: 217): „Die selbstreferenzielle Komponente kommt dadurch zustande, daß auch die Interpretation normative Bindungen zu erzeugen versucht — und nicht einfach nur über den Text redet. Insoweit findet sich der Verfassungsjurist in der gleichen Situation wie der Linguist, der über Sprache spricht und daher an seinem Objekt sein eigenes Verhalten erkennt." Dazu vgl. Hofstadter, 1986:24 f.

3. Verfassungstext und Verfassungs Wirklichkeit

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-text als auch die Unhaltbarkeit der herkömmlichen Vorstellung der hierarchischen Überlegenheit der Verfassung klarer einsehen. Einer systemtheoretischen Lektüre dieser semiotisch-linguistischen Betrachtungsweise entsprechend läßt sich sagen, daß die Verfassunggebung nur einer der Filterungsprozesse für die rechtliche Geltung der verfassungsnormativen Erwartungen bildet: Die verschiedenen und widersprüchlichen Erwartungen im Hinblick auf den schon gesetzten Verfassungstext werden durch die verfassungskonkretisierenden Entscheidungen gefiltert bzw. selektiert; erst in diesem Rahmen ist von geltenden Verfassungsnormen zu sprechen. — Möchte man unter diesem Gesichtspunkt auf die Dichotomie „Verfassungsrecht / -Wirklichkeit" bestehen, dann bedeutet sie hier den Unterschied zwischen geltendem Verfassungsrecht als Komplex der durch Verfassunggebung und Verfassungskonkretisierung gefilterten normativen Verhaltenserwartungen sowie der entsprechenden Kommunikationen (Verfassungs^iemJ und Verfassungs Wirklichkeit als Gesamtheit der Erwartungen und Verhaltensweisen, die sich über andere spezifische Systemcodes bzw. „lebensweltlich" auf das Verfassungsrecht beziehen (Verfassungsw/mve/i) —. Je mehr die soziale Komplexität zunimmt, desto stärker werden die Divergenzen der Verfassungserwartenden bezüglich des Verfassungstextes, um so mehr verändert sich dessen Bedeutung durch die Auslegung und Anwendung. Das, was für alle rechtlichen Normtexte gilt, ist besonders bedeutsam im Bereich des Verfassungsrechts, insoweit es umfassender in der Sozial-, Sach- und Zeitdimension ist. 3.3. Verfassungstext und symbolische Politik Die Diskussion über das Verhältnis ,Verfassungstext / Verfassungswirklichkeit 4 gewinnt eine spezielle Bedeutung für die vorliegende Arbeit, wenn es darum geht, daß dem Verfassungstext die spezifische Verfassungsnormativität fehlt: Ihm entsprechen nicht geltende Verfassungsnormen als kontrafaktisch stabilisierte, kongruent generalisierte Verhaltenserwartungen. Der Verfassungstext erfüllt andere soziale Funktionen, nicht seine scheinbare rechtliche Funktion. Anhand des in den letzten Jahren sehr diskutierten Begriffs der symbolischen Gesetzgebung oder Gesetze" kann man hier das Konzept der symbolischen Verfassunggebung bzw. Verfassungstexte anführen. 100 Damit wird nicht verkannt, daß die Systemintegration nicht nur von „instrumentalen Variablen" abhängt, sondern auch von „symbolischen (expressiven) Variablen 44 . 101 Dementsprechend bedarf 99 Dieser Begriff, der auf Arnold (1935), Edelman (1976) und Gusfield (1963,1967 a) zurückgeht, findet besondere Resonanz in der heutigen Diskussion über die Funktionen der Gesetzgebung oder Gesetze. Vgl. z. B. Noll, 1981; Hegenbarth, 1981; Kindermann, 1988, 1989 . 100 Bryde (1982: 27-29) spricht von „symbolischen Verfassungen" im Gegensatz zu „normativen Verfassungen". Im Anschluß daran vgl. Grimm, 1989: 639. ιοί Vgl. Luhmann, 1983a: 223-32, 1987a: 315 ff.

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das positive Recht auch der Einsetzung von symbolischen Elementen, um seine erwartungssichernden und verhaltenssteuernden Funktionen zu erfüllen. 102 Aber im Rahmen der Debatte um symbolische Gesetzgebung bzw. Gesetze oder um „symbolische Verfassung" wird dem Wort »symbolisch4 ein sehr spezifischer Sinn zugeschrieben: Es bezieht sich auf eine Hypertrophie, nämlich auf den symbolischen Einsatz der Rechtssetzung im Widerspruch zur spezifischen Funktion des Rechtssystems, normative Erwartungen zu orientieren und Verhalten zu steuern. 103 Dabei handelt es sich offensichtlich um einen relativen, gradualen Begriff. 104 Aber wenn nicht nur bestimmte Gesetze oder Verfassungseinrichtungen als symbolisch in dem hier verwendeten Sinn zu bezeichnen sind, sondern auch der gesamte Verfassungstext in seinen Beziehungen zu den Grundrechten, der Gewaltenteilung und dem Wahlverfahren, dann ist die Positivität (als Selbstbestimmtheit) des Rechts im ganzen zu bestreiten, denn in diesem Fall versagt das Verfassungsrecht als umfassendste reflexive Instanz des Rechtssystems.105 Nach Kindermann kann Inhalt symbolischer Gesetzgebung sein: ,,a) soziale Werte zu bekräftigen, b) die Handlungsfähigkeit des Staates unter Beweis zu stellen und c) die Lösung gesellschaftlicher Konflikte durch dilatorische Kompromisse aufzuschieben." 106 Vor allem die Fallgruppe „b" („Alibigesetzgebung") 107 hat Bedeutung für die symbolische Verfassunggebung in den peripheren Ländern, die formal demokratische Institutionen übernehmen. Es handelt sich auch hier um den Versuch, Vertrauen in die Regierung oder in den Staat zu schaffen, „den Anschein einer Lösung zu erwecken", nicht darum, gesellschaftliche Probleme und Verhältnisse wirksam zu normieren. 108 Die Alibiverfassunggebung 109 hat eine vorwiegend ideologische Funktion: Dem Verfassungstext fehlt die scheinbare rechtsnormative Funktion; die Verfassungssprache dient auf der pragmatischen 102 Das Recht selbst wird bei Luhmann als eines der „symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien" eingeordnet (vgl. hierzu ders., 1975d, 1987b: 135 ff., 222 ff.); aber hier hat „symbolisch" schon einen anderen Sinn als bei der Unterscheidung von „instrumentalen" und „expressiven" Variablen. 103 In diesem Sinne behauptet Kindermann (1989: 258): „Symbolische Gesetzgebung darf nicht lediglich als Kontrapunkt zur instrumenteilen Gesetzgebung zeitgenössischer Provenienz gesehen werden, sondern muß als Alternative zur normativ-generellen Verhaltenssteuerung begriffen werden." Es ist aber zu bedenken, ob es in den Fällen, in denen strukturelle Unmöglichkeit für die entsprechende normativ-generelle Verhaltenssteuerung besteht, von „Alternative dazu" zu sprechen ist. 104 Vg. Bryde, 1982: 27 f. los Besonders hier ist dann eine Behandlung des Problems nach dem implementationstheoretischen Muster untauglich; zu diesem Ansatz s. Mayntz, 1983, 1988. 106 Kindermann, 1988: 230; vgl. auch ders., 1989: 267. io? Kindermann, 1988: 234-38, 1989: 267 ff. los Kindermann, 1988: 234, der aber von „Lösung gesellschaftlicher Probleme" durch Gesetze spricht, was vor allem im Hinblick auf Verfassungen nicht angemessen ist: Sie können „die Wirklichkeit nicht unmittelbar verändern, sondern nur mittelbar beeinflussen" (Grimm, 1989: 638). 109 In anderer Konstellation spricht auch Burdeau (1962: 398) von „Verfassung" als Alibi und Symbol.

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Ebene der „legitimierenden" Entlastung des politischen Systems gegenüber der gegenläufigen Wirklichkeit. 110 Daß ein Muster vermittelt wird, das sich nur unter anderen sozialen Bedingungen verwirklichen kann, trägt dazu bei, soziale Spannung abzuschwächen und ζ. T. zu kontrollieren, 111 die Überzeugung der Wahrhaftigkeit des importierten „demokratischen" Modells zu bewirken. Wir befinden uns hier im Bereich des Ideologischen 112 im Sinne (ohne deren normative Implikationen übernehmen zu wollen) der folgenden Definition von Habermas: „Illusionen, die mit der Macht gemeinsamer Überzeugungen ausgestattet sind, nennen wir ja Ideologien." 113 Es handelt sich nicht um Ideologie im Sinne Luhmanns, die — als künstliche Neutralisierung anderer Möglichkeiten 114 oder Bewerten von Werten (reflexiver Mechanismus)115 — zur funktional adäquaten Reduktion der Komplexität in der heutigen Gesellschaft dienen kann; 116 im Rahmen des Luhmannschen Ideologie-Begriffs wäre es zu bejahen; es geht um die einseitige Wirkung des „symbolischen" Aspekts der Ideologie, d. h. um Mangel an ihrer entsprechenden (ausgleichenden) „instrumentalen Funktion". 117 Aber andererseits ist die Ideologie in der vorliegenden Untersuchung nicht als Verzerrung einer wesentlichen Wahrheit zu verstehen, nicht einmal also als eine falsche Vorstellung dessen, was „nicht nicht ist". 1 1 8 Bei symbolischer Verfassunggebung besteht das ideologische Problem darin, daß ein Muster vermittelt wird, dessen Verwirklichung nur unter ganz anderen sozialen Bedingungen möglich wäre. Auf diese Weise wird undurchsichtig, daß der gesellschaftliche Zustand, dem das symbolische Verfassungsmodell zu entsprechen hätte, nur durch eine 110 „Hier würde", so Hollerbach (1969: 42) in einem wortreichen Stil, „mit Recht von der Verfassung als ,reiner Ideologie4 gesprochen werden, wenn sie nur noch als real unwirksamer, bodenloser »Überbau4 ohne Sachhaltigkeit erschiene, der allenfalls mit Hilfe von Fiktionen oder Vergewaltigungen der Wirklichkeit aufrechterhalten werden kann." ι 1 1 Nach Edelman, (1976: 34) „ist es eine der nachweisbaren Funktionen der Symbolisierung, ein Gefühl des Befriedigtseins zu erzeugen: das Lösen von Spannung." Im Anschluß daran vgl., was die Alibigesetzgebung angeht, Kindermann, 1988: 235, der auch in Anlehnung daran hinzufügt (1989: 269): „Alibigesetzgebung entlastet auch das Publikum". 112 Ohne damit zu verkennen, daß das Ideologische und das Symbolische sich nicht decken (vgl. in diesem Sinne Lefort, 1981: 68 ff., 82). Dabei handelt es sich um das Schnittfeld der beiden Kreise. Π3 Habermas, 1987 b: 246. 114 Luhmann, 1962. us Luhmann, 1984c: 182 ff. 116 „Positives Recht und Ideologie gewinnen in sozialen Systemen eine Funktion für die Reduktion der Komplexität des systems und seiner Umwelt" (Luhmann, 1984c: 179). 117 Vgl. Luhmann, 1984c: 183. 118 Hierzu kritisch Luhmann, 1962: passim. Ein Überblick über die in der abendländischen philosophischen und wissenschaftlichen Überlieferung vorherrschenden Konzeptionen der Ideologie findet sich bei Lenk (Hg.), 1972. Siehe dazu auch zusammenfassend Topitsch, 1959. Über die Verhältnisse zwischen Recht und Ideologie s. unter verschiedenen Gesichtspunkten Maihofer (Hg.), 1969.

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tiefe soziale Umwälzung Wirklichkeit werden könnte. Oder das Verfassungsmuster fungiert als Ideal, das durch die Machthaber und ohne Schaden für die privilegierten Gruppen zu erreichen wäre. Es handelt sich um Illusionen, Täuschungen, die das politische System gegen andere Alternativen immunisieren. 119 Dadurch können nicht nur die gesellschaftlichen Probleme und Verhältnisse, die mittels Verfassungen anders zu normieren wären, unverändert bleiben, 120 sondern darüber hinaus auch der Weg zum sozialen Wandel in Richtung auf den proklamierten Verfassungsstaat verbaut werden. 121 In systemtheoretischer Perspektive werden symbolische Verfassungstexte bzw. Verfassunggebung 122 als Symptom unzulänglicher Positivierung des Rechts betrachtet: Das Recht ist nicht genügend ausdifferenziert, um ein selbstbestimmtes System zu bilden. Genaugenommen entspricht dem Verfassungstext nicht eine Verfassung als reflexive Instanz des Rechtssystems. Es fehlt an Verfassung als hinreichend aus- und innendifferenziertem Teilsystem des Rechts, d. h. an Verfassung im modernen Sinne. Der „Verfassungstext" dient primär der Politik, aber nicht der Rechtsnormierung des politischen Verhaltens. Seine Funktion ist in erster Linie politisch-ideologisch. Die Verfassungsinstitutionen wie Grundrechte, Gewaltenteilung und politische Wahl bilden die schöne Fassade einer zerbrechlichen Konstruktion. Da die Verfassungsnormativität entfällt, verliert das Rechtssystem an Reflexivität (d. h. wird es durch andere soziale Systeme, vor allem durch das politische, blockiert) und damit an Funktions- und Leistungsfähigkeit. Mit anderen Worten: die autopoietische Reproduktion wird oft gebrochen, das Recht versagt als kongruente Generalisierung von Verhaltenserwartungen und als sozialer Mechanismus für Konfliktlösung. Aber es handelt sich hier nicht um Ineffektivität der Verfassung im Sinne der überlieferten Dichotomie affektive / ineffektive Rechtsnormen4. Obgleich die symbolische Verfassunggebung Mangel an rechtlicher Verfassungsnormativität impliziert, erfüllt der entsprechende Verfassungs-

u9 in Anbetracht des Realitätsverlustes der Gesetzgebung (Hegenbarth, 1981: 204) und dessen, daß bei symbolischer Politik nicht Betrug, sondern eine soziale „Rollenübernahme" vorliegt (Edelman, 1976: 16), sind die Begriffe der Manipulation und Täuschung „zu relativieren" (Kindermann, 1988:238). Hiernach schreibt Kindermann, daß es „sicher zu kurz" greift, „bei der Alibigesetzgebung den Gesetzgeber als den Täuschenden und die Bürger als die Getäuschten anzusehen" (1989: 270), was auch für die „Alibiverfassunggebung" gilt. Vgl. auch Offe, 1976: IX f. 120 Vgl. Bryde, 1982: 28 f. 121 Noll (1981: 364) weist kritisch auf „Rechtssetzungsakte" hin, „die nur die Funktion von Ersatzhandlungen bzw. Ersatzreaktionen haben, die nicht nur die Probleme ungelöst lassen, sondern dazu noch den Weg zu ihrer Lösung verbauen." Vgl. im Anschluß daran, was spezifisch die „Alibigesetzgebung" anbelangt, Kindermann, 1988: 235, 1989: 270. Aber s. oben Anm. 108 dieses Kap. 122 Luhmann (1990b: 213 f.) spricht hierzu von „nur [ . . . ] als Mittel »symbolischer Politik4 " zu betrachtenden „Verfassungsgesetzen" und verhindert derart die Mißverständnisse, die gegenüber dem im Rahmen seines Werks dem Wort „symbolisch" zugeschriebenen Sinn aus der Adjektivierung im Sinne des vorliegenden Textes resultieren würden (s. oben S. 61 f.).

4. Die Klassifizierung der Verfassung von Karl Loewenstein

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text eine sehr effektive politisch-ideologische Funktion. 123 Hier kann man im Anschluß an Wilhelm Aubert 124 von latenten Funktionen oder Effekten der Verfassunggebung sprechen. Ich komme an anderen Stellen darauf zurück.

4. Die Klassifizierung der Verfassung von K a r l Loewenstein: Eine Reinterpretation Im Lichte der in den beiden letzten Abschn. ausgeführten Elemente läßt sich die sogenannte „ontologische" Klassifizierung der Verfassung von Karl Loewenstein 125 reinterpretieren. „Statt sich mit der Substanz und dem Inhalt der Verfassungen zu beschäftigen, stellt die ontologische Analyse auf die Übereinstimmung der Verfassungsnormen mit der Wirklichkeit des Machtprozesses ab." 1 2 6 Nach diesem Kriterium unterscheiden sich die „normativen", „nominalistischen" und „semantischen" Verfassungen. Kennzeichnend für die „normativen Verfassungen" ist ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit des Machtprozesses. So Loewenstein: „Ihre Normen beherrschen den politischen Prozeß, oder, umgekehrt gesehen, der Machtprozeß paßt sich den Normen der Verfassung an und ordnet sich ihnen unter." 127 Hingegen klaffen „Verfassungsnormen" und gesellschaftliche Realität in den Fällen der „nominalistischen Verfassungen" auseinander. „Der tatsächliche Stand der Dinge läßt die vollständige Integration der Verfassungsnormen in die Dynamik des politischen Lebens nicht oder noch nicht zu." 1 2 8 Aber Loewenstein warnt: „Diese Situation darf jedoch nicht mit der wohlbekannten Erscheinung verwechselt werden, daß sich die Verfassungspraxis vom Verfassungswortlaut unterscheidet." 129 Metamorphose der Verfassung durch Interpretation / Anwendung bzw. Konkretisierung ist unentbehrlich für den Fortbestand der „normativen Verfassungen" und ihre Anpassung an die Wirklichkeit. Bei „nominalistischen Verfassungen" dagegen fehlen auch die sozialen Voraussetzungen für die Verwirklichung ihres Inhaltes. Schließlich werden die „semantischen Verfassungen" dadurch gekennzeichnet, daß sie zwar „voll angewendet und im Gang begriffen" sind, aber „anstatt der Beschränkung der politischen Macht zu dienen, (sind) sie das Werkzeug zur 123 Vgl. Bryde, 1982: 28. 124 Auf der Basis einer Untersuchung des Norwegischen Hausangestelltengesetzes von 1948 führte Aubert (1967) die Unterscheidung zwischen manifesten und latenten Funktionen der Gesetzgebung ein, die auf Merton (1968: 105 u. 114 ff.) zurückgeht. Vgl. hierzu auch Treves, 1978: 169 f. 125 Vgl. Loewenstein, 1975: 151-57, 1956: 222-25. 126 Loewenstein, 1975: 152. 127 Loewenstein, 1975: 152. 128 Loewenstein, 1975: 153. 129 Loewenstein, 1975: 152. Vgl. auch ders., 1956: 223. 5 Neves

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Stabilisierung und Verewigung des Zugriffs der faktischen Herrscher auf die Gemeinschaft geworden." 130 Hier handelt es sich um die neuzeitlichen Autokratien, sei es in ihren autoritären oder totalitären Erscheinungen. 131 Während besondere Schwierigkeiten bestehen, zwischen „normativen" und „nominalistischen Verfassungen" zu unterscheiden, gibt es bei „semantischen Verfassungen" untrügliche Anzeichen dafür, sie anzuerkennen. 132 In diesen Fällen läßt sich die nackte Verfügung der Machthaber über die „Verfassungswirklichkeit" klar feststellen. Bei dieser Klassifizierung Loewensteins handelt es sich primär um die spezifische Funktion (i. w. S.) der Verfassunggebung bzw. des Verfassungstextes, insbesondere gegenüber der politischen Wirklichkeit. Entspricht dem Verfassungstext eine spezifische Verfassungsnormativität, so spricht man von „normativer Verfassung". Das bedeutet nicht, daß zwischen Verfassungsnormen und Wirklichkeit des Machtprozesses eine perfekte Übereinstimmung besteht. Spannungen zwischen Verfassungswirklichkeit und Verfassungsgesetzen wird es notwendigerweise immer geben. 133 „Distanz zur Wirklichkeit" ist der Notmativität der Verfassung innewohnend.134 Was hauptsächlich die „normative Verfassung" charakterisiert, ist, daß sie wirklich als ein innendifferenziertes Teilsystem des ausdifferenzierten Rechtssystems fungiert. Der Verfassungstext hat hier nicht nur eine spezifische Rechtsnormativität, sondern sie dient darüber hinaus wesentlich zur Bildung der Verfassung als reflexiver Instanz des Rechtssystems. Verfassunggebung und Verfassungskonkretisierung sind tatsächliche Filterungsprozesse bezüglich der Verfassungserwartungen. Durch die Verfassung als Normierung von Normierung von Normierung (reflexiven Mechanismus) (s. oben S. 52) wird die Fremdbestimmtheit des Rechtssystems durch andere soziale Systeme, vor allem die Politik, verhindert. Die Verfassung ist also Voraussetzung für die Positivität 130 Loewenstein, 1975: 153 f. Vgl. auch ders., 1956: 223. 131 Vgl. hierzu Loewenstein, 1975: 52 ff. Nach Bryde (1982: 30 Anm. 11) „faßt Loewenstein unter den Begriff (der,semantischen Verfassungen 4, M. N.) so unterschiedliche Gebilde wie Sowjetverfassungen, Batistas scheindemokratische (sie.) Verfassung und NS-Verfassung, daß die Kategorie zu vage wird." Aber Bryde (29 ff.) führt eine noch vagere Kategorie unter das Konzept der „ritualistischen" (im Unterschied zu den „relevanten") Verfassungen an, insoweit es sich sowohl auf den Fall, für den Großbritannien ein Musterbeispiel ist, als auch auf „semantische Verfassungen" im Sinne Loewensteins bezieht (32 f.). 132 Loewenstein, 1975: 154. 133 Ronneberger, 1968: 426. Er unterscheidet die Verfassungswirklichkeit i. e. S. als der „Kampfplatz divergierender politischer Normen" (424) von der Verfassungswirklichkeit i. w. S., die „schlechthin mit abweichenden Verhalten zu tun" hätte (424 f.). Möchte man die Dichotomie „Verfassungsrecht / -Wirklichkeit" beibehalten, dann weist sie im Rahmen dieser Untersuchung vielmehr auf eine spezifische Differenz von System und Umwelt hin (s. oben S. 61 u. unten S. 91 f.) 134 „Die Verfassung bezieht [ . . . ] Distanz zur Wirklichkeit und gewinnt daraus erst das Vermögen, als Verhaltens- und Beurteilungsmaßstab für Politik zu dienen" (Grimm, 1989: 635). „Distanz zur Wirklichkeit" ist hier als „Autonomie gegenüber der Umwelt" zu übersetzen (s. die letzte Anm.).

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als Selbstbestimmtheit des Rechts (s. oben Kap. I. 4. u. Kap. II. 2.). Die Einwirkung der Politik auf das Recht wird durch ihre Normen vermittelt. Nur auf dieser Basis kann sich das Rechtssystem als kognitiv offen und normativ geschlossen (s. oben Kap. I. 4.2.) erweisen. Die „normative Verfassung" bildet andererseits eine Struktur, „die auf kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen beruht" (vgl. oben S. 23 f.) in dem Maße, wie es sich in Anbetracht ihrer Vorschriften schon mit einer gewissen Sicherheit wissen läßt, ob man im Recht oder im Unrecht ist. Die Verfassungsnormen bilden Kriterien für die Anwendung des Codes Recht / Unrecht (s. Kap. V. 1.1.). Die „normative Verfassung", die also dem oben ausgeführten begrifflichen Muster entspricht (Abschn. 2. dieses Kap.), soll die Regel in den Demokratien Westeuropas und Nordamerikas sein, wo die Voraussetzungen dafür bestehen.135 Ob dies wirklich der Fall ist, läßt sich in bestimmten Perspektiven in Frage stellen. 136 Ich werde mich aber darauf beschränken zu überprüfen, inwieweit dies in den peripheren modernen Ländern nicht der Fall ist. Hiermit gehe ich zu den Begriffen der „nominalistischen" und „semantischen" Verfassung über. Bei „nominalistischen Verfassungen" hat die Verfassunggebung bzw. der Verfassungstext primär symbolische Funktion. Man könnte einwenden: auch die „normativen Verfassungen" erfüllen symbolische Funktion. 137 Dieser Einwand läßt sich zurückweisen, insoweit die „normativen Verfassungen" gleichzeitig eine dazu ausgleichende normative Kraft haben. Wie immer man sagen mag, besteht bei ihnen eine Kombination zwischen der symbolischen und der instrumentalen Dimension. Bei „nominalistischen Verfassungen" hingegen fehlt dem Verfassungstext in so weitem Umfang die entsprechende Normativität, daß dessen symbolische Funktion das ist, was bedeutsam bleibt (s. Abschn. 3.3. dieses Kap. u. Kap. III. 3.2.4.). Hierfür ist nicht überzeugend der Vergleich Loewensteins: „Der Anzug hängt zur Zeit noch im Schrank; er soll aber getragen werden, wenn die Figur der Nation in ihn hineingewachsen ist." 1 3 8 Geschweige denn seine naive Behauptung: „Die Hoffnung besteht aber, gegründet auf den guten Willen der Machtträger und der Machtadressaten, daß früher oder später die Wirklichkeit des Machtprozesses dem in der Verfassung niedergelegten Modell entsprechen 135 Vgl. Loewenstein, 1975: 154, 1956: 223. 136 In diesem Sinn spricht Burdeau (1962) von , Auflösung des Verfassungsbegriffs". Seinerseits betont Loewenstein (1975: 157-166) „die Entwertung der geschriebenen Verfassung in der konstitutionellen Demokratie." 137 Vgl. hierzu Edelman, 1976: 15 f.; Burdeau, 1962: 398. Nach Bryde handele es sich hierbei eher um „ritualistische" Aspekte der Verfassungen in dem Maße, wie im Gegenteil zum Fall der „symbolischen Verfassungen" die in den Verfassungsvorschriften verankerten Entscheidungsverfahren trotz deren Irrelevanz für den staatlichen „Willensbildungsprozeß" normgemäß vorgenommen werden (vgl. ders., 1982: 28 ff.; s. auch oben Anm. 131 dieses Kap.). 138 Loewenstein, 1975: 153; vgl. auch ders., 1956: 223. 5*

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wird." 1 3 9 Es handelt sich nicht um eine primär erzieherische Funktion der Verfassung. 1 4 0 Es geht vielmehr um Alibiverfassunggebung (s. oben S. 62 ff.). In rechtswissenschaftlicher Sprache: „die Verfassung (ist) nur noch eine Huldigung an die juristischen Traditionen, ein Alibi, das den Vorrang des Tatsächlichen vor dem Recht nur schlecht verschleiert." 141 Der Verfassungstext dient nicht zum sozialen Wandel, sondern umgekehrt—insofern er eine ideologisch-legitimierende (d. h. hier Alibi-) Funktion erfüllt — dazu, den Weg zur Veränderung der Gesellschaft zu verbauen. Das Ziel der „nominalistischen Verfassungen" ist also nicht, „in der näheren oder ferneren Zukunft in vollem Umfang normativ zu werden". 142 Das Gegenteil: vieles spricht dafür, daß die „Machtinhaber" und die privilegierten Gruppen kein Interesse an einem grundsätzlichen sozialen Wandel haben. Der Diskurs der Macht beruft sich jedoch auf die „demokratische" Verfassungsurkunde, die Anerkennung der Grundrechte, die freie und demokratische Wahl u. s. w. als Errungenschaften der Regierung oder des Staates. Die Texte der „nominalistischen" und der „normativen Verfassungen" enthalten hauptsächlich dasselbe institutionelle Muster: Grundrechte, Gewaltenteilung, demokratische Wahl und auch die sozialstaatlichen Vorschriften. Das aber hat offensichtlich zu wenig Bedeutung, um die entsprechenden Länder in dieselbe Gruppe einzuordnen: „demokratische Gesellschaften". Trotzdem wird diese ideologisch sehr aufgeladene Formel von Staatsregierenden mit „nominalistischen Verfassungen" genauso oft verwendet wie von ihren Kollegen unter „normativen Verfassungen". Systemtheoretisch gesehen, impliziert die „nominalistische Verfassung" unzulängliche Ausdifferenzierung des Rechts, d. h. dessen mangelhafte Positivierung. Ungeachtet des Inhaltes des Verfassungstextes wird eine Verfassung als reflexive Instanz innerhalb des Rechtssystems nicht bzw. nur sehr unzulänglich errichtet. Es fehlt an Verfassung als innendifferenziertem Teilsystem eines selbstbestimmten Rechtssystems. Da die Voraussetzungen dafür nicht vorkommen, ist die Normativität des Verfassungstextes nicht ausreichend, um die autopoietische Reproduktion der Systemelemente zu sichern. Das Rechtssystem wird in erster Linie blockiert bzw. allopoietisch bestimmt, weil die Verfassungsnormativität versagt: Der Verfassungstext hat primär politisch-ideologische Funktion. Verfassungssetzung und Verfassungsanwendung / -befolgung klaffen so weit auseinander, daß weder als Verhaltenssteuerung noch als Erwartungssicherung die „nominalistische Verfassung" erfolgreich funktioniert. Die Rechtsunsicherheit ist hier139 Loewenstein, 1975: 153. 140 Hiergegen Loewenstein, 1975: 153. 141 Burdeau, 1962: 398. Bei Burdeau aber hat diese Behauptung einen umfassenderen Geltungsanspruch: Sie bezieht sich auch auf die heutigen Verfassungen Westeuropas und Nordamerikas. 142 Loewenstein, 1975: 153, im Gegensinne. Hierzu schreibt Bryde (1982: 28 Anm. 4) zu Recht: „Die ganze Kategorie dürfte aber bei Loewenstein auf die in den 50er und 60er Jahren verbreitete Fehldeutung der Rolle der Führungsschichten in den Entwicklungsländern als idealistischer »modernizing elite4 zurückgehen.44.

4. Die Klassifizierung der Verfassung von Karl Loewenstein

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aus die negativste Folge. Es handelt sich hierbei um externe Asymmetrisierung des Rechtssystems über normative Orientierung, in diesem Fall während des Konkretisierungsprozesses, worauf ich mich im Hinblick auf das Verfassungsrecht der peripheren Länder unten (ab Kap. III. 2.) konzentrieren werde. Was die sogenannte „semantische Verfassung" anbelangt, möchte ich zuerst eine Umbenennung vorschlagen, da im Rahmen der Klassifikation von Loewenstein die Wortwahl „semantisch" mit dem üblichen Sinne dieses Wortes fast nichts zu tun hat. In Anbetracht dessen, daß sich in diesen Fällen die „Verfassungen" als „Werkzeug" bezeichnen lassen (s. oben S. 65 f.), ist es angemessener, von „instrumentalistischen Verfassungen" zu sprechen. Damit wird nicht verkannt, daß auch „normative Verfassungen" wichtige Instrumente der Politik sind; aber sie sind darüber hinaus Mechanismen zur Kontrolle und Begrenzung der politischen Tätigkeit. Bei „instrumentalistischen Verfassungen" hingegen benutzen die Machthaber die Verfassungstexte bzw. Verfassungsgesetze als reine Mittel der Herrschaftsdurchsetzung, ohne an sie normativ gebunden zu sein: Die Herrscher verfügen über die „Werkzeuge" und können sie ohne jede rechtliche Beschränkung umbauen oder ersetzen. Die „instrumentalistische Verfassung" stimmt — im Gegensatz zur „nominalistischen Verfassung" — mit der Wirklichkeit des Machtprozesses überein 143 ohne jede kontrafaktische Reaktion auf die politische Tätigkeit der okkasionellen Machthaber. 144 In diesem Fall aber wird der Konstitutionalismus — im Widerspruch zur „normativen Verfassung" — manifest abgelehnt. Hier dient die „Charta" primär zur einseitigen Instrumentalisierung des Rechtssystems durch die Politik. Infolge des effektiven „Verfassungstextes" wird das Recht dem politischen System untergeordnet. Die symbolische Funktion des Textes ist nicht auszuschließen: Erklärung der Grundrechte, politische Wahl und andere konstitutionelle Institutionen können zu dessen Inhalt gehören. Aber diese Funktion ist sekundär und nicht das, was die „instrumentalistische Verfassung" sowohl von der „nominalistischen" als auch von der „normativen Verfassung" unterscheidet. Schon durch die „Charta" oder andere „Verfassungsgesetze" wird gewährleistet, daß die konstitutionellen Institutionen keine Bedeutung haben, besonders durch 14

3 In Anbetracht dessen könnte man hierbei auch von „realistischen Verfassungen" sprechen, nicht offensichtlich in Verkennung bzw. Negation der Wirklichkeit „normativer Verfassungen" als Komplexe rechtsgeltender Verhaltenserwartungen und entsprechender Kommunikationen (vgl. oben S. 49 ff., 56), sondern im Hinblick darauf, daß die „Distanz zur Wirklichkeit" als Autonomie gegenüber der Umwelt entfällt (s. Anm. 134 dieses Kap.). Aber diese eventuelle Wortwahl entspricht nicht der Unterscheidung von Mecham (1959) zwischen „nominal and real constitutions", die vielmehr auf die Diskrepanz zwischen Verfassungstext („the nominal constitution", „the composite constitution" — 259-66) und Verfassungswirklichkeit („the real constitution", „the operative constitution" — 266 ff.) verweist, eher also mit dem Begriff der „nominalistischen Verfassungen" in Zusammenhang zu bringen ist. 144 In bezug darauf spricht Bryde (1982: 33-35) von „deskriptiven Verfassungen" im Unterschied zu „anspruchsvollen Verfassungen".

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ihre Unterordnung unter andere Prinzipien wie „Staatsraison" oder „nationale Sicherheit". Mit Burdeaus Worten kann man sagen: während die „nominalistische Verfassung" ein „Alibi" bildet, ist die „instrumentalistische Verfassung" „nur Waffe im politischen K a m p f . 1 4 5 Kennzeichnend für die erste ist die politischideologische bzw. symbolische Funktion des Verfassungstextes, für die zweite die einseitige Instrumentalisierung des „Verfassungstextes" und dadurch des Rechtssystems durch die Politik. Die Entdifferenzierung des Rechts im Fall „instrumentalistischer Verfassung" ist manifest. Der „Verfassungstext" dient zur politischen Fremdbestimmtheit des Rechts. Es fehlt an Verfassung als reflexivem Mechanismus des Rechtssystems. Die „Charta" setzt einen freien Raum für die unmittelbare Einwirkung der Politik auf das Recht fest. Und wenn sie nicht dazu befriedigend dienen kann, wird sie verändert. In dem Maße, wie die „Verfassungsgesetze" die Grundrechte, die Gewaltenteilung, die demokratische Wahl und andere konstitutionelle Institutionen ausschließen, entfällt die Rolle der Verfassung, Entscheidungsprozesse auf den Weg des Rechts zu leiten. 146 Es handelt sich dann um autoritäre oder totalitäre Regimes. Was den Autoritarismus betrifft, besteht eine direkte politische Entdifferenzierung des Rechts; aber die anderen sozialen Systeme genießen einen bestimmten Grad an Ausdifferenzierung, insoweit in ihren Kommunikationen die Politik nicht in Frage gestellt wird. Beim Totalitarismus geht es um direkte politische Entdifferenzierung aller sozialen Bereiche. 147 Die „instrumentalistische Verfassung" versagt in der Funktion kongruenter Generalisierung von Verhaltenserwartungen. Das heißt: sie dient nicht zur Erwartungssicherung in dem Maße, wie man auf ihrer Basis das, was heute als Recht gilt, und sogar das, was gestern als Recht gegolten hat, nicht mit Sicherheit wissen kann. Anhand des Verfassungstextes darf die Politik ohne Grenzen auf das Recht einwirken, selbst mit rückwirkenden Maßnahmen. Andererseits fällt wegen der Hochkomplexität der heutigen Weltgesellschaft eine politisch-legitimierende, gesamtgesellschaftlich geltende ethische Konzeption weg, die als Kriterium für das politische Handeln fungieren könnte. Das Ergebnis ist der Hochgrad 145 Burdeau, 1962: 398 f. Neuerdings spricht Luhmann (1990b: 213 f.) von Verfassungsgesetzen, die „ n u r als Kampfmittel [ . . . ] in Betracht gezogen werden können." Man könnte auch in der Perspektive des marxistischen Strukturalismus sagen: Während die,»nominalistische Verfassung" primär eine ideologische Rolle spielt, erfüllt die „instrumentalistische Verfassung" primär eine repressive Funktion (vgl. Althusser, 1976: 81 ff.; Poulantzas, 1978: 31-38). 146 Vgl. Luhmann, 1973 b: 11, in Bezug spezifisch auf die Gewaltenteilung. 147 „Der Ausdruck »autoritär4 bezieht sich aber mehr auf die Regierungsstruktur als auf die Gesellschaftsordnung. In der Regel begnügt sich das autoritäre Regime mit der politischen Kontrolle des Staates, ohne Anspruch darauf zu erheben, das gesamte sozioökonomische Leben der Gemeinschaft zu beherrschen oder ihre geistige Haltung nach seinem Ebenbild zu formen" (Loewenstein, 1975: 53). „Im Gegensatz zum Autoritarismus bezieht sich der Begriff,Totalitarismus' auf die gesamte politische, gesellschaftliche und moralische Ordnung der Staatsdynamik" (55).

4. Die Klassifizierung der Verfassung von Karl Loewenstein

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an Rechtsunsicherheit: Es fehlt an „Legalität", d. h. an Positivität des Rechts. 148 Hierbei handelt es sich um den anderen typischen Fall der externen Asymmetrisierung des Rechtssystems über normative Orientierung, also um unmittelbar im Moment der Rechtssetzung auftretende Asymmetrien, worauf ich im Hinblick auf die Verfassungsproblematik der peripheren Moderne noch (ab Kap. III. 2.) eingehen werde. Es ist anzumerken, daß die Begriffe der „instrumentalistischen", „nominalistischen" und „normativen Verfassungen" Idealtypen im Sinne Webers bilden (vgl. unten S. 110 f.). In der sozialen Wirklichkeit finden sich verschiedene Grade an Verfassungsnormativität, -nominalismus und -instrumentalismus. Aber das impliziert keine „Banalität" der Klassifikation, 149 insofern es sich um Verlust an Rechtssicherheit und -legitimität handelt. Diese Klassifikation ist primär nicht anhand der Dichotomie ,Tradition / Modernität' zu erklären. 150 Bei Instrumentalismus und Nominalismus 151 geht es, insoweit die Länder in den Weltmarkt und die internationalen Beziehungen integriert sind, um Teilgesellschaften der heutigen hochkomplexen Gesellschaft. Im Fall der vorliegenden Untersuchung erweist sich das Schema Zentrum / Peripherie als fruchtbarer, das auf eine dichotomische Spaltung der Modernität hinweist.

148 Offensichtlich funktionieren dann andere soziale Mechanismen an Stelle des positiven Rechts zur Systemintegration. Bei Luhmann (1984c: 193-196) ζ. B. unterscheiden sich Rechtsstaaten und ideologisch integrierte Systeme. 149 Anders Ronneberger, 1968: 420. 150 Das Gegenteil läßt sich aus der strikt evolutiven Konzeption des Übergangs von der „nominalistischen „ zur „normativen Verfassung" bei Loewenstein (vgl. 1975: 153 u. 155; s. auch oben Anm. 142 dieses Kap.) und aus dem Ausdruck „traditionelle Verfassungsstaaten" bei Ronneberger (1968: 419) schließen. 151 Ich werde die Begriffe „Nominalismus / Instrumentalismus" bzw. „Verfassungsnominalismus / -instrumentalismus" verwenden, um auf die Wirklichkeiten der „nominalistischen / instrumentalistischen Verfassungen" hinzuweisen. Im folgenden werden die Ausdrücke „nominalistische" und „instrumentalistische Verfassung" ohne Anführungszeichen verwendet, um die entsprechenden Texte und ihre wirklichen Funktionen zu bezeichnen.

Kapitel III

Recht und Verfassung in den peripheren Ländern 1. Die periphere Modernität 1.1. Der Anstoß: die entwicklungstheoretische Diskussion Die Tendenz, die Probleme der unterentwickelten Länder anhand des Dualismus ,Tradition / Modernität' (s. Kap. 1.1.) zu erklären und damit Lösungsansätze zu entwerfen, ist in der gängigen sozialwissenschaftlichen Diskussion Europas und Nordamerikas stark ausgeprägt. Man geht davon aus, die Länder der „Dritten Welt" bildeten traditionale (bzw. quasi-traditionale) Gesellschaften, die sich nur durch Modernisierungsprozesse nach dem Vorbild der modernen „Industrieländer" zu entwickeln vermögen. Diese Annahme, die in verschiedene Denkmodelle aufgenommen und verbreitet wurde, 1 findet ihre Spitze in der nach dem 2. Weltkrieg besonders in den Vereinigten Staaten entwickelten „Modernisierungstheorie". 2 In dieser spezifischen Konstellation handelt es sich allerdings nicht um eine Anwendung der idealtypischen Dichotomie »Tradition / Modernität 1 im Sinne der europäischen Sozialtheorie, sondern um die Formulierung der „Modernisierungswege" und damit zusammenhängend von Kriterien und Indikatoren 3 der Moderne nach den in Westeuropa und den USA vorherrschenden, von den Unterentwickelten („traditionalen") Ländern zu importierenden Mustern sozialen Wandels und sozialer Systeme.4 Die ideologische Bedingtheit der Modernisie1

Von Marx, nach dem „das industriell entwickeltere Land [ . . . ] dem minder entwikkelten nur das Bild der eignen Zukunft [zeigt]" (1986: 12), bis zu dem Modernisierungstheoretiker Rostow, der den Kommunismus als „Krankheit des Übergangs" bezeichnet (1967: 193-95). Vgl. hierzu Nuscheier, 1974: 197-99. 2 Hierzu Wehler, 1975; Zapf, 1975. 3 Über Indikatoren siehe in kritischer Einstellung Wehlers „Entwurf zu einem Dichotomie-Alphabet" (1975: 14 f.). 4 Cardoso u. Faletto, 1984: 19 (dt. 1976: 18); Senghaas, 1979b: 7; ders. u. Menzel, 1979: 280 f.; Wehler, 1975: 16. Zwar läßt sich im weiteren Sinne behaupten, „die Theorie der Modernisierung ist kein geschlossenes theoretisches System, sondern ein Bereich von Problemen und Lösungsvorschlägen", in dessen Rahmen „Modernisierung [ . . . ] ein historischer Prozeß [ist], der ganz unterschiedliche Lösungen produziert" (Zapf, 1975: 212); aber im engeren Sinne fungiert das Konzept „Modernisierungstheorie" als Oberbegriff zu jenen Ansätzen nordamerikanischer Herkunft, die mit einer bestimmten Einheit dazu tendieren, „den Entwicklungsländern [ . . . ] die Errungenschaften der westlichen Welt dringend zur Nachahmung" zu empfehlen (Zapf, 1975: 217).

1. Die periphere Modernität

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rungstheorie tritt in ihrer Entstehungsgeschichte deutlich zutage: In Konsonanz mit der „Weltmachtrolle der Vereinigten Staaten nach 1945" 5 stand „eine allgemeine Evolutionsmechanik im Vordergrund", mittels derer „Krieg und Kolonialherrschaft, Imperialismus und internationale Politik [ . . . ] fast völlig ausgeblendet [wurden]" 6 . Eine Kritik an der ideologischen Belastung des Entstehungszusammenhangs reicht aber nicht aus, um die Geltung der Modernisierungstheorie zurückzuweisen. Es geht vor allem um die Erklärungskraft und Anwendungsbedeutung ihrer Aussagen.7 Unter diesem Aspekt weist das Scheitern der Modernisierungsansätze im Bereich der Entwicklungspolitik daraufhin, daß auf der Basis ihres linearen evolutiven Musters ,Tradition (= Unterentwicklung) —> Modernität (= Entwicklung)4 die Probleme der peripheren Länder weder zu erklären noch zu lösen sind. 8 Das heißt keineswegs, daß die Dichotomie »Tradition / Modernität' lediglich ideologische Funktionen erfüllt und derart total abzulehnen wäre 9: Sie kann sehr aufschlußreich in anderen Forschungsbereichen sein. 10 Was aber die Frage der Entwicklung versus Unterentwicklung betrifft, handelt es sich grundsätzlich um zwei synchrone Dimensionen der modernen (Welt-)Gesellschaft, also um eine Spaltung der Modernität in Zentrum und Peripherie. Als Paradigmawechsel in der Entwicklungsforschung entstand in den sechziger Jahren die Theorie des peripheren Kapitalismus und die Dependenz-Theorie, die dazu tendieren, die Unterentwicklung als Strukturproblem des Kapitalismus zu betrachten und sie auf dessen Spaltung in Zentrum und Peripherie zurückzuführen. Hier ist nicht der Ort, auf eine Analyse dieser beiden aus sehr heterogenen Ansätzen bestehenden und besonders auf die Wirtschaftsbeziehungen und Entwicklungspolitik gerichteten Modelle einzugehen.11 Sie unterlagen verschiedenen Kritiken sowohl unter dem methodologischen Gesichtspunkt12 als auch wegen 5 Wehler, 1975: 11. 6 Wehler, 1975: 18. In Anbetracht der ideologischen Funktion der Modernisierungstheorie betonen Wöhlke u. Wogau (in: dies. u. Martens, 1977: 10): „Es ist daher kein Zufall, daß sich die politischen Systeme, die sich an Modernisierungstheorien orientieren, mit wenigen Ausnahmen nur mehr durch militärische Gewalt an der Macht halten können, was im übrigen [ . . . ] den politischen Implikationen der Modernisierungstheorie — und des desarrollismo — widerspricht." Auch in ideologiekritischer Einstellung s. Mansilla, 1974: 214 f.; Nuscheier, 1974: 197 ff. 7 Vgl. Wehler, 1975: 19. s Vgl. ζ. B. Senghaas, 1979b: 8. 9 In einer solchen Perspektive s. Sine, 1976: 47 ff. Hingegen übte Gusfield (1967 b) eine konsistente Kritik an den vereinfachenden Implikationen der Polarisierung von Tradition und Modernität. 10 Vgl. Offe, 1986: 97 f. h Zu einem Überblick über die daran orientierte Diskussion, die besonders am Ende der sechziger Jahre und im Laufe der siebziger Jahre bedeutsam war, s. unter der zahlreichen Literatur Senghaas (Hg.), 1972, 1974, 1979. ι 2 Vgl. hierzulande Evers u. Wogau, 1973: 439 ff., im Hinblick auf die „theoretische und begriffliche Unschärfe" der Dependenz-Theorie; auch Godzik, Laga u. Schütt, 1976, die den Mangel an begrifflicher Überprüfbarkeit bzw. Operationalisierbarkeit betonten (?!), die sich aber nur auf einen Autor, André Gunder Frank, konzentrierten (453 ff.),

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Teil, Kap. III: Recht und Verfassung in den peripheren Ländern

des Scheiterns entsprechender entwicklungspolitischer Anwendungen,13 trugen zwar nicht konsistent zur Problemlösung bei (in diesem Sinne lassen sie sich als überholt bezeichnen), jedoch zur Problemstellung: Sie erweckten Interessen an Grundfragen des Verhältnisses von Entwicklung und Unterentwicklung, welche auf der Basis des Schemas „vorher-nachher" von der Modernisierungstheorie ausgeblendet bzw. verzerrt wurden, und führten eine weltweite Debatte über solche Fragen herbei. Das Verdienst der verschiedenen Kritiken und Vorwürfe soll keineswegs zur radikalen Ablehnung der Peripherie- und Dependenz-Ansätze führen, eher darauf hinweisen, daß das problemstellende Potential ihrer Begriffe und Aussagen fruchtbar werden kann als Anstoß für präzisere und konsistentere Formulierungen. 14 Unter diesen Vorbehalten ist es sinnvoll, im Hinblick auf die heutige Weltgesellschaft auf das Schema ,Zentrum/ Peripherie 4 zurückzugreifen und von einer peripheren Modernität zu sprechen. Die Spaltung der Modernität in Zentrum und Peripherie ist zuerst eine wirtschaftliche Frage, die im Rahmen der Diskussion über die Bedingungen der Entstehung des Kapitalismus ihren Platz findet. 15 Sie hat aber Implikationen für alle Funktionssysteme der Gesellschaft. 16 Man soll dennoch die hier angeführte Unterscheidung von Zentrum und Peripherie nicht als grobe Vereinfachung interpretieren (wie in einigen Varianten der Dependenz-Theorie), als ob dadurch die Vielfältigkeit der heutigen Weltgesellschaft außer acht gelassen würde: Die Relation »Zentrum / Peripherie 1 reproduziert sich zwischen den peripheren Ländern 17 und inerhalb sowohl der „Peripherienationen" als auch der „Zentralnationen" 18 ; andererseits implizieren die verschiedenen Arten der internen Zusammenhänge von Klassen- und Herrschaftsinteressen unterschiedliche Formen der Integration von Peripherie-Ländern in die Weltgesellschaft; außerdem fungieren die lokalen und regionalen Besonderheiten offensichtlich als Faktoren der Entwicklung; 19 der m. E. einen der vereinfachendsten Ansätze der Peripherie- bzw. Dependenz-Theorie bat (vgl. Frank, 1969). Als marxistische Kritik s. Weffort, 1978; in Entgegnung darauf Cardoso, 1979: 123-39. 13 Vgl. ζ. B. Simonis, 1981, in kritischer Einstellung zur „Dissoziationsstrategie." Über „Dissoziation" als Überwindungsstrategie zur Unterentwicklung s. Senghaas, 1979c. 14 So zeigt sich ζ. Β der jüngere Bielefelder Verflechtungsansatz als „kritische Ergänzung" der Dependenzansätze (H.-D. Evers, 1987: 137). Über diesen Ansatz vgl. auch zusammenfassend Schmidt-Wulffen, 1987: 134 f.; und in kritischer Einstellung Neelsen, 1988. 15 Wie Hopkins u. Wallerstein (1979: 156) anmerken, geht „das Gegensatzpaar »Zentrum-Peripherie 4 [ . . . ] in seiner heute gängigen Bedeutung44 auf Raùl Prebisch und seine Mitarbeiter bei der ECLA zurück. Vgl. Prebisch, 1962. In einer umfassenderen, allgemein-soziologischen Perspektive wurde es andererseits von Shils (1961) formuliert. 16 Vgl. ζ. B. Galtung, 1972: insb. 44 f., 55 ff., 74 ff. 17 In diesem Sinne wird von „Semiperipherie" (Wallerstein, 1979: 50 ff.; Hopkins u. Wallerstein, 1979: 158), „Abhängigkeitsstufen 44 / „Abhängigkeitsketten44 (Senghaas, 1974b: 21) und „Subimperialismus" (Amin, 1974: 92) gesprochen. ι» Galtung, 1972: 35 ff.

1. Die periphere Modernität

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ferner stehen die verschiedenen Funktionssysteme in sehr unterschiedlichen Entwicklungsniveaus auch auf der regionalen Ebene. Ohne all dies zu übersehen, kann man allerdings die sich letztlich auf eine dichotomische und hierarchische Teilung der Weltgesellschaft beziehenden Paar-Begriffe ,Zentrum/Peripherie' und also das Konzept der peripheren Moderne als analytisch sehr fruchtbare „idealtypische" Konstruktion (s. unten S. 110 f.) verwenden.

1.2. Periphere Moderne in systemtheoretischer Perspektive In einer systemtheoretischen Perspektive ist das Konzept der peripheren Moderne nicht auszuschließen, eher gewinnt es an Klarheit. Insoweit die moderne Gesellschaft als Weltgesellschaft begriffen wird, 2 0 die sich primär auf der Basis von kognitiven Erwartungen (Wirtschaft, Wissenschaft, Technik) herausbildet, 21 verliert das Schema »Tradition / Modernität' an Bedeutung für die Erklärung der Probleme der peripheren Länder, kommt die Inkonsistenz des Argumentes, die Probleme der Unterentwicklung seien dieselben einer traditionalen Gesellschaft, zutage. Zwar läßt sich unter politisch-rechtlichem Gesichtspunkt immer noch von regionalen Gesellschaften sprechen: Mangels welteinheitlicher Rechtsbildung und Politik ist die Weltgesellschaft keine durch normative Erwartungsstrukturen konstituierte Einheit, also weder ein Weltreich noch ein internationales System.22 Wird aber betont, daß die heutige Gesellschaft primär auf kognitiven Erwartungsstrukturen, genauer auf der Wirtschaft, beruht, 23 und daß die segmentäre Differenzierung der auf der Basis des Rechts- und des politischen Systems begründeten Regionalgesellschaften eine „untergeordnete Stellung" besitzt, 24 so ist zu schließen, daß die Probleme der peripheren Länder primär zu den Grundfragen der modernen (Welt-)Gesellschaft gehören. Die periphere Modernisierung 19 Wie im Rahmen des sogenannten „Bielefelder Verflechtungsansatzes" betont wird (vgl. Schmidt-Wulffen, 1987: 135). 20 Vgl. Luhmann, 1975 b, 1987 a: 333 ff. 21 Luhmann, 1975 b: 55 ff. Über die Unterscheidung »kognitive / normative Erwartungen' s. oben S. 22 f. 22 Luhmann, 1975 b: 57 f., 1987 a: 337. In anderem Zusammenhang unterscheidet Wallerstein (1979: 50 f.) zwischen Weltreich und Kapitalismus als Weltwirtschaft ( vgl. auch 47 ff.). 23 Vgl. Luhmann, 1975b: 55 u. 58, 1981b: 149 ff., 1981c: 32. Zwar entfernte sich Luhmann von dieser früheren Position (s. oben Kap. I. 3.5.), aber diese Einsicht ist m. E. beizubehalten, allerdings nicht im Sinne eines „ontisch wesensmäßigen" Primats (vgl. Luhmann, 1975 b: 63 f.) oder eines notwendigen Mangels an Autopoiesis bei den anderen sozialen Systemen, sondern im Sinne dessen, daß die Wirtschaft in den Umwelten der verschiedenen modernen sozialen Systeme den relevantesten, primär zu beobachtenden Faktor bildet, d. h. daß sie mit der gesellschaftlich stärksten binären Codierung von Ja und Nein ausgestattet ist. Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß bei starker Hierarchisierung innerhalb des Wirtschaftssystems dieses Primat in wirtschaftliche Entdifferenzierung degeneriert. 24 Vgl. Luhmann, 1975 b: 60 f.

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Teil, Kap. III: Recht und Verfassung in den peripheren Ländern

kann als untergeordnete Integration eines Landes in die Weltgesellschaft unter dem Schutz des entsprechenden politisch-rechtlichen regionalen Systems begriffen werden. Hierbei handelt es sich offensichtlich nicht um Differenzierung der Gesellschaft nach einer (traditionalen) Rangordnung, in deren Rahmen das die Einheit des Systems „repräsentierende" Zentrum und die Peripherie gefestigter Statusstruktur entsprechen: Diese Möglichkeit hat die funktionale Differenzierung als dominierendes Prinzip der modernen Gesellschaft zerstört. 25 Vielmehr weist das hier verwendete Gegensatzpaar »Zentrum / Peripherie' auf eine funktionelle Teilung der primär wirtschaftlich orientierten Weltgesellschaft hin, 2 6 wohl aber* auch auf eine Beziehung von Über-Unter-Ordnung zwischen den primär politisch-rechtlich begründeten Teilgesellschaften 27 in bezug auf die Durchsetzungsfähigkeit der unterschiedlichen Funktionssysteme. Das bedeutet keine negation der Moderne, eher handelt es sich um eines der Strukturprobleme der hochkomplexen Weltgesellschaft. 2 8 Der hierarchische Charakter der primär wirtschaftlich orientierten Weltgesellschaft hängt damit zusammen, daß die autopoietische Reproduktion der regionalen (nationalen) Rechts- und politischen Systeme der Peripherie blockiert wird sowohl durch andere funktionale Teilsysteme (ζ. B. die Wirtschaft in ihrer Wirkung auf die Teilgesellschaft) als auch durch die regionalen rechtspolitischen Systeme des Zentrums (ein typisches Beispiel ist der Eingriff der Vereinigten Staaten in die Politik Lateinamerikas, besonders durch die Organisation von Putschen). Insoweit also die auf den politischen und Rechtssystemen beruhenden Nationalgesellschaften im Bereich der Wirtschaft eine untergeordnete Stellung in der Weltgesellschaft innehaben, ist es fragwürdig, von rechtspolitischer „nationaler Unabhängigkeit" zu sprechen. „Nationale Unabhängigkeit" bzw. „Souverä25 Vgl. Luhmann, 1986 a: 216. 26 Das hängt mit der überregionalen Arbeitsteilung zusammen, die sich nach Dürkheim (1986: 164 — dt. 1977: 229) „vom 14. Jahrhundert an entwickelt." Vgl. oben Anm. 15 des Kap. I. 27 Eine Teilgesellschaft bezieht alle Kommunikationen ein, die sich spezifisch innerhalb einer primär rechtspolitisch begründeten National- bzw. Regionalgesellschaft entwickeln. Damit wird nicht verkannt, daß es sich letztlich um eine (umfassendere) primär wirtschaftlich orientierte Weltgesellschaft handelt. Unter diesem Vorbehalt werden hier die Ausdrücke „Teil-, Regional- und Nationalgesellschafte« " im Plural verwendet. 28 Hierüber schreibt Luhmann (1987 a: 336): „Aktuell scheinen vor allem diejenigen Probleme zu sein, die sich aus einer unbalancierten Gesamtentwicklung ergeben. Am stärksten fällt auf der unterschiedliche Entwicklungsstand einzelner Regionen des Erdballs, der heute nicht mehr dadurch gerechtfertigt werden kann, daß es sich um verschiedene Gesellschaften handelt, sondern im Rahmen der Weltgesellschaft als historisch bedingter Zufall erscheint" (Hervorhebung von mir). Obwohl aber die Unterentwicklung sich nicht wie andere Probleme „aus der funktionalen Differenzierung" ergibt, sie in diesem Sinne also nicht „mit dem Strukturprinzip der modernen Gesellschaft" zusammenhängt (Luhmann, ebd.), spricht vieles dafür, daß sie ein historisch bedingtes Strukturproblem des Weltkapitalismus bildet (in diesem Sinne also ein Strukturproblem der Weltgesellschaft).

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nität" kann lediglich autopoietische Reproduktion des jeweiligen regionalen politischen und Rechtssystems sein (vgl. unten S. 112 f. Anm. 11), besonders gegenüber den anderen politischen Systemen und der (Welt-)Wirtschaft. Wenn „nationale politische Ziele [ . . . ] aus einem internationalen Vergleich des Entwicklungsstandes in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht [gewonnen werden]", 29 bildet die „politische nationale Unabhängigkeit" der peripheren Länder eine ideologische Illusion: Die operative elementare Selbstreproduktion der Politik und des Rechts der jeweiligen Regionalgesellschaften wird ständig vom Wirtschaftssystem und von anderen nationalen rechtspolitischen Systemen (Staaten) unterbrochen. Aber der Begriff der peripheren Modernität rechtfertigt sich nicht nur hinsichtlich der Verhältnisse,Zentrum / Peripherie' in der Weltgesellschaft, sondern auch in Bezug auf die spezifischen Merkmale der peripheren Regionalgesellschaften, die hochkomplex und -kontingent erscheinen, unter bestimmten Aspekten komplexer und kontingenter als die zentrischen Gesellschaften (s. oben S. 16 f.). Hier handelt es sich um die Unfähigkeit der sozialen Systeme, Komplexität adäquat zu bestimmen bzw. zu strukturieren. 30 Das impliziert nicht den Grenzfall einer absoluten Unbestimmtheit: „Völlig unstrukturierte Komplexität wäre der Grenzfall des Urnebels, der Beliebigkeit und Gleichheit aller Möglichkeiten." 31 Es geht vielmehr um die relative Unfähigkeit der sozialen Systeme, die bestimmbare Komplexität ihrer jeweiligen Umwelten 32 zu strukturieren. Zwar besteht immer ein Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt, 33 und eine gewisse Unterbestimmtheit des Systems gegenüber seiner Umwelt ist Bedingung der Flexibilität. 3 4 Was aber die periphere Modernität betrifft, impliziert die Unterbestimmtheit unzureichend komplexe „Kopplungen zwischen System und Umwelt" und infolgedessen Erwartungsunsicherheit. 35 Obwohl die Steigerung der Komplexität entsprechende strukturelle Selektivität erfordert, 36 versagen tatsächlich die komplexen sozialen Systeme der peripheren Gesellschaften in der selektiven Funktion gegenüber ihren überkomplexen Umwelten. Das bedeutet nicht zuletzt Mangel an Systemrationalität bei der Differenzierung von hochkomplexen Gesellschaften. 37 Man stößt derart auf (relativ) desorganisierte Flexibilität bzw. Unterbe29 Luhmann, 1975 b: 54. 30 Siehe hierzu die bibliographischen Hinweise Anm. 51 des Kap. I. Bertalanffy (1957: 9) sprach analog von unorganisierter und organisierter Kompliziertheit. 31 Luhmann, 1987a: 7. Vgl. auch ders., 1975a: 211 f., 1987b: 383. 32 „Nur in der Relation auf ein System gewinnt dessen Umwelt bestimmbare Komplexität. [ . . . ] Jede Bestimmung von Umweltkomplexität erfolgt und gilt danach nur systemrelativ. Nur systemrelativ kann man überhaupt von Umwelt sprechen" (Luhmann, 1975 a: 211). 33 Vgl. Luhmann, 1975 a: 210 f. 34 Luhmann, 1975 a: 209. 35 Vgl. Luhmann, 1981 f: 96. 36 Luhmann, 1975 a: 207. 37 ,Jedes Entwicklungsniveau von System / Umweltbeziehungen hat spezifische Chancen der Rationalität je nach dem, wie die Komplexitätsdifferenz zur Umwelt behan-

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1. Teil, Kap. III: Recht und Verfassung in den peripheren Ländern

stimmtheit und negative Kontingenz / Zukunftsoffenheit, also auf das Fehlen an Sicherheit. Damit in Zusammenhang steht das Problem der „strukturellen Heterogenität", dessen Diskussion auf die entwicklungstheoretischen Peripherie- bzw. Dependenz-Ansätze der sechziger und siebziger Jahre zurückgeht. 38 In dieser Konstellation wurde vor allem darauf hingewiesen, daß es sich im Rahmen der Vorstellung von dualistischen Gesellschaften bzw. partieller Modernisierung 39 genaugenommen nicht adäquat verstehen läßt: In dem Maße, wie die verschiedenen „pseudotraditionalen" Sektoren in die kapitalistische Gesellschaft integriert sind, in bestimmtem Grade funktional für die „dominierenden modernen Sektoren" fungieren, sich also auf die Bedingungen der modernen Gesellschaft umstellen, erweist sich der „dualistische" Ansatz als sehr fragwürdig; 40 zwar können sekundär einige Probleme des Traditionalismus zutagekommen, aber je stärker die periphere Eingliederung in die Weltgesellschaft ist, desto unbedeutender wird die Frage der Tradition als Behinderung der „Modernisierung". Der Begriff der „strukturellen Heterogenität" unterliegt fruchtbarerweise einer systemtheoretischen Lektüre. Hierbei handelt es sich um große Disparitäten innerhalb aller sozialen Systeme sowie zwischen ihnen, genauer um ein diffuses In- / Auseinander, Nebeneinander und Über- / Untereinander von Codes und Programmen / Kriterien zwischen und innerhalb der modernen Funktionssysteme,41 was die Steigerung der nicht hinreichend bestimmbaren / bestimmten Komplexität um des Mangels an adäquater und die Gesamtbevölkerung umfassender Selektionsleistung willen andeutet. „Strukturelle Heterogenität" wurde im Rahmen der entwicklungstheoretischen Peripherie- bzw. Dependenz-Ansätze mit „Marginalität" in Zusammenhang gebracht, 42 die in diesem Kontext einerseits besonders im Hinblick auf das große Ausmaß an (nicht sozialversicherter) offener Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung betrachtet wurde, andererseits auf die Orientierung der nationalen Produktion grundsätzlich an der externen Nachfrage und (im Binnenmarkt) an der Oberschichtsnachfrage zurückgeführt wurde. 43 Die „Marginalität ist weder als delt wird. Das Problem der Rationalität liegt letztlich in der Verknüpfung von Selektionen, und der Bedarf dafür variiert mit der Komplexität des Systems" (Luhmann, 1975 a: 214). 38 Hierzu s. als Überblick Nohlen u. Sturm, 1982. Im Rahmen der entwicklungstheoretischen Debatte führt der „Bielefelder Verflechtungsansatz" m. E. zur empirischen Bereicherung des Begriffs der „strukturellen Heterogenität", auf keinen Fall zu dessen „Falsifizierung" (vgl. aber Schmidt-Wulffen, 1987: 132 ff.; H.-D. Evers, 1987). 39 Vgl. in dieser Richtung ζ. B. Lambert, 1986: 101-26 (Kap. V); Rüschemeier, 1971. 40 Vgl. hierzu von unterschiedlichen Ausgangspunkten her Nohlen u. Sturm, 1982: 102 f.; Cardoso, 1979: 195; Senghaas, 1974b: 22 ff.; Amin, 1974: 77 ff.; Wallerstein, 1979: 36 ff.; Frank, 1969: insb. 53. 41 Das impliziert nicht nur deren Behinderung durch „fremde" Codes und Programme / Kriterien, sondern darüber hinaus Probleme der Interpénétration und strukturellen Kopplung; vgl. unten Kap. V. 2.2.4. 42 Hierzu s. in unterschiedlichen Perspektiven Cardoso, 1979: 140-85; Quijano, 1974; Sunkel, 1972: 271 ff.; Amin, 1973: 208-14. Vgl. auch Nohlen u. Sturm, 1982: 104 f.; Wöhlke, Wogau u. Martens, 1977: 20-22; Evers u. Wogau, 1973: 431 f.

1. Die periphere Modernität

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Nicht-Integration bzw. „Nicht-Zugehörigkeit" noch einfach als sektoriale Disfunktionalität zu begreifen, sie bildet vielmehr eine spezifische Art der Integration in die periphere Gesellschaft. 44 In einer systemtheoretischen Perspektive bedeutet „Marginalität" eine diffuse und sehr instabile soziale Subintegration eines großen Bevölkerungsteils in die verschiedenen Leistungssysteme, die sich mit der peripheren Modernisierung verschärft. „Subintegration" heißt hier praktische Blokkierung des positiven (= im eigenen Interesse des Handelnden) Zugangs zu den bestehenden modernen sozialen Systemen (Wirtschaft, Politik, Recht, Erziehung u. s. w.), die dann hauptsächlich nur negativ die „Marginalisierten" betreffen (z. B. als Schuldner, nicht als Gläubiger; als Angeklagte, nicht als Kläger). In Anlehnung an Luhmann läßt sich „Marginalisierung" als Exklusion bezeichnen,45 allerdings nicht im Sinne von Nicht-Integration ganzer Bevölkerungsgruppen, sonders als deren Abhängigkeit von ohne Zugang (im positiven Sinne) zu den Leistungen der unterschiedlichen Funktionssysteme der Gesellschaft (Subintegration); ich komme darauf unter III. 3.2.2. und V. 1.3. zurück. Ein Einwand gegen die Behauptung der Existenz von Flexibilität und Zukunftsoffenheit in peripheren Gesellschaften wäre anhand des Argumentes geltend zu machen, daß das Konzept der „Marginalität" damit nicht vereinbar ist, insoweit die „Marginalisierten" (der größte Teil der Bevölkerung) subintegriert in die modernen sozialen Systeme sind, also über sehr begrenzte Handlungsmöglichkeiten verfügen. Obgleich unter handlungstheoretischer Perspektive dieses Argument als richtig anzusehen ist, nehmen die Begriffe der Flexibilität, Kontingenz und Zukunftsoffenheit eine systemtheoretische Bedeutung in der vorliegenden Untersuchung an: Sie gehen auf die Überzahl an Systemvariablen und damit verbunden auf die im Interaktionszusammenhang systemselektiv zu verwirklichenden oder auszuschaltenden umweltlichen Möglichkeiten zurück. Strukturiert das System adäquat die Komplexität seiner jeweiligen Umwelt, so wird eine positive (relativ sichere) Flexibilität und Zukunftsoffenheit geschaffen. Versagen die sozialen Systeme im Gegenteil dabei, die Überkomplexität ihrer Umwelt zu bestimmen (wie in den peripheren Gesellschaften unbestreitbar), dann entstehen negative (relativ unorganisierte) Flexibilität und negative (relativ unkontrollierbare) Kontingenz / Zukunftsoffenheit, also fehlt es an gesellschaftlicher Sicherheit. So kann z. B. ein Ehepaar unter instabilen wirtschaftlichen Bedingungen nicht sicher sein, ob die Familie mit dem monatlichen Haushaltsbudget (wenn so etwas möglich ist) auskommt, ein beraubter Unterbeschäftigter nicht sicher damit rechnen, ob er im Fall des Beklagens bei der Polizei „gut" (gesetz- bzw. verfassungsmäßig) behandelt wird, der Wahlsieger nicht mit Sicherheit erwarten, daß er das Amt antritt (die Bedrohung eines Putsches ist immer vorhanden!). 43 Vgl. dazu Furtado, 1981: insb. 77-94, 1974, 1972: insb. 321 ff.; Amin, 1974: 80. Nach Elsenhans (1977: 32) „ist davon auszugehen, daß Armut und Unterbeschäftigung nur in dem Maße überwunden werden können, wie Massen für Massen produzieren." 44 Vgl. Cardoso, 1979: 166-85. 45 Vgl. Luhmann, 19811: 25 ff.

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Teil, Kap. III: Recht und Verfassung in den peripheren Ländern

Andererseits ist auch zu bemerken, daß, als figurative Kritik an der Starrheit der Moderne, Offes folgendes Beispiel eines „automobilgestützten Verkehrssystems" nur im Hinblick auf die zentrischen Gesellschaften Geltungsanspruch erheben kann: „Unter Bedingungen außerordentlich hoher [ . . . ] Wahlfreiheit kann in einem solchen System jeder Verkehrsteilnehmer zu jeder Zeit an jeden erschlossenen Punkt gelangen; gleichzeitig ist aber das Straßensystem, das diese Liquidität der Bewegungsvorgänge erlaubt, eine rein physisch (und natürlich auch politisch und ökonomisch) geradezu unumstößliche Tatsache, und ebenso sind es dessen bekannte physischen und sozialen Auswirkungen." 46 Besteht man weiter auf dieser Figur, ist hinsichtlich der peripheren Gesellschaft anzumerken: zwar funktioniert das Verkehrssystem nicht gut (Schlaglöcher, Mangel an Verkehrsschildern, begrenzte Vernetzung u. s. w.) und erlaubt deswegen nur eine geringe Mobilität; es wird aber immer im Ganzen und zum Teil in Frage gestellt; strukturelle und auch überraschende Veränderungen sind immer zu „erwarten"; außerdem steigen wegen der Regelwidrigkeit, mangelhaften Beschilderung, Defekten des Straßenbelages usw. die Möglichkeiten innerhalb des vorhandenen Systems und damit zusammenhängend die Kontingenz während einer Fahrt. Unter handlungstheoretischem Gesichtspunkt impliziert diese figurative Situation ζ. T. Starrheit, also geringe Mobilität bzw. Wahlfreiheit. In einer systemtheoretischen Perspektive aber bedeutet sie offensichtlich einen hohen Grad an Unsicherheit, desorganisierte Flexibilität und negative Zukunftsoffenheit: es fehlt an adäquater Strukturierung der Komplexität. In dieser Konstellation unterliegen die Probleme der peripheren Modernität einer Lektüre im Rahmen der von Henri Atlan formulierten Dichotomie »Redundanz/Varietät 4 . 47 Behauptet man, „unstrukturierte Komplexität wäre entropische Komplexität, sie würde jederzeit ins Unzusammenhängende zerfallen", 48 so läßt sich nach Atlans Schema ergänzen, die peripheren Gesellschaften leiden unter Mangel an Redundanz. Dementsprechend wird die Entropie als fehlende Information („incertitude probabiliste") 49 nicht hinreichend reduziert. 50 Zwischen Redundanz und Varietät besteht dann eine große Kluft, die zur gesteigerten Unsicherheit führt. Zunahme der Varietät erfordert Zunahme der Redundanz: das Gleichgewicht ist Bedingung der Autonomie. 51 Bei sozialen Systemen der peripheren Gesellschaften hat also das Gefalle ,(hohe) Varietät / (niedrige) Redundanz4 starke heteronomisierende Wirkungen, so daß sich desorganisierte Flexibilität und nega46 Offe, 1986: 104. Noch über die Systeme solcher Art fügt Offe hinzu (ebd.): „Sie eröffnen alle Optionen, verschließen aber gleichzeitig für alle relevanten Zeithorizonte die Option, auf sie einmal verzichten zu können." 47 Vgl. Atlan, 1979. 48 Luhmann, 1987b: 383. 49 Vgl. Atlan, 1979: 33 ff., 74 f. 50 Nach Atlan steht H („Information, die uns fehlt") im umgekehrten Verhältnis zur R (Redundanz); vgl. ders., 1979: 48, 50 f., 76 f., 79. si Vgl. Atlan, 1979: insb. 43.

2. Externe Asymmetrisierung des Rechtssystems

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tive Zukunftsoffenheit ergeben. Es handelt sich hier allerdings nicht um „strukturelle initiale Redundanz", sondern um „funktionale Redundanz", welche „fiabilité" als „Verknüpfung" („connectivité") der Systemelemente garantiert. 52 Im Rahmen des Atlanschen Dualismus „Kristall / Rauch" („cristal / fumée") tendieren die sozialen Systeme in der peripheren Modernität mangels funktionaler Redundanz zur entropischen Komplexität, also zum „Rauch". 53 Ich werde bezüglich des Rechtssystems darauf zurückkommen. 2. Externe Asymmetrisierung des Rechtssystems über normative Orientierung 2.1. Semantische Präzisierung Die Probleme „struktureller Heterogenität" bzw. nicht hinreichender Selektionsleistung und Autonomie der Funktionssysteme drückt sich im Bereich des Rechts durch dessen externe Asymmetrisierung über normative Orientierung aus. Hier greife ich auf Luhmanns Konzeption der Systemasymmetrie zurück. Aber da in dessen Werken das Wort „Asymmetrie" in unterschiedlichen Kontexten und mit verschiedenen Bedeutungsimplikationen verwendet wird, 5 4 empfiehlt es sich hier, eine semantische, hermeneutische Präzisierung im voraus vorzunehmen, um eventuelle Mißverständnisse zu vermeiden. Es wird besonders auf den für die Positivität (als Selbstbestimmtheit) des Rechts relevanten Unterschied von symmetrischen und asymmetrischen Relationen gezielt. Bei Luhmann sind autopoietische Prozesse „notwendig symmetrisch" 55 in dem Sinne, daß es keine Hierarchie in der elementaren operativen Reproduktion des entsprechenden Systems gibt. Asymmetrie als Negation der Autopoiesis ( —> Allopoiesis 56 bedeutet demnach entweder die operative Hierarchisierung zwischen 52 „la redondance initiale serait une redondance de modules, simple répétition d'éléments structuraux, tandis que la fiabilité serait une redondance de fonctions" (Atlan, 1979: 52). An anderer Stelle spricht Atlan (129) von „connectivité"; hierzu vgl. auch Luhmann, 1986 b: 35 Anm. 61. 53 „La mort par rigidité, celle du cristal, du minéral, et la mort par décomposition, celle de la fumée", so weist Atlan (1979: 281) auf die zwei Grenzfälle des Verhältnisses ,Redundanz / Varietät' hin. Hier ist anzumerken, daß Atlan eine „analogische und differenzierende" Übertragung (1979: 7) seiner prinzipiell biologischen Konstruktion auf die psychische und die soziale Organisation (131 ff.) sowie auf die Ethik (233 ff.) vorschlägt. Ich nehme hier auch eine „analogische und differenzierende" Anwendung (kein Biologismus!) des Schemas ,Redundanz / Varietät4 auf die sozialen Systeme vor, aber keineswegs im Sinne der Übertragung Atlans. 54 „Es gibt viele Möglichkeiten der Asymmetrisierung und entsprechend vielerlei Arten von Semantik, die ihr Deckung und Anschlußfähigkeit verleihen" (Luhmann, 1987b: 632). 55 Luhmann, 1983 b: 140. 56 „Die Asymmetrie wird nicht als Moment der Autopoiesis, sie wird als allopoietisch gegeben behandelt" (Luhmann, 1987 b: 631). 6 Neves

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Systemelementen (interne Asymmetrie) oder die Unterwerfung eines Systems unter ein anderes (externe Asymmetrie). Für das Recht bedeutet Symmetrie den Ausschluß von Normhierarchien, 57 sei es innerhalb des Systems oder gegenüber systemfremden Determinationen (ζ. B. naturrechtliche Vorstellungen). Unter kognitivem Gesichtspunkt aber ist das positive Recht dazu genötigt, asymmetrische Beziehungen mit seiner Umwelt aufzubauen, d. h. Lernbereitschaft zu artikulieren. 58 In diesem Sinn bildet es ein zugleich normativ symmetrisches und kognitiv asymmetrisches System.59 Aber nach Luhmann müssen auch interne Asymmetrien über normative Orientierung in das positive Recht eingeführt werden, insoweit die Verfassung „den Zirkel der Selbstreferenz unterbrechen", also „Symmetrie in Asymmetrie überführen" muß, dazu „eine Hierarchie von (rechtssystemintern ermöglichten) Rechtsquellen" konstituiert und „im gleichen Zuge [ . . . ] die Selbstbeschreibung des Rechtssystems" ordnet. 60 In dieser Hinsicht erfordert die Positivität (als'Selbstbestimmtheit) des Rechts nicht nur Asymmetrien unter kognitivem Gesichtspunkt, sondern auch interne Normasymmetrien. Heteronomisierende Brüche der Zirkularität bzw. autopoietischen Reproduktion des Rechtssystems erfolgt dann nur durch dessen externe Asymmetrisierung über normative Orientierung, wovon hier die Rede sein soll. 61 Im folgenden werden zwei typische Fälle in Betracht gezogen.

2.2. Externe Normasymmetrisierung des Rechtssystems unmittelbar im Moment der Rechtssetzung In einem der Fälle, obgleich es zu den Merkmalen des Rechts gehört, durch Entscheidung änderbar zu sein, 62 drückt sich das Fehlen an Systemautonomie 57 Luhmann, 1983 b: 140 f. An anderer Stelle aber wird von symmetrischer Hierarchie die Rede sein (vgl. ders., 1987 a: 359). 58 Luhmann, 1983 b: 141 f. 59 Luhmann, 1984 b: 111. Nach Luhmanns Ansatz ist dies der Ausdruck der Eigenschaft von allen modernen sozialen Systemen, symmetrisch in ihrer operativen Reproduktion und zugleich asymmetrisch in ihrem informativen Umweltbezug zu sein (vgl. ζ. B. 1987 b: 65 u. 262), im Bereich des positiven Rechts. Was die operative Reproduktion der Systemelemente betrifft, geht es hierbei genau um eine Verwendung der logischen begriffe der Symmetrie und Asymmetrie von Relationen: wenn aRb, dann bRa (Symmetrie); wenn aRb, dann nicht bRa (Asymmetrie). Hierzu vgl. u. a. Kondakow, 1983: 448; Fuchs et al. (Hg.), 1975: 559. 60 Luhmann, 1990b: 190; vgl. auch 1981 o: 254 f. Es handelt sich hierbei allerdings um „tangled hierarchies"; vgl. oben S. 52 f., 60 f. 61 Zu den anderen semantischen Implikationen von „Asymmetrie" bei Luhmann vgl. z. B. ders., 1981p: 167 ff., 1986b: 28 u. 30, 1987b: 107, 176, 227 u. 631-34. In einer besonders wichtigen Bedeutung für die Systemtheorie benutzt Luhmann das Wort »Asymmetrie", um auf das Gefalle zwischen Systemkomplexität und Umweltkomplexität zu verweisen (1975 a: 210).

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unmittelbar im Moment der Rechtssetzung aus, mittels deren im Widerspruch zu Luhmanns Auffassung der Differenzierung von Gesetzgebung und Rechtsprechung der „Zugriff mächtiger gesellschaftlicher Interessenten auf das Recht" legalisiert wird. 63 Hier handelt es sich um die typischen Situationen des Totalitarismus und Autoritarismus als Erfahrungen der hochkomplexen, modernen Gesellschaft. Die Asymmetrien treten dann in direkten Brüchen der Autopoiesis des Rechtssystems durch die Politik zutage, was instrumentalistische Verfassungen voraussetzt (s. oben S. 69 ff.). Anscheinend könnte man behaupten, es gehe dabei um eine Hyperpositivität im dem Maße, als keine rechtliche Grenze für die Setzung / Änderung des Rechts besteht. Jedoch ist andererseits anzumerken, daß die Unterwerfung des Rechts unter die Interessen der „Machthaber" dessen Starrheit impliziert.

2.3. Externe Normasymmetrisierung des Rechtssystems im Laufe des Konkretisierungsprozesses Von diesem Fall lassen sich jene Situationen unterscheiden, in denen das Rechtssystem im Konkretisierungsprozeß extern und über normative Orientierung asymmetrisiert wird: Obwohl auf der „abstrakten" Ebene der Rechtssetzung das Rechtssystem die Merkmale der Positivität (Gesetztheit / Änderbarkeit und Selbstbestimmtheit) aufweist, versagen die „positivierten" Normen auf dem Niveau der Rechtskonkretisierung in ihrer Funktion kongruenter Generalisierung von Verhaltenserwartungen und als Mittel der Verhaltenssteuerung. Darauf möchte ich näher eingehen. Die Differenzierung des Verfahrens der Rechtssetzung gegenüber sowohl dem rechtsdurchsetzenden Verfahren als auch dem rechtbefolgenden Verhalten ist eine der Errungenschaften der positiven Rechtsordnungen. 64 Wenn aber zwischen Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung/-befolgung 65 als innerdifferenzierten 62 Der Mangel an Gesetzheit / Änderbarkeit ist kennzeichnend für die vormodernen Gesellschaften, also für das archaische Recht und das Recht der vorneuzeitlichen Hochkulturen (vgl. oben Kap. I. 3.2.), obgleich Phänomene von Traditionalismus in der gegenwärtigen Weltgesellschaft dazu beitragen können. 63 Luhmann, 1990 a: 9, im Gegensinne hinsichtlich der lnteressenjurisprudenz. 64 Man könnte behaupten: Während die Differenz Durchsetzung / Befolgung auf den Übergang vom archaischen Recht zum Recht der vomeuzeitlichen Hochkulturen hinweist, ist die erwähnte Differenzierung des rechtssetzenden Verfahrens kennzeichnend für das moderne (positive) Recht. Luhmann (1987a: 234-42, 1981b: 133 ff., 1990a: insb. 4 f., 11 f.) betont seinerseits die Trennung von Rechtssetzung und Rechtsanwendung bzw. von Gesetzgebung und Rechtsprechung als Eigenschaft des positiven Rechts. 65 „Von Befolgung wollen wir sprechen, wenn und soweit normgemäß gehandelt wird. Von Durchsetzung wollen wir sprechen, wenn und soweit nichtnormgemäßes Handeln besondere Aktivitäten auslöst, die der Erhaltung des Rechts oder der Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände dienen" (Luhmann, 1987 a: 267). Vgl. auch Garrn, 1969: 168 f.; Noll, 1972: 259. 6*

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Dimensionen des Rechtssystems ein hoher Grad an Diskrepanz besteht, so daß es an orientierungsfähigen Wechselbeziehungen fehlt, läßt sich von Asymmetrie in der Rechtspositivierung sprechen. In diesem Fall werden nicht nur die „primären Normen" betroffen, sondern auch die entsprechenden „sekundären Normen". 66 Die rechtssetzenden Aktivitäten werden also weder in befolgendem Verhalten noch in durchsetzenden Tätigkeiten wiedererkannt. Die rechtssetzende Fähigkeit des Systems und dessen Selbstbestimmtheit nach den gesetzten Normen könnten zwar zur irrtümlichen Vorstellung seiner Positivität führen; die Durchsetzungs- und Befolgungsfähigkeit im Hinblick auf diese Normen enttäuscht aber die Beobachter. Da die Begriffe von Durchsetzung und Befolgung hier eine enge Bedeutung annehmen, sind an dieser Stelle zwei andere Begriffe anzuführen:,Rechtsanwendung4 und ,Gebrauch des Rechts4. Ebenso wie die Rechtsdurchsetzung erfordert die Rechtsanwendung in positiven Rechtsordnungen das Handeln eines zuständigen Dritten gegenüber den Adressaten der Normen. Die Durchsetzung besteht aber spezifisch aus den tatsächlichen vollstreckenden Handlungen. Die Rechtsanwendung läßt sich ihrerseits als konkrete Festsetzung der Bedeutung eines gesetzten Normtextes hinsichtlich eines bestimmten Falls begreifen, 67 was die Erzeugung der entsprechenden „Rechtsnorm" und „Entscheidungsnorm" einbezieht.68 Obwohl Rechtsanwendung und Durchsetzung miteinander zusammenhängen, bestehen aber rechtsanwendende Tätigkeiten, die nichts mit Durchsetzung i. e. S. zu tun haben, wie ζ. B. in der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die Innendifferenzierung von Durchsetzung und Anwendung (Polizei und andere vollstreckende Organe versus Gerichte) als Merkmal des modernen Rechts führt dazu, daß auch zwischen diesen zwei Momenten der Rechtskonkretisierung Diskrepanzen zutage treten, die das Problem der Asymmetrie noch mehr verstärken. Insoweit die „Individualnorm" (des anwendenden Organs) „eine bloße Möglichkeit" bildet, ist es auch nicht auszuschließen, daß sich weder die verurteilte Partei noch die 66

Zu diesen Paar-Begriffen s. ζ. B. Geiger, 1970: 144 ff. Cossio verwendet jeweils die Ausdrücke ,Endonorm' und ,Perinorm\ um zu betonen, daß es sich um zwei disjunktiv verknüpfte Glieder einer einzelnen Norm handelt (vgl. ders., 1964: insb. 661 f.). Kelsen sprach umgekehrt von sekundärer und primärer Norm (Sanktionsnorm) aufgrund des Uberschätzens der rechtlichen Bedeutung letzterer (vgl. Kelsen, 1966: 51 f., 1946: 60 f., 1980: 52 u. 124-27). Auf logischer Ebene lehnt Vilanova (1977: 64 f. u. 90) zu Recht die begriffliche Umkehrung bei kelsen ab und behält die Adjektive „primär" und „sekundär" im üblichen Sinne bei. 67 „Normanwendung ist die an abstrakten Normen orientierte Feststellung einer konkreten Norm. [ . . . ] Als konkretisierende Normfeststellung ist die Normanwendung von der Durchsetzung der konkretisierten Norm im Wege der Zwangsvollstreckung zu unterscheiden" (Garrn, 1969: 166 f.). Bei Kelsen schließt die „Anwendung" die durchsetzende Tätigkeit (Vollstreckung der Sanktion) ein (vgl. ζ. B. Kelsen, 1960: 11 u. 240; hierzu kritisch Garrn, 1969: 169). 68 Vgl. hierzu Müller, 1984: 263 ff. Hier ist anzumerken, daß bereits die Reine Rechtslehre die Relativität des Begriffs von Rechtsanwendung und -erzeugung hervorhob (vgl. ζ. B. Kelsen, 1960: 240, 1946: 132 f., 1966: 233 f.; dazu Kramer, 1972: 247 ff.).

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zuständigen vollstreckenden Behörden ihrem Inhalt gemäß verhalten. 69 Die Konsonanz der Rechtsanwendung mit der Rechtssetzung reicht demnach nicht aus zum Bestehen der symmetrischen Positivierung: Die Unfähigkeit des Befolgens oder / und der Durchsetzung ist hierin eine nicht auszuschließende Möglichkeit. Eine andere relevante Unterscheidung ist diejenige zwischen Befolgung und Gebrauch des Rechts. Die Befolgung bezieht sich auf „Verhaltensregeln", d. h. Gebote und Verbote, der Gebrauch auf Regelungsangebote.70 Fallen die Bedingungen („Infrastruktur") für den Gebrauch der gesetzten Regelungsangebote weg, so ist auch von Asymmetrie in der Rechtspositivierung zu sprechen, obwohl es dabei nicht um Einhaltung/ Nichteinhaltung der Rechtnormen geht. 71 In Anbetracht dessen, daß die Begriffe von Befolgung, Durchsetzung, Anwendung und Gebrauch auf verschiedene Situationen verweisen, wird hier als Oberbegriff das Konzept der Konkretisierung verwendet. In diesem Sinne entspricht die Asymmetrisierung des Rechtssystems denjenigen Situationen, in denen der Inhalt der gesetzten (abstrakten) Normtexte in den konkreten Interaktionen der Bürger, Gruppen, Staatsorgane, Organisationen u. s. w. entweder abgelehnt oder verkannt bzw. außer Acht gelassen wird, so daß die Vorstellung der Konkretisierung illusorisch wird. Wenn nicht auf der Ebene der Rechtsanwendung wird der Konkretisierungsprozeß auf dem Niveau der Befolgung / Durchsetzung oder des Gebrauchs blockiert. 72 Obgleich der hier betrachtete Begriff der im Konkretisierungsvorgang auftretenden Asymmetrisierung des Rechtssystems nicht mit dem Konzept der Unwirksamkeit bzw. Ineffektivität der Rechtsnormen übereinstimmt, stehen beide Probleme in enger Beziehung zueinander. Zuerst ist aber eine Beschränkung des Begriffs der Wirksamkeit auf die „Disposition zur Anwendung" bzw. „Gerichtsfähigkeit" 73 insofern zurückzuweisen, als die Anwendungsentscheidung nicht immer eingehalten (durchgesetzt oder befolgt) wird. Andererseits wird unter Wirk69 Kramer, 1972: 255. Blankenburg, 1977:36 f. Bulygin (1965:45 ff.) schlug eine ganz andere Unterscheidung zwischen „Befolgung und Gebrauch von Normen" vor, in deren Rahmen die Anwendung als ein typischer Fall von Gebrauch einzuordnen wäre, nämlich „als Gebrauch der Normen zur Begründung von rechtlichen Entscheidungen definiert wird"(40). 71 Blankenburg, 1977: 37. Es handelt sich dann nicht um Befolgung, Abweichung und Umgehung, sondern um Gebrauch, Nicht-Gebrauch und Mißbrauch (Friedman, 1972: 207 f.) 72 Ich verwende den Ausdruck „Konkretisierung" in einem weiteren Sinn als Müller, für den sich der „Konkretisierungsvorgang" auf die Erzeugung der „Rechtsnorm" und „Entscheidungsnorm" beschränkt (vgl. ders., 1984: 263). Hier ist zu bemerken, daß nach Müller (269) auch die Rechtsnorm „erst jeweils im Fall zu erzeugen (ist)." Andererseits ist noch einmal hervorzuheben, daß der Konkretisierungsprozeß keineswegs auf „die Illusion der vollen Entsprechung des Abstrakten und des Konkreten" gerichtet werden soll, sondern als Problem „durch eine Art integrierte Nichtidentität des Abstrakten und des Konkreten gelöst werden muß" (Luhmann, 1974: 52). 7 3 Bulygin, 1972: 53 ff. 70

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samkeit hierbei nicht die „autonome" Befolgung der Normen verstanden, so als ob „die Effektivität der Rechtsnorm [ . . . ] unter der Voraussetzung ihrer möglichen »Richtigkeit' zu erörtern" wäre. 74 Auch die Überschätzung der Befolgung 75 oder das Betonen der „regulativen Wirksamkeit" 76 ist in dem Maße nicht zuzulassen, in dem die Bedeutung der Effektivität mittels Durchsetzung ausgeschlossen wird. Die Wirksamkeit umfaßt sowohl Befolgung als auch Durchsetzung. 77 Die Norm wird hiernach erst unwirksam, wenn keine der beiden dysjunktiven Alternativen ihrer Verwirklichung eintritt, also wenn „primäre Norm" und entsprechende „sekundäre Norm" scheitern. 78 Der Unterschied zwischen Wirksamkeit und Effektivität, als jeweils bloßer Konformität des Verhaltens mit dem (alternativen) Inhalt der Norm und Erreichung ihrer Ziele, 79 ist nicht relevant für die Konzeption der Asymmetrisierung des Rechtssystems im Konkretisierungsprozeß. Diese Dichotomie drückt sich bei Blankenburg durch die Unterscheidung zwischen Geltung und Wirksamkeit aus: Die Einhaltung der konditionalen Vorschriften eines Gesetzes implizieren dessen Geltung, die Erfüllung seiner Zweckbestimmungen dessen Wirksamkeit. 80 Diese Unterscheidung ist zwar sinnvoll, bleibt aber auf der Ebene der „Verhaltensabläufe" (Handeln). Ich werde hier eine ganz andere Unterscheidung von Geltung und Wirksamkeit anführen. Vorausgesetzt, daß sowohl die Verhaltenssteuerung als auch die Erwartungssicherung Funktionen des Rechtssystems bilden, 81 läßt sich behaupten, die Wirksamkeit bezieht sich auf erstere, die Geltung auf letztere. 82 Obgleich „Wirk-

74 So jedoch Ryffel, 1972: 228. Vgl. auch ders., 1974: 251-58. Hierzu kritisch Blankenburg, 1977: 33 f. 75 Vgl. Garrn, 1969: 169 f. Mißverständlich ist aber die Position von Garrn, der im Widerspruch zu seiner Behauptung, „eine Rechtsnorm ist wirksam, wenn sie befolgt oder durchgesetzt wird" (168), schreibt: „Sie kann sich nur dadurch als wirksam erweisen, daß sie befolgt wird" (169), so daß ihre Durchsetzung ausschließlich die Wirksamkeit (Befolgung) der entsprechenden „sekundären Norm" („Durchsetzungsnorm") impliziert (169 f.). Zwar sind Befolgung und Durchsetzung relativ zu begreifen insofern, als die Durchsetzung einer „primären Norm" mittels ihr entsprechender „Durchsetzungsnorm" die Befolgung letzterer bildet; es ist aber zu ergänzen: in der Perspektive ihrer Befolgung / Nicht-Befolgung stellt letztere nicht mehr „Durchsetzungsnorm" bzw. „sekundäre Norm" dar, sondern eine „primäre Norm", der ihrerseits eine „sekundäre Norm" entspricht. Hiernach sind die beiden zitierten Behauptungen von Garrn unvereinbar und deswegen irreführend. 76 Vgl. Kramer, 1972: 254 ff. 77 Vgl. Geiger, 1970: 70. 78 Damit wird aber nicht verkannt: „eine Norm, die bezüglich der primären Normadressaten nicht mehr regulativ wirksam wird, sondern nur noch repressiv, wird auf lange Sicht wohl überhaupt — auch repressiv — in desuetudo fallen" (Kramer, 1972: 256). 79 Capeila, 1968: 105; Jeammaud, 1983: 53 f. Noll (1972: 261) nennt letztere „soziale Wirksamkeit". Im Hinblick auf die Ziele der Rechtsnormen unterscheiden Glasyrin et. al. (1982: 49-52) Effektivität, Ineffektivität und Antieffektivität ihres Wirkens. so Blankenburg, 1977: 38 ff. 8i Hierzu Luhmann, 1981 d, wo besonders die Spannung zwischen beiden Funktionen behandelt wird.

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samkeit" einen graduellen, meßbaren Begriff darstellt (Befolgungs- und Durchsetzungsquote),83 läßt sich die Geltung hiernach nicht durch ein Verbindlichkeitskalkül nach der Effektivitätsquote messen.84 Trotz der Relativität der Rechtsgeltung 85 steht die Geltungsproblematik primär auf der Ebene des Erlebens, im Gegensatz zur Wirksamkeitsfrage, die primär auf der Ebene des Handelns auftritt. 86 Daß die Geltung auf eine Funktion der Effektivitätsquote nicht beschränkt werden kann, schließt aber nicht aus, daß diese Quote die Geltung der Rechtsnormen bedingt und umgekehrt; denn „kein Erleben ist ohne Handeln zugänglich, kein Handeln ohne Berücksichtigung des Erlebens des Handelnden verständlich." 8 7 Die Fähigkeit des Rechtssystems, Verhalten zu steuern, und seine Fähigkeit, Erwartungen zu sichern, stehen in Wechselbeziehung zueinander. Die „Frage nach Verhaltensabläufen" und die Frage nach Orientierung an Verhaltenserwartungen setzen einander voraus und ergänzen sich in einer Theorie des normativen Verhaltens. 88 Man darf aber nicht außer Acht lassen: Die Wirksamkeitsquote einer Norm kann stark sinken, ohne daß ihre Geltung bedeutsam betroffen wird; umgekehrt kann sich die erwartungssichernde Fähigkeit des Rechts abschwächen, ohne daß dessen verhaltenssteuernde Funktion erschüttert wird. „Es könnte ja sein", fügt Luhmann hinzu, „daß eine allzu stark auf Effektsicherung bedachte Rechtspolitik die Sicherheit des Erwartens zerstört — und ebenso umgekehrt." 89 Den Rechtsnormen wird zwar die Kombination dieser beiden Funktionen zugeordnet, 90 was aber in der modernen Gesellschaft problematisch geworden ist, 91 insoweit sich die Differenz von Handeln und Erleben verstärkte. Sofern die primäre Funktion des Rechts „nicht in der Bewirkung bestimmten Verhaltens (liegt), sondern in der Stärkung bestimmter Erwartungen", 92 ist die Asymmetrisierung des Rechtssystems im Konkretisierungsprozeß primär ein Problem des Mangels an Rechtsgeltung, d. h. des Unvermögens des „positivierten" 82 Hier handelt es sich offensichtlich um Geltung im Sinne der fremdbeobachtenden Perspektive der Rechtssoziologie, nicht um Geltung im Sinne der selbstbeobachtenden Blickrichtung der Rechtstheorie bzw. -dogmatik (hierzu vgl. ζ. B. Hart, 1961: 99 ff., dt. 1973: 145 ff.; Kelsen, 1960: 9 ff., 196 ff.) oder in der wertbezogenen Perspektive der Philosophie (hierzu vgl. ζ. B. Radbruch, 1973: 174 ff.). Aber die Ausdrücke „faktische Geltung" versus „normative Geltung" (Garrn, 1969: 171 f.; Noll, 1972: 259 f.; vgl. auch die Unterscheidung von Schreiber, 1966: 58-68, zwischen faktischer, verfassungsmäßiger und ideeller Geltung) sind mißverständlich, weil es sich bei Geltung im rechtssoziologischen Sinne um normative Erwartungen handelt (s. oben Anm. 38 des Kap. II.). 83 Vgl. Carbonnier, 1976: 99-111; Geiger, 1970: 71, 228 ff. 84 Vgl. hiergegen Geiger, 1970: 71 f., 209 f.; im Anschluß an ihn Teubner, 1989: 112. 85 Vgl. Weber, 1985: 17. 86 Zu dieser Differenz s. Luhmann, 1981m; Kiss, 1986: 12-15. 87 Luhmann, 1981 n: 85. 88 Blankenburg, 1977: 35. 89 Luhmann, 1981 d: 74. 90 Luhmann, 198 ld: 74. 91 Luhmann, 1981 d: 90. 92 Luhmann, 1981b: 118.

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Rechts, normative Erwartungen zu orientieren bzw. zu sichern, obwohl die Frage nach der Wirksamkeit hierfür relevant ist. Auf der Ebene der Rechtssetzung erscheint die Positivität (Gesetztheit/Änderbarkeit und Selbstbestimmtheit), auf der konkretisierenden Ebene scheitert das gesetzte Recht in seiner Funktion kongruenter Generalisierung von Verhaltenserwartungen. Von der Wirksamkeit und Geltung der Rechtsnormen unterscheiden sich ihre Auswirkungen, „die gemessen werden an theoretisch postulierten Zusammenhängen mit anderen sozialen Vorgängen." 93 Man könnte in systemtheoretischer Perspektive sagen, daß es sich hierbei in erster Linie um die Leistungen des Rechtssystems gegenüber den anderen sozialen Systemen handelt. Zur Frage nach Auswirkungen gehören ζ. B. die Probleme der Nützlichkeit und Wirtschaftlichkeit der Rechtsnormen. 94 Besonders wichtig für den Begriff der Asymmetrie der Positivierung ist die Konzeption der symbolischen bzw. latenten Auswirkungen der Rechtsnormen (s. Kap. II. 3.3.), wovon später wieder die Rede sein wird (Abschn. 3.2.4. dieses Kap.). In der vorliegenden Untersuchung geht es nicht lediglich um das Problem der Asymmetrisierung des Rechtssystems in bezug auf spezifische Normen, Einrichtungen oder Rechtsbereiche, sondern um die mangelhafte Konkretisierung der „Verfassung" als grundlegender reflexiver Instanz im Rechtssystem (s. oben Kap. II. 2.) und seines umfassendsten Teilsystems in der Sach-, Sozial- und Zeitdimension, so daß die Positivität des ganzen Rechtssystems in Frage gestellt wird. 95

2.4. Zwischenresümee Externe Asymmetrisierung des Rechtssystems über normative Orientierung tritt entweder unmittelbar im Moment der Rechtssetzung oder erst im Laufe des Konkretisierungsprozesses zutage und führt auf der Verfassungsebene jeweils zum Verfassungsinstrumentalismus (Autokratie) oder dem Verfassungsnominalismus (Scheindemokratie); beide Situationen implizieren also Entdifferenzierung bzw. Fremdbestimmtheit des Rechtssystems. Richtet man den Blick auf die peripheren Länder, läßt sich klar erfassen, wie im Hinblick auf Verfassungsgesetzgebung bzw. Verfassungskonkretisierung diese Formen von Asymmetrien zur Infragestellung der Positivität (als Selbstbestimmtheit) des ganzen Rechtssystems führen.

93 Blankenburg, 1977: 41. 94 Hierzu s. Glasyrin et al., 1982: 52-60. 95 Nun erst recht läßt sich das Problem keineswegs angemessen nach dem Zweck / Mittel-Schema der Implementationsforschung (hierzu Mayntz, 1983, 1988) behandeln bzw. lösen; vgl. auch oben S. 62. Zu einer systemtheoretischen Reinterpretation der Implementationsproblematik in bezug auf Politik und Recht s. Luhmann, 1981p: 166 ff.

3. Die Bedeutung der Verfassung für die periphere Modernität

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3. Die Bedeutung der Verfassung für die periphere Modernität Alle vorhergehenden begrifflichen Überlegungen münden in diesen Abschnitt ein, wo als Hypothese eine theoretische Konzeption der peripheren Verfassungssysteme formuliert wird. Eine Überprüfung dieser gedanklichen Konstruktion werde ich durch eine Darstellung der Verfassungsentwicklung Brasiliens im zweiten Teil dieser Untersuchung vornehmen.

3.1. Externe Asymmetrisierung des Rechtssystems auf der Verfassungsebene. Zwischen Verfassungsnominalismus und Verfassungsinstrumentalismus Asymmetrisierung des Rechtssystems über normative Orientierung kompromittiert das Rechtshandeln (die Wirksamkeit) und das Rechtserleben (die Geltung), was die peripheren Länder anbelangt, nicht nur hinsichtlich bestimmter gesetzter Rechtsnormen und -einrichtungen, sondern sie betrifft das Rechtssystem im ganzen. Die Situation nimmt dann eine relevante Bedeutung auf der Verfassungsebene an, worauf sie spezifisch jeweils als Verfassungsnominalismus und Verfassungsinstrumentalismus auftritt (s. oben Kap. II. 4.). In dieser Konstellation bilden die in anderen Rechtsbereichen vorkommenden Asymmetrien zugleich bedingte Zustände und bedingende Faktoren jeweils des Verfassungsnominalismus (Asymmetrisierung im Verlauf des Konkretisierungsprozesses) und Verfassungsinstrumentalismus (Asymmetrisierung im Rahmen des Rechtssetzungsvorgangs). Mit anderen Worten: daß die Verfassung als reflexive Instanz innerhalb des Rechtssystems (s. oben Kap. II. 2.) versagt (Nominalismus) oder fehlt (Instrumentalismus), ist negative Bedingung der Geltung und Wirksamkeit des gesetzten Rechts in anderen Rechtsbereichen, aber als Rückkopplung verhindert die Unfähigkeit des „Unterverfassungsrechts", Erwartungen zu sichern und Verhalten zu steuern, die Orientierung des Rechtserlebens und Rechtshandelns nach dem Verfassungsmodell. Allerdings konzentriere ich mich hier nicht nur um des Bedarfs nach methodologischer Beschränkung des Untersuchungsfeldes willen auf die Verfassungsproblematik, sondern vor allem deshalb, weil sie m. E. im Zentrum der Frage nach externer Asymmetrisierung des Rechtssystems in den peripheren Gesellschaften hervortritt. Die Entstehung der „Verfassungen" in den peripheren Ländern ergab sich aus der formalen Dekolonisierung. Der neue Zustand führte auf keinen Fall zur „Nationalen Unabhängigkeit bzw. Souveränität" im Sinne der zentrischen Staaten. Möchte man diesen Ausdrücken eine sinnvolle Bedeutung zuschreiben, dann sollen sie darauf hinweisen, daß sich die Politik als territorial begrenztes System innerhalb der entsprechenden Teilgesellschaft autopoietisch reproduziert. 96 Die96 In diesem Sinne vgl. Luhmann u. Schorr, 1988: 46. Zum Konzept der Souveränität im Rahmen des Verfassungsbegriffs und deren tautologisch-paradoxen Implikationen s. Luhmann, 1990b: 194 ff.

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ser Zustand tritt in zwei Möglichkeiten ein: 1) der Machtkreislauf zwischen Verwaltung (i. w. S.), Politik (i. e. S.) und Publikum 97 wird weder durch die (Welt-)Wirtschaft noch von anderen politischen Systemen strukturell blockiert (Demokratien); 2) die politische Entdifferenzierung der Regionalgesellschaft durch Totalitarismus impliziert die inländische Überlegenheit des politischen Systems und dessen Autonomie gegenüber den externen Faktoren. 98 Im ersten Fall besteht auch Positivität des Rechts im Luhmannschen Sinne (Selbstbestimmtheit) bzw. Rechtsstaatlichkeit, für den zweiten ist die Asymmetrisierung des Rechtssystems durch Rechtssetzung kennzeichnend, also Mangel an Positivität (als Selbstbestimmtheit) des Rechts.99 In beiden Situationen aber kommt die Autonomie des „nationalen" politischen Systems zutage, sei es in adäquater oder inadäquater Form für die Komplexität der Weltgesellschaft. Bei der „Konstitutionalisierung" der peripheren Länder entfällt im Gegenteil „nationale Unabhängigkeit" als autopoietische Reproduktion des politischen Systems innerhalb der entsprechenden Regionalgesellschaft, weil ihre untergeordnete Stellung und Funktion in der Weltgesellschaft und damit zusammenhängend das Fehlen an internen Voraussetzungen dies verhindern. Der „Konstitutionalismus" wird dadurch direkt betroffen, entweder weil das in den zentrischen Ländern geltende „demokratische" Verfassungsmodell nachgeahmt wird, ohne daß die Bedingungen für dessen Verwirklichung bestehen (Verfassungsnominalismus); oder weil autoritäre Regimes (politische Entdifferenzierung spezifisch des Rechts) zugunsten der peripheren Integration zum Verfassungsinstrumentalismus führen. 100 97 Hierzu Luhmann, 1981 e: insb. 164., 19811: 43 ff. 98 Zwar läßt sich als typisch für die traditionalen, nach dem Stratifikationsprinzip differenzierten Gesellschaften charakterisieren, daß die Politik an der Spitze steht als das einzige selbstreferenzielle System der Gesellschaft (Luhmann, 1981 e: 159 f., 1987a: 166 ff.). Das schließt aber nicht die Wiederkehr dieser Situation in der modernen, hochkomplexen Gesellschaft durch den Aufbruch der totalitären Autokratien aus, die selbstverständlich wegen ihrer entdifferenzierenden Wirkungen inadäquat für die Komplexität der Gesellschaft sind. 99 Dementsprechend unterscheidet Luhmann (1984c: 193-96) zwischen ideologisch integrierten Systemen und Rechtsstaaten. 100 Das ist das typische Muster. In vermeintlichen Versuchen der Entperipherisierung tendieren aber einige Länder der „Dritten Welt" auf der Grundlage von Traditionalismen zum Totalitarismus, ohne daß damit wesentliche Veränderungen in der Form ihrer Integration in den Weltmarkt und im internen Zustand der Unterentwicklung folgen. In anderen (überholten?!) Situationen wendet sich das Land an den Ostblock, um seine „dissoziative" Politik zu sichern. Man könnte dann von „Peripherie des Sozialismus" sprechen, was m. E. mißverständlich ist, insoweit es sich um eine kapitalistische Weltökonomie handelt (vgl. Senghaas, 1972b: 11 f., 15 f.). Schließlich versuchen andere Länder durch entperipherisierende Reformismen oder Revolutionen spezifisch nationale Strategien zur Uberwindung der Unterentwicklung umzusetzen, die aber insofern zum Scheitern verurteilt sind, als Ideologisierung der Dissoziation oder internationaler Boykott entgegenwirken. Es ist nicht nur anzumerken, daß dissoziative Strategien nicht zwingend zur Entperipherisierung führen (vgl. Elsenhans, 1979: 103); darüber hinaus darf nicht außer Acht gelassen werden, daß Entperipherisierung nicht im notwendigen direkten Verhältnis

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Das Abwechseln zwischen nominalistischen und instrumentalistischen Verfassungen kennzeichnet die periphere Modernisierung. Im folgenden werde ich zuerst spezifisch auf die Asymmetrien des Rechtssystems im Laufe der Verfassungskonkretisierung (Verfassungsnominalismus) näher eingehen (3.2.). Später wird die Durchsetzung des Verfassungsinstrumentalismus (Asymmetrien des Rechtssystems im Rahmen der Verfassungsgesetzgebung) (3.3.) und zum Schluß die wechselseitige Beziehung zwischen beiden Alternativen betrachtet (3.4.)

3.2. Der Verfassungsnominalismus: Implikationen für das Rechtssystem 3.2.1. Import von Verfassungsmustern versus Verfassungswirklichkeit der peripheren Länder Die Nachahmung von (liberal- oder sozialdemokratischen Verfassungsmustem der zentrischen Länder in den peripheren Gesellschaften, die als einer der wichtigsten Ausdrücke des politischen Imperialismus zu bezeichnen ist, 1 0 1 impliziert das strukturelle Auseinanderklaffen zwischen gesetztem Verfassungstext und Rechtshandeln / -erleben der Bevölkerung. 102 Herkömmlich wird vom Widerspruch zwischen Verfassungssollen und Sozialsein, Verfassungsnormen (Recht) und Verfassungswirklichkeit gesprochen (vgl. oben S. 56 f.). Insoweit solchen Dichotomisierungen die Annahme zugrundeliegt, das Sollen bzw. die Normen stellten Idealitäten dar, sind sie unvereinbar mit der vorliegenden Untersuchung (vgl. oben S. 22 f., 50 f.). Hier handelt es sich um die entstellende oder unzureichende Konkretisierung des gesetzten Verfassungstextes (s. oben Kap. II. 3.), genauer um dessen Unfähigkeit, verhaltenssteuernd und erwartungssichernd zu wirken (Probleme von dessen Anwendung, Durchsetzung, Befolgung und Gebrauch). Möchte man aber das Schema,Verfassungsrecht versus VerfassungsWirklichkeit' zu Entwicklung steht (vgl. Cardoso u. Faletto, 1984: 27, dt. 1976: 26 f.): erstere ist lediglich eine entscheidende negative Bedingung letzterer. Ich werde mich aber beschränken auf den Verfassungsnominalismus und -instrumentalismus im Rahmen der typischen peripheren Eingliederung des Landes in die Weltgesellschaft: Scheindemokratien oder Autoritarismus im Zusammenhang mit untergeordneter Integration in den Weltmarkt. ιοί Vgl. Galtung, 1972: 57. ι 0 2 In dieser Konstellation läßt sich die von Watson (1977) behauptete These der Übertragbarkeit von Rechtseinrichtungen bzw. Normen in sehr unterschiedlichen Sozialkontexten („The connection of a legal rule with any one environment is less intimate than may be supposed. It is a characteristic of a legal rule to be made for and to fit into very different circumstances, both in several states and also within one state." — 111) bestreiten. Zumindest muß man nach Luhmann, nämlich auch im Hinblick auf „Kopieren von berühmten, anderswo bewährten Verfassungstexten oder — Institutionen" (1990b: 212 f.), „in dieser Frage zwischen Verfassungsrecht und sonstigem Recht unterscheiden" (213 Anm. 90). Andererseits aber wird hier in bezug auf die Autonomisierung des Rechts nicht verkannt, „that much of law does not accord with the needs and desires of the society in which it operates" (Watson, 1977: 111).

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beibehalten, dann würde es in diesem Zusammenhang auf die Abkopplung verweisen zwischen Verfassungssystem (geltendem Verfassungsrecht als Komplex der durch Verfassunggebung und Verfassungskonkretisierung gefilterten normativen Verhaltenserwartungen sowie der diesen zugrundeliegenden und direkt auf ihrer Basis entfalteten Kommunikationen) und Verfassungs umweit (Verfassungswirklichkeit als Gesamtheit von Erwartungen und Verhalten, die sich über andere spezifische Systemcodierungen bzw. „lebensweltlich" auf das Verfassungsrecht beziehen). In dieser Perspektive läßt sich von der „verfassungsausfüllenden Verfassungswirklichkeit" die „verfassungsaushöhlende" und die „verfassungsdurchbrechende Verfassungswirklichkeit" unterscheiden. 103 Der erste Typus entspricht den normativen Verfassungen der zentrischen Gesellschaften, die anderen beiden sind kennzeichnend für den Verfassungsnominalismus der peripheren Staaten. Bei „verfassungsaushöhlender" Verfassungswirklichkeit geht es um mittelbare Beeinträchtigungen des Verfassungsrechts (Verfassungsumgehung), während die „verfassungsdurchbrechende" Verfassungswirklichkeit direkte und regelmäßige Verstöße gegen die Verfassungsvorschriften impliziert, 104 was sich in den peripheren Ländern „unter dem Mantel der ,Staatspraxis4 4 4 1 0 5 vollzieht. Man könnte also in Bezug auf diese zwei Fälle von Abkopplung zwischen Verfassungssyste/w und VerfassungsMmwe/r sprechen. Aber die Situationen lassen sich ablesen als Ausdruck der Konkretisierungsunfähigkeit des Verfassungstextes; dann handelt es sich um den systeminternen Bruch der Zirkularität,Verfassungssetzung / Verfassungskonkretisierung 4. Die beiden Lektüren der Problematik schließen einander nicht aus, vielmehr bilden sie komplementäre Perspektiven. Ich erachte die lineare evolutionäre Erklärung „Modernes Recht in einer traditionellen Gesellschaft 44 zumindest als unzulänglich. Obwohl das Bestehen traditionaler Verhaltensmuster auch als Widerstand gegen die Verwirklichung des positiven Rechts in kolonisierten bzw. neokolonisierten Gebieten fungiert, so daß sich unter diesem Gesichtspunkt von Dualität der Rechtsordnungen sprechen läßt, 106 ist das Problem des Verfassungsnominalismus in den peripheren Ländern eine Frage der Moderne. 107 Die Zerstörung der traditionellen Handlungszusammen103 Grimm, 1989: 637. 104 Grimm, 1989: 637. 105 Ein Ausdruck von Grimm (1989: 637), mit dem er aber in einer verwickelten Formulierung anscheinend eher auf die Fälle von Verfassungsinstrumentalismus verweisen möchte, mit seinen eigenen Worten also auf diejenigen Situationen, in denen „der verfassungswidrigen Verfassungs Wirklichkeit unter dem Mantel der,Staatspraxis4 selbst Verfassungsrang zugeschrieben wird". 106 Vgl. ζ. B. Heidelberg, 1968. 107 Vgl. aber in einer modernisierungstheoretischen Konzeption Krüger, 1968: insb. 9 ff., 20 ff.; hierzu kritisch Hinz, 1971: 336-39, allerdings im Rahmen des politischanthropologischen Strukturalismus von Georges Balandier (vgl. ebd., 352 ff.). Anhand der Dichotomie Tradition / Modernität versuchte Alvarez-Correra (1983) die Hindernisse für die Positivierung des Rechts in einem typischen peripheren modernen Land (Kolumbien) zu erklären; vgl. anders Benda-Beckmann, 1979, der anhand zweier illustrierender Fallentscheidungen in West-Sumatra (unter den Minangkabau) und Holland (338 ff.)

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hänge durch die untergeordnete Integration der peripheren Länder in den Weltmarkt erhöht die Komplexität / Kontingenz der Gesellschaft und erfordert infolgedessen funktionelle Differenzierung. Jedoch die „strukturelle Heterogenität" und damit zusammenhängend die „Marginalisierung" breiter Sektoren der Bevölkerung (s. oben S. 78 f.) sind unvereinbar mit dem Modell der Selektivität durch horizontale Differenzierung. Was Volkmar Gessner hinsichtlich des Zugangs zu den konfliktlösenden Verfahren des positiven Rechts in seiner privatrechtlichen Untersuchung in Mexiko konstatierte, nämlich daß Modernität keine entscheidende Rolle spielt, 108 läßt sich auf die Verfassungsebene der Rechtswirklichkeit der peripheren Länder übertragen. Es handelt sich auch hier um das Fehlen „an hinreichend komplexen Kopplungen zwischen System und Umwelt". 1 0 9 Das nachgeahmte Verfassungsmodell ist unangemessen, Verhalten zu sichern, insoweit sich die „strukturelle Heterogenität" und die „Marginalisierung der Massen" unter peripherer Modernisierung verschärft. Grundrechte, Gewaltenteilung und demokratische Wahl verlieren an Bedeutung primär nicht wegen des Vorhandenseins von traditionellen Verhaltensmustern, sondern infolge der extremen sozialen Schichtung, letzten Endes der riesigen ökonomischen Kluft, 1 1 0 die sich im Rahmen der peripheren Modernisierung entwickelt. 111 Wird hiernach der Verfassungsnominalismus als eine typische Angelegenheit der (peripheren) Moderne begriffen, dann ist man gezwungen, Luhmanns Formulierung „Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft" 112 umzukehren. Zwar ist die Positivität des Rechts nicht vereinbar mit der Starrheit der traditionalen Gesellschaften, und außerdem erfordert der Aufbruch der Modernität als hochkomplexer und -kontingenter Vergesellschaftung um des sich daraus ergebenden hohen Bedarfs an Selektivität willen Positivität des Rechts. Aber das „positivierte Recht" kann in seiner Funktion kongruenter Generalisierung von Verhaltenserwartungen und in seiner konfliktlösenden Leistung versagen, was beim Verfassungsnominalismus in den peripheren Ländern der Fall ist (vgl. unten Kap. V.). Die Gesellschaft wird hochkomplex und -kontingent, unter bestimmtem Aspekt in einem höheren Grad als die zentrische Gesellschaft (s. oben S. 77 ff.), darauf hinweist, daß nach dem ersten (wirklichen) Urteil und dem zweiten (konstruierten) Urteil jeweils das Minangkabausche Recht als „modern" und das holländische Recht als „traditionell" auftritt. Unter einem anderen Gesichtspunkt kritisiert Trubek (1972: 16 ff.) den Ethnozentrismus und Evolutionismus der Theoretiker der „Rechtsmodernisierung". Zur „Modernisierung" des Rechts als weltweitem Problem seit den letzten zweihundert Jahren s. Galanter, 1966. los Gessner, 1976: 165-67 u. 169. 109 So Luhmann (1981 f: 96) in Bezug auf Gessners Mexiko-Untersuchung. no Vgl. Gessner, 1976: 164-65 u. 169. Hierzu auch Luhmann, 1987b: 539 f. m Neuerdings zieht Luhmann (1990b: 212-14) analog dazu diese „Entwicklungstendenzen" als innewohnendes Problem der modernen Weltgesellschaft in Betracht, nicht mehr wie in früheren Beiträgen (vgl. ders., 1983 a: 65 Anm. 10, 1987 a: 96 Anm. 114, 1965: 101 f.) als Ausdruck der Einfachheit bzw. Traditionalität der „Entwicklungsländer". 112 Vgl. Luhmann, 1981b.

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aber das gesetzte und änderbare Recht verfehlt seinen Zweck, die Komplexität seiner Umwelt adäquat zu reduzieren. Im Sinne Atlans (vgl. oben S. 80 f.) geht es um das Scheitern des positiven Rechtssystems, zureichende und angemessene Redundanz gegenüber der hohen Varietät seiner Umwelt zu schaffen, so daß dessen Autonomie kompromittiert wird. Die Bestandserhaltung der entsprechenden peripheren Teilgesellschaft und ihre Funktionalität für die Weltgesellschaft wird dadurch prinzipiell nicht betroffen, obwohl inländische funktionell-strukturelle Probleme zutage treten, die aber bestimmte privilegierte Gruppen begünstigen und also von ihrem Standpunkt aus auch intern nicht „dysfunktional" sind. Nach diesen Bemerkungen unterliegt Luhmanns evolutionäres Schema „archaisches Recht - » Recht vorneuzeitlicher Hochkulturen —> positives (gesetztes, änderbares und selbstbestimmtes) Recht als Voraussetzung der modernen Gesellschaft" (s. oben Kap. I. 3.2.) einer Einschränkung: Die periphere Modernität wirkt funktional für die Weltgesellschaft, ohne daß sich die entsprechende Positivierung des Rechts vollziehen kann.

з.2.2. Die Beziehung von Sub- und Über integration in das Verfassungs system versus das Prinzip der Nicht-Identifikation der Verfassung Mit der untergeordneten Eingliederung in die Weltgesellschaft zusammenhängend hindern „strukturelle Heterogenität" und „Marginalisierung der Massen" (Exklusion) die Verwirklichung des in den zentrischen Ländern herrschenden Verfassungsmusters innerhalb der Peripherie. Hiernach läßt sich von Subintegration und Überintegration in das Verfassungssystem sprechen. Die „Marginalisierten" werden darin subintegriert, insoweit die Grundrechte keine Rolle im Horizont ihres Handelns und Erlebens spielen. Die Verfassungsvorschriften gewinnen Bedeutung für die unterprivilegierten Gruppen fast nur in ihren freiheitsbeschränkenden Wirkungen. Das gilt für das „konstitutionelle" Rechtssystem im Ganzen: Die in verschiedenen Graden und Hinsichten „marginalisierten" Unterschichten (d. h. der größte Teil der Bevölkerung) werden als Verpflichtete, Angeklagte и. s. w. in das System integriert, nicht als Berechtigte, Kläger u. s. w.; 1 1 3 sie sind also zwar abhängig von ihm, ohne aber Zugang (im positiven Sinne) zu dessen Leistungen zu haben (Exklusion — vgl. S. 78 f. u. Kap. V. 1.3.). Im Bereich der Verfassung nimmt aber das Problem der Subintegration eine spezielle Tragweite in dem Maße an, wie in Bezug auf die Angehörigen der Unterschichten die 113

Hierzu stellte Gessner (1976: 100) in Bezug auf die mexikanische Wirklichkeit fest: „Vor den Zivilgerichten ergibt sich zwingend aus den Konfliktarten, daß die Kläger den wohlhabenden und die Beklagten den weniger wohlhabenden Schichten zugehören." Es ist selbstverständlich, daß die Arbeitsgerichtsprozesse „immer in die Gegenrichtung" laufen (ders., 1976: 164). Der Zugang zur Arbeitsgerichtsbarkeit aber beschränkt sich grundsätzlich auf die organisierte Arbeiterschaft, das Arbeitsrecht hat keine relevante Bedeutung für die „marginalisierten" Massen der Unterbeschäftigten und „offenen" Arbeitslosen.

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Verletzungen der Grundrechte besonders im Rahmen der repressiven Tätigkeit des „Staatsapparates" durchgeführt werden. Die Subintegration der Massen ist untrennbar von der Überintegration der privilegierten Gruppen, die vor allem in Form von bzw. anhand der „Staatsklasse / Staatsbourgeoisie" 114 ihre verfassungsaushöhlenden und -durchbrechenden Handlungen ausführen. Zwar benutzen sie — prinzipiell soweit es zugunsten ihrer Interessen ist bzw. zum Schutz der „sozialen Ordnung" — regelmäßig den demokratischen Verfassungstext; tendenziell aber, insofern die Verfassung ihrem politischen und ökonomischen Handlungsspielraum bedeutende Grenzen setzt, wird sie außer acht gelassen. Die Verfassung fungiert dann nicht als Horizont des rechtspolitischen Handelns und Erlebens der Machthaber, sondern als ein je nach der konkreten Interessenkonstellation von ihnen zu brauchendes, mißbrauchendes oder nicht zu brauchendes Angebot. Das Prinzip der Nicht-Identifikation der Verfassung (s. oben S. 53 f.) verliert in diesem Kontext an jeder ernst zu nehmenden Bedeutung.115 Der Verfassungstext wird insofern konkretisiert, als die Interessen der privilegierten Gruppen, im Inland und Ausland, nicht kompromittiert werden. Verfassungsmäßigkeit gegen die Interessen der Großgrundbesitzer, multinationalen Konzerne, „Staatsbourgeoisie", „Brückenköpfe" u. s. w. sei politisch „nicht empfehlenswert", „umweltlich inadäquat". (Daraus darf man keine einfache Schematisierung ableiten, weil zwischen den Überintegrierten Rechtskonflikte auch auf der Verfassungsebene eintreten und nicht selten rechtmäßig ausgetragen werden. Wird aber dadurch der soziale status quo gefährdet, so neigen sie zu „verfassungsaushöhlenden" oder „verfassungsdurchbrechenden" Formeln von Versöhnung). Soziale Reformen innerhalb der „Verfassungsordnung" werden als subversiv in dem Maße charakterisiert, wie Abschaffung von Privilegien bzw. Einführung ausgleichender Maßnahmen zugunsten der Unterschichten auf die Tagesordnung gesetzt wird. Hinter der „formalen" Nicht-Identifikation des gesetzten Verfassungstextes steht die Identität der „verfassungsaushöhlenden bzw. -durchbrechenden Verfassungswirklichkeit" mit den privilegierten Klassen und Gruppen, so daß die Institutionalisierung der Grundrechte, Gewaltenteilung und politischen Wahl (s. oben S. 54 f.) grundsätzlich verzerrt wird. Die Vorstellung „Zivilisierung der Verhaltenserwartungen" durch die Institutionalisierung der Kommunikationsfreiheit 116 und erst recht der Gedanke von Π4 Vgl. dazu Elsenhans, 1977, 1984: 63-66 u. 121-24. u 5 Auch in Bezug auf die zentrischen Staaten läßt sich dieses Prinzip in Frage stellen, besonders durch die These, daß die politische Herrschaft unter dem Anschein der Klassenneutralität als Klassenherrschaft ausgeübt wird (Offe, 1977: 92 f.). In dieser Perspektive hat die Frage für die zentrischen Gesellschaften andere Voraussetzungen und Konsequenzen als für die peripheren Länder. Zumindest ist anzumerken, daß die „gegenläufigen, verschleiernden Selektionsleistungen" (Offe, 1977: 92 ff.) ihren Zweck in der Peripherie verfehlen. 116 Luhmann, 1965: 84-107.

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Gleichheit vor dem Gesetz 117 werden illusorisch, faßt man ins Auge, daß breite Sektoren der Bevölkerung sozial behindert sind, sich positiv (d. h. zugunsten ihrer Bedürfnisse bzw. Interessen) in das Verfassungssystem zu integrieren. Obwohl die gesellschaftliche Komplexität freie Entfaltung der Kommunikation nach generalisiert differenzierten Codes erfordert, ist die „untergeordnete Integration" („Marginalisierung" bzw. „Exklusion") breiter Bevölkerungsgruppen damit nicht verträglich. Universalismus als Errungenschaft des Rechts- bzw. Verfassungsstaats 1 1 8 wird dann zur Figur der Rethorik. Vergleicht man den Verfassungstext mit der Verfassungswirklichkeit im Verlauf des Konkretisierungsprozesses, so stößt man auf verfassungsaushöhlende und -durchbrechende Partikularismen, also auf Anwendung / Durchsetzung / Befolgung / Gebrauch nach den FaktorenKriterien der Integrationsschichtung (Sub- und Überintegration). Richtet man den Blick auf die Gewaltenteilung als spezifischen Verfassungsmechanismus der Ausdifferenzierung des Rechts gegenüber der Politik (s. oben S. 54 f.), so erfährt man nichts anderes: Verfassungs- bzw. gesetzwidrige Aktivitäten der vollziehenden Gewalt bleiben in dem Maße rechtlich unkontrolliert, als die Schwäche (Mangel an wirklicher Autonomie gegenüber der Exekutive) oder die „Komplizenschaft" der rechtsprechenden und der gesetzgebenden Gewalt es erlauben bzw. fördern. Trotz des gewaltenteilenden Verfassungstextes gehören die unmittelbaren (ohne Filterung nach den Rechtskriterien) Eingriffe der Staatsagenten in das Rechtssystem nach dem Machtcode 119 zur Wirklichkeit des peripheren Verfassungsnominalismus. In diesem Zusammenhang versagt also die Differenzierung von Politik und Verwaltung als Leistung der Verfassung gegenüber dem politischen System. 120 Die Politisierung der Verwaltung 121 drängt sich nicht nur einseitig im Rahmen der konkreten Interessen der privilegierten Gruppen und ihrer die Verwaltungsautonomie blockierenden Tätigkeiten auf, sondern m. E. in erster Linie auf der Basis der dringenden Bedürfnisse der verelendeten Bevölkerung, die selbstverständlich nicht warten kann. 122 In dieser Konstellation 117

„Der Gleichheitssatz besagt natürlich nicht, daß jedermann die gleichen Rechte haben soll (in welchem Falle der Charakter des Rechtes als Recht unvorstellbar würde), wohl aber: daß die Rechtsordnung einer differenzierten Gesellschaft nach bestimmten strukturellen Anforderungen generalisiert sein muß" (Luhmann, 1965: 165; Hervorhebung von mir). π» Vgl. Parsons, 1967: 124 f.; Habermas, 1982b: 265; Luhmann, 1974: 29, 1981k: 411 f., 1990 a: 5 (hier mit Betonung auf die ergänzende Wechselbeziehung von Universalismus und Spezifizität). 119 Hierbei handelt es sich nach Luhmanns Formulierung offensichtlich um den nach dem hierarchischen Schema Überlegenheit / Unterlegenheit gebildeten Erst-Code der Macht, nicht um deren Zweit-Codierung, die genau durch den Schematismus von Recht und Unrecht erfolgt (Luhmann, 1986c: 199, 1988c: 34, 48 ff., 56). Vom politischen System aus gesehen geht es dann um die nicht-hinreichende Verwirklichung seines Zweit-Codes. 120 Vgl. hierzu Luhmann, 1973 b: 8 ff. 121 Vgl. Luhmann, 1983 a: 208 f. 122 „Der lebenswichtige Bedarf muß auf alle Fälle gedeckt sein, so daß jedermann warten kann" (Luhmann, 1983 a: 198).

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läßt sich verstehen, warum bestimmte direkte Eingriffe der Politik (i. e. S.) in die Verwaltung, die nach der Verfassungsurkunde und dem Gesetzrecht als „Korruption" zu verurteilen wären, besonders von den Unterschichten als wohltätige Handlungen oder sogar als „Pflichten" erlebt werden, allerdings nicht von privilegierten Machthabern, die aber unter Legitimationszwang 123 die positivrechtlich bestrafbaren „Hilfeleistungen" oder Erteilungen von Vorteilen als politisch richtig anzusehen tendieren. 124 Spezifisch im Hinblick auf den Fall Brasilien komme ich darauf in Kap. V. 2.2.2. zurück. Im Anschluß daran tritt das Problem der politischen Wahl auf. Daß der Verfassungstext die Allgemeinheit der Wahlberechtigung, die Gleichheit des Stimmengewichts und die Geheimhaltung der Stimmabgabe vorschreibt (s. oben S. 55), reicht offensichtlich nicht dazu aus, Indifferenz gegenüber anderen Rollen und konkreten Interessen der Wähler (—> deren Gleichheit im Wahlverfahren) zu sichern, insofern auch nicht dazu, daß die Wahl als entlastende Unterstützung für das politische System fungiert. Diesem systemtheoretischen Muster entspricht nicht die Wirklichkeit des Wahlverfahrens im Verfassungsnominalismus der peripheren Länder. 125 Das ergibt sich nicht nur aus den die Autonomie des Verfahrenssystems häufig verzerrenden Wahlfälschungen, Wahlbestechungen und anderen Wahldelikten. Darüber hinaus ist vielmehr nicht außer acht zu lassen, daß die Verelendung des größten Teils der Wählerschaft unvereinbar ist mit der Trennung zwischen Wählerrolle und anderen Rollen bzw. konkreten Interessen der „Unterbürger". Wahlentstellende, aber nur in Ausnahmefällen als Wahldelikte zu charakterisierende Formen von „Hilfen" und „Leistungen" der Kandidaten oder Wahlhelfer — sei es langfristig oder am Wahltag — „konstruieren" unter diesen Bedingungen im Erlebenshorizont breiter Sektoren der verelendeten Wähler das Gefühl und die Vorstellung, sie seien verpflichtet zur Gegenleistung bei der Stimmabgabe. Die Wahl wird also durch Manipulationen konkreter Interessen und Bedürfnisse der Wähler verzerrt, 126 so daß sie nicht dazu geeignet ist, Konflikte zu absorbieren bzw. in das politische System hineinzuleiten. 127 Unter einem 123 Hierzu Elsenhans, 1977: insb. 39. 124 Hierzu schreibt in anderer Perspektive Luhmann (1983 a: 65 Anm. 10): Tatbestände, die in komplexen, stark differenzierten Gesellschaften als Korruption im weiteren Sinne angesehen werden, [entsprechen] in einfachen Gesellschaften im Gegenteil der moralischen Erwartung und werden geradezu gefordert — man soll seinen Nächsten helfen! Das haben namentlich neuere Untersuchungen aus Entwicklungsländern gelehrt, die sich in dieser Frage in einer Übergangsphase mit institutionellem Konflikt befinden" (Hervorhebungen von mir). Hierbei geht es m. E. aber nicht um ein Problem von einfachen Gesellschaften in der „Übergangsphase" (von „Entwicklungsländern"). Es ergibt sich vielmehr aus der „strukturellen Heterogenität" komplexer, modemer Gesellschaften, der peripheren Länder, und läßt sich systemtheoretisch besser als Symptom von nicht genügend bzw. adäquat strukturierter Komplexität interpretieren. 125 Vgl. Luhmann, 1983 a: 160 Anm. 11. 126 „Die politische Wahl eignet sich nicht für den Ausdruck konkreter Interessen, sowenig wie für die Entscheidung konkreter Konflikte" (Luhmann, 1983 a: 164 f.). 127 Vgl. Luhmann, 1983 a: 163. 7 Neves

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anderen, auch wichtigen Gesichtspunkt ist das Problem zu berücksichtigen, warum das unter Druck „von unten" und „von oben" ablaufende Wahlverfahren scheitert als Mechanismus der Machtneutralisierung und zugleich Machtunterstützung. Hierzu passend schreibt Luhmann: „Die Flexibilität des politischen Systems kann nur gewahrt werden, wenn der Wahlmechanismus eine normalerweise ausreichende politische Unterstützung gewährt und nicht darüber hinaus noch für jede Entscheidung die Zustimmung des Militärs, der Kirche, der Großindustrie usw. eingeholt werden muß." 1 2 8 Ferner ist anzumerken, daß in den peripheren Ländern die in den nominalistischen Verfassungen vorgeschriebene Autonomie des politischen Systems insofern u. a. entfällt, als das Wahlergebnis der Zustimmung der privilegierten Schichten, der Botschaft der in der Region herrschenden Großmacht usw. bedarf. In bezug auf den brasilianischen Fall komme ich im Kap. V. 2.2.1. darauf zurück. Berücksichtigt man über die freiheitlich-demokratischen Grundrechte, die Gewaltenteilung und die politische Wahl hinaus auch die „sozialen Grundrechte", also die wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen des sozialen Rechtsstaats als grundlegende Verfassungsinstitutionen, wird man einen noch stärkeren Widerspruch feststellen zwischen gesetztem Normtext und Wirklichkeit im Verfassungsnominalismus der Peripherie. Daß von der verfassungsrechtlichen Institutionalisierung und Gewährleistung der „sozialen Grundrechte" ein Minimum an Realität der freiheitlich-demokratischen Grundrechte abhängt, ist heute nicht mehr zu bestreiten. 129 Die gesellschaftliche Struktur der peripheren Gesellschaften ist aber nicht vereinbar mit den wohlfahrtstaatlichen Einrichtungen, besonders wenn diese auf der Ebene der Verfassung die Form der Grundrechte annehmen. Im Hinblick auf die peripheren Länder setzt die Verwirklichung von sozialstaatlichen Verfassungsnormen offensichtlich eine radikale soziale Umwälzung und damit zusammenhängend das Überwinden der Unterentwicklung voraus. Entfallen diese Voraussetzungen, bedeutet die Einführung von sozialrechtlichen Regelungen in die Verfassung keinen Kompromiß mit der Wirklichkeit des Machtprozesses, so bleiben diese außerhalb des Rechtshandelns und Rechtserlebens der Mehrheit der Bevölkerung. Es handelt sich genaugenommen um den Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Exklusion breiter Bevölkerungsgruppen und den im Verfassungstext proklamierten wohfahrtstaatlichen Einrichtungen, worauf ich spezifisch hinsichtlich des Falls Brasilien im Kap. V. 1.3. näher eingehen werden. 3.2.3. Verrechtlichende Verfassunggebung versus entrechtlichende Verfassungswirklichkeit Diese Überlegungen über die Hauptinstitutionen der Verfassung im modernen Sinne und die ihnen widersprechende Verfassungswirklichkeit der Peripherie 128 Vgl. Luhmann, 1983 a: 166 Anm. 21. 129 Vgl. Grimm, 1987b; Grimmer, 1976: 11 ff.; Bonavides, 1972.

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wirft die Frage auf, inwieweit die nominalistischen Verfassungen zur Verrechtlichung der gesellschaftlichen Kommunikationen beitragen können. Stimmt man der Formulierung von Habermas zu, daß sich vier „Verrechtlichungsschübe" unterscheiden lassen, die jeweils dem bürgerlichen Staat, dem bürgerlichen Rechtsstaat, dem demokratischen Rechtsstaat und dem sozialen und demokratischen Rechtsstaat entsprechen (s. Kap. I. 3.4.), wird man im Rahmen der modernen rechtsstaatlichen Konzeption der Verfassung nur die drei letzten „Schübe" in Betracht ziehen. 130 In der zweiten und der dritten Phase des Verrechtlichungsprozesses führte der Konstitutionalismus zur Verrechtlichung der Politik, allerdings in Grenzen in dem Maße, wie die Verfassung nur eine Teilordnung der modernen Gesellschaft bildet und somit die Politik, als ein nach eigenen Kriterien strukturiertes und operierendes Teilsystem dieser hochkomplexen und ausdifferenzierten Gesellschaft, nicht restlos verrechtlichen kann. 131 Was „den sozialen und demokratischen Rechtsstaat" anbelangt, wird das Verfassungssystem dazu beitragen, Klassenverhältnisse, Familienbeziehungen, Schulsysteme, Gesundheitswesen und andere in die „soziale Frage" eingebettete Handlungszusammenhänge zu verrechtlichen. Der Streit um Verrechtlichung bezieht sich in den zentrischen Gesellschaften („Wohlfahrtsstaaten") wesentlich auf diese letzten „Schübe" 132 unter dem Gesichtspunkt ihrer negativen („Kolonialisierung der Lebenswelt", Eingriff in die Reproduktion anderer autopoietischer Teilsysteme) oder positiven Wirkungen (ausgleichende Freiheits- und Statussicherung). 133 Hinsichtlich der peripheren Gesellschaft soll die Debatte »Verrechtlichung/ Entrechtlichung' in anderer Perspektive geführt werden. Man könnte ζ. B. Blankenburgs Unterscheidung zwischen Verrechtlichung auf der Erwartungsebene (Aufstellung von „mehr" Rechtsregeln „an Stelle informeller Regelungen") und Verrechtlichung auf der Handlungsebene („mehr" Wirksamkeit des Rechts) übernehmen. 1 3 4 Hiernach werden u. a. die Fragen des Zugangs zum positiven Recht (Problem der Kontingenz „von unten" 135 ) und der informellen Konfliktlösung diskutiert, die in der Rechtswirklichkeit der peripheren Gesellschaften eine sehr relevante Bedeutung haben, insoweit Formen der Konfliktaustragung außerhalb des positiv-rechtlichen Musters die ausdifferenzierten Verfahren der Konfliktlösung durch Gerichte und zuständige Bürokratien erheblich übersteigern. 136 Unter diesem Gesichtspunkt wäre zu formulieren, daß in den peripheren Ländern der Verrechtlichung im Sinne der Aufstellung von Normen die entrechtlichenden 130 „Der erste Schub führt zum bürgerlichen Staat, der in Westeuropa, in der Gestalt des europäischen Staatensystems, zur Zeit des Absolutismus ausgebildet worden ist" (Habermas, 1982a II: 524). 131 Grimm, 1989: 636 f., 641 f. 132 Voigt, 1983: 22. 133 Voigt, 1980: 30. 134 Blankenburg, 1980: 84. 135 Luhmann, 1985: 10 ff. 136 Vgl. ζ. B. Gessner, 1976: 158-60. 7*

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Tendenzen auf dem Niveau der Verhaltenssteuerung entgegentreten. Derart wird die Entrechtlichung nur auf der Ebene des Handelns betrachtet. Die Entrechtlichung aber bezieht in peripheren Zuständen, besonders was das Verfassungsrecht angeht, auch das Rechtserleben (die Verhaltenserwartungen) mit ein. Der Einsicht in diese Situation dient besser die Unterscheidung zwischen offizieller Normierung und positiv-rechtlicher Institutionalisierung. 137 Unter Institutionalisierung wird hier weder Internalisierung noch wirkliche Anerkennung der Rechtsnormen verstanden, sondern „unterstellter Konsens" als verallgemeinerte Orientierung der Verhaltenserwartungen nach gesetzten Normen, 138 sogar im Rahmen der abweichenden Verhalten (in diesem Fall kennt man die Grenze des Systems 139 und die Gefahr, unrechtlich zu handeln, so daß sich von einer negativen Orientierung an den Systemregeln sprechen läßt — vgl. oben S. 24). Bei dem für die periphere Modernität kennzeichnenden Verfassungsnominalismus ist das in weitem Umfang nicht der Fall. Der angeblichen Filterung der Verhaltenserwartungen durch die verfassungsgebende Normierung folgt keineswegs die verallgemeinerte Ausrichtung der normativen Erwartungen nach der Verfassungsurkunde, d. h. kongruente Generalisierung von Verfassungserwartungen. Das normative Erleben der „Unterbürger" und auch der „Überbürger" sprengt die Verfassung als Rahmenordnung der rechtlichen Kommunikation. In diesem Sinne ist die Entrechtlichung in den peripheren Gesellschaften primär eine Frage des Rechtserlebens (Geltung), die letztlich auf die Verfassung zurückgeht. Handeln und Erleben sind jedoch nur analytisch zu trennen, sie bedingen einander wechselseitig. Daß sich die normativen Verhaltenserwartungen in weitem Umfang nicht an den nominalistischen Verfassungen orientieren, setzt ersichtlich hochgradige Unwirksamkeit der entsprechenden Verfassungsvorschriften auf der Handlungsebene voraus (vgl. oben S. 86 f.). So versagen „primäre" und „sekundäre" Verfassungsnormen in ihrer Funktion der Verhaltenssteuerung, d. h. Befolgung und Durchsetzung entfallen regelmäßig. Das ergibt sich unter den sozialen Bedingungen der peripheren Länder nicht primär aus Widerständen von traditionalen Werten oder Normen. Im Hinblick auf die NichtBefolgung bilden wichtige Faktoren einerseits die „Notbedingungen" der Unterschichten, 140 andererseits die Übermacht der ausländischen und inländischen privilegierten Interessen. Im Rahmen der Unterscheidung von Podgórecki zwischen dem sozialökonomischen System, der rechtlichen Subkultur und der Persönlichkeitsstruktur als den drei unabhängigen Variablen für die Wirksamkeit 137 Vgl. Luhmann, 1987 a: 96. 138 Vgl. Luhmann, 1987a: 64-80, 1983a: 122. 139 „Institutionalisierung von Systemgrenzen heißt, daß man im täglichen Verkehr hinreichend sicher unterstellen kann, daß die jeweils anderen Menschen dieselben Grenzen annehmen" (Luhmann, 1975 b: 61). 140 In anderem Zusammenhang behauptet Noll (1972: 265) zutreffend: „Notkriminalität kann nicht durch Strafdrohungen, wohl aber durch Behebung der Not beseitigt werden."

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des Rechts 1 4 1 läßt sich dann behaupten, daß erstere die entscheidende Rolle hinsichtlich der Unwirksamkeit des Verfassungsrechts in den peripheren Ländern spielt: „strukturelle Heterogenität" und primär auf der riesigen Schichtungskluft beruhende Beziehung von Sub- und Überintegration in das Gesellschaftssystem bzw. dessen Teilsysteme. In diesem Zusammenhang nehmen die „Selektionsfaktoren" der Durchsetzung, wie Einsatz knapper Ressourcen, Orientierungsgegensatz von Konditionierung und Effektivität, Eingehen tauschförmiger Bindungen und Kontaktverständnis, 142 einen ganz anderen Sinn an als in den zentrischen Ländern. Beeinträchtigt die Knappheit von Ressourcen, einschließlich der Personalknappheit, die gesamte organisatorische Infrastruktur 143 der Gerichtsbarkeit und des Polizeiapparates (was oft mit der Irrationalität der Verteilung von Ressourcen zusammenhängt), kann sie nicht Argument für selektive Nichtaufmerksamkeit bilden wie in den zentrischen Gesellschaften. 144 Vielmehr geht dadurch das Vertrauen an den rechtsdurchsetzenden und -anwendenden Organen verloren. Dasselbe gilt für den Orientierungsgegensatz von Konditionierung und Effektivität. Hier beschränkt sich das Problem keineswegs auf die Erfüllung von eventuellen Erwartungen der Öffentlichkeit am Arbeitserfolg der Polizei, vor allem bei der „Eindämmung ernsthafter Kriminalität" und der „Herstellung eines öffentlichen Anscheins von Ordnung". 145 Es handelt sich eher um regelmäßige Verletzungen der im Verfassungstext verankerten Grundrechte der Angehörigen der Unterschichten durch die Polizei ohne jede Reaktion der entsprechenden sekundären Normen: Über die Situationen eines „ungewissen" Verdachts und einer starken Reaktion der Öffentlichkeit auf den Typus des Verbrechens hinaus werden die „Unterbürger" von der Polizei oft gefoltert, ermordet, widerrechtlich inhaftiert . . . In diesem Kontext verlieren auch tauschförmige Bindungen und Kontaktsysteme146 an Kraft und Bedeutung als „Selektionsfaktoren" der Durchsetzung des positiven Rechtssystems, weil sie unter Druck „von unten" (dringende Bedürfnisse) und „von oben" (Verteidigung von Privilegien) tendenziell zur Verallgemeinerung und Regelmäßigkeit von Verstößen gegen Gesetz- und Verfassungsnormen beitragen. 1 4 7 Die Befolgungsgrenze und die Entstellung der Selektionsfaktoren der Durchsetzung, die in die Ebene des Handelns eingebettet wird, betreffen letztlich das Rechtserleben, also die Rechtsgeltung im soziologischen Sinne, so daß sich im 141 Podgórecki, 1967. 142 Vgl. Luhmann, 1987 a: 276 ff. ι « Vgl. Blankenburg, 1977: 38. 144 Vgl. Luhmann, 1987 a: 276 f. 145 Luhmann, 1987 a: 278. 146 Hierzu Luhmann, 1987 a: 278-80, 1983 a: 75-81. 147 So gilt nicht unter diesen Umständen die Behauptung Luhmanns: „Natürlich ist diese Außerrechtlichkeit der Kontaktsysteme nicht zwangsläufig als Tendenz zu Rechtsbrüchen zu begreifen" (1983 a: 78).

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Widerstand gegen die verrechtlichende verfassunggebende Normierung eine entrechtlichende Verfassungswirklichkeit auf beiden Verhaltensebenen durchsetzt. Gegen die Vorstellung einer entrechtlichenden Verfassungswirklichkeit könnte man im Rahmen des Rechtspluralismus 148 den Einwand vorbringen, andere Rechtsiormen fungierten an Stelle des positiven Rechts in Bezug auf die Konfliktlösung. 1 4 9 Dazu ist zuerst anzumerken, daß sich die Debatte um Verrechtlichung versus Entrechtlichung auf das positive Recht als ausdifferenziertes Teilsystem der Gesellschaft bezieht. 150 Die „Alternativen" zum unzureichend funktionierenden positiven Recht implizieren in peripheren Gesellschaften sowohl einen „ethisch-sozialen Diskurs" 151 als auch die direkte Einwirkung des Machtcodes und Wirtschaftscodes auf die Mechanismen der Konfliktaustragung. Andererseits ist die Situation insofern nicht vergleichbar mit dem Pluralismus „traditionelle Rechte / Modernes Recht" der Kolonisierungsprozesse, als die Kolonisatoren schon stabilisierte, operierende Strukturen der Verhaltenssteuerung und Erwartungssicherung vorfinden. 152 Am Beispiel der Bewohnervereinigungen von ungesetzlichen Slumsiedlungen in den Großstädten der peripheren Länder drückt sich nur eine der diffusen und instabilen Formen der „Überlebensstrategien" 153 im Bereich des Rechts aus, die nicht zu romantisieren ist. 1 5 4 Daß dadurch viele soziale Einheiten einer hochkomplexen Gesellschaft über unterschiedliche Codes Recht / Unrecht verfügen, 155 führt keineswegs zu einer topischen Rechtsrationali148 Hierzu im allgemeinen Carbonnier, 1976: 12-16. Spezifisch im Rahmen des juristischen Postmodernismus s. Ladeur, 1983, 1984. Bobbio (1977 a: 25 f.) wies auf „eine sehr genaue ideologische Belastung" des „als wissenschaftlich auftretenden" Rechtspluralismus hin: die „Revolte" gegen die Verstaatlichung und gegen die Zentralisierung der Macht; vgl. auch ders., 1977b: 91. 149 Vgl. z. B. — auf der Basis einer empirischen Untersuchung über inoffizielle Formen der Konfliktlösung in einer Slumsiedlung (favela) von Rio de Janeiro — Sousa Santos, 1977, 1980, 1988. 150 Vgl. Voigt, 1983:20; Habermas, 1982a II: 524, der aber den Ausdruck „geschriebenes Recht" benutzt. 151 Sousa Santos, 1988: 25. 152 Vgl. anders Sousa Santos, 1988: 58 f. 153 Ich verwende hier einen typischen Ausdruck des Bielefelder Verflechtungsansatzes (vgl. z. B. H.-D. Evers, 1987). In einer psychosozialen Perspektive s. Rabanal, 1990: insb. 152 ff. 154 Sousa Santos neigt m. E. in dem Maße dazu, als er auf der Basis der obengenannten empirischen Untersuchung (Anm. 149 dieses Kap.) folgendes hervorhebt: 1) im direkten Verhältnis zum niedrigen Grade der „Institutionalisierung" (Ausdifferenzierung) der Rechtsfunktion und zur begrenzten Verfügung über Zwangsmittel habe das inoffizielle Recht der untersuchten Slumsiedlung (favela) einen breiteren rethorischen Spielraum als das staatliche Recht (1988: 43-61); 2) bei ersterem handele es sich um ein „zugängliches", „partizipatorisches" und Consensuelles" Recht (1977: 96 ff.); 3) es sei vergleichbar mit dem Recht der Sowjets und anderer revolutionärer Erfahrungen als Alternativen zum offiziellen bürgerlichen Recht (1988:77), biete „großes Potential für den revolutionären Gebrauch" des Rechts — „alternative legality" für die ausgebeuteten Klassen (1977: 103). 155 Sousa Santos (1980: 116) spricht von „possessiver Privatisierung des Rechts."

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tät, wie es bei einem postmodernen Recht der Fall wäre, 156 sondern vielmehr zu einer extremen Rechtsunsicherheit, 157 deren Aufrechterhaltung widersprüchlich mit der Beibehaltung von Privilegien zusammenhängt und selbstverständlich vor allem für die sozial „Behinderten" (die Subintegrierten) schädlich ist. Derartige Situationen stellen keinen Pluralismus als Alternative zum Legalismus dar, 158 wohl aber diffuse und instabile Reaktionen auf das Entfallen der Legalität. Speziell im Hinblick auf den Fall Brasilien komme ich darauf unter V. 2.1.3. und VI. 1.2. zurück. Analysiert man das Problem der nicht-ausschließlichen Verfügung des Rechtscodes von einem einzigen Teilsystem der Gesellschaft, so stößt man auf die Frage, ob unter diesen Bedingungen die physische Gewalt noch als Symbol des positiven Rechts zu charakterisieren ist. 1 5 9 In dem Maße, wie über die Tätigkeit zuständiger Durchsetzungsorgane hinaus verschiedene soziale Einheiten und Individuen rechtswidrig und ungestraft die physische Gewalt ausüben, entkräftet sich das positive Recht, 160 besonders was die Grundrechte anbelangt. Je stärker sich die periphere Modernisierung durchsetzt, desto mehr verschärft sich diese Lage. Daß man „keine Waffen zu tragen (braucht), wenn man auf die Straße tritt" 1 6 1 , gilt dann unter solchen Bedingungen nicht. Trotz der Hochkomplexität der Gesellschaft wird „das Verhältnis von Gewaltfällen zu Rechtsfällen" auf keinen Fall „extrem niedrig". 162 Im Rahmen dieser „verfassungsdurchbrechenden", entrechtlichenden Wirklichkeit trifft das Luhmannsche Modell des Verfahrens als Mittel für „die Spezifizierung der Unzufriedenheit und die Zersplitterung und Absorption von Protesten" (dessen Funktion), unter der Voraussetzung der „Ungewißheit über den Ausgang" (Motor des Verfahrens) 163, nicht zu. Insofern entfällt die Legitimation durch Verfahren, sei es nur als Machtneutralisierung, 164 sei es als Umstrukturierung von Rechtserwartungen der Beteiligten bzw. der Öffentlichkeit 165 oder als 156 Hierzu vgl. Ladeur, 1985. 157 „Diese Sicherheit ist jedoch innerhalb der Gesellschaft nur erreichbar, wenn allein das Rechtssystem über Recht und Unrecht befindet und dies nicht außerdem noch abhängen kann von Stand oder Schicht, von Reichtum oder politischer Opportunität. Außerdem darf nur ein einziges System der Gesellschaft diesen Code benutzen. [ . . . ] Wo diese Bedingung nicht realisisert ist — man sagt zum Beispiel, daß in den Slumsiedlungen der Großstädte Brasiliens nach einem eigenen, nicht an das staatliche Recht angeschlossene Recht gelebt wird —, fehlt es auch an der Sicherheit, daß das Recht nicht Unrecht ist" (Luhmann, 1986 a: 126). 158 Vgl. anders Sousa Santos, 1988: 25, 1977: 89 ff. 159 Vgl. hierzu Luhmann, 1987 a: 106 ff. 160 „Recht kann aber nicht Recht bleiben, wenn die physische Gewalt auf der anderen Seite steht" (Luhmann, 1987 a: 109). 161 Luhmann, 1987 a: 115. 162 Vgl. hiergegen Luhmann, 1987a: 115. 163 Luhmann, 1983 a: 116. 164 Vgl. Gessner, 1976: 192-94. Anders beobachtet Luhmann (1983a: 102): „Eine Institutionalisierung von Konflikten ist nur erreichbar, wenn es gelingt, Macht vorläufig zu suspendieren und doch zu erhalten."

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das Lernen der Dritten von den Parteien und der Öffentlichkeit. 166 Durch dringende Bedürfnisse „von unten", privilegierte Interessen „von oben", diffuse, parallele Formen der Konfliktaustragung, unkontrollierte rechtswidrige Ausübung der physischen Gewalt u. s. w. wird das Verfahren entstellt, unfähig, legitimierend zu wirken. 167 (Darauf komme ich im Kap. VI. 3. zurück.) 3.2.4. Symbolische Verfassunggebung

bzw. Verfassungstexte

A l l das zeigt, daß die nominalistische Verfassung keineswegs „Spiegel der Öffentlichkeit und Wirklichkeit" 1 6 8 ist. Die Frage ist naheliegend, warum demokratische Verfassungstexte gesetzt werden, wenn der soziale Zustand ihre verbindliche Konkretisierung in weitem Umfang verhindert und es an Bereitschaft der Machthaber fehlt, sich für dessen Überwindung einzusetzen.169 Hier stellt sich das Problem der symbolischen Verfassunggebung bzw. symbolischen Benutzung des Verfassungstextes (s. oben Kap. II. 3.3.). Es ist klar, daß die Systemintegration nicht nur von „instrumentalen Variablen" abhängt, sondern auch von „symbolischen (expressiven) Variablen". 170 Dementsprechend bedarf das positive Recht auch der Einsetzung von symbolischen Elementen, um seine erwartungssichernden und verhaltenssteuernden Funktionen zu erfüllen. Verwendet man aber die Ausdrücke symbolische Gesetzgebung bzw. Gesetze4, »symbolische Verfassunggebung bzw. Verfassungstexte 4, bezieht man sich auf die Hypertrophie der symbolisch-ideologischen Benutzung der Rechtssetzung im Widerspruch zur spezifischen Funktion des Rechtssystems, normative Erwartungen zu orientieren und Verhalten zu steuern. Zwar werden symbolisch-ideologische Funktionen im Rahmen der Verfassung der zentrischen Länder erfüllt, 171 aber das impliziert nicht das Versagen der Verfassung als reflexive Instanz innerhalb eines geltenden und wirksamen Rechtssystems, denn als Ausgleich treten — wie immer man sagen möchte — die „instrumentalen Funktionen44 der Verfassungsvorschriften ein. 165 Vgl. Luhmann, 1983a: insb. 119, 171 u. 252. 166 Häberle, 1980: 99 f. Anm. 46. 167 „Die Form darf nicht zu einem Zeremoniell erstarren, das wie ein Turnier aufgeführt wird, während die wirklichen Konflikte auf andere Weise entschieden oder nicht entschieden werden" (Luhmann, 1983 a: 102). 168 So drückt sich Häberle (1980: 87) in Bezug auf die normative Verfassung aus. Seinerseits behauptet Hesse (1984: 15): „Im Verhältnis von Bund und Ländern, im Verhältnis der staatlichen Organe untereinander wie in ihren Funktionen spielt die verfassungsrechtliche Argumentation und Auseinandersetzung eine beherrschende Rolle.44 169 „Es ist naiv zu glauben, der Gesetzgeber brauche nur anzuordnen, dann geschehe das Gewollte" (Schindler, 1967: 66 — Hervorhebung von mir). Es ist auch naiv, unter bestimmten sozialen Verhältnissen an gute Absichten der Normgeber (vgl. ders., 1967: 67) zu glauben. no Vgl. Luhmann, 1983a: 223-32, 1987a: 315 ff. 171 Vgl. Hinweise oben Anm. 137 des Kap. II.

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Bei nominalistischen Verfassungen ist das unleugbar nicht der Fall. Fehlt ihnen in weitem Umfang normative Kraft, scheitern sie in der spezifisch rechtlichen Funktion der kongruenten Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen. Es wird dann von „Scheinkonstitutionalismus" gesprochen. 172 Jedoch dient Verfassunggebung bzw. Verfassungstext zur symbolisch-ideologischen Legitimation der Macht durch wirklichkeitsverdeckende und möglichkeitsausschaltende Auswirkungen. Es handelt sich dabei um Alibivzrfassunggebung (s. oben S. 62 f.). In einer Übertragung der Theorie der Sprechakte auf diesen Zusammenhang könnte man behaupten, die ,Jcomissiv-direktiven" 173 verfassunggebenden Handlungen (genauer: ihre illokutionäre Kraft) mißlingen wegen „Unaufrichtigkeit". 174 Das aber sagt zu wenig aus über die Tragweite der symbolisch-ideologischen, latenten Auswirkungen der Alibiverfassunggebung. Es geht hierbei um einen komplexen Handlungszusammenhang, durch den ein Verfassungsmuster vermittelt wird, das — wie oben schon bemerkt wurde (S. 63 f.) — nur unter ganz anderen sozialen Verhältnissen zu verwirklichen wäre. Auf diese Weise wird undurchsichtig, daß der gesellschaftliche Zustand, den das symbolisch wirkende Verfassungsmodell widerzuspiegeln hätte, erst durch eine radikale Umwälzung der sozialen Beziehungen Wirklichkeit werden könnte. Oder die Verfassungsfigurine fungiert als Ideal, das durch die Bereitschaft und gute Absichten der Machthaber einerseits und ohne Schaden für die privilegierten Gruppen andererseits zu erreichen wäre. Zum Diskurs der Macht gehört die Berufung auf die Verfassungsurkunde als das die Grundrechte, Gewaltenteilung und demokratische Wahl gewährleistende normative Gefüge und auf diese Institutionen als Errungenschaften der Regierung oder des Staates sowie als Beweise des Bestehens der Demokratie im Land. 175 Die ideologisch aufgeladene Formel „demokratische Gesellschaft" 176 wird auf der Basis des Verfassungstextes regelmäßig gebraucht, als ob man unter normativer Verfassung stünde (s. oben S. 68). Durch diese „Täuschungen" bzw. „Illusionen", die eine pragmatische Verzerrung der Verfassungssprache impliziert, werden soziale Spannungen abgeschwächt, Wege zur Transformation der Gesellschaft verbaut, das politische System gegen andere Alternativen immunisiert. Unter diesem Gesichtspunkt haben die nominalistischen Verfassungen trotz des Mangels an Wirksamkeit (Verhaltenssteuerung) und Geltung (Erwartungssicherung) breite und bedeutende Auswirkungen. Es

172 Grimm, 1989: 634. 173 Über die Typen illokutionärer Handlungen s. Searle, 1973: 116 ff. 174 Vgl. Searle, 1973:124; Austin: 1968: 141. Zur Rezeption der Theorie der Sprechakte in der Theorie des kommunikativen Handelns s. Habermas, 1986: 385 ff.; vgl. auch Alexy, 1983: 77 ff., 137 ff. 175 Am Beispiel der äthiopischen Verfassungs- bzw. Rechtsentwicklung vgl. in diesem Sinne Bryde 1982: 28 f., 1987: 37. 176 „Es dürfte heute in der ganzen Welt kaum noch einen Staat geben, der nicht Wert darauf legte, sich als Demokratie zu bezeichnen und als solche international anerkannt zu sein" (Krüger, 1968: 23).

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handelt sich, wie es in systemtheoretischer Perspektive zu bezeichnen wäre, um eine „ A u s b e u t u n g " des Rechtssystems durch die Politik. 177 3.2.5. Die „gag rules " versus die nominalistischen Verfassungen Was den Verfassungsnominalismus der peripheren Länder betrifft, tritt der Gedanke von gag rules als Regeln zurück, durch die in den demokratischen Verfassungssystemen bestimmte Themen von der rechtspolitischen Diskussion ausgeschlossen werden. 178 Es geht um entlastende Begrenzungen der politischen Agenda in Bezug auf spezifische kontroverse Themen. 179 In dem Maße, wie für die nominalistischen Verfassungen der Peripherie die „Konsensbasis" als wichtigste Voraussetzung ihrer Geltung, 180 also verallgemeinerter Orientierung der Öffentlichkeit am Verfassungsmuster, entfällt, ist die Institutionalisierung von gag rules zum Scheitern verurteilt. 181 Obwohl Stephen Holmes die Rolle von gag rules für „gespaltene Gesellschaften" betont, beziehen sich seine Beispiele auf Spaltungen unter spezifischen Gesichtspunkten.182 Wegen der „strukturellen Heterogenität" und der Ineffizienz des „Staatsapparates" gegenüber den Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung besteht in den peripheren Gesellschaften eine allgemeine Tendenz zur Politisierung der verschiedensten Themen, einschließlich der Diskussion über die Legitimität der sozialen Ordnung im ganzen.183 Insoweit das Verfassungssystem an Kraft verliert als Rahmenordnung und Horizont der Politik, wird es zum Thema der politischen Diskussion. 184 Die Zukunftsoffenheit ist unter diesem Aspekt stärker als in den zentrischen Gesellschaften. Hierzu läßt sich behaupten: dieser Unterschied zwischen der peripheren und der zentrischen Modernität hängt eng damit zusammen, daß der Wohlfahrtsstaat durch die Massenloyalität185 die Klassenkonflikte in den Hintergrund drängt, während sie im peripheren Kapitalismus im Vordergrund stehen, also im Zentrum der öffentli177 Vgl. Luhmann, 1983 b: 150. 178 Vgl. Holmes, 1988. 179 „ . . . the shape of democratic politics is undoubtedly determined by the strategic removal of certain items from the democratic agenda. Some theorists have even argued that issue-suppression is a necessary condition for the emergence and stability of democracies" (Holmes, 1988: 24 f.). 180 Grimm, 1989: 636. 181 Vgl. vorsichtiger Luhmann, 1990b: 213. 182 Vgl. Holmes, 1988: 27 ff. Wenn aber die Gesellschaft „sehr tief gespaltet" ist, führen die gag rules widersprüchlich zu „Demokratie ohne Opposition" (Holmes, 1988: 31), genauer zur Negation der Demokratie. 183 Während z. B. in den Vereinigten Staaten die Legitimität des privaten Eigentums nie bei legislativen Sitzungen diskutiert wird (Holmes, 1988: 26), wird sie in den Parlamenten der peripheren Staaten beim Verfassungsnominalismus oft in Frage gestellt. 184 Vgl. in anderem Zusammenhang Luhmann, 1983 a: 196. „Das Recht herrscht vornehmlich in einer Gesellschaft, in der die grundlegendsten Fragen sozialer Werte nicht gerade allgemein diskutiert werden oder umstritten sind" (Parsons, 1967: 133). 185 Hierzu Narr u. Offe, 1975: 27-37.

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chen Angelegenheit in der nackten Form von Klassenkampf hervortreten, nicht als „bekleidete" „Klassenauseinandersetzungen". 186 In einer primär an der Wirtschaft orientierten Gesellschaft impliziert das die stetige Infragestellung der sozialen Struktur im ganzen. Unter diesen Bedingungen wird die Institutionalisierung von demokratischen, impliziten oder expliziten, 187 gag rules in der Verfassungswirklichkeit sehr unwahrscheinlich. Sie wird nur möglich durch Diktatur, also durch Verfassungsinstrumentalismus (vgl. Anm. 182 dieses Kap.).

3.3. Übergang zum Verfassungsinstrumentalismus In Zusammenhang mit dem Nichtfunktionieren von („demokratischen") gag rules lassen sich die nominalistischen Verfassungen nicht als simple Nullsummenspiele in den Herrschaftsbeziehungen charakterisieren. 188 Im Rahmen der verfassungsvorgeschriebenen Freiheiten ist es immer möglich, daß sich eine begrenzte Öffentlichkeit herausbildet, 189 die einige gegen den status quo engagierte Gruppierungen einschließt, wie z. B. organisierte Arbeiterschaft, „progressive" Priesterschaft und linke Parteien. In dieser Konstellation entstehen Bewegungen, welche die soziale Ordnung der Peripherie in Frage stellen. Da privilegierte Interessen im Ausland und Inland dadurch bedroht werden, kommen mit der Verstärkung der reformistischen oder revolutionären Tendenzen interne und externe Druckmechanismen zur „Wiederherstellung der Ordnung" durch diktatorische Putsche auf, in denen fast immer mit der Unterstützung der in den entsprechenden Regionen herrschenden Großmächte gerechnet werden kann. So wird der Verfassungsinstrumentalismus eingeführt, der in den peripheren Ländern prinzipiell die Form von Autoritarismus annimmt, also politischer Entdifferenzierung spezifisch des Rechtssystems (vgl. aber Anm. 100 dieses Kap.). Es geht dann nicht mehr um politische Blockierungen des Rechtssystems durch entstellende Verfassungskonkretisierungen (Verfassungsnominalismus), sondern um die politische Instrumentalisierung des Rechts unmittelbar im Hinblick auf die gesetzte Verfassungscharta und ihre rechtlich unbegrenzten Veränderungen (externe Normasymmetrisierung des Rechtssystems im Rahmen der Verfassungs186 Man man kann also nicht wie Preuß (1989: 2) in bezug auf den europäischen Wohlfahrtsstaat von „Domestizierung des Klassenkampfes durch die Verrechtlichung des Arbeitskampfes" sprechen. 187 Obschon Holmes sich auf die Analyse der offenen gag rules beschränkt (vgl. 1988: 27), bezieht der Begriff auch implizite Regeln ein (vgl. 1988: 26). 188 Die Verfassungsproblematik der Peripherie ist nicht so simpel, wie die Behauptung von Loewenstein — „das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Verfassung berührt in der Regel das Leben der Geschäftswelt oder des einfachen Volkes nicht sehr" (1956: 224) — zu verstehen geben kann. So blieben Verfassungsnominalismus und instrumentalismus in ihrer politischen Bedeutung unterschiedslos. 189 Vgl. Bryde, 1982:29 Anm. 9, im Hinblick auf einen „Extremfall", die „symbolische Verfassung" von Äthiopien 1955.

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gesetzgebung). Zwar treten bei Verfassungsinstrumentalismus der Peripherie Formen von verzerrender Konkretisierung des Gesetzesrechts und Verfassungstextes ein, und diese können auch symbolisch-ideologische Funktionen erfüllen (sozialstaatliche Normen, ζ. B.); charakteristisch für das Rechtssystem ist primär aber, daß die Negation der Institutionalisierung von Grundrechten, Gewaltenteilung und demokratischer Wahl und infolgedessen den rechtlich unbegrenzten / unkontrollierten Eingriff der Politik in das Rechtssystem auf der Verfassungscharta und anderen Verfassungsgesetzen beruhen, wo Prinzipien wie „Staatsräson" und „nationale Sicherheit" im Vordergrund stehen. Die instrumentalistischen Verfassungen sind unter diesem Gesichtspunkt zu effektiv (sie stimmen genau mit der Wirklichkeit des Machtprozesses überein 190 ). Sie tragen jedoch nicht zur kongruenten Generalisierung von normativen Verhaltenserwartungen (Erwartungssicherung) bei insofern, als auf ihrer Basis die Handelnden / Erlebenden nicht einen gewissen Grad an Sicherheit darüber gewinnen können, ob sie sich im Recht oder im Unrecht befinden oder befanden (rückwirkende Maßnahmen) (s. oben S. 70). Anscheinend handelt es sich um Hyperpositivität des Rechts, weil keine rechtlichen Grenzen für die Gesetztheit / Änderbarkeit des Rechtssystems bestehen. Aber die Unterwerfung des Rechtscodes unter den Machtcode führt, in komplexen Gesellschaften inadäquaterweise, zur Starrheit des Rechts. Es geht dann um den die hohe Varietät der Umwelt übersehenden bzw. verdrängenden Eingriff von Fremdredundanz in das Rechtssystem. Für die Charakterisierung des autoritären Verfassungsinstrumentalismus der peripheren Länder ist unentbehrlich anzumerken, daß dabei auch das politische System keine soziale selbstreferenzielle Einheit bildet wie im Totalitarismus, wo es in der Spitze der Gesellschaft steht und sich gegen unmittelbare Einwirkungen von außen immunisiert. Im typischen Verfassungsinstrumentalismus der peripheren Länder, der besonders in der Form von Militärregimes auftritt, wird das nationale politische System sowohl durch die (Welt-)Wirtschaft als auch von anderen rechtspolitischen Systemen (Staaten) direkt blockiert bzw. fremdbestimmt. Es steht unter Druck und Kontrolle von wirtschaftlich privilegierten Gruppen und den regional herrschenden Staaten des Zentrums. In dieser Konstellation dienen die autoritären Regimes tendenziell der Verstärkung von Privilegien und Schichtungskluft, obgleich sie zu „modernisierenden" Politiken neigen. Es handelt sich also genaugenommen nicht um „Wiederherstellung der Ordnung", 1 9 1 sondern um Gewährleistung von Privilegien. 192 Dies hängt damit zusammen, daß im Gegensatz zum Verfassungsnominalismus das Anwachsen der gegen den status quo kritisch engagierten Oppositionsbewegungen (i. w. S., nicht nur 190 Es fehlt dann an „Distanz zur Wirklichkeit" als Autonomie gegenüber der Umwelt (vgl. oben Anm. 134 des Kap. II.). 191 Vgl. aber in rechtfertigender Einstellung Krüger, 1976: 18. 192 In bezug auf den Militärputsch von Chile 1973 schrieb ζ. B. Wedel (1973: 379): „Das Militär hat nicht die »Essenz der Verfassung 4 gerettet, sondern nur die Privilegien einiger weniger".

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in der Form von politischen Parteien) rechtlich verhindert wird. So wird den Machthabern die Freiheit gewährleistet, die Privilegien bzw. den status quo zu fördern. Die Erfahrung zeigt aber, daß mit der Zeit solche gegen die Mehrheit der Bevölkerung betriebene, manifest repressive Politik, die nicht mit der „ideologisch-legitimierenden" Funktion einer nominalistischen Verfassung rechnet, zu offenen und breiten — trotz der strengen rechtlichen Verbote — Oppositionsbewegungen gegen die Regierung oder Widerständen gegen die herrschende soziale Ordnung führt, sowie zur internationalen „Empörung" gegenüber der „Verletzung der Grundrechte". Um „das Schlimmste" zu vermeiden, ist es üblich, daß privilegierte Gruppen im Inland und im Ausland den Druck für die „Wiederherstellung der Demokratie" akzeptieren. Ferner gehört in der Regel zum Untergang des peripheren Verfassungsinstrumentalismus, daß die in der Region herrschenden Staaten, die früher zur „Wiederherstellung der Ordnung" beitrugen, die abhängigen autoritären Regierungen zur „Wiederherstellung der Demokratie" zwingen. 193 (Aber wenn dies wegen starker revolutionärer Tendenzen nicht mehr möglich ist, wird oft Militärhilfe für die „Aufrechterhaltung der Ordnung" geleistet.)

3.4. Das Abwechseln zwischen Verfassungsnominalismus und Verfassungsinstrumentalismus Durch die Handhabung der einander ersetzenden Formeln „Wiederherstellung der Ordnung" und „Wiederherstellung der Demokratie" wechseln sich in den peripheren Gesellschaften Verfassungsinstrumentalismus und Verfassungsnominalismus bzw. Autoritarismus und Scheindemokratie ab. In beiden Fällen fehlt es an Selbstbestimmtheit des Rechts, aber auch des nationalen politischen Systems. Unter diesen rechtspolitischen Strukturen verharrt der modern-periphere Zustand. Voraussetzung für dessen Überwindung ist der Abbau von Privilegien und horizontale Integration des Landes in die Weltgesellschaft. Das impliziert soziale Umwälzungen zu ungunsten von beherrschenden Interessen im Inland und Ausland. Konstitutionalismus, wie Grimm anerkennt, 194 setzte Revolution voraus. Manches spricht aber dafür, daß in den peripheren Gesellschaften die Bedingungen und die Konsequenzen einer eventuellen demokratischen Revolution in Richtung eines wirklichen Konstitutionalismus von denen der bürgerlichen Revolutionen in den zentrischen Ländern stark abweichen würden.

193 Als Beispiel ist hierzu die von Bryde (1982:28 Anm. 6) zitierte, folgende „Aussage eines hohen Offiziers in Bangla Desh vor den Wahlen im Januar 1979": „Der Westen, und insbesondere der US-Kongreß, hat es gern, wenn wir eine Demokratie genannt werden. Das wird es für uns leichter machen, Hilfe zu bekommen." 194 „Mit der Erfindung der Konstitution (Konstitutionalismus) war auch die Möglichkeit von Semikonstitutionalismus oder Scheinkonstitutionalismus gegeben. Ohne vorausgegangene Revolution fehlte ihr vor allem die herrschaftsbegründende Wirkung" (Grimm, 1989: 634; vgl. auch ders., 1987 a: 45 f., 56 f.)

Zweiter

Teil

Eine Interpretation des Falls Brasilien Vorbemerkungen Der Übergang von der oben entwickelten allgemein-theoretischen Argumentation zur im folgenden vorzunehmenden Interpretation der konkreten Verfassungserfahrung Brasiliens legt zwar die Frage nahe, wie eine derartige mannigfaltige geschichtliche Wirklichkeit in jenem hoch abstrakten gedanklichen „Schema" eingeordnet werden kann. So gestellt aber kann die Frage zum Mißverständnis führen, insoweit die perfekte Eingliederung der vielfältigen Realität in das entsprechende begriffliche Muster bzw. deren genaue Abbildung in der theoretischen Konstruktion gesucht wird. Hier ist die naive Einstellung, Theorien zielten auf eine vollständige Aufnahme des faktischen Zusammenhangs, ausgeschlossen. Es wurden vielmehr nahezu idealtypische Begriffe im Sinne Webers 1 formuliert bzw. benutzt, wie periphere Modernität, Verfassungsnominalismus und -instrumentalismus, an denen sich die gesellschaftliche und spezifisch verfassungsrechtliche Wirklichkeit Brasiliens „zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes"2 messen läßt. Sie implizieren demnach die „einseitige" „Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit" 3 und sind also „nirgends in der Wirklichkeit" genau nach ihrer abstrakten Formulierung „empirisch vorfindbar" 4 . Im Rahmen dieser Untersuchung soll das bedeuten, daß die Eingliederung der Verfassungserfahrung Brasiliens in das dargestellte begriffliche Modell der peripheren Moderne und des Verfassungsnominalismus / -instrumentalismus auf kei-

1 Hierzu s. Weber, 1973: 190-212; vgl. auch ders., 1968b: 67-69, 157-59, 163-65. Der Begriff des Idealtypus beruht bei Weber (1973: 208) auf dem „Grundgedanken der auf Kant zurückgehenden modernen Erkenntnislehre, daß die Begriffe vielmehr gedankliche Mittel zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen sind und allein sein können". Insofern wird oben das Adverb „nahezu" verwendet, also in Anbetracht dessen, daß der Idealtypus hier nicht im Sinne Kants als gedankliche Konstruktion des Objekts (Einheit) aus dem Gegebenen (Vielheit) durch das erkennende Subjekt konzipiert wird, sondern als eine kognitive Selektionsstruktur der Sozialwissenschaften bezüglich der ihnen gegenüber komplexeren und autonomen Wirklichkeit. In einer strikten systemtheoretischen Perspektive vgl. hierzu Luhmann, 1987 b: 51. 2 Weber, 1973: 194. 3 Weber, 1973: 190 f. 4 Weber, 1973: 191.

2. Teil: Vorbemerkungen

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nen Fall beansprucht, das Auftreten von wichtigen, die Positivität des Verfassungsrechts blockierenden Traditionalismen einerseits oder bedeutsame Erscheinungen dessen symmetrischer Positivierung andererseits auszuschließen. Die angeführten Begriffe ergeben sich aus der selektiven Hervorhebung bestimmter, für die oben vorgenommene „Hypothesenbildung" richtungsweisender Aspekte5 der gesellschaftlichen und spezifisch verfassungsrechtlichen Wirklichkeit unbestimmter Größe von Ländern, sie implizieren also die Ausscheidung der für die „Hypothesenbildung" als „unwesentlich" bzw. „zufällig" betrachteten Elemente des zu untersuchenden konkreten Kommunikationszusammenhanges.6 Nur im Hinblick auf den Erfolg für dessen „Erkenntnis" kann die analytische Fruchtbarkeit dieser Begrifflichkeit bewertet werden. 7 Es handelt sich also um kognitive Selektionsstrukturen (s. Anm. 1). Die Fallanalyse darf aber keineswegs auf eine Konfrontation mit den nicht typischen Elementen verzichten: Die Erwägung letzterer ist unentbehrlich für den Vergleich des empirischen Kontextes mit dem begrifflichen Muster und für die Bewertung der jeweiligen Hypothesen. Im Fall der gesellschaftlichen Wirklichkeit des brasilianischen „Kaiserreiches" 8 (1824-1889) beispielsweise spielten die traditionalen Hindernisse der Positivierung des Rechts eine so starke Rolle, daß es sehr umstritten ist, den Mangel an Verfassung als reflexiver Instanz des Rechtssystems als Problem der peripheren Moderne zu charakterisieren. Für diese Periode kann nur der Begriff der peripheren Modernisierung als Übergangsprozeß gelten, parallel zu der Vorstellung von zentrischer Modernisierung. Wie aber noch zu zeigen sein wird (s. unten S. 119 f.), haben diese beiden Übergangsphasen verschiedene Konsequenzen für die Positivität des Rechts. Es ist auch anzumerken, daß im Verlauf des geschichtlichen Verfassungsprozesses Brasiliens das typische Abwechseln von nominalistischen und instrumentalistischen Verfassungen in der oben dargestellten Form (Kap. III.) nicht vollkommenerweise aufzufinden ist. Es gibt weder eine reine nominalistische Verfassung noch ausschließlich instrumentalistische Verfassungen, sondern verschiedene Grade an Verfassungsnormativität, -nominalismus und -instrumentalismus finden sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Nur in Anbetracht des Übergewichtes von nominalistischen oder instrumentalistischen Aspekten lassen sich also die brasilianischen Verfassungen als nominalistisch oder instrumentalistisch charakterisieren. Außerdem ist die typische Formel des Abwechseins zwischen Nominalismus und Instrumentalismus nicht immer vorhanden. Vom Nominalismus der Monarchischen Verfassung von 1824 geht man ζ. B. zum Nominalismus der Republikanischen Verfassung von 1891 über. Es handelte sich dann um periphere Modernisierung im Bereich des Verfassungsrechts. 5 Vgl., Weber, 1973: 190. 6 Vgl., Weber, 1973: 201, 1968b: 163 f. 7 Vgl. Weber, 1973: 193. 8 Auf den hyperbolischen Charakter dieser offiziellen Bezeichnung weist zu Recht Saldanha (1982: 13) hin.

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2. Teil: Vorbemerkungen

Kurzum: die Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Wirklichkeit erlaubt offensichtlich nur eine annähernde Eingliederung der Verfassungsgeschichte Brasiliens in das oben skizzierte theoretische Muster; aber trotz aller abweichenden Elemente, Erscheinungen oder Gesichtspunkte wird hier davon ausgegangen, daß es sich durch die Darstellung des Falls Brasilien keineswegs falsifizieren läßt, sondern an empirischer Bedeutung gewinnt. Hier gilt es ferner, den Leser darauf aufmerksam zu machen, daß es sich im folgenden weder um eine historische Ausführung der Verfassungsentwicklung Brasiliens handelt, in deren Rahmen eine umfassende Beschreibung des Ablaufes dieses geschichtlichen Prozesses erwartet werden könnte, noch um eine „soziologisch-empirische" Untersuchung der brasilianischen Rechtswirklichkeit. Vielmehr geht es um eine verfassungstheoretische / rechtssoziologische Interpretation des Falls Brasilien im Lichte der oben angeführten Begrifflichkeit. Aber im Rahmen der rechtstheoretischen Unterscheidung zwischen „empirischer", „analytischer" und „normativer" Dimension 9 geht es hierbei andererseits um eine „empirische Betrachtungsweise" in dem Maße, als sie primär auf die Entstehungs- und Wirkungsbedingugen bzw. die Wirksamkeit und gesellschaftliche Geltung der entsprechenden Rechtsnormen gerichtet wird, nicht auf deren logische Struktur oder begriffliche Systematisierung („analytische Betrachtungsweise"), noch auf die wertbezogene Begründung derselben („normative Betrachtungsweise"). Dieser zweite Teil der Arbeit wird in drei Kapitel eingeteilt. Im nächsten Kapitel beschränke ich mich auf allgemeine Überlegungen über die gesellschaftliche und spezifisch rechtliche Bedeutung der brasilianischen Verfassungstexte. Einerseits werden die Bedingungen und Zusammenhänge der Entstehung der verschiedenen Verfassungstexte (Kaiserliche Verfassung von 1824 und Republikanische Verfassungen von 1891, 1934, 1937, 1946, 1967/69 und 1988) 10 betrachtet; dementsprechend wird besonders die Nachahmung von ausländischen Verfassungsmustern und die Unterwerfung des nationalen politischen Systems unter großmächtige Staaten und andere funktionale Systeme hervorgehoben, was die Souveränität des nationalen Staates als autopoietische Reproduktion der Politik und des Rechtssystems in Frage stellt. 11 Andererseits werde ich auf den 9 Hierzu vgl. Alexy, 1983: 32 f. u. 308 ff., 1986: 23 ff. Zur Dreidimensionalitätsthese vgl. auch Reale, 1979. 10 Zu den Hinweisen auf die brasilianischen Verfassungstexte und entsprechende Verfassungsänderungen bzw. Ausnahmegesetze mit Verfassungskraft benutze ich unter anderem die folgenden Veröffentlichungen: Alencar u. Rangel (hg.), 1986; Campanhole u. Campanhole (Hg.), 1971; Mendes de Almeida (Hg.), 1954; Rangel (Hg.), 1986. In bezug auf die Verfassung von 1988 bediene ich mich der deutschen Übersetzung (in Auszügen) von Paul unter Mitwirkung von Joachim Henckel u. a. (in: Paul [Hg.], 1989: 121-89), von welcher aber ich in vielen Punkten abweiche. 11 Wenn „Souveränität" „nicht mehr nur im mittelalterlichen Sinne der Unabhängigkeit von politischer Oberhoheit, sondern im Sinne von territorial-umfassender, funktionsbedingter Unabhängigkeit der Politik von religiösen, ständischen (familialen) und positivrechtlichen Interferenzen" zu begreifen ist (Luhmann u. Schorr, 1988: 46), läßt sich

2. Teil: Vorbemerkungen

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nominalistischen oder instrumentalistischen Charakter der jeweiligen brasilianischen Verfassungen und zum Schluß (Abschn. 8.) auf das problematische Abwechseln zwischen diesen beiden Typen im geschichtlichen Prozeß eingehen. Die symbolisch-ideologische Benutzung der Verfassungstexte und die autoritäre Entdifferenzierung des Rechtssystems werden unter der Berücksichtigung des Umstandes erwogen, daß die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die „volle" Positivierung des Rechts fehlen. Was die Kapitel V. und VI. anbetrifft, werden im Hinblick auf die Verfassungsentwicklung Brasiliens die Funktions-, Leistungs- und Reflexionsprobleme des Rechtssystems zum Thema der Erörterung. Hierzu verwende ich die Luhmannsche Unterscheidung zwischen den drei Systemreferenzen: „Die Beziehung zur Gesellschaft als dem umfassenden System wird zur Sache der Funktion; die Beziehung zu anderen gesellschaftlichen Systemen wird zur Sache der Leistung; die Beziehung zu sich selbst wird zur Sache der Reflexion. " 12 Mit der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und also dem Aufkommen von selbstreferenziellen sozialen Systemen differenzieren sich auch diese drei Systemreferenzen, 13 die andererseits zugleich in Beziehung wechselseitiger Beschränkungen und nicht selten in Diskrepanz zueinander stehen.14 Was spezifisch das positive Rechtssystem angeht, stellt nach Luhmanns Formulierung dessen primäre Funktion die kongruente Generalisierung von normativen Verhaltenserwartungen dar (s. oben S. 23 f.), also die Erwartungssicherung, obwohl die Funktion der Verhaltenssteuerung nicht zu unterschätzen ist (s. oben S. 86 - 88). Als Leistung des Rechtssystems kommt die Regulierung der Konflikte, „die in anderen sozialen Systemen als nicht mehr mit systemeigenen Mitteln lösbar erscheinen", 15 in erster Linie zum Ausdruck. Aber in unterschiedlichsten Formen bildet auch die Bereitstellung von normativen Einrichtungen, die der Sicherung von Strukturen und Operationen in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen dienen, Leistung des Rechts.16 Die Reflexion als Rückbezug des sozialen Systems hinzufügen, daß für den Rechtsstaat „Souveränität" auch die funktionale Autonomie des Rechtssystems (Positivität des Rechts) impliziert (vgl. oben S. 76 f., 89 f.). 12 Luhmann, 1982: 56. Hierzu s. ders. 1982: 54 ff.; ders. u. Schorr, 1988: 34 ff. 13 Luhmann u. Schorr, 1988: 35; Luhmann, 1982: 55 f. 14 Vgl. in Bezug auf das Religionssystem Luhmann, 1982: 62 f. 15 Teubner, 1982: 48. Über die Erwartungsgeneralisierung hinaus ließe sich nach Luhmann die Konfliktlösung als eine Funktion (i. e. S.) des Rechts begreifen, nämlich im Rahmen der Konzeption des Rechts als Immunsystem der Gesellschaft (vgl. ders., 1987 b: 509 ff.). Hier wird aber der Vorschlag von Teubner übernommen, denn die rechtliche Konfliktlösung tritt erst ein, wenn die anderen sozialen Systeme die sie betreffenden Konflikte nicht mehr mit eigenen Mechanismen austragen können. Andererseits ist anzumerken, daß bei Luhmann die Immunisierungsfunktion des Rechtssystems mit dessen Bildung „im Vorgriff auf mögliche Konflikte" und mit der Vorentscheidung von Konflikten durch das Recht verbunden ist, nicht genaugenommen mit der verwirklichten Konfliktlösung (vgl. ders., 1987b: 510). ι 6 „Es sichert als Rechtssystem ζ. B. Kapitalbildungsmöglichkeiten in der Wirtschaft, Schulpflicht der Gesamtbevölkerung, Verfassungsschranken für die Politik" (Luhmann, 1981h: 440). 8 Neves

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2. Teil: Vorbemerkungen

auf die eigene Identität 17 gehört hinsichtlich des positiven Rechts sowohl zur Rechtstheorie 18 als auch zur Rechtsdogmatik (s. unten S. 204 f.). Von der Reflexion als „eine(r) Form konzentrierter Selbstreferenz" 19 in bezug auf die Differenz ,System / Umwelt' 2 0 muß sich hier die basale Selbstreferenz als die Relation der internen Kommunikationen (Elemente) ausschließlich durch den Rechtscode unterscheiden; 21 aber die Selbstreferenz in diesem Sinne liegt der Reflexion des Rechtssystems zugrunde. 22 Andererseits fallen die Begriffe der Reflexivität nicht mit dem der Reflexion zusammen.23 In Luhmanns Konstruktion weisen jene darauf hin, daß der referierende Prozeß denselben Code des referierten Prozesses benutzt; 24 im Bereich des Rechts drückt sich das durch die Normierung von Normierung aus (s. näher unten Kap. VI. 2.1.). Im Fall der Reflexion, die basale Selbstreferenz und Reflexivität voraussetzt, ist das Selbst das System als Ganzes, nicht einfach Element oder Prozeß innerhalb des Systems.25 Daß die Verfassung als reflexive Instanz des Rechtssystems bezeichnet wird (s. Kap. II. 2. u. Kap. VI. 2.2.), bedeutet also nicht deren Charakterisierung als Instanz der Reflexion des Rechts wie die Rechtstheorie, obschon die Verfassungspraxis auch Reflexion mit einbezieht. In Kapitel V. und VI. werden die Probleme der Funktion, Leistung und Reflexion des Rechtssystems auf der Verfassungsebene behandelt. Daß ohne die Differenzierung und Verwirklichung dieser drei Systemreferenzen die Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts nicht vorstellbar ist, wird hier vorausgesetzt. Im Hinblick auf die Beziehung von Verfasssungstext und Verfassungswirklichkeit in Brasilien wird dann das Versagen des Rechtssystems bei den drei Systembeziehungen berücksichtigt und infolgedessen die Positivität (als Selbstbestimmtheit) des Rechts in einer peripheren (modernen) Gesellschaft (oder in peripherer Modernisierung) in Frage gestellt. Unter dem Titel „Verfassung und Gesellschaft. Funktionsprobleme" werden im Kapitel V. 1. Überlegungen darüber angestellt, daß sowohl in seiner primären Funktion kongruenter Generalisierung von Verhaltenserwartungen (Geltung) als π Luhmann, 1981h: 423, 1982: 59. is Demnach wird sie als „Theorie des Systems im System" bezeichnet (Luhmann, 1981h: insb. 422 u. 446). 19 Luhmann, 1981h: 423. 20 „Von Reflexionstheorien kann man sprechen," — so betont Luhmann (1987 b: 620) — „wenn die Identität des Systems im Unterschied zu seiner Umwelt nicht nur bezeichnet wird (so daß man weiß, was gemeint ist), sondern begrifflich so ausgearbeitet wird, daß Vergleiche und Relationierungen anknüpfen können." 21 Vgl. Luhmann, 1987b: 600 ff., 617 ff. 22 Luhmann, 1981h: 444. Zur elementaren Selbstreferenz s. näher unten Kap. VI. 1. 23 Nach früherer Formulierung (1966) von Luhmann (vgl. 1984a: 100, 102, 104 f.) gilt das Konzept der reflexiven Mechanismen als umfassender Oberbegriff für „Reflexivität" und „Reflexion". 24 Vgl. Luhmann, 1987b: 601, 610 ff. 25 Vgl. Luhmann, 1987b: 601, 1981h: 423.

2. Teil: Vorbemerkungen

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auch bei der Verhaltenssteuerung (Wirksamkeit) das positive Rechtssystem in Brasilien immer gescheitert ist. Im Rahmen dieser Arbeit konzentrieren sich diese Überlegungen auf die Verfassungsebene. Zuerst wird die Problematik berücksichtigt, daß die Verfassungsnormen als Kriterien für die Anwendung des Rechtscodes und deswegen in ihren erwartungssichernden und verhaltenssteuernden Funktionen mehr oder weniger versagen (Kap. V. 1.1.). Im Anschluß daran werden die Probleme der Grundrechte als Institution zum Thema gemacht (Kap. V. 1.2.); ausgehend davon, daß die Differenzierung der modernen Gesellschaft und also die Positivierung des Rechts die Institutionalisierung von Grundrechten (—> Erwartungssicherung in einer hochkomplexen Gesellschaft) erfordern (vgl. oben S. 54), wird die Frage behandelt, inwieweit die brasilianischen Verfassungen dieses Erfordernis nicht erfüllen. Außerdem wird auf die Institutionalisierung wohlfahrtsstaatlicher Verfassungsnormen als Voraussetzung für das Wahrnehmen von Grundrechten in einer hochkomplexen Gesellschaft hingewiesen (Kap. V. 1.3.), also als Funktionsmechanismus des Rechtssystems im Hinblick auf die Inklusion der Gesamtbevölkerung in die ausdifferenzierten Kommunikationszusammenhänge der modernen Gesellschaft; es handelt sich dann um das NichtFunktionieren der brasilianischen Verfassungen im wohlfahrtsstaatlichen Bereich (Exklusionsproblematik). Im Abschn. 2. des Kap. V. werden die Verfassungsleistungen des Rechtssystems thematisiert. Zuerst kommen die in der Verfassung verankerten Verfahren der Konfliktlösung in Betracht, welche unmittelbare Leistungen des Rechtssystems gegenüber den verschiedensten sozialen Systemen bilden (Kap. V. 2.1.). Ferner wird die Bereitstellung von Verfassungseinrichtungen für die politische Wahl, die Gewaltenteilung und die Differenz »Politik/Verwaltung 4 behandelt, hauptsächliche Leistungen des Rechtssystems für das politische System (Kap. V. 2.2.). In allen diesen Fällen wird die Leistungsdefizienz des Verfassungsrechts in Brasilien hervorgehoben. Unter dem Titel „Verfassung und Rechtssystem" werde ich im Kapitel VI. auf das Problem des Reflexionsdefizits in der verfassungsrechtlichen Wirklichkeit Brasiliens eingehen. Da aber Reflexion basale Selbstreferenz und Reflexivität innerhalb des Systems voraussetzt (und umgekehrt), ist auch das Scheitern der elementaren Selbstreferenz (Legalität) im Rechtssystem (Kap. VI. 1.) und damit zusammenhängend das Versagen der brasilianischen Verfassungen als reflexiver Instanzen des Rechtssystems (Kap. VI. 2.) zu berücksichtigen. Zum Schluß wird dessen mangelhafte Reflexion (i. e. S.) in Zusammenhang mit dem Legitimationsproblem in Betracht gezogen (Kap. VI. 3.) Anhand dieser gegliederten Themenselektion wird im folgenden ein interprétatives Bild der externen, über normative Orientierung auftretenden Asymmetrisierung des Rechtssystems im Rahmen der brasilianischen Verfassungsentwicklung dargestellt werden.

8*

Kapitel IV

Entstehungszusammenhänge und Wirkungsbedingungen der brasilianischen Verfassungstexte Ein Überblick 1. Die Verfassungscharta von 1824 Der Prozeß formaler Konstitutionalisierung Brasiliens ist eng mit der Bewegung für die Unabhängigkeit des Landes von Portugal verknüpft. In Lateinamerika fungierte „Konstitutionalismus" nicht nur — wie in Europa — als Antonym von „Absolutismus", sondern und vor allem als ein Ausdruck des Antikolonialismus. 1 Aber im Gegensatz zur Erfahrung der Vereinigten Staaten führte der rechtspolitische Bruch Brasiliens mit der portugiesischen Domination (1822) keineswegs zum Aufbau eines „souveränen" Nationalstaates als eines sich innerhalb bestimmter territorialer Grenzen autopoietisch reproduzierenden politischen Systems.2 Von der formalen Abhängigkeit von Portugal ging das Land zur Unterordnung unter die englischen Interessen über. Bereits die Eröffnung der brasilianischen Häfen für die „befreundeten" Nationen (1808) und das England privile gierende Handelsabkommen von 1810 wiesen sehr deutlich auf die Tendenz zur Durchsetzung der englischen Interessen in Brasilien zuungunsten des offiziellen Mutterlandes hin. 3 Auch Portugals Anerkennung der Unabhängigkeitserklärung wurde mit England verhandelt, unter anderem durch die „verfassungswidrige" Bezahlung eines hohen Beitrags. 4 In diesem Zusammenhang verliert die Vorstellung der ι Vgl. Melo Franco, 1960:10. Dementsprechend „läßt sich sagen, daß der Unabhängigkeitsprozeß, während des ganzen Jahres 1822, mit dem Fortgang zur Konstitutionalisierung Brasiliens zusammenfällt" (ders., 1960: 43). 2 Denn „Unabhängigkeit" in den USA implizierte „politische Revolution" (vgl. Luhmann, 1990b: 181 Anm. 20, unter Hinweis auf Thomas Jefferson; auch Grimm 1987a: 65 f.), was in Brasilien nicht der Fall war. 3 Vgl. Furtado, 1986: 93 ff., dt. 1975: 83 ff.; Prado Jr., 1980: 127 ff. Nach dem Handelsabkommen von 1810 wird ein allgemeiner Einfuhrtarif von 24% ad valorem festgesetzt, für Portugal und England die Einfuhrtarife jeweils von 16% und 15%. Im Jahre 1816 werden die Tarife von Portugal und England auf 15% gleichgesetzt (vgl. Prado Jr., 1980:128 f.). Nach der „Unabhängigkeit" ist dieser Prozentsatz zur allgemeinen Regel geworden (vgl. Prado Jr., 1980: 134; Furtado, 1986: 96, dt. 1975: 85). 4 Nach einer geheimen und zusätzlichen Vereinbarung des Abkommens über die Anerkennung der Unabhängigkeit (29.8.1825) verpflichtete sich die brasilianische Regierung „ verfassungswidrig" dazu, eine Anleihe von £ 1.400.000, die Portugal zur Finanzierung des Kriegs gegen die „Unabhängigkeit" Brasiliens bei England aufnahm,

1. Die Verfassungscharta von 1824

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„Souveränität" als selbstreferenzieller Reproduktion eines territorial begrenzten politischen Systems (s. S. 112 f. Anm. 11) stark an Bedeutung. Zu diesen externen Faktoren kommt die interne Situation des Landes hinzu, wo die nach der Außennachfrage orientierten und auf der Sklaverei beruhenden Monokulturen des Kaffees und des Zuckerrohrs eine überwiegende gesellschaftliche Rolle spielten und tiefe soziale Kluften aufrechterhielten, so daß der Rechtsstaat im Sinne der europäischen Staaten und der USA zur Verzerrung verurteilt war. Trotz dieser Agrar- und Sklavenhalterstruktur richtete sich der rechtspolitische Aufbau des neuen Staates nach den in Europa herrschenden liberal-konstitutionellen Prinzipien. Unter diesen Bedingungen des Mangels an den gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Verfassungsstaat verlief der verfassunggebende Vorgang von 1823-1824. Die Einberufung der konstituierenden Versammlung von 1823 im Rahmen eines sehr beschränkten Wahlrechts und ohne die Garantie der geheimen Stimmabgabe5 läßt sich keineswegs als die Einleitung eines Konstitutionalisierungsprozesses im Sinne des europäischen Liberalismus erklären. Obwohl die Versammlung in ihrer Zusammensetzung die oligarchische Struktur des Landes gut ausdrückte, ist ihre verfassungsgebende Tätigkeit nicht genau auf die Herkunft ihrer Mitglieder zurückzuführen. 6 Zwar wären nach dem Entwurf der ,Constituinte' 7 die oligarchische Kontrolle des politischen Systems durch das Zensuswahlrecht gesichert (Art. 123-124) und die Sklaverei ausdrücklich anerkannt worden (Art. 265); aber die liberale Einstellung zur Gewaltenteilung und Erklärung der Individualrechte weist auf die kompromißlose Nachahmung der ausländischen Muster, besonders französischer Herkunft, hin. Obgleich vieles dafür spricht, daß um ihres symbolischen Charakters willen die liberalen Züge des Entwurfs die oligarchische Struktur des Landes nicht hätten bedrohen können, führten die zurückzuzahlen, sowie einen Betrag von £ 600.000 für den Palast und andere private Eigentümer des Königs Portugals in Brasilien zu bezahlen, obwohl diese Eigentümer als „national" zu behandeln gewesen wären (Armitage, 1977: 108). 5 Außer dem natürlichen Ausschluß der Sklaven wurden die Lohnabhängigen, mit einigen privilegierenden Ausnahmen, gemäß Kap. I. 8 der „Wahlanweisungen" vom Wahlrecht ausgeschlossen; deren Kap. II. 5 und Kap. V. 5 haben die öffentliche Form der Stimmabgabe in den zwei Wahlgängen (den beiden Stufen der indirekten Wahl) gesichert. Die verfassunggebende und gesetzgebende Versammlung von 1823 wurde am 3.6.1822 einberufen und die Wahlanweisungen am 19.6.1822 erlassen (Texte u. a. in: Soares de Souza, 1979: 177-86), allerdings vor der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung am 8.9.1822 (Text u. a. in: Bonavides u. Amarai Vieira [Hg.], o. J.: 55 f.); nach fünf vorbereitenden Zusammentreffen ab 17.4.1823 wurde die Versammlung am 3.5.1823 eröffnet. Hierzu s. J. H. Rodrigues, 1974: 21 ff.; Roure, 1914: 41 ff.; Melo Franco, 1960: 41 ff. 6 Vgl. anders Prado Jr., 1988: 51-57. Aber diese Situation ist nicht mit derjenigen der zentrischen Länder in derselben Periode gleichzustellen, denn hierbei besteht trotz der Probleme der Integration von Unterschichten eine bedeutende Konsonanz zwischen liberaler Verfassunggebung und Interessen der „autonomen" Nationalbourgeoisie (Hiergegen Melo Franco, 1960: 49). 7 Text unter anderem in: Roure, 1914: 237-65.

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2. Teil, Kap. IV: Entstehung und Wirkung der brasilianischen Verfassungstexte

autoritären und auf die Wiedervereinigung mit Portugal gerichteten Tendenzen der königlichen Gruppe zur Auflösung der verfassunggebenden Versammlung von 1823 und dem autokratischen Erlassen der Verfassungsurkunde von 1824.8 Die „kaiserliche" Verfassungscharta folgte zum großen Teil dem Entwurf der aufgelösten Versammlung. 9 Aber durch die Einführung des „ Ρ oder Moderador" (der „Mäßigenden Gewalt") als einer vierten, ausschließlich dem König gehörenden, politisch unverantwortlichen Gewalt (Art. 98-101) gewann der Text eine eigentümliche antiliberale Dimension, die sich nicht im Entwurf der Versammlung fand. 10 Der Poder Moderador war den drei klassischen Gewalten übergeordnet. In dessen Ausübung konnte der König zugleich die Abgeordnetenkammer auflösen und die Allgemeine Versammlung (Senat + Abgeordnetenkammer) vertagen oder verlängern (Art. 101, Abs. 5), die Minister frei ernennen und entlassen (Art. 101, Abs. 6) und die Richter suspendieren (Art. 101, Abs. 7). Es handelte sich um die Übernahme der Konzeption der königlichen Gewalt von Benjamin Constant,11 die unter den brasilianischen Bedingungen des letzten Jahrhunderts auf keinen Fall als ein Faktor der Stabilität der Beziehungen zwischen den Staatsgewalten nach dem Muster Constants fungierte, sondern in Mittel der „persönlichen Macht" des Königs ausartete. 12 Im Widerspruch zu dieser Neuheit in der Gewaltenteilung charakterisiert sich der Verfassungstext von 1824 durch den Liberalismus der Garantien der bürgerli« Die ,Constituinte' wurde am 12.11.1823 aufgelöst und die Charta am 25.3.1824 erlassen, nachdem sieritualistisch den Stadtverordnetenkammern vorgelegt worden war. Hierzu s. als klassische historiographische Darstellungen Leal, 1915: 67 ff.; Roure, 1914: 161 ff., 197 ff.; Homem de Mello, 1973: 90 ff.; Melo Franco, 1960: 70 ff.; Varnhagen, 1938: 317 ff.; und neuerdings Bonavides u. Andrade, 1989: 46 ff. Spezifisch über die Auflösung der Constituinte s. Rocha Pombo, o. J.: 866 ff.; J. H. Rodrigues, 1974: 198248, der im Gegensatz zur herkömmlichen Historiographie den ökonomischen Faktor der Auflösung (den ökonomischen Nationalismus der Versammlung gegen die portugiesischen Interessen) berücksichtigt (199 f.). 9 Zum Vergleich der Texte s. Roure, 1914: 209-219; Leal, 1915: 116ff; Homem de Mello, 1973: 99 f.; Lacerda, o. J.: 191-204; Lacombe, 1973-1974: 51-59; Leal u. Luz, 1973-1974. 10 Hier wird aber nicht verkannt, daß unter anderen Gesichtspunkten die oktroyierte Verfassungscharta als „liberaler" bzw. „offener" als die Verfassungsvorlage der Constituinte' bezeichnet werden kann; vgl. ζ. B. Roure, 1914: 219; Leal u. Luz, 1973-1974: 71. π Vgl. Constant, 1957: 1078 ff., 1872: 177 ff. 12 Vgl. Buarque de Holanda, 1985: 70 f.; Bonavides, 1968: 37 f. Siehe auch unten Anm. 155 des Kap. V. Im öffentlichen Recht des Kaiserreichs tritt die „konservative", die übergeordnete Stellung des „Poder Moderador" rechtfertigende Interpretation von Henriques de Souza (1978) der „liberalen", die Grenzen des „Poder Moderador" hervorhebenden Position von Góes e Vasconcelos (1978) entgegen. Im Widerspruch zu dessen These (29 ff.) der Verantwortlichkeit der Minister für die Akte des „Poder Moderador" vgl. Pimenta Bueno, 1857: 215; J. C. Rodrigues, 1863: 67-70; Rodrigues de Sousa, 1870: 95 ff.; Uruguai, 1960: 253 ff. Diese öffentlich-rechtliche Diskussion wurde von T. Barreto (1977 a) unterschätzt, als wirklichkeitsfremd bzw. irrelevant kritisiert. Siehe aber zu ihrer politischen Implikationen Faoro, 1984: ins. 349 ff.

1. Die Verfassungscharta von 1824

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chen und politischen Grundrechte (Art. 179). Aber die Sklaverei war durch die Unterscheidung von frei geborenen („ingênuos") und „befreiten" („libertos") Staatsangehörigen (Art. 6, Abs. I) in der Charta verankert (s. Anm. 73 des Kap. V.). Andererseits machten das ökonomisch sehr beschränkte Wahlrecht (Art. 9295) und die Inexistenz der Garantie der geheimen Stimmabgabe das politische System zum Privileg der Oligarchien (s. unten S. 170 f.). Trotz des Einflusses unterschiedlicher ausländischer Verfassungstexte (Französische Verfassungen von 1791, 1793 und 1799, Spanische Verfassung von 1812, Norwegische Verfassung von 1814) auf die Verfassungscharta von 1824 wird vor allem die Französische Verfassung der Restauration (1814) angegeben.13 Die wörtliche Nachahmung von mehreren Artikeln dieser europäischen Verfassung 14 ist ein klares Anzeichen dafür, daß die Ausarbeitung der brasilianischen Verfassungsurkunde unter verschiedenen Gesichtspunkten im Rahmen eher des „rechtskulturellen Kolonialismus" als der im Land herrschenden sozialen Beziehungen zu interpretieren ist. Der eklektische Verfassungstext von 1824 könnte um des Zusammentreffens von autokratischen und liberalen Elementen willen 1 5 als Ausdruck eines „bürgerlichen Rechtsstaates" im Habermasschen Sinne ausgelegt werden, also eines Staates, in dem „die Bürger als Privatleute einklagbare subjektiv-öffentliche Rechte gegenüber einem Souverän (erhalten), an dessen Willensbildung sie freilich noch nicht demokratisch teilnehmen". 16 Es ginge dann um nichts mehr als eine Übergangsphase zum demokratischen Verfassungsstaat, so als ob der Fall mit denen des sogenannten „Semikonstitutionalismus" einiger „zurückgebliebener" europäischer Staaten des letzten Jahrhunderts gleichzustellen wäre. Diese Auffassung nach dem Schema ,Vorher-Nachher' der Verfassungsmodernisierung oder des Verrechtlichungsprozesses beschränkt sich jedoch auf die Ähnlichkeit von Texten, sie läßt die Verfassungspraxis außer acht. Im „bürgerlichen Rechtsstaat" der zentrischen Gesellschaften entsprach die Wirklichkeit des Machtprozesses, aller13 Vgl. J. H. Rodrigues 1974: 250 f.; Chacon, 1987: 67 f.; Whitaker da Cunha, 19731974: 89 f.; Leal, 1915: 113 f. 14 Text unter anderem in: Duverger (Hg.), 1966: 80-85. Vgl. zur erwähnten Nachahmung Chacon, 1987: 68. Gegenüber dem fanzösischen Einfluß auf der Ebene des Verfassungstextes tritt die englische Beeinflussung der Verfassungspraxis, in deren Rahmen ein PseMdöparlamentarismus entwickelt wurde. Hierzu s. die Inexistenz des Parlamentarismus im „Kaiserreich" behauptend Melo Franco, in: ders. u. Pilla, 1958: 14 ff.; auch T. Barreto, 1977 a. Nicht überzeugend gegen diese These Pilla, in: Melo Franco u. Pilla, 1958: 157 ff. 15 Ferreira Filho (1975: 330 ff.) spricht von autoritärem Prinzip und demokratischem Prinzip. Es handelt sich aber nicht genau um demokratische, sondern um liberale Züge des Verfassungstextes; vgl. Buarque de Holanda, 1985: 76. 16 Habermas, 1982a II: 528. Als typisches Beispiel wird Deutschland angegeben: „Der bürgerliche Rechtsstaat hat im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts eine prototypische Gestalt gefunden . . . " (Habermas, 1982 a II: 527). Hierzu Böckenförde, 1976. Gegen die „evolutionäre" Auffassung der Verfasssungsentwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert s. Ladeur, 1980: insb. 17 ff.

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2. Teil, Kap. IV: Entstehung und Wirkung der brasilianischen Verfassungstexte

dings im begrenzten Maße, der Erklärung der subjektiv-öffentlichen Grundrechte im Verfassungstext, obwohl die demokratische Partizipation ausgeschlossen war („Semikonstitutionalismus"); was aber die (periphere) Verfassungsmodernisierung von Brasilien anbetrifft, fehlte die Voraussetzung für die Effektivität der liberalen Elemente der Charta von 1824, also für die Verwirklichung des „bürgerlichen Rechtsstaates" („Scheinkonstitutionalismus"). Im ersten Fall gewann die Übernahme von bürgerlich-liberalen Elementen im Verfassungsrecht, trotz des Ausschlusses der demokratischen Partizipation, eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung, insoweit das entsprechende „Nationalbürgertum" die Voraussetzung dafür tragen konnte; im zweiten verlor die liberale Erklärung der Bürgerrechte (Art. 179) in dem Maße an Kraft, als die Unterwerfung des politischen Systems unter oligarchische Interessen und fremde politische Systeme (Staaten) die Integration der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung in das Verfassungssystem ausschloß17: Es handelte sich um eine illusorische Normgebung oder zumindest um den Luxus einer kleinen Minderheit, welche die in der Verfassung erklärten subjektiven Rechte wahrnehmen konnte. 18 Selbstbestimmtheit des Rechts durch das Funktionieren einer Verfassung als reflexiver Instanz innerhalb des Rechtssystems fehlte in der damaligen brasilianischen Gesellschaft also nicht nur wegen der Aufnahme von „traditionalen Überbleibseln" in der Charta („Poder Moderador" und beschränktes Wahlrecht ζ. B.), sondern vor allem um des nominalistischen Charakters der liberalen Verfassungsnormen willen. Außerdem ergab sich die Blockierung oder Verzerrung des Konkretisierungsprozesses dieser konstitutionellen Bestimmungen in erster Linie nicht aus dem Auftauchen von traditionalen Mechanismen, sondern vielmehr aus der riesigen ökonomischen Schichtungskluft (kein traditionales Problem) im Rahmen einer peripheren Modernisierung, in der die Komplexitätssteigerung und die Auflösung von allgemeingültigen Wertvorstellungen keineswegs zur funktionalen (horizontalen) rationalen Systemdifferenzierung der Gesellschaft und so auch nicht zur Positivität des Rechts führt. In diesem Kontext funktionierten die autoritären Elemente der Verfassungscharta von 1824 relativ befriedigend für die Aufrechterhaltung des Status quo, 17 Zu dieser Mehrheit zählten nicht nur die Sklaven, deren Anteil an der gesamten Bevölkerung von 31% (2.500.000 unter 8.020.000) im Jahre 1850 auf 15% (1.510.806 unter 9.930.478) im Jahre 1872 sank und sich 1887 auf 5% (723.419 unter 13.278.816) reduzierte (Prado Jr., 1988: 99), sondern vorwiegend die unteren Schichten der „freien Bevölkerung", die im formalen Geltungsbereich des Art. 179 der Charta eingeschlossen waren. In einer Rede von 1877 schätzte T. Barreto (1977 b: 183) in Bezug auf die Stadt, wo er die Funktion des Staatsanwaltes erfüllte (Escada), daß 90 % der Bewohner notleidend waren. ι» In einer Analyse der Volkszählung von 1872 betonte Amado (1917: 28 ff.), daß die sehr stark geschichtete „soziale Umwelt" die Integration der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung in die „politischen Institutionen" des brasilianischen Königreiches verhinderte, welche nur für „300.000 oder 400.000 Personen" (unter 9.930.478 Bewohnern), die Angehörigen der Oligarchien, habe zugänglich sein können (31).

. Die V e r f a s s u n g s r

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so daß sich im Verfassungssystem instrumentalistische Züge feststellen lassen. Aber kennzeichnend für dasselbe ist primär die nominalistische Rolle der die Bürgerrechte erklärenden und der spezifisch für die Beschränkung bzw. Kontrolle der Macht bestimmten Verfassungsnormen. Die Machtinhaber verfügten über die Verfassung, die nach der konkreten Machtkonstellation gebraucht, mißbraucht oder beiseitegelassen wurde. 19 Sie bildete keinen rechtlichen Horizont der politischen Handlung, geschweige denn einen positiven Faktor der Integration der verelendeten Unterschichten in das gesetzte Rechtssystem. Das Verhältnis von Subintegration dieser übergroßen Mehrheit der Bevölkerung und Überintegration der Oligarchien in die sozialen Systeme, besonders das Recht, war nicht vereinbar mit der Verwirklichung der Verfassung in ihren bürgerlich-rechtsstaatlichen Zügen. Dieser Verfassungsnominalismus, der in unterschiedlichen Betrachtungen über das brasilianische Königreich hervorgehoben wurde, 20 ist weder als Ausdruck der erziehenden Funktion der Verfassung noch als Anzeichen für die „guten Absichten" der Machtinhaber adäquat zu charakterisieren. Vielmehr geht es dabei um die symbolisch-ideologische Rolle bzw. Benutzung des Verfassungstext (s. Kap. II. 3.3. u. Kap. III. 3.2.4.), wie Gilberto Amado bereits beobachtete: „Es ist klar, daß die in der Höhe errichtete ,Verfassung 4, ohne jeden Kontakt mit ihr [der Bevölkerung], nur eine Fiktion, ein Symbol, eine für die Benutzung der Redner bestimmte Figur der Rhetorik sein konnte." 21 Im Anschluß daran betont Faoro, daß „die Verfassung sich auf ein Versprechen und ein dekoratives Gemälde beschränkt(e)". 22 In einer handlungstheoretischen Perspektive ginge es also um ein unaufrichtiges Versprechen (vgl. oben S. 105), nicht um „gute Absichten" der Machthaber. Aber die Komplexität des Handlungszusammenhangs macht dabei diese Interpretation unzulänglich. Systemtheoretisch geht es um die Unterwerfung des Rechts unter den Machtcode durch die „symbolisch-legitimierende" Benutzung des Verfassungstextes seitens des politischen Systems, all dies mangels der gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Rechtspositivierung. Das impliziert auf keinen Fall die Unbedeutsamkeit der Verfassungjscharta als „ein dekoratives Gemälde", sondern vielmehr — in der paradoxen Formulierung von Faoro — „die Schöpfung einer als die wahre Welt effizienteren, falschen Welt." 2 3 Die Ineffizienz der nominalistischen Verfassung, Erwartung zu sichern und Verhalten zu steuern (Rechtsfunktion), wird durch deren politische Effektivität als symbolisch-ideologisches „Legitimationsmittel" ausgeglichen.

19 „Die Verfassung regiert(e) die politischen Beziehungen nur als Etikette oder Konvenienz von freier Befolgung" (Faoro, 1976: 62). 20 Vgl. z. B. Leal, 1915: 146 ff.; Vianna, 1939: 7 ff.; Faoro, 1976: 61-66; Amado, 1917; Prado Jr., 1988: 61. 21 Amado, 1917: 30. 22 Faoro, 1976: 63. In ähnlichen Formulierungen Leal, 1915: 146 u. 149. 23 Faoro, 1976: 175.

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2. Die Verfassungsurkunde von 1891 Im Rahmen der außenwirtschaftlich bedingten Umstellung des Wirtschaftssystems und im Zusammenhang mit der „Militär-" und der „Religionsfrage" 24 und nicht zuletzt mit der Abschaffung der Sklaverei 25 verlor das „kaiserliche" System seine Unterstützungsbasis und kam durch einen typischen Militärputsch die Republik auf (1889). 26 Die Indifferenz der Bevölkerung gegenüber der „Proklamation der Republik" 27 verweist auf die gesellschaftliche Unbedeutsamkeit des Verfassungssystems, in diesem Sinne also nicht auf die Stärke des (Rechts-) Staates im Verhältnis zur „Gesellschaft", sondern auf dessen Schwäche. Daß Recht und Staat im weiten Umfang Angelegenheit einer „entfremdeten" Elite bildeten, zeigte sich deutlich durch die unkritische und eklektische Übernahme von zwei Ideenweiten bei der Begründung der Republik: dem französischen Positivismus von Auguste Comte 28 und dem nordamerikanischen Konstitutionalismus. Im Widerspruch zur Bedeutung des unter den Militärs verbreiteten Comteschen Gedankengutes für die Verfassungswirklichkeit, in der die stetigen Verstöße gegen die Verfassungsnormen als Verteidigung der „Ordnung" gerechtfertigt wurden, kennzeichnete die Ausarbeitung des Verfassungstextes von 1891 die 24 Bei der sogenannten „Militärfrage" handelte es sich um die Konflikte zwischen der königlichen Regierung und den korporativen Interessen der Armee, welche ab 1879 auftreten (vgl. Faoro, 1985: 476ff), die aber im Rahmen des Übergangs der Militärrekrutierung nach „aristokratischen" Kriterien zur Rekrutierung nach „Eignungsprüfung" auf den Anfang des „Kaiserlichen Regimes" zurückgehen (vgl. Faoro, 1985: 470 ff.; in der „klassischen" Historiographie s. dazu auch Freire, 1983: 183 ff.). Bei der sogenannten „Religionsfrage" (1872-1875) ging es um den Konflikt zwischen der Regierung bzw. der „Mäßigenden Gewalt" („Poder Moderador") und der katholischen Kirche um den Eintritt von Priestern in die mit der „Unabhängigkeitsbewegung" und dem königlichen Verwaltungsstab eng verbundene Freimaurerei. Er hatte seinen Höhepunkt in den gerichtlichen Verurteilungen der Bischöfe von Olinda und Para (1874), die den Ausschluß von Freimaurern aus religiösen Orden bzw. deren kirchliche Suspendierung verfügt hatten; die Bischöfe wurden später (1875) auf kirchlichen Druck hin wieder amnestiert (hierzu vgl. u. a. Calógeras, 1980: 256 ff.; Buarque de Holanda, 1985: 152 f., 174 f.; Brandäo Cavalcanti, 1976: 51 f.). 25 Zwar hatte die Abschaffung der Sklaverei (1888 als Endergebnis eines seit den ersten Jahren nach der „Unabhängigkeit" 1822 unter direktem Druck Englands verlaufenden Prozesses — hierzu Moraes, 1986: 33 ff.) eher politische als ökonomische Folgen (Furtado, 1986: 141, dt. 1975: 117), aber sie stellte andererseits eine politische Reaktion auf Veränderungen im Wirtschaftssystem dar. 26 Die „Sklaven-", „Militär-" und „Religionsfrage" werden in der herkömmlichen Historiographie als die „Ursachen der Republik" genannt (vgl. u. a. Oliveira Torres, 1957: 537 ff.; s. auch Wemeck Sodré, 1987: 270 ff.). Mit Hervorhebung der Umgestaltung der ökonomischen Herrschaftsstruktur s. Freire, 1983: insb. 101-104; und in marxistischer Orientierung Saes, 1985. 27 „Das Volk sah verdummt, verblüfft, überrascht jenem Ereignis zu, ohne zu wissen, was es bedeutete. Viele glaubten ehrlich, einer Parade gerade zuzuschauen" (Aristides Lobo, zit. nach Maximiliano, 1948: 105). Vgl. Carone, 1971: 7 f. 28 Zur Entstellung des Comteschen Positivismus durch die damalige Rezeption in Brasilien s. Buarque de Holanda, 1985: 289-305.

2. Die Verfassungsurkunde von 1891

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Hochschätzung der Verfassungserfahrung in den Vereinigten Staaten. Vom vorwiegend französischen Einfluß auf die „kaiserliche" Charta fand ein Übergang zur vorherrschend nordamerikanischen Beeinflussung der republikanischen Urkunde statt, wie in der Verfassunggebenden Versammlung von 1890-1891 hervortrat. 29 Die rhetorische Bewunderung der Verfassung von 1787 vermittelte die symbolische Illusion, daß die Übertragung des Verfassungssystems der Vereinigten Staaten auf den neuen Verfassungstext eine adäquate Lösung der gesellschaftlichen Probleme Brasiliens gewesen wäre. 30 Man mißachtete den Umstand, daß die USA nach ihrer revolutionären Unabhängigkeit auf das Zentrum des (Welt-) Kapitalismus zusteuerten, darin einen wichtigen Platz einnahmen und infolgedessen in der Lage waren, einen wirklichen Verfassungsstaat („Souveränität" der Politik und Positivität des Rechts) zu begründen. Der Wandel im „verfassungskulturellen" Kolonialismus ist nicht zu trennen von Veränderungen auf der Ebene der Abhängigkeitsstruktur. Trotz des noch starken Vorherrschens englischer Interessen Ende des letzten Jahrhunderts zeichnete sich schon die Tendenz zur Hegemonie der Vereinigten Staaten in Lateinamerika, besonders in Brasilien, ab. 31 Die Aufnahme der Liberaldemokratie, des Präsidentialismus und Föderalismus nach dem Vorbild der USA in der republikanischen Verfassungsurkunde von 1891 könnte als Ausdruck eines „demokratischen Rechtsstaates"32 interpretiert werden. Aber schon auf der Ebene des Verfassungstextes wurden mangels Garantie der geheimen Stimmabgabe die Entlastung der Wählerrolle gegenüber anderen Rollen und gesellschaftlichen Beziehungen der Wähler verhindert und durch den Ausschluß der Wahlberechtigung für Analphabeten und Bettler (Art. 70 § 1. Abs. I.und2.)die Allgemeinheit der Wahl verzerrt (s. unten S. 171 f.). Außerdem wurde die Konkretisierung der liberaldemokratischen Verfassungsbestimmungen 29 Vgl. Chacon, 1987: insb. 45-47,115 f.; Carone, 1972: 285 f. Zu einer ausführlichen Darstellung der konstituierenden Sitzungen und ihrer stark vom nordamerikanischen Konstitutionalismus geprägten Diskussionen s. Roure, 1918 -1920, der behauptete (1820: 354): „Aber der Liebling der Epoche war der nordamerikanische Präsidentialismus, der rasch den Fortschritt der großen befreundeten Nation bewirkt hat, wie der Parlamentarismus den Englands bewirkt hatte." Man darf aber nicht übersehen, daß die Verfassungsurkunde von 1891 in wichtigen Punkten vom nordamerikanischen Konstitutionalismus abwich; vgl. hierzu Leal, 1915: 226 ff. 30 Vianna (1939: 91) sprach vom „Glauben an die verwandelnde Macht der schriftlichen Formeln"; vgl. auch ders., 1939: 81. Es wurden demnach die symbolisch-ideologischen Implikationen dieser Formeln außer acht gelassen. Es ist andererseits anzumerken, daß Barbosa, der wichtigste Verfasser des Texts von 1891, nicht ganz unkritisch (im Sinne der „anthropologisch-kulturellen" Kritik von Vianna) gegenüber der Übertragung der nordamerikanischen Institutionen auf die brasilianische Wirklichkeit durch Gesetzgebung bzw. Verfassunggebung war (vgl. Barbosa, 1932: 30). 31 Aber sie setzte sich gegen die englische Hegemonie erst nach dem 1. Weltkrieg durch und wurde erst nach dem 2. Weltkrieg konsolidiert; hierzu vgl. Furtado, 1978: 24 u. 60. 32 „Die Verrechtlichung des Legitimationsprozesses setzt sich in Form der allgemeinen und gleichen Wahlrechts sowie der Anerkennung der Organisationsfreiheit für politische Verbände und Parteien durch" (Habermas, 1982 a II: 529).

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mangels gesellschaftlicher Voraussetzungen für den „demokratischen Rechtsstaat" entstellt. Der Machtprozeß lief weiterhin im Rahmen einer „verfassungsdurchbrechenden und -aushöhlenden Verfassungswirklichkeit" (s. oben S. 92) und einer sehr begrenzten Öffentlichkeit ab. In dieser Konstellation ist es mißverständlich, durch den Hinweis auf die Übernahme von Errungenschaften in den Verfassungstext, die eventuell in zeitgenössischen Verfassungsstaaten Europas noch nicht aufgenommen worden waren, den bürgerlich-demokratischen Charakter des damaligen brasilianischen Staates mit diesen zu vergleichen bzw. zu betonen.33 Während sich durch die entsprechenden Verfassungen im gewissen Maße ein echter „evolutionärer" Prozeß in Richtung auf den „demokratischen Rechtsstaat" und die Positivität des Rechts in Europa ausdrückte, fungierte die Verfassungsurkunde von 1891 eher als wirklichkeitsfremde, rechtsnormativ unwirksame Erklärung von Rechten, Freiheiten und Prinzipien. Will man in dieser Konstellation von „Bildung des bürgerlichen Staates in Brasilien" sprechen, 34 so müßte man anerkennen, daß dieses Adjektiv eine eigentümliche Bedeutung im Kontext des Ausdruckes annimmt. 35 Trotz der Eingliederung Brasiliens in die kapitalistische (bürgerliche) (Welt-)Gesellschaft verhinderte die untergeordnete Stellung des nationalen politischen Systems (Mangel an „Souveränität") im Zusammenhang mit dem peripheren Zustand der inländischen Wirtschaft das Funktionieren einer „normativen" Verfassung und infolgedessen die Positivierung des Rechts. In diesem Kontext ist der Begriff von Oligarchie nicht auszuschließen, obwohl es sich hier nicht wie üblich um ein „traditionales", „vorkapitalistisches" Konzept handelt. 36 Anhand des Wortes „Oligarchie" wird hier bloß darauf hingewiesen, daß bestimmte Gruppierungen, Klassen, Stände oder Individuen (Minderheiten) dem Verfassungs- bzw. Rechtsystem übergeordnet sind, während andere (die Mehrheit) darin eher negativ (zu ihren Ungunsten) integriert sind. So könnte man vielleicht von einer in das Verfassungs- bzw. Rechtssystem überintegrierten (oligarchischen) Bourgeoisie (sie verfügt darüber und es fungiert nicht als rechtlicher Horizont ihrer Handlung) gegenüber den Massen der Subintegrierten sprechen (vgl. Kap. III. 3.2.2.). Es war im Rahmen derartiger „oberer / unterer" Verhältnisse zur Verfassung und also dem gesetzten Recht, daß nach 1891 die Verfassungskonkretisierung weiter33 In dieses Mißverständnis gerät Saes (1985: 351) durch den Hinweis ζ. B. darauf, daß „in der brasilianischen bürgerlichen Demokratie das Wahlverfahren nicht einigen der in europäischen bürgerlichen Demokratien noch geltenden Einschränkungen unterlag: Zensus Wahlrecht, Mehrstimmrecht." 34 So Saes durch sein auf bras. Port, gleichnamiges Buch (1985). 35 Vgl. in diesem Sinne Buarque de Holanda, 1985: 78. 36 Saes (1985: 350) kritisiert die Benutzung des Ausdruckes „oligarchischer Staat" bezüglich des brasilianischen Staates der 1. Republik (1889-1930), weil durch die Verwendung dieses „geläufigen und vortheoretischen Ausdruckes" nahegelegt werde, daß der damalige Staat „noch nicht ein bürgerlicher Staat war"; hingegen verweist er in anderer Perspektive und mit anderen Implikationen auf „die Eigentümlichkeit des bürgerlichen Staates in Brasilien" (1985: 350 ff.).

2. Die Verfassungsurkunde von 1891

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hin blockiert oder entstellt wurde und damit zusammenhängend das Rechtssystem außerstande blieb, die Komplexität seiner Umwelt adäquat zu erfahren und zu reduzieren. Mit der Verfassung von 1891 verschärfte sich der Nominalismus. Die Erklärung von Freiheiten, Rechten und Prinzipien im Verfassungstext stand noch stärker im Widerspruch zum politischen Machtprozeß und der gesellschaftlichen Struktur als früher. 37 Die Verletzung oder Entstellung der Verfassung während der ganzen Periode, in der sie „formal" in Kraft war (1891 -1930), 38 sind als die wichtigsten Merkmale der rechtspolitischen Wirklichkeit zu bezeichnen. Die regelmäßige Wahlfälschung im Rahmen der Kontrolle des Wahlverfahrens durch die lokalen Oligarchien (s. unten 172), die Unbedeutsamkeit der Erklärung der Grundrechte (Art. 72-78) für die verelendeten Unterschichten, die Ausartung des vorgeschriebenen Präsidentialismus in den sogenannten „Neopräsidentialismus", 39 besonders mittels der verfassungsaushöhlenden bzw. -durchbrechenden Feststellung des Belagerungszustands (Estado de Sitio) 40 , die Verzerrung des Föderalismus durch die sogenannte „Politik der Gouverneure" 41 und der Mißbrauch des Mechanismus des Bundeseingriffs in die Bundesstaaten (Bundeszwang)42, all dies bildet bedeutenden Ausdruck des Nominalismus der Verfassung von 1891. Als Widerspruch zwischen Idealismus der Verfassung und nationaler Wirklichkeit wurde dieses Problem von konservativen Kritikern, Anhängern eines autoritären, korporativen und nationalistischen Staates denunziert. 43 Aber in ihrer Kritik am „utopischen Idealismus" der Verfassunggeber wurde die symbolisch-ideologische Benutzung des Verfassungstextes nicht genau berücksichtigt, sondern eher die Naivität ihrer „guten Absichten" betont. 44 Der „utopische Idealismus" wurde 37 Demnach verweist man auf die Verschärfung der „Willkür" (Faoro, 1976: 64) und der „Entwurzelung" des Staates vom Land (Buarque de Holanda, 1988: 125) durch den Aufbau der fassadenhaften Republik. 38 Vgl Pacheco, 1958: 240 ff. 39 Zu diesem Begriff s. Loewenstein, 1975: 62-66. 40 Vgl. kritisch Barbosa, 1933 II: 373 ff., 1933 III: 323 ff. 41 Mit diesem in Brasilien geläufigen Ausdruck bezeichnet man die in der Amtszeit vom Präsidenten Campos Sales (1898-1902) zur politischen „Regel" der Machtverhältnisse in der 1. Republik gewordene Kontrolle der Bundesexekutive durch die Landoligarchie der stärkeren Bundesstaaten im Rahmen von informellen Verhandlungen der entsprechenden Gouverneure, die außerhalb des Parteienmechanismus stattfanden und anhand des Wahlbetruges durchgesetzt wurden. Hierzu s. Faoro, 1985: 563 ff.; Carone, 1969: 103 ff., 1971: 177 ff. Cardoso (1985: 47 ff.) bezeichnet sie m. E. genauer als „oligarchische Politik" bzw. „oligarchischen Pakt". 42 In diesem Zusammenhang behauptete Barbosa (1934: 17) im Wahlkampf: „Eine der Geißeln, die heute dieses Land ins Unglück stürzen, sind die sogenannten Oligarchien der Bundesstaaten (oligarchias estadoaes), welche die Bundesregierung begünstigt, ausnutzt, unterstützt und aufhetzt, bald mit Hilfe der Land- und Seestreitkräfte, bald mit Hilfe der Zivilkräfte (exercito civil), die ihr unsere zahllose Beamtenschaft bietet." 43 So besonders Vianna, 1939: 77 ff. und Torres, 1978. Auf diese Kritik griff Ramos de Figueirêdo (1972) zurück. 44 Vgl. z. B. Vianna, 1939: 81, 91, 111.

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doch nur insofern in der Verfassungsurkunde aufgenommen, als die Verwirklichung der entsprechenden Prinzipien auf eine fernliegende Zukunft verschoben und dadurch also der Status quo nicht bedroht wurde. Außerdem ist der symbolisch-ideologische Einsatz der nominalistischen Verfassung, um aufzuzeigen, daß der brasilianische Staat wie sein nordamerikanisches Vorbild (USA) „konstitutionell" oder „demokratisch" sei, nicht auszuschließen. Zumindest fungierte die Verfassungsurkunde als entlastendes „Alibi" der Machthaber gegenüber der sozialen Wirklichkeit oder als „Beweis" ihrer „guten Absichten". Diese symbolische Politik trug in gewissem Maße dazu bei, daß das Bestehen von anderen Möglichkeiten verdeckt, der Weg zum sozialen Wandel verbaut wurde (s. oben S. 63 f.). Im widersprüchlichen Zusammenspiel zwischen konstitutioneller Utopie und politischem Fatalismus blieb die Verfassungswirklichkeit im wesentlichen unverändert. 45

3. Der Verfassungstext von 1934 Anscheinend war die gegen die politische Struktur der „Alten Republik" auftretende, mit der Krise der brasilianischen Kaffeewirtschaft im Rahmen der Weltwirtschaftskrise von 1929 46 und dem Auftauchen neuer städtischer Klassen zusammenhängende „Revolution von 1930" 47 dafür bestimmt, den Verfassungsnominalismus der 1. Republik zu überwinden. Im langen konstitutionellen Interregnum (1930-1934) 48 verkündete die Übergangsregierung durch Verordnungen mit Gesetzeskraft wichtige Errungenschaften in Richtung eines demokratischen und sozialen Rechtsstaats — wie zum einen die geheime Wahl, das Wahlrecht 45

Die umfassende Verfassungsänderung (Revisäo Constitucional) von 1926 führte keineswegs zu positiven Veränderungen in dieser Situation, sondern in einigen Punkten vielmehr zur Verschärfung des Verfasssungsnominalismus (vgl. Bonavides u. Andrade, 1989: 256 ff.). Sie wird durch die folgenden Neuerungen gekennzeichnet (vgl. Melo Franco, 1960:164): (1) das Gebot, daß das Haushaltsgesetz nur Haushaltsangelegenheiten beinhaltet (Verbot seines Mißbrauchs in Form der „caudas orçamentârias" — Art. 34 § 1.); (2) die Beschränkung der „Habeas-Corpus-Garantie" auf den Schutz der Freizügigkeit vor gesetzwidrigen Gewalttätigkeiten bzw. Zwängen (Art. 72 § 22 — im ursprünglichen Text bezog der „Habeas-Corpus" umfassender den Schutz vor „Gewalttätigkeit oder Zwang mittels gesetzwidriger Handlung oder Machtmißbrauch" ein); (3) die Einführung des teilweisen Vetos des Präsidenten gegen Gesetzesvorlagen (Art. 37 § 1.) (4) nicht zuletzt die Bestimmung der „konstitutionellen Prinzipien", deren Verletzung den Bundeseingriff in die Bundesstaaten (Bundeszwang) rechtfertigt (Art. 6. Abs. II). 46 Vgl. hierzu Furtado, 1986: 181 ff. (dt. 1975: 145ff). 47 Hierzu s. Fausto, 1987, der betont (12-50, 86 ff.), daß es sich dabei nicht um eine bürgerliche Revolution im Sinne der Durchsetzung der „industriellen" Interessen gegen die „ländlich-traditionale" Domination handelte, sondern um die Umstrukturierung der „grundlegenden Komplementarität zwischen agrarischen und industriellen Interessen" (112); dementsprechend wurden die auf dem Großgrundbesitz beruhenden Produktionsverhältnisse nicht angetastet (86). 48 In dieser Periode gilt mit Verfassungskraft die autoritäre „Verordnung der Einrichtung der Übergangsregierung" (Decreto Ν. 19398 vom 11.11.1930). Hierzu Melo Franco, 1960: 171-75.

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der Frauen und die Wahljustiz, 49 zum anderen die umfangreiche Arbeitsgesetzgebung 50 -, woran sich die Verfassunggebende Versammlung von 1933-1934 51 anschloß. Was die Verfassung von 1934 anbelangt, wird der starke Einfluß der Weimarer sozial-demokratischen Verfassung von 1919 hervorgehoben. 52 Die umfangreiche Verfassungsnormierung der Wirtschafts- und Sozialordnung (Titel IV, Art. 115-143) und die Bestimmungen über die Familie, die Erziehung und die Kultur (Titel V, Art. 144-158) wiesen, wenn man sich auf eine Analyse des Verfassungstextes beschränkt, 53 auf „die Entwicklung zum sozialen und demokratischen Rechtsstaat als Konstitutionalisierung eines in der Klassenstruktur verankerten sozialen Gewaltverhältnisses" 54 hin. Es ist aber festzustellen, daß diese täuschende Verfassunggebung in weitem Umfang keine Resonanz in den weiterhin oligarchischen, dadurch grundsätzlich unangetasteten gesellschaftlichen Verhältnissen fand. Zwar hing die Übernahme von wohlfahrtstaatlichen Verfassungseinrichtungen mit dem Auftauchen organisierter Sektoren in der städtischen Arbeiterschaft zusammen;55 es handelte sich aber um einen sehr begrenzten Teil der Arbeiterklasse. 56 Die Öffentlichkeit blieb, im Widerspruch zum Verfassungstext, auf eine privilegierte Minderheit beschränkt. Außerdem bildete der Ausschluß des Wahlrechts für Analphabeten (Art. 108 einziger Paragraph Al. a) in einem Land von überwiegend Analphabeten57 (trotz der Verfassungsbestimmung 4 9 Erneuerungen u. a., die durch das Wahlgesetzbuch von 1932 (Decreto Ν. 20.076 vom 24.2.1932) eingeführt wurden (hierzu zusammenfassend Castro Gomes, 1986: 1518) und die auf die Werke von Assis Brasil (1931) und Rocha Cabrai (1929) zurückgehen (vgl. dazu Melo Franco, 1974: 61), beides Mitglieder des zur Wahlreform zuständigen „legislativen Ausschusses" der „Übergangsregierung" (vgl. Castro Gomes, 1986: 15). so Ein Überblick findet sich bei Carone, 1974: 144-49. 51 Sie wurde am 15.11.1933 eröffnet und hat die neue Verfassung am 16.7.1934 verkündet. Neben den in „allgemeiner", direkter, gleicher und geheimer Wahl gewählten 214 „Volksvertretern" gehörten zur Constituinte — in Konsonanz mit der korporativistischen Welle in Europa — 40 berufsständische Vertreter, unter denen 17 Arbeitnehmer waren (die benifsständische Vertretung wurde gemäß Art. 23 der Verfassung von 1934 beibehalten). Über diese konstituierende Versammlung s. Melo Franco, 1960: 187-192; Bonavides u. Andrade, 1988:273 - 315; und zu einer näheren historiographischen Darstellung H. Silva, 1969. 52 Vgl. ζ. B. Chacon, 1987: 127 ff.; Landgraf Picolo, 1969: insb. 99. Die deutsche Beeinflussung auf der Verfassungsebene stünde in Einklang mit der Steigerung der Ausfuhr und Einfuhr von Deutschland in und aus Brasilien (jeweils von 11,95% auf 24,99% und von 8,12% auf 19,06%) zwischen 1933 und 1938 (Chacon, 1987: 127). 53 Hierzu s. neuerdings Marinho, 1988. 54 Habermas, 1982 a II: 530. 55 Vgl. hierzu Carone, 1974: 98-151. 56 1920 gehörten 69,7 % der erwerbstätigen Bevölkerung zum primären Sektor, 13,8 % zum sekundären und 16,5 % zum tertiären Sektor; 1940 veränderte sich dieses Verhältnis nur geringfügig: jeweils 65,1%, 14,8% und 18,2% (vgl. Fausto, 1987: 22). Hier ist anzumerken, daß die Landarbeiter vom persönlichen Geltungsbereich der neuen sozialen Gesetzgebung ausgeschlossen wurden. Im Einklang damit spricht Fausto (1987: 113) von der „heiligen Unantastbarkeit der sozialen Beziehungen im Land." 57 Nach der offiziellen Statistik (IBGE, 1989: 72) waren noch 1940 nur 43,8% der Bevölkerung im Alter ab 15 Jahren alphabetisiert (vgl. auch Jaguaribe et al., 1986: 142).

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über die Erziehungspflicht und -berechtigung — Art. 149) ein anderes Anzeichen dafür, daß sich der angebliche soziale und demokratische Rechtsstaat der Verfassung von 1934 unter jenen gesellschaftlichen Bedingungen nie hätte verwirklichen können. Im Gegenteil verstärkte sich, was die sozialstaatlichen Verfassungseinrichtungen anbelangt, der Verfassungsnominalismus im Verhältnis zu den Chartas von 1824 und 1891.58 Die Behauptung eines „demokratischen und sozialen Rechtsstaates" durch die Berufung auf den Inhalt des Verfassungstextes spielte gewiß eine wichtige symbolisch-ideologische Rolle gegenüber der strukturell unveränderten Verfassungswirklichkeit. Hiernach implizierte die Bewegung von 1930, wenngleich es sich dabei wegen der Teilnahme relativ breiter Sektoren der Bevölkerung an den Vorgängen nicht um einen Putsch handelte, keineswegs eine Revolution, 59 sondern vielmehr die Aufrechterhaltung der Privilegien fördernden, die Mehrheit der Bevölkerung ausschließenden Gesellschaftsstruktur unter einem neuen Verfassungsnominalismus. Trotz all dem ließ die nominalistische Verfassung von 1934 genügend Spielraum für eine begrenzte Öffentlichkeit, in der soziale und politische Bewegungen für gesellschaftliche Transformationen anwachsen konnten. Für die Unterdrükkung der darin engagierten „reformistischen" und „revolutionären" Gruppierungen, wie besonders des linksorientierten Nationalen Befreiungsbündnisses (Aliança Libertadora Nacional), bot das Verfassungssystem den Machthabern keinen ausreichenden Handlungsspielraum. Das Erlassen des Gesetzes zur Nationalen Sicherheit (Lei de Segurança Nacional — Lei N. 38 vom 4.4.1935), die verfassungsaushöhlende Feststellung des Belagerungszustandes und nicht zuletzt, gemäß „kasuistischer" Verfassungsänderung (Decreto Legislativo Ν. 6 vom 18.12.1935, Emenda 1) und Ermächtigung des Nationalkongresses (Decreto Legislativo Ν. 8 vom 21.12.1935, Art. 2.), die „Gleichstellung" des „gefährlichen inneren Aufruhrs" („comoçao intestina grave") mit dem Kriegszustand (21.3.1936) 60 — all das unter dem Vorwand des sogenannten,»kommunistischen Putschversuchs" von November 1935 61 — lieferten ihnen kein befriedigendes Kampfmittel. Die demokratischen Einrichtungen der Verfassung waren trotzdem immer noch vorhanden, die Exekutive war noch nicht ganz von ihnen befreit.

58 Hiergegen sprechen Bonavides u. Andrade (1989: 325-27) von der „Ankunft des brasilianischen sozialen Staates" durch die Verfassung von 1934, was nur im Rahmen einer auf den Text beschränkten Betrachtungsweise behauptet werden könnte. 59 Loewenstein (1942: 128) schrieb das unter anderem Gesichtspunkt dem Mangel an einer politischen „Ideologie" zu als einer konsistenten politischen TTieorie des Regimes über sich selbst. Vgl. auch Mirkine-Guetzévitch, 1932: CXLIV; Melo Franco, 1960: 174 f. 60 Text u. a. in: Carone, 1973: 66 f. 61 Vgl. Carone, 1974: 342 ff.

4. Die Verfassungscharta von 1937

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4. Die Verfassungscharta von 1937 In dieser Konstellation wurde durch einen Putsch der Regierenden (Regierung Vargas) die Verfassungscharta von 1937 oktroyiert (10.11.1937). Wie üblich in einem solchen Wechsel vom Verfassungsnominalismus zum Verfassungsinstrumentalismus berief man sich auf die „Wiederherstellung der Ordnung". 62 Als vermeintlicher Anlaß wurde wieder das Anwachsen von kommunistischen Tendenzen bezeichnet, die sogenannte „Intentona Communista" (der „kommunistische Putschversuch") von 1935 erwähnt. 63 Nach dieser Version wäre gegen den „fremden " Linkstotalitarismus ein autoritärer Nationalstaat (Estado Novo) begründet worden. Hiernach versteckte man jedoch die Forderungen der herrschenden Oligarchien nach Kontrolle der sich tendenziell verstärkenden sozialen Bewegungen für wesentliche, aber mit dem Text von 1934 prinzipiell nicht unvereinbare, ökonomisch-politische Veränderungen. Außerdem drückte die oktroyierte Verfassungsurkunde keinen eigentümlichen nationalen Autoritarismus aus, wie die Ideologen der neuen Regierung verkündeten; 64 denn die Polnische Verfassung von 1935 übte einen bedeutsamen Einfluß auf die Verstärkung der Exekutive und die Entstellung der Gewaltenteilung aus, sowie das italienische Modell auf die Arbeitsorganisation und die korporative Struktur des Bundesrates. Im allgemeinen wird die Einwirkung der autokratischen Erfahrungen in Europa erwähnt; 65 jedoch ist zu berücksichtigen, daß der autoritäre Verfassungstext von 1937 die totalitären Züge des spanischen Francoismus und des portugiesischen Salazarismus (wovon die Bezeichnung „Estado Novo" nachgeahmt wurde) nicht widerspiegelte, geschweige denn den Totalitarismus des deutschen Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus. Die brasilianische Charta implizierte eine politischen Entdifferenzierung spezifisch des Rechtssystems, ohne daß eine gesamte Staatsideologie zugrunde lag. Nach der Verfassungsurkunde von 1937 wäre ein autoritärer und sozialer Staat begründet worden. Deren Autoritarismus zeigte sich sehr deutlich durch die Erweiterung der Zuständigkeit der Bundesexekutive und die entsprechende 62 So ausdrücklich in der Präambel der Verfassung von 1937 durch den Verweis auf die „bekannten Faktoren der Unordnung". 63 In der Präambel der Verfassungscharta wird auf „die kommunistische Infiltration" verwiesen. Vgl. dazu Sola, 1988: 259-61; Carone, 1988: 253. 64 „Der neue Staat schließt sich an keine exotische Ideologie an. Er ist eine nationale Schöpfung, gleichweit von der demagogischen Zügellosigkeit und dem autokratischen Druck entfernt . . . " (Campos, 1940: 229, der Verfasser des Textes von 1937). Als Ideologe s. auch Amarai, 1981, der den Zusammenhang von nationalistischem, autoritärem und demokratischem Stil des „Neuen Staats" behauptete (insb. 102, 106 f.). Ferner vgl. Vianna, 1939: 121-78, der auch auf dem demokratischen Charakter der Charta von 1937 bestand (159 ff.). 65 Vgl. Loewenstein, 1942: 122-25; Carone, 1988: 156; Whitaker da Cunha, 19731974: 101; Bonavides u. Andrade, 1989: 339 f.; Chacon, 1987: 178 f. Loewenstein (1942: 122) kennzeichnete ironisch die Charta von 1937 als „internationales Tuttifrutti" und „konstitutionellen Cocktail". 9 Neves

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2. Teil, Kap. IV: Entstehung und Wirkung der brasilianischen Verfassungstexte

Schwächung der Bundeslegislative und -judikative sowie der Gewalten der Bundesstaaten und Stadtgemeinden. Zieht man aber die Übergangs- und Schlußbestimmungen (Art. 175-187) nicht in Betracht, lassen sich aus der Verfassungscharta liberale Elemente für die Kontrolle der präsidentiellen Gewalt herausfinden (z. B. Art. 85-87). Nach dieser Lektüre könnte die persönliche Übermacht des Präsidenten während des „Estado Novo" (1937-45) keineswegs auf dem Verfassungstext beruhen. 66 Aber dessen eventuell liberale und demokratische Vorschriften traten gemäß den Übergangs- und Schlußbestimmungen nie in Kraft. Der Art. 186 setzte fest: „Es wird im ganzen Land der Staatsnotstand erklärt." Außerdem trat das Nationale Parlament auf Grund des Art. 178 niemals zusammen, weil die Voraussetzung dafür — die Volksabstimmung, der die Verfassung zu unterwerfen gewesen wäre (Art. 187) — nicht vom Präsidenten erfüllt wurde. In diesem Zusammenhang wurden gemäß Art. 180 die Befugnisse zur Gesetzgebung und — nach einer extensiven Auslegung — Verfassungsänderung ausschließlich auf den Präsidenten übertragen. 67 Kurzum: auf der Basis dieser Übergangs- und Schlußbestimmungen wurden die eventuellen liberalen und demokratischen Elemente der Charta von 1937 außer Kraft gesetzt, und ein stark autoritäres Regime setzte sich durch, was die unmittelbare Unterordnung des Rechts unter das politische System implizierte. 68 In Anbetracht der Verfassungsvorschriften über die Wirtschaftsordnung (Art. 135-155), die Familie (Art. 124-127), Erziehung und Kultur (Art. 128134) und der autoritär erlassenen, umfangreichen Arbeitsgesetzgebung 69 ließe sich der soziale Charakter des „Estado Novo" („Neuen Staates") zwar behaupten. Aber dieser „von oben nach unten" errichtete Sozialstaat betraf praktisch nur einen kleinen Teil der Arbeitnehmer, die auftauchende städtische Arbeiterklasse (s. Anm. 56 dieses Kap.). Auch in bezug ausschließlich auf diese Sektoren der Arbeiterschaft konnte von Sozialstaat im Sinne des Verfassungstextes und der Gesetzgebung keineswegs die Rede sein. Vielmehr trugen die soziale Verfassungund Gesetzgebung dazu bei, daß zugunsten der Oligarchien die neue Arbeiterbewegung unter die Kontrolle des Staatsapparates gebracht wurde. 70 Wie schon betont, obwohl zum Verfassungstext von 1937 Vorschriften für die rechtliche Beschränkung und Kontrolle der Regierung gehörten, wurden sie im Rahmen der Übergangs- und Schlußbestimmungen (Art. 178, 180, 186 u. 187) formal außer Kraft gesetzt. In einer umfassenderen Formulierung behauptet 66

In diesem Sinne wird die Nicht-Befolgung der Charta bedauert; vgl. Lima, 1974: 127; Figueiredo, 1983: 10. In anderer Perspektive s. Martires Coelho, 1978. 67 Vgl. Loewenstein, 1942: 46 ff. 68 In Konsonanz damit Schloß Loewenstein (1942: 373): „the Vargas regime is neither democratic nor a »disciplined4 democracy; it is neither totalitarian nor Fascist; it is an authoritarian dictatorship for which French constitutional theory has coined the apt term of régime personnel 69 Ein Überblick bei Carone, 1988: 133-40. 70 Vgl. Carone, 1988: 126-28.

4. Die Verfassungscharta von 1937

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Loewenstein: „die Verfassung von 1937 war totgeboren, da sie sofort durch eine Suspendierungsklausel und die Verkündung des Belagerungszustandes außer Kraft gesetzt wurde." 71 Rechtsdogmatisch betrachtet ging es spezifisch um das Außerkraftsetzen derjenigen Vorschriften, die der rechtlichen Begrenzung des politischen Handlungsspielraums des Staatsoberhauptes hätten dienen können, durch die Anwendung von Bestimmungen derselben Verfassungscharta. Aber darüber hinaus hatte der Staatspräsident die Befugnis, ohne jede rechtliche Grenze die anderen Teile der Verfassung außer Kraft zu setzen: Er erhielt — um es hier zu wiederholen — gemäß Art. 180 des Verfassungstextes die uneingeschränkte und ausschließliche Ermächtigung für das Erlassen von Verordnungen mit Gesetzeskraft und — nach einer extensiven Interpretation — Verfassungskraft, da laut Art. 179 alle parlamentarischen Organe aufgelöst wurden und die Voraussetzung für die Wahl des Nationalen Parlamentes — die Volksabstimmung, der die Verfassung ohne Termin hätte unterliegen sollen (Art. 187) 72 — niemals erfüllt wurde. In Kraft blieben nur die Verfassungsbestimmungen, die die Übermacht des Staatsoberhauptes absichern oder zumindest nicht bedrohen konnten. In Anbetracht dessen betonte Loewenstein zu Recht: „Here the only living or, if one prefers, the valid part of the constitution is the president; he is not bound by any constitutional limitations. He is the constitution. [ . . . ] As an institutional frame of government the constitution was dead before it was born." 73 Der Verfassungsinstrumentalismus wurde durch die gemäß Art. 180 erlassenen „Verfassungsgesetze" Ν. 1 bis N. 8 verstärkt, mittels derer die Bundesexekutive die Verfassungscharta als kampfmittel „kasuistisch" auf die neuen konkreten Machtkonstellationen umstellte. Auch das „liberalisierende" Verfassungsgesetz N. 9 vom 28.2.1945 zielte auf die Aufrechterhaltung des Regimes, das dadurch taktisch den Druck vom Inland und Ausland gegen die Diktatur zu dämpfen versuchte. Hierbei handelt es sich genau um eine instrumentalistische Verfassung: Die die Einwirkung der Politik auf das Rechtssystem einschränkenden bzw. filternden Vorschriften der Charta wurden ausdrücklich außer kraft gesetzt, die Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts direkt auf der Ebene der „Verfassungsrechtssetzung" betroffen. Aber was die sozialstaatlichen Vorschriften anbelangt, kann man auch nominalistische Züge im „Verfassungssystem" feststellen: Die Arbeitsbedingungen und die Lebenslage der verelendeten Unterschichten (die Mehrheit der Bevölkerung) wichen radikal vom Inhalt der „sozialen" Verfassungsnormen ab, welche also in ihrem Konkretisierungsprozeß blockiert bzw. verzerrt werden mußten. In diesem Bereich wurde der Verfassungstext weiterhin symbolischideologisch benutzt, vielleicht stärker noch als der von 1934. 71 Loewenstein, 1975: 142. 72 Aber das Inkrafttreten der Verfassung hing nicht davon ab (Art. 187). 73 Loewenstein, 1942: 49. Ähnlich Nogueira Itagiba, 1947: 282; Pacheco, 1958: 267; Lima, 1974: 127. Vgl. auch Martins Ferreira, 1954: 108 -111; Melo Franco, 1960: 208 ff.; Bonavides u. Andrade, 1989: 342 f. 9*

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5. Der Verfassungstext von 1946 Die Vargas-Diktatur konnte den nach dem Ende des 2. Weltkrieges verschärften inneren und äußeren Druck nicht überleben. Die Schwäche der Regierung drückt sich bereits im Erlassen des Verfassungsgesetzes N. 9 vom 28.2.1945 aus, gemäß dem unter anderen „liberalisierenden" Maßnahmen direkte Wahlen des Präsidenten, der Gouverneure (der Bundesstaaten), des nationalen Parlaments und der gesetzgebenden Versammlungen (der Bundesstaaten) bestimmt wurden (Art. 4.). Es handelte sich aber um ein taktisches Manöver, im Rahmen dessen die gesamte Struktur des Autoritarismus aufrechtzuerhalten wäre. 74 Im Widerspruch zu diesen „liberalisierenden" Schritten verstärkte sich die „Campanha pela Redemocratizaçao" („Kampagne für die Redemokratisierung"), und damit zusammenhängend wurde die Regierung durch die Armee am 29. Oktober 1945 gestürzt. Mittels des Verfassungsgesetzes N. 13 vom 12.11.1945 erteilte die vom Präsidenten des Supremo Tribunal Federal (Obersten Bundesgerichts) geführte Übergangsregierung verfassunggebende Gewalt dem zu wählenden Parlament. Durch die Berufung auf die „Wiederherstellung der Demokratie" fand in diesem Kontext ein Übergang vom damaligen Verfassungsinstrumentalismus zur nominalistischen Verfassung von 1946 statt. In der geläufigen Interpretation wird die Absetzung Vargas' mit der Niederlage des Nationalsozialismus in Europa verbunden. Es ist zwar unbestritten, daß die neuen Tendenzen im Zentrum der Weltgesellschaft eine wichtige Rolle spielten für die Veränderung in Brasilien, einem in den Weltkapitalismus schon stark integrierten Land. Es ist aber anzumerken, daß die Vereinigten Staaten (äußerer Druck) 75 dem Wirtschaftsnationalismus der brasilianischen Regierung und die wachsende nationale Bourgeoisie (innerer Druck) ihrem ökonomischen Antiliberalismus schon lange entgegentraten. 76 Nur in diesem Zusammenhang läßt sich m. E. der Erfolg der „Kampagne für die Redemokratisierung" verstehen. 77 Die Verfassunggebende Versammlung von 1946 setzte sich aus verschiedenen ideologischen Gruppen zusammen. Ihre parteipolitische Heterogenität ist zwar als ein Novum in der Geschichte Brasiliens zu bezeichnen (z. B. die markante Vertretung der Kommunistischen Partei). 78 Aber das Überwiegen der Landoligar74 Bonavides u. Andrade, 1989: 349 f. 75 Über den konkreten Druck der USA durch ihre Botschaft vgl. Chacon, 1987: 171 f., 185. 76 In einer ökonomistischen Interpretation überschätzte Duarte Pereira (1964: 20-24) diesen Faktor. 77 Die „Kampagne für die Redemokratisierung" geht auf „den extern liberalen und wesentlich konservativen" (Carone, 1988: 305) »Manifesto dos Mineiros' vom 24.10.1943 zurück (ein gegen die Diktatur gerichtetes Manifest von Politikern, Juristen und Intellektuellen der dissidenten Eliten des Bundesstaates Minas Gérais — Text u. a. in: Carone, 1982: 76-81) und verstärkte sich seit dem Erlassen des obengenannten Verfassungsgesetzes N. 9 vom 28.2.1943 (hierzu Carone, 1988: 319 ff.).

. Der Verfassungs

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chie (besonders durch die Sozialdemokratische Partei — PSD) und der städtischen Eliten (vor allem durch die Nationale Demokratische Union — UDN) weist auf den stark konservativen Charakter der Constituinte hin, von der also ernstzunehmende Positionen gegen den oligarchischen Status quo nicht zu erwarten wären. 79 Der verkündete politische „Liberalismus" bzw. „Demokratie" hatte dabei einen anderen Sinn als denjenigen, der in Europa getragen wurde, und läßt sich als „autoritär" und „konservativ" in dem Sinne bezeichnen, daß der „Liberalismus" als eine Ideologie entstand, die dessen Verwirklichung auf eine unbestimmte Zukunft verschob und den Machthabern selbst zuschrieb. 80 Genauer läßt sich behaupten, daß der ideologische Charakter des demokratischen und sozialen Verfassunggebungsprozesses von 1946 mit dem Vorherrschen von oligarchischen und konservativen Interessen in der konstituierenden Versammlung in dem Maße nicht unvereinbar war, als die Verwirklichung des entsprechenden „demokratischen und sozialen Rechtsstaates" auf eine unbestimmte und fernliegende Zukunft hinausgeschoben wurde und dergestalt den Status quo nicht bedrohen konnte. 81 Die Verfassungsurkunde von 1946 nahm auf der politischen Ebene die Gewaltenteilung (Art. 36), den Präsidentialismus (Art. 78-93) und den Föderalismus (Art. 1. ff.) nach — trotz ihrer Eigentümlichkeiten — dem USA-Vorbild wieder auf. Die persönlichen Grundrechte und deren Garantien wurden nach dem Muster des Rechtsstaates von Europa und Nordamerika wieder festgesetzt (Art. 141144). Auf der sozialökonomischen Ebene wurden im Anschluß an den Verfassungstext von 1934 wohlfahrtstaatliche Einrichtungen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialordnung (Art. 145-162) sowie der Familie (Art. 163-165), Erziehung und Kultur (Art. 166-175) eingeführt. Aber die Verfassunggeber von 1946 wollten kühner und „progressiver" als diejenigen von 1934 auftreten: Unter anderen Neuerungen zeichnete sich die Bestimmung über die obligatorische und direkte Gewinnbeteiligung der Arbeiter (Art. 157 Abs. IV) aus. Dieser im Verfassungstext verkündete, zwar mit dem italienischen, französischen und deutschen Verfassungsstaat der Nachkriegszeit vergleichbare, demokratische und soziale Rechtsstaat konnte sich aber im Rahmen einer die Subinte78 Hierzu vgl. Saldanha, 1968: 310; Duarte Pereira, 1964: 25 f.; Nunes Leal, 1975: 238 Anm. 69. Dementsprechend spricht Dillon Soares (1973: 40 ff.) von „Ausdehnung der Bürgerrechte" auf die Arbeiterklasse bzw. immer breitere soziale Gruppen ab 1945; im Anschluß daran vgl. auch Lafer, 1978: 62 f.; Almeida, 1987: 35 f. Aber die neue Situation ist m. E. eher durch die Unähnlichkeiten als durch die Ähnlichkeiten mit der politischen Geschichte europäischer Länder zu vergleichen; vgl. anders Dillon Soares, 1973: 43 ff., in Anlehnung an Marshall (1976: 71 ff.) und Bendix (1969: 89 ff.). Ich komme unter V. 1.2., V 1.3. und V. 2.2.1. darauf zurück. 79 Hierzu s. Almino, 1980, 1985. Vgl. auch Saldanha, 1968: 311; Bonavides u. Andrade, 1989: 395. so Almino, 1980: 305, 1985: 70 f. 8i Dementsprechend spricht Almino, allerdings in einem an den Absichten der Handelnden orientierten Ansatz (vgl. 1985:77), von „Freiheit, die Demokratie zu dekretieren" (1980: 66-94). Vgl. auch Bonavides u. Andrade, 1989: 419.

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gration der Mehrheit und die Privilegien von kleinen Minderheiten aufrechterhaltenden Gesellschaftsstruktur niemals verwirklichen. 82 Intern konsistent schrieb die Verfassungsurkunde das Erziehungsrecht (Art. 166) und die Volksschulpflicht (Art. 168 I) vor und Schloß gleichzeitig die Analphabeten vom Wahlverfahren aus (Art. 1321). Da aber die Schulbildung weiterhin das Privileg einer Minderheit bildete und in dieser Konstellation die Analphabeten einen großen Teil der Volljährigen darstellten, 83 wurde das Verfassungsprinzip der Allgemeinheit des Wahlrechts im Zusammenhang von Text und Kontext deutlich verzerrt. Darüber hinaus nahm das Wahlverfahren unter Drohungen, Druck und Machtmißbrauch oft ritualistische Gestalt an, sicherte es nicht die Differenz von Wählerrolle und anderen gesellschaftlichen Rollen der Wähler und diente nicht ausreichend der Entlastung und Flexibilität des politischen Systems (vgl. S. 173 f.). Außerdem wurde die Konkretisierung der Verfassung von 1946 u. a. durch die Entstellung der Föderation im Rahmen der riesigen regionalen Ungleichheiten, die „Überwachung" des Verfassungssystems von Militärs, 84 die Politisierung (i. e. S.) der Verwaltung und die mit dem Wohlfahrtstaat unvereinbare soziale Lage 85 gesperrt bzw. entstellt. 86 In diesem Zusammenhang bedrohte die Verfassungsurkunde von 1946 nicht den Status quo, wie schon betont, insofern die Verwirklichung des darin angedeuteten „demokratischen und sozialen Rechtsstaats" auf eine unbestimmte und fernliegende Zukunft verschoben wurde. Unter diesem Aspekt erfüllte sie in erster Linie eine symbolisch-ideologische Funktion. Symptomatisch dafür ist die Tatsache, daß sich der wichtigste Träger der Verfassung von 1946, die Sozialde82

Die Verfassung blieb nach wie vor Angelegenheit einer Minderheit, wie Saldanha (1968: 312) zu recht betont. Almino spricht seinerseits von „neuer ausschließender Ordnung" (1980: 306-16). 83 Im Hinblick auf diejenigen, die das fünfzehnte Lebensjahr vollendet hatten, erhöhte sich der Prozentsatz der Alphabetisierten laut offizieller Statistik des IBGE (1989: 72) von 43,8% im Jahre 1940 auf 49,3% im Jahre 1950 und auf 60,2% im Jahre 1960. 84 Dementsprechend weist Stepan ( 1971:57 ff.) auf die „mäßigende" Rolle der Militärmacht im Rahmen des Verfassungssystems von 1946 hin. 85 Das Problem des Elends wurde in der Verfassunggebenden Versammlung von 1946 zur Diskussion gebracht (Duarte Pereira, 1964: 52-54), aber die Inkraftsetzung der Verfassung löste offenkundig keine bedeutsame Wirkung dagegen aus, und hier nicht genau wegen der Autopoiesis der Wirtschaft, sondern vielmehr um des Vorherrschens von Klassenstrukturen willen. 86 Diese Situation läßt sich m. E. auf keinen Fall mit der „Entwertung der geschriebenen Verfassung in der konstitutionellen Demokratie" (Loewenstein, 1975: 157-66; vgl. auch Burdeau, 1962) gleichstellen, was nach der Nachkriegszeit als eine Krise angesehen wurde. Hier handelte es sich um die Grenze des Verfassungsrechtes als regulativen Mechanismus in einer hochkomplexen Gesellschaft, wo andere reflexive Mechanismen, autonome Codes und autopoietische Systeme entstehen und sich entwickeln (vgl., allerdings in einer anderen Formulierung, Grimm, 1987 a: 73). In Brasilien von 1946-1964 ging es um das Versagen der Verfassung in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft, wo jedoch die Voraussetzungen für die Positivität des Rechts und die Selbstbestimmtheit anderer sozialer Systeme nicht vorhanden waren. Vgl. aber anders Melo Franco, 1960: 223-30.

6. Der Verfassungsbruch von 1964

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mokratische Partei (Partido Social Democratico), besonders als Vertreter der Landoligarchien, die den diktatorischen „Estado Novo" unterstützten, bezeichnen läßt. Im Rahmen der nominalistischen Verfassung von 1946 aber verfügten die herrschenden Gruppen nicht über befriedigende „Verfassungsmechanismen" für die Bekämpfung der Bewegung für die sogenannten „Basisreformen", die in der begrenzten Öffentlichkeit anwuchs und die sich in der Amtszeit des mit den „reformistischen" Gruppierungen verbundenen Präsidenten Joäo Goulart mit bedrohlichen Folgen für den gesellschaftlichen Status quo verstärkte. In diesem typischen Kontext eines in die Weltgesellschaft stark peripher-integrierten Landes wurde die „Wiederherstellung der Ordnung" im Ausland und Inland gefordert. Dementsprechend brachen die Militärs mit der nominalistischen Verfassung von 1946, um ein instrumentalistisches Verfassungssystem zu entwickeln. 87

6. Der Verfassungsbruch von 1964: ,Atos Institucionais' und Verfassungstexte von 1967 /1969 Mit dem Rücktritt des Präsidenten Jânio Quadros im Jahre 1961 88 begann in Brasilien eine Periode verschärfter politischer Konflikte zwischen den Vertretern des Status quo und den Anhängern von sozialen Reformen. Die Reaktion auf den Amtsantritt des mit den „reformistischen" Gruppen verbundenen Vizepräsidenten Joäo Goulart 89 führte als „Versöhnungsformel" zu einem „Notparlamentarismus" (Emenda Constitucional N. 4 / 1961) 90 . Durch eine breite politische Bewegung, die in einer Volksabstimmung gipfelte, wurde der Präsidentialismus wieder eingesetzt (Emenda Constitucional N. 6 / 1963). Seit diesem Zeitpunkt 87 Die Präambel des ,Ato Institutional' Ν. 1 vom 9.4.1964 verwies in Konsonanz damit ausdrücklich auf „die Mission, die Wirtschafts- und Finanz Ordnung wiederherzustellen" (Hervorhebung von mir). Aber dieselbe Präambel berief sich im Widerspruch dazu auf das Revolutionsrecht (vgl. hierzulande in Zustimmung mit diesem zweiten Aspekt Jolowicz, 1968: 61) und dadurch „verbot" sie die richtige Bezeichnung des Regierungsumsturzes von 1964 als Staatsstreich bzw. Militärputsch. Strenggenommen handelte es sich dabei auf keinen Fall um eine soziale Umwälzung, sondern im Gegenteil um Aufrechterhaltung und Stabilisierung des Status quo. Hier kommt es nicht darauf an, ob eine Revolution im „reinen" juristischen Sinne (dazu Vilanova, 1979) stattgefunden hat. 88 Jânio Quadros wurde am 3.10.1960 nach einer durch die Rhetorik der Effizienz und „Moralisierung" der Verwaltung geklennzeichneten Wahlkampagne gewählt, hat am 31.1.1961 das Präsidentenamt angetreten und ist am 25.8.1961 überraschend zurückgetreten; hierzu vgl. u. a. Carone, 1985: 139-61. 89 Hier ist anzumerken, daß sich nach dem damaligen brasilianischen Wahlrecht der Vizepräsident nicht zu derselben Partei bzw. Parteienkoalition des Präsidenten gehören sollte, daß es sich also um zwei voneinander unabhängige Stimme handelte. Genau im Fall von Quadros und Goulart gehören Präsident und Vizepräsident zu zwei im Wahlkampf einander gegenüberstehenden Parteienkoalitionen. 90 Vgl. u. a. Souza Esteves, 1984: 55 ff.; Carone, 1985: 161 ff.

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verstärkten sich die sozialen Bewegungen für „Basisreformen" und gleichzeitig die Reaktion der herrschenden Gruppen im Inland und Ausland auf die Regierung Goulart. In diesem Zusammenhang führten die Militärs, wie üblich in solchen Fällen durch Berufung auf die „Wiederherstellung der Ordnung" (s. Anm. 87 dieses Kap.), den Putsch von 1964, der die wichtige Unterstützung der Vereinigten Staaten hatte: Nicht nur durch die Finanzierung und Sendung von Agenten und Behörden wurde die Hilfe der USA zur Konspiration geleistet;91 durch die sogenannte „Operation Brother Sam " wurde eine Kriegsflotte in die Nähe der SüdostKüste Brasiliens entsandt, um im Fall eines Versagens der brasilianischen Armee einzugreifen. 92 Dieser Vorgang offenbarte deutlich, daß „Souveränität" als autopoietische Reproduktion des politischen Systems innerhalb bestimmter territorialer Grenzen fehlte. Eine solche Situation hat offensichtlich direkte Folgen für das Rechtssystem, dessen Positivität die operationelle Autonomie des politischen Systems voraussetzt (vgl. oben Kap. I. 3.5.). Ist nach dem Erleben der herrschenden Gruppen klar geworden, daß im Rahmen der „symbolisch-legitimierenden" Funktion der Verfassungsurkunde von 1946 die Stabilität der Macht nicht mehr abgesichert werden konnte, so setzte sich zur Aufrechterhaltung der peripheren Herrschafts- und Klassenstrukturen ein autoritäres Regime durch und wurden damit instrumentalistische Verfassungsmechanismen eingeführt: Die Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts wurde somit nicht einfach auf der Konkretisierungsebene betroffen, sondern unmittelbar durch die „kasuistische" „Verfassungstextgebung." Von April 1964 bis Januar 1967 hob die Militärregierung nur teilweise die Verfassung von 1946 auf. Durch die ,Atos Institucionais' N. 1/1964, N. 2 / 1965 und N. 3 / 1966 wurden die Zuständigkeit des Präsidenten hypertrophiert (Bruch mit der Gewaltenteilung), die Erklärung der Grundrechte sehr stark eingeschränkt, die alten Parteien abgeschafft und damit praktisch (besonders wegen der schwer zu erfüllenden gesetzlichen Erfordernisse zur Gründung von neuen Parteien — Lei N. 4.740/ 1965) ein Zweiparteiensystem durchgesetzt, 93 kurzum das Verfassungssystem von 1946 progressiv abgebaut. Durch den ,Ato Institutional' N. 4 vom 7.12.1966 berief die Exekutive den schon „bereinigten" Nationalkongreß 94 zu einem außerordentlichen Zusammentritt ein, in dem mit einem sehr 91 Was später vom damaligen Botschafter der Vereinigten Staaten in Brasilien, Lincoln Gordon, im Interview mit dem Magazin Veja (Säo Paulo, den 9. März 1977, S. 3-8) zugestanden und erzählt wurde. 92 Hierzu Belege vgl. nur Sa Correa, 1977: 13 ff. Umfassend über den Putsch von 1964 s. Dreifuss, 1981. 93 Die Gründung der neuen Parteien (ARENA: Nationales Erneuerndes Bündnis — Regierungspartei; MDB: Brasilianische Demokratische Bewegung — Oppositionspartei) hatte den Sinn, den parteipolitischen Mechanismus „als fassadenhafte Einrichtung ohne Einfluß leerlaufen zu lassen", wie Luhmann (1987 a: 247) für manche „Entwicklungsländer" als charakteristisch bezeichnet. 94 Auf der Basis des ,Ato InstitucionaP N. 1 vom 9.4.1964 (Art. 10) wurden von den Oberbefehlshabern bzw. dem Präsidenten der Republik die politischen Rechte der

6. Der Verfassungsbruch von 1964

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begrenzten Spielraum über deren Verfassungsvorlage diskutiert, abgestimmt und diese verkündet werden sollte. Nach diesem autoritären, der direkten Kontrolle und den Bestimmungen der Militärexekutive unterworfenen Verfahren wurde die Verfassungscharta von 1967 erlassen. 95 Die Verstärkung der zentralen Exekutive und die Einführung von ritualistischer indirekter Wahl zur Präsidentschaft (Art. 76-77) zeigten schon, daß sich auch im Rahmen dieses Verfassungstextes die Demokratie als Machtkreislauf von Verwaltung, Politik und Publikum (vgl. oben S. 90) nicht entfalten konnte, geschweige denn als Integration der pluralistischen Öffentlichkeit in das Verfassungssystem.96 Die ergänzende Gesetzgebung (besonders durch ,Decretos-Leis' — die Verordnungen mit Gesetzeskraft — Art. 58) verschärfte den Autoritarismus. Trotzdem entsprach die neue Charta nicht befriedigend den Interessen der Machthaber, denn sie bot keine hinreichenden Alternativen zur Unterdrückung der nicht ganz vernichteten sozialen Bewegungen für strukturellen Wandel bzw. Durchbruch und der überlebenden politischen Opposition. In dieser Konstellation wurden von den Militärs der verfassungsdurchbrechende ,Ato Institutional· N. 5 vom 13. Dezember 1968 und die sogenannte „Emenda Constitucional" („Verfassungsänderung") N. 1 vom 17. Oktober 1969 erlassen, die das instrumentalistische Verfassungssystem konsolidierten. Der ,Ato Institutional· Ν. 5 schrieb dem Präsidenten der Republik eine rechtlich gänzlich unkontrollierte Übermacht zu. Gemäß diesem Ausnahmegesetz erhielt er unter anderem die Befugnisse, den Nationalkongress, die Gesetzgebenden Versammlungen (des Bundesstaates) und die Stadtverordnetenkammern ohne Termin zu den Parlamentsferien zu zwingen (Art. 2.), den Bundeseingriff in die Bundesstaaten und Stadtgemeinden (Bundeszwang) ohne jede Verfassungsbeschränkung anzuordnen (Art. 3.), die politischen Rechte zu suspendieren und die politischen Mandate abzuerkennen (Art. 4. und 5.), sowie den Belagerungszustand zu verhängen (Art. 7.). Außerdem wurden die Verfassungs- und Gesetzesgarantien der richterlichen Unabhängigkeit und — in Fällen von politischen Verbrechen, Verbrechen gegen die „Nationalsicherheit", die Wirtschafts- und Sozialordnung und das „wirtschaftliche Gemeinwohl" (economia popular) — die „HabeasCör/?W5-Garantie" 97 „suspendiert" (Art. 6. u. 10). Die Rechtsprechende Gewalt

bedeutendsten Oppositionspolitiker suspendiert bzw. ihre politischen Mandate aberkannt, ohne jegliche Möglichkeit richterlicher Beurteilung. Auch unter diesen Bedingungen verabschiedete der Nationalkongreß die „Emendas Constitutionals" Ν. 7 bis Ν. 21 (Änderungen des Verfassungstextes von 1946) zwischen Mai 1964 und November 1966. 95 Vgl hierzu Bonavides u. Andrade, 1989: 431 ff. 96 Anders ausgedrückt: die Verfassungsurkunde selbst Schloß eine Verfassung als „Spiegel der Öffentlichkeit" im Sinne von Häberle (1980: 87) aus. 97 Als „Habeas-Corpus" wird in den brasilianischen Verfassungstexten die auf das angelsächsische Recht zurückgehende Garantie zum Schutz der Freizügigkeit vor ungesetzlichen bzw. machtmißbräuchlichen Gewalttätigkeiten und Zwängen definiert. Vgl. die Verfassungsurkunden von 1891, Art. 72 § 22, genauer in der Fassung der Verfassungs-

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war nicht befugt, die gemäß dem ,Ato Institutional· Ν. 5 vollzogene Akte zu beurteilen (Art. 11), und es bestand auch keine parlamentarische Kontrolle dafür. 98 Als Anpassung der Verfassungsurkunde von 1967 an den A I 5 und die nachkommenden 12 ,Atos Institucionais' hat eine Militärjunta die „Emenda Constitutional" („Verfassungsänderung") Ν. 1 von 1969 oktroyiert. Strenggenommen handelte es sich nicht um eine Verfassungsänderung, denn das Änderungsverfahren des Textes von 1967 wurde nicht befolgt. Es ging vielmehr um eine umfassende verfassungsdurchbrechende Normgebung durch die putschende Militärjunta von 1968 -1969, die besser als eine neue Verfassungscharta zu bezeichnen wäre. 99 Aber der Schein der rechtlichen Kontinuität hat in der damaligen Machtkonstellation gewahrt werden müssen.100 Die „Emenda Constitucional Ν. 1" verstärkte die autoritären und zentralistischen Merkmale des Verfassungstextes von 1967. Gemäß ihrem Art. 182 blieben der ,Ato Institutional' Ν. 5 und die später erlassenen Ausnahmegesetze (die ,Atos Institutionais' N. 6-17 von 1969) in Kraft. Das implizierte, daß den eventuell demokratischen Vorschriften der Charta keine ernstzunehmende Verfassungsbedeutung zuzuschreiben war. Gemäß dem „überkonstitutionellen" (aber im Verfassungstext vorgesehenen) A I 5 und den anderen ,Atos Institucionais' konnte das Staatsoberhaupt alle diese Vorschriften aufheben bzw. ihre Geltung suspendieren. So herrschte ein reiner Autoritarismus über eine zerbrechliche Verfassungsfassade. Erst im Januar 1979 traten die A I 5 und die anderen ,Atos Institucionais' außer Kraft (,Emenda Constitucional' N. 11 von 1978, Art. 3.) und so fing der sogenannte „Eröffnungsprozess" an.

änderung von 1926 (s. Anm. 45 dieses Kap.); von 1934, Art. 113 Abs. 23, in einer extensiveren Definition; von 1937, Art. 122 Abs. 16; von 1946, Art. 141 § 23; von 1967 Art. 150 § 20; von 1969, Art. 153 § 20; von 1988, Art. 5. LXVIII). Löbsack-Füllgraf (1985: 90 f.) bezeichnet ihn ungenau als „Grundrecht auf richterliche Haftprüfung" deshalb, weil im brasilianischen Verfassungsrecht sich die „Habeas-Corpus-Garantie" nicht nur auf die rechtswidrige Haft, sondern umfassend auf alle Art Verstöße gegen das Grundrecht auf Freizügigkeit bezieht (in den Verfassungstexten von 1934 bis 1969 wurde die Haft wegen Disziplinarübertretung explizit aus dem Geltungsbereich des „Habeas-Corpus" ausgeschlossen). Die Übersetzung von Löbsack-Füllgraf wäre richtig nur im Hinblick auf die Garantie des Art. 179 Abs. 8. des Verfassungstextes von 1824, die aber nicht als „Habeas-Corpus" benannt wurde. 98 Im Gegensatz zur lobenden, ideologischen Formulierung von Franco Sobrinho (1970: 80 f.) implizierte dieses Ausnahmegesetz offensichtlich keine „Revolution innerhalb der Revolution", sondern einen Putsch innerhalb eines putschenden Regimes. 99 In diesem Sinne Dallari, 1977: 333; vgl. auch Seabra Fagundes, 1982: 25; und hierzulande Löbsack-Füllgraf, 1985: 37 f. Hiergegen s. Ferreira Filho, 1978: 198 ff. 100 Vgl. Bonavides u. Andrade, 1989: 443 f. Franco Sobrinho (1970: 103 f.) hielt zwar die Ausarbeitung eines ganz neuen Verfassungstextes für authentischer; aber als Anhänger des Militärregimes verwies er auf die negativen Bedingungen dafür. An anderer Stelle nennt er die „Emenda Constitucional Ν. 1" „die siebte brasilianische Verfassung" (1970: 121).

6. Der Verfassungsbruch von 1964

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Insbesondere aufgrund des Inkrafttretens der ,Atos Institucionais4, die als Ausnahmegesetze mit Verfassungskraft fungierten, ist das Verfassungssystem Brasiliens während des Militärregimes (April 1964 — März 1985) als instrumentalistisch zu kennzeichnen. Auf deren Basis konnten zuerst die Verfassung von 1946 und später die Charta von 1967 auf die neuen konkreten Machtkonstellationen umgestellt werden. Unter diesem Gesichtspunkt besteht keine Distanz zwischen Verfassungs recht und politischer Wirklichkeit als Voraussetzung für die Autonomie der entsprechenden sozialen Systeme (vgl. Anm. 134 des Kap. II.). Die Verfassungsbestimmungen dienten in erster Linie als Kampfmittel zur Stabilisierung und Aufrechterhaltung des autoritären Regimes und, wenn sie nicht mehr dazu beitrugen, wurden sie von den Machthabern ohne jede rechtliche Grenze aufgehoben, verändert oder suspendiert. Nach der Inkraftsetzung der Verfassung von 1967 ist diese Situation, weil dadurch die früheren ,Atos Institucionais4 außer Kraft gesetzt wurden, 101 zwar gemäßigt worden. Aber durch die Oktroyierung des hyperautoritären ,Ato Institutional· Ν. 5 vom 13.12.1968 verloren alle der Autonomie des Rechtssystems gegenüber der Politik dienenden Bestimmungen der ursprünglichen Verfassungscharta und der späteren „Emenda Constitucional Ν. Γ 4 von 1969 jede ernstzunehmende Bedeutung. Von diesem Datum an konnte der Verfassungstext nur in Verbindung mit dem A I 5 und den nachfolgenden ,Atos Institucionais4 interpretiert werden. Diese Ausnahmegesetze mit Verfassungskraft wurden immer eingesetzt, wenn die für die „normalen Zustände44 bestimmte Verfassungsurkunde als Kampfmittel der Machtinhaber versagte. 102 Im April 1978 ζ. B. ordnete der Präsident der Republik gemäß Art. 2. des ,Ato Institutional 4 Ν. 5 die Parlamentsferien des „nicht folgsamen 44 Nationalen Kongresses an, um zwei Verfassungsänderungen (N. 7 und 8 vom April 1978 — das sogenannte ,Aprilpaket 44 ) aufzuerlegen. 103 Die Aufhebung des A I 5 durch die Verfassungsänderung Ν. 11 von 1978 (Inkrafttreten am 1.1.1979) im Rahmen des sogenannten „Eröffnungsprozesses 44 wurde durch die Einführung der Bestimmungen über die Notstandsmaßnahmen (Medidas de Ermergência — Art. 155) und den Staatsnotstand (Estado de Emergência — Art. 158) insofern ausgeglichen, als sie vom Staatsoberhaupt ohne parlamentarische Ermächtigung, Kontrolle oder Bestätigung ergriffen bzw. festgestellt werden konnte. 104

ιοί Dennoch bestätigte der Art. 173 alle Rechtshandlungen (i. w. S.), die auf der Basis der ,Atos Institucionais' ausgeführt wurden, und entzog sie derrichterlichen Nachprüfung, so daß diese ihre (autoritäre) Wirkung für die Zukunft behielten (vgl. hierzulande Jolowicz, 1968: 61). 102 Hier ist darüber hinaus anzumerken, daß mit der Erkrankung des Präsidenten Costa e Silva im August 1969 nicht der Vizepräsident (ein Zivilperson) gemäß Art. 79 der Verfassungscharta von 1967 die Regierungsgeschäfte übernahm, sondern die drei Militärminister durch den ,Ato Institutional· Ν. 12 vom 31.8.1969, der einen Bruch mit der „Ordnung" des AI 5 selbst implizierte; vgl. Seabra Fagundes, 1982: 24. 103 Vgl. hierzulande Löbsack-Füllgraf, 1985: 383 ff. 104 Der Nationalkongreß sollte vom Staatspräsidenten nur unterrichtet werden (Art. 155 § 1.; Art 158 § 3.).

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Die Verfassung unterwarf sich in dieser Konstellation unmittelbar den Machtverhältnissen. Die Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts wurde direkt durch die instrumentalistische Rechtssetzung mit Verfassungskraft betroffen. Das Vorhandensein von liberalen und demokratischen Normen implizierte nicht genau — trotz ihrer symbolisch-ideologischen Benutzung — den nominalistischen Charakter des Verfassungssystems, weil sie im Rahmen der ,Atos Institucionais' und anderer Vorschriften der Verfassungscharta nicht ernstzunehmen waren. Im Hinblick auf die sozialstaatlichen Verfassungsbestimmungen lassen sich jedoch nominalistische Züge feststellen: Trotz des „modernisierenden" Regimes gab es keine bedeutsame Veränderung in der sozialen Struktur der Unterentwicklung. 105

7. Der Verfassungstext von 1988 Im Rahmen einer sich stetig verschärfenden ökonomischen Krise und damit zusammenhängend mit dem Scheitern des autoritären Regimes in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wuchs die Opposition gegen die Militärregierung an und verstärkten sich die Konflikte zwischen den Machthabern. Dieser Untergangsprozeß gipfelte in dem Sieg der Opposition in der indirekten Wahl von Oktober 1984. Auf Antrag der neuen Regierung berief der Nationalkongreß, nach wie vor mit dem Appell zur „Wiederherstellung der Demokratie", eine Verfassunggebende Versammlung ein (,Emenda Constitucional4 N. 26 vom 27.11.1985), die am 5.10.1988 als Ergebnis eines unruhigen (am 1.2.1987 eingeleiteten) Verfahrens die neue Verfassung Brasiliens verkündete. 106 Eine breite parteipolitische und ideologische Heterogenität unter Vorherrschaft der konservativen Kräfte kennzeichnete diesen konstituierenden Kongress. 107 Ferner sind der direkte Druck und die Partizipation der Unterschichten zu berücksichtigen: durch die Figur der „Emenda Popular" ζ. Β. wurden 122 Änderungsanträge 105 „Die brasilianische Wirtschaft bildet ein interessantes Beispiel dafür, wieweit ein Land im Industrialisierungsprozeß fortschreiten kann, ohne seine grundlegenden Merkmale von Unterentwicklung zu verlassen" (Furtado, 1981: 95). Vgl. auch Jaguaribe et al., 1986: 187. 106 Hierzu s. Bonavides u. Andrade, 1989: 451 ff. 107 in diesem Sinne Bonavides u. Andrade, 1989:472 - 75. Nach einer sehr umstrittenen Methode, der Befragung der „constituintes" (deren „politischer Selbstdefinition"), setzte sich die Verfassunggebende Versammlung von 1987-88 laut Martins Rodrigues (1987: 97; vgl. auch 99) überwiegend aus den „gemäßigten Linken" oder den „Zentrumlinken" zusammen. Dieser Autor weist außerdem auf andere, nicht auf der „politischen Selbstdefinition" der Abgeordneten und Senatoren beruhende Klassifizierungen hin, nach denen die Mitglieder des Konstituierenden Kongresses überwiegend zum „Zenrum" gehörten (vg. 98 f.). Nicht nur deswegen, weil im Hinblick auf die Relevanz der rhetorischen Darstellung für den Wahlerfolg „politische Selbstdefinition" und „politische Praxis" voneinander stark abweichen (Bonavides u. Andrade, 1989: 475; vgl. auch Martins Rodrigues, 1987: 100), sondern darüber hinaus deshalb, weil die Haltung der „constituintes" in der Ausarbeitung einer nominalistischen Verfassung keinen Beweis bzw. kein Anzeichen für ihre politischen Positionen bietet, sind solche Klassifizierungen in Frage zu stellen.

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(mehr als 12 Millionen Unterzeichner) zur Verfassungsvorlage in der „Constituinte" eingebracht. 108 In dieser Konstellation offenbarte sich die Klassenauseinandersetzung um das verfassunggebende Verfahren deutlicher als um die früheren. Das kann wichtige Errungenschaften der Arbeiterklasse bezüglich des Verfassungstextes erklären; aber sie bedrohen die in der „Constituinte" vorherrschenden, konservativen „Kräfte" insoweit nicht, als die Verwirklichung des entworfenen demokratischen Wohlfahrtstaates auf eine unbestimmte und fernliegende Zukunft verschoben wird. 1 0 9 Es handelt sich jedoch nicht um ein simples Nullsummenspiel: einerseits wird die symbolisch-ideologische Benutzung der Verfassungsurkunde von den Machthabern berechnet; andererseits rechnen die „reformistischen" und auch die „revolutionären" „Kräfte" damit, sich auf Grund des Verfassungstextes kritisch gegen die Verfassungswirklichkeit einzusetzen. Die neue Verfassung implizierte die Abschaffung der autoritären Vorschriften aus der Zeit der Diktatur. Damit zusammenhängend erlebt man einen umfangreichen Ausbau der Grundrechte und ihrer Garantien (Titel II, Art. 5. — 17). In diesem Bereich treten unter anderen Neuerungen drei Rechtsschutzmittel, der „Mandado de Segurança Coletivo" (Art. 5. LXX), der „Mandado de Injunçâo" (Art. 5. LXXI) und die „Habeas-Data-Garantie" (Art. LXXII), hervor. Durch erstere wird die Klagefähigkeit zur klassischen Sicherheit des brasilianischen Verfassungsrechts 110 auf die im Nationalkongreß vertretenen politischen Parteien, die Gewerkschaften, Berufsverbände und andere rechtmäßig eingerichtete Interessenverbände ausgedehnt.111 Der „Mandado de Injunçâo" soll erteilt werden, wenn mangels der Durchführungsvorschriften „die Ausübung der konstitutionellen Rechte und Freiheiten und der der Nationalität, Souveränität und Staatsangehörigkeit innewohnenden Vorrechte ungangbar wird." 1 1 2 Die „Habeas-Data-Ga108 Hierzu Michiles et al., 1989. Außerdem ist anzumerken, daß gemäß der Verfassungsänderung N. 25 vom 15.5.1985 die Analphabeten an der Wahl der 487 Bundesabgeordneten und 72 Senatoren des konstituierenden Kongresses teilnahmen, was trotz aller wirklichen Gegenfaktoren eine Erweiterung der populären Partizipation am verfassunggebenden Verfahren implizierte. 109 Dementsprechend kennzeichnet Ferraz Jr. (1989: 28 ff.) die Verfassung von 1988 allein im Hinblick auf die Erwartung ihrer zukünftigen Verwirklichung als legitime Verfassung (vgl. unten Anm. 134 des Kap. VI.). 11° Unter „Mandado de Segurança" („Sicherungsmandat")versteht man nach den brasilianischen Verfassungsurkunden die Sicherheit zum Schutz der „unanfechtbaren Rechte" bzw. „eindeutig begründeter Rechtsansprüche" („direitos liquidos e certos") vor ungesetzlichen Akten oder Machtmißbrauch seitens der Obrigkeit, wenn es sich dabei nicht um die Fälle von „Habeas-Corpus" (s. oben Anm. 97 dieses Kap.) oder — nach der Verfassung von 1988 — „Habeas-Data" handelt (vgl. die Verfassungstexte von 1934, Art. 113 Abs. 33; von 1946, Art 141 § 24; von 1967, Art. 150 § 21; von 1969, Art. 153 § 21; von 1988, Art. 5. LXIX). m Hierzu s. in rechtsdogmatischer Perspektive Calmon de Passos, 1989: 6-78; Barbi, 1990a: 68 ff. h 2 Über die geschichtliche Herkunft des „Mandado de Injunçâo" und dessen Bedeutung im brasilianischen Verfassungstext von 1988 s. Bonavides u. Andrade, 1989: 50013. Zur rechtsdogmatischen Betrachtungsweise s. Calmon de Passos, 1989: 79-135; Barbi, 1990b; J. A. Silva, 1990; Theodoro Junior, 1990: 147 ff. (vgl. unten S. 158 f.).

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2. Teil, Kap. IV: Entstehung und Wirkung der brasilianischen Verfassungstexte

rantie" ist zu erteilen, um dem Antragsteller die Kenntnisnahme der über seine Person in amtlichen oder öffentlichen Registern und Datenbanken gespeicherten Informationen sowie die entsprechende Berichtigung der Daten zu ermöglichen. 113 Hinsichtlich der demokratischen Partizipation wurden die Möglichkeiten der Volksabstimmung erweitert, das Referendum und die populäre Gesetzesinitiativen eingeführt (Art. 14, Art. 27 § 4., Art. 49 X V und Art. 61 § 2.), offensichtlich unter Einfluß des schweizerischen Verfassungsrechts. Außerdem wurde die Wahlberechtigung der Analphabeten gesichert und die Volljährigkeit für das Wahlrecht auf die Vollendung des sechzehnten Lebensjahres gesenkt (Art. 14 § 1. I I a und c), so daß auf der Ebene des Verfassungstextes die Allgemeinheit der Wahl unbestreitbar geworden ist. Nach dem neuen Verfassungstext wird die Autonomie der Legislative und Judikative gesichert, also die „Gewaltenteilung" im Sinne der Demokratien Europas und Nordamerikas wieder aufgenommen. Was den Föderalismus anbelangt, setzte sich eine dezentralisierende Orientierung durch, erweiterten sich die Zuständigkeit der Bundesstaaten und Stadtgemeinden zuungunsten der Bundeskompetenz (Art. 21-24 u. 30). Im Bereich des Sozial- und Arbeitsrechts läßt sich ein formaler Sieg der Arbeitnehmer feststellen. 114 Die Erweiterung des sozialen Rechts (Art. 6. — 11), einschließlich des Streikrechts (Art. 9.), und die Bestimmungen über die Sozialordnung (Art. 193-232) weisen sehr deutlich auf einen entwickelten Wohlfahrtstaat hin. Was die Wirtschafts- und Finanzordnung betrifft (Titel VII, Art. 170-192), drücken sich protektionistische und nationalistische Tendenzen aus. 115 Die Vorschriften über die Vorrechte der brasilianischen Unternehmen (Art. 170 IX, Art. 171 § 1. u. § 2., Art. 176 § 1.) wurden vor allem von Vertretern der multinationalen Konzerne scharf kritisiert. Zur Finanzordnung gehört die vielleicht umstrittene Bestimmung der Verfassungsurkunde, der Art. 192 § 3., welcher mit strafrechtlichen Folgen die Zinssätze auf höchstens 12 % pro Jahr begrenzt. Diese Verfassungsvorschrift könnte als Anzeichen für die Kompromißlosigkeit der „freigebigen" Verfassunggeber mit der Verfassungswirklichkeit angesehen werden. Anders ist die Situation, wenn die Aufnahme von sozialen Forderungen im Verfassungstext den Status quo bedroht, wie im Fall des Streites um den Umfang der sozialen Enteignung zwecks Agrarreform, die in Aussicht stand. Hierbei konnten die Großgrundbesitzer mit großer Mehrheit ihre Interessen durchsetzen: 113

Hierzu s. unter rechtsdogmatischem Gesichtspunkt Calmon de Passos, 1989: 13655; Theodora Junior, 1990: 143-47. Kritisch, die Untauglichkeit dieser neuen Verfassungsgarantie behauptend vgl. Cretella Junior, 1988. 114 In diesem Sinne vgl. Barelli, 1989. u 5 Vgl. Carvalhosa, 1989: 106 ff., allerdings noch in bezug auf den Verfassungsentwurf.

. Der Verfassungs

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Entsprechend dem verabschiedeten Text dürfen nur die nicht produktiven Grundstücke zwecks Agrarreform enteignet werden (Art. 185 II). Es geht um einen klaren Rückgang gegenüber den entsprechenden Verfassungsbestimmungen (Art. 157 der Verfassungscharta von 1967 und Art. 161 nach der Fassung von 1969) und Gesetzen (besonders dem Statut der Agrarreform — LEI N. 4.504/64) der konservativen Militärregimes, deren Effektivität aber immer verschoben wurde. Nicht zuletzt ist hier anzumerken, daß der neue Verfassungstext eine umfangreiche Normierung zum Schutz der Umwelt bietet (Art. 225). Hier geht es anscheinend um die Öffnung des Rechtssystems für die „Bürgerrechte der vierten Generation" sowie um dessen Antwort auf die gravierenden ökologischen Probleme Brasiliens. Beschränkten sich die Beobachter darauf, diese Verfassungsurkunde zu lesen, könnte sie die täuschende Vorstellung eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates oder zumindest der „guten Absichten" der Machthaber suggerieren. Die Beobachtung der entsprechenden Verfassungswirklichkeit würde sie tief enttäuschen: Es besteht keine Demokratie als Machtkreislauf von Politik, Verwaltung und Publikum, geschweige denn als Integration einer pluralistischen Öffentlichkeit in das Verfassungssystem. Durch die Ausarbeitung der Verfassung von 1988 wurde der Übergang vom Verfassungsinstrumentalismus zu einem neuen Verfassungsnominalismus vervollständigt. Es gibt bisher keine sichere Aussicht auf die Verwirklichung des demokratischen und sozialen Rechtsstaates, der in der Verfassungsurkunde angedeutet wurde. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt nach wie vor unter elenden Bedingungen, 116 so daß die Verfassungsmechanismen der demokratischen Partizipation leicht manipuliert werden können und die umfassende Erklärung der Grundrechte sowie die „freigebigen" wohlfahrtstaatlichen Verfassungseinrichtungen als hübsche Fassaden zu bezeichnen sind. Die Verkündung des demokratischen und sozialen Rechtsstaates anhand des Verfassungstextes spielt eine symbolisch-ideologische Rolle. Außerdem entsteht die Verfassung im Kontext einer sich immer verschärfenderen peripheren Wirtschaftskrise in Brasilien, die die Befolgung und Durchsetzung der Verfassung noch erschwert. In dieser entrechtlichenden Konstellation tendieren die Machthaber dazu, den Erfordernissen des Wirtschaftssystems das Verfassungsrecht zu opfern, wie man gegenüber dem Mißbrauch der im neuen Verfassungstext (Art. 84 X X V I u. Art. 62) verankerten „vorläufigen Maßnahmen mit Gesetzeskraft" durch den Präsidenten der Republik argumentieren könnte. 117 So werden in diesem immer komplexer werdenden peripheren Zusammenhang der (modernen) Weltgeselln6 Hierzu s. die umfangreiche statistische Analyse von Jaguaribe et al., 1986; zusammenfassend Fleury Teixeira, 1989: 47-54. Die Verschärfung der Situation während des „modernisierenden" Militärregimes (1964-1985) betonend vgl. NEPP-UNICAMP, 1986: 16, im Rahmen eines umfangreichen statistischen Berichts. 117 Diese Situation wird besonders deutlich durch die Versuche der Regierung, die am 15.3.1990 das Amt antrat, Wirtschafts- bzw. Finanzreform einzuführen. Vgl. auch unten S. 202 f.

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2. Teil, Kap. IV: Entstehung und Wirkung der brasilianischen Verfassungstexte

schaft die Blockierung oder Entstellung der Verfassungskonkretisierung und in Verbindung damit das Außerachtlassen des autonomen (positiven) Rechtscodes unter bestimmten Aspekten problematischer als in den weniger komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen der früheren brasilianischen Verfassungstexte. 118

8. Der Teufelskreis von Verfassungsnominalismus und Verfassungsinstrumentalismus Der hier vorgelegte Überblick über die Entstehungszusammenhänge und Wirkungsbedingungen der brasilianischen Verfassungstexte führt ersichtlich zum folgenden Schluß: es fehlte immer in Brasilien „normative" Verfassung im Sinne der Demokratien Europas und Nordamerikas, also Verfassung im modernen Sinne als grundlegende reflexive Instanz des Rechtssystems, Voraussetzung und Ergebnis der Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts (s. oben Kap. II. 2). Es handelt sich um externe Asymmetrisierung des Rechtssystems (s. oben Kap. III. 2.) auf der Ebene des Verfassungsrechts, sei es, weil mangels der gesellschaftlichen Bedingungen die Konkretisierung der importierten Verfassungsnormen ausgeschlossen oder verzerrt wird (Nominalismus), oder weil das Rechtssystem unmittelbar durch die Verfassungscharta oder die sie verändernden Verfassungsgesetze dem Machtcode untergeordnet wird (Instrumentalismus). Kennzeichnend für beide Fälle ist die Entdifferenzierung des Rechtssystems, aber im ersten wegen des Nicht-Funktionierens der Verfassungsnormen als reflexive Mechanismen innerhalb des Rechtssystems, im zweiten wegen des Funktionier ens von Gesetzen, Akten, Prinzipien u. ä. mit Verfassungskraft, die es dem politischen System direkt unterwerfen. Die Grenzen zwischen den beiden Situationen sind jedoch fließend; nur durch das Vorherrschen von nominalistischen oder instrumentalistischen Zügen läßt sich diese Klassifikation auf die Gesamtheit des Verfassungssystems übertragen (vgl. S. 111). Außerdem ist das Nicht-Operieren des autonomen Verfassungscodes nicht nur Faktor des Versagens des umfassenderen positiven Rechtscodes, sondern auch ein Ergebnis desselben: vorausgesetzt, daß der Code Recht / Unrecht blockiert oder fremdbestimmt ist, wird es bedeutungslos, von Verfassungsmäßigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit von positiven Rechtsnormen zu sprechen. 119

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Neuerdings berücksichtigt Luhmann ( 1990 b: 212 -14) das Problem der Verfassung in den peripheren Ländern (ohne diesen Ausdruck zu verwenden) als Angelegenheit einer nicht mehr traditionellen Gesellschaft (213) und verweist auf die Entwicklungstendenzen in Brasilien (214) als unvereinbar mit der „Trennung und operative(n) Geschlossenheit der beiden Systeme Politik und Recht" (212), in seiner Perspektive also mit Verfassung als struktureller Kopplung von Recht und Politik. Vgl. oben Anm. 111 des Kap. III. us Zur Einsicht eines autonomen Verfassungscodes innerhalb des Rechtssystems vgl. Luhmann, 1990b: 188 f.

8. Verfassungsnominalismus und Verfassungsinstrumentalismus

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Das hier dargestellte Bild des Abwechseins zwischen Verfassungsnominalismus und -instrumentalismus, welches sich der oben (Kap. III. 3.) aufgestellten These annähert, wurde von konservativen, 120 autoritären Kritikern als Ausdruck jeweils des utopischen Idealismus bzw. „Rechtsilluminismus" und des organischen Idealismus bzw. objektiven Realismus interpretiert. 121 Besonders durch die Kritik des „utopisch-idealistischen" Charakters der Verfassung von 1891 setzten sich diese Ideologen für einen „Nationalstaat" ein, welcher der eigentümlichen Identität des Landes (dessen „Realität") zu entsprechen gehabt hätte (s. oben S. 125 f.). Demnach wurde der Autoritarismus der Charta von 1937 gelobt. 1 2 2 Später wird dieselbe dichotomische Einordnung benutzt als Rechtfertigung für den Bruch mit der nominalistischen Verfassung von 1946 und die Einführung des Verfassungsinstrumentalismus durch den Militärputsch von 1964. 123 Obwohl sich die konservative Kritik an den nominalistischen Verfassungen von 1824, 1891,1934 und 1946 als Ausdruck von „utopischen Idealismen" nicht vollständig zurückweisen läßt, 124 wird dadurch die symbolisch-ideologische Rolle der Verfassungstexte außer acht gelassen und sogar die Vorstellung der „naiven", „guten Absichten" der „träumerischen" Verfassunggeber oder Reformer vermittelt. 1 2 5 Außerdem wurden unter den Stichworten „organische Politik", 1 2 6 „organischer Idealismus", „objektiver Realismus" und „nationaler Realismus" autoritäre Lösungen verteidigt (1937 und 1964), die eigentlich eher zur Aufrechterhaltung der ausschließenden Gesellschaftsstruktur und zur Stabilisierung der die Privilegien von Minderheiten absichernden Machtverhältnisse beitrugen als zur Überwindung des peripheren, unterentwickelten Zustandes im Land. Der Bruch mit diesem Teufelskreis von Verfassungsnominalismus und Verfassungsinstrumentalismus in der immer komplexer werdenden, die Ausdifferenzierung des Rechtssystems und innerhalb dessen die Innendifferenzierung einer Verfassung als reflexiver Instanz erfordernden brasilianischen Gesellschaft impliziert offensichtlich den Bruch mit ihrer riesige soziale Schichtungskluften bewah120 Wenngleich sich anerkennen läßt, daß hinsichtlich des Wohlfahrtstaates der Code „konservativ / progressiv" unbefriedigend funktioniert (Luhmann, 19811:70 ff., 90,145), bleibt die Bezeichnung „konservativ" in den peripheren Ländern immer noch sehr bedeutsam in dem Maße, wie es um die auf die Aufrechterhaltung der ausschließenden sozialen Struktur in einer komplexen Gesellschaft gerichteten Haltungen bzw. TTieorien handelt. 121 Vgl. Vianna, 1939: insb. 7 ff., 303 ff.; Reale, 1983: 67. 122 So ζ. Β. bei Vianna (1939: 121ff) und Amarai (1981: 83 ff.). 123 Vgl. Reale, 1983: 66 f.; Franco Sobrinho, 1970: 59 ff. Ich halte aus demselben Grund von der ideologisch beladenen, begrifflich ungenauen Unterscheidung zwischen Systole und Diastole der Macht bzw. des Staatslebens Abstand; vgl. Couto e Silva, 1981: 5 ff.; Chacon, 1977: ζ. Β. 29. 124 Demnach wird sie unter anderen Voraussetzungen und nicht mit autoritär-konservativen Implikationen rezipiert wie ζ. B. von Faria (1985: 19 ff.) und Michiles, Ramalho u. Martins (o. J) . 125 Außer dem oben genannten Hinweis (Anm. 44 dieses Kap.) vgl. Vianna, 1939: 16, 60, 65. 126 Hierzu Torres, 1978: 160 ff. 10 Neves

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2. Teil, Kap. IV: Entstehung und Wirkung der brasilianischen Verfassungstexte

renden modern-peripheren Struktur, dessen Voraussetzungen, Wege und Konsequenzen von komplexen Variablen abhängen und immer noch Inkognitos bilden, die sich nur im Laufe des geschichtlichen Prozesses der heutigen Weltgesellschaft bestimmen lassen. Es handelt sich aber auf keinen Fall um den Einsatz des „Modernisierungsprozesses", der als periphere Modernisierung keineswegs die gesellschaftlichen Voraussetzungen für das Funktionieren der „normativen Verfassung" und die Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts schafft, wie die autoritäre Erfahrung von 1964-1984 in Brasilien bewies.

Kapitel V

Verfassung und Umwelt des Rechtssystems 1. Verfassung und Gesellschaft. Funktionsprobleme 1.1. Verfassung, Rechtsfunktion und Rechtscodierung Anhand der im letzten Abschnitt dargestellten Elemente läßt sich im Hinblick auf den Fall Brasilien feststellen, daß im Verhältnis zwischen Rechtssystem und dem umfassenden System der Gesellschaft Funktionsprobleme auftreten, die letztlich auf die Verfassungsnormen zurückzuführen sind. Hier wird nach Luhmanns Muster davon ausgegangen, daß die „kongruente Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen" die primäre Funktion des Rechts bildet (vgl. oben S. 23 f.), obwohl es auch die wichtige Funktion der Verhaltenssteuerung erfüllt (s. oben S. 86-88). Es handelt sich um die Systemreferenz des Rechtssystems in bezug auf die Gesellschaft als umfassendes Sozialsystem (vgl. oben S. 113)1 und zugleich seine Umwelt. 2 In diesem spezifischen Sinne bezieht sich die Rechtsfunktion weder auf „die Befriedigung einiger Hauptbedürfnisse des Menschen",3 also auf die menschliche Umwelt der Gesellschaft, 4 noch als Leistungen auf die anderen Teilsysteme der Gesellschaft (s. Abschn. 2. dieses Kap.). 5 Außerdem 1 „Gesellschaft ist das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander reichbaren Handlungen " (Luhmann, 1975 c: 11). An dieser Stelle bezieht sich Luhmann spezifisch auf die anderen Systemtypen (Interaktion und Organisation); aber dieselbe Formulierung gilt für die Funktionssysteme (Teilsysteme der Gesellschaft). 2 „In funktional differenzierten Gesellschaften bringt die Funktion eines Teilsystems seine Beziehung auf das Gesellschaftssystem im ganzen zum Ausdruck. Genaugenommen müßte man eigentlich sagen: die Beziehung auf die eigene Umwelt, sofern und soweit sie gesamtgesellschaftliches System ist" (Luhmann u. Schorr, 1988: 35). „Die Gesellschaft als Gesamtsystem [kann] bei funktionaler Differenzierung sich nur noch als Umwelt ihrer Teilsysteme integrieren" (Luhmann, 1982: 55). 3 So aber Bobbio, 1977b: 112. Nach Schelsky (1970: 57 ff.) ginge es dabei um „die anthropologische Funktion des Rechts". Vgl. auch Maihofer, 1970: 32 ff. 4 Demnach wird der Mensch nicht als Teil, sondern als Umwelt der Gesellschaft betrachtet (vgl. Luhmann, 1987a: 133 f., 1987b: 286 ff.). Bei Bobbio (1977b: 111-113) unterscheiden sich hingegen Funktion des Rechts in bezug auf „die Gesellschaft als Ganzheit" und dessen Funktion im Hinblick auf die Individuen als „Bestandteile" dieser Ganzheit. 5 Geläufig wird die hier aufgenommene Luhmannsche Unterscheidung zwischen Leistung und Funktion nicht benutzt, so daß sich „die gesellschaftliche Funktion des Rechts" als „eine Leistung des Rechts für die Gesellschaft" (Maihofer, 1970: 25) definieren läßt. Der Hinweis von Bobbio (1977 b: 113-15) auf verschiedene Niveaus der Funktion

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er-

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2. Teil, Kap. V: Verfassung und

echtssystems

läßt sich hier das Versagen des Rechtssystems in seinen erwartungssichernden und verhaltenssteuernden Funktionen nicht durch die Konfrontation von positiver Funktion mit negativer Funktion und Dysfunktion analysieren, falls man dadurch jeweils auf die Aufrechterhaltung der Gesellschaft, deren Veränderung und die „pathologischen" Effekte der Funktion verweisen möchte.6 Vorausgesetzt, daß die Positivität als Änderbarkeit des Rechts raschen sozialen Wandel impliziert (vgl. Kap. I.3.3.), ist zu schließen, daß es durch die Funktionen der Erwartungssicherung und der Verhaltenssteuerung auf eine sich stetig verändernde soziale Umwelt antworten. 7 Es scheint hier sinnvoller zu sein, zwischen Funktionalität, Dysfunktion und mangelhaftem Funktionieren des Rechtssystems zu unterscheiden: erstere führt zur umweltlich adäquaten, kongruenten Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen (in diesem Sinne kann auch das revolutionäre Recht ersichtlich funktional sein); Dysfunktionen treten durch die Rechtssetzung von dafür inadäquaten Einrichtungen auf (Überregulierung, Formenmißbrauchsmöglichkeiten, instrumentalistische Einsetzungen u. s. w.); letzteres resultiert aus der mangelhaften bzw. fehlerhaften Konkretisierung der gesetzten Rechtsnormen, die nach ihrem abstrakten Inhalt zur normativen Erwartungssicherung und Verhaltenssteuerungen in einer hochkomplexen Gesellschaft umweltadäquat beitragen könnten. Was die vorliegende Untersuchung betrifft, drücken sich diese drei Möglichkeiten durch die Begriffe jeweils von normativen, instrumentalistischen und nominalistischen Verfassungen aus. Es ist aber hier zu beachten, daß die Dysfunktion oder das mangelhafte Funktionieren des Rechts in diesem Sinne Funktionalität in anderen Gesellschaftsbezügen bedeuten kann. Die Verfassungsnormen werden hier als Kriterien bzw. Programme zur Aktualisierung des Codes Recht / Unrecht 8 gegenüber der Gesellschaft als Umwelt des Rechtssystems begriffen. 9 — Obwohl sich von einem gegenüber dem Rechtscode unabhängigen Code „constitutional / unconstitutional" sprechen läßt, 10 besonders impliziert deutlich die Unterschiedslosigkeit zwischen Funktion und Leistung in dem hier verwendeten Sinne. 6 Vgl. aber in diesem Sinne Bobbio, 1977 b: 99-102. 7 Es handelt sich also nicht um die Funktion der Aufrechterhaltung des sozialen Systems im Rahmen des von Schelsky (1970: 51-57) im Anschluß an Parsons (1967) unternommenen systemfunktionalen Ansatzes des Rechts. 8 Über die Differenz von Code und Kriterien bzw. Programmen vgl. Luhmann, 1986 a: 82 f., 89 ff.; spezifisch in bezug auf das Rechtssystem ders., 1986c: 194 ff. Im Anschluß an ihn, aber mit anderen („pluralistischen") Implikationen, s. Teubner, 1989: 127 ff. 9 „Programm ist nun alles, was in Übereinstimmung mit den die Programmierung regelnden Rechtsregeln (und es gibt Programmierung der Programmierung einschließlich der Programmierung von) für die Funktion der Zuordnung von Cordewerten zu Tatbeständen bereitgestellt ist: Verfassung, Gesetze, Verordnungen, Gerichtsentscheidungen mit offizieller Präjudizwirkung und vor allem: Verträge; kurz: das gesamte positive Recht" (Luhmann, 1986c: 196 f.). Bei Eröffnung verfassunggebenden („konstituierenden") Prozesses im strikten Sinne handelt es sich aber um den Grenzfall der nicht positiv-rechtlich programmierten Rechtsprogrammierung. 10 Vgl. Luhmann, 1990b: 188 f.

1. Verfassung und Gesellschaft. Funktionsprobleme

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wenn man die Verfassung als strukturelle Kopplung zwischen Politik und Recht betrachtet, 11 wird in der Beobachtungsperspektive dieser Arbeit die Verfassung primär als Teilsystem des positiven Rechts, nämlich als Verfassungsrecht, konzipiert (vgl. oben S. 50), so daß der Verfassungscode eine bereichsspezifische Anwendung des Rechtscodes darstellt. — Als Programme können sie sich in lernfähiger Einstellung zur Umwelt verändern (Offenheit des Rechtssystems), ohne daß auf der Ebene der Codierung das Rechtssystem seine Identität und Geschlossenheit verliert. 12 Werden aber die Verfassungsnormen als Kriterien „für die Richtigkeit der Selektion von Operationen" (Programme) 13 in der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems außer acht gelassen oder nicht-rechtlichen Programmen direkt untergeordnet, so werden auf der Ebene der Codierung die Einheit und Autonomie des Rechtssystems beeinträchtigt. 14 Die Frage lautet dann: wie kann der Handelnde in einer komplexen Gesellschaft sicher sein, sich im Recht oder im Unrecht zu befinden (Erwartungssicherung), wenn auf der Ebene der Verfassung als grundlegender reflexiver Instanz des Rechtssystems dessen Zirkularität (Positivität) gebrochen wird und damit dessen Einheit in Frage gestellt werden kann? Durch die Auflösung von allgemeingültigen, morallegitimierten Wertvorstellungen in der Moderne wurde die kongruente Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen vom Zurückgreifen auf Verfassungen abhängig (s. oben S. 51 ff.), die dem umweltadäquaten Funktionieren des Rechtssystems in einer „differenzierten Sozialordnung" dienen.15 Die Funktionsprobleme bestehen darin: In dem Maße, wie Verfassung als lernfähiger Mechanismus der Verknüpfung des Rechtssystems mit einem differenzierten umweltlichen Kommunikationszusammenhang versagt bzw. fehlt, scheitert das Recht einer komplexen Gesellschaft in seiner Funktion kongruenter Generalisierung von Verhaltenserwartungen sowie als Mittel der Verhaltenssteuerung. Solche Situationen ergeben sich aus den Divergenzen zwischen Zeit-, Sozialund Sachdimension, also zwischen Normierung, Institutionalisierung und Sinnidentifikation als Generalisierungsmechanismen. 16 Daß der offiziellen Normierung, hier Verfassungsnormierung, keine Institutionalisierung der jeweiligen Verfassungserwartungen entspricht, gehört zum Alltag der peripheren Länder. 17 Aber

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Zu dieser von Luhmann vorgeschlagenen Einsicht s. Abschn. 2.2.4. dieses Kap. 12 Luhmann, 1986a: 83, 91. 13 Luhmann, 1986 a: 91. ι* Die Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts impliziert, daß eine Hierarchie „nur in der Unterordnung der Programme unter die Codes liegen (kann)" und daß Programme „nur noch in Zuordnung zu bestimmten Codes formuliert und nicht von Code zu Code übertragen werden" (Luhmann, 1986 a: 94). ι 5 Das gilt auch für das politische System, wenn die Verfassung darin eingeordnet wird wie bei Luhmann, 1965: 14 ff. 16 Vgl. hierzu Luhmann, 1987 a: 94 ff. 17 Luhmann ( 1987 a: 96 Anm. 114) betrachtet dieses Problem im Rahmen der Modernisierungstheorie. Neuerdings aber nimmt er eine andere Einstellung zum Problem der

1 5 0 2 .

Teil, Kap. V: Verfassung und

echtssystems

dabei entfällt auch die generalisierte sachliche Identifikation der gesetzten Verfassungsprogramme, insoweit die Verfassungswidrigkeit der Handlungen offizieller Agenten oder überintegrierter Individuen und Gruppen außer Betracht bleibt bzw. als „rechtmäßig" behandelt wird. 18 Außerdem wird die sachliche Generalisierung dadurch betroffen, daß die Unterordnung des Rechts unter den politischen Code die Identifikation des Verfassungsprogramms für die normative Erwartungssicherung nicht ermöglicht: In diesem Fall „sollte " man auf die ideologischen Prinzipien des politischen Systems zurückgreifen, um die Situation „rechtlicher" Unsicherheit für die handelnden Individuen bzw. Gruppen zu entschärfen (Verfassungsinstrumentalismus). 19 In Brasilien führten die Komplexitätssteigerung der Gesellschaft und die Auflösung der traditionalen moralischen Vorstellungen auf keinen Fall zum Funktionieren des Rechtssystems auf der Basis einer Verfassung als rechtlicher Antwort auf einen differenzierten umweltlichen Kommunikationszusammenhang. Die Verfassungsurkunden implizierten niemals Verfassungen als normativ-zeitlich, sozial und sachlich generalisierte Selektionsprogramme, von denen die verallgemeinerte Kongruenz der erwartungssichernden und der verhaltenssteuernden Funktion des Rechtssystems in einer differenzierten Sozialordnung abhängen. Obwohl in bezug auf die früheren Verfassungserfahrungen, insbesondere diejenigen des „Kaiserreichs" (Verfassungscharta von 1824) und der „Ersten Republik" (Verfassungstext von 1891), man darauf bestehen könnte, auf die Einwirkung von Traditionalismen als Erklärung des Nicht-Funktionierens von Verfassungen zu verweisen, zeigt sich sehr deutlich durch die rasche Verstädterung 20 und Industrialisierung der drei letzten Jahrzehnte, 21 daß die Auflösung von traditionelVerfassung in den peripheren Ländern an, das nicht mehr nach dem Schema »Tradition / Modernität' behandelt wird (vgl. oben Anm. 118 des Kap. IV.). ι 8 Im Gegensatz dazu kommen Divergenzen dadurch zutage, „daß sehr wohl ein Interesse daran bestehen kann, Werte oder Programme in der Form des bloß Wünschenswerten zu belassen, sie also zwar sachlich zu identifizieren, sie aber nicht als festzuhaltende, durch Enttäuschungen betroffene Erwartungen zu normieren" (Luhmann, 1987 a: 97) wie ζ. B. bezüglich mancher ökologischer Probleme in den sogenannten Industrieländern. So werden die ideologisch integrierten Systeme von den Rechtsstaaten bei Luhmann (1984c: 193-96) unterschieden. Das Problem besteht aber darin, daß in den peripheren Ländern der Verfassungsinstrumentalismus (Autoritarismus) in der Regel (typisch im Fall Brasilien) keine konsistente ideologische Einheit impliziert (ich komme darauf zurück). 20 Nach offizieller Statistik (IBGE, 1989: 79) stieg der Anteil städtischer Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung Brasiliens von 44,67% (31.303.034 unter 70.070.457) im Jahr 1960 auf 67,59% (80.436.409 unter 119.002.706) im Jahr 1980. Laut Projektion auch des IBGE (1989: 76 f.) stieg er auf 74,98% (112.743.700 unter 150.367.800) im Jahr 1990. 21 Nach dem Weltentwicklungsbericht 1989 (Weltbank, 1989) ist Brasilien der Welt achtgrößte Industrieproduzent (vgl. ebd. 199), siebtgrößter in bezug auf das verarbeitende Gewerbe (vgl. ebd. 205.). Der Bericht weist auf das Jahr 1987 bzw. 1986, aber die Situation ist seit 1970 grundsätzlich gleich geblieben (der achtgrößte Produzent im verarbeitenden Gewerbe — vgl. ebd. 205). Er schließt allerdings die Nicht-Mitgliedländer der Weltbank aus.

1. Verfassung und Gesellschaft. Funktionsprobleme

151

len Wertvorstellungen und die Komplexitätssteigerung der Gesellschaft keineswegs die Verwirklichung einer Verfassung als rechtlichen Faktor und Ausdruck der systemrationalen Differenzierung der Gesellschaft förderten. Für die Mehrheit der Bevölkerung, d. h. die Subintegrierten bzw. Unterbürger, bleiben der Handlungs- und der Erlebenshorizont im weiten Umfang außerhalb der Verfassungsprogramme. Andererseits verfügen die Überintegrierten nach wie vor über die Verfassungsnormen. Unter diesen Umständen tragen die Verfassungstexte nicht oder nur sehr unzulänglich zur kongruenten Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen im Rahmen des positiven Rechtssystems bei. Das wird durch die Betrachtung der Grundrechte als Institution und der wohlfahrtsstaatlichen Verfassungsnormen (die auch im Bereich der Grundrechte zu behandeln sind) klar erkennbar. Es handelt sich hierbei um die Funktion (i. e. S.: Beziehung zum Gesellschaftssystem im ganzen) der Verfassung, also die Antwort des positiven Rechts auf die Anforderung der modernen, hochkomplexen Gesellschaft nach Systemdifferenzierung bzw. Inklusion.

1.2. Grundrechte als Institution Luhmann ordnet die „Grundrechte als Institution der Erhaltung einer differenzierten Kommunikationsordnung" 22 in fünf Haupttypen ein: „die Individualisierung der Selbstdarstellung: Würde und Freiheit"; „die Zivilisierung der Verhaltenserwartung: Kommunikationsfreiheit"; „die Monetisierung der Bedarfsdeckung: Eigentum und Beruf; „die Demokratisierung der Herrschaft: politisches Wahlrecht"; „die Begründung der Staatsentscheidungen: Gleichheit vor dem Gesetz".23 Konfrontierte man diese Klassifikation mit den brasilianischen Verfassungstexten, ließe sich daraus ein evolutionärer Prozeß in der brasilianischen Verfassungsgeschichte herauslesen, der nur durch die autoritären Erfahrungen von 19371945 und 1964-1985 unterbrochen gewesen wäre. Nach dieser mißverständlichen Lektüre hätte eine Entwicklung von den begrenzten grundrechtlichen Verfassungseinrichtungen der Charta von 1824 auf den vollständigen Ausbau der Grundrechte in der Verfassung von 1988 hin stattgefunden. Die Berücksichtigung der Verfassungswirklichkeit weist aber offensichtlich auf eine anhaltende Erfahrung der Mißachtung der in den Verfassungstexten vorgeschriebenen Grundrechte hin. Trotz der offiziellen Verfassungsnormierung bestehen nach wie vor weder Institutionalisierung (unterstellter Konsens) noch generalisierte Sinnidentifikation der Grundrechte. 24 22 Luhmann, 1965: 25; „sie sind deshalb alles andere als ,ewige Menschenrechte4" (1965: 23). Hier ist außerdem anzumerken, daß „Erhaltung einer differenzierten Kommunikationsordnung" den stetigen Gesellschaftswandel impliziert, dem also die Grundrechte auch dienen. 23 Es handelt sich hierbei um die Titel der Kapitel 4. bis 7. des Werks von Luhmann „Grundrechte als Institution" (1965).

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2. Teil, Kap. V: Verfassung und

echtssystems

In diesem Kontext wird die Ausübung der Bürgerrechte „stetig mit Subversion identifiziert", 25 was sowohl für das Erleben der Subintegrierten („Unterbürger") als auch für das der Überintegrierten wichtige Bedeutung hat. 26 Die Situation läßt sich nicht eindeutig als Nicht-Integration der verelendeten Bevölkerung in das Verfassungssystem interpretieren. Es ist die Beziehung von Über- und Subintegration in die Teilsysteme einer modernen, komplexen Gesellschaft, hier spezifisch in das Rechts- bzw. Verfassungssystem, die die sachliche und soziale Generalisierung der Verfassungserklärungen von Grundrechten in der brasilianischen Erfahrung verhindert, wenn sie nicht einfach durch autoritäre Verfassungsnormierung außer Kraft gesetzt werden. Negativ gesehen hängt das Problem davon ab, daß die Ausübung der Grundrechte die Befriedigung der lebenswichtigen Bedürfnisse voraussetzt: Individualisierung der Selbstdarstellung, Zivilisierung der Verhaltenserwartungen, Monetisierung der Bedarfsdeckung, Demokratisierung der Herrschaft und Gleichheit vor dem Gesetz verlieren jede ernstzunehmende Bedeutung unter den nicht grundsätzlich veränderten Bedingungen der Verelendung, die die brasilianische Gesellschaft nach wie vor auszeichnet.27 Aber andererseits gibt es eine damit untrennbare positive Dimension in der Frage der Grundrechte, deren stetige Verletzung durch staatliche Agenten oder außerstaatlich Handelnde, so daß unabhängig von Inkraftsetzung instrumentalistischer Verfassungen ihre Ausübung bzw. Wahrnehmung verhindert und die hypothetischen Wege zu ihrer Institutionalisierung verbaut werden. Das Komplexwerden der Gesellschaft spielt dabei keine entscheidende Rolle, es führt aber zur Veränderung in den Formen der Beiseitesetzung der in den Verfassungsurkunden erklärten Grundrechte: Von deren Verletzung in erster Linie durch die außerstaatliche Lokalmacht der Großgrundbesitzer während des „Kaiserreichs" fand eine Entwicklung zu den heute bedeutsameren Formen ihrer Mißachtung durch die positive Handlung von Staatsbeamten statt, namentlich der Polizei. 24 Das Konzept der Institutionalisierung hat auch einen umfassenden Sinn, in dem es die Zeit-, Sozial- und Sachdimension, also Normierung, unterstellten Konsens und generalisierte Sinnidentifikation einbezieht (s. oben Anm. 105 des Kap. I.). Mayhew (1968: 19) weist seinerseits auf drei unentbehrliche Momente für die rechtliche Institutionalisierung eines Wertes hin: 1) „one interpretation of the value is legally enforceable (legal interpretation)"; 2) „there is machinery for invoking sanctions against violations (legal organization)"; 3) „the legal machinery is systematically invoked in cases of possible violations of the norm" („systematic enforcement"). 25 Velho, 1980: 364. Das gilt offensichtlich nicht nur für die Bürgerrechte i. e. S. als die Grundrechte auf die politische Partizipation, sondern auch für die Zivilrechte, so daß sich die Frage nach ihrer Existenz in Brasilien negativ beantworten läßt (so, allerdings unter naturrechtlichen Voraussetzungen, Bicudo, 1982). Zu einem umfassenden, die Zivilrechte, politische und soziale Rechte einbeziehenden Begriff der Bürgerrechte s. Marshall 1976: 71 ff.; im Anschluß an ihn Bendix, 1969: 92 ff. 26 Als treffendes Beispiel erwähnt Velho (1980: 363) die „berühmte" Behauptung eines Politikers, daß „es eine Absurdität war, daß die Stimme seiner Waschfrau den gleichen Wert hatte wie die seine." 27 Zu den statistischen Belegen s. die bibliographischen Hinweise Anm. 116 des Kap. IV.

1. Verfassung und Gesellschaft. Funktionsprobleme

153

Die Verletzung der Grundrechte durch die unrechtmäßige Gewalttätigkeit hat eine schwerwiegende Bedeutung in der brasilianischen Erfahrung ein. Der Anteil der polizeilichen Kriminalität hieran ist in den letzten drei Jahrzehnten stark gestiegen.28 Diese Situation ist auf keinen Fall mit den „Selektionsfaktoren" der Durchsetzung des Rechts in den zentrischen Ländern gleichzustellen oder positiv zu vergleichen (vgl. oben S. 101). Das gilt vor allem für den „Orientierungsgegensatz von Konditionierung und Effektivität" im Luhmannschen Sinne: „Der Arbeitserfolg, an dem die Polizei in der Öffentlichkeit gemessen wird, vor allem die Eindämmung ernsthafter Kriminalität und die Herstellung eines öffentlichen Anscheins von Ordnung, suggeriert zum Teil außerlegale, wenn nicht rechtswidrige Mittel, vor allem bei der Verfolgung eines noch ungewissen Verdachts und bei der Sicherstellung von Beweismitteln." 29 Obwohl diese Möglichkeit in der gesetzwidrigen Gewalttätigkeit der brasilianischen Polizei nicht auszuschließen ist, handelt es sich dabei in erster Linie um unterschiedslose Verletzungen der Grundrechte der „Unterbürger", 30 die sehr oft von der Polizei gefoltert, ermordet, widerrechtlich inhaftiert . . . werden, ohne daß das Bestehen eines („gewissen" oder „ungewissen") Verdachts eine entscheidende Rolle spielt. 31 Die Regelmäßigkeit derartiger Handlungen des polizeilichen Apparats, ohne jede Reaktion der entsprechenden sekundären Normen, führt nicht selten zu einer Verzerrung der Sinnidentifrkation der Grundrechte, besonders in den Unterschichten: Die Obrigkeit (in dem Fall die Polizei) dürfe unabhängig von positivrechtlichen Beschränkungen gegen jedermann gewalttätig handeln, zumindest wenn ein Verdacht besteht; dadurch betrifft das rechtswidrige Handeln der staatli28 Über die alarmierende Situation der Gegenwart s. neuerdings den Bericht von AI, 1990. Vgl. auch den Bericht des Americas Watch Committee, 1987, im Hinblick auf die achziger Jahre; Santos, Barros u. Vieira, 1986, die auf der Basis von Berichten zweier Tageszeitungen im Bundesstaat Para auf die Beschleunigung des Anwachsens der polizeilichen gewalttätigen Kriminalität in den siebziger Jahren hinweisen; ebenso nach Presseberichten die Untersuchung von Benevides, 1983, besonders in bezug auf das Gebiet von Rio de Janeiro/Säo Paulo 1979-1981, und die Erhebung des GAJOP, 1988, für die Periode 1987-1988 im Bundesstaat Permambuco; hierzulande LöbsackFüllgraf, 1985: S. 75 ff., in Konfrontation mit den im Verfassungstext vorgesehenen Grundrechten. Die Entwicklung der polizeilichen Kriminalität in Brasilien geht aber in einem Kontinuum auf die ersten Jahrzehnte der Republik zurück; vgl. Pinheiro, 1981: insb. 33 ff. 29 Luhmann, 1987 a: 278. 30 Zwar richtet sich auch die rechtswidrige Gewalttätigkeit der Polizei gegen die Angehörigen der Mittelschichten und sogar der Oberschichten (nur insofern „wurde sie zu einem Thema der Besorgnis der Gesellschaft" — Pinheiro, 1981: 31), aber die Opfer gehören in ihrer übergroßen Mehrheit zu den Unterschichten — ζ. B. zwischen 93,4 und 95,4% nach der Forschung von Santos, Barros u. Vieira (1986: 58). Andererseits, während sich die polizeilichen Gewalttätigkeiten gegen die Mittelschichten besonders in den Perioden der Diktatur (Kampf gegen die „politischen Verbrecher") ausdrückte, hat der Gegensatz von „Autoritarismus" und „Demokratie" hinsichtlich derartiger Handlungen keine Bedeutung für die „untergeordneten Klassen" (vgl. Pinheiro, 1981: 54, 56). 31 Im Rahmen der Forschung von Santos, Barros u. Vieira (1986: 58 f.) waren 80% oder 84,8 % der Opfer „ehrwürdige" Personen.

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2. Teil, Kap. V: Verfassung und

echtssystems

chen Agenten negativ das Erleben der Grundrechte in der Sachdimension. Für die Staatsbeamten und privilegierten Gruppen geht es vielmehr um den Mangel an Institutionalisierung (i. e. S.), so daß sich aus ihrem Verhalten, ihren Interessen und Erwartungen kein unterstellter Konsens über Grundrechte schließen läßt. Dazu trägt außerdem die Grundrechte verletzende Gewalttätigkeit außerstaatlicher Macht im Schutze des staatlichen Apparats bei, wie in den Fällen der städtischen Todesschwadronen 32 und der Angriffe von Großgrundbesitzern (deren Agenten) gegen die „landlosen Bauern". 33 Dieses Problem wird noch gravierender, weil sich im Zusammenhang mit Gewalttätigkeit als Mechanismus der Domination die Gewalttätigkeit als Überlebensstrategie steigert. 34 In dieser Konstellation entfällt das Webersche Prinzip des Monopols legitimer Gewaltsamkeit durch den Staat.35 Trotz der steigenden Komplexität der Gesellschaft läßt sich keineswegs nach Luhmanns Formulierung behaupten, daß „das Verhältnis von Gewaltfällen zu Rechtsfällen" sinkt, geschweige denn, daß es „extrem niedrig" wird (vgl. oben S. 103). Unter diesen Bedingungen fehlt die Sicherheit auf der Basis eines autopoietischen Rechtssystems, die als Voraussetzung für das Wahrnehmen der Grundrechte in einer hochkomplexen Gesellschaft anzusehen ist. Gegen die hier aufgestellte These, das Problem der mangelhaften Institutionalisierung und Sinnidentifikation der in den Verfassungstexten erklärten Grundrechte hätte eine eigentümliche Bedeutung in der peripheren Modernität, prototypisch in Brasilien, ließe sich der Einwand vorbringen, daß es sich nur um eine neue Formulierung der Marxschen Kritik am illusorischen Charakter der „Menschenrechte" in den bürgerlichen Staaten des XIX. Jahrhunderts (Europa und USA) handelt, am Gegensatz also zwischen rechtlicher „Form" und ökonomischem „Inhalt" der bürgerlichen Beziehungen.36 Aber nur im Rahmen einer dogmatischen marxistischen Einstellung könnte man die Tatsache leugnen, daß der Rechtsstaat im Westeuropa und Nordamerika als Träger eines evolutionären Prozesses in Richtung auf die Anerkennung und den Ausbau von Grundrechten 32 Außer den Hinweisen der Anm. 28 dieses Kap. ist hierzu lesenswert Bicudo, 1977, ein Erlebnisbericht seiner Tätigkeit als Staatsanwalt. 33 Vgl. zur Situation der letzten Jahre den Bericht von AI, 1988; den Bericht der Campanha Nacional pela Reforma Agraria, 1985; das Register des MST, 1987. 34 Vgl. Oliven, 1980. 35 Zu diesem klassischen Weberschen Grundsatz des modernen („rationalen") Staats vgl. Weber, 1985: 821-24. Es handele sich um ein „Entwicklungsprodukt" „politischer Vergesellschaftung" (Weber, 1985: 516-19). 36 Zur Marxschen Konzeption der „droits de l'homme" („im Unterschied zu den droits du citoyen") als „Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. des egoistischen Menschen" s. Marx, 1988: 361 ff. (Zitat 364). In kritischer Einstellung brachte auch Marx die „Menschenrechte" mit funktionaler Differenzierung der Gesellschaft in Zusammenhang: „Der Mensch wurde daher nicht von der Religion befreit, er erhielt die Religionsfreiheit. Er wurde nicht vom Eigentum befreit. Er erhielt die Freiheit des Eigentums. Er wurde nicht von dem Egoismus des Gewerbes befreit, er erhielt die Gewerbefreiheit" (1988: 369). Marx spricht aber von „Zersetzung des Menschen" (1988: 357).

1. Verfassung und Gesellschaft. Funktionsprobleme

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fungiert hat. Hier läßt sich die Gegenkritik von Claude Lefort aufnehmen, daß die Mißachtung der Grundrechte im Marxismus mit der Verkennung der symbolischen Dimension der „droits de l'homme" oder mit der Konfusion von Symbolischem und Ideologischem zusammenhängen; hingegen wird darauf verwiesen, daß die „gesetzlichen" Erklärungen der „Menschenrechte" im demokratischen Rechtsstaat zu deren Wahrnehmung und Ausbau beigetragen haben.37 Aber diese „positive" Funktion des Symbolischen, dessen Beitrag zur Evolution in Richtung auf die Verwirklichung und Erweiterung der Grundrechte, entfällt offenkundig in der peripheren Moderne, wie im Fall Brasilien. Hierbei spielen die Verfassungserklärungen von Grundrechten eher eine symbolisch-ideologische Rolle (vgl. oben Kap. II. 3.3. u. Kap. III. 3.2.4.). Demnach wäre mißverständlich, die Problematik der Grundrechte in den demokratischen Rechtsstaaten Europas und Nordamerikas mit ihrer Lage in Brasilien gleichzustellen.38 Vergleicht man den Übergang zu dem Wohlfahrtsstaat in Westeuropa und Nordamerika mit den Verkündigungen der Verfassungserklärungen der Sozialrechte in Brasilien, drückt sich noch deutlicher dieser Widerspruch aus: ersterer läßt sich als Evolution in Richtung auf Wahrnehmung und Ausbau der Grundrechte bezeichnen; letztere weisen keineswegs auf eine bedeutsame Verwirklichung oder Erweiterung der Grundrechte hin, zumindest was die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung betrifft.

1.3. Wohlfahrtsstaatliche Verfassungseinrichtungen versus Exklusion Die geläufige Konzeption des Wohlfahrtsstaates bezieht sich auf seine ausgleichende, distributive Funktion, um zu betonen, daß ein Minimum an Realität der klassischen, freiheitlich-demokratischen Grundrechte von der Institutionalisierung und Gewährleistung der „sozialen Grundrechte" abhängt (vgl. oben S. 98). Über diese Auffassung hinausgehend begreift Luhmann den Wohlfahrtsstaat anhand des soziologischen Prinzips der Inklusion. 39 „Der Begriff der Inklusion 37 Vgl. Lefort, 1981: insb. 67 ff., 82. Bei Lefort hängt die Institutionalisierung der Menschenrechte mit der „Entwirrung" („désintrication" — nicht genaugenommen mit der „Spaltung" — „scission") von Macht, Recht und „Wissen" zusammen (1981: 64), also mit funktionaler Differenzierung der Gesellschaft (s. auch oben Anm. 57 des Kap. II.). 38 Daß es wichtige Probleme der Institutionalisierung von in der Verfassung verankerten Grundrechten auch in den demokratischen Rechtsstaaten gibt, ist hier nicht zu bestreiten. Das Beispiel des Grundsatzes der Rassengleichheit in den USA ist entscheidend hierfür — vgl. auf der Basis eines Fallstudiums über die Gesetzgebung gegen Rassendiskriminierung Mayhew, 1968, der hier auch auf die symbolische Funktion des Rechts verweist (2); im Anschluß an ihn Luhmann, 1987 a: 97 f. Anm. 116, 278. Aber im Gegensatz zur Erfahrung in den peripheren Ländern (hier Brasilien) handelt es sich dabei um sektoriale Probleme, die nicht zur Generalisierung tendieren, also nicht zur Infragestellung der gesamten Verfassungserklärung der Grundrechte führen (vgl. anders, in gleichsetzender Position, Melo Franco, 1960: 229 f.). 39 Vgl. Luhmann, 19811: 25 ff. Er greift hier (25) auf Marshall (1976) zurück.

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2. Teil, Kap. V: Verfassung und

echtssystems

meint", so Luhmann, „die Einbeziehung der Gesamtbevölkerung in die Leistungen der einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme. Er betrifft einerseits Zugang zu diesen Leistungen, andererseits Abhängigkeit der individuellen Lebensführung von ihnen. In dem Maße, als Inklusion verwirklicht wird, verschwinden Gruppen, die am gesellschaftlichen Leben nicht oder nur marginal teilhaben." 40 Dementsprechend läßt sich die anhaltende Beibehaltung der Marginalität, wie in den peripheren Ländern, als Exklusion bezeichnen.41 Dies bedeutet für breite Bevölkerungsgruppen (die Mehrheit!) der heutigen modernen (Welt-)Gesellschaft Abhängigkeit von den Leistungen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionssysteme, ohne Zugang zu ihnen zu haben (Subintegration). 42 Definiert man also den Wohlfahrtsstaat funktional-spezifisch als „realisierte politische Inklusion" 43 und, weil Rechtsstaat, als realisierte rechtliche Inklusion, dann ist hier hervorzuheben, daß seine Verwirklichung in der ausschließenden Struktur der brasilianischen Gesellschaft ganz illusorisch ist. Im Gegensatz zum Wohlfahrtsstaat hat in Brasilien keine Neutralisierung der ökonomischen Ungleichheiten auf der Ebene des Rechts und der Politik stattgefunden. 44 In diesem Zusammenhang läßt sich paradoxerweise von Bürgern erster, zweiter und dritter Klasse sprechen. 45 Trotz der Aufrechterhaltung dieser ausschließenden Struktur weisen die Verfassungstexte von 1934, 1946 und 1988 auf einen typischen Wohlfahrtsstaat hin;

40

Luhmann, 19811: 25. Im Anschluß an Parsons betonen Luhmann u. Schorr (1988: 31): „Inklusion kann sich nicht auf die Leistungsrollen erstrecken, sondern nur auf ihre Komplementärrollen: Nicht jeder kann Arzt werden, aber jeder Patient; nicht jeder Lehrer, aber jeder Schüler." Außerdem schließt das Prinzip der Inklusion nicht aus, daß „nach wie vor höhere Schichten durch höhere Partizipation in wohl allen Funktionsbereichen ausgezeichnet sind" (Luhmann, 19811: 26). 41 Vgl. Luhmann, 19811: 25 f. Anm. 12. 42 Die Überintegration hingegen wäre die Unabhängigkeit von den Regeln mitsamt dem Zugang zu den Leistungen der einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen (vgl. oben S. 78 f., 94 f.). 43 Luhmann, 19811: 27. „Für den Wohlfahrtsstaat ist politische Inklusion der Bevölkerung eine funktionale Notwendigkeit . . . " (Luhmann, 19811: 118). 44 Im Anschluß an Marshall (1976: 84) behauptet Weffort (1981: 139 f.), daß im Fall Brasilien die „dem kapitalistischen System und der Klassengesellschaft innewohnende Ungleichheit" im „Krieg" gegen das „dem Begriff der Bürgerrechte implizite Gleichheitsprinzip" bisher gesiegt hat und nur einen minimalen Spielraum zu dessen Ausdruck erlaubt. In dieser Konstellation läßt sich nicht sagen wie Luhmann (19811: 27) für das Inklusionsprinzip im Wohlfahrtsstaat, daß die „Ungleichheit der faktischen Chancen" „funktionslos reproduziert wird". Andererseits ist hier wieder darauf aufmerksam zu machen, daß der Gleichheitssatz bzw. das Inklusionsprinzip nicht besagt, daß jedermann die gleichen Rechte hat resp. den gleichen Grad an politischer Partizipation erreichen soll (vgl. oben Anm. 117 des Kap. III. und Anm. 40 dieses Kap.), wohl aber die voraussetzungsvolle Generalisierung der Zugangs- und Abhängigkeitskriterien des Rechtssystems und des politischen Systems. 45 Vgl. z. B. Velho, 1980: 362; Weffort, 1981: 141 -44, im Anschluß an Bendix (1969: 88 f.).

1. Verfassung und Gesellschaft. Funktionsprobleme

157

außerdem beinhalteten die autoritären Verfassungschartas von 1937 und 1967/ 1969 umfangreiche sozialstaatliche Bestimmungen.46 Daß diese sozial-grundrechtlichen Verfassungsnormen und die entsprechende ergänzende Gesetzgebung in ihrer Herkunft von oben nach unten, nicht als Ergebnis der sozialen Bewegung, erteilt wurde, 47 ist nur ein Indiz, kein entscheidender Faktor ihrer andauernden Verzerrung auf der Konkretisierungsebene. Ihre Bedeutung für die unteren Schichten ist so außerordentlich, daß sich die Konzeption der Grundrechte („Menschenrechte") bei deren Angehörigen fast ausschließlich auf die Vorstellung der „sozialen Rechte" beschränkt. 48 Die Subintegrierten haben großes Interesse daran und können es auf ihre Weise formulieren, aber sie sind nicht in der Lage, es durchzusetzen. 49 Diese widerspruchsvolle Situation impliziert eine radikal paradoxe Beziehung zwischen Erleben und Handeln, wie sich ausdrucksvoll in der folgenden Antwort einer Befragten zeigt: „die Rechte, die ich als Menschenrechte erkenne, sind genau diejenigen, die ich nicht habe . . . " 5 0 So bleiben die in den Verfassungstexten erklärten „sozialen Grundrechte" undurchführbares „ideales Minimum" der verelendeten, unterernährten Mehrheit der Bevölkerung, sie führen auf keinen Fall zum ausgleichenden Mechanismus des Sozialstaats, geschweige denn zur wohlfahrtsstaatlichen Inklusion der Gesamtbevölkerung in das Recht und das politische System. Unter rechtsdogmatischem Gesichtspunkt wird in der brasilianischen Verfassungslehre herkömmlich diese tiefe Kluft zwischen der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems und den wohlfahrtsstaatlichen Verfassungseinrichtungen durch die Konzeption der „programmatischen Verfassungsnormen" interpretiert. 51 Damit sind in Anlehnung vor allem an die Verfassungstheorie der Nach46 Obwohl der Begriff des „Sozialstaates" als eines auf den »Ausgleich von Benachteiligungen" durch „Maßnahmen der sozialen Hilfe" gerichteten Staates (Luhmann, 19811: 7) und das Konzept der Autokratie als eines rechtspolitisch ausschließenden Regimes einander nicht widersprechen, sind Wohlfahrtsstaat („politische Inklusion") und Autokratie begrifflich unvereinbar. 47 Wieder im Anschluß an Marshall (1976: 80) vergleicht Weffort (1981: 147) die sozialen Rechte als „paternalistischen Schutz" in Brasilien mit dem englischen Poor Law als einer „ A l t e r n a t i v e " für diejenigen, „die Bürger nicht sein konnten." 48 In seiner Forschung über die Konzeption der „Menschenrechte" in den „populären Klassen" Brasiliens stellt Lesbaupin (1984) — befragt wurden neun Gruppen und insgesamt 57 Personen (S. 24) der Großstadt Nova Iguaçu im Bundesstaat Rio de Janeiro (1.094.650 Bewohner in 1980 und 1.432,79 Bewohner/km 2 — S. 29), eine typische Stadt eines modernen peripheren Landes — fest, daß „die in den Listen aufgeführten Rechte grundsätzlich dieselben sind und daß alle sich auf die minimalen, lebenswichtigen Anforderungen beziehen, auf das, was man geläufig als »soziale Rechte' bezeichnet" (S. 99; vgl. dazu S. 95 ff.). 49 Der selbstreferenzielle Begriff des Interesses als Voraussetzung für die politische Inklusion (Luhmann, 19811: 30 f.) entfällt radikal unter diesen Bedingungen: starke Beschränkung der Interessen auf die Befriedigung der lebenswichtigen Bedürfnisse und die Unfähigkeit, sie durchzusetzen. so Bei Lesbaupin, 1984: 97. 5i Hierzu J. A. Silva, 1982: insb. 126-47.

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Teil, Kap. V: Verfassung und

echtssystems

kriegszeit in Italien 52 diejenigen Verfassungsvorschriften gemeint, die mit „beschränkter Wirksamkeit" 53 , statt der rechtlichen Regulierung „bestimmter Interessen" unmittelbar zu dienen, die sozialen Ziele des Staates bestimmen und spezifisch an die Staatsgewalten adressiert sind (besonders an die „zukünftigen Gesetzgeber"), die demnach nicht gegen das Programm handeln dürfen. 54 Ohne die rechtsdogmatische These der Rechtskraft aller Verfassungsvorschriften zurückzuweisen 55 und zu verkennen, daß das Rechtssystem Zweckprogramme einbezieht,56 ist hiergegen der Einwand vorzubringen, daß die gesellschaftliche Geltung (kongruente Generalisierung) „programmatischer Verfassungsnormen" vom Vorhandensein der strukturellen Möglichkeiten ihrer Verwirklichung abhängt. Die Situation in Brasilien ist nach wie vor ganz anders als im Westeuropa der zwei Nachkriegszeiten. Durch die „programmatische" Verfassungsnormierung der „sozialen Grundrechte" der Bürger beobachtete das Verfassungssystem bzw. Rechtssystem in den westeuropäischen Demokratien ohne (Weimar 1919) oder mit Erfolg (Frankreich 1946, Italien 1947 und BRD 1949) strukturelle Tendenzen in Richtung auf den Wohlfahrtsstaat. 57 In der brasilianischen (peripheren) Gesellschaft fehlen noch immer diese Tendenzen, die offensichtlich nur durch eine radikale Transformation der Sozialstruktur entstehen können. Der durch die Verfassung von 1988 (Art. 5 LXXI) eingeführte „Mandado de Injunçâo" (s. oben S. 141) ist zwar eine wichtige Rechtsgarantie gegen das verfassungswidrige Unterlassen der Obrigkeit, bildet aber ersichtlich keinen tauglichen Mechanismus, um dieses Problem zu überwinden. 58 Die „programmatischen" wohlfahrts52

Vgl. J. A. Silva, 1982: 67 ff., mit umfangreichen Hinweisen auf die italienische Verfassungslehre. 53 Es handelt sich hier nicht um einen, wie den oben angeführten (S. 86 f.), „empirischen" bzw. „soziologischen" — allerdings auch in der „Reinen Rechtslehre" aufgenommenen (vgl. Kelsen, 1960: 10 f. u. 215 ff., 1946: 39 f.) — Begriff der Wirksamkeit, sondern um „Wirksamkeit" im rechtsdogmatischen, „juristischen" Sinne als rechtstechnische Anwendbarkeit der Verfassungsnormen: Die Frage ist dann, ob die Normen die systeminternen Bedingungen erfüllt haben, um „Rechtswirkungen" zu produzieren. Vgl. J. A. Silva, 1982: 55 f.; Borges, 1975: 42-44; Rottleuthner, 1981: 92. 54 Vgl. J. A. Silva, 1982: 126 ff.; Miranda, 1960 I: 111 f. bzw. 1970 I: 126 f. 55 Vgl. Neves, 1988: 101-103. 56 Vgl. Luhmann, 1987 a: 241. Jedoch setzt das positive Recht primär Konditionalprogramme ein (Hinweise s. oben Anm. 149 des Kap. I.). 57 Daß die Ankunft des Wohlfahrtsstaats in Westeuropa zur Massenloyalität führt (Narr u. Offe, 1975), bedeutet keineswegs konstante „Genußbereitschaft und Dankbarkeit" der Bevölkerung (vgl. Luhmann, 19811: 10). Die Massenloyalität bezieht sich auf die strukturelle Möglichkeit von mehr „Partizipation" (Inklusionsprinzip), sie schließt weder die unkontrollierbare Zunahme der Anforderungen nach mehr und neuen Leistungen des politischen Systems noch sozialen Wandel aus. Daß die Arbeiterklasse in diesem Kontext eher für „Partizipation" als für „eine neue soziale Ordnung" kämpft (Bendix, 1969: 89), rechtfertigt zwar die Bezeichnung „a conservative cast of mind" (Bendix, ebd.), aber nur im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der immer mehr und neue Leistungen bringenden Struktur des Wohlfahrtsstaats. 58 Nicht zuletzt deshalb, weil der „Mandado de Injunçâo, der eng mit der „Direktlage" gegen verfassungswidrige Unterlassung zusammenhängt (vgl. Calmon de Passos, 1989:

1. Verfassung und Gesellschaft. Funktionsprobleme

159

staatlichen Verfassungsnormen werden auf der Konkretisierungsebene eigentlich nicht nur durch die Unterlassung, sondern auch durch die positive Tätigkeit der Staatsgewalten entstellt. Um nur ein geläufiges Beispiel zu nennen: Welche Bedeutung haben die Verfassungsvorschriften, die einen zur Befriedigung der „normalen" bzw. „lebenswichtigen" Bedürfnisse der Arbeiter und ihrer Familie ausreichenden Mindestlohn vorschreiben, 59 wenn die Gesetzgeber in Konsonanz mit der Klassenstruktur und den peripheren Wirtschaftsverhältnissen so niedrige Mindestlöhne festlegen, 60 daß dadurch die Unterernährung der Bevölkerung 61 offiziell bestätigt und gefördert wird?! Die ökonomischen Beziehungen blokkieren hier deutlich die Konkretisierung der „programmatischen" Normen. 62 Zieht man darüber hinaus die anderen Verfassungsvorschriften über Grundrechte der Arbeiter und die wohlfahrtsstaatlichen Bestimmungen über Erziehung, Gesundheitswesen, Sozialfürsorge u. s. w. in Betracht, kommt man zwingend zum Schluß, daß sich in der Sache nichts ändert und es eher um fassadenhafte Konstruktionen als um programmatische Normen geht. 63

103), noch mehr an Bedeutung verlor im Rahmen der Entscheidung des Obersten Bundesgerichts (STF, 1990), laut welcher das neue konstitutionelle Rechtsmittel nur dazu dient, das zuständige Organ von der Verfassungswidrigkeit des Unterlassens zu unterrichten, damit es dagegen einschreitet. So lief die Debatte um die „mittelbare" oder „unmittelbare" (d. h. von oder nicht von ergänzender Gesetzgebung abhängige) Anwendbarkeit der entsprechenden Verfassungsnormen (vgl. Mârtires Coelho, 1989) ins Leere. 59 Mit sekundären Veränderungen in der Formulierung beinhalten alle brasilianischen Verfassungstexte ab 1934 eine solche Bestimmung: Verfassungsurkunde von 1934, Art. 121 § 1. Al. b (ohne Hinweis auf die Familie der Arbeiter); von 1937, Art. 137 Al. h (auch ohne Hinweis auf die Familie); von 1946, Art. 157 I; von 1967, Art 158 I; von 1969, Art. 165 I; von 1988, Art. 7. IV. Abweichend von den früheren verwendet der Verfassungstext von 1988 nicht mehr den Ausdruck „normale Bedürfnisse", sondern „lebenswichtige Bedürfnisse" („necessidades vitais bâsicas"). Andererseits weist die zitierte Vorschrift der neuen Verfassung explizit auf Wohnung, Nahrung, Erziehung, Gesundheit, Freizeit, Kleidung, Hygiene, Transport und Sozialfürsorge als „lebenswichtige Bedürfnisse" hin, die durch den Mindeslohn zu befriedigen sind. 60 Außerdem bekommen breite Gruppen der erwerbstätigen Bevölkerung weniger als den Mindestlohn — nach der offiziellen Statistik (IBGE 1987: 9) 9,7 % nur bis zu einem halben Mindestlohn und 23,4% nur bis zu einem Mindestlohn im Jahr 1987, nach dem Bericht des NEPP-UNICAMP „über die soziale Situation des Landes" (1986: 16) 42% (?!) der Familien bis zu einem halben Mindestlohn im Jahr 1980. Uber das soziale Problem der niedrigen Löhne bzw. Einkommen in Brasilien s. NEPP-UNICAMP, 1986: 49 ff., 1988: 40 ff.; Jaguaribe et al., 1986: 41 ff. Zur jährlichen Variation des gesetzlich bestimmten Realmindestlohns in der Periode 1940-1986 und dessen starker Absenkung seit dem Antritt des „modernisierenden" Militärregimes (1964) vgl. NEPP-UNICAMP, 1988: 49. 61 Laut Weltbank litten 1975 -1976 67,2 % der brasilianischen Bevölkerung an Unterernährung. Vgl. Müller, 1986: 24, der diese im wesentlichen unveränderte soziale Lage des Hungers und der Unterernährung als „strukturell" (im Gegensatz zum „konjunkturellen" Hunger in den USA) und als „Konstitutiv" „des modernen Brasilien" bezeichnet (14 f.). 62 Müller (1986: 17-20) interpretiert zu Recht das Phänomen der Unterernährung in Brasilien im Zusammenhang mit der „Überordnung Ökonomie-Recht" bzw. der Unterordnung des Staats unter die Wirtschaft.

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Teil, Kap. V: Verfassung und

echtssystems

1.4. Zwischenresümee Funktionale Differenzierung der Gesellschaft und Inklusion der Gesamtbevölkerung sind nach Luhmann untrennbare Prinzipien des (modernen) Wohlfahrtsstaats.64 Das Rechtssystem antwortet darauf funktional durch die Verfassungsinstitutionalisierung jeweils der „freiheitlich-demokratischen" und „sozialen" Grundrechte. Entfallen in der gesellschaftlichen Umwelt die Voraussetzungen für Inklusion, so versagt das Verfassungsrecht in dieser Grundrechte institutionalisierenden Funktion (dessen spezifischer Beziehung zur Gesellschaft im ganzen), und damit mißlingt im weiten Umfang das gesamte Rechtssystem in seiner Funktion kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen, was Brüche der Positivität (als Selbstbestimmtheit) des Rechts in einer hochkomplexen Gesellschaft impliziert, mit allen ihren negativen Folgen wie in Brasilien.

2. Die Verfassung und die Beziehung des Rechtssystems zu anderen sozialen Systemen. Leistungsprobleme 2.1. Verfassung und Konfliktlösung als Leistung des Rechtssystems im allgemeinen 2.1.1. Ausdifferenzierung

der konfliktlösenden

Leistung des Rechts

Das Rechtssystem bietet den anderen sozialen Systemen, falls diese nicht mehr in der Lage sind, die sie betreffenden Konflikte (einschließlich der Konflikte zwischen ihnen) „mit systemeigenen Mitteln" auszutragen, seine Mechanismen der Konfliktlösung. Dadurch vollbringt es in erster Linie und im allgemeinen seine Leistung, also seine spezifische Beziehung zu den anderen Teilsystemen der Gesellschaft (vgl. oben S. 113). Dessen Erfolg dabei hängt aber von der tatsächlichen Inanspruchnahme des Angebots ab. Ohne funktionale Differenzierung der Kommunikationszusammenhänge nach verschiedenen autonomen Codes wäre das Konzept der Leistung nicht oder nur sehr unzulänglich vorstellbar, besonders was seine Unterscheidung vom Begriff der Funktion anbelangt.65 Die Konzeption der Konfliktlösung als Leistung eines 63 Jedoch bezeichnet Ferraz Jr. in einem legitimierenden Diskurs (1989: 28 ff.; s. auch unten Anm. 134 des Kap. VI.) die Verfassung von 1988 als die „programmatischste" unter den brasilianischen Verfassungen (1988: 58), wobei es vielmehr um den am weitesten nominalistischen bzw. symbolischen Verfassungstext Brasiliens geht. 64 Vgl. Luhmann, 19811: insb. 26 f., 35, 118. 65 Vgl. Luhmann, 1982: 55; ders. u. Schorr, 1988: 35. Für die heutige Gesellschaft betont Luhmann (19811: 82): „Die Verquickung von Funktion und Leistung ist der typische Fehler »technokratischer4 Gesellschaftstheorien, die die Gesellschaft als eine Ait Empfänger von Leistungen ansehen, obwohl doch die Leistungsträger selbst Teil der Gesellschaft sind."

2. Verfassung und Beziehung des Rechts zu anderen sozialen Systemen

161

dafür strukturell ausdifferenzierten und darauf funktional spezialisierten sozialen Systems (also des Rechts) gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Teilsystemen kann erst durch die Positivierung des Rechts in der modernen Gesellschaft zum Ausdruck kommen. 66 Auf der Verfassungsebene wird dieser Vorgang vor allem durch die Institutionalisierung einer rechtlich „unabhängigen", d. h. keinen sozialen Codes außer dem Rechtscode untergeordneten, auf die Konfliktlösung spezialisierten Einrichtung, der Gerichtsbarkeit, ermöglicht. 67 Das impliziert die Generalisierung des Klagerechts, das zunächst entsprechend der klassisch-liberalen Orientierung nur den betroffenen Personen (Bürgern oder juristischen Personen) und den zuständigen staatlichen Organen zuerkannt wurde; im Laufe der Zeit entstanden jedoch Tendenzen dazu, es auf die sich für den Schutz der „kollektiven" bzw. „diffusen Interessen" einsetzenden Bürger und „privaten" Verbände progressiv auszudehnen, unabhängig von deren unmittelbarer Beeinträchtigung. 6 8 Hierbei handelt es sich offensichtlich nicht einfach um die Einführung der Garantien der richterlichen Unabhängigkeit und die Zuerkennung der Generalisierung des Klagerechts auf der Ebene des Verfassungstextes. Die zu stellende Frage richtet sich auf die strukturellen und operationellen Voraussetzungen für die konfliktlösende Leistung des positiven Rechts in einer funktional differenzierten Gesellschaft. Die Langsamkeit des Gerichtsverfahrens und die Benachteiligung unterer Schichten beim Zugang zum Rechtsweg bilden dann die klassischen, weltweiten Probleme, welche auch durch die Positivierung des Rechts im modernen Verfassungsstaat noch nicht bewältigt wurden. 69 Damit zusammenhängend 66 In der archaischen Gesellschaft wird das Recht nicht durchgesetzt, sondern durch das verletzte Individuum sichergestellt und behauptet (vgl. oben S. 25), mit dem sich die Gesellschaft (Gemeinschaft) als Verletzte identifiziert; es gibt also keine Spezifikation der Konflikte, geschweige denn Konfliktlösung als Leistung eines Teilsystems gegenüber einem anderen. Im Recht vorneuzeitlicher Hochkulturen (s. oben S. 26) richtet sich die Konfliktlösung durch Rechtsverfahren primär nach dem und auf den politischen Herrscher, der die Gesamtgesellschaft repräsentiert und der „zunächst und vor allem Verfahrensveranstalter" ist (Luhmann, 1987 a: 172); so kann sie nicht genau als Leistung konzipiert werden, sondern nur als Funktion des Rechts. 67 Die,»richterliche Unabhängigkeit" setzt Konditionalprogrammierung und also „Entlastung von Folgenverantwortung" voraus (Luhmann, 1981b: 142; 1987 a: 232 f.; vgl. auch 1983 a: 129 ff., hier besonders im Hinblick auf die Implikationen der „Ideologie derrichterlichen Unparteilichkeit" — 133 ff.). 68 Hierzu s. die Sorgen von Cappelletti (1978 a) um die noch mangelhafte Aufnahme von Rechtsmitteln zum Schutze der „kollektiven" und „diffusen Interessen" in den heutigen Rechtsordnungen. Er spricht (S. 7) paraphrasisch („mit einer pirandellischen Formel") von Interessen „auf der Suche nach dem Kläger" („en busca de autor"). Vgl. auch ders. u. Garth, 1981: 11-14. 69 Nach Luhmanns systemtheoretischer Auffassung ist „die »Langsamkeit' der Verfahren ein altes und ewiges Thema der Justizkritik, weil die Zeitplanungen der Gerichte mit denen ihrer Umwelt nicht koordinierbar sind." (1983 a: 70). Als Reaktion auf das zweite, im Wohlfahrtsstaat anhaltende Problem (Benachteiligung unterer Schichten) wird „rechtliche Hilfe für die Armen" gefordert (Cappelletti u. Garth, 1981: 7-11), also auf benachteiligungsausgleichende Mechanismen zurückgegriffen. Die Erhaltung der „Chancengleichheit" bildet hierbei die „Hintergrundnorm" (Luhmann, 1985: 12). 11 Neves

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2. Teil, Kap. V: Verfassung und

echtssystems

werden als Alternativen zu den konfliktlösenden Verfahren des positiven Rechts, besonders in den hochentwickelten Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas, Mechanismen entwickelt, die den Parteien schneller, kostengünstiger und geeigneter für die Konfliktaustragung erscheinen als jene („Alternativen zum Recht"). 70 Andererseits kommt zu den Problemen der Leistung des Rechts die Justizialisierung als spezifischer Ausdruck der Verrechtlichung hinzu, die in der Beziehung des Rechts zu anderen sozialen Systemen der modernen Gesellschaft zu Spannungen und Dysfunktionalitäten führt (s. Kap. I. 3.4.). Alle diese (verbleibenden oder entstehenden) Probleme der konfliktlösenden Leistung des Rechts stehen in einem spannungsreichen Verhältnis zu seiner Positivität und gehen sowohl auf strukturelle gesamtgesellschaftliche Grenzen der demokratischen Rechtsstaatlichkeit im heutigen (Welt-)Kapitalismus 71 als auch auf systeminterne Variablen, wie vor allem die „Stabilisierung" als „evolutionären Engpaß" im Sinne Luhmanns, also das Fehlen einer für die Umwelt des Rechts adäquaten Begrifflichkeit zurück (vgl. Kap. I. 3.6.); sie bilden Fragen des positiven Rechts, keine generalisierende Tendenz zum Bruch seiner Zirkularität. Anders ist die Situation in den peripheren Ländern. Hier gehört die Leistungsdefizienz zu den wichtigen Faktoren der Infragestellung der Positivität (als normativer Symmetrie bzw. Zirkularität) des gesamten Rechtssystems, sie hat generalisierende negative Implikationen für das durch Entscheidung gesetzte Recht sowohl auf der Ebene des Handelns (Wirksamkeit) als auch auf der Ebene des Erlebens (Geltung). In der brasilianischen Erfahrung erweist sich diese Problematik sehr deutlich, besonders wenn das Verfassungsrecht in Betracht gezogen wird. 2.1.2. Verfassungsrecht und konfliktlösende des Rechtssystems in Brasilien

Leistung

Mit Ausnahme der Unterbrechungen während der autoritären Perioden (19371945 und 1964-1985), in denen der Rechtsweg im Fall von Verletzungen der Rechte seitens der Staatsgewalt und die Garantien der richterlichen Unabhängigkeit schon durch die Verfassungscharta und die Ausnahmegesetze mit Verfas70 Luhmann (1983 b: 151) bemerkt hinsichtlich der sich daran anschließenden Diskussion, „daß zwischen Alternativen für einzelne Rechtseinrichtungen und Alternativen für das Recht selbst nicht unterschieden wird." E. Blankenburg, E. Klausa und H. Rottleuthner haben im Titel des von ihnen hg. Bd. 6 der JfRSRT (1980), „Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht", diese Unterscheidung formuliert, was Luhmann (1983 b: 151 Anm. 54) nicht entgangen ist. Spezifisch über die Alternativen zum gerichtlichen Verfahren s. Nader, 1980; Cappelletti u. Garth, 1981: 14-20. 71 Hierzu läßt sich auf Offe (1977) zurückgreifen. Vgl. auch Preuß, 1989: insb. 4, mit der Behauptung, „daß die inhärente Dynamik des kapitalistischen Verwertungsprozesses insofern selbstdestruktiv ist, als sie fortschreitend die nicht-kapitalistischen Grundlagen des Kapitalismus zerstört"; Bobbio, 1976 a: insb. 207, mit Betonung auf den Widerspruch von Demokratie und Kapitalismus; ebenso die schon (Anm. 44 dieses Kap.) erwähnte Stelle von Marshall (1976: 84).

2. Verfassung und Beziehung des Rechts zu anderen sozialen Systemen

163

sungskraft sehr stark eingeschränkt bzw. verzerrt wurden, 72 läßt sich in den brasilianischen Verfassungstexten eine Evolution in Richtung auf die Verstärkung der Autonomie der rechtsprechenden Gewalt und den Ausbau des Rechtswegs und spezifisch der konstitutionellen Rechtsmittel feststellen. Es fand ein Entwicklung statt, die von den Einschränkungen der richterlichen Unabhängigkeit um der übergeordneten Stellung des „Poder Moderador" willen und dem Ausschluß des Rechtsweges für die Sklaven im Rahmen der Verfassungscharta von 1924 73 ausging. Für eine zweite Phase sind die Lücke des Verfassungstextes von 1891 bezüglich der Garantien der Richterschaft in den Bundesstaaten und damit zusammenhängend die Besetzung der Richterstelle kraft freier Entscheidung des Chefs der Exekutive zu erwähnen. 74 Schließlich kommen mit der Verfassung von 1988 eine weitgehende Normierung der Garantien der richterlichen Unabhängigkeit und ein erheblicher Ausbau der konstitutionellen Rechtsmittel, einschließlich der angestrebten Verfassungsklagen zum Schutz der „kollektiven" bzw. „diffusen Interessen" (s. unten S. 169), zustande. Diese scheinbare Evolution auf der Ebene des Verfassungstextes weicht im weiten Umfang vom Ablauf des Veränderungsprozesses der Verfassungswirklichkeit Brasiliens ab. Die konfliktlösenden Leistung des gesetzten Rechts bleibt nach wie vor sehr unzulänglich, obwohl diese Defizienz im Laufe der Zeit unterschiedliche Formen annimmt. Während im Rahmen der früheren Verfassungsurkunden, besonders der von 1824 und 1891, die Mechanismen der Konfliktaustragung durch die außerstaatliche, am positivrechtlichen Code nicht gebundene Lokalmacht des Großgrundbesitzers oder unter ihrem direkten Einfluß 72

Nach dem Art. 177 der Verfassungscharta von 1937, der vom Verfassungsgesetz N. 2 / 1938 „wieder eingesetzt" und vom Verfassungsgesetz N. 8 / 1942 „erklärt" wurde, konnte der Staatspräsident die Richter in den Ruhestand versetzen, nach dem auch vom Verfassungsgesetz N. 8 „erklärten" Art. 182 ebenso in den Wartestand. Die Garantien der richterlichen Unabhängigkeit wurden gemäß Art. 7. des „Ato Institucional" Ν. 1 vom 9.4.1964 (für sechs Monate), Art. 14 des „Ato Institucional" N. 2 vom 27.10.1965 und Art. 6. des „Ato Institucional" N. 5 vom 13.12.1968 explizit „suspendiert", so daß die Oberbefehlshaber bzw. der Präsident der Republik die Befugnisse erhielten, die Richter zu entlassen sowie in den Ruhestand, in den Wartestand oder an eine andere Stelle zu versetzen. Vgl. oben Kap. IV. 4. u. 6. 7 3 Zwar beruhte die Sklaverei nicht explizit auf dem Verfassungstext von 1824. Aber durch die Unterscheidung zwischen frei geborenen („ingênuos") und „befreiten" („libertos") Staatsangehörigen (Art. 6., Abs. I) wurde die Sklaverei indirekt anerkannt. In seinen Kommentaren zu dieser Vorschrift (über „die vom Geburtsort herrührende Staatsangehörigkeit") hat Pimenta Bueno (1857: 450-53) merkwürdigerweise keinen Hinweis darauf gemacht wie auch Rodrigues de Sousa (1867: 40-45) und J. C. Rodrigues (1863: 10). 74 Trotz der Lücke im Verfassungstext wurden die Garantien der rechtlichen Unabhängigkeit, in Konsonanz mit dem parteiprogrammatischen Vorschlag von Barbosa (1933 IV: 60), zuerst durch die gerichtliche Interpretation und später durch die Verfassungsänderung von 1926 auf die Richter der Bundesstaaten ausgedehnt. Aber damit wurde das Problem der Besetzung der Richterstellen nach freier Entscheidung des Chefs der Exekutive nicht bewältigt und die „vorläufigen Richter" nicht in den Geltungsbereich dieser Verfassungsgarantien einbezogen. Vgl. hierzu Seabra Fagundes, 1975:42 f.; Nunes Leal, 1975: 202-04. 11*

1 6 4 2 .

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echtssystems

eine so starke Bedeutung hatten,75 daß sich das Leistungsdefizit des gesetzten Rechtssystems der Einwirkung von traditionalen Faktoren zuschreiben läßt, entstehen mit der raschen Verstädterung und Industrialisierung des Landes neue Formen von Konflikten und entsprechenden Beiseitesetzungen des konfliktlösenden Leistungsmusters offiziellen Rechts,76 die zur Problematik einer hochkomplexen, modernen Gesellschaft gehören. Daß die die Autonomie der rechtsprechenden Gewalt und den Zugang zu den Gerichten beschränkenden Verfassungsbestimmungen und Gesetze der autoritären Periode aufgehoben wurden und eine „demokratische" Verfassung formal in Kraft trat (1988), ändert daran grundsätzlich nichts. Die mangelhafte Leistung des Rechtssystems hängt eng mit der Exklusion (s. Kap. V. 1. 3.) bzw. Subintegration des größten Teils der Bevölkerung und gleichzeitig mit der Überintegration von Minderheiten zusammen, sie kann ersichtlich nicht einfach durch den Wechsel vom Verfassungsinstrumentalismus zum Verfassungsnominalismus überwunden werden. Ich werde im folgenden auf zwei Beispiele eingehen, deren gesellschaftliche Relevanz und soziologischempirische Basis die hier entwickelte Argumentation deutlich machen sollen. 2.1.3. Konfliktlösende Leistung des positiven Rechts und Konflikte innerhalb der Marginalisierten: ein Beispiel Der schon erwähnte Fall der Konfliktlösung durch die Bewohnervereinigungen von ungesetzlichen Siedlungen (favelas) in den Großstädten Brasiliens (s. oben S. 102 f.) bekommt hier eine wichtige Bedeutung und dient der Festsetzung wichtiger Unterscheidungen. Es handelt sich um einen typischen Fall des Nicht-Zugangs breiter Sektoren der Bevölkerung zur Leistung des Rechtssystems durch eine der „autonomen" Verfassungsgewalten. 77 Vorausgesetzt, daß sich die Debatte um 75 Diese Situation geht auf die Kolonialzeit zurück. Nach Buarque de Holanda (1988: 49 f.) gab es „nicht selten die Fälle wie der von Bernardo Vieira de Melo," der die von ihm in Verdacht des Ehebruches gebrachte Schwiegertochter in einem Familienrat zum Tod verurteilte und mit breiter Verkündung den Spruch ohne jede Reaktion der Gerichtsbarkeit vollzog; im Rahmen des Coronelismus (ich komme darauf unter 2.2.1. zurück) vgl. Nunes Leal, 1975: 23. Zur Bindung der polizeilichen und gerichtlichen Organisation an die außerstaatlichen Lokalmachthaber seit der Kolonialzeit bis Ende der vierziger Jahre s. Nunes Leal, 1975:181 - 217; als ein Fallstudium für das Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Telarolli, 1977. Hiermit hängt die Straffreiheit der Angehörigen wohlhabender bzw. mächtiger Familien und ihrer Agenten zusammen, ein geläufiges Thema der Kritik der Gerichtsbarkeit und des polizeilichen Apparats in Brasilien; vgl. Nabuco, 1936 I: 45 f.; Nequete, 1973: 184-86; Vianna, 1987: 160 f.; Pereira de Queiroz, 1976: 70. 76 Da Brasilien der achtgrößte Industrieproduzent geworden ist (vgl. Anm. 21 dieses Kap.), lassen sich seine Probleme der konfliktlösenden Leistung des Rechts nicht nach der Formel „eine wenig industrialisierte Gesellschaft" interpretieren, die Aubert (1969) auf die Situation Norwegens anwand. 77 Nicht-Zugang betrifft hier das in der Verfassung verankerte Grund recht auf den Gerichtsschutz, nicht offensichtlich die Ungesetzlichkeit (Unrecht) der Slumsiedlungen (favelas), aber die beiden Situationen hängen eng miteinander zusammen. Außerdem ist die Gesetzwidrigkeit der Favelas mit dem Nicht-Zugang zu dem auf den sozialstaatlichen bzw. wohlfahrtsstaatlichen Verfassungsbestimmungen beruhenden Recht auf Woh-

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Verrechtlichung versus Entrechtlichung auf das positive Recht bezieht, geht es dabei um eine entrechtlichende Wirklichkeit im Widerstand gegen die verrechtlichenden Verfassungsnormierung (vgl. Kap. III. 3.2.3). Die unmittelbare Einwirkung des Machtcodes und des Wirtschaftscodes sowie der Einsatz eines „ethischsozialen Diskurses" charakterisieren die Kommunikationszusammenhänge in diesen konfliktaustragenden Vorgängen (vgl. oben S. 102). Genaugenommen drückt sich dadurch eine der diffusen und instabilen Formen der „Überlebensstrategien" im Bereich des Rechts aus, keine „Alternative" zum Recht in dem Sinne, den diese Vorstellung in Westeuropa und Nordamerika annimmt. 78 Eine „Alternative" impliziert die Möglichkeit und Fähigkeit des Einsatzes einer anderen „Alternative". Eine „Alternative" zur Leistung des positiven Rechts bei Konfliktlösung bezieht dann die Möglichkeit und Fähigkeit mit ein, die positivrechtlichen Mechanismen einzusetzen: Man tut das nicht, weil es für die Parteien andere, raschere, kostengünstigere, geeignetere Formen der Konfliktlösung gibt. 79 Als „Überlebensstrategie" stellt die regelmäßige Konfliktaustragung durch die Bewohnervereinigungen der Favelas hingegen eine Reaktion auf die wirkliche Ungangbarkeit des positiven Rechtsweges für ihre Mitglieder dar. In dieser Konstellation wird die Interpretation sehr fraglich, daß dieses „inoffizielle Recht" um des niedrigen Grades an Ausdifferenzierung und der begrenzten Verfügung über Zwangsmittel willen einen breiteren theoretischen Spielraum habe als das positive Recht. 80 Zwar fehlen im Gegensatz zu letzterem feste Systemgrenzen zur Verwendung von rhetorischen Mitteln, aber die Nicht-Befriedigung der lebenswichtigen Bedürfnisse ist gänzlich unvereinbar mit der Erweiterung des „rhetorischen Spielraums". Andererseits weist die empirische Forschung darauf hin, daß in den Favelabeziehungen die Zwangsmittel der Verbrecherbanden in einem positiven Zusammenhang mit den „rhetorischen Verfahren" der Bewohnervereinigungen stehen und nach deren Aufforderungen eingesetzt werden. 81 Zur Kompliziertheit nung verbunden, nach Marshall (1976: 105) ein minimales Bürgerrecht. Ferner ist anzumerken, daß die Favelas nicht immer ungesetzlich sind, so daß man von „Legalisierung der Favelas" spricht; zum Favelaproblem im brasilianischen Recht s. W. P. Barreto, 1981: 77 ff. 78 Anders betrachtet Sousa Santos diese Frage (vgl. oben S. 102 f.), dem sich Jungueira u. Rodrigues (1988: 126 ff.) anschließen. Vgl. oben Anm. 70 dieses Kap. 79 Hierbei handelt es sich aber nicht einfach um die ,»Nutzen / Kosten-Kalkulation" nach einer „ökonomischen Analyse des Rechts" (vgl. hierzu die Bedenken von Luhmann, 1985: 10 f.). Nicht nur in Anbetracht des Wirtschaftscodes wird auf die konfliktlösende Leistung des positiven Rechts verzichtet und nach systemeigenen Kriterien der Konfliktaustragung gehandelt, sondern auch unter Berücksichtigung der Codes anderer ausdifferenzierter Funktionssysteme. Durch eine Übertragung der Wirtschaftssprache auf das Rechtssystem könnte man nach Ruivo (1989: 71) darin ein Problem in der Beziehung zwischen „Verteilung des Rechtsprodukts" (konfliktlösende Leistung durch Gerichte) und dessen „Konsum" (Zugang zur Justiz) sehen; damit würde aber nicht zwingend die technokratische bzw. ökonomistische Auffasssung übernommen, nach der die Funktion des Rechtssystems sich auf ihre Leistung beschränkt (s. Anm. 65 dieses Kap.) resp. das Recht als ein „Konsumgut" bezeichnet wird (so aber Ferraz Jr., 1990a). so So Sousa Santos, 1988: 43-61. Vgl. oben Anm. 154 des Kap. III.

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der Situation kommt die ungesetzliche Tätigkeit der Polizei hinzu. 82 Man befindet sich in einer Situation der extremen Rechtsunsicherheit, denn verschiedene soziale Einheiten verfügen über unterschiedliche (allerdings von anderen PräferenzCodes nicht hinreichend ausdifferenzierte) Codes Recht / Unrecht in einer kochkomplexen Gesellschaft; „Rechtspluralismus als Alternative zum Legalismus", „topische Rechtsrationalität" u. ä. werden unter diesen Umständen zu Mythen oder ideologischen Ausdrücken, die eher zu Mißverständnissen als zur Erklärung und Überwindung der Problematik führen (s. oben S. 102 f.). 2.1.4. Die Konflikte um das Eigentumsrecht zwischen Sub- und Uber integration: ein Beispiel Ein anderes interessantes Beispiel stammt aus den Konflikten um das Eigentumsrecht wegen der kollektiven Besetzungen von fremden (privaten oder öffentlichen) Grundstücken durch die Marginalisierten auf der Suche nach Wohnorten, die mit der Verstädterung der letzten Jahrzehnte stark anwuchsen. Im Gegensatz zum ersten Beispiel beschränken sich diese Konflikte nicht auf die Subintegrierten, sondern sie beziehen Gruppen (die Eigentümer) ein, die Zugang zur Leistung des positiven Rechtssystems haben. Als Besitzentziehung werden die Besetzungen („Invasoes") in Brasilien als zivilrechtliches und strafrechtliches Delikt definiert (vgl. Zivilgesetzbuch, Art. 159 u. Art. 499 ff.; Strafgesetzbuch, Art. 161 II), so daß man vermuten könnte, daß die Eigentümer einfach ihr Klagerecht ausüben müßten, um die Wiedereinsetzung in ihre Besitzrechte (Zivilgesetzbuch, Art. 523; Zivilprozeßordnung, Art. 920-933) zu erzielen, sowie daß die „Täter" regelmäßig bestraft würden. Die gesamtgesellschaftlichen strukturellen Implikationen aber machen die Situation nicht so einfach. 83 Bei den häufigen, kollektiven, ungesetzlichen Besetzungen städtischer Grundstücke in Brasilien würde die Regelmäßigkeit der Entscheidungen der Gerichtsbarkeit und ihrer Vollziehung nach strikten gesetzlichen Bestimmungen über die widerrechtliche Besitzentziehung keineswegs nach Luhmanns Auffassung der Funktion des Gerichtsverfahrens „die Spezifizierung der Unzufriedenheit und die Zersplitterung und Absorption von Protesten" 84 fördern, also auf keinen Fall das „Stoppen" der „mit zunehmender funktionaler Differenzierung der Gesellschaft zunehmend unerträglich" werdenden Tendenz zur Generalisierung der Konflikte. 85 Wenn die Richter mit scheinbarer interner Konsistenz auf dem positivrechtlichen Konditionalprogramm bestehen, also auf Zweckprogrammierung oder ethisch-soziale Erwägungen verzichten, 86 si Vgl. z. B. Jungueira u. Rodrigues, 1988: 134 f. 82 Vgl. Jungueira u. Rodrigues, 1988: 137 f. 83 Hierzu s. Falcäo Neto (Hg.), 1984 a. 84 Vgl. Luhmann, 1983 a: 116. 85 Luhmann, 1983 a: 101 f. 86 Hierzu sind zwei Behauptungen eines Richters bei Vertreibung von Bewohnern wegen ungesetzlicher Besetzung städtischer Grundstücke in Nordostbrasilien sehr vielsagend: „Der Justiz steht nicht zu, die sozialen Probleme zu lösen, sondern das Primat

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verbleibt weiterhin das Problem auf der Ebene des Vollzugs der gerichtlichen Entscheidung.87 In diesem Kontext läßt sich noch nach Luhmanns Konzeption des Gerichtsverfahrens die Erwartung hegen, daß „eine Rebellion gegen die Entscheidung [ . . . ] dann kaum noch Sinn und jedenfalls keine Chancen mehr [hat]", daß „die Möglichkeit, wegen eines moralischen Unrechts öffentlich zu leiden", verbaut ist und daß die Entscheidung als „verbindlich akzeptiert" und „gegen eine Kritik der Auswirkungen (im Unterschied zu den rein juristischen Konsequenzen)" immunisiert wird. 8 8 Dementsprechend treten im Zusammenhang mit den Mechanismen der Verzögerung und Behinderung der nach dem Konditionalprogramm des gesetzten Rechts zu treffenden Entscheidung außergesetzliche bzw. gesetzwidrige Verhandlungen zur Konfliktlösung zutage, meistens durch die zweckgerichtete Teilnahme der Verwaltung vermittelt, die auch oft als Partei auftritt (öffentliche Grundstücke). Die Tendenz zur Generalisierung der Konflikte wird nicht durch das Gerichtsverfahren gestoppt, sondern im Gegenteil durch die Behinderung desselben.89 Die rechtliche Antwort der Verfassung auf die Monetisierung der Bedarfsdekkung durch die Institutionalisierung der Grundrechte auf Eigentum und Beruf 90 wird hierbei sehr problematisch. Daß in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft die wohlfahrtsstaatlichen Verfassungseinrichtungen bzw. die „sozialen Grundrechte" keine Bedeutung auf der Konkretisierungsebene gewinnen, beeinträchtigt grundsätzlich die Generalisierung der Monetisierung der Bedarfsdeckung. Es ließe sich behaupten, daß es um den Verfassungswiderspruch zwischen „bürgerlichen" Grundrechten der Eigentümer und „sozialen" Grundrechten (einschließlich des Rechts auf Wohnung) der Massen geht. Aber hierzu ist anzumerken, daß in der heutigen Weltgesellschaft die Differenzierung von Wirtschaft und Sozialwesen immer diese Kontradiktion impliziert, ohne daß sich daraus zwingend eine Blockierung der Leistung des positiven Rechts ergibt. Beim betrachteten Fall handelt es sich vielmehr um die Entdifferenzierung des Codes von Haben und Nichthaben. Hierzu ist die folgende Stelle Luhmanns bedeutsam: „Entlastet wird der Schematismus von Haben und Nichthaben in dem Maße, als er für außerwirtschaftliche Funktionszusammenhänge nichts besagt, nämlich Ungleichheiten des Eigentums nicht in andere Teilsysteme der Gesellschaft überträgt — wenn also für den Eigentümer nicht häufiger Messen gelesen werden, nicht bessere Erziehungschancen, bessere Prozeßchancen im Rechtssystem, bessere Wahlchancen für politische Ämter, bessere Chancen der Heilung im Krankheitsfalle usw. bereitgehalten werden als für den Nichteigentümer."91 des Gesetzes zu gewährleisten." „Mir steht nicht zu, den Grund des Eindringens zu untersuchen oder, ob das Volk verhungert oder nicht" (zit. nach Pessoa, 1984: 185). 87 Hierfür wichtig ist die Unterscheidung zwischen Anwendung und Durchsetzung als zwei Momenten im Konkretisierungsprozeß des Rechts (vgl. oben S. 84 f.). 88 Luhmann, 1983 a: 117, 132. 89 In diesem Sinne vgl. unter Hinweis auf Luhmann und im Hinblick besonders auf den Übergang von Autoritarismus zu „Demokratie" in Brasilien Falcäo Neto, 1984 b: 99 f. 90 Vgl. Luhmann, 1965: 108 ff.

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Außer den Messen (die vielleicht häufiger für sie gelesen werden!) ist dies nicht die Situation für die Massen der Nichteigentümer in Brasilien, besonders für die Bewohner fremder städtischer Grundstücke als Slumsiedler (favelados). Dementsprechend kann man dabei auf keinen Fall nach Luhmanns Konzeption „einer auf Eigentum gegründeten Industriegesellschaft" erwarten, „daß der Nichteigentümer als Nichteigentümer das Eigentum anerkennt." 92 2.1.5. Schlußfolgerung Viele andere Beispiele in dieser Richtung ließen sich zur Illustration der vorliegenden Darstellung vorbringen. 93 Was sie gemeinsam haben — wie immer man trotz der Verschmelzung von verschiedenen Codes sie als „inoffizielles Recht" bezeichnen möchte 94 —, ist die Nicht-Unterordnung der Mechanismen der Konfliktaustragung unter den Code Recht / Unrecht des positiven Rechtssystems, denn sie implizieren die Beiseitesetzung dieses Codes.95 Die mangelhafte Leistung des Rechts durch die in der Verfassung verankerte rechtsprechende Gewalt kann in anderen Funktionsbereichen als „günstige" Mißleistung empfunden werden, wie vor allem in der Wirtschaft und der Politik. 96 Aber das Phänomen ist m. E. nicht mit dem der „Alternativen" zum gerichtlichen Verfahren in den 91 Luhmann, 1974: 71. 92 Luhmann, 1974: 65. Es fehlt unter diesen Bedingungen strukturelle Kopplung von Rechtssystem und Wirtschaftsystem durch Eigentum; zur Auffassung des Eigentums und Vertrags als struktureller Kopplungen von Wirtschaft und Recht s. Luhmann, 1989 a: insb. 11 ff. Nach Habermas (1973: 132, unter Hinweis auf G. Lenski) geht es hierbei um die Nicht-Lösung des Problems, das „Alle Klassengesellschaften" lösen „müssen": „das soziale Mehrprodukt ungleich und doch legitim zu verteilen." Im Anschluß an Habermas vgl. Falcäo Neto, 1984b: 83 f. 93 Denkt man nur an die neuen Konflikte um Land zwischen „Posseiros" (positivrechtlich grundlosen Besitzern bzw. ansässigen Bauern) oder „landlosen Bauern" (organisierten „Eindringlingen") und „Grileiros" (denjenigen, die mit falschen Eigentumsbescheinigungen Anspruch auf den Besitz schon besetzter Grundstücke erheben) oder Eigentümer (vgl. die Hinweise oben Anm. 33 dieses Kap.) und an die außergesetzliche bzw. gesetzwidrige Konfliktaustragung durch die Polizei (vgl. im Hinblick auf Konflikte zwischen Angehörigen der unteren Schichten Oliveira, 1985). 94 Hierfür gelten die Bedenken von Teubner (1989: 49 u. 51) im Hinblick auf die Schwierigkeit, „gesellschaftlich diffuses Recht" von „anderen normorientierten gesellschaftlichen Kommunikationen" abzugrenzen. 95 Vgl. in dieser Richtung Ferraz Jr., 1984: insb. 117, 120 ff. 96 Es läßt sich hiernach keineswegs das Primat der politischen Sphäre in der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft behaupten, wie Ferraz Jr. (1984: 108 f.) es — merkwürdigerweise unter daran anschließendem Hinweis auf Luhmann — tun, um in Anbetracht des Mißkredits gegenüber der „Autorität" (1984: 121) das „inoffizielle Recht" als „desartikulierte Artikulation des offiziellen Rechts" zu bezeichnen (1984: 123). Es scheint sinnvoller zu sein, das Problem als Ausdruck der nicht-hinreichenden Integration von zwei Funktionssystemen einer komplexen, modernen Gesellschaft zu charakterisieren und demnach die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß die mangelhafte Leistung des positiven Rechts vom politischen System ausgenutzt, gefördert und sogar für dessen Kredit manipuliert wird.

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Rechtsstaaten Europas und Nordamerikas (s. oben S. 161 f.) gleichzustellen. Hier läßt sich die Situation in weitem Umfang als der Ausdruck der Konfliktaustragung durch systemeigene (wirtschaftliche, politische u. s. w.) Mittel und sogar als Reaktion auf die Verrechtlichung interpretieren, ohne daß damit die konfliktlösende Leistung des Rechtssystems im allgemeinen bestritten oder in Frage gestellt wird. Das Problem in Brasilien weicht stark davon ab, insoweit das Rechtssystem in seiner konfliktlösenden Leistung strukturell deshalb behindert wird, weil deren Regelmäßigkeit „dysfunktionale" Auswirkungen auf die Umwelt auslösen, radikalen sozialen Wandel voraussetzen und die Generalisierung von Konflikten fördern würde. Die verrechtlichenden Vorschläge zum Ausbau der gerichtlichen Kompetenz (Justizialisierung), der konfliktlösenden Tätigkeit der zweckgerichteten Verwaltung (Bürokratisierung) und des Klagerechts (Vergesetzlichung), wie bei der Diskussion über die Rechtsmittel zum Schutz der „diffusen" bzw. „kollektiven" Interessen, 97 tragen sehr begrenzt zur Überwindung des Problems bei, sie erfassen nur Symptome desselben. Es liegt im inadäquaten Verhältnis der Abhängigkeit / Unabhängigkeit zwischen Rechtssystem und sozialen Systemen seiner Umwelt in einer Gesellschaft, die durch riesige Schichtungskluften (Beziehungen der Über- und Subintegrierten zu den modernen sozialen Systemen) und strukturelle Heterogenität (Ineinander, Nebeneinander, Über- und Untereinander von Systemcodes und -kriterien) charakterisiert wird. Über die mangelhafte Leistung des Rechtssystems hinaus handelt es sich dabei um die unzureichende Gegenleistung der anderen sozialen Systeme an das Recht. 2.2. Verfassung und spezifische Leistung des Rechtssystems an das politische System Nicht nur durch die sich auf alle anderen sozialen Systeme beziehende Lösung der Konflikte vollbringt das Rechtssystem Leistungen. Wie schon oben (S. 113) bemerkt wurde, stellt auch die Bereitstellung normativer Einrichtungen, die der Sicherung von Strukturen und Operationen in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen dienen, eine Leistung des Rechts dar. Auf der Ebene der Verfassung nimmt die spezifische Referenz des Rechtssystems zum politischen System einen besonderen Platz ein. 98 Es handelt sich hauptsächlich um die Bereitstellung von 97 In diesem Sinne vgl. Oliveira u. Pereira, 1988, in einer rechtssoziologischen Perspektive. Zur juristischen Debatte vor der Ausarbeitung der Verfassung von 1988 s. Grinover 1984; Barbosa Moreira, 1980, 1981. Die Verfassung von 1988 nahm im weiten Umfang die erstrebten Rechtsmittel zum Schutze der „kollektiven" bzw. „diffusen Interessen" auf (vgl. Art. 5. Abs. LXX u. LXXIII, Art. 129 Abs. ΙΠ, Art. 232 — vorher hat das Gesetz N. 7.347 vom 24.7.1985 die „öffentliche Zivilklage" eingeführt). Grinover (1989: 92 — allerdings noch in Stellungnahme zur Verfassungsvorlage) äußerte dann das Bedenken, daß man gerade aus Mangel an solchen Rechtsmitteln ihnen gegenüber sehr offen geworden ist, ohne daß deren Anpassung an die Wirklichkeit gewährleistet ist. 98 So daß sich die Verfassung als eine Einrichtung des politischen Systems (Luhmann, 1973 b — vgl. oben Anm. 41 des Kap. II.) oder als „strukturelle Kopplung" von Politik

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Verfassungseinrichtungen für die politische Wahl, die Gewaltenteilung und die Differenz von Politik und Verwaltung. 2.2.7. Rechtsregulierung

des Wahlverfahrens

Obwohl die Institutionalisierung des Wahlrechts als eines der Grundrechte" zur Funktion des Rechtssystems gehört (vgl. oben S. 151), läßt sich unter anderem Blickwinkel die Verfassungsregulierung des Wahlverfahrens als spezifische Leistung des Rechts an das politische System betrachten. 100 Die Verfassungsbestimmungen über die Allgemeinheit der Wahlberechtigung, Gleichheit des Stimmgewichts und Geheimhaltung der Stimmabgabe dient dazu, daß die Wahl als entlastende Unterstützung für das politische System und damit als Mechanismus seiner Ausdifferenzierung fungiert (vgl. oben S. 55). Aber hierzu reicht offensichtlich nicht einfach das Vorhandensein der entsprechenden Hinweise im Verfassungstext aus. 101 Durch die Erfahrung der peripheren Länder erweist sich sehr deutlich, wieweit mangels gesellschaftlicher Voraussetzungen die Verfassungsnormen über den demokratischen Wahlverfahren in ihrem Konkretisierungsprozeß entstellt werden (vgl. oben S. 97 f.) wie typisch im Fall Brasilien. Parallel zu zeitgenössischen Verfassungstexten Europas Schloß die brasilianische Verfassungscharta von 1824 die Allgemeinheit der Wahlberechtigung direkt aus und brachte keine Garantie für die geheime Wahl. 1 0 2 Das ökonomisch sehr beschränkte Wahlrecht (Art. 92-95) in einer Gesellschaft, in der über die Sklaven hinaus die übergroße Mehrheit der „freien Bevölkerung" unter elenden Bedingungen lebte, 103 implizierte eine zu geringe Teilnahme am Wahlverfahren, eine oligarchische Wählerschaft. 104 Demnach gehörte das politische System den Minund Recht (Luhmann, 1990b — vgl. unten Abschn. 2.2.4. dieses Kap.) begreifen läßt. Es ist hier aber die Verfassung als normativ, kontrafaktisch orientierter Erwartungs- und Handlungszusammenhang (Verfassungsrecht) von den besonders kognitiv ausgerichteten, primär auf dem Code Überlegenheit / Unterlegenheit beruhenden Machtbeziehungen zu unterscheiden, obwohl die beiden in Wechselbeziehungen zueinander stehen. Dabei wird nicht verkannt, daß sich das Recht vom politischen System aus gesehen als ZweitCodierung der Macht bezeichnen läßt (Luhmann, 1986c: 199, 1988c: 34, 48 ff., 56). 99 Vgl. Luhmann, 1965: 186 ff. 100 Vgl. Luhmann, 1983 a: 155 ff. ιοί Mit Luhmanns Worten: es geht nicht um „nacktes geschriebenes Recht" (1965:

160).

102 Zum Wahlsystem des „Kaiserreiches" s. Soares de Souza, 1979, als „klassische" Darstellung; vgl. auch Nunes Leal, 1975:219 - 224. In kritischer Einstellung zur Wirklichkeit des Wahlvorgangs s. Faoro, 1984: 364-87,1976: 127-63. Vgl. auchOliveiraTorres, 1957: 283 ff. 103 Die für die Wähler der ersten Wahlstufe erforderlichen 100.000 réis als jährliches Nettoeinkommen „entsprachen dem Gegenwert von 759 kg Zucker oder 1.500 kg Maniokmehl oder 6 Rindern oder 4 Pferden" (Souza Martins: 1981: 40; auf dt. zit. nach Löbsack-Füllgraf, 1985: 401 Anm. 1; vgl. auch ebd. 360 f.). Dadurch bestätigte die Verfassungscharta die „politische Exklusion der Bauern" (Souza Martins, 1981: 40; vgl. dazu ebd. 24 ff.).

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derheiten, es bildet keinen Horizont ihres politischen Verhaltens. Der Code Haben / Nicht-Haben war explizit dem Machtcode übergeordnet. Außerdem ist für die schon nicht-demokratischen Wahlen des Königreiches (1824-1889) die Regelmäßigkeit der Wahlfälschung und Wahlbestechung105 sowie die Bestimmung des Wahlergebnisses nach den Interessen der Machtinhaber, von „oben" nach „unten" (keine Ungewißheit des Ausgangs 106 ), kennzeichnend.107 Im Rahmen der Verfassung von 1891 wurde das ökonomisch beschränkte Wahlrecht schließlich aufgehoben. 108 Jedoch beeinträchtigten andere Einschränkungen der Wahlberechtigungen das Prinzip der Allgemeinheit des Wahlrechts. Über den parallel zu Verfassungsstaaten Europas anhaltenden Ausschluß der Frauen hinaus wurde dieses Prinzip durch den Ausschluß der Analphabeten (Art. 70 § 1. Abs. 2.) stark entstellt, insoweit der Zugang zur Schule ein Privileg von Minderheiten bildete und demnach das Erfordernis der Alphabetisierung ein Exklusionsprinzip darstellte, keine funktional begründbare Einschränkung (wie „für Unmündige, Entmündigte, Verbrecher" 109 ) der Wahlberechtigung. 110 Damit

104 Zu den Zahlen (weniger als 1 % der Gesamtbevölkerung hat an der direkten Wahl von 1881 teilgenommen) vgl. Faoro, 1984: 375 f., 1985: 620, 1976: 127 f. In Anbetracht dessen bezeichnet Oliveira Torres (1957: 285) die Wählerschaft des „Kaiserreichs" als „symbolisch errichtete Körperschaft". In rechtfertigender Einstellung zum ausschließenden Wahlrecht der Verfassungscharta von 1824 vgl. die „klassischen" Kommentare von Pimenta Bueno, 1857: 192-94, 471 f., der von „quasi universales" Wahlrecht sprach (194); auch Vianna, 1939: 54, gegen Reformen in Richtung auf die Allgemeinheit des Wahlrechts. Mit der Einführung der Direkt-Wahl durch die Wahlreform von 1881 wurden Wahlrecht und Wahlbeteiligung eher noch weiter eingeschränkt (s. Anm. 60 des Kap. VI.) los Für den Wahlsieg waren nach Calógeras (1980: 270) alle Mittel erlaubt, die zu skandalösen Wahlfälschungen führten. 106 „Wo diese Ungewißheit fehlt, kann man strenggenommen nicht von »Wahlen4 sprechen und jedenfalls nicht von einem Verfahren im Sinne unserer Theorie, denn dazu ist wesentlich, daß die Entscheidungssituation offengehalten wird" (Luhmann, 1983 a: 155 Anm. 2). 107 Die Situation wurde durch den geläufig zitierten Sorites von Senator Nabuco de Araujo ausgedrückt: „Der Poder Moderador kann jedermann, den er will, dazu berufen, das Ministerium zu organisieren; diese Person macht die Wahl, weil sie sie zu machen hat; diese Wahl macht die Mehrheit" (Nabuco, 1936 II: 81). Kritisch gegenüber der Grenzen dieser Formulierung vgl. Faoro, 1976: 132, im Hinlick auf den Einfluß der Lokalmacht und Parteienoligarchien; auch Oliveira Torres, 1962: 99 f. los Genauer geht das auf den durch die Verordnung N. 510 von 1890 (Art. 3.) verkündeten Verfassungstext (Art 70 und Art. 1. der Übergangsbestimmungen) zurück, der in bezug auf die Wahl der verfassunggebenden Versammlung „formal" in Kraft war. 109 Luhmann, 1983 a: 159. ho Auch die Bettler, die Militärs, die nicht Offiziere waren (mit Ausnahme der Studenten der Militärhochschulen), und die Mitglieder von religiösen Körperschaften, deren Regeln den „Verzicht auf die individuelle Freiheit" implizierte, wurden vom Wahlrecht ausgeschlossen (Art. 70, § 1., Abs. 1., 3. und 4.). Aber die wichtigste Verfassungsejcklusion bildete sowohl quantitativ als auch qualitativ die der Analphabeten: Nach den offiziellen Statistiken (IBGE, 1989: 72) waren im Jahr 1900 65,1% und im Jahr 1920 64,9% der Bevölkerung ab dem 15. Lebensjahr Analphabeten; für die Massen der Subintegrierten gab es keine Schule.

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zusammenhängend (aber nicht nur und nicht verhältnismäßig) blieb die Teilnahme an der Wahl nach wie vor auf einen sehr geringen Teil der Bevölkerung beschränkt. 111 Außerdem fehlte die effektive Garantie der Geheimhaltung der Stimmabgabe sowohl im Verfassungstext als auch in den Wahlgesetzen (vgl. Anm. 117 dieses Kap.). Zu diesen auf der Ebene der Rechtssetzung den demokratischen Charakter der Wahl verzerrenden Implikationen 112 kam die Regelmäßigkeit der Wahlfälschung und Wahlbestechung im Rahmen der „Politik der Gouverneure" (s. oben Anm. 41 des Kap. IV.) und konkreter des „Coronelismus" als Kompromißformel zwischen außerstaatlicher („privater") Lokalmacht (besonders der Großgrundbesitzer) im Untergrund und „repräsentativer" Staatsgewalt hinzu. 113 Obwohl der „Coronelismus" seine Herkunft in den verwandtschaftlichen Beziehungen fand, 114 bildete seinen Grund das Besitzen von „Vermögensgütern" 115 in einer an der Außennachfrage orientierten Wirtschaft. Trotz aller traditionalistischen Bedingtheiten dieses Phänomens läßt es sich systemtheoretisch als Ausdruck der Unterordnung des politischen Codes unter den Code Haben / NichtHaben interpretieren, insoweit die Stimme ein Tauschgut darstellte. 116 Die ausdifferenzierte Leistung des Rechtssystems an das politische System verlor nach all dem an Kraft. Die Ausdehnung der Wahlberechtigung auf die Frauen, die Garantie der geheimen Wahl und die Errichtung der Wahlgerichtsbarkeit durch das Wahlgesetzbuch von 1932 (vgl. oben S. 126 f.) 1 1 7 bildeten wichtige Schritte des Rechtssystems in Richtung auf die Trennung der Wählerrolle von anderen Interessen und Rollen der Bürger und auf die Ungewißheit des Wahlausgangs (s. Anm. 106 dieses Kap.). Aber der Ausschluß des Wahlrechts für die Analphabeten 118 im Verfassungstext von 1934 (Art. 108, einziger Paragraph Al. a) führte zur Verzerrung des Prinzips der Allgemeinheit der Wahl (vgl. oben S. 127 f.). 1 1 9 Außerdem, ob111 Zu den Indizes (die Beteiligung „schwankte" zwischen 3,4 % und 2,3 % der Bevölkerung von 1898 bis 1926) s. Faoro, 1985: 620 f. Π2 Zur Wahlgesetzgebung der „alten Republik" (1889-1930) s. Nunes Leal, 1975: 225-30. h 3 So definiert Nunes Leal in seiner klassischen, politisch-juristischen Erörterung dieses Phänomens (1975: insb. 20 u. 252). In einer soziologischen Perspektive s. Pereira de Queiroz, 1985. Unter einem politisch-soziologischen Gesichtspunkt s. Faoro, 1985: 620-54. Als deutschsprachige Darstellungen vgl. Brühl, 1989: 136-44, Löbsack-Füllgraf, 1985: 361-64. 114 Pereira de Queiroz, 1985: 164-71. us Pereira de Queiroz, 1985: 171-78. 116 Pereira de Queiroz, 1985: 160-64. 117 Was die Geheimhaltung der Stimmabgabe anbelangt, ließen die verkündeten „Garantien" früherer Gesetze Spielraum für die Identifikation der Stimme (vgl. Nunes Leal, 1975: 232 f.). us Dafür hat Assis Brasil (1931: 43-49) explizit eingetreten, der eine wichtige Rolle für die „progressive" Wahlreform von 1932 spielte (Anm. 49 des Kap. IV.). 119 Auch den Militärs, die nicht Offiziere, Unteroffiziere, Studenten der Militärhochschule oder Anwärter zum Offizierspatent waren, und den Bettlern wurde kein Wahlrecht

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schon der „Coronelismus" seinen Höhepunkt in der „ersten Republik" (18891930) erreichte, erhielten sich noch in hohem Ausmaß dieses oder ähnliche Phänomene der Ausartung der Stimme in Tauschgut bzw. Gegenleistung.120 Durch das die Einmischung der Exekutive sichernde Modell der indirekten Wahl des Nationalparlaments und des Staatsoberhaupts („Präsidenten der Republik") wandte sich die Verfassungscharta von 1937 (Art. 46, 47, 50 u. 82-84) 1 2 1 der konservativen Kritik zu, die für elitäre und korporativistische Wahlen als Lösung für die „Unechtheit" der allgemeinen, direkten, geheimen und gleichen Wahlen in Brasilien plädierte. 122 Aber nach den Übergangs- und Schlußbestimmungen der Verfassungsurkunde selbst (vgl. oben S. 130 f.) fand keine Wahl während des „Estado Novo" (1937-1945) statt. Die Verfassung von 1946 setzte das Prinzip der allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahl wieder ein (Art. 134), und außerdem lehnte sie in bezug auf die politische Wählerschaft die korporativistischen Elemente des Verfassungstextes von 1934 (Art. 23) ab; doch bestanden das Problem des Ausschlusses der Analphabeten (Art. 132 Abs. I) und damit zusammenhängend das der im Verhältnis zur Gesamtheit der Volljährigen sehr begrenzten Wählerschaft fort. 123 Außerdem folgte aus dem Art. 58 die überproportionale Vertretung der demographisch kleineren, „weniger entwickelten", „konservativen" Bundesstaaten in der Abgeordnetenkammer als Faktor der Verzerrung des „Repräsentationssystems". 1 2 4 Hinzu kam, daß in der neuen Verfassungswirklichkeit die Mechanismen der Verflechtung der Stimme im konkreten Interessenzusammenhang als zugeschrieben (Verfassung von 1934, Art. 108, einziger Paragraph Al. b u. c). Nicht verhältnismäßig zu den Verfassungsbeschränkungen und trotz der Wahlpflicht (mit Ausnahme der Frauen, die nicht Beamtinnen waren — Verfassung von 1934, Art. 109) blieb die Wahlbeteiligung sehr unbedeutsam: an der Wahl der Verfassunggebenden Versammlung von 1933 -1934, für die das Wahlgesetzbuch von 1932 mit diesen Prinzipien schon galt, haben sich nur ungefähr 6 % der Volljährigen (ab achzehntem Lebensjahr) beteiligt (nach Almeida, 1987: 35; vgl. auch Dillon Soares, 1973: 52). 120 Vgl. Nunes Leal, 1975: 255 f. 121 Wenn der Präsident der Republik den vom Wahlkollegium gewählten Kandidaten nicht akzeptiert hätte, so hätte er das Vorrecht ausüben können, einen anderen anzugeben, der in einer direkten Wahl gegen den indirekt gewählten Kandidaten hätte antreten können (Art. 75 Al. a und Art. 84 der Verfassungscharta von 1937). Außerdem gehörte ihm die Befugnis, 10 (ungefähr 1/3 der) Mitglieder des Bundesrates zu ernennen (Art. 50). ι 2 2 Vgl. ζ. B. die Verfassungsänderungsvorlage von Torres (1978: 301-331), Art. 33 u. 49; die Stellungnahme von Vianna (1939: 251-257) zur Präsidentschaftswahl im Itamaraty-Ausschuß (1932); andere Hinweise bei Nunes Leal, 1975: 249. 123 Sogar im Verhältnis zu den offiziellen Indizes des Analphabetismus (s. oben Anm. 83 des Kap. IV.) waren trotz der Wahlpflicht (Art. 133) die (eingeschriebene) Wählerschaft und vor allem die Wahlbeteiligung noch gering; aber die Zahlen stiegen bedeutsam gegenüber der vorhergehenden bereits bei der Wahl der Verfassunggebenden Versammlung von 1945, an der sich 27% der Volljährigen beteiligten (nach Almeida, 1987: 35; vgl. auch Dillon Soares, 1973: 41). 124 Fleischer, 1988: 65 ff. Durch den Verfassungsinstrumentalismus des Militärregimes (besonders ab 1968) verschärft sich diese Situation; vgl. Fleischer, 1988: 71 ff., 1986: 88 ff.

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Tauschgut, Gegenleistung u. s. w. noch immer eine bedeutende Rolle spielten. Obwohl das Phänomen des Coronelismus schon im Untergang begriffen war, 125 entstanden und entwickelten sich neue Mittel für die Manipulierung der konkreten Bedürfnisse der subintegrierten Wähler. Mit dem Verfassungsinstrumentalismus von 1964-1985 wurden die alten Probleme der Entstellung des Wahlverfahrens im Konkretisierungsprozeß und auch durch die die Wahlberechtigung beschränkenden Vorschriften weiterhin relevant. Darüber hinaus und für diese Periode bezeichnend implizierten die Verfassungschartas von 1967/1969 und die „Atos Institucionais" (Ausnahmegesetze mit Verfassungskraft) einen autoritären, direkten Bruch mit der Neutralisierung des Wahlverfahrens. Dazu trugen besonders die ritualistischen, „indirekten" Wahlen des Präsidenten und der Gouverneure sowie die „kasuistischen" Verfassungsänderungen und Wahlgesetze zwecks Aufrechterhaltung der Regierungsmehrheit im Parlament und in den zur „Ernennung" der Präsidenten und Gouverneure zuständigen Wahlkollegien bei. 1 2 6 Auch das von „oben" nach „unten" auferlegte Zweiparteiensystem (vgl. oben Anm. 93 des Kap. IV.), die Verfolgung der ungesetzlichen Opposition und die Verwirkung der aktiven Grundrechte wichtiger Politiker führten zur Identifikation des Wahlverfahrens mit denjenigen politischen Gruppierungen, die gegenüber der Militärregierung als treu oder loyal auftraten. Die Verfassung von 1988 setzt umfassend die Allgemeinheit des Wahlrechts, die Gleichheit des Stimmgewichts, die Geheimhaltung der Stimmabgabe und das direkte Wahlverfahren fest (vgl. oben S. 142). Die Wählerschaft hat sehr stark zugenommen, und ihr quantitatives Verhältnis zur Gesamtheit der Volljährigen 127 weist nicht mehr wie früher die Verzerrung des Mehrheitsprinzips als einer der demokratischen „Spielregeln" 128 auf. Mit der Verstädterung der letzten Jahrzehnte sind die Mechanismen des „Coronelismus" zur übriggebliebenen Ausnahme geworden und verloren an Bedeutung. 129 Die Wahlfälschungen und anderen Wahl125 Vgl. Nunes Leal, 1975: 255 ff. 126 Hierzu s. Fleischer, 1986, 1988: 68 ff. 127 Die eingeschriebene Wählerschaft und die Wahlbeteiligung stiegen in der letzten Präsidentschafts wähl (November — Dezember 1989) auf jeweils mehr als 82 Millionen Wähler und 72 Millionen Stimmen im ersten Wahlgang, 55 % bzw. 49 % der Gesamtbevölkerung, gegenüber nicht mehr als 3% in den Präsidentschaftswahlen der „Alten Republik" (1889-1930), 13% in der Präsidentschaftswahl von 1945 und 18% in der von 1960 (nach Lamounier, 1989: 147). Es ist anzumerken, daß außer für die Analphabeten, für die über Siebzigjährigen sowie die Sechzehn- bis Achzehnjährigen die Wahlpflicht gilt (Art. 14 § 1.). 128 So bezeichnet Bobbio (1976b: 19, dt. 1977: 37 f.) die Regeln des demokratischen Verfahrens, darunter „das Prinzip der numerischen Mehrheit" (20 bzw. 38); vgl. auch ders., 1988: 8-11. 129 Vgl. Pereira de Queiroz, 1985: 187 f.; anders Brühl, 1989: 144. In Anbetracht der Zuwanderung von Angehörigen der höheren und unteren Schichten des Landes in die Stadt (Verstädterung der sechziger Jahre) hat Reis (1971) auf der Basis einer empirischen Untersuchung in Belo Horizonte den Begriff von „neo-coronelismo" einzuführen versucht, m. E. nicht überzeugend.

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delikte führen nicht mehr dazu, daß die Ungewißheit des Wahlausgangs fehlt. Sollte das besagen, daß im Zusammenhang von Verfassungstext und sozialem Kontext die Wahl in Brasilien endlich die Funktion der Machtneutralisierung und zugleich Machtunterstützung erfüllt? Mit den hier dargestellten Bemerkungen ließe sich behaupten, daß mit Ausnahme der zwei Perioden des Verfassungsinstrumentalismus (1937-1945 und 19641985) ein kontinuierlicher Evolutionsprozeß in Richtung auf die Demokratisierung des Wahlverfahrens sowohl im Verfassungstext als auch in der Verfassungswirklichkeit ablief. Aber einer solchen Behauptung könnte man hinzufügen, daß dieser Prozeß schneller und einfacher die Bühne der Verfassungstextgebung betrat, als er sich auf der Konkretisierungsebene durchsetzte. Es ist hier nicht zu bestreiten, daß auch in Brasilien die „Rechtsformalitäten" eine wichtige Rolle für den Ausbau der „Repräsentativität" des Wahlverfahrens spielten. 130 Es geht auch nicht darum, im Anschluß an die konservativen, „realistischen" Kritiker, der „Homogenität" einer informierten und für die Wahl vorbereiteten Wählerschaft in England oder Frankreich die Ignoranz der brasilianischen Wähler entgegenzusetzen, um autoritäre und elitäre Vorschläge einzuführen. 131 „Die Rolle des Wählers", so Luhmann, „setzt nicht, wie man oft hört, einen aufgeklärten, urteilsfähigen oder gar politisch gebildeten' Zeitungsleser voraus." 132 Von „unten" besteht das Problem in Brasilien noch heute darin, daß für die Subintegrierten (die Mehrheit), die um der Nicht-Befriedigung der lebenswichtigen Bedürfnisse willen nicht warten können (vgl. Anm. 122 des Kap. III.), die Indifferenz der Wählerrolle gegenüber ihren anderen gesellschaftlichen Rollen und Interessen schwerlich zur Wirklichkeit werden kann, insoweit ihre Stimmen in Tauschgüter, in konkrete Gegenstände von Leistungen / Gegenleistungen und Loyalitäten verwandelt werden (s. Anm. 126 des Kap. III.). Dies hängt damit zusammen, daß wegen ihrer Exklusion sich die Subintegrierten nicht in Entscheidungsabnehmer versetzen können. 133 Im Erleben der unter notdürftigen Bedingungen lebenden Wähler sind die konkrete, unmittelbare „Hilfe", „Gefallen", „Versprechen" der Kandidaten und Wahlhelfer (cabos eleitorais) wichtiger als die abstrakten und distanzierten Entscheidungen des verfassungsrechtlich geregelten politischen Systems.134 130 in diesem Sinne s. Lamounier, 1981. 131 Hierzu kritisch Lamounier, 1981: 245. Mit dieser während der zwanziger und dreißiger Jahre in Brasilien geläufigen Einstellung vgl. Vianna, 1939: insb. 94 ff., 221 ff. 132 Luhmann, 1965: 157. Er fügt aber hinzu (ebd.): „Ein gewisser common sense, der Extremfälle und skandalöse Mißgriffe aussiebt, ist natürlich unerläßlich, ebenso wie eine gewisse Rollenkenntnis, die weiß, welche Mitteilungen auf welchen Weg gehören." 133 Vgl. Luhmann, 1965: 150. 134 Diese Situation, die Caldeira (1980: insb. 102 ff.) im Rahmen einer empirischen Untersuchung am Rand der Stadt Säo Paulo für die Parlamentswahl von 1978 bestätigte, hat sich mit der „formalen Demokratisierung" offensichtlich nicht verändert; der „Klientelismus" bleibt nach wie vor, obwohl in neuen Formen, erhalten (vgl. hierzu Gay, 1990:

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Was die von „oben" bedingte Beeinträchtigung des Wahlverfahrens anbelangt, ist nicht nur der geläufige, skandalöse Mißbrauch der Wahlkampfkosten zu beklagen, welcher keine ernstzunehmende, effiziente Reaktion der Wahlgerichtsbarkeit auslöst. Für diese Untersuchung ist wichtiger, daß die Wahl nicht ausreichend als entlastende und grundlegende Unterstützung des politischen Systems bzw. als Konflikte absorbierender und zersplitternder Mechanismus fungiert in dem Maße, wie der Wahlausgang und die daraus folgenden politischen Entscheidungen von der Bestätigung des Militärs, der USA-Botschaft, der Unternehmerschaft (besonders der im Inland etablierten multinationalen Konzerne) u. a. abhängen. Das beeinträchtigt direkt die Flexibilität des politischen Systems, die auf die Generalisierung der politischen Unterstützung durch das rechtlich geregelte Wahlverfahren angewiesen ist (s. oben, S. 97 f.). Man könnte unter diesen Umständen nicht behaupten: „Der Bürger verteilt die Karten des politischen Spiels." 135 Das politische Spiel läuft im weiten Umfang ohne Rücksicht auf den und unabhängig vom Wahlausgang.136 Unter Druck von „unten" und „oben" dient das verfassungsrechtlich geregelte Wahlverfahren noch heute in Brasilien, trotz der immer höheren Komplexität der Gesellschaft, weder der Immunisierung des Machtcodes gegenüber den konkreten Interessen der Bürger noch der Generalisierung der politischen Unterstützung für den Kreislauf (und Gegenkreislauf) von Publikum, Politik und Verwaltung 1 3 7 und also auch nicht der Autonomie des politischen Systems. Wie für andere periphere Länder ist es demnach „kaum möglich, der politischen Wahl den Sinn der Konstitution eines neuartigen Handlungskreises zu geben". 138 Als Leistung des Rechts an das politische System werden die Verfassungseinrichtungen für gleiche, geheime und allgemeine Wahl durch die konkreten Notbedürfnisse der unteren Schichten und die partikularen Interessen der Oberschichten verzerrt. In dieser Konstellation „bleibt die Verwaltungsbürokratie [ . . . ] zwar domi450 ff.). Hier wird aber auf keinen Fall die vereinfachende Dichotomie „ideologische Stimme versus Klientel-Stimme" aufgenommen. Hierzu kritisch Lamounier, 1981: 245 f. 135 Luhmann, 1965: 154. 136 ,»Neben den Umweltvoraussetzungen, die erfüllt sein müssen, sollen Wahlen nicht zur Farce werden, müssen im politischen System die Verfahren der Ausarbeitung von Entscheidungsprogrammen die Möglichkeiten aufgreifen und verwirklichen, die durch das Verfahren der politischen Wahl geboten werden" (Luhmann, 1983 a: 173). Damit wird keineswegs das mit „der Generalisierung politischer Unterstützung unvereinbar(e)" imperative Mandat vertreten (vgl. Luhmann, 1983 a: 165 Anm. 19), das, obwohl ein vormoderner Mechanismus (eine „mittelalterliche Figur" — Lamounier, 1981: 253), eine sehr wichtige Stütze noch im „aufklärerischen" Werk Rousseaus hatte; vgl. Rousseau, 1975: 301-303 (Buch III, Kap. XV). 137 Hierzu Luhmann, 1981 e: insb. 164, 19811: 43 ff. 138 Luhmann, 1965: 160. In diesem Kontext wird also auch kaum möglich sein, folgendes als Ergebnis der Leistung des Wahlrechts an das politische System festzustellen: „Die systeminterne Rationalisierung des Problementscheidens nach eigenen Kriterien tritt an die Stelle einer Orientierung an rein externen Schranken des Handelns, den Grenzen physischer Zwangsgewalt oder vorhandener Loyalitäten" (Luhmann, ebd.).

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nierende Staatsanstalt; aber sie wird durch unvermittelte Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Sonderinteressen und partikularen Bindungen gefesselt." 139 So stößt man auf einen anderen Aspekt des Problems der Leistung des Rechts an das politische System: die Trennung von Politik und Verwaltung. 2.2.2. Die Trennung von Politik und Verwaltung Die Differenz von Politik und Verwaltung beruht auf dem Verfassungsrecht. 140 Durch diese Leistung des positiven Rechts an das politische System wird die Verwaltung neutralisiert bzw. immunisiert gegenüber konkreten und partikularen Interessen; sie fungiert dann nach „rational-bürokratischen" Anweisungen und Prinzipien mit Anspruch auf Allgemeinheit. 141 Damit wird nicht ausgeschlossen, daß die höheren Schichten stärkeren Einfluß auf die Ausarbeitung und Ausführung des Verwaltungsprogramms ausüben, sondern es wird nur behauptet, daß das im politischen System innendifferenzierte Verwaltungssystem effektiv über eigene Filterungsmechanismen gegenüber den Einwirkungen externer Faktoren verfügt. 142 Wenn das nicht der Fall ist, wie heute in den peripheren Ländern, tritt die Partikularisierung oder die Politisierung der Verwaltung zutage, mit allen ihren negativen Bedingtheiten und Implikationen in einer immer komplexer werdenden Weltgesellschaft. In Anbetracht des Modells der portugiesischen Kolonisierung wird dieses Phänomen in Brasilien geläufig als Ausdruck des Andauerns der traditionalen Handlungsbestimmungen betrachtet. In dieser Richtung spricht man von Überordnung der „privaten Ordnung" in der „politischen nationalen Organisation" 143 oder im Anschluß an Weber von „Patrimonialismus" 144 . Obwohl sich solche von der Kolonialzeit über das Königreich in die Republik reichenden Erscheinungen als traditionale, die Modernisierung behindernde Überbleibsel interpretieren las-

139 Luhmann, 1965: 160 f. 140 Vgl. Luhmann, 1973b: 8-12. 141 In Anbetracht dessen behauptet Luhmann (1965: 155), daß die Trennung von Politik und Verwaltung „die praktische Anwendung des Gleichheitssatzes" ermöglicht. 142 In diesem Sinne müssen sich Verwaltungsbeamte „nicht selten gegen höherrangige Mitglieder der Gesellschaft durchsetzen und benötigen deshalb besonders legitimierte Rechte zu verbindlichem Entscheiden" (Luhmann, 1965: 147). Damit hängt zusammen, „daß in einem politischen System, das seine Teilsysteme nach Funktionen differenziert und spezifiziert, der ausführenden Verwaltung nicht zugleich Funktionen der Legitimation, der Konsensbeschaffung und Enttäuschungsbewältigung aufgetragen werden sollten, weil das ihre Entscheidungsprozesse mit Nebenfunktionen belasten und ihre Rationalisierung erschweren würde" (Luhmann, 1983 a: 211). 143 So Duarte, 1939. In der Eröffnung seines „klassischen" Werks über die Bildung der brasilianischen Gesellschaft behauptet in diesem Sinne Freyre (1984: 4), daß sich diese „weniger durch die offizielle Initiative als durch den Arm und das Schwert der Privatperson" entwickeln sollte. Vgl. auch Buarque de Holanda, 1988: 50. 144 So Faoro, 1984-1985: insb. 15 ff., 84 ff., 733 ff. Vgl. auch Uricoechea, 1977. 12 Neves

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sen, 145 verlor diese herkömmliche Auffassung im Verlauf des geschichtlichen Prozesses an Bedeutung, besonders im Hinblick auf die rasche, periphere Industrialisierung und Verstädterung der drei letzten Jahrzehnte, durch welche die Komplexität der Gesellschaft stark anstieg. Andererseits handelt es sich dabei nach wie vor um soziale Strukturen eines immer enger in die (moderne) Weltgesellschaft funktional integrierten Landes, so daß dem Ausdruck „Patrimonialismus" eine andere Bedeutung zugeschrieben werden sollte. 146 Von „unten" her gesehen hängt die außerlegale oder gesetzwidrige „Partikularisierung" oder „Politisierung" der Verwaltung in Brasilien von der Verelendung breiter Bevölkerungsgruppen ab, die nicht als „abstrakte", „unpersönliche" Entscheidungsabnehmer warten können. Von den Überintegrierten her wird die Verwaltung durch die Verteilung von privilegierenden Vorteilen (Plätzen, Subventionen u. s. w.) unmittelbar als Ausgleich zur Schwäche der abhängigen Reproduktion der Wirtschaft im Inland benutzt. Außerdem wird die Manipulierung der Verwaltung durch die Erteilung von Privilegien für die Angehörigen der höheren Schichten und „Beihilfen" für die Subintegrierten als Legitimationsmechanismus eingesetzt, insoweit die Generalisierung der politischen Unterstützung durch den Kreislauf von Politik, Verwaltung und Publikum (demokratische Legitimation) entfällt. In diesem Zusammenhang werden die Verwaltungsstellen üblicherweise nicht nach selektiven Eignungskriterien (wie nach dem in der Verfassung von 1988, Art. 37 Abs. II, vorgeschriebenen öffentlichen Selektionsexamen) besetzt, sondern sie werden als Tauschgegenstände verhandelt, mit allen negativen Folgen für die Effizienz der Verwaltung. 147 Ebenso wie für die peripheren Länder im allgemeinen „entwickeln sich an den Grenzen der Verwaltung zum Publikum partikulare Kontaktsysteme mit Tauschcharakter". 148

145 In diesem Sinne behauptet Faoro (1985: 736): „Die geschichtliche Wirklichkeit Brasiliens bewies [ . . . ] das säkulare Beharrungsvermögen der patrimonialen Struktur im tatkräftigen und unbeirrbaren Widerstand gegen die progressive Wiederholung der kapitalistischen Erfahrung." Hiernach bezeichnet er (1985: 738) mit Webers Worten die brasilianische Beamtenschaft als „Beamtenstand" statt „Berufsbeamtentum" (im Original auf deutsch). 146 Hierauf würde Faoro reagieren durch die folgende Behauptung: Die Legitimität des Patrimonialismus „beruht auf dem Traditionalismus — es ist so, weil es immer so war" (1985: 733). Aber in anderem Zusammenhang spricht Elsenhans (1977: 35-37) im Hinblick auf „einige formale Parallelen" (35) von „einer neuen Form asiatischer Produktionsweise" in den peripheren Ländern, die sich „von einer asiatischen Produktionsweise alten Typs" doch durch die Technik und Klassenstruktur sowie durch die „Genese" unterscheidet (35 f.). 147 Damit werden die Möglichkeiten der Rationalisierung in der Personalpolitik, also die Möglichkeiten, „die Fähigkeiten von Personen und die Anforderungen der Aufgaben (Stellen) besser aufeinander abzustimmen" (Luhmann, 19811: 116), verbaut. 148 Luhmann, 1965: 155 (aber mit der Verwendung des Ausdrucks „Entwicklungsländer"). Unter diesen Umständen erfüllt das Recht nicht oder nur sehr unzulänglich die „Funktion der Externalisierung für das Verhältnis von Verwaltung und Publikum " im Sinne Luhmanns (19811: 64); vgl. oben Anm. 142 dieses Kap.

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Auch wenn tendenziell die Politisierung einem allgemeinen Programm gegen die strukturelle Unterentwicklung oder für die kapitalistische Akkumulation unterliegt, 1 4 9 was auch durch die Verelendung der Massen begünstigt wird, bleiben die Möglichkeiten für das politische System in Brasilien sehr begrenzt, sich aus partikularen Bedingungen zu befreien; die Verwaltung funktioniert in diesen Fällen unter Druck von konkreten Notbedürfnissen und partikularen Interessen und wird im Hinblick darauf als Ausgleich zum Mangel an Generalisierung der politischen Unterstützung (demokratische Legitimation) ausgenutzt.150 Trotzdem erweist sich noch immer als sehr wahrscheinlich, daß die Überwindung der Unterentwicklung von einer zweckgerichteten politischen Entdifferenzierung abhängt, die in einem nächsten Moment zu einer neuen Form der gesellschaftlichen Differenzierung führen könnte. 151 Im Rahmen der heutigen Weltgesellschaft aber dauern die politisch-ökonomischen Schwächen eines peripheren Landes und der damit zusammenhängende Boykott durch die Großmächte an als schwer zu überwindenden Behinderungen für einen solchen radikalen Wandel. 2.2.3. Die Gewaltenteilung Das Wegfallen der Differenz von Politik und Verwaltung geht auf die Probleme der mangelhaften Gewaltenteilung zurück. Betrachtet man die Gewaltenteilung als Mittel der Begrenzung der politischen Macht gegenüber einer autonomen Rechtssphäre, 152 dann läßt sie sich als Reflexionsmechanismus des Rechts einordnen. Aber die Gewaltenteilung erfüllt auch „die Filterfunktion zwischen Politik und Verwaltung und die Funktion der Machtkettenverlängerung", die ebenso „auf eine Verankerung in der Verfassung angewiesen [sind]". 153 So bildet sie auch, betrachtet man die Verfassung als eine Einrichtung des Rechtssystems (Verfassungsrecht — s. Kap. II. 2), eine Leistung des Rechtssystems an das politische System. In der brasilianischen Erfahrung wurde das Prinzip der Gewaltenteilung immer verzerrt, zuerst durch die auf der Verfassungscharta von 1824 beruhende Überordnung der „Poder Moderador" im Königreich (vgl. oben S. 118), später durch das entweder in der Verfassungsurkunde und den Ausnahmegesetzen mit Verfassungskraft verankerte (Verfassungsinstrumentalismus von 1937 und 1964) oder im Rahmen des Konkretisierungsprozesses entwickelte (nominalistische Verfassungen von 1891, 1934, 1946 und 1988) Übergewicht der Exekutive. 154 Spricht 149 Vgl. hierzu bereits die Bedenken von Luhmann, 1965: 101 f., in einer Modernisierungsperspektive. 150 Für die peripheren Länder im allgemeinen vgl. unter unterschiedlichen Gesichtspunkten Luhmann, 1965: 161; Elsenhans, 1977: 39. 151 Vgl. in anderem Zusammenhang Pieper, 1987: 538. 152 So die auf Montesquieu (1973: 168-79 — Buch XI, Kap. VI) zurückgreifende, geläufige Konzeption. 153 Luhmann, 1973 b: 11 f. 1*

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man von „persönlicher Macht" für das Königreich (,,Poder Moderador") 155 , „legaler Diktatur" 15 6 und „Neopräsidentialismus" 157 für die Republik, sind doch die Perioden des Autoritarismus von denen des Verfassungsnominalismus zu unterscheiden, weil in letzteren eine begrenzte Öffentlichkeit und der Zugang einer echten Opposition zur Legislative erlaubt werden. Trotzdem ist die Schwäche der gesetzgebenden und der rechtsprechenden Gewalt eine Konstante. Das Phänomen des Übergewichts der Exekutive hängt m. E. damit zusammen, daß die Verwaltung besser als die „abstrakte" Gesetzgebung und die „passive" Rechtsprechung geeignet ist, die konkreten Bedürfnisse zu manipulieren und Privilegien zu erteilen. Ohne Bindung an die Gesetze und ohne effiziente Kontrolle der Justiz handelt dann die Exekutivgewalt in Brasilien regelmäßig nicht nach gesetzlichen, abstrakten, unpersönlichen, rational-bürokratischen Anweisungen, sondern nach konkreten, persönlichen und partikularen Forderungen, so daß sich Kontaktsysteme mit Tauschcharakter im Bereich der Wirtschaft, Politik und Erziehung entwickeln. Außerdem werden die „mäßigenden" bzw. verfassungsdurchbrechenden Eingriffe der Militärs in die Politik durch die Exekutive durchgeführt. 2.2.4. Gegenleistung und strukturelle

Kopplung

Daß die Verfassungseinrichtungen für die politische Wahl, die Differenzierung von Politik und Verwaltung und die Gewaltenteilung nicht ausreichend als Leistungen des Rechtssystems an ein selbstreferenzielles politisches System fungieren, hängt mit den mangelhaften Gegenleistungen der Politik an das Rechtssystem zusammen. Dieses Problem läßt sich auch nach Luhmanns Konzeption der Verfassung als struktureller Kopplung von Politik und Recht erörtern. 158 Die Verfassung im modernen Sinne kann hiernach als Brücke der Übertragung der wechselseiti154 In der „1. Republik" (Verfassung von 1891) habe der Präsident des Obersten Bundesgerichtes, Pedro Lessa, behauptet: „An erster Stelle die Exekutive, an zweiter die Exekutive, an dritter und letzter immer die Exekutive . . . " (zit. nach Chacon, 1987:

126).

155 Die im Untergang des „Kaiserreiches" geläufig gewordene Verwendung des Ausdrucks „Persönliche Macht" in bezug auf den „Kaiser" als Träger des „Poder Moderador" (vgl. hierzu Celso, 1981: 131 ff.) wird zu Recht von Faoro (1976: 57-61) als Produkt eines Mythos charakterisiert, im Hinblick auf die Macht der Oligarchien und die opportunistische Benutzung der Formel seitens dieser (vgl. auch 136 f.). 156 So Mirkine-Guetzévitch, 1932: XCV ff., der behauptete: „Les Constitutions de l'Amérique latine contiennent ainsi la clause de la dictature légale " (XCV); „dans chaque Constitution de Γ Amérique latine existent des germes latents de dictature,légale4 " (XCVIII). 157 Vgl. hierzu Loewenstein, 1975: 62-66. iss Luhmann, 1990b: insb. 193 ff. Der Begriff „strukturelle Kopplung" hat einen zentralen Platz in der biologischen Theorie der autopoietischen Systeme von Maturana und Varela (vgl. Maturana, 1982: 143 ff., 150 ff., 251 ff., 287ff; ders. u. Varela, 1987: 85 ff.), auf die Luhmann zur Übertragung auf die sozialen Systeme explizit zurückgreift (vgl. 1990b: 204 Anm. 72, 1989a: 6 Anm. 6).

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gen Leistungen und vor allem als Interpenetrationsmechanismus 159 von zwei sozialen Systemen, der Politik und dem Recht, begriffen werden, insofern sie „eine rechtliche Lösung des Selbstreferenzproblems des politischen Systems und zugleich eine politische Lösung des Selbstreferenzproblems des Rechtssytems ermöglicht." 160 Durch die Verfassung als strukturelle Kopplung wird die unmittelbare Beeinflussung des Rechts seitens der Politik und umgekehrt ausgeschlossen, jedoch die Möglichkeit des wechselseitigen Einflusses immens gesteigert 161 und die „Lernchancen" für die beteiligten Systeme verdichtet. 162 So dient die Verfassung der Interpénétration der beiden selbstreferenziellen Systeme, was zugleich Verhältnisse wechselseitiger Abhängigkeit und Unabhängigkeit impliziert, die ihrerseits „auf der Grundlage selbstreferentieller Systembildung" möglich sind. 163 In der Verfassungsentwicklung Brasiliens setzte sich statt der Interpénétration das blockierende Ineinander und Über- / Untereinander und das nicht-beobachtende Nebeneinander von Recht und Politik durch. Die Politik (i. w. S.) läuft im weiten Umfang ohne Rücksicht auf ihre rechtliche Umwelt, und das nicht nur während der Diktatur; das Rechtssystem seinerseits beobachtet nicht adäquat seine politische Umwelt. Man kann also von einer Zerstörung der „Lernchancen" sprechen. Außerdem entwickeln sich entdifferenzierende Beeinflussungen, die besonders in Richtung auf die Politisierung des Rechts läuft. In diesem Zusammenhang verliert die Übertragung der besonders auf der geschichtlichen Entwicklung des Konstitutionalismus in den USA beruhenden Luhmannschen Konzeption der Verfassung als struktureller Kopplung von Politik und Recht an Kraft.

159 Zum Begriff der Interpénétration s. Luhmann, 1987b: 289 ff., der diesen Begriff von dem der Leistungsbeziehungen („Input / Output-Beziehungen" — 1987 b: 275 ff.) unterscheidet: „Von Penetration wollen wir sprechen, wenn ein System die eigene Komplexität (und damit: Unbestimmtheit, Kontingenz und Selektionszwang) zum Aufbau eines anderen Systems zur Verfügung stellt. [... ] Interpénétration liegt entsprechend dann vor, wenn dieser Sachverhalt wechselseitig gegeben ist, wenn also beide Systeme sich wechselseitig dadurch ermöglichen, daß sie in das jeweils andere ihre vorkonstituierte Eigenkomplexität einbringen" (290). Davon unterscheidet sich der Begriff der Interferenz bei Teubner, 1989: insb. 110, 1988: 55 ff. 160 Luhmann, 1990 b: 202. 161 Luhmann, 1990b: 205. 162 Luhmann, 1990b: 206. 163 Luhmann, 1981 e: 165.

Kapitel VI

Verfassung und Rechtssystem· Reflexionsprobleme Die im letzten Kapitel berücksichtigten Funktions- und Leistungsprobleme des Rechtssystems im Rahmen der Verfassungserfahrung Brasiliens implizieren negative Probleme in der Beziehung dieses gesellschaftlichen Teilsystems „zu sich selbst", also in dessen Reflexion. Die der Rechtstheorie bzw. der Rechtsdogmatik zugeschriebene Reflexion i. e. S. als Rückbezug des Rechtssystems auf die eigene Identität, auf sich selbst als Ganzes, setzt aber basale (elementare) Selbstreferenz und Reflexivität voraus und umgekehrt (s. oben S. 113 f.). Im Hinblick auf diese trennscharfe begriffliche Unterscheidung Luhmanns wird in diesem Kapitel der Zusammenhang zwischen nominalistischen bzw. instrumentalistischen Verfassungen und Brüchen in der Beziehung des Rechtssystems „zu sich selbst" (in der Reflexion i. w. S.) anhand jeweils der Konzepte von elementarer (oder basaler) Selbstreferenz (Abschn. 1.), Reflexivität (Abschn. 2.) und Reflexion i. e. S. (Abschn. 3.) betrachtet, also anhand der drei Arten systemischer Selbstreferenzen, 1 die ich hier jeweils mit den Begriffen von Legalität, Verfassungsmäßigkeit und Legitimität in Zusammenhang bringen werde.

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In anderem Zusammenhang wird die Frage der Selbstreferenz zum logischen Problem der Beziehung zwischen Normen als sprachlichen Einheiten, das man zu lösen versucht („um das Paradox der Selbstreferenz zu vermeiden" — Teubner, 1989: 15). So bringt Hart (1983) Einwände einerseits gegen die Antwort von Kelsen (1946: 28 f.) auf das Argument, daß die unendliche Reihe von Sanktionen in der Beziehung von Sanktionsnormen und sanktionierten Normen im Widerspruch zur Auffassung des Rechts als Zwangsordnung stünde, und andererseits gegen die These von Ross (1959: 80-84), daß die Verfassungsänderung der Verfassungsänderungsnorm eine „logische Absurdität" wäre, vor, um Argumente für die logische Möglichkeit der Selbstreferenz im Recht anzuführen. Als Fortsetzung dieser Diskussion vgl. Ross, 1969: insb. 4 f., 20 f., 23 f. Im Rahmen der systemtheoretischen, autopoietischen Konzeption gehört die Selbstreferenz zur Realität des Rechts als sozialen Systems, wird sie nicht als logisches Problem betrachtet: „Dabei wird der Begriff der Selbstreferenz (Reflexion, Reflexivität) von seinem klassischen Standort im menschlichen Bewußtsein oder im Subjekt gelöst und auf Gegenstandsbereiche, nämlich auf reale Systeme als Gegenstand der Wissenschaft, übertragen. Damit gewinnt man zugleich eine gewisse Distanz zu den rein logischen Schwierigkeiten der Selbstreferenz" (Luhmann, 1987 b: 58). Dementsprechend behauptet Teubner (1989: 18): „Recht selbst und nicht nur das Denken über Recht ist selbstreferenziell konstituiert."

1. Elementare Selbstreferenz und Legalität

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1. Elementare Selbstreferenz und Legalität 1.1. Der Begriff der elementaren bzw. basalen Selbstreferenz Unter basaler Selbstreferenz versteht man die Konstitution und Reproduktion des Systems durch seine (von ihm konstituierten) Elemente selbst. Dem entspricht das Konzept der Autopoiesis im Sinne Maturanas 2 und (nach einigen Formulierungen) Luhmanns.3 Bilden die emergenten Elementareinheiten Kommunikationen, so besteht Gesellschaft als autopoietisches System.4 Für deren Funktionssysteme werden die Kommunikationen zu spezifischen Elementareinheiten, insoweit sie sich auf der Basis eines ausdifferenzierten Codes reproduzieren. Was das positive Rechtssystem anbelangt, kommt dies erst durch die Reproduktion der Kommunikationen ausschließlich im Rahmen eines einzigen Codes Recht / Unrecht auf. Damit unterscheiden sich sinnhaft 5 die Rechtshandlungen von anderen sozialen Handlungen.6 Die Unterordnung des Rechtscodes unter den Wirtschaftscode, den politischen und andere Präferenz-Codes oder deren Verschmelzung ist also unvereinbar mit der elementaren Selbstreferenz des Rechtssystems. 2

„Die autopoietische Organisation wird als eine Einheit definiert durch ein Netzwerk der Produktion von Bestandteilen, die 1. rekursiv an demselben Netzwerk der Produktion von Bestandteilen mitwirken, das auch diese Bestandteile produziert, und die 2. das Netzwerk der Produktion als eine Einheit in dem Raum verwirklichen, in dem die Bestandteile sich befinden" (Maturana, 1982: 158; zu ähnlichen Definitionen vgl. 141 f., 184 f., 280). Teubner (1989: 32) bezeichnet diese kritisch als die „amtliche" Definition der Autopoiesis. 3 So z. B. formuliert Luhmann: „Systeme, die über basale Selbstreferenz gebildet sind und darin ihre Systemeinheit haben (=autopoietische Systeme) . . . " (1987 b: 602; vgl. auch oben S. 34 f.). Aber an anderer Stelle (Luhmann, 1987 b: 600) wird die basale Selbstreferenz als „die Mindestform von Selbstreferenz" bezeichnet und suggeriert, daß sie nur eines der drei unentbehrlichen Momente der Autopoiesis (die andere: Reflexivität und Reflexion) bildet (vgl. oben S. 35). Gegen die Identität von Autopoiesis und elementarer Selbstreferenz schlägt Teubner (1989: 36-60, insb. Abbildung I auf S. 50) einen umfassenderen Begriff der Autopoiesis als hyperzyklischer Verknüpfung von allen Systemkomponenten vor, d. h. operativ geschlossener Verkettung von Rechtsverfahren (Prozeß), Rechtsakt (Element), Rechtsnorm (Struktur) und Rechtsdogmatik (Identität). Andererseits faßt er (1988: 51, 1989: 38, 43 ff.), im Gegensatz zu Luhmann (1985: 2), die Autopoiesis als „gradualisiertes Konzept". Solche begrifflichen Auseinandersetzungen sind aber nicht relevant für den Zweck dieser Untersuchung, den Mangel an Selbstreferenz (sei es absolut oder relativ) als ein gesellschaftlich bedeutendes Problem des Rechts zu behandeln. Am wichtigsten ist hierfür die Klarheit und Kohärenz der begrifflichen Selektion, also die Vermeidung des Durcheinanders von Konzepten. Unter diesem Aspekt vgl. kritisch gegenüber Luhmann Teubner, 1987: 95 ff., 1989: 27. 4 Vgl. Teubner, 1989: 40 f. Es handelt sich um Emergenz von „oben" im Sinne Luhmanns (1987 b: 43 f.) 5 Die Frage ist laut Luhmann (1987 b: 61), „welche Sinneinheiten intern die Selbstreproduktion des Systems ermöglichen." 6 Nach Luhmann (1987 b: 191 ff.) sind zwar die Handlungen nicht die Elementareinheiten der Gesellschaft, sondern Kommunikationen; aber diese müssen, „um sich selbst steuern zu können, auf Handlungen reduziert, in Handlungen dekomponiert werden." (1987b: 193).

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2. Teil, Kap. VI: Verfassung und Rechtssystem. Reflexionsprobleme

Die basale Selbstreferenz impliziert funktionale Redundanz im Sinne Henri Atlans (s. oben S. 80 f.), das heißt hier konsistenten Anschluß der rechtlichen Kommunikationen aneinander.7 Nach dieser Konzeption, obwohl in kognitiver Hinsicht das positive Recht durch die Schaffung von hoher (bestimmter) Systemvarietät auf die hohe (bestimmbare) Varietät seiner Umwelt reagieren muß, antwortet es darauf durch die Steigerung von Redundanz auf der normativen Ebene, um seine Autonomie aufrechtzuerhalten. 8 Fehlt es an (normativer) Redundanz in der Relation zwischen Elementen 9 des Rechtssystems, also an konsistentem Anschluß der Rechtskommunikationen aneinander, so wird das Rechtssystem über normative Orientierung extern asymmetrisiert, treten Brüche seiner Zirkularität zutage. Die elementare Selbstreferenz, primär ein operatives Kennzeichen eines positiven Rechtssystems, betrifft auch dessen Struktur, insofern die (normative) Redundanz der Erwartungssicherheit dient. 10 Mit „Sicherheit" wird hier weder die „Voraussagbarkeit der Anwendung" gemeint, noch auf die Bestimmtheit des Rechts durch Input seiner Umwelt verwiesen, als ob es sich beim Rechtssystem um eine „triviale Maschine" handelte.11 Hierzu ist zunächst in semantisch-pragmatischer Perspektive anzumerken, daß sich die Rechtssprache in einer komplexen Gesellschaft durch eine so starke Mehrdeutigkeit charakterisiert (s. oben Kap. Π.3.2.), daß man von „Rechtssicherheit" im Sinne der klassischen Begriffsjurisprudenz 12 oder eines liberalen Rechtsidealismus (bzw. seiner Kritik) nicht konsequent sprechen kann. 13 Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die Unbestimmtheit des Rechtssystems gegenüber der ihm entsprechenden Umwelt seiner Autonomie innewohnend ist. 14 Spricht man im Kontext dieser Betrachtungen über elementare Selbstreferenz bzw. (normative) Redundanz von rechtsnormati7 „Das Grundproblem liegt hier nicht in der Wiederholung, sondern in der Anschlußfähigkeit", so Luhmann (1987 b: 62) im Hinblick auf die Theorie der autopoietischen Systeme im allgemeinen. s Wenn Luhmann (1986 a: 97, 208-11, 218 f.) von „Redundanzverzicht" als Voraussetzung der funktionalen Differenzierung spricht, geht es dabei einerseits um,,Nichtsubstituierbarkeit der Funktionssysteme" (1986 a: 218) und andererseits um strukturelle Redundanz (1986 a: 208), nicht um (im Recht über normative Orientierungen entwickelte) funktional-operative Redundanz innerhalb eines ausdifferenzierten Systems, deren Begriff er in anderem Zusammenhang auf das positive Recht (juristische Argumentation) anwendet (1986b: 35). 9 Der basalen Selbstreferenz liegt nach Luhmanns Konstruktion die Unterscheidung von Element und Relation zugrunde (vgl. oben S. 35). 10 Sie impliziert also hyperzyklische Verknüpfung von Elementen (Rechtsakten) und Strukturen (Rechtsnormen) im Sinne Teubners (s. oben Anm. 3 dieses Kap.; vgl. auch ders., 1989: 55 f.). h Vgl. Teubner, 1989: 8 f. 12 Zur „Begriffsjurisprudenz" des 19. Jahrhundert in Deutschland s. zusammenfassend Larenz, 1975: 19-35. 13 Dies übersah Kelsen (1960: 353) nicht. Vgl. auch Cossio, 1964: 158, 168. 14 Teubner, 1989: 9, im Anschluß an P. M. Hejl.

1. Elementare Selbstreferenz und Legalität

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ver Erwartungssicherheit in einer komplexen Gesellschaft, wird aber lediglich darauf verwiesen, daß sich die Erwartung hegen läßt, daß auf die unterschiedlichen rechtlich relevanten Kommunikationen nur ein einziger Code, der generalisierte Code Recht / Unrecht, angewandt wird. 15 Der konsistente Anschluß der Kommunikationen aneinander (Redundanz) betrifft hiernach nicht genau die Rechtskriterien oder Programme, die zumal wegen der Positivität des Rechts immer variieren können, sondern den Code, unter dessen Berücksichtigung sie variieren können (vgl. oben S. 148 f.). Wird in einer komplexen Gesellschaft der allgemeine Rechtscode den Codes anderer Funktionssysteme (Machtcode, Wirtschaftscode u. s. w.) oder „gesellschaftlich diffus" gebildeten Rechtscodes untergeordnet, so wird auch die Rechtsredundanz und damit zusammenhängend die normative Erwartungssicherheit direkt zerstört. In dieser Konstellation entfällt die von Joerges formulierte Paradoxie (s. Anm. 15 dieses Kap.), denn die Beiseitesetzung des positiven Rechtscodes schließt dann die Gewißheit aus, daß man handeln kann, weil das Recht funktioniert.

1.2. Legalität als elementare Selbstreferenz: das Problem der Illegalität in Brasilien Diese im Rahmen des systemtheoretischen Modells angestellten Überlegungen über die elementare Selbstreferenz und ihre strukturellen Implikationen erlauben eine andere Formulierung des Konzepts der Legalität. Demnach handelt es sich hierbei nicht einfach um die Übereinstimmung von Gesetz bzw. „geschriebenem Recht" und Rechtshandlungen. Dieser statischen Auffassung der Legalität entspricht die Dichotomie gesetzliche Ordnung versus soziale Ordnung' (geläufig sowohl bei „reinen" Rechtswissenschaftlern 16 als auch bei „typischen" Rechtssoziologen 1 7 , in deren Rahmen die Legalität von dem Gesetzestext aus Konzipiert wird, dessen nicht-gesellschaftlicher Charakter suggeriert wird. Dem liegt der liberale Dualismus,Staat / Gesellschaft' zugrunde. 18 In der Tat bildet die harmoni15 Damit wird die Unbestimmtheit nicht negiert, sondern deren Problematik in eine Paradoxie verformt: „Die Unbestimmtheitsproblematik erweist sich als Paradoxie: Man weiß, daß man nicht weiß, warum das Recht funktioniert; aber man weiß auch, daß man handeln kann, weil es eben funktioniert" (Joerges, 1987: 168; vgl. im Anschluß an ihn Teubner, 1989: 14). 16 Das ist aber nicht der Fall bei Kelsen, nach dessen Meinung das Recht (obwohl einen idealen Sinnzusammenhang) eine (normative) gesellschaftliche Ordnung (die andere wäre die Moral) bildete (1960: 25) und die Geltung des Gewohnheitsrechts nicht von dessen Anerkennung im Gesetzesrecht oder durch die Gerichte abhängt (vgl. oben S. 19). π So z. B. Falcäo, 1984b. is Hierzu kritisch s. Luhmann, 1965: 29ff, 19811: 19, im Hinblick darauf, daß der Staat ein „Untersystem" bzw. Funktionssystem der Gesellschaft als umfassendsten Sozialsystems bildet. Zu einer systemtheoretischen Lektüre dieser Unterscheidung s. ders., 1987 c, wo sie als Bezeichnung für die Wiedereinführung der Differenz von Politik und Wirtschaft in jeweilige Funktionssysteme gekennzeichnet wird (71).

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sehe Beziehung zwischen Gesetzestext und Rechtshandlungen vielmehr einen rechtsprachlichen Ausdruck der Legalität. Sie sind aber nicht gleichbedeutend. Die Legalität, eines der Hauptmerkmale einer mit positivem Recht ausgestatteten sozialen Ordnung, wird dann als elementare Selbstreferenz des Rechtssystems, also als (normative) Redundanz bzw. konsistenter Anschluß der rechtlichen Kommunikationen aneinander begriffen, was auf der strukturellen Ebene Erwartungssicherheit impliziert. Mit anderen Worten läßt sich behaupten, daß „Legalität" als dynamisches Konzept die Zirkularität zwischen Rechtssetzung und Rechtskonkretisierung (Anwendung, Durchsetzung, Befolgung und Gebrauch des Rechts — s. Kap. III. 2. 3.) bedeutet. Wird diese Zirkularität gebrochen oder umgangen, so tritt das Problem der Illegalität auf, das in den peripheren Ländern insofern generalisierende Tendenzen hat, als es auf die Verfassungsebene zurückgeht, wie die brasilianische Erfahrung deutlich zeigt. Die Legalität impliziert die Generalisierung des Rechtscodes und setzt dementsprechend den Gleichheitssatz (vgl. oben Anm. 117 des Kap. III.) und das Legalitätspostulat als funktionierende Verfassungsprinzipien voraus. Damit zusammenhängend erfordert sie als elementare Selbstreferenz des Rechts Inklusion der Gesamtbevölkerung in diesem Funktionssystem,19 worauf es besonders durch die Institutionalisierung der wohlfahrtsstaatlichen Verfassungseinrichtungen antwortet (s. Kap. V. 1.2.3.). Seit 1824 nehmen die brasilianischen Verfassungstexte die allgemeinen Prinzipien der Gleichheit vor dem Gesetz (Gleichheitssatz) und der Legalität (Legalitätspostulat) auf, die sich in der Verfassung von 1988 jeweils durch die folgenden sprachlichen Formeln ausdrücken: „Alle sind vor dem Gesetz gleich, ohne Unterschied jeder Natur . . . „ (Art. 5. caput — „Hauptabsatz"); „niemand darf gezwungen werden, etwas zu tun oder zu unterlassen, es sei denn von Gesetzes wegen" (Art. 5. Abs. II). 2 0 Was die wohlfahrtsstaatliche Verfassungsnormierung, eine rechtliche Antwort auf die Anforderung der Inklusion als Voraussetzung der Legalität (elementarer Selbstreferenz des Rechts) und also der Wirksamkeit dieser beiden Verfassungsprinzipien, angeht, beinhalten die brasilianischen Verfassungsurkunden seit 1934, wie oben erwähnt wurde (Kap. IV. u. Kap. V. 1.3.), systematische und umfangreiche Abteilungen. 21 Weil jedoch

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Über die Behauptung hinaus, daß die Selbstreferenz „die Inklusion der Gesamtbevölkerung" ermöglicht (so Luhmann, 19811: 35, im Hinblick spezifisch auf das politische System), läßt sich aussagen, daß die Inklusion der Gesamtbevölkerung Voraussetzung für die selbstreferenzielle Reproduktion der sozialen Systeme, einschließlich des Rechts („Jedermann genießt Rechtsfähigkeit und Rechtsschutz" — Luhmann, 19811: 27), ist. 20 Vgl. auch die Verfassungstexte von 1824, Art. 179, Abs. 1. u. 13; von 1891, Art. 72, §§ 1. und 2.; von 1934, Art. 113, Abs. 1. und 2.; von 1946, Art. 141, §§ 1. und 2.; von 1967, Art. 150, §§ 1. u. 2.; von 1969, Art. 153, §§ 1. u. 2. Die autoritäre Verfassungscharta von 1937 enthielt aber keine Formulierung des Legalitätspostulats als allgemeinen Verfassungsprinzips, nur die des Gleichheitssatzes (Art. 122, § 1.). Zu den verschiedenen Formulierungen des Gleichheitsprinzips vgl. als deutschsprachigen Beitrag LöbsackFüllgraf, 1985: 238 f.

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die brasilianische Verfassungserfahrung durch das Pendeln zwischen Verfassungsinstrumentalismus und Verfassungsnominalismus gekennzeichnet wird, verliert die Legalität an Kraft; sie wird als basale Selbstreferenz entweder direkt auf der Ebene der Verfassungssrechtsetzung (instrumentalistische Version) oder in der Verfassungskonkretisierung (nominalistische Version) gebrochen. In den brasilianischen autoritären Erfahrungen von 1937-1945 und 19641985 wird die Legalität durch die direkten Eingriffe des politischen Systems in das Rechtssystem mittels rechtssetzender „Verfassungsakte" des Staatsoberhauptes oder der Oberbefehlshaber (1964 und 1969) durchbrochen. Dies wird entweder durch den Rückgriff auf Übergangs- und Schlußbestimmungen der Verfassungscharta (1937) bzw. Ausnahmegesetze mit Verfassungskraft (,Atos Institucionais' — 1964-1966 und 1968-1969) oder einfach durch die rhetorische Bezugnahme auf politisch-ideologische Prinzipien, namentlich das der „Nationalen Sicherheit", bei verfassungsändernden Brüchen der autoritären Rechtsordnung (wie bei den ,Atos Institucionais' N. 5 von 1968 und N. 12 von 1969) 22 ermöglicht (vgl. oben Kap. IV. 4. u. 6.). Unter diesen Bedingungen fehlt schon in Anbetracht der Rechtssetzung die Rechtsredundanz als der konsistente Anschluß der Kommunikationen unter einem ausdifferenzierten, generalisierten Rechtscode. Dieses operative Problem verhindert auf der strukturellen Ebene die rechtsnormative Erwartungssicherheit; es fördert im Gegenteil eine immense Rechtsunsicherheit. Davon ausgehend, daß es sich hierbei nicht um Rechtsstaaten, sondern um „ideologisch integrierte Systeme"23 handelt, ließe sich hiergegen einwenden, daß die Erwartungssicherheit dann auf den „ideologischen" Prinzipien beruhe. Hiernach würde man für seine Erwartungsorientierung auf eine „ideologische Redundanz" zurückgreifen. Aber die „ideologischen" Prinzipien, die den autokratischen Staaten zugrundeliegen, sind inhaltlich zu abstrakt und damit zusammenhängend zu leicht manipulierbar, als daß sie der rechtlichen bzw. politischen Erwartungssicherheit in einer hochkomplexen Gesellschaft dienen könnten. Die „ideologische Redundanz" impliziert dabei eher die Fremdbestimmtheit des Rechts und die geringe kognitive Varietät des rechtspolitischen Systems gegenüber der Varietät seiner Umwelt. 24 Darüber hinaus ist hier anzumerken, daß im Gegenteil zum Totalitarismus die autoritären Staaten der peripheren Länder nicht über konsisten21 Bei den autoritären (politisch ausschließenden) Verfassungschartas von 1937 und 1967 / 69 handelte es sich genaugenommen aber nicht um wohlfahrtsstaatliche, sondern um sozialstaatliche Formeln (vgl. oben Anm. 46 des Kap. V.). 22 Zur Unterordnung der Verfassungs- bzw. Rechtsordnung unter die Ideologie der Nationalen Sicherheit während des brasilianischen Militärregimes von 1964-1985 s. als deutschsprachigen Beitrag Löbsack-Füllgraf, 1985: 25 ff. 2 3 Hierzu Luhmann, 1984c: 193-95. 24 Es setzt sich dann die „Verdrängung" — um einen psychoanalytischen Ausdruck zu verwenden — der widersprechenden, abweichenden Anforderungen der Umwelt durch, keine lernfahige Konfrontation mit ihnen. Nach Ladeur (1987) heißt es, daß sich das politische System nicht auf „Ordnungsstörung" seiner Umwelt einstellt.

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te „ideologische" Prinzipien verfügen. 25 Ideologische Prinzipien, wie prototypisch für Brasilien das der „Nationalen Sicherheit" (Verfassungscharta von 1937, Art. 161-165; von 1967, Art. 89-91; von 1969, Art. 86-89), denen die gesamte Rechtsordnung untergeordnet wird, werden dann ihrerseits stetig durch privilegierende Partikularismen der Überintegrierten und konkrete Bedürfnisse der Subintegrierten entstellt. 26 Der Bruch der Legalität im brasilianischen Recht ist aber nicht nur und auch nicht in erster Linie auf den Auftritt von Verfassungsinstrumentalismen ( Autoritarismen) zurückzuführen. Wenn nicht direkt auf der Ebene der Rechtssetzung, wurde immer (und wird immer noch) die Legalität durch systemextern bedingte Normasymmetrien bzw. Zirkularitätsbrüche in der Beziehung ,Rechtssetzung / Rechtskonkretisierung 4 auch in den scheindemokratischen „Rechtsordnungen" (Verfassungsnominalismen) Brasiliens entstellt; aber hier tritt das Problem erst im Konkretisierungsprozeß zutage. Es handelt sich dabei nicht einfach um Ausnahmen oder bereichspezifische Fragen, insoweit der Gleichheitssatz und das Legalitätspostulat als die für die Legalität unentbehrlichen Verfassungsprinzipien keine gesellschaftliche Resonanz finden: Die „Exklusion" der Mehrheit und die Überintegration von Minderheiten sind mit ihnen unvereinbar; als Antwort darauf haben die wohlfahrtsstaatlichen Verfassungseinrichtungen keine ernstzunehmende Bedeutung. Unter diesen Umständen begreift man die Legalität mißverständlich als ein sich auf die „entfremdete Welt" der immer quantitativ steigenden Gesetzestexte27 beschränkendes Phänomen, um sie zu kritisieren. Man übersieht dann, daß genaugenommen Legalität als konsistenter Anschluß der Kommunikationen unter einem generalisierten Rechtscode (Rechtsredundanz) fehlt und daß die Illegalität generalisierende Tendenzen aufweist. Demnach wird der Weg zu dieser Betrachtungsweise verbaut zugunsten einer abstrakten, aus dem westeuropäischen und nordamerikanischen Kontext importierten Diskussion über den Widerspruch zwischen (als vorhanden unterstellter) Legalität und (als nicht vor25 Was im Hinblick auf Vargas' Diktatur Loewenstein (1942: 125 ff.) als ausländischem Beobachter nicht entgangen ist. In bezug auf das sich 1964 in Brasilien durchgesetzte Militärregime betonte dementsprechend, obwohl mit anderen Implikationen, Cheresky (1980:1076), „daß aus soziologischem Gesichtspunkt der Hermetismus der totalitären Systeme kein Äquivalent in den lateinamerikanischen Diktaturen hat", insoweit „die Grundkonflikte" „niemals ganz verschwiegen" werden und in Zusammenhang damit „das politische Spiel der Fraktionen im Regierungskreis" relevant ist. 26 Dementsprechend ist die Charakterisierung der vom brasilianischen Militärregime (1964-1985) getragenen Doktrin der „Nationalen Sicherheit" durch den Ausdruck , Allgegenwart einer Ideologie" (so Löbsack-Füllgraf, 1985: 25) nicht zutreffend, zumal er suggeriert, daß es sich um einen totalitären Staat handelte (vgl. oben S. 70). 27 Zur sogenannten „legislativen Inflation" in Brasilien vgl. J. C. Silva, 1968, dessen theoretische, auf der in Europa der Nachkriegszeit besonders zu Anfang der fünfziger Jahre entwickelten Diskussion über dieses Thema beruhende Analyse aber nicht überzeugt: Es wird nach Ripert (1953: 9) behauptet, daß „die legislative Neuerung in sich selbst ein Übel ist", und eventuelle Besonderheiten des Problems in Brasilien (im Vergleich zum Italien Carneluttis und zum Frankreich Riperts) werden ausdrücklich negiert (84). Vgl. dazu auch Carnelutti, 1953.

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handen oder nicht ausreichend bezeichneter) Gerechtigkeit bzw. Legitimität (ich komme darauf im Abschn. 3. zurück). Der Mangel an elementarer Selbstreferenz hängt eng mit den oben (Kap. V.) betrachteten Funktions- und Leistunsproblemen des Rechtssystems auf der Verfassungsebene zusammen. Es läßt sich sagen, daß es um dieselben Probleme geht, aber von einem anderen Gesichtspunkt aus (durch eine andere Systemreferenz) betrachtet. Die schon erwähnten regelmäßigen Verletzungen der Grundrechte durch die ungesetzliche Gewalttätigkeit, besonders im Rahmen des polizeilichen Apparates (s. oben Kap. V. 1.2.), die Unbedeutsamkeit der die „sozialen Grundrechte" betreffenden „programmatischen Verfassungsnormen" im Konkretisierungsprozeß (s. oben Kap. V. 1.3.), die Ineffizienz der konfliktlösenden Leistung des Rechtssystems, vor allem in bezug auf die Marginalisierten (Kap. V. 2.1.), und die mangelhafte Leistung des Rechtssystems in seiner spezifischen Referenz zum politischen System (Kap. V. 2.2.) stellen deutlichen Ausdruck der zur Generalisierung tendierenden Illegalität in der ganzen Verfassungsgeschichte Brasiliens als eines typischen peripheren Landes dar. Wie auch hinsichtlich der Funktions- und Leistungsdefizienz (vgl. oben S. 150 f. u. 177 f.) ist die Illegalität nicht einfach auf das Fortbestehen von traditionellen Verhaltensmustern zurückzuführen. Obgleich im Rahmen der früheren Verfassungserfahrungen, besonders der der Texte von 1824 und 1891, die Legalität als elementarer Selbstreferenz des Rechtssystems — sowohl direkt auf der Ebene der Verfassungsrechtssetzung („Poder Moderador" z. B.) als auch im Verlauf des Konkretisierungsprozesses — durch die Überbleibsel von Traditionalismen blockiert wurde, weist die steigende Komplexität der brasilianischen Gesellschaft im Lauf der Zeit (vor allem in den letzten drei Jahrzehnten) darauf hin, daß es sich strenggenommen um ein typisches Problem der peripheren Moderne handelt. Die strukturelle Heterogenität als Nebeneinander, Ineinander, Über- und Untereinander von Codes, Kriterien und damit zusammenhängend die Beziehung von Über- und Subintegration in die modernen sozialen Systeme, darunter das durch Entscheidung gesetzte Recht, all das macht die Generalisierung eines ausdifferenzierten Rechtscodes, genauer den konsistenten Anschluß der Kommunikationen unter einem generalisierten und ausdifferenzierten Code Recht / Unrecht unmöglich. Das Ergebnis auf der strukturellen Ebene ist einer hohen Rechtunsicherheit, kein Problem der traditionellen Gesellschaften, denn hier hätten die allgemeingültigen Wertvorstellungen der normativen Erwartungssicherheit gedient, was offensichtlich nicht dem Fall Brasiliens entspricht. Im Rahmen des Rechtspluralismus ließe sich im Widerspruch zu dieser Betrachtungsweise das Argument vorbringen, bei der brasilianischen Rechtserfahrung handele es sich um unterschiedliche „Legalitäten", so daß je nach den verschiedenen „diffus ausdifferenzierten" Codes Recht / Unrecht entsprechende Rechtsredundanzen (konsistente Anschlüsse der rechtlichen Kommunikationen aneinander und infolgedessen spezifische normative Erwartungsorientierungen

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2. Teil, Kap. VI: Verfassung und Rechtssystem. Reflexionsprobleme

— instabile Rechtssicherheiten!) bestünden.28 So gäbe es die „Legalitäten" der Bewohnervereinigungen der Favelas (Slumsiedlungen), die der Verbrecherbanden, die der verfassungswidrigen Tätigkeiten des polizeilichen Apparats u. s. w . 2 9 Dem ist nicht einfach entgegenzusetzen, daß außer dem allgemein-philosophischen Begriff der Legalität, nach dem sich in allen Phänomenen oder Systemen eine gewisse „Regelmäßigkeit" ablesen läßt, in einer anderen Konstellation ein autonomes, rechtspolitisches Konzept der Legalität vorhanden ist, das auf die breite semantische Wendung im Rahmen des Konstitutionalismus des Endes des 18. Jahrhunderts zurückgeht, und das auf die Generalisierung des Rechtscodes in einem bestimmten Staatsgebiet hinweist. Etwas anderes ist hier bedeutsamer. Zwar besteht noch immer in der modernen, hochkomplexen sozialen Welt „gesellschaftlich diffuses Recht" (sowie außerstaatliches „teilautonomes Recht"). 30 Aber im Gegensatz zu den Erfahrungen in der Zentralmodernität (Nordamerika und Westeuropa), in denen das „gesellschaftlich diffuse Recht" entweder als Reaktion der anderen autonomen Funktionssysteme auf das positiv-rechtliche Phänomen der Verrechtlichung oder als bereichspezifischer Ausdruck der organisierten Kriminalität — wie im Fall der Mafia 31 — auftritt, ohne die elementare Selbstreferenz des positiven Rechts (Legalität) mit allgemeinen Folgen zu zerstören, 32 ist die Situation in Brasilien ganz anders: Es handelt sich dann um die Verschmelzung von diffus gebildeten und verwendeten Codes Recht / Unrecht mit dem Wirtschaftscode, dem Machtcode und anderen „gesellschaftlich diffus" ausdifferenzierten Rechtscodes als den Ausdruck der strukturellen Heterogenität in einem typischen peripher-modernen Land, was mit generalisierenden Tendenzen zum Bruch der Legalität stattfindet, ohne daß im Ausgleich dazu allgemeingültige (traditionale) Wertvorstellungen für die normative Redundanz und Erwartungssicherheit gelten. 28

In dieser Perspektive ließe sich dann die postmoderne Rechtstheorie (hier in Deutschland besonders von Ladeur vertreten — vgl. oben S. 42 f.) mit der „rechtspluralistischen" Situation in Brasilien in Zusammenhang bringen. So Sousa Santos, der früher auf die rechtliche Lage einer Favela (Slumsiedlung) in Rio de Janeiro zurückgriff, um seine rechtspluralistischen Argumente zu stützen (vgl. oben S. 102 f. und Kap. V. 2.1.3.), und heute Pluralismus und „interlegality" als „Schlüsselbegriffe eines postmodemen Rechts" bezeichnet (1987: 297 f.; vgl. im Anschluß daran Teubner, 1989: 131). 29 Vgl. z.B. Jungueira u. Rodriguez, 1988: 129, 132, 135, 139, in Anlehnung an Sousa Santos (vgl. letzte Anm.). 30 Vgl. hierzu Teubner, 1989: 49 ff., der an anderer Stelle von Kollisionsrecht für die Konflikte „zwischen staatlicher Rechtsordnung und pluralen gesellschaftlichen QuasiRechtsordnungen bzw. zwischen diesen" spricht (1989: 135-38). Die Frage bleibt aber: handelt es sich bei diesem intersystemischen Kollisionsrecht um autopoietisches, teilautonomes oder gesellschaftlich diffuses Recht? Falls es um eine der beiden letzten Formen ginge, gäbe es strenggenommen kein autopoietisches Recht; falls um autopoietisches Recht, gäbe es streggenommen kein teilautonomes oder gesellschaftlich diffuses Recht. Vgl. außerdem Anm. 94 des Kap. V. 31 Teubner, 1989: 51. 32 Hier wären z. B. die relativ begrenzten Auswirkungen der Mafia auf das positive Recht in Italien und in den USA mit den allgemeinen Konsequenzen der Zerstörung des Rechtssystems durch die „Cartel de Medellin" in Kolumbien zu vergleichen.

1. Elementare Selbstreferenz und Legalität

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Wie oben schon berücksichtigt wurde (s. S. 102 f.), läßt sich unter diesen Umständen die Verfügung von verschiedenen sozialen Einheiten über unterschiedliche Rechtscodes auf keinen Fall als pluralistisches Potential für den Bruch des Legalismus und den sozialen Wandel charakterisieren. 33 In dieser „romantischen" Betrachtungsweise übersieht man, daß es vielmehr um „Überlebensstrategien" der Marginalisierten oder um Mechanismen der Durchsetzung von Privilegien für die Überintegrierten geht. Geschweige denn handelt es sich hierbei um Rechtspluralismus im postmodernistischen Sinne, denn es fehlt nicht nur selbstreferenzielle Verkettung, sondern auch Vernetzung der rechtlichen Kommunikationen. 34 Die Multiplizität der Rechtscodes beeinträchtigt unter diesen Bedingungen direkt die Rechtssicherheit (vgl. Anm. 157 des Kap. III.), aber dies offensichtlich besonders zu ungunsten der Subintegrierten (der Mehrheit), insoweit sie keinen Zugang (im positiven Sinn) zum staatlichen Rechtssystem haben, und unter bestimmten Aspekten zugunsten der Überintegrierten (der Minderheit), insofern sie über den „allgemeinen" Rechtscode hinweg Vorteile durch die Manipulierung des staatlichen Rechts- und Machtapparates erhalten können. Die im radikalen Widerspruch zum Gleichheitssatz und dem Legalitätspostulat als Verfassungsprinzipien stehende Tendenz zur Generalisierung der Illegalität hängt damit zusammen, daß das Rechtssystem nicht über Neutralisierungs- und Immunisierungsfähigkeiten gegen die partikularistischen Interessen der Überintegrierten und die konkreten Notbedürfnisse der Marginalisierten verfügt. 35 Die Inklusion der Gesamtbevölkerung im Rechtssystem, die zugleich Abhängigkeit von und Zugang (im positiven Sinn) zu diesem Funktionssystem impliziert, 36 ist also Vorbedingung der (normativen) Neutralisierung und Immunisierung gegen um weltliche Anforderungen und Codierungen und also Voraussetzung der Legalität als elementarer Selbstreferenz bzw. konsistenten Anschlusses der Kommunikationen unter einem ausdifferenzierten und generalisierten Rechtscode, wovon die Verfassungs- bzw. Rechtswirklichkeit Brasiliens stark abweicht.

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So sah Sousa Santos in den siebziger Jahren (1977: insb. 103) ein revolutionäres Potential im von ihm untersuchten Recht einer Favela (Slumsiedlung) von Rio de Janeiro; vgl. oben Anm. 154 des Kap. III. 34 Vgl. hierzu Ladeur, 1985: 419, 423. 35 Vgl. anders Ferraz Jr., 1984: 118, der von Neutralisierung spricht, genau dann, wenn sie entfällt: in den Konflikten wegen der kollektiven Besetzungen von städtischen Grundstücken zwecks Errichtung von Slumsiedlungen (vgl. oben Kap. V. 2.1.4.). 36 In diesem strengen Sinne bezieht die Exklusion auch die Überintegrierten ein, insoweit sie vom Rechtssystem nicht abhängig sind, obwohl sie Zugang zu dessen Leistung haben.

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2. Teil, Kap. VI: Verfassung und Rechtssystem. Reflexionsprobleme

2. Reflexivität und Verfassungsmäßigkeit 2.1. Begriff der Reflexivität Von der basalen Selbstreferenz als Anschluß der Systemelemente aneinander unterscheidet Luhmann die Reflexivität, die Referenz eines Prozesses auf sich selbst, besser ausgedrückt, auf einen gleichartigen Prozeß. 37 Damit sind u. a. das Lernen des Lernens, die Normierung der Normbildung, das Übermächtigen der Macht und das Entscheiden über Entscheidungen gemeint, 38 Mechanismen, denen die Differenz von Vorher und Nachher zugrundeliegt. 39 So formuliert erweist sich der Begriff aber unzureichend, um die Reflexivität als Art der Selbstreferenz im Rahmen eines autopoietischen Systems zu charakterisieren. In Anbetracht dessen versucht Luhmann ihn genauer zu definieren: „Von prozessualer Selbstreferenz oder Reflexivität wollen wir nur dann sprechen, wenn dieses Wiedereintreten in den Prozeß mit den Mitteln des Prozesses artikuliert wird." 4 0 Man kann nach dem systemtheoretischen Modell anders formulieren: Reflexivität als Mechanismus innerhalb eines autopoietischen Systems impliziert, daß der referierende Prozeß und der referierte Prozeß durch dieselbe binäre Codierung strukturiert werden und daß damit zusammenhängend die Kriterien und Programme des ersteren ζ. T. in den letzteren wiedereintreten. Dementsprechend reicht es nicht aus, auf die Normierung von Normierung zu verweisen, denn die religiöse oder ethische Normierung der Rechtsnormierung sowie die „naturrechtliche Normierung" der positivrechtlichen Normgebung stellen in diesem engeren Sinne keine Reflexivität der Normbildung dar. Nach dieser begrifflichen Konstellation entfällt außerdem normierende Reflexivität zwischen „plurali37 Hierzu s. insb. Luhmann, 1987 b: 601, 610-16. Zur Unterscheidung vom logischen Begriff der Reflexivität merkt Luhmann (1984 a: 109 Anm. 6) an: „Er bezeichnet eine Relation, welche die Voraussetzung erfüllt, daß jedes Glied zu sich selbst in derselben Relation steht wie zum anderen. [ . . . ] Wir halten uns hier nicht an diese Definition, weil die genaue Identität der reflexiven Relation uns gerade das Argument verbauen würde, auf das wir hinauswollen: die Leistungssteigerung durch Reflexivität. Hier soll daher ein Mechanismus dann als reflexiv gelten, wenn er einen Gegenstand intendiert, der ein gleichartiger Mechanismus ist, sich also der Art nach auf sich selbst bezieht." 38 So Luhmann, 1984 a: 94-99. 39 Luhmann, 1987b: 601. Vgl. auch oben S. 35. Aber daß die Differenz von Vorher und Nachher der Reflexivität zugrundeliegt, soll m. E. nicht bedeuten, daß der referierte Prozeß immer in der Zukunft liegt; denn die Entscheidung über in der Vergangenheit getroffene Entscheidungen sowie die auf früher gesetzte Normen verweisenden Normierungen, einschließlich der positivrechtlichen Rezeption von Normen der „alten" in der „neuen" Rechtsordnung, stellen ebenso Reflexivität dar. Nach Luhmanns Formulierung läßt sich die Frage anders fassen, indem er die Verstärkung der Selektionsleistungen durch Reflexivität auf das Vorwählen eines gleichartigen Mechanismus wie im Fall des Vorentscheidens über Entscheidungen zurückführt; vgl. ders., 1984c: 184. 40 Luhmann, 1987b: 611. Nach Luhmann selbst (ebd., Anm. 31) fehlt diese Unterscheidung in seinem früheren, zuerst 1966 veröffentlichten Beitrag zu diesem Thema (1984a).

2. Reflexivität und Verfassungsmäßigkeit

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stischen", über unterschiedliche Rechtscodes verfügenden Rechtsordnungen bzw. bei „gesellschaftlich diffusem Recht." 41

2.2. Verfassungsmäßigkeit als umfassendste Reflexivität im Rechtssystem Wie oben (Kap. II. 2) schon betont wurde, läßt sich die Verfassung als hauptsächlich reflexive Instanz des positiven Rechts begreifen. Sie bildet nicht einfach eine bereichsspezifische Normierung von Normierung innerhalb des Rechtssystems, wie ζ. B. ein Verwaltungsgesetz angesichts bestimmter Verordnungen und die Zivilprozeßordnung gegenüber der konkretisierenden Normierung der Zivilgerichtsbarkeit. Es reicht ebensowenig aus, sie als Normierung der Gesetzgebung zu charakterisieren, obwohl das entscheidend für die normative Geschlossenheit des Rechtssystems ist (vgl. oben S. 52). Als umfassendste reflexive Instanz des positiven Rechts bezieht sich die Verfassung direkt sowohl auf die Verfassungsänderung und Gesetzgebung als auch auf die konkreteren Normierungen der Exekutive und Judikative. Das hängt mit der Institutionalisierung der Gewaltenteilung zusammen und impliziert auf der strukturellen Ebene interne Hierarchien: Die Verfassung wird zur Norm der Normen und bestimmt die hierarchischen Beziehungen zwischen den Rechtsnormen. 42 Diese Hierarchisierung auf der Basis eines systemeigenen Mechanismus läuft nicht auf den Bruch der Zirkularität hinaus, insofern der Sinn und die „normative Kraft" der Verfassung von den verfassungskonkretisierenden Prozessen abhängen, die auch reflexiv auf die Verfassung verweisen. Man spricht dann von „tangled hierarchies" (vgl. oben S. 52 f.). In semiotischer Perspektive bedeutet das, daß gegenüber verfassungsanwendenden bzw. verfassungsinterpretierenden Normierungen die Verfassung zugleich als Metasprache und Objektsprache fungiert (vgl. oben S. 60 f.). 43 Wird die Verfassung so als umfassendste reflexive Instanz des positiven Rechts konzipiert, läßt sich die Verfassungsmäßigkeit als grundlegender Ausdruck der 41

An dieser Stelle ist zu bemerken, daß hier »Reflexivität 4 einen ganz anderen Sinn hat als im Rahmen des Konzepts »reflexives Recht4 von Teubner (1982, 1989: 81 ff.), das sich auf die Fähigkeit des Rechtssystems bezieht, seine gesellschaftliche Umwelt zu steuern, ohne seine Autonomie und die der gesteuerten Systeme zu beeinträchtigen; vgl. oben Kap. I. 4.3. Dieser Begriff läßt sich aber mit dem Luhmannschen Konzept der Reflexion, dem die Differenz von System und Umwelt zugrundeliegt (s. oben S. 35; unten Abschn. 3.1.), in Zusammenhang bringen. Sie unterscheiden sich aber deutlich voneinander, wie die folgende Behauptung von Luhmann bestätigt: „Es ist denn auch unvorstellbar, daß man vom Recht aus die Autopoiesis aller Sozialsysteme kontrollieren und regulieren könnte — etwa im Sinne der Regulierung von Selbstregulierung" (1985: 7). 42 Vgl. Luhmann, 1990b: 190. 43 Kritisch gegenüber der auf Bertrand Russell zurückgehenden, „Schleifen" in der Sprache „verbietenden" Auffassung der asymmetrischen Hierarchisierung von Metasprache und Objektsprache vgl. Hofstadter, 1986: 24 f. 13 Neves

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2. Teil, Kap. VI: Verfassung und Rechtssystem. Reflexionsprobleme

Reflexivität innerhalb dieses sozialen Systems begreifen. In diesem Sinne ist die Verfassungsmäßigkeit nicht auf Kriterien, Prinzipien und Normen zurückzuführen, die „über" dem positiv-rechtlichen System lägen, wie ζ. B. die „Rechtsidee" 44 und die „Regel der sozialen Solidarität", 45 geschweige denn läßt sich von „verfassungswidrigen Verfassungsnormen" „wegen Verstoßes gegen nicht positiviertes übergesetzliches Recht" 46 sprechen. Es handelt sich hingegen um eine Form intrasystemischer internormativer Beziehung,47 in deren Rahmen die Reflexivität der positivrechtlichen Normierungen umfassenderweise in Gang gebracht wird. Aber diese Art Reflexivität kann nur entstehen und sich entwickeln, wenn auf der Verfassungskonkretisierenden Ebene Mechanismen zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Rechts konstituiert und effektiv eingesetzt werden. Sie müssen nicht schon im Verfassungstext geregelt oder erwähnt werden, wie die Erfahrung des Judicial Review of Congress in den Vereinigten Staaten deutlich beweist; 48 aber die kontrollierenden Organe müssen sich auf die Verfassung berufen, um ihre Tätigkeit durchzuführen. Es ist auch nicht entscheidend, ob nur ein einziges Staatsorgan („konzentrierte Kontrolle") oder jedes Gericht („diffuse Kontrolle") für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsnormierung zuständig ist, sowie auch nicht, ob es sich um einen nur im Rahmen eines konkreten Falls in Gang zu setzenden oder um einen „abstrakten" Mechanismus der Kontrolle handelt, sei es „par voie d'action" oder „par voie d'exception". 49

44

Dementsprechend bezeichnet Burdeau (1969: 368-70) die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit „als Mittel, die Rechtsidee zu garantieren". Aber nach Burdeau (1966: 210-24) unterscheidet sich die „Rechtsidee" vom Naturrecht, da sie, obgleich „transpositiv", Kontingent" sei. 45 So Duguit, 1926: 36 f., 280-86. Vgl. oben Anm. 64 des Kap. I. 46 Bachof, 1979: 27 f. Auch im Fall des „Verstoßes gegen verfassungsrechtlich positiviertes übergesetzliches Recht" liege der letzte Grund der „Verfassungswidrigkeit einer Verfassungsnorm" nach Bachof (25 f.) „im Widerspruch zum übergesetzlichen Recht". Im Anschluß an Radbruch erklärt Bachof (32), „daß übergesetzliches Recht — ,Naturrecht* nicht im Sinne regulativer Prinzipien, sondern im Sinne unmittelbar rechtsverbindlicher Verhaltensnormen — nur dasjenige Minimum ist, ohne das eine Ordnung die Bezeichnung Rechtsordnung nicht mehr verdienen würde". 47 Vgl. Neves, 1988: 68-73. 48 „The Constitution itself made no mention of judicial review of acts of Congress, and the discussions in the Constitutional Convention of 1787 were completely irrelevant", so hieß es im ersten Satz des berühmten Votums von John Marshall im Fall Marbury v. Madison (1803), auf den die Institutionalisierung der gerichtlichen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen in den USA zurückgeht (u. a. in: Marshall, 1967: 65-91). Für die Untersuchung von Stourzh (1989 b) über das Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert „steht jedoch" dieser Spruch „nicht am Beginn, sondern am Ende einer Entwicklung": Im Jahrhundert „zwischen der Glorreichen Revolution in England (1689) und dem Abschluß der Verfassungsbildung" in den USA „läßt sich die Entstehung einer Auffassung von Verfassung, Verfassungsmäßigkeit und Verfassungswidrigkeit verfolgen, die überhaupt erst die Voraussetzungen für die Bildung eines Instrumentariums zur Kontrolle der Erhaltung der Verfassung schuf 4 (37).

2. Reflexivität und Verfassungsmäßigkeit

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Ausschlaggebend für ein echtes System der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit und also für die Sicherung der Reflexivität innerhalb des Rechtssystems scheint eher zu sein, daß die Prüfung der Verfassungswidrigkeit durch eine andere, vom kontrollierten Organ unabhängige Instanz durchgeführt wird; die „Selbstkontrolle", wie im Fall der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen durch die entsprechenden Gesetzgeber, reicht dazu offensichtlich nicht aus. 50 Wichtig ist außerdem, ob die Kontrolle „politischen" Organen 51 oder „juristischen" Organen (Gerichten) obliegt. In der ersten Alternative könnte man ein Symptom der Politisierung des Rechtssystems sehen.52 Doch ließe sich auch sagen, daß sie dem Begriff der Verfassung als „struktureller Kopplung von Recht und Politik" (Luhmann) gerecht würde. Der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit durch Gerichte läge hingegen ein strenger Begriff der Verfassung als Instanz des Rechtssystems zugrunde. 53 Aber sofern sich in beiden Fällen die kontrollierenden Organe auf das Verfassungsrec/tf berufen und nach seinen Kriterien und Normen entscheiden, werden sie von politischem Druck entlastet und wird die Politisierung ihrer Tätigkeit begrenzt. In Anbetracht dessen läßt sich behaupten, daß die effektive Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Selbstbestimmtheit des Rechts und damit zusammenhängend der normierenden Reflexivität im Recht dient. Dadurch werden auf keinen Fall die politischen Implikationen der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen bestritten. 54

2.3. Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit in den brasilianischen Verfassungstexten: Bedeutung für die Reflexivität im Rechtssystem Eine Konfrontation mit der Verfassungsentwicklung Brasiliens im Lichte ausschließlich der verschiedenen Verfassungstexte würde gewiß nicht zur Negation des Musters der Verfassungsmäßigkeit als umfassender Reflexivität innerhalb des Rechtssystems führen. Im Gegenteil ließe sich eine bedeutsame Evolution in dieser Richtung feststellen, besonders wenn man den Ausbau der Verfassungs-

49 Umfassend über die verschiedenen Organisationssystematiken bzw. Rechtsmittel zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit (besonders der Gesetze) s. u. a. Cappelletti, 1978b; Burdeau, 1969: 371 ff. Zu anderen Hinweisen vgl. Neves, 1988: insb. 81. 50 In diesem Sinne behauptet Biscaretti di Ruffìa (1974: 542), daß damit „eine Partei mit dem Richter" identifiziert wird. 51 Wie typisch in Frankreich. Vgl. hierzu Burdeau, 1969: 406-24. 52 Es wäre dann an den „Sénat conservateur" zu denken (vgl. Burdeau, 1969: 410 f.). 53 Darüber hinaus könnte man darin Tendenzen zur „Judizialisierung der Politik" feststellen. In diesem Sinne vgl. Loewenstein, 1975: 261 ff., im Hinblick besonders auf die Erfahrung des Bundesverfassungsgerichtes in der Bundesrepublik Deutschland. 54 Was schon Tocqueville als genauer Beobachter (1961: 101-104) in bezug auf die Erfahrung der Vereinigten Staaten hervorhob. Vgl. auch Luhmann, 1990b: 218 f. 13*

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2. Teil, Kap. VI: Verfassung und Rechtssystem. Reflexionsprobleme

einrichtungen für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und anderer normativer Akte der Staatsorgane in Betracht zöge: Von der Unterlassung in der Verfassungscharta von 1824 bis zur umfangreichen Normierung in der Verfassungsurkunde von 1988 wäre dann ein evolutionärer Prozeß verlaufen. Ein Rückgriff auf die Verfassungswirklichkeit zwingt aber zur Demontage dieses Bildes. In der Verfassungscharta von 1824 wurde kein Mechanismus der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit erwähnt. 55 In Anbetracht der Verfassungspraxis in den USA ließe sich behaupten, daß im Rahmen des „kaiserlichen" Textes sich eine Art judicial review hätte entwickeln können. 56 Damit würde aber übersehen, daß die Figur des „Poder Moderador" als übergeordneter Staatsgewalt (vgl. oben S. 118) und die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze einander widersprechen. 57 Vielmehr könnte man vermuten, daß eine Kontrolle durch den „Poder Moderador", der „über die Erhaltung der Unabhängigkeit, Gleichgewicht und Harmonie der übrigen Gewalten" wachen sollte (Art. 98), hätte entstehen können. Diese wäre aber eine politische Kontrolle durch einen politischrechtlich keiner Verantwortlichkeit unterliegenden Staatsagenten, den „Kaiser" (Art. 99), gewesen, so daß sie nicht der Verfassungsmäßigkeit als Reflexivität im Rechtssystem hätte dienen können. Aber in der politischen Praxis des Kaiserreiches wurde die Vorstellung der Verfassungsmäßigkeit nicht aufgenommen. Hierzu sind zwei interessante Beispiele zu nennen, um nur die offizielle Tätigkeit der Staatsgewalt in Betracht zu ziehen: die wesentliche Umgestaltung der dezentralisierenden Verfassungsänderung von 1834 („Ato Adicional" — Gesetz N. 16 vom 12.8.1834) 58 durch das zentralisierende „Interpretationsgesetz" von 1840 (Lei N. 105 vom 12.5.1840), ein einfaches Gesetz,59 und die Einführung der 55 Daß gemäß Art. 15 Abs. 8. und 9. die Zuständigkeit zur Interpretation und „Wache" der Verfassung der Legislative zugeschrieben wurde (vgl. Mendes, 1990: 169 f., in Anlehnung an Pimenta Bueno, 1857: 69 f.) implizierte keine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit im strengen Sinne als Interorgan-Kontrolle der Verfassung, sondern eine Form deren Intra-Organ-Kontrolle (vgl. Anm. 50 dieses Kap.; zur Unterscheidung von IntraOrgan- und Interorgan-Kontrolle s. Loewenstein, 1975: 167 ff.). 56 Vgl. in diesem Sinne Miranda, 1973: 620. 57 In diesem Sinne Bittencourt, 1968: 28; vgl. auch Mendes, 1990: 170. 58 Nach dieser Verfassungsänderung, einer Versöhnungsformel zwischen „Föderalisten", „gemäßigten Liberalen" und „Konservativen", wurde die Zuständigkeit der Provinzen erweitert, besonders was die gesetzgebende Gewalt anbelangte (die „Allgemeinen Provinzräte" — Art. 71-89 der Verfassungscharta — wurden dementsprechend zur „Gesetzgebenden Versammlung der Provinzen" umbenannt — Art. 1. des „Ato Adicional"). Siehe hierzu T. Bastos, 1937: 86 ff.; Leal, 1915: 167 ff.; Roure, 1914: 205-208; Martins Ferreira, 1954: 53-56; Melo Franco, 1960: 106-10; Bonavides u. Andrade, 1989: 112 ff.; Pacheco, 1958: 215 ff.; und die kritischen Bemerkungen von Faoro, 1984: 307 ff., unter Berücksichtigung der Dissonanz zwischen den im „Ato Adicional" niedergelegten Ansprüchen und der politischen Realität. Hier ist anzumerken, daß gemäß Art. 20 des „Ato Adicional" die „allgemeine gesetzgebende Gewalt" die Ermächtigung erhielt, die gegen die Verfassungscharta verstoßenden Akte der Legislativen der Provinzen aufzuheben. In der alltäglichen Verfassungspraxis aber unterlagen die zahlreichen verfassungswidrigen Akte der lokalen Legislativen einer Kontrolle durch „ministerielle Avis" (vgl. J. C. Rodrigues, 1863: 183-88).

2. Reflexivität und Verfassungsmäßigkeit

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direkten Wahl durch die gewöhnliche Gesetzgebung (Lei N. 3.029 vom 9.1.1881), im Widerspruch also zu den Verfassungsbestimmungen über die indirekte Wahl (Art. 90-94). 6 0 In diesen Fällen gilt nicht das Argument, daß nach dem Art. 178 der Verfassungscharta von 1824 nur deren Vorschriften, die „die Beschränkung und entsprechenden Befugnisse der politischen Gewalten und die politischen und individuellen Rechte der Bürger anbetreffen", den speziellen Verfassungsbestimmungen über die Verfassungsänderung (Art. 174-177) unterlagen: Die anderen Vorschriften des Verfassungstextes („Alles, was nicht konstitutionell ist") durften durch die einfache Gesetzgebung verändert werden. 61 In den angegebenen Beispielen ging es offensichtlich um Konstitutionelles im Sinne des Textes. 62 Bei solchen offiziellen Verstößen gegen den Verfassungstext handelt es sich aber nur um Symptome des Mangels an Verfassungsmäßigkeit, ein Problem, das in erster Linie auf die „informale" Praxis der Staatsgewalt und der außerstaatlichen Machthaber zurückzuführen ist. 63 Durch eine indirekte Formulierung nahm die Verfassungsurkunde von 1891 (Art. 59 § 1.) das amerikanische Modell der diffusen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit auf. 64 Es wurde die Zulässigkeit der Berufung vor dem Obersten 59 Damit werden die durch den „Ato Adicional" errungenen Befugnisse der „Gesetzgebenden Versammlung der Provinzen" eingeschränkt. Freire (1983: 91 ff.) kritisierte das „Interpretationsgesetz" als „konservative und zentralisierende" Reaktion gegen „die liberalen Errungenschaft von 1834" und stellte darin negative Wirtschaftsauswirkungen fest. Vgl. auch in dieser Richtung T. Bastos, 1937: 94 f. Es handelte sich aber um eine illusorische Einstellung, die „formale" Dezentralisierung als wirkungsvolles Mittel der Aufhebung von ökonomischen und sozialen Problemen anzusehen, wie die „föderalistische" Erfahrung der „Ersten Republik" später bewiesen hat. 60 Es ist anzumerken, daß diese Wahlreform eine noch stärkere Beschränkung des Wahlrechts implizierte, insoweit die Wahlberechtigung dann von einem jährlichen Nettoeinkommen von 200.000 „réis" abhängig gemacht worden ist (Art. 2. des Gesetzes N. 3.029 von 1881 — u. a. in: Soares de Souza, 1979: 335-69), was nach der Verfassungscharta (Art. 94 I) nur für die Wähler der zweiten Wahlstufe („eleitores") galt, nicht für die des ersten Wahlstufe („votantes"), die über ein jährliches Nettoeinkommen von 100.000 „réis" verfügen sollten (Art. 92 V); vgl. oben Anm. 103 des Kap. V. Zur damit zusammenhängenden Senkung der Wahleinschreibung und -beteiligung bei der direkten Wahl von 1881 vgl. Faoro, 1984: 375 f., 1985: 620, allerdings mit anderen Folgerungen. 61 Hierzu erweist sich deutlich der Einfluß des Art. 16 der Déclaration des Droits de L'Homme et du Citoyen von 1789 (s. oben S. 48). 62 Im Hinblick auf die Einführung des Wahlrechts äußerte sich Soares de Souza (1979: 118-26) hiergegen, aber nicht überzeugend. In bezug auf das „Interpretationsgesetz" vgl. auch anders Melo Franco, 1960: 112, unter Hinweis noch auf die Zuständigkeit des gesetzgebenden Gewalt zur Interpretation der Gesetze (Art. 15 Abs. 8.); im Anschluß an ihn Bonavides u. Andrade, 1989: 123. 63 Dazu behauptet Faoro in seiner glänzenden politisch-soziologischen Interpretation des literarischen Werks von Machado de Assis: „Die Verfassung wurde nur von den Oppositionspolitikem hofiert, die sie, einmal an der Regierung — weil an der Regierung —, verletzten [ . . . ] . Die Ausübung der Regierung bedeutete immer die Verletzung der Verfassung — dann das pittoreske und leere Geschrei der Opposition: ,tauchen wir in den konstitutionellen Jordan'" (1976: 65 f.). 64 Aber es wurde bereits durch den von der Übergangsregierung durch das Dekret N. 510 vom 22.6.1890 verkündeten Verfassungstext, Art. 58 § 1., vorgesehen (u. a. in:

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Bundesgerichtshof gegen die Urteile, in denen die Justiz der Bundesstaaten gegen die „Gültigkeit oder Anwendung von Abkommen und Gesetzen des Bundes" (Al. a) oder für die im Fall angefochtene Verfassungsmäßigkeit („Gültigkeit angesichts der Verfassung") von Gesetzen und Regierungsakte der Bundesstaaten (Al. b) entschied.65 Damit wurde die Zuständigkeit der Gerichte anerkannt, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und Regierungsakte zu prüfen. 66 Aber die Verfassungswidrigkeit der Regierungsakte häuften sich und wurden gravierender als im „Kaiserreich" geworden (vgl. oben S. 125). Schon kurz nach der „formalen" Inkraftsetzung der Verfassungsurkunde löste der Staatspräsident {Marschall Deodoro da Fonseca) den Nationalkongreß auf (3.11.1891), trat unter Druck der Armee zurück (23.11.1891) und wurde verfassungswidrig durch den Vizepräsidenten ersetzt. 67 Das militärische Interregnum (ab 1889) endete also nicht mit der Verkündung des Verfassungstextes (1891), sondern es währte durch die verfassungsdurchbrechende Tätigkeit der zwei ersten Offizier-Präsidenten bis zum Jahr 1894.68 Aber nach dem Ende dieser Periode ändert sich nur die Form der gegen die Verfassung verstoßenden Aktivitäten der Staatsgewalt: Von der „militärischen Methode" des Verfassungsdurchbruchs geht man zu „politischen" Formeln der Verfassungsaushöhlung über. Berücksichtigt man die außerhalb der offiziellen Normierung und Akte im Widerspruch zur Verfassung ausgeübte Tätigkeit des Staatsagenten („Politik der Gouverneure", koronelistische Kompromisse u. s. w.), geht jede Vorstellung einer „verfassungsmäßigen Ordnung" verloren. Alencar u. Rangel, 1986: 63-82) und durch das Dekret N. 848 vom 11.10.1890 in das brasilianische Recht eingeführt (vgl. hierzu Bandeira de Mello, 1980: 156; Miranda, 1960 VI: 417; Barbi, 1968: 37; Mendes, 1990: 171). 65 Diese Vorschrift (Art. 59 § 1.) der Verfassungsurkunde von 1891 entspricht fast wörtlich einem Nachtrag von Rui Barbosa, dem wichtigsten Verfasser des Textes, zur Verfassungsvorlage des „Juristenausschusses" der brasilianischen Regierung (vgl. Barbosa, 1946: 78). So drückte sich seine Bewunderung der Erfahrung des judicial review in den USA aus. Die umfassende Verfassungsänderung von 1926 betraf auch diese Verfassungsbestimmung (ab dann Art. 60 § 1. Al. α u. b): Statt „Anwendung oder Gültigkeit" wurde dann „Geltung oder Gültigkeit" geschrieben; es gab nicht mehr den Hinweis auf die „Abkommen". 66 Daß diese Vorschrift keinen Hinweis auf die Entscheidungen der Bundesjustiz machte, bedeutete nicht, daß die Bundesgerichte (außer dem Obersten Bundesgerichtshof) von der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und Regierungsakte ausgeschlossen wurden. Der Grund dafür lag darin, daß für ihre Entscheidungen keine Beschränkung der Berufung vor dem Obersten Bundesgerichtshof wie für die lokalen Gerichte galt (Art. 59 Abs. II); außerdem waren die Bundesgerichte explizit zuständig zur Entscheidung der Rechtsfälle, in denen die Parteien ihre Klage oder Verteidigung mit Vorschriften der Verfassung begründete (Art. 60 Al. a). 67 Zu den Ereignissen s. Carone, 1971: 39 ff. Der Amtsantritt des Vize-Präsidenten (Marschall Floriano Peixoto) verstieß gegen die Verfassung, weil die Hälfte der Amtszeit des „zurücktretenden" Präsidenten noch nicht abgelaufen war; nach dem Art. 42 der Verfassung von 1891 sollte in diesem Fall eine neue Präsidentschafts wähl stattfinden. Vgl. hierzu Barbosa, 1933 III: 149 ff.; Seabra Fagundes, 1982: 17 f.; Pacheco 1958: 241; Maximiliano, 1948: 115. 68 Ein „Intermezzo politischer Aktivitäten von militärischer Seite" (!) nach Moltmann, 1980: 106.

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Mit kleinen rechtstechnischen Veränderungen im Wortlaut behielt der Verfassungstext von 1934 (Art. 76 Abs. I I I Al. b u. c) die Formel des judicial review nach amerikanischem Vorbild, wie sie im Text von 1891 (besonders in der Fassung von 1926 — s. Anm. 65 dieses Kap.) auftrat, bei. Als Neuerung wurde die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, das wegen Mißachtung der Verfassungsprinzipien der Föderation (Art. 7. Abs. I) jeweils den Bundeseingriff in die Staaten anordnet (Art. 12 Abs. V), eingeführt als Voraussetzung für dessen Ausführung; in diesem Fall sollte der Oberste Bundesgerichtshof auf Antrag des Generalstaatsanwalts der Republik entscheiden (Art. 12 § 2.). Es handelte sich um einen Versuch, ein aus der „Ersten Republik" kommendes Problem, den Mißbrauch des Bundeszwanges, zu verhindern. Außerdem wurde die Zuständigkeit des Bundessenats festgesetzt, den Vollzug der von rechtsprechender Gewalt als verfassungswidrig erklärten Gesetze, Akte, Beschlüsse und Verordnungen vollständig oder teilweise auszusetzen (Art. 91 Abs. IV) — vergeblich in Anbetracht des Prinzips der Gewaltenteilung. Als Neuerung trat nicht zuletzt die Vorschrift auf, daß die Gerichte nur durch absolute Mehrheit die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen und Akten der öffentlichen Gewalt erklären konnte (Art. 179). 69 Aber in der kurzen Zeit der „formalen" Geltung der nominalistischen Verfassung von 1934 hat sich die Staatsgewalt eher durch deren verfassungsaushöhlende Tätigkeit charakterisiert (Kap. IV. 3.) als durch ein Minimum an Förderung der Mechanismen für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit. Außer dem Erfordernis der absoluten Mehrheit für die Erklärung der Verfassungswidrigkeit durch die Gerichte (Art. 96) lehnte die Verfassungscharta von 1937 die Neuerungen des Textes von 1934 ab; aber die diffuse Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nach dem nordamerikanischen Muster wurde in der auf den Text von 1891 zurückgehenden Formel übernommen (Art. 101 Abs. I I I Al. b u. c), allerdings mit einer Einschränkung: Auf Antrag des Präsidenten der Republik konnte das Parlament durch Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern (Bundesrat und Abgeordnetenkammer) die gerichtlichen Erklärungen der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen wirkungslos machen (Art. 96, einziger Paragraph). 70 Offensichtlich stand das Modell des judicial review in radikalem Widerspruch zur im Rahmen der Schluß- und Übergangsbestimmungen des Textes von 1937 extrem verstärkten übergeordneten Stellung des Staatsoberhaupts (vgl. oben Kap. IV. 4.), der u. a. ohne jede rechtliche Kontrolle und ausschließlich die Ermächtigung erhielt, die Verfassungscharta zu ändern und die Richter in den Ruhestand bzw. in den Wartestand zu versetzen. Unter diesen Umständen konnte 69 Zu diesen Neuerungen des Verfassungstextes von 1934 s. neuerdings Mendes, 1990: 175 ff. 70 Im Unterschied zu den Bestimmungen für die Verfassungsänderung, die durch einfache oder absolute Mehrheit in beiden Parlamentskammern zu verabschieden wäre (Art. 174), implizierte diese Vorschrift die Kassation des gerichtlichen Urteils durch das Parlament; vgl. Nunes, 1943: 593 Anm. 25; im Anschluß an ihn Bandeira de Mello, 1980: 179; Mendes, 1990: 180.

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sich keineswegs die Vorstellung der Verfassungsmäßigkeit als Reflexivität des Rechtssystems durchsetzen: Es ging um eine einseitige Politisierung der „Verfassungsfrage". 71 Mit einigen rechtstechnischen Veränderungen übernahm die Verfassungsurkunde von 1946 (Art. 8., einziger Paragraph; Art. 4; Art 101 Abs. I I I Al. a, b u. c; Art. 200) grundsätzlich das Schema der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Textes von 1934. 72 Hier ist nicht zu bestreiten, daß dieses Modell sich in der neuen Konstellation trotz des Verfassungsnominalismus in begrenztem Maße (für die integrierten bzw. überintegrierten Gruppen) zu entwickeln begann. Aber mit dem Verfassungsbruch von 1964 wurde die Vorstellung der Verfassungsmäßigkeit als Ausdruck der Reflexivität im Rechtssystem ganz zurückgewiesen. Trotzdem setzten die ersten Ausnahmegesetze mit Verfassungskraft („Atos Institucionais" — vgl. oben Kap. IV. 6.) die Verfassung von 1946 mitsamt deren Mechanismen der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit „formal" nicht außer Kraft. 73 Außerdem wurde durch die Verfassungsänderung N. 16 von 26.11.1965 (Art. 2.) die „direkte", auf das abstrakte Normenkontrollverfahren gerichtete „Beschwerde" („Representaçâo") gegen die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen und normativen Akten des Bundes und der Bundesstaaten eingeführt, die dem obersten Bundesgerichtshof vom Generalstaatsanwalt der Republik zugeleitet werden sollte (Art. 101 Abs. I Al. k, nach der neuen Fassung).74 In diesem Kontext der Herrschaft von Ausnahmegesetzen diente ein solcher Ausbau der Möglichkei71 Hier ist hinzuzufügen, daß im Rahmen der ihm durch den Art. 180 (als „Übergangsbestimmung") erteilten Befugnis zur Gesetzgebung der Präsident die prinzipiell parlamentarische Kompetenz des Art. 96, einziger Paragraph, ausgeübt hat, also gerichtliche Erklärungen der Verfassungswidrigkeit durch Verordnung mit Gesetzeskraft kassiert (Dekreto-Lei N. 1564 von 1939). Vgl. hierzu Bittencourt, 1968: 139; im Anschluß an ihn Mendes, 1990: 180 f. 72 Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit zwecks Bundeseingriffs in die Staaten betraf nicht mehr das Interventionsgesetz des Bundes wie in der Verfassungsurkunde von 1934 (Art. 12 § 2.), sondern die als verfassungswidrig angefochtenen Akte der Staaten (Text von 1946, Art. 8., einziger Paragraph); hierzu Bandeira de Mello, 1980: 187 f.; Miranda 1960 II: 72 u. 74. Was die „außerordentliche Berufung" („recurso extraordinàrio") vor dem obersten Bundesgerichtshof zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von gesetzten und normativen Akten im konkreten Rechtsfall anbelangte (Art. 101 Abs. III, Al. a, b, u. c), wurde nicht mehr nur auf die Entscheidungen der lokalen Gerichte hingewiesen wie in den Verfassungstexten von 1891, 1934 und 1937, sondern auf jede in einziger oder letzter Instanz getroffene gerichtliche Entscheidung (dazu lobend Miranda, 1960 III: 317 — s. aber oben Anm. 66 dieses Kap.); außerdem wurde auf die Zulässigkeit dieses Rechtsmittels in den Fällen, in denen das Urteil im Widerspruch zu einer Vorschrift der Verfassung stände (Al. α), verwiesen. Zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit im Rahmen der Verfassungsurkunde von 1946 s. Bandeira de Melo, 1980: 180 ff.; Mendes, 1990: 181 ff. 73 Es ist klar, daß durch diese Ausnahmegesetze die Verfassung von 1946 nicht nur teilweise aufgehoben, sondern auch ganz entstellt wurde. 74 Vgl. hierzu Bandeira de Mello, 1980: 197 ff.; Mendes, 1990: 188 ff. Miranda (1970 IV: 44) irrt also, indem er behauptet, daß diese Art Normenkontrollverfahren zum ersten Mal durch die Verfassung von 1967 festgesetzt wurde.

2. Reflexivität und Verfassungsmäßigkeit

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ten, die Verfassungsmäßigkeit gerichtlich zu prüfen, eher zu politischer Kontrolle der „untergeordneten" Staatsorgane als zu Reflexivität im Rechtssystem. Die Verfassungstexte von 1967 (Art. 11 § 1. Al. c; Art 45 Abs. IV; Art. 111; Art. 114 Abs. I Al. / u. Abs. I I I Al. a, b u. c) und von 1969 (Art. 11 § 1. Al. c; Art. 42 Abs. VII; Art. 116; Art. 119 Abs. I Al. / u. Abs. I I I Al. a, b u. c) nahmen das Muster der Verfassungsmäßigkeitskontrolle des Textes von 1946 mit der Neuerung der Verfassungsänderung N. 16 von 1965 an. Vorsichtiger aber hieß es in der Vorschrift über die „direkte", auf das abstrakte Normenkontrollverfahren gerichtete „Beschwerde" wegen Verfassungswidrigkeit („Representaçao de Inconstitutionalidade") vor dem Obersten Bundesgerichtshof nicht mehr „vom Generalstaatsanwalt der Republik zugeleitet", sondern „Beschwerde des Generalstaatsanwalts der Republik", 75 so daß die autoritäre, politische Kontrolle der Inanspruchnahme dieses Mechanismus durch die Militärexekutive gesichert wurde (Art. 114 bzw. 119 Abs. I Al. /). 7 6 Im Rahmen der Unterordnung der Verfassungstexte unter die Ausnahmegesetze mit Verfassungskraft („Atos Institucionais" N. 5 / 6 8 bis 17/69) oder einfach unter die Ideologie der „Nationalen Sicherheit" war eine gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Akten der Militärregierung bzw. gegen deren Interessen undurchführbar oder sogar unvorstellbar. 77 Hier wird nicht verkannt, daß die gerichtliche Kontrolle der Konformität der Normgebung von politisch untergeordneten Staatsorganen in gewissem Maße funktionierte. 78 Dadurch wurde aber auf keinen Fall Reflexivität 75 Nach dem deutschen juristischen Sprachgebrauch läge die Umformulierung darin, daß es nicht mehr „mittels des Generalstaatsanwalts der Republik eingeleitetes abstraktes Normenkontrollverfahren" (Verfassungsänderung N. 16 von 1965) hieße, sondern „Normenkontrollverfahren auf Antrag des Generalstaatsanwalts der Republik" (Texte von 1967 und 1969). 76 Vgl. hierzu die Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshofs (STF, 1971) und des Bundesrates der Brasilianischen Anwaltskammer (OAB-CF, 1971), die in Anbetracht der Abfassung dieser Vorschrift im Verfassungstext von 1967/69 dem Beschluß des Generalstaatsanwalts der Republik zugestimmt haben, welcher einen Antrag des MDB (der Brasilianischen Demokratischen Bewegung, der damals einzigen offiziellen Oppositionspartei) zur „Zuleitung" („encaminhamento") einer „direkten Beschwerde" („representaçao") an den Obersten Gerichtshof gegen die Verfassungs Widrigkeit von normativen Regierungsakten abgewiesen hatte. Zur damit zusammenhängenden rechtsdogmatischen Diskussion s. neuerdings Mendes, 1990: 239 ff., der aber die juristischen Implikationen der erwähnten Formulierungsänderung übersieht (vgl. auch 192). Hier ist anzumerken, daß nach der Verfassungscharta von 1967 (Art. 138) die Ernennung des Generalstaatsanwalts der Republik durch den Präsidenten noch, trotz des Autoritarismus, von der Zustimmung des Bundessenats abhing; aber gemäß „Verfassungsänderung N. 1" vom 1969 erhielt der Staatspräsident die Ermächtigung, ihn frei zu ernennen (Art. 95). 77 Vgl. Löbsack-Füllgraf, 1985: 54-56, besonders im Hinblick auf das Gesetz der Nationalen Sicherheit. 7 8 Hierzu sind besonders die zahlreichen, auf Antrag des Generalstaatsanwalts der Republik ergangenen Urteile des Obersten Bundesgerichtshofs über die Verfassungswidrigkeit von Vorschriften der „Verfassungen der Bundesstaaten" zu nennen; vgl. STF, 1976-1984. Hierin könnte man einen Ausdruck der politischen Zentralisierung während des Militärregimes sehen.

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2. Teil, Kap. VI: Verfassung und Rechtssystem. Reflexionsprobleme

im Rechtssystem entwickelt, noch wurde der Vorstellung einer „verfassungsmäßigen Ordnung" entsprochen. Der Verfassungstext von 1988 bietet einen breiten Ausbau des Spielraums zur gerichtlichen Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und normativen Akten des Bundes und der Staaten. Das Schema der früheren Verfassungsurkunde wird beibehalten: die gerichtliche, diffuse Kontrolle im konkreten Rechtsfall (Art. 102 Abs. III), die nach nordamerikanischem Vorbild auf die Verfassungsurkunde von 1891 zurückgeht; die Prüfung der Verfassungswidrigkeit als Voraussetzung des Bundeseingriffs in die Staaten (Art. 36 Abs. III), die Zuständigkeit des Bundessenats zur Aussetzung des Vollzugs der durch rechtskräftige Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs für verfassungswidrig erklärten Gesetze (Art. 52 Abs. X) und die Regel der absoluten Mehrheit für die gerichtliche Erklärung der Verfassungswidrigkeit (Art. 97), drei Vorschriften, die trotz der Veränderungen aus dem Verfassungstext von 1934 stammen. Darüber hinaus aber wird die Aktivlegitimation zur „Direktklage" wegen Verfassungswidrigkeit von Gesetzen und normativen Akten des Bundes und der Staaten bedeutsamerweise erweitert; nicht mehr nur der Generalstaatsanwalt der Republik 79 ist dazu berechtigt, sondern auch der Präsident der Republik, das Präsidium des Bundessenats, das Präsidium der Abgeordnetenkammer, das Präsidium jeder gesetzgebenden Versammlung (der Bundesstaaten), die Gouverneure (der Bundesstaaten), der Bundesrat der Brasilianischen Anwaltskammer und jede politische Partei mit Vertretung im Nationalkongreß (Art. 103). Dadurch schließe die neue brasilianische Verfassungsurkunde Elemente der „konzentrierten" Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit durch ein darauf spezialisiertes Gericht nach dem europäischen Muster mit Elementen des nordamerikanischen judicial review zusammen. Außerdem wird die Erklärung der Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassens vorgesehen (Art. 103 § 2.) (vgl. oben S. 158 f.), eigentlich unter Einfluß der portugiesischen Verfassung (Art. 283). Diese umfangreiche Regulierung der konstitutionellen Rechtsmittel zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und normativen Akte dient zwar, es ist nicht zu bestreiten, der rechtlichen Kontrolle der offiziellen Staatstätigkeit und also positiv der Konkretisierung des neuen Verfassungstextes. 80 Aber bereits der Mißbrauch der „vorläufigen Maßnahmen mit Gesetzeskraft" durch die neue 79 Für dessen Ernennung durch den Präsidenten der Republik erfordert der neue Verfassungstext (Art. 52 Abs. III Al. e\ Art. 128 § 1.) wieder (im Gegensatz zum Text von 1969) die Zustimmung des Bundessenats. 80 Hier ist anzumerken, daß die Zahl der Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshofes bei Beschwerden gegen die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen und normativen Regierungs- und Verwaltungsakten im Jahr 1988 auf 357 Urteile anstieg, unverhältnismäßig gegenüber früheren Jahren (auch genau 357 Urteile von 1981 bis 1987), was mit der Verkündung der neuen Verfassung zusammenhängt; aber im Jahr 1989 sank die Zahl auf 26 Entscheidungen. Vgl. zu den statistischen Daten die entsprechenden Jahresberichte des Obersten Bundesgerichtshofs: STF, 1989: 218, 1988: 104, 1987: 130, 1986: 161, 1985: 197, 1984a: 177, 1983: 158, 1982: 167, 1981: 211.

2. Reflexivität und Verfassungsmäßigkeit

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Regierung 81 bildet ein Symptom des Mangels an den politisch-ökonomischen Voraussetzungen der Entwicklung der Verfassungsmäßigkeit als Reflexivität innerhalb des Rechtssystems. Daß sich dabei die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit schon in einigen wichtigen Fällen gegen die verfassungswidrige Normgebung der Exekutive durchgesetzt hat, reicht offensichtlich nicht zur Konstruktion einer wirklichen „verfassungsmäßigen Ordnung" aus. Die gesellschaftliche Konstellation (Elend, unkontrollierte Kriminalität, hohe Inflation zusammen mit Rezession, Außenverschuldung u. s. w.) verbaut einen Einklang vom Wirtschaftscode, dem Machtcode und den jeweiligen Kriterien mit dem Code und den Programmen des Rechts, also eine strukturelle Kopplung von Wirtschaft bzw. Politik und Recht als einem durch eine Verfassung normativ geschlossenen, autopoietischen Sozialsystem.

2.4. Mangelhafte Relevanz der Verfassungsmäßigkeit als Maßstab der Rechtsentwicklung Diese Bemerkungen über die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der rechtlichen Normierung im Laufe der brasilianischen Verfassungsgeschichte sind aber noch zu begrenzt, um ein Bild des Entfallens der Verfassungsmäßigkeit als umfassender Reflexivität im Rechtssystem zu vermitteln. Für diejenigen Schichten der Bevölkerung, die Zugang zu seiner Leistung haben, läßt das rechtspolitische System einen gewissen Spielraum zur Inanspruchnahme der gerichtlichen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und normativen Regierungsund Verwaltungsakten, wie dies im Verfassungstext vorgeschrieben ist. Demnach könnte man eine Evolution aus dem Verlauf der Verfassungsgeschichte Brasiliens herauslesen, die nur durch die autoritären Verfassungsbrüche unterbrochen worden wäre. Geht man über diese strikte Betrachtungsweise hinaus, ist zunächst festzustellen, daß die Vorstellung der Verfassungsmäßigkeit als Reflexivität im Rechtssystem nur sinnvoll ist, wenn die referierte Normgebung sich im Konkretisierungsprozeß als effektiv und generalisierungsfähig erweist (Wirksamkeit und soziale Geltung). In Zusammenhang damit ist hinzuzufügen, daß das Bestehen der Verfassungsmäßigkeit nicht einfach von Übereinstimmung der offiziellen Normgebung bzw. Entscheidungen mit dem Verfassungstext abhängt (das spielt dabei eine sehr geringe Rolle), sondern auch und vor allem von der alltäglichen, „informellen" Verfassungspraxis. Wie schon oben (Kap. V.) in bezug auf die Funktions- und Leistungsprobleme beobachtet wurde, ist das nicht der Fall in Brasilien: Die Regelmäßigkeit der gewalttätigen Verletzung der Grundrechte 81 Es handelt sich u. a. besonders um das Wiedererlassen — mit neuer Bezifferung und kleinen Veränderungen — von „vorläufigen Maßnahmen", die der Nationalkongreß schon zurückgewiesen hat, unter Umgehung des Art. 62, einziger Paragraph, der Verfassung: „Die vorläufigen Maßnahmen verlieren ihre Wirksamkeit seit dem Erlassen, wenn sie in der Frist von dreißig Tagen nach ihrer Verkündung nicht [vom Nationalkongreß] in Gesetz umgewandelt werden . . . " Vgl. hierzu Ferraz Jr., 1990b.

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durch den polizeilichen Apparat, die Unbedeutsamkeit der durch die sogenannten „programmatischen Verfassungsnormen" erklärten „sozialen Grundrechte", die mangelhafte konfliktlösende Leistung des Rechts und seine Leistungsdefizienz gegenüber der Politik stehen in Widerspruch zur Verfassungsmäßigkeit als umfassender Reflexivität innerhalb des Rechtssystems. Wenn nicht durch die Rechtssetzung, wie in den autoritären Perioden, wird diese Art Reflexivität im Konkretisierungsprozeß gebrochen. Unter diesen Umständen läßt sich dann nicht mit Luhmann behaupten: „Der Code Recht / Unrecht generiert die Verfassung, weil die Verfassung den Code Recht/ Unrecht zu generieren hat." 82 Hingegen ist folgendes festzustellen: die Entwicklung eines generalisierten Code Recht / Unrecht wird blockiert, weil die Entwicklung einer funktionsfähigen Verfassung als umfassender reflexiver Instanz des Rechts verbaut wird und umgekehrt.

3. Reflexion und Legitimität 3.1. Reflexionsbegriff und Ebenen der Reflexion im Rechtssystem Im Rahmen der systemtheoretischen Begrifflichkeit Luhmanns unterscheidet sich die Reflexion als Rückbezug des Systems auf sich selbst, auf die eigene Identität, 83 sowohl von der basalen (elementaren) Selbstreferenz als auch von der Reflexivität (prozessualer Selbstreferenz); aber diese drei Arten selbstreferenzieller Beziehungen setzen einander voraus (s. oben S. 113 f.). Reflexion gehört nach früherer Formulierung Luhmanns auch zu den reflexiven Mechanismen,84 aber ihr liegt die Leitdifferenz von Systemen und Umwelt zugrunde, nicht die Differenz Vorher / Nachher von Prozessen, Basis der Reflexivität. 85 Als „Theorie des Systems im System" impliziert sie das begriffliche Ausarbeiten der „Identität des Systems im Unterschied zu seiner Umwelt" (vgl. S. 114 Anm. 18 u. 20), was zugleich der konsistenten operationeilen Reproduktion des Systems und seinem adäquaten Umweltbezug dient; andererseits aber hängt der Erfolg jeder Reflexionstheorie von dieser Konsistenz und Adäquität ab. Zur Reflexion im Rechtssystem gehören in zwei verschiedenen Graden von Abstraktion die Rechtsdogmatik und die Rechtstheorie. Das entspricht nicht der früheren Auffassung Luhmanns, nach der die Rechtstheorie in das Wissenschaftssystem einzufügen wäre; 86 später behandelt er die Rechtstheorie als Selbstrcflexion des Rechtssystems.87 Betrachtet man andererseits „die Nichtnegierbarkeit 82 Luhmann, 1990b: 189. 83 „Dabei kann es sich angesichts der Komplexität realer Systeme nie um eine volle Vergegenwärtigung der Gesamtrealität aller Strukturen und Prozesse des Systems handeln" (Luhmann u. Schorr, 1988: 37). 84 Vgl. Luhmann, 1984a: 100, 102, 104 f. 85 Luhmann, 1987b: 601 f., 617. 86 Vgl. Luhmann, 1974: 13 u. 18.

3. Reflexion und Legitimität

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der Ausgangspunkte von Argumentationsketten" als „das wichtigste Kennzeichen" der Dogmatik, 88 dann ließe sich sogar deren Charakterisierung als Reflexion des Rechtssystems bestreiten, insoweit folgendes gilt: „Um Reflexionsleistungen in Gang bringen zu können, muß die Identität des Systems problematisiert werden, also als negierbar erscheinen können." 89 Man kann aber die Rechtstheorie und die Rechtsdogmatik als zwei Niveaus der Reflexion im Rechtssystem bezeichnen, die nicht nur durch die Abstraktionsgrade voneinander zu unterscheiden sind, sondern auch durch ihre Beziehungen zur Identität des Systems: Im ersten Fall ist deren Negierbarkeit zulässig (umfassende Reflexion), im zweiten gilt ohne weiteres das „Negationsverbot" (begrenzte Reflexion). Damit wird nicht verkannt, daß die Rechtstheorie wissenschaftliche Leistung vollbringt und sich also auch in das Wissenschaftssystem einordnen läßt; 90 wegen der Überschneidung wäre sie ferner als „strukturelle Kopplung" von Wissenschaft und Recht zu bezeichnen. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung aber wird sie mitsamt der Dogmatik als Reflexionsinstanz des Rechtssystems in Betracht gezogen.

3.2. Reflexionsprobleme des Rechtssystems in Brasilien In Brasilien gehören zu den geläufigen Themen der Rechtskritik die Grenzen und die „Entfremdung" der Versuche, eine rechtstheoretische bzw. rechtsdogmatische Beobachtung des Rechts zu entwickeln. In verschiedenen Perspektiven wird dieses Problem behandelt. Man weist geläufigerweise auf die Inadäquatheit der juristischen Ausbildung hin, die um wirklichkeitsfremder Curricula, Methoden u. s. w. willen nicht in der Lage wäre, die Juristen auf die Rechtspraxis vorzubereiten. 91 Diese Problematik geht auf die Errichtung der zwei ersten Rechtsfakultäten im Jahr 1827 (Olinda und Säo Paulo) zurück: Vorausgesetzt, daß man nach der „formalen Unabhängigkeit" (1822) und der Oktroyierung einer Verfassungscharta (1824) einen nationalen Staat im Sinne Europas gegründet hätte, wäre das Entfallen einer auf die neue Rechtsordnung gerichteten juristischen Ausbildung unvorstellbar gewesen; aber dem Import der ausländischen Rechts87 Luhmann, 1981h; vgl. auch 1987a: 360 ff.; 1986b: 19. 88 Luhmann, 1974: 15. Im Anschluß an Luhmann vgl. hierzu Ferraz Jr., 1980: 95 ff. 89 Luhmann, 1982: 59. 90 Dem entspricht die dichotomische Terminologie Rechtswissenschaft / Jurisprudenz' bei Ballweg, 1970. Außerdem wird hier nicht übersehen, daß nach dem,»herrschenden Wortgebrauch der Juristen" unter „Rechtsdogmatik" die „RechtsWissenschaft im engeren und eigentlichen Sinne zu verstehen (ist)" (Alexy, 1983: 307). 91 Vgl. in dieser Richtung San Tiago Dantas, 1955; Falcäo Neto, 1977; ders., 1984c, wo von Geschlossenheit !) der brasilianischen Rechtsfakultäten (Systeme) gegenüber ihrer sozialen Umwelt (dem „Arbeitsmarkt") gesprochen wird (vgl. insb. 41 f.). Zur Geschichte des juristischen Ausbildungssystems im Brasilien s. Venancio Filho, 1977, 1978-1979.

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muster sollte natürlich die Nachahmung von Ausbildungsmodellen folgen. 92 Unter einem umfassenden Gesichtspunkt wird das Reflexionsdefizit der Rechtstheorie bzw. juristischen Dogmatik im Rahmen einer Kritik der Rechtskultur im allgemeinen betrachtet: Man verweist u. a. auf den wirklichkeitsfremden „Formalismus" 93 , die leeren rhetorischen Formeln des sogenannten „bacharelismo" 94 und den „kulturellen Kolonialismus" im Bereich des Rechts.95 Was spezifisch das Verfassungsrecht anbelangt, war die Handhabung von Verfassungsfragen im Lichte der nordamerikanischen Verfassungslehre während der „Ersten Republik" (1889-1930) 96 den Prototyp und Höhepunkt dieser Situation der „Entfremdung". Zwischen Elitismus und Vermassung einerseits, methodologischer Inadäquatheit und rechtpraxisbezogener Schwierigkeiten andererseits unterliegt die juristische Ausbildung und Rechtskultur in Brasilien nach wie vor solcher Art Kritiken; es handelt sich spezifisch im Bereich des Rechts um Erscheinungen von allgemeinen Problemen des Ausbildungs- und Wissenschaftssystems in den peripheren Ländern, Problemen, auf die hier nicht einzugehen ist. Die Grenzen dieser Kritik liegen darin, daß der Eindruck erweckt werden kann, als ob anhand „neuer" Schulungsmethoden und Reflexionsmethodologien eine Umstellung des „Rechtswissens" auf die Rechtspraxis ermöglicht würde. 97 Zwar gewinnt das an Bedeutung, wenn es um eine „fremdbeobachtende" Haltung gegenüber dem Recht geht, wie vor allem die rechtssoziologische. Aber die Adäquatheit der soziologischen Begriffe und Methoden bezüglich der Rechtswirklichkeit sichern keineswegs die Konstruktion und Entwicklung einer adäquaten Selbstbeobachtung des Rechts durch Rechtstheorie, juristische Dogmatik oder Kasuistik, es sei denn, man spricht sich für eine soziologische Jurisprudenz aus, deren unsoziologischer Charakter auch schon für Soziologen offensichtlich ist. 98 Darüber hinaus wird das Problem 92 Zur wichtigen Rolle der europäischen Ausbildungsmodelle in den Diskussionen der politischen Eliten um die Begründung der zwei ersten brasilianischen Rechtsfakultäten nach der „nationalen Unabhängigkeit" vgl. A. W. Bastos (Hg.), 1978. 93 Vgl. ζ. B. Rosenn, 1971: 529 ff. 94 Der Begriff des „bacharelismo" („bacharel" — Bakkalaureus) bezieht sich vor allem auf „eine rhetorische Distanzierung von der Forschung, die nicht nur Juristen (bacharéis em Direito), sondern auch Ärzte, Ökonomen, Ingenieure und andere" betrifft (Chacon, 1969: 21). Gegen die generalisierende, vereinfachende Anwendung dieses Ausdrucks auf die brasilianischen Juristen vgl. mit Recht Saldanha, 1978, 1968: 52 f. Zu den unterschiedlichen Auffassungen von „bacharelismo" s. Venancio Filho, 1977: 271 ff. 95 Hierzu ζ. B. Montoro, 1973. Über die Geschichte der „juristischen Ideen" in Brasilien s. Machado Neto, 1969. 96 Das bildete eines der wichtigsten Themen der damaligen ,realistischen", autoritärkonservativen Kritik — vgl. Vianna, 1939: insb. 35 f.; Torres, 1978: insb. 74. Dazu vgl. auch Chacon, 1987: 45 f. 97 Wie ζ. B. bei der naiven Vorstellung, die Einführung des Fallstudiums nach dem angelsächsischen Vorbild (Kasuistik) an Stelle des an Lehrbüchern orientierten Unterrichts portugiesischer Herkunft würde die Anpassung der juristischen Ausbildung an die soziale Realität fördern. In dieser Richtung vgl. San Tiago Dantas, 1955: insb. 453 f.; Falcäo Neto, 1977: insb. 67 ff.

3. Reflexion und Legitimität

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noch komplizierter, wenn man mit berücksichtigt, daß unter den brasilianischen Bedingungen die Unterscheidung von Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung sehr fragwürdig wird." Ich gehe hier in Anbetracht von Luhmanns begrifflichem Schema davon aus, daß die Reflexion des Rechtssystems die Selbstreferenz seiner Elemente und Prozesse, also basale Selbstreferenz und Reflexivität voraussetzt (s. oben S. 35, 114). Rechtsdogmatik und Rechtstheorie können demnach erst sinnvoll auftreten, wenn eine Ausdifferenzierung des Rechts besteht, deren Erhaltung andererseits aber von ihnen abhängt. 100 Wird die Positivität (als Selbstbestimmtheit) des Rechts auf der Ebene der Reproduktion von Elementen und Prozessen blockiert, so entfallen die Bedingungen einer leistungsfähigen „Rechtswissenschaft" oder „Jurisprudenz". Mit anderen Worten: Legalität und Verfassungsmäßigkeit sind unentbehrlich für die Entwicklung der Rechtsdogmatik und Rechtstheorie als Reflexionsinstanz des Rechtssystems. Wie in den anderen Abschnitten dieses Kapitels schon festgestellt wurde, fehlt es in Brasilien trotz der weiter steigenden Komplexität der Gesellschaft an diesen Mitbedingungen der dogmatischen und theoretischen Selbstreflexion des Rechts, sei es wegen seiner politischen Instrumentalisierung durch Verfassungsgesetzgebung (1937,1964) oder um der Entstellung des Verfassungstextes im Konkretisierungsprozeß willen (1824,1891,1934, 1946, 1988). In diesem Kontext des Mangels an basaler und prozessualer Selbstreferenz des durch Entscheidung gesetzten Rechts läßt sich bestreiten, daß die Rechtsdogmatik in der Lage ist, nach Luhmanns Konstruktion ihre Funktion „einer Konsistenzkontrolle im Hinblick auf die Entscheidung anderer Fälle" befriedigend zu erfüllen und „im Rahmen dieser Funktion die Bedingungen des juristisch Möglichen, nämlich die Möglichkeiten juristischer Konstruktion von Rechtsfällen", mit praktischer Relevanz zu definieren. 101 Die juristische Begrifflichkeit, also die Abstraktion der Dogmatik und die „Abstraktionen von Abstraktionen" der Rechtstheorie, 102 spiegelt sich insofern nicht in der Rechtspraxis wieder, als konkrete Interessenkonstellationen eine konsistente Interdependenz von Entscheidungen verhindern. Im Gegensatz zur Situation in der zentrischen Modernität läßt sich unter den brasilianischen gesellschaftlichen Bedingungen nicht nach Luhmanns Formulierung 103 behaupten, daß die Probleme der Rechtsdogmatik primär nicht mehr in der Input-Grenze, sondern in der Output-Grenze des Rechts-

98 Luhmann, 1974: 10. 99 Zu dieser Unterscheidung im Hinblick auf die Rechtstheorie oder -dogmatik versus die Rechtssoziologie s. Luhmann, 1989b, 1986b: insb. 19, 1987a: 360 f.; Carbonnier, 1978: 22 f. 100 Luhmann, 1974: 22 u. 59, 1981h: 438 ff. ιοί Luhmann, 1974: 19. Im Anschluß daran s. Ferraz Jr., 1980: 99 ff. 102 Luhmann, 1974: 13. 103 Luhmann, 1974: 29 f.

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systems liegen; 104 hingegen kommt es noch immer „in erster Linie darauf an, den unmittelbaren Druck gesellschaftlicher Kräfteverteilungen auf das Rechtssystem über partikulare Verflechtungen an der Input-Grenze abzuschwächen — mit anderen Worten: das Rechtssystem an dieser Grenze auszudifferenzieren." 105 Obwohl die traditionalen Variablen ihre Relevanz verloren haben, dauert in Brasilien das Problem fort, eine „universalistische Entscheidungspraxis" gegen partikularistische Faktoren und Kriterien durchzusetzen. 106 Hier wird nicht verkannt, daß angesichts der raschen Komplexitätssteigerung der Gesellschaft eine Orientierung an Folgen auch dort zu fordern ist; 1 0 7 aber Folgenorientierung setzt interne Konsistenz voraus, „gesellschaftsadäquate Rechtsbegriffe " 1 0 8 hängen von juristisch adäquater Begrifflichkeit ab. 109 Im Fall Brasilien liegt die Schwierigkeit 104 A. W. Bastos (1987) greift auf die im Rahmen der funktionalistischen Systemtheorie der sechziger Jahre in den USA herrschende Konzeption der Input / Output-Beziehungen (22 ff.) zurück, um die Geschlossenheit der Justizgewalt (System) gegenüber der Gesellschaft (Umwelt) zu kritisieren (insb. 31). Hingegen wird hier durch den Rückgriff auf Luhmanns systemtheoretische Auffassung des Input / Output-Schemas (vgl. 1987 b: 275 ff.) das Problem des Rechtssystems in Brasilien primär auf den Mangel an normativer Geschlossenheit zurückgeführt als auf das Fehlen an kognitiver Offenheit. 105 So Luhmann (1974: 29) im Hinblick auf das „ältere" Grundproblem der Rechtsreflexion, das wegen einer sich „seit etwa hundert Jahren" vollziehenden „Rebellion" für Output-Orientierung in den Hintergrund getreten sei. Das kann aber nur für die konsolidierten Rechtsstaaten Europas und Nordamerikas gelten. 106 Vgl. hierzu Luhmann, 1974: 29, 1990 a: 5. Hinzu fügt er: „Sicherlich kann das Rechtssystem nicht bruchlos an gesellschaftliche Interessen oder an Trennlinien sozialer Zugehörigkeiten anschließen. Die Punkt-für-Punkt-Übernahme solcher Gegebenheiten würde nichts anderes heißen, als daß gar kein ausdifferenziertes System besteht" (Luhmann, 1990a: 3). 107 In bezug auf die Frage nach dem Verwenden von Folgen als Kriterien durch die Rechtsdogmatik ( 1974:31 ff.) warnt Luhmann vor der Gefahr, daß durch „das Auftauchen von folgenorientierten Scheinkriterien außenjuristischer Provenienz" bzw. die direkte Orientierung „an den Folgenerwartungen" das Rechtssystem entdifferenziert wird (Luhmann, 1974: 48). Darauf aber läuft sehr oft die Frage der Folgenorientierung in Brasilien hinaus, so daß diese mit konkreter, partikularer Orientierung verwechselt wird; daß das für die vielen Situationen, in denen die Betroffenen unter Notbedürfnis leiden, verständlich und sogar empfehlenswert ist, bedeutet aber auf keinen Fall, daß dadurch das Rechtssystem gesellschaftlich adäquat wird und daß die entsprechenden sozialen Probleme gelöst werden, denn es gibt im Rahmen der vorhandenen Gesellschaftsstruktur keine Möglichkeit der Generalisierung der jeweiligen partikularen Kriterien. ios Hierzu Luhmann, 1974: 49 ff. Durch die Verwendung dieses Ausdrucks wird aber nicht geleugnet, daß eine „vollständige und konkrete Konsonanz" des „juristischen Modells" mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Reale, 1968: 177) genau die Entdifferenzierung des Rechtssystems bedeuten würde und daß als Folge der „Selbstkonstitution der Komponenten des Rechts" es „durchaus nicht immer adäquat die gesellschaftlichen Bedürfnisse und Werte reflektiert" (Teubner 1989: 53, im Anschluß an Watson — s. oben Anm. 102 des Kap. III.). 109 Mit Luhmann (1990 a: 10) könnte man dazu behaupten, daß „die ständige Hinterfragung der Begriffe und begrifflichen Konstruktionen auf die Interessen hin, die durch sie betroffen sind" (Fremdreferenz), „die ständige Verbegrifflichung der Interessenpflege auf der Suche nach Gemeinsamkeiten und Vergleichbarkeiten" (Selbstreferenz) voraussetzt.

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genau darin, daß mit zunehmender Komplexität der Gesellschaft eine Orientierung an Folgen (Output-Orientierung) immer noch an Bedeutung gewinnt, ohne daß die Probleme der Input-Grenze überwunden oder unter Kontrolle gebracht worden sind. Das bedeutet, daß trotz der Fortdauer des Selektionsdefizits Stabilisierungszwang entsteht.110 Diese Problematik wird besonders spannungsanfällig, wenn das Verfassungsrecht mit in Betracht gezogen wird. Es sind vor allem diejenigen Rechtsfälle zu bezeichnen, für die wegen der Exklusion breiter Bevölkerungsgruppen aus den Leistungssystemen die Rechtsdogmatik bzw. Verfassungsrechtstheorie nicht in der Lage sein kann, eine konsistente Begrifflichkeit zu konstruieren, die in der Entscheidungspraxis dem Einklang von Verfassungsrecht mit dem übrigen Recht dienen könnte. Hier stößt man auf das folgende Problem: „Eine Dogmatik wäre überfordert, müßte sie die Möglichkeit ins Auge fassen, daß die Mehrung des Rechts immer auch Unrecht mehrt, und daß die Durchsetzung des Rechts nur als Unrecht möglich ist." 1 1 1 Ein typisches Beispiel dafür bietet die schon betrachtete (Kap. V. 2.1.4.) Frage der Besetzung von städtischen Grundstücken, um Favelas (Slumsiedlungen) zu errichten. Die strikte Lösung nach der Verfassungsgarantie des Eigentumsrechts und den Vorschriften des Zivilgesetzbuchs und der Zivilprozeßordnung, also schlicht die Vertreibung der Bewohner, impliziert die Beiseitesetzung der im Verfassungstext verankerten Sozialrechte auf die Befriedigung der lebenswichtigen Bedürfnisse (vgl. Kap. V. 1.3.), hier das Recht auf Wohnung, durch die Entscheidungen offizieller Organe, in diesem Fall der Gerichte; eine hypothetische Lösung in der Gegenrichtung würde nicht nur das Zivilgesetzbuch und die Zivilprozeßordnung verletzen, sondern auch die verfassungsrechtliche Institutsgarantie des Eigentums in Frage stellen. 112 Das Vorherrschen der ersten Alternative steht in Konsonanz mit der Aufrechterhaltung der Herrschaftsstrukturen von Über- und Subintegration in die Funktionssysteme; die Durchsetzung der zweiten Alternative würde einen wirklichen Gesellschaftsumbruch implizieren. 113 Da aber eine strikte Anwendung der offiziellen Lösung zur Generalisierung von Konflikten führen würde, entstehen Formen der Umgehung im Prozeß der Rechtsanwendung /-durchsetzung (s. oben S. 166 f.). Bei solcher Art Paradoxien der Produktion des Unrechts durch die Durchsetzung des Rechts greift man, um eine vermeintliche Konsistenz der dogmatischen HO Während nach Luhmann (1981c: 30 f.) das heutige Problem der „rechtswissenschaftlichen Dogmatik" in der Stabilisierung einer „rechtspolitischen Begrifflichkeit" besteht (s. auch oben Kap. I. 3.6.), liegt „ihr rechtspolitischer Wert" laut Esser (1972: 91) in der „Steigerung der juristischen Selektionsleistung." m Luhmann, 1974: 57. ι12 Hier verstärkt sich die These, daß unter diesen Bedingungen strukturelle Kopplung von Rechts- und Wirtschaftssystem durch Eigentum entfällt (vgl. Anm. 92 des Kap. V.). 113 Ohne das genau in Betracht zu ziehen, verweist Faria (1987: 27 f.) auf die Schwierigkeiten, in einem Land der „Dritten Welt" wie Brasilien eine Lösung bzw. einen Ausweg für diese Problematik zu finden. 14 Neves

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Konstruktion zu rechtfertigen, auf die Vorstellung der „programmatischen Verfassungsnormen" zurück, als ob Programmierung nicht von der Möglichkeit ihrer Verwirklichung in dem entsprechenden Kontext abhinge (vgl. oben S. 158 f.). Wenn es aber um dogmatische bzw. rechtstheoretische Konstruktionen in Richtung auf eine offizielle Entscheidungspraxis geht, welche die Beibehaltung einer verallgemeinerten Situation von Exklusion bestätigt und fördert, so äußert sich offensichtlich der Widerspruch gegen die „programmatischen Verfassungsnormen", insoweit „die Gesetzgebung, die Vollziehung und sogar die Justiz diesen Regeln unterlegen bleiben." 114 Dafür ist das zitierte Beispiel ausdrucksvoll: Die Durchsetzung des Rechts der Eigentümer durch die Justiz erfordert die Bestätigung der „sozialen Exklusion" der Bewohner in den konkreten Entscheidungen der Rechtsfälle, ein Unrecht im Lichte der Verfassung. 115 Auch im schon erwähnten Fall der niedrige Mindestlöhne festsetzenden Arbeitsgesetze (s. oben S. 159) impliziert die auf deren Durchsetzung gerichtete Entscheidungspraxis die Bestätigung der gesellschaftlichen Subintegration des größten Teils der Arbeiter und ihrer Familien, sie tritt also im Widerspruch zu Verfassungsbestimmungen für einen gesetzlich festzulegenden „sozialen" Mindestlohn: Durchsetzung des Gesetzesrechts als Verfassungs Unrechts unter Druck des Wirtschaftssystems. In Anbetracht dessen, daß die rechtsdogmatische bzw. rechtstheoretische Begrifflichkeit im weiten Umfang keine kohärente Resonanz in der Rechtspraxis findet, also weder in „Konsistenzkontrolle" der Entscheidungspraxis noch in eine sinnvolle Definition der „Bedingungen des juristisch Möglichen" übertragen werden kann, und daß dieses Reflexionsdefizit in erster Linie auf das Problem der Nicht-Durchsetzung der Input-Grenze zurückzuführen ist, lassen sich die Phänomene des „bacharelismo", „Formalismus" und „kulturellen Kolonialismus" im Bereich des Rechts besser verstehen. Die leere Rhetorik des „bacharelismo" könnte vielleicht als eine Ablenkung von der dogmatisch bzw. rechtstheoretisch nicht konsistent zu definierenden Rechtspraxis interpretiert werden; andererseits ließe sich der radikale „Formalismus" als eine Art der „Selbstbefriedigung" in Reaktion auf die ablehnende Rechtswirklichkeit bezeichnen; im „kulturellen Kolonialismus" könnte man Symptome einer symbolischen Flucht zu jenen Situationen, in denen das gedankliche Muster praktische Relevanz hat, ablesen. Außerdem erlaubt die Einsicht, daß trotz der Nicht-Überwindung oder Nicht-Kontrolle des Problems der Input-Grenze Anforderungen nach Orientierungen an Folgen auftreten, ein besseres Verständnis für die Anziehungskraft des Rechtssoziologismus bei „engagierten" Juristen; damit hängt zusammen, daß unter diesen Umständen die Unterscheidung von Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung an Bedeutung verliert (s. oben S. 206 f.). 114 So Miranda, 1960 I: 111 bzw. 1970 I: 127 (im Anschluß daran vgl. J. A. Silva, 1982: 141), ohne damit aber die hier daraus gezogenen Konsequenzen aufzunehmen. u 5 Damit hängt zusammen, daß die Nichteigentümer als Nichteigentümer das Eigentum nicht anerkennen (vgl. oben S. 167 f.).

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Die Lösung oder sogar die Reduktion des Reflexionsdefizits kann aber nicht einfach den Veränderungen der juristischen Ausbildungs- und Reflexionsmethoden zugeschrieben werden. Das Problem ist umfassend und sehr gravierend: Mangels elementarer und prozessualer Selbstreferenz, d. h. hier Legalität und Verfassungsmäßigkeit, erlaubt die Rechtspraxis keine leistungsfähig beobachtende Rechtsbegrifflichkeit, also keine adäquate Reflexion des Rechts; das Reflexionsdefizit fungiert seinerseits als negativer Faktor für die Entwicklung der elementaren und prozessualen Selbstreferenz im Rechtssystem.

3.3. Legitimationsbegriff Die Reflexionsinsuffizienz des Rechtssystems läßt sich mit dem Problem seiner Legitimation in Zusammenhang bringen; aber hier nicht einfach in dem Sinne, daß Rechtstheorien eine legitimierende Rolle für das Rechtssystem spielen, 116 sondern insofern, als mangels relevanter „Konsistenzkontrolle" für die Entscheidungspraxis und leistungsfähiger Definition der „Bedingungen des juristisch Möglichen" durch die Dogmatik bzw. Rechtstheorie die normativen Erwartungen sich nicht an dem durch die staatlichen Organe gesetzten und angewandten Recht orientieren und damit zusammenhängend die Rechtshandelnden nicht durch den Rückgriff auf systemeigene Normierungen und Argumentationen ihr Verhalten rechtfertigen können. Es handelt sich dabei weder um den Weberschen Begriff der modernen, rationalen Legitimität als „Legalitätsglaube" 117 noch um Legitimität als faktische Anerkennung verbindlicher Entscheidung (faktischen Konsens) 118 oder als Internalisie116 In diesem Sinne behauptet Eder (1986: 20): „Rechtstheorien erklären nicht, sie legitimieren ein Rechtssystem. Entscheidend ist ihre legitimatorische Funktion und nicht ihre Wahrheit." 117 Weber, 1985: insb. 19 f., 124, 822; vgl. auch ders., 1968a: 215 ff. Dazu kritisch Habermas, 1973: 133 ff., 1982a I: 354 ff. Abweichend von der herrschenden Interpretation sieht Winckelmann (1952: 72 f., 75 f.) in Webers Legitimationsbegriff eine „wertrationale" Grundlage. Andererseits bringt Schluchter (1979: 155 ff.) durch die Vorstellung der „Rechtsgrundsätze" die Legitimität des Rechts in Zusammenhang mit der „Verantwortungsethik". Gegen diese beiden wertbezogenen Interpretationen vgl. zu Recht jeweils Habermas, 1973: 136-38, 1982a I: 361 Anm. 197. Aber auch die gegenteilige Behauptung von Luhmann (1965: 140 Anm. 12), daß Weber „das Bezugsproblem der Legitimität allein in der Effektivität der Herrschaft erblickte", ist m. E. nicht begründbar. Er selbst betont an anderer Stelle, daß die Legitimität nach Weber „einfach die Folge des faktischen Glaubens an das Prinzip der Legitimierung sei" (144). Die Effektivität sei demnach nur ein Anzeichen der Legitimität. ι is Zu dieser herrschenden Auffassung, die von der Weberschen unterschieden werden muß, besonders weil sie sich nicht nur auf den Glauben an die legale Herrschaftsausübung bezieht, sondern vielmehr auch den Glauben an den Rechtstitel bzw. die Rechtsgrundsätze der Macht in Betracht zieht, vgl. ζ. B. Friedrich, 1960; Heller, 1934: 175 ff., 191, 221. In diesem Zusammenhang s. zur Unterscheidung von „Legitimität" als Qualität des Machttitels und „Legalität" als Qualität der Machtausübung Bobbio, 1967: insb. 48 f. Dementsprechend wird die Legitimität im „demokratischen Rechtsstaat" auf die Legalität

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rung von Institutionen 119 . Es kommt auch nicht darauf an, eine Auseinandersetzung mit wertbezogenen Konzeptionen der Legitimität mit universalistischem Anspruch, wie dem Habermasschen Modell der Begründung des Rechtsverfahrens durch eine prozeduralisierte Moral, 1 2 0 zu führen, was den Rahmen der hier vorgelegten Untersuchung sprengen würde. Ich beschränke mich auf eine Konfrontation mit dem systemtheoretischen Legitimationskonzept Luhmanns. Aber da es in Anbetracht früherer Formulierungen (Gesetzheit —> Legitimität) 121 als „dezisionistisch" bezeichnet wurde, 122 möchte ich an dieser Stelle eine solche Auffassung ausschließen. Falls Positivität nur Gesetztheit und Änderbarkeit des Rechts (Kap. I. 3. 3.) wäre, so würde sie zwar die Politisierung des Rechtssystems und einen „dezisionistischen" Legitimationsbegriff implizieren. 123 Jedoch kommt die Selbstbestimmtheit des Rechts (Kap. I. 4.) hinzu, also dessen Autonomie gegenüber dem politischen System, das nur durch rechtseigene Kriterien auf das positive Recht einwirken kann; es geht hierbei nicht um „Depolitisierung" der Legitimationsgrundlage des Rechtssystems, denn über die kognitive Offenheit in bezug auf die politische Umwelt hinaus hängt dessen Positivität von der politischen Unterstützung ab, genauer einer demokratischen Unterstützung (s. Kap. I. 3. 5.). Außerdem ist der Legitimationsbegriff bei Luhmann zu voraussetzungsvoll, um in einer dezisionistischen Formel ausgeschöpft werden zu können. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung läßt sich die Luhmannsche Konzeption der Legitimität im Hinblick auf fünf miteinander zusammenhängende Leitsätze klarstellen: (1) der Handelnde muß von seiner individuellen Selbstdarstellung entlastet werden; 124 (2) „die staatliche Festlegung von Entscheidungspräzurückgeführt, insofern die „Gesetze" als „Ausdruck des demokratisch gebildeten Volkswillens" (Preuß, 1984: 28) konzipiert werden. Kritisch gegenüber „partizipatorischen" Legitimationstheorien s. Luhmann, 1987d. n9 Hierzu vgl. kritisch gegenüber Parsons Luhmann, 1983 a: 119. 120 Hierzu Habermas, 1987 a. Zu seiner früheren Formulierung eines „wahrheitsbezogenen" Legitimationsbegriffs s. ders., 1973: insb. 140 ff. 121 „Die Positivierung des Rechts bedeutet, daß für beliebige Inhalte legitime Rechtsgeltung gewonnen werden kann, und zwar durch eine Entscheidung, die das Recht in Geltung setzt und ihm seine Geltung auch wieder nehmen kann" (Luhmann, 1984c: 180 — Hervorhebung von mir). 122 So Habermas, 1973: 135 f. u. 138 f. bzw. 1971: 242 ff., mit Betonung auf den Anschluß von Luhmann an Weber und Schmitt, und die drei in dieselbe Schule einordnend: Legitimation durch Verfahren (auch 1982 a I: 358). Aber kritisch gegenüber Weber behauptete Schmitt (1980: 14): „Hier wird beides, Legitimität und Legalität, auf einen gemeinsamen Begriff der Legitimität zurückgeführt, während die Legalität gerade einen Gegensatz zur Legitimität bedeutet." Zur dezisionistischen Konzeption der Legitimität bei Schmitt vgl. außer diesem Aufsatz ders., 1970: 87 ff. 123 Auf keinen Fall also dessen Depolitisierung; so aber Bonavides, 1988: 21 ff., merkwürdigerweise im Anschluß an Habermas' Kritik (25 f.), die aber genau auf der Entmoralisierung und damit zusammenhängend der Politisierung des Legitimationsbegriffs (seiner Orientierung an reinen Herrschaftsverhältnissen) bei Luhmann besteht. Hierzu vgl. die Hinweise der letzten Anm. 124 Luhmann, 1965: 145, 1983a: insb. 34 u. 121.

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missen darf im sozialen Verkehr nicht zu Verständigungs- und Verhaltensschwierigkeiten führen, sie muß als Argument (daß man nicht anders handeln konnte) überall Geltung besitzen und als Handlungsrechtfertigung wie eine Münze weitergegeben werden können"; 125 (3) die Legitimation bedeutet „eine Umstrukturierung von Erwartungen"; 126 (4) all dem entsprechend ist dann Legitimität als „unterstellter Konsens" (Institutionalisierung) über die Verbindlichkeit von Normen bzw. Entscheidungen zu definieren; 127 (5) die Legitimierung setzt Selbstreferenz (Autonomie bzw. Ausdifferenzierung) voraus 128 und damit zusammenhängend Inklusion der Gesamtbevölkerung im entsprechenden Funktionssystem (s. oben Anm. 19 dieses Kap.). Für die Legitimation des Rechtssystems muß dann als Regelmäßigkeit gelten, daß in Anlehnung an rechtssystemeigene Komponenten, seien es Normen, Verfahren, Akte oder Dogmatik, jedermann ohne weiteres seine Rechtshandlungen rechtfertigen und von den anderen Anerkennung oder Erwartungsumstrukturierung erwarten kann, und daß sich im Fall von positivrechtlich regulierten Konflikten die Argumentationen der Betroffenen an diesen Komponenten orientieren.

3.4. Legitimationsproblem in Brasilien Im Verlauf dieses zweiten Teils der vorliegenden Untersuchung wird deutlich, daß die Rechtserfahrung Brasiliens sehr stark von dem oben angeführten Muster abweicht. Das durch Entscheidung der staatlichen Organe gesetzte Recht ist nicht genügend funktionsfähig, um sich selbst Legitimation zu verschaffen (Autolegitimation). Dies nimmt eine besondere Bedeutung an, wenn man die Verfassungsproblematik mit berücksichtigt. Je nach dem Bezugspunkt sind dann zwei Situationen zu unterscheiden: (1) In erster Linie wird geläufig auf die Perioden des Autoritarismus bzw. Verfassungsinstrumentalismus hingewiesen (1937, 1964), in denen durch das einseitige politische Instrumentalisieren der Rechtsordnung direkt auf der Ebene der Verfassungstextsetzung das Rechtfertigen der Rechtshandlungen durch Rückgriff auf systemeigene Kriterien verhindert wird. Als Ersatz dafür entstehen Mechanismen der Heterolegitimation, wie die Ideologie der Nationalen Sicherheit und die wirtschaftliche Effizienz; 129 jedoch auch diese Art ausgleichender Legiti125 Luhmann, 1965: 145. 126 Luhmann, 1983a: insb. 33 ff., 119, 171, 199, 252. 127 Luhmann, 1983a: insb. 122, 1987a: 261, 1981b: 133. Zur juristischen Kritik der Konsensproblematik bei Luhmanns Legitimationsbegriff s. Esser, 1972: 205 ff. 128 Luhmann, 1983a: 59 ff., 1965: insb. 140. 129 Für den Autoritarismus von 1964-1974 sprach Lafer (1978: 74, 102, 115 ff.) von „negativer Legitimität" (nationaler Sicherheit: „Negation des Chaos, des Kommunismus und der Korruption" — 74) und „positiver Legitimität" (wirtschaftlicher Entwicklung); vgl. auch Seabra Fagundes, 1982: 14. Aber noch im Hinblick auf diese autoritäre

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mationsmittel sind in dem Maße zum Scheitern verurteilt, wie unter Druck der konkreten Bedürfnisse „von unten" und partikularistischen Interessen „von oben" die ideologische Konsistenz des Staates bzw. Regimes beeinträchtigt wird und wie beschränkt und instabil die wirtschaftliche Effizienz eines peripheren Kapitalismus ist und Exklusion fördert. (2) Aber auch außerhalb der diktatorialen Perioden entfiel immer und entfällt weiterhin in Brasilien die Legitimation des Rechtssystems im Sinne der umfassenden und regelmäßigen Rechtfertigung der Systemkomponenten (Akte, Normen, Verfahren und dogmatische Argumente) mittels Systemkomponenten. Die nominalistischen Verfassungen von 1824, 1891, 1934, 1946 und 1988 wurden bzw. wird im Konkretisierungsprozeß stark verzerrt: Grundrechte und wohlfahrtsstaatliche Verfassungseinrichtungen (Kap. V. 1.), Legalitätsprinzip (Kap. VI. 1.) und Verfassungsmäßigkeitskontrolle (Kap. VI. 2.) wurden niemals institutionalisiert mit ihren „universalistischen" bzw. einschließenden Konsequenzen; der Gleichheitssatz hat keine Bedeutung, zumal die lebenswichtigen Bedürfnisse der „Unterbürger" nicht befriedigt werden; 130 die konfliktlösende Leistung des Rechts (Kap. V. 2.1.) wird nicht nur durch den beschränkten Zugang zur Justiz beeinträchtigt, sondern auch durch die Unmöglichkeit, zahlreiche Rechtsfälle wirksam zu entscheiden; das politische Spiel läuft über bzw. neben der Verfassung, es fehlt also an „Interpénétration" von Recht und Politik (Kap. V. 2.2.); nach wie vor stellt das spezifisch zur Durchsetzung des Rechts zuständige Staatsorgan, die Polizei, das „Vorbild" rechtswidrigen Verhaltens dar (s. oben S. 153 f.). In diesem Zusammenhang führt die Berufung auf das durch offizielle Entscheidungen gesetzte und angewandte Rechtssystem nicht selten zur Generalisierung bzw. Politisierung von Rechtskonflikten. Es ist üblich, daß die Handelnden auf Selbstdarstellung nicht verzichten können und sogar mit großen persönlichen Risiken rechnen müssen, um ihre nach dem gesetzten Recht unbestreitbaren subjektiven Rechte, Pflichten und Kompetenzen wahrzunehmen, zu erfüllen bzw. auszufüllen. Zwar entwickelt das politische System zum Ausgleich des Mangels an rechtlicher Legitimation partikularistische Kontaktsyteme mit Tauschcharakter; 131 aber mit der raschen Komplexitätssteigerung der brasilianischen Gesellschaft werden sie immer unbefriedigender für die Stabilisierung des Machtspiels bzw. Herrschaftsverhältnisses (ein Symptom dafür ist die skandalöse Zunahme der Kriminalität in jüngster Zeit 1 3 2 ). Erfahrung behauptete Lafer (1978: 127) die Selbstreferenz („auto-referibilidade") der Legitimität des politischen Systems, wobei es genau um die mangelhafte Selbstreferenz der Funktionssysteme für Politik und Recht ging, an Legalität im systemtheoretischen Sinn Luhmanns fehlte: für das Rechtssystem wegen seiner politischen Instrumentalisierung; für die Politik, insofern deren Zweitcodierung durch Recht entfiel und damit ihre Autonomie blockiert wurde. 130 Vgl. Luhmann, 1983 a: 198. 131 Im Hinblick auf die „Entwicklungsländer" bzw. den „peripheren Kapitalismus" im allgemeinen vgl. jeweils Luhmann, 1965: 155 f., 160 f.; Elsenhans, 1977: insb. 39.

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Nach all dem läßt sich nicht von „wiedererlangter Legitimität" 133 im Hinblick auf die Verkündung der nominalistischen Verfassung von 1988 durch einen verfassunggebenden Kongreß sprechen, geschweige denn deren Legitimation auf die Erwartung einer zukünftigen Verwirklichung zurückführen, 134 zumal keine ernst zu nehmende Aussicht darauf besteht. Legitimation des Rechts wäre nur möglich durch die Durchsetzung des gesellschaftlichen Prinzips der Inklusion an der Stelle des noch heute in Brasilien herrschenden Exklusionsprinzips, so daß das Verfassungsrecht im alltäglichen Handeln und Erleben der Gesamtbevölkerung einen wichtigen Platz fände und die Orientierung der normativen Erwartungen an dem positiven Recht zur Routine des Rechtslebens würde.

132 Nach einem Bericht des Magazins Veja (Säo Paulo, 27.6.1990, S. 66) geschehen jährlich mehr Morde (über 13.000) im Gebiet von Rio de Janeiro/Säo Paulo, der entwickeltsten Region Brasiliens, als durchschnittlich Menschen im Bürgerkrieg im Libanon (nach einer Schätzung 100.000 in 15 Jahren) umkamen. 133 Um hier einen Ausdruck von Faoro (1981) zu verwenden, der in anderer Perspektive die Legitimität als den faktischen Glauben an die Wertgrundlage der Macht begreift (43 ff.; vgl. oben Anm. 118 dieses Kap.). Bei Faria (1985) heißt es ähnlich „Wiederherstellung der Legitimität"; im Anschluß an Habermas (1973) und im Rahmen einer eklektischen Auffassung der Legitimität weist er später (1989: 23 ff.) auf das Problem „Regierbarkeit X Legitimität" als Dilemma der neuen brasilianischen Verfassung hin, als ob die auf den Wohlfahrtsstaat gerichtete Habermassche Unterscheidung von Rationalitätskrise und Legitimationskrise (vgl. 1973: insb. 68-70, 87 ff.) ohne weiteres auf die peripheren Länder übertragbar wäre. 134 Demnach will Ferraz Jr. (1989: 57 f.) die Frage der Legitimation der Verfassung von 1988 auf die „Erwartung einer Konkretisierung" bzw. die „Forderung zukünftiger Verwirklichung", auf „das Versprechen einer sozialgerechten Gesellschaft, die Hoffnung ihrer Verwirklichung" beschränken, als ob Legitimität ohne Effektivität möglich wäre.

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Namenregister AI 153 f. Alencar, Α. V. Α. N. 112, 198 Alexy, R. 40, 105, 112, 205 Almeida, P. R. d. 133, 173 Almino, J. 133 f. Althusser, L. 70 Alvarez-Correra, E. 92 Amado, G. 120 f. Amarai, Α. 129, 145 Amarai Vieira, R. Α. 117 Americas Watch Committee 153 Amin, S. 74, 78 Andrade, P.d. 118, 126 ff., 131 ff., 137 f., 140 f., 196 f. ARENA 136 Aristoteles 45 Armitage, J. 117 Arnold, T. W. 61 Assis, M. d. 272 Assis Brasil, J. F. 127, 172 Atlan, H. 43, 80 f., 94 Aubert, W. 65, 164 Austin, J. L., 105 Bachof, O. 194 Balandier, G. 92 Ballweg, O. 205 Bandeira de Mello, O. A. 198, 200 Barbi, C. A. 141, 198 Barbosa, R. 123, 125, 163, 198 Barbosa Moreira, J. C. 169 Barelli, W. 142 Barreto, T. 118, 120 Barreto, W. d. P. 165 Barros, R. T. d. 153 Bastos, A. W. 206, 208 Bastos, T. 196 Batista, F. 66 Benda-Beckmann, F. V. 92 Bendix, R. 113, 152, 156, 158 Benevides, M. V. 153

Bertalanffy, L. V. 36, 77 Bicudo, H. P. 152, 154 Biscaretti di Ruffìa, P. 195 Bittencourt, C. A. L. 196, 200 Blanke, T. 43 Blankenburg, E. 85 ff., 99, 101, 162 Blüm, N. S. 11 f. Bobbio, N. 17, 19, 21, 102, 147 f., 162, 174, 211 Böckenförde, E.-W. 44, 49 f., 119 Bodin, J. 18 Bonavides, P. 98, 118, 126 ff., 131 ff., 137 f., 140 f., 196 f., 212 Borges, J. S. M. 158 Brandäo Cavalcanti, T. 122 Brühl, D. 172, 174 Bryde, B.-O. 61 f., 64 ff., 105, 107, 109 Buarque de Holanda 118 f., 122, 124 f., 164, 177 Bühl, W. L. 34 Bulygin, E. 85 Burdeau, G. 56, 62, 67 f., 70, 134, 194 f. Caldeira, T. P. d. R. 175 Calmon de Passos, J. J. 141 f., 158 Calógeras, J. P. 122, 171 Campanha Nacional pela Reforma Agrària 154 Campanhole, Α. 112 Campanhole, H. L. 112 Campos, F. 129 Campos Sales, M. F. d. 125 Capeila, J. R. 59, 86 Cappelletti, M. 161 f., 195 Carbonnier, J. 87, 102, 207 Cardoso, F. H. 72, 74, 78 f., 91, 125 Carnap, R. 59 f. Canelutti, F. 188 Carone, E. 122 f., 125, 127 ff., 132, 135, 198 Carré de Malberg, R. 47

Namenregister

Carrió, G. R. 59 f. Carvalhosa, M. 142 Castro Gomes, A. M. d. 127 Celso, A. 180 Chacon, V. 119, 123, 127, 129, 132, 145, 180, 206 Cheresky, I. 188 Comte, A. 21, 122 Constant, B. 118 Copi, I. M. 17 Cossio, C. 23, 84 Costa e Silva, A. d. 139 Couto e Silva, G. d. 145 Cretella Junior, J. 142 Dallari, D. d. A. 138 Dillon Soares, G. A. 133, 173 Dreier, H. 19 Dreier, R. 40 Dreifuss, R. A. 136 Duarte, N. 177 Duarte Pereira, O. 132 ff. Duguit, L. 18, 194 Durkheim, E. 12, 76 Duverger, M. 48, 119 ECLA 74 Edelman, M. 59, 61, 63 f., 67 Eder, K. 14, 25, 211 Ehrlich, E. 59 Elsenhans, H. 79, 90, 95, 178 f., 214 Engels, F. 46 Esser, J. 209, 213 Evers, H. D. 74, 78, 102 Evers, T. T. 73, 78 Falcäo Neto, J. d. A. 166 ff., 185, 205 f. Faletto, E. 72, 91 Faoro, R. 118, 121 f., 125, 170 ff., 177 f., 180, 196 f., 215 Faria, J. E. 145, 209, 215 Fausto, B. 126 f. Ferraz Jr., T. 141,160,165,168,191,203, 205, 207, 215 Ferreira, P. 47 Ferreira Filho, M. G. 119, 138 Figueiredo, P. d. 130 Fleischer, D. 173 f.

249

Fleury Teixeira, S. M. 143 Fonseca, D. d 198 Franco Sobrinho, M. d. O. 138, 145 Frank, A. G. 73 f., 78 Freire, F. d. O. 122, 197 Freyre, G. 177 Friedmann, L. M. 85 Friedrich, C. J. 211 Fuchs, W. 82 Furtado, C. 79, 116, 122 f., 126, 140 GAJOP 153 Galanter, M. 93 Galtung, J. 74, 91 Garrn, H. 83 f., 86 f. Garth, Β. 161 f. Gay, R. 175 Geiger, T. 24, 28, 84, 86 f. Gessner, V. 93 f., 99, 103 Glasyrin, V. W. 86, 88 Godzik, W. 73 Góes e Vasconcelos, Ζ. d. 118 Gordon, L. 136 Goulart, J. 135 Grimm, D. 45, 61 f., 66, 92, 98 f., 105 f., 109, 116, 134 Grimmer, Κ. 53, 98 Grinover, A. P. 169 Gurvitch. G. 25 Gusfield, J. R. 61, 73 Häberle, P. 57 ff., 104, 137 Habermas, J. 13 ff., 17, 27, 30 ff., 34, 40 ff., 53, 63, 96, 99, 102, 105, 119, 123, 127, 168, 211 f., 215 Hart, H. L. A. 25, 87, 182 Hegenbarth, R. 61 Heidelberg, W. 92 Hejl, P. M. 184 Heller, H. 46 ff., 211 Henckel, J. 112 Henriques de Souza, B. F. 157 Hesse, K. 50, 57, 104 Hinz, M. O. 92 Hobbes, T. 18 Höffding, H. 11 Hofstadter, D. R. 52, 60, 193 Hollerbach, A. 47, 50, 53, 63

250

Namenregister

Holmes 106 f. Homem de Mello, F. I. M. 118 Hopkins, T. 74 IBGE 127, 134, 150, 159, 171 Jacoby, E. G. 11 Jaguaribe, H. 127, 140, 143, 159 Jeammaud, A. 86 Jellinek, G. 47, 49, 57 Joerges, C. 185 Jolowicz, H. 135, 139 Junqueira, Ε. B. 165 f., 190 Kalinowski, G. 59 Kant, I. 17 Kasprzik, B. 40 Kelsen, H. 18 f., 22 f., 47, 49, 59, 84, 87, 158, 182, 185 Kindermann, H. 61 ff. Kiss, G. 25, 87 Klausa, E. 162 Koch, H.-J. 59 Kondakov, Ν. I. 82 Kramer, E. A. 84 ff. Krüger, H. 53, 92, 105, 108 Lacerda, P. M. d. 118 Lacombe, A. J. 118 Ladeur, K.-H. 35, 42 f., 58, 102 f., 187, 190 f. Lafer, C. 133, 213 Laga, G. 73 Lambert, J. 78 Lamounier, B. 174 ff. Landgraf Picolo, H. I. 127 Larenz, K. 21 Lassalle, F. 46 f. Leal, Α. 118 f., 121, 123, 196 Leal, C. T. F. 118 Lefort, C. 54, 63, 155 Lenk, Κ. 63 Lenski, G. 168 Lesbaupin, I. 157 Lessa, P. 180 Lima, H. 130 f. Lobo, A. 122

Löbsack-Füllgraf, L. 138 f., 153,170,172, 187 f., 201 Loewenstein, Κ. 48, 56, 65 ff., 107, 125, 128 ff., 134, 180, 188, 195 f. Luhmann, N. 5, 9 f., 11 ff., 18 ff., 32 ff., 46,50 ff., 60 f., 63 f., 70 f., 75 ff., 85 ff., 93 ff., 103 f., 106, 110, 112 ff., 116, 136, 144 f., 147 ff., 153 ff., 160 ff., 165 ff., 175 ff., 192 f., 195, 204 f., 207 ff., 211 ff. Luz, C. B. 118 Lyotard, J.-F. 17 Machado Neto, A. L. 206 Maihofer, W. 63, 147 Mansilla, H. C. F. 73 Marinho, J. 127 Marshall, J. 194 Marshall, T. H. 133,152,155 ff., 162,165 Martens, W. 73, 78 Martins J. C. F. 145 Martins Ferreira, W. 131, 196 Martins Rodrigues, L. 140 Mârtires Coelho, I. 130, 159 Marx, K. 12, 14, 72, 154 Maturana, H. R. 34 f. Maximiliano, C. 122, 198 Mayhew, L. H. 152, 155 Mayntz, R. 62, 88 MDB 136, 201 Mecham, J. L. 69 Melo Franco, A. A. d. 116 ff., 126 ff., 131, 134, 155, 196 f. Mendes, G. F. 196, 198 ff. Mendes de Almeida, F. H. 112 Menzel, U. 72 Merton, R. K. 65 Michiles, C. 141, 145 Miranda, P. d. 158, 196, 198, 200, 210 Mirkine-Guetzévitch, Β. 128, 180 Moltmann, Β. 198 Montesquieu 179 Montoro, F. 206 Moraes, E. d. 122 Morris, Ch. W. 59 MST 154 Müller, F. 47, 57 ff., 84 f. Müller, G. 159 Münch, R. 14, 41

Namenregister

Nabuco, J. 164, 171 Nabuco de Araujo, J. T. 171 Nader, L. 162 Nahamowitz, P. 32 f., 41 Narr, W.-D. 106, 158 Neelsen, J. P. 74 NEPP-UNICAMP 143, 159 Nequete, L. 164 Nersesiants, V. 46 Neumann, F. L. 18 Neves, M. 47, 60, 158, 194 f. Nogueira Itagiba, I. 131 Nohlen, D. 78 Noll, P. 61, 64, 83, 86 f., 100 Nonet, Ph. 41 Nozick, R. 14 Nunes, C. 199 Nunes Leal, V. 133, 163 f., 170, 172 ff. Nuscheler, F. 72 f.

OAB-CF 201 Offe, C. 11, 15, 17, 64, 73, 80, 95, 106, 158, 162 Öhlinger, T. 53 Oliveira, L. 168 f. Oliveira Torres, J. C. d. 122, 170 f. Oliven, R. G. 154 Opalek, K. 17 f., 21

Pacheco, C. 125, 131, 196, 198 Parsons, T. 15 f., 96, 106, 148, 156, 212 Paul, W. 112 Peirce, Ch. 58 f. Peixoto, F. 198 Pereira, A. C. Β. F. 169 Pereira de Queiroz, M. I. 164, 172, 174 Pessoa, A. 167 Pieper, R. 179 Pilla, R. 119 Pimenta Bueno, J. A. 118, 163, 171, 196 Pinheiro, P. 153 Podgórecki, A. 101 Poulantzas, N. 46, 70 Prado Jr., C. 116 f., 120 Prebisch, R. 74 Preuß, U. K. 107, 162, 212 PSD 133 ff.

251

Quadros, J. 135 Quijano, A. 78

Rabanal, C. R. 102 Radbruch, G. 18, 20, 87, 194 Ramalho, J. E. 145 Ramos Figueiredo 125 Rangel, L. C. B. 112, 198 Reale, M. 59, 112, 145, 208 Reis, F. W. 174 Ripert, G. 188 Ritter, E.-H. 57 Rocha Cabrai, J. C. d. 127 Rocha Pombo, J. F. d. 118 Rodrigues, J. A. d. S. 165 f., 190 Rodrigues, J. C. 118, 163, 196 Rodrigues, J. H. 118 f. Rodrigues de Sousa, J. 118, 163 Ronneberger, F. 66, 71 Rosen, K. S. 206 Ross, A. 20, 59, 182 Rostow, W. W. 72 Rottleuthner, H. 158 Roure, A. d. 118, 123, 196 Rousseau, J.-J. 176 Rubinstein, D. 55 Ruivo, F. 165 Rüschemeier, D. 78 Russell, B. 193 Ryffel, H. 86

Sä Correa, M. 136 Saes, D. 122, 124 Saldanha, N. N. 111, 133 f., 206 San Tiago Dantas, F. C. d. 205 f. Santos, R. A. d. O. 153 Saussure, F. d. 60 Savigny, F. C. v. 18 f. Schelsky, H. 147 f. Schindler, D. 104 Schluchter, W. 13, 25, 211 Schmidt-Wulffen, W. D. 74 f., 78 Schmitt, C. 46 ff. Schorr, K.-E. 89, 112, 147, 156, 160, 204 Schreiber, R. 59, 87 Schütt, K.-P. 73 SeabraFagundes, M. 138 f., 163, 198, 213

252

Namenregister

Searle, J. 105 Selznick, Ph. 41 Senghaas, D. 72 ff., 78, 90 Shils, E. 74 Silva, H. 127 Silva, J. A. d. 141, 157 f., 210 Silva, J. C. 188 Simonis, G. 74 Sine, B. 73 Smend, R. 45, 49, 59 Soares de Souza, F. B. 117, 170, 197 Sola, L. 129 Somló, F. 18, 20 Sousa Santos, B. d. 102 f., 165, 190 f. Souto, C. 12, 39 Souto, S. 39 Souza Esteves, Ε. M. d. 135 Souza Martins, J. d. 170 Stammler, R. 18, 20 Stepan, A. 134 Stern, K. 49 STF 132, 159, 201 f. Stourzh, G. 45, 194 Sturm, R. 78 Sunkel, 78 Telarolli, R. 164 Teubner, G. 13, 26, 32, 34 ff., 39, 41 ff., 52, 87, 113, 148, 168, 181 ff., 190, 193, 208 Theodora Jr., H. 141 f. Thomas von Aquin 17 Timasheff, N. S. 51 Tocqueville, A. D. 195 Tönnies, F. 11 f. Topitsch, E. 63 Torres, Α. 125, 145, 173, 206 Treves, R. 65 Trubek, D. M. 93

UDN 133 Uricoechea, F. 177 Uruguai, V. d. 118 Varela, F. 34, 36, 180 Vargas, G. 129, 132, 188 Varnhagen, F. A. d. 118 Velho, G. 152, 156 Venancio Filho, A. 205 f. Vernengo, R. J. 47 Vianna, O. 121, 123, 125, 129, 145, 164, 171, 173, 175, 206 Viehweg, T. 59 Vieira, M. G. G. 153 Vieira de Melo, B. 164 Vilanova, L. 46, 84 Visser't Hooft, H. Ph. 60 Voigt, R. 30 f., 99, 102 Wallerstein, I. 74 f., 78 Walter, R. 47 Warat, L. A. 59 Watson, Α. 91 Weber, M. 13 f., 24 f., 27, 29, 46, 87, 110 f., 154, 211 f. Wedel, H. v. 108 Weffort, F. C. 74, 156 f. Wehler, H.-U. 72 f. Weltbank 150, 159 Welzel, H. 18 Werle, R. 30 f. Werneck Sodré, Ν. 122 Whitaker da Cunha, L. F. 119, 129 Wieacker, F. 17 f., 21 Willke, H. 14, 32, 41 ff. Winckelmann, J. 211 Wittgenstein, L. 60 Wöhlke, M. 73, 78 Wogau, P. v. 73, 78 Zapf, W. 14, 72