Sprachlicher Substandard II: Standard und Substandard in der Sprachgeschichte und in der Grammatik [Reprint 2017 ed.] 9783110935820, 9783484220447


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German Pages 254 [256] Year 1989

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Das “vulgare illustre” als Modell einer italienischen Kunstsprache: Standard, Substandard und Varietät in Dante Alighieris Traktat “De vulgari eloquentia” (1305)
Nicht-standardsprachliche und dialektale Erscheinungsformen der englischen Syntax unter Einbeziehung der Sprachgeschichte
Substandard und rumänische Sprachgeschichte. Ein Forschungsbericht
Klassische Sprache und Substandard in der Geschichte des Griechischen
Substandard und Sprachwandel im Türkischen
Sprachwandel und idiolektale Variation im Kanuri
Standard und Non-Standard in der spanischen Grammatikographie
Über Standard- und Nonstandardmuster generalisierende Syntaxregeln. Das Beispiel der Adverbphrasen mit deiktischen Adverbien
Substantivierungs- und Adjektivierungstendenzen von Satzteilen und Sätzen im heutigen Portugiesisch
Index der fixierten Wendungen
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Sprachlicher Substandard II: Standard und Substandard in der Sprachgeschichte und in der Grammatik [Reprint 2017 ed.]
 9783110935820, 9783484220447

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Klaus Baumgärtner

Sprachlicher Substandard II Standard und Substandard in der Sprachgeschichte und in der Grammatik Herausgegeben von Günter Holtus und Edgar Radtke

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sprachlicher Substandard / hrsg. von Günter Holtus u. Edgar Radtke. - Tübingen : Niemeyer. NE: Holtus, Günter [Hrsg.] 2. Standard und Substandard in der Sprachgeschichte und in der Grammatik. - 1989 Standard und Substandard in der Sprachgeschichte und in der Grammatik / hrsg. von Günter Holtus u. Edgar Radtke. - Tübingen : Niemeyer, 1989 (Sprachlicher Substandard ; 2) (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft ; 44) NE: Holtus, Günter [Hrsg.]; 2. GT ISBN 3-484-22044-9

ISSN 0344-6735

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Pagina GmbH, Tübingen Druck:Gulde-Druck GmbH, Tübingen Einband: F. W. Held, Rottenburg

Inhalt

Vorwort

VII

Günter Holtus Das "vulgare illustre" als Modell einer italienischen Kunstsprache: Standard, Substandard und Varietät in Dante Alighieris Traktat "De vulgari eloquentia" (1305)

1

Klaus Faiß Nicht-standardsprachliche und dialektale Erscheinungsformen der englischen Syntax unter Einbeziehung der Sprachgeschichte

14

Klaus Bochmann Substandard und rumänische Sprachgeschichte. Ein Forschungsbericht . 41 Johannes Kramer Klassische Sprache und Substandard in der Geschichte des Griechischen 55 Lars Johanson Substandard und Sprachwandel im Türkischen Norbert Cyffer Sprachwandel und idiolektale Variation im Kanuri

83

114

Hartmut Kleineidam / Wolfgang Schlör Standard und Non-Standard in der spanischen Grammatikographie . . . 131 Beate

Henn-Memmesheimer

Über Standard- und Nonstandardmuster generalisierende Syntaxregeln. Das Beispiel der Adverbphrasen mit deiktischen Adverbien 169 Heinz Kröll Substantivierungs- und Adjektivierungstendenzen von Satzteilen und Sätzen im heutigen Portugiesisch 229

VII

Vorwort

Nachdem der vorausgegangene Band »Sprachlicher Substandard« exemplarisch generelle Verfahren der Substandardbeschreibung vorgestellt hatte, soll der vorliegende Folgeband vorwiegend auf spezifische Anwendungsfragen bezogene Beiträge vorstellen. Obwohl sehr viele Sprachen auch aufgrund der Trennung in Standard und Substandard beschrieben werden, verwundert der Sachverhalt, daß sich die einzelsprachlichen Philologien im Grunde nicht oder nur sehr wenig um den Forschungsstand der Nachbardisziplinen kümmern. So will der Band zum einen substandardsprachliche Besonderheiten einiger Sprachen als informative Fallstudien vorstellen, zum anderen ist angestrebt, die rekurrenten Kriterien bei der Substandardfestsetzung von Einzelsprachen zu verdeutlichen. Bei aller einzelsprachlichen Verschiedenheit hinsichtlich der Geschichte, der Bewertung und der Grammatik von Substandardvarietäten zeigt sich doch ein recht einheitliches Beschreibungsverfahren. Der erste Teil »Substandard in der Sprachgeschichte« erläutert unterschiedliche sprachgeschichtliche Aspekte von Substandardvarietäten am Beispiel des Italienischen (G. Holtus), Englischen (K. Faiß), Rumänischen (K. Bochmann), Griechischen (J. Kramer), Türkischen (L. Johanson), und der afrikanischen Sprachen (N. Cyffer). Trotz der einzelsprachlich unterschiedlich geprägten Historizität des Verhältnisses Standard - Substandard werden dennoch generelle Konstanten sichtbar, die sich auf die Einsetzung einer normgebundenen Institution beziehen, wodurch der Substandard im Grunde erst definiert wird. Sprachgeschichtlich relevante Faktoren bei der Herausbildung der Substandardvarietäten sollten deswegen nicht nur Gegenstand der jeweiligen einzelsprachlichen Philologie sein, sondern gleichermaßen im Rahmen einer allgemeinen bzw. vergleichenden Sprachwissenschaft erörtert werden (vgl. vor allem die Beiträge von Jörn Albrecht in Band I und III sowie von Gaetano Berruto und Eduardo Blasco Ferrer in Band III). Das Empfinden für substandardsprachliche Bildungen in einer Sprachgemeinschaft rührt aus dem jeweiligen sprachhistorischen Umfeld der Einzelsprache her, und offensichtlich beruhen die sprachgeschichtlichen Voraussetzungen auf wenigen rekurrenten Verlaufsmustern. Eine wichtige Grundlage für

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Vorwort

die Voraussagbarkeit von substandardsprachlichen Entwicklungen stellt das (Nicht-)Vorhandensein einer Schriftsprache dar. Je enger das Normmodell konzipiert wird, desto größer scheint sich das Spektrum an Substandardvarietäten darzubieten. Die Ablesbarkeit der Substandardindizierung an ausgewählten grammatischen Gegebenheiten thematisieren H. Kleineidam/W. Schlör in der spanischen Grammatikographie, B. Henn-Memmesheimer anhand der deutschen sprechsprachlichen Syntax und H. Kröll für das Portugiesische. Eine eindeutige Zuweisung zum Substandard scheint in der Grammatik unter erschwerteren Bedingungen zu leisten zu sein als bei der Wortschatzmarkierung, so daß die drei Fallstudien in der Nachfolge von Wunderlichs Unsere Umgangsprache in der Eigenart ihrer Satzfügung (1894) weitere Anregungsmöglichkeiten für Materialsammlungen bzw. -analysen bieten dürften. Die aufgenommenen Fallstudien verstehen sich als Mosaikteile, die sich unter den Gesichtspunkten der Similarität und der Differenzierung in den Bereich der sprachwissenschaftlichen Erforschung des Substandards fügen. Sie sind dadurch zwar nur lose miteinander verbunden, aber die kongruenten Tendenzen legen die Notwendigkeit einer auch übereinzelsprachlich ausgerichteten Substandardforschung nahe. Entsprechende Konzepte sollen in den dritten Band Eingang finden, der einen ausführlichen Einleitungsaufsatz und einen Gesamtindex zu allen drei Bänden enthalten wird. G.H./E.R.

1 Das "vulgare illustre" als Modell einer italienischen Kunstsprache : Standard, Substandard und Varietät in Dante Alighieris Traktat "De vulgari eloquentia" (1305) G ü n t e r Holtus (Trier)

Dantes Traktat aus dem Jahre 1305 über die Kunstrede in der Volkssprache, De vulgari eloquentia, verfolgt in erster Linie rhetorisch-poetische Ziele. Daneben bietet Dante auch eine sprachtheoretisch-philosophisch orientierte Beschreibung des Ursprungs und der Entwicklung der Sprache von den Anfängen der Sprachschöpfung bis hin zu den zeitgenössischen romanischen Volkssprachen und den Varietäten des italienischen Diasystems. Neben der sprachgeographischen Gliederung Italiens werden vereinzelt auch diastratische Aspekte angesprochen; die eigentliche, für das vierte Buch des Traktats angekündigte Untersuchung der "inferiora vulgaria" bleibt jedoch infolge des fragmentarisch gebliebenen Charakters des Werkes aus. Termini der neueren Sprachwissenschaft wie Standard, Norm, Substandard oder Non-Standard sind in der in lateinischer Sprache verfaßten Schrift Dantes natürlich nicht anzutreffen. Dafür lassen sich jedoch in den vorliegenden ersten beiden Büchern linguistische Grundbegriffe nachweisen, die deutlich machen, daß Dante bei der Suche nach dem "vulgare illustre" durchaus Vorstellungen über den Begriff eines sprachlichen Standards und der vom Standard abweichenden Varietäten entwickelt hat. Aufgabe dieses Beitrags soll es sein, die Ansätze zur Herausbildung der Vorstellung eines sprachlichen Standards in Dantes Traktat herauszustellen und aus heutiger Sicht zu interpretieren. Ein besonderes Gewicht kommt dabei den Abschnitten zu, in denen Dante sich negativ über einzelne Varietäten der italienischen Sprache äußert; hier ist insbesondere zu fragen, auf Grund welcher Kriterien Dante diese Sprachbeispiele als nicht dem Standard bzw. im Kontext seines Werkes als nicht dem "vulgare illustre" gemäß kritisiert. Im Gegensatz dazu stehen jene Abschnitte, in denen Dante sich explizit zu den positiven Eigenschaften des "vulgare illustre" äußert, das er als Vorbild für die italienische Dichtersprache propagiert. An den Anfang gestellt seien einige Beobachtungen zu Dantes sprachlicher Terminologie und seinen Bemerkungen zur Variation menschlicher Sprache1. ' Zitiert wird im folgenden nach der Edition von Pier Vincenzo Mengaldo (1979, 26-237). Einen Überblick über die umfangreiche Literatur und den

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Terminologisches Dante unterscheidet in seinem Traktat "de vulgaris eloquentie doctrina" (1-1-1) grundsätzlich zwischen einer von Geburt an erworbenen Sprache, "vulgaris locutio" (1-1-2), "nostra vera prima locutio" (1-2-1), die der "alia locutio secundaria", der "gramatica" (1-1-3), vorzuziehen ist: "nobilior est vulgaris" (1-1-4). Mit dieser Klassifizierung ist keine Zuordnung im Hinblick auf einen Standard und eine davon abweichende Varietät verbunden; die Rangfolge erklärt sich lediglich durch den natürlichen, in der Entwicklungsgeschichte jedes einzelnen Menschen primären Charakters dieser Sprache und durch die allgemeinere Verbreitung dieses Sprachtyps: "tum quia prima fuit humano generi usitata; tum quia totus orbis ipsa perfruitur, licet in diversas prolationes et vocabula sit divisa; tum quia naturalis est nobis" (1-1-4), während die "gramatica" eher als sekundäres Kunstprodukt anzusehen ist: "cum illa potius artificialis existât" (1-1-4). Dabei ist es nur allzu menschlich, daß jeder Sprecher seine eigene Muttersprache, "proprium vulgare", "maternam locutionem" (1-6-2), am höchsten einschätzt. In der allgemeinen sprachlichen Entwicklungsgeschichte der Menschheit betrachtet Dante das Hebräische, "hebraicum ydioma" (1-6-7), als würdigen Fortsetzer der von Adam gesprochenen Sprache ("forma locutionis", 1-6-5), "ut Redemptor noster (...) non lingua confusionis, sed gratie frueretur" (1-6-6). Bis zum Beginn des Turmbaus von Babel bedienten sich die an diesem Werk beteiligten Menschen einer Sprache, "una eademque loquela" (1-7-6), nach der von Gott geschickten Sprachverwirrung ist die ursprüngliche, alte Sprache ("sacratum ydioma", 1-7-8) nur noch beim Volke Israel anzutreffen: "(...) populus Israel, qui antiquissima locutione sunt usi usque ad suam dispersionem" (1-7-8). Im folgenden zeichnet Dante das Bild eines "ydioma tripharium" (1-8-2) im südlichen, nördlichen und östlichen (auch Teile Asiens einschließenden) Europa, dessen eine Komponente, die sich jetzt ("nunc") ebenfalls als dreigliedrig erweist ("Totum vero quod in Europa restât ab istis, tertium tenuit ydioma, licet nunc tripharium videatur", 1-8-5), er dann genauer betrachtet: "nam alii oc, alii oïl, alii sì affirmando locuntur, ut puta Yspani, Franci et Latini" (1-8-5). Diese drei Sprachen neueren Forschungsstand vermitteln insbesondere M. Corti 1981, I. Pagani 1982 und die Besprechung dazu von P. Wunderli 1984, ferner Peirone 1984 sowie die entsprechenden Kapitel in der Enciclopedia dantesca (6 Bände, 1970-1978) und die in der Edition Mengaldo 1968 angeführte Literatur; zu den Termini "latino" und "volgare" bei Dante cf. Holtus 1987, zur Sprachklassifikation bei Dante cf. Ternes 1988.

Das "vulgare

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gehen ursprünglich auch auf eine einzige Sprache zurück, wie Dante anhand lexikalischer Übereinstimmungen nachweisen möchte: "Est igitur super quod gradimur ydioma tractando tripharium, ut superius dictum est: nam alii oc, alii sì, alii vero dicunt oil. Et quod unum fuerit a principio confusionis (quod prius probandum est) apparet, quia convenimus in vocabulis multis, velut eloquentes doctores ostendunt" (1-9-2). Mengaldo (1979, 71s.) weist in seinem Kommentar auf die Eigentümlichkeit von Dantes Argumentation hin: "L'argomentazione è chiarissima, ma Dante ha evidentemente scorciato, saldando due stadi diversi (e tenuti distinti fino al precedente § 1) dell'evoluzione linguistica postbabelica: poiché unum a principio confusionis, a rigor di logica, non è l'idioma trifario 'romanzo', ma quell'altro ydioma tripharium (I,viii,2) di cui esso rappresenta una delle tre ramificazioni successive (vero è tuttavia che in quello stesso paragrafo la tripartizione era presentata come in qualche modo presente ab origine)". Diese drei Sprachen ("Triphario nunc existente nostro ydiomate . . . " , 1-10-1) erscheinen Dante im Prinzip als gleichrangig, jedoch kommt dem Italienischen insofern ein etwas höherer Stellenwert zu, als es von den Grammatikern bei der Festlegung der Bejahungspartikel sie als Modell genommen wurde: " . . .eo quo gramatice positores inveniuntur aeeepisse 'sie' adverbium affirmandi: quod quandam anterioritatem erogare videtur Ytalis, qui sì dicunt" (1-10-1). Ansonsten nimmt Dante eher eine Funktionsaufteilung in bezug auf die Qualitäten der einzelnen Elemente des jetzigen "ydioma tripharium" vor: Prosaliteratur, lyrische Dichtung der "vulgares eloquentes", Vertreter des "dolce stil novo" (der Terminus fällt hier nicht explizit) und Nähe zur "gramatica"; der Passus enthält einige der für Dantes Sprach- und Literaturtheorie charakteristischen Termini: "Allegat ergo pro se lingua oïl quod propter sui f a c i l i o r e m ac d e l e c t a b i l i o r e m v u l g a r i t a t e m quicquid redactum est sive inventum ad v u l g a r e p r o s a y c u m , suum est: videlicet Biblia cum Troianorum Romanorumque gestibus compilata et Arturi regis ambages pulcerrime et quamplures alie ystorie ac doctrine. Pro se vero argumentatur alia, scilicet oc, quod vulgares eloquentes in ea primitus poetati sunt tanquam in p e r f e c t i o r i d u l c i o r i q u e l o q u e l a , ut puta Petrus de Alvernia et alii antiquiores doctores. Tertia quoque, (que) Latinorum est, se duobus privilegiis actestatur preesse: primo quidem quod qui d u l c i u s s u b t i l i u s q u e p o e t a t i vulgariter sunt, hii familiares et domestici sui sunt, puta Cynus Pistoriensis et amicus eius; secunda quia magis videntur initi gramatice que comunis est, quod rationabiliter inspicientibus videtur gravissimum argumentum" ( 1 - 1 0 - 2 ; Hervorhebungen von G. H.).

Mit diesen Äußerungen Dantes ist, wie schon angedeutet, noch keine Rangordnung oder wesentliche Vorrangstellung einer Sprache verbun-

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den. Daß Dante jedoch prinzipiell eine Unterscheidung zwischen einer Modellsprache und von einem Standard abweichenden sprachlichen Ausdrucksformen macht, zeigt sich bereits im ersten Kapitel seines Traktats bei der Begründung seines Vorhabens: er möchte die Sprache des ungebildeten Volkes verbessern, sie einem (zunächst) nicht explizit genannten Modell annähern: "locutioni vulgarium gentium prodesse temptabimus" (1-1-1). Die Begründung für die Variationsbreite menschlichen Sprechens im Hinblick auf Zeit und Raum liegt in der Natur des menschlichen Wesens: "Cum igitur omnis nostra loquela preter illam homini primo concreatam a Deo - sit a nostro beneplacito reparata post confusionem illam que nil aliud fuit quam prioris oblivio, et homo sit instabilissimum atque variabilissimum animal, nec durabilis nec continua esse potest, sed sicut alia que nostra sunt, puta mores et habitus, per locorum temporumque distantias variari oportet" (1-9-6). Daraus leiten sich die bekannte diatopische Einteilung des italienischen Sprachgebietes (1-9-4, l-10-3ss.) und die Differenzierung der Sprache in Varietäten ("variationes", 1-10-3) bis hin zu einzelnen Stadtteilen ab: "Quare autem tripharie principalius variatum sit, investigemus; et quare quelibet istarum variationum in se ipsa variatur, puta dextre Ytalie locutio ab ea que est sinistre (nam aliter Paduani et aliter Pisani locuntur); et quare vicinius habitantes adhuc discrepant in loquendo, ut Mediolanenses et Veronenses, Romani et Florentini, nec non convenientes in eodem genere gentis, ut Neapoletani et Caetani, Ravennates et Faventini, et, quod mirabilius est, sub eadem civilitate morantes, ut Bononienses Burgi Sancti Felicis et Bononienses Strate Maioris. Hee omnes differentie atque sermonum varietates quid accidant, una eademque ratione patebit" (1-9-4/5). Die gesprochene Sprache einer Sprachgemeinschaft variiert ebenso wie die Sprachen verschiedener Völker, wie ihre Sitten und Gebräuche: "Si ergo per eandem gentem sermo variatur, ut dictum est, successive per tempora, nec stare ullo modo potest, necesse est ut disiunctim abmotimque morantibus varie varietur, ceu varie variantur mores et habitus, qui nec natura nec consortio confirmantur, sed humanis beneplacitis localique congruitate nascuntur" (1-9-10). Aus diesem Umstand heraus haben die Grammatiker eine Art unveränderliche Zweitsprache geschaffen: "Hinc moti sunt inventores gramatice facultatis: que quidem gramatica nichil aliud est quam quedam inalterabilis locutionis ydemptitas diversibus temporibus atque locis" (1-9-11). Im einzelnen führt Dante die Zergliederung, die Zersplitterung allein des italienischen Sprachraums zu einer Vielzahl von Variationen aus, die weit über die Tausende hinausgeht: "Quapropter, si primas et secundarias et subsecundarias vulgaris Ytalie variationes calculare velimus, et in hoc minimo mundi ángulo non so-

Das "vulgare

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lum ad millenam loquele variationem venire contigerit, sed etiam ad magis ultra" (1-10-7). Es wäre nicht nur aus der Sicht der heutigen Varietätenlinguistik heraus schön gewesen, wenn Dante seine Vorstellungen über die Variation menschlichen Sprechens bis hin zur Ebene der Familie im vorgesehenen vierten Buch seines Traktates anhand von Beispielen im einzelnen belegt hätte und der Darstellung der "doctrina de vulgari eloquentia" die der nicht diesem Modell entsprechenden Sprachebenen hätte folgen lassen: "Quibus illuminatis, inferiora vulgaria illuminare curabimus, gradatim descendentes ad illud quod unius solius familie proprium est" (1-19-3). Somit muß sich die Untersuchung über Dantes Äußerungen zur Herausbildung des Begriffs eines sprachlichen Modells auf einige wenige Beispiele bei der Aufzählung der 14 italienischen Dialektgebiete im ersten Buch des Traktats beschränken.

Beispiele für nicht standardgemäßen Sprachgebrauch Bei der Suche nach dem Modell einer italienischen Volkssprache ("decentiorem atque illustrem Ytalie venemur loquelam", 1-11-1) scheidet Dante eine ganze Reihe von dialektalen Sprachgebieten aus, die sich in mehr oder minder hohem Maße als untauglich erweisen. Zwar zitiert Dante - wenn überhaupt - jeweils nur einen sehr kurzen Textausschnitt, doch lassen diese Belege immerhin einige Rückschlüsse darauf zu, nach welchen Kriterien Dante eine Bewertung sprachlicher Formen vornimmt. Für eine Interpretation von Dantes Einstellung sind sowohl die jeweiligen Quellentexte als auch Dantes metasprachliche Kommentare zu berücksichtigen. Auf die detaillierte dialektologische Interpretation der Formen und auf Dantes persönliche Motivationen soll im Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden (cf. dazu den ausführlichen Anmerkungsapparat in Mengaldo 1979, 92-125). Im einzelnen ergeben sich die folgenden Charakterisierungen und Bewertungen der sprachlichen Besonderheiten der italienischen Dialektgebiete: -

R o m a n i : "Dicimus igitur Romanorum non vulgare, sed potius tristiloquium, ytalorum vulgarium omnium esse turpissimum" (1-11-2), Messure, quinto dici? 'Signore, che dici?', in syntaktisch-pragmatischer Hinsicht auffällig die höfliche Anredeform in der zweiten Person Singular, Übertragung des umgelauteten -u vom Plural in den Singular bei messure (Phonetik), che + "adverbiales" Suffix (Lexikon, Morphologie). - I n c o l a e A n c o n i t a n e M a r c h i e , S p o l e t a n i : Chignamentestate siate 'come state...?', lexikalisch, syntaktisch, "Nec pretereundum

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est quod in improperium istarum trium gentium cantiones quamplures invente sunt" (1-11-4), Una fermano scopai da Cascioli,/cita cita se 'η già 'η grande aína 'Incontrai una donna di Fermo presso Casciòli, se ne andava svelta svelta, in gran fretta', lexikalisch {scopai, cita, a ina). M e d i o l a n e n s e s a t q u e P e r g a m e i : "improperium quendam", Enter l'ora del vesper, ciò fu del mes d'ochiover (1-11-5), 'Verso l'ora del vespro, ciò avvenne nel mese d'ottobre', zò fo/ciò fu + Zeitangabe (Syntax), enter (Morphologie), ochiover (Phonetik), Apokopen (Phonetik). A q u i l e g i e n s e s et Y s t r i a n i : "qui Ces fas-tu? crudeliter accentuando eructuant" (1-11-6), 'Che fai?', ces (Phonetik), fas-tu (Morphologie, Syntax). C a s e n t i n e n s e s et F r a c t e n s e s : "Cumque hiis montaninas omnes et rusticanas loquelas eicimus, que semper mediastinis civibus accentus enormitate dissonare videntur" (1-11-6), Phonetik. S a r d i : "Quoniam soli sine proprio vulgari esse videntur, gramaticam tanquam simie homines imitantes: nam domus nova et dominus meus locuntur" (1-11-7), Morphologie, Lexikon, Archaismen. S i c i l i a n u m v u l g a r e : "Et dicimus quod, si vulgare sicilianum accipere volumus secundum quod prodit a terrigenis mediocribus, ex ore quorum iudicium eliciendum videtur, prelationis honore minime dignum est, quia non sine quodam tempore profertur" (1-12-6), Tragemi d'este focora se t'este a bolontate, Morphologie, Lexikon, Phonetik (z.T. Metrik); davon abzugrenzen ist das Sizilianische "quod ab ore primorum Siculorum emanat" (1-12-6). A p u l i : "turpiter barbarizant" (1-12-7), Bòlzera che chiangesse lo quatraro 'Vorrei che il ragazzo piangesse', Morphologie, Morphosyntax, Phonetik, Lexikon; Ausnahmen sind zwar vorhanden, "Sed quamvis terrigene Apuli loquantur obscene comuniter, prefulgentes eorum quidam polite locuti sunt, vocabula curialiora in suis cantionibus compilantes" (1-12-8), doch besteht zwischen dem volkssprachlichen Gebrauch und der Literatursprache eine deutliche Diskrepanz, "Quapropter superiora notantibus innotescere debet nec siculum nec apulum esse illud quod in Ytalia pulcerrimum est vulgare, cum eloquentes indígenas ostenderimus a proprio divertisse" (1-12-9). T u s c i : "qui propter amentiam suam infroniti titulum sibi vulgaris illustris arrogare videntur. Et in hoc non solum plebeia dementat intentio, sed famosos quamplures viros hoc tenuisse comperimus" (1-13-1), die Dichtungen ("dicta") "non curialia sed municipalia tantum invenientur" (1-13-1), "Et quoniam Tusci pre aliis in hac ebrie-

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tate baccantur, dignum utileque videtur municipalia vulgaria Tuscanorum sigillatim in aliquo depompare" (1-13-2). F l o r e n t i n i : Manichiamo, introcque che noi non facciamo altro 'Mangiamo, intanto che non facciamo altro', Syntax, Lexikon. P i s a n i : Bene andonno li fatti de Fiorensa per Pisa Ί fatti di Firenze andarono bene per Pisa', Morphologie, Phonetik. L u c e n s e s : Fo voto a Dio ke in grassarra eie lo comuno de Lucca 'Giuraddio che il comune di Lucca nuota nell'abbondanza', Lexikon, Pragmatik, Phonetik (Metaplasmus, epenthetisches i), Syntax (Inversion). S e n e n s e s : Onche renegata avess'io Siena. Ch'ee chesto? 'Avessi rinnegata una buona volta Siena! Che è questo, che succede?', Phonetik, Morphologie. A r e t i n i : Viio' tu venire ovelle? 'Vuoi venire da qualche parte?', Morphologie. Insgesamt ("De Perusio, Urbe Veteri, Viterbio, nec non de Civitate Castellana, propter affinitatem quam habent cum Romanis et Spoletanis, nichil tractare intendimus", 1-13-3) scheidet das Toskanische ebenfalls aus, "Itaque si tuscanas examinemus loquelas, et pensemus qualiter viri prehonorati a propria diverterunt, non restât in dubio quin aliud sit vulgare quod querimus quam quod actingit populus Tuscanorum" (1-13-5). I a n u e n s e s : " . . . quod si per oblivionem Ianuenses ammicterent ζ licteram, vel mutire totaliter eos vel novam reparare oporteret loquelam. Est enim ζ maxima pars eorum locutionis, que quidem Hetera non sine multa rigiditate profertur" (1-13-6), Phonetik. R o m a n d i o l i : "Quorum unum in tantum muliebre videtur propter vocabulorum et prolationis mollitiem quod virum, etiam si viriliter sonet, feminam tamen facit essere credendum" (1-14-2), Lexikon, Phonetik, Soziolinguistik. F o r l i v i e n s e s : deusci, ocio meo, corada mea (1-14-3), Morphologie, Phonetik, Lexikon, Pragmatik; "Horum aliquos a proprio poetando divertisse audivimus", "Est et aliud, sicut dictum est, adeo vocabulis accentibusque yrsutum et yspidum quod propter sui rüdem asperitatem mulierem loquentem non solum disterminat, sed esse virum dubitares, lector" (1-14-4), Phonetik, Lexikon, Soziolinguistik. B r i x i a n i , V e r o n e n s e s , V i g e n t i n i : magara, Lexikon. P a d u a n i : "turpiter sincopantes omnia in '-tus' partieipia et denominativa in '-tas', ut mercó et bonté" (1-14-5), Phonetik, Morphologie. T r i v i s i a n i : "qui more Brixianorum et finitimorum suorum u con-

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sonantem per f apocopando proferunt, puta nof pro 'novem' et vif pro 'vivo': quod quidem barbarissimum reprobamus" (1-14-5), Phonetik (Apokopen). - V e n e t i : Per le plaghe di Dio tu no verras 'Per le piaghe di Dio, non verrai' (1-14-6), Morphologie, Pragmatik, Phonetik; "nec suum opposition ut dictum est, nec venetianum esse illud quod querimus vulgare illustre" (1-14-8). - B o n o n i e n s e s e t a l . : "Dicimus ergo quod forte non male opinantur qui Bononienses asserunt pulcriori locutione loquentes, cum ab Ymolensibus, Ferrarensibus et Mutinensibus circunstantibus aliquid proprio vulgari asciscunt" (1-15-2), "Accipiunt enim prefati cives ab Ymolensibus lenitatem atque mollitiem, a Ferrarensibus vero et Mutinensibus aliqualem garrulitatem que proprie Lombardorum est: hanc ex commixtione advenarum Longobardorum terrigenis credimus remansisse. Et hec est causa quare Ferrarensium, Mutinensium vel Regianorum nullum invenimus poetasse: nam proprie garrulitati assuefacti nullo modo possunt ad vulgare aulicum sine quadam acerbitate venire. Quod multo magis de Parmensibus est putandum, qui monto pro 'multo' dicunt" (1-15-3/4), Phonetik, Lexikon; insgesamt besteht jedoch eine Kluft zwischen Volkssprache und Dichtersprache, "si vero simpliciter vulgare bononiense preferendum existimant, dissentientes discordamus ab eis. Non etenim est quod aulicum et illustre vocamus" (1-15-6), "Que quidem verga prorsus a mediastinis Bononie sunt diversa" (1-15-6), Lexikon. Die restlichen Gebiete scheiden bei der Suche nach dem modellhaften "vulgare illustre" aus: "dicimus Tridentum atque Taurinum nec non Alexandriam civitates metis Ytalie in tantum sedere propinquas quod puras nequeunt habere loquelas; ita quod si etiam quod turpissimum habent vulgare, haberent pulcerrimum, propter aliorum commixtionem esse vere latium negaremus. Quare, si latium illustre venamur, quod venamur in illis inveniri non potest" (1-15-7). Im Anschluß an die vergebliche Suche nach einem vorbildlichen "vulgare illustre" bei den zeitgenössischen italienischen Dialekten entwickelt Dante dann seine Vorstellungen von einer idealen Kunstsprache, die im folgenden kurz unter dem Aspekt Standard und Varietät zusammengefaßt seien.

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Dantes Modell eines "vulgare illustre" Anhand verschiedener Metaphern (Panther, Duftmarke) verdeutlicht Dante, daß das "vulgare illustre" in verschiedenen Regionen bei einigen "doctores eloquentes" durchaus in Ansätzen anzutreffen ist und es in verschiedenen Intensitätsgraden in der Volksliteratur nachgewiesen werden kann, ohne daß jedoch diese Kunstsprache in vollendeter Form bei einem seiner Zeitgenossen bereits aufgetreten ist: "Que quidem nobilissima sunt earum que Latinorum sunt actiones, hec nullius civitatis Ytalie propria sunt, et in omnibus comunia sunt: inter que nunc potest illud discerni vulgare quod superius venabamur, quod in qualibet redolet civitate nec cubat in ulla. Potest tarnen magis in una quam in alia redolere" (1-16-4/5). Dante beschließt die Suche nach dem "vulgare illustre" mit der Definition der modellhaften Kunstsprache mittels der aus dem politisch-sozialen Bereich entnommenen Attribute "illustre, cardinale, aulicum, curiale": "dicimus illustre, cardinale, aulicum et curiale vulgare in Latio quod omnis latie civitatis est et nullius esse videtur, et quo municipalia vulgaria omnia Latinorum mensurantur et ponderantur et comparantur" (1-16-6). Alle vier Attribute verweisen auf eine hierarchisch strukturierte politische Ordnung, die sich am ehesten in einem monarchischen Zentralstaat verwirklichen ließe, der aber in Italien zu Dantes Zeiten nicht vorhanden war. Im Zusammenhang mit diesen Attributen werden von Dante diverse Aussagen zu sprachlichen Charakteristika gemacht, die hier stichwortartig angeführt werden sollen: - i l l u s t r e : "intelligimus quid illuminans et illuminatum prefulgens" (1-17-2), "Et vulgare de quo loquimur et sublimatum est magistratu et potestate, et suos honore sublimât et gloria. Magistratu quidem sublimatum videtur, cum de tot rudibus Latinorum vocabulis, de tot perplexis constructionibus, de tot defectivis prolationibus, de tot rusticanis accentibus, tarn egregium, tarn extricatum, tarn perfectum et tarn urbanum videamus electum ut Cynus Pistoriensis et amicus eius ostendunt in cantionibus suis" (1-17-2/3). - c a r d i n a l e : "Nam sicut totum hostium cardinem sequitur ut, quo cardo vertitur, versetur et ipsum, seu introrsum seu extrorsum flectatur, sie et universus munieipalium grex vulgarium vertitur et revertitur, movetur et pausat secundum quod istud, quod quidem vere paterfamilias esse videtur" (1-18-1). - a u l i c u m : "si aulam nos Ytali haberemus, palatinum foret" (1-18-2), "Et hinc est quod in regiis omnibus conversantes semper illustri vulgari locuntur" (1-18-3). - c u r i a l e : "quia curialitas nil aliud est quam librata regula eorum

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que peragenda sunt: et quia statera huiusmodi librationis tantum in excellentissimis curiis esse solet, hinc est quod quicquid in actibus nostris bene libratum est, curiale dicatur. Unde cum istud in excellentissima Ytalorum curia sit libratum, dici curiale meretur" (1-18-4), " N a m licet curia, secundum quod unita accipitur, ut curia regis Alamannie, in Ytalia non sit, m e m b r a tamen eius non desunt; et sicut m e m b r a illius uno Principe uniuntur, sic membra huius gratioso lumine rationis unita sunt. Quare falsum esset dicere curia carere Ytalos, quanquam Principe careamus, quoniam curiam habemus, licet corporaliter sit dispersa" (1-18-5). Die mit diesen Worten beschriebene Kunstsprache wird von Dante als "vulgare latium" bezeichnet, "quod totius Ytalie est" (1-19-1), und ihrer haben sich die "doctores illustres" bedient: "Hoc enim usi sunt doctores illustres qui lingua vulgari poetati sunt in Ytalia, ut Siculi, Apuli, Tusci, Romandioli, Lombardi et utriusque Marchie viri" (1-19-1). Die folgenden Teile von Dantes Traktat sollen dazu dienen, "doctrinam de vulgari eloquentia tradere" (1-19-2), bezogen auf die Benutzer dieser Sprache, die Inhalte, die Art und Weise des Gebrauchs, den Ort, die Zeit und den Adressaten: "quos putamus ipso dignos uti, et propter quid, et quomodo, nec non ubi, et quando, et ad quos ipsum dirigendum sit" (1-19-2). Im Gegensatz zu der in den Kapiteln 11 bis 15 des ersten Buches erfolgten Beschreibung ex negativo gibt Dante im zweiten Buch nunmehr die positiven Merkmale des "vulgare illustre" an. Dazu gehören: - Gebrauch in Prosa und in Versen, wobei letzterer als modellhaft angesehen wird, "latium vulgare illustre tarn prosayce quam metrice decere proferri. Sed quia ipsum prosaycantes ab avientibus magis accipiunt et quia quod avietum est prosaycantibus permanere videtur exemplar, et non e converso - que quendam videntur prebere prim a t u m - , primo secundum quod metricum est ipsum carminemus" (2-1-1). - Gebrauch nur bei den besten Schriftstellern, "Exigit ergo istud sibi consimiles viros" (2-1-5), "optima loquela non convenit nisi illis in quibus ingenium et scientia est", "non omnes ipsum debent uti, quia inconvenienter agere nullus debet" (2-1-8). - Gebrauch nur im Hinblick auf würdige Gegenstände/Inhalte, "optimis conceptionibus optima loquela conveniet" (2-1-8), und zwar die folgenden drei Bereiche: "Quare hec tria, salus videlicet, venus et virtus, apparent esse illa magnalia que sint maxime pertractanda, hoc est ea que maxime sunt ad ista, ut a r m o r u m probitas, amoris accensio et directio voluntatis" (2-2-7), "Unde cum hoc quod dicimus illustre sit optimum aliorum vulgarium, consequens est est ut sola optima

Das "vulgare

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illustre'

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digna sint ipso tractari, que quidem tractandorum dignissima nuncupamus" (2-2-5), Definitionsversuch des "dignum" (2-2-2ss.). Angemessene Ausschmückung des "vulgare illustre", "est enim exornatio alicuius convenientis additio" (2-1-9). Metrische Form, "quo modo" (2-3-1), die Kanzone, "Horum autem [cantiones, ballatae, sonitus, alii inlegitimi et inregulares modi] modorum cantionum modum excellentissimum esse putamus" (2-3-3), Verweis der Behandlung der anderen Formen auf das geplante vierte Buch, "cum de mediocri vulgari tractabimus" (2-4-1, cf. auch 2-8-8: "de qua [cantilena] in quarto huius tractare intendimus"). Zuordnung des "vulgare illustre" zum Tragischen, "Per tragediam superiorem stilum inducimus, per comediam inferiorem, per elegiam stilum intelligimus miserorum. Si tragice canenda videntur, tunc assumendum est vulgare illustre, et per consequens cantionem ligare. Si vero comice, tunc quandoque mediocre quandoque humile vulgare sumatur: et huius discretionem in quarto huius reservamus ostendere. Si autem elegiace, solum humile oportet nos sumere" (2-4-5/6). Übereinstimmung des (tragischen) Inhalts mit der syntaktischen Form und dem Wortschatz, "Stilo equidem tragico tunc uti videmur quando cum gravitate sententie tarn superbia carminum quam constructionis elatio et excellentia vocabulorum concordat" (2-4-7), "investigandum de constructionibus elatis et fastigiosis vocabulis" (2-5-8); dabei unterscheidet Dante diverse Satzstellungen, z. B. "vocamus regulatam compaginem dictionum, ut 'Aristotiles phylosophatus est tempore Alexandri'" (2-6-2), "Sunt etenim gradus constructionum quamplures: videlicet insipidus, qui est rudium, ut 'Petrus amat multum dominam Bertam'; est et pure sapidus, qui est rigidorum scolarium vel magistrorum, ut 'Piget me cunctis pietate maiorem, quicunque in exilio tabescentes patriam tantum sompniando revisunt'; est et sapidus et venustus, qui est quorundam superficietenus rethoricam aurientium, ut 'Laudabilis discretio marchionis Estensis, et sua magnificentia preparata, cunctis ilium facit esse dilectum'; est et sapidus et venustus etiam et excelsus, qui est dictatorum illustrium, ut 'Eiecta maxima parte florum de sinu tuo, Florentia, nequicquam Trinacriam Totila secundus adivit'. Hunc gradum constructionis excellentissimum nominamus, et hic est quem querimus cum suprema venemur, ut dictum est" (2-6-4/5); beim Wortschatz trennt er zwischen „infantilen", „feminilen" und „virilen" Wörtern und präzisiert die letzteren wie folgt: "Nam vocabulorum quedem puerilia, quedam muliebria, quedam virilia; et horum quedam silvestria, quedam urbana; et eorum que urbana vocamus, quedam pexa et lubrica, quedam yrsuta et reburra sentimus" (2-7-2), zur

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Orientierung dient "virtutis linea" (2-7-2); an konkreten Beispielen nennt er: "In quorum numero nec puerilia propter sui simplicitatem, ut mamma et babbo, mate et pate, nec muliebria propter sui mollitiem, ut dolciada et piacevole, nec silvestria propter austeritatem, ut greggia et cetra, nec urbana lubrica et reburra, ut femina et corpo, ullo modo poteris conlocare. Sola etenim pexa yrsutaque urbana tibi restare videbis, que nobilissima sunt et membra vulgaris illustris. Et pexa vocamus ilia que, trisillaba vel vicinissima trisillabitati, sine aspiratione, sine accentu acuto vel circumflexo, sine ζ vel χ duplicibus, sine duarum liquidarum geminatione vel positione inmediate post mutam, dolata quasi, loquentem cum quadam suavitate relinquunt: ut amore, donna, disio, virtute, donare, letitia, salute, securtate, defesa. Yrsuta quoque dicimus omnia, preter hec, que vel necessaria vel ornativa videntur vulgaris illustris. Et necessaria quidem appellamus que campsare non possumus, ut quedam monosillaba, ut sì, no, me, te, se, a, e, i, o, u\ interiectiones et alia multa. Ornativa vero dicimus omnia polisillaba que, mixta cum pexis, pulcram faciunt armoniam compaginis, quamvis asperitatem habeant aspirationis et accentus et duplicium et liquidarum et prolixitatis: ut terra, honore, speranza, gravitate, alleviato, impossibilità, impossibilitate, benaventuratissimo, inanimatissimamente, disaventuratissimamente, sowamagnificentissimamente, quod endecasillabum est. Posset adhuc inveniri plurium sillabarum vocabulum sive verbum, sed quia capacitatem omnium nostrorum carminum superexcedit, rationi presenti non videtur obnoxium, sicut est illud honorificabilitudinitate, quod duodena perficitur sillaba in vulgari et in gramatica tredena perficitur in duobus obliquis" (2-7-4/6).

Die weiteren Ausführungen Dantes zur Stanze ("stantiam esse sub certo cantu et habitudine limitata carminum et sillabarum compagem", 2-9-6) und zum Reim ("Rithimorum quoque relationi vacemus, nichil de rithimo secundum se modo tractantes: proprium enim eorum tractatum in posterum prorogamus, cum de mediocri poemate intendemus", 2-13-1) können in diesem Kontext außer Betracht bleiben. Aus dieser Übersicht lassen sich folgende Schlüsse im Hinblick auf Dantes Kenntnisse der dialektalen Variation des italienischen Sprachgebietes seiner Zeit und auf seine Vorstellungen von einer modellhaften Sprache ziehen: 1. Dantes Textbeispiele im ersten Buch betreffen zwar nur einen kleinen Ausschnitt der dialektalen Vielfalt Italiens, sie zeugen aber dennoch von einer relativ guten und genauen Kenntnis der sprachlichen Situation seiner Zeit. Aus der Auflistung läßt sich ex negativo schließen, welche Sprachformen für ihn nicht als Modell eines "vulgare illustre" in Frage kommen. 2. Die zitierten sprachlichen Belege beziehen sich in erster Linie auf phonetische und lexikalische Eigenheiten der jeweiligen Dialektgebiete, doch kommen auch morphosyntaktische, syntaktische, pragmalinguistische und soziolinguistische Aspekte zur Geltung, wenn

Das "vulgare

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Dante sich auf Themen wie Anredeformen oder Invokationsformeln bezieht oder wenn er geschlechtsspezifische Sprachmerkmale erwähnt (deren Gültigkeit in Frage zu stellen ist). 3. Dantes sprachliche Beurteilungen der Dialektgebiete und seine Kriterien für die Einschätzung sprachlicher Merkmale sind stark von seinen persönlichen, subjektiven Empfindungen geprägt, autobiographische Faktoren fließen in die Bewertungen mit ein. 4. Dantes theoretische Ausführungen zum "vulgare illustre", zu den Attributen dieser modellhaften Kunstsprache und die im einzelnen angeführten Merkmale erscheinen aus sprachwissenschaftlicher Sicht weniger überzeugend als die Textbeispiele im ersten Buch. Klarer als in der sprach- und dichtungstheoretischen Schrift werden Dantes Absichten und Bemühungen um die Schaffung eines sprachlichen Modells in seinen eigenen volkssprachlichen Dichtungen deutlich: letzten Endes haben weniger Dantes Überlegungen in seinem Traktat De vulgari eloquentia zur Herausbildung eines sprachlichen Standards beigetragen als seine in der Volkssprache geschriebenen schriftstellerischen Werke.

Literaturverzeichnis Corti, Maria, Dante a un nuovo crocevia, Firenze, Sansoni, 1981. Enciclopedia dantesca, Roma, Istituto dell'Enciclopedia Italiana, 6 Bände, 1970-1978. Holtus, Günter, Zur Sprach- und Wortgeschichte von "latino" und "volgare" in Italien, in: Dahmen, Wolfgang, et al. (edd.), Latein und Romanisch. Romanistisches Kolloquium / , Tübingen, Narr, 1987, 340-354. Mengaldo, Pier Vincenzo (ed.), Dante Alighieri, De vulgari eloquentia, Padova, Antenore, 1968. Mengaldo, Pier Vincenzo (ed.), De vulgari eloquentia, in: Mengaldo, Pier Vincenzo, et al. (edd.), Dante Alighieri, Opere minori, tomo II, Napoli, Ricciardi, 1979, 1-237. Pagani, Ileana, La teoria linguistica di Dante. Discussioni, scelte, proposte, Napoli, Liguori, 1982. Peirone, Luigi, Diasistema e lingua nel pensiero dantesco, Genova, Tilgher, 1984. Ternes, Elmar, La classification des langues romanes d'après Dante reconsidérée aujourd'hui, in : Kremer, Dieter (ed.), Actes du XVIII Congrès International de Linguistique et Philologie Romanes (Trêves 1986), Tübingen, Niemeyer, 1988 (im Druck). Wunderli, Peter, Rez. zu Pagani 1982, Deutsches Dante-Jahrbuch 59 (1984), 135-154.

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Nicht-standardsprachliche und dialektale Erscheinungsformen der englischen Syntax unter Einbeziehung der Sprachgeschichte Klaus Faiß (Mainz)

0. E i n l e i t u n g 0.1. Nicht-standardsprachlich (-stspr.) und dialektal sind Konstruktionen mit nicht-markiertem pluralischem Substantiv (Subst.) neben stspr. markiertem Subst. durchaus geläufig. Als Nachweis mögen genügen: "It's not far away, really, it's only thirteen mile", "It's gonna cost us 37 pound for a few days" (Stadtdialekt von Reading, s. Cheshire 1982, 80), "they're about fifteen - fourteen or fifteen month old", "three week", "these thing" neben stspr. "five or six weeks" (West Riding von Yorkshire, s. Melchers 1972, II. 5, 8, 124 bzw. 73), "so many gallon", "It's 41 inch", "in three hour" (Appalachian English, s. Wolfram/Christian 1976, 117). Vorläufer für diese stspr. nicht mehr akzeptierte Kongruenz gibt es im Mittelenglischen (-engl.): "J)er bye]j zeue manere gaueleres" (Dan Michel, Ayenbite of Inwyt, 1340, Kent, s. Kaiser 1961, 198), "a thousand tyme hir kiste", "sith I twelf yeer was of age" neben markiertem "eighte busshels" (Geoffrey Chaucer, 2. Hälfte 14. Jh., London, s. Skeat 1962, 265, 565 bzw. 562). 0.2. Auch andere, stspr. heute nicht mehr oder nur in bestimmten Kontexten akzeptierte syntaktische Erscheinungen gehen auf ältere Sprachstufen zurück. Dazu gehören u. a. 0.2.1. das ein Subjektpronomen vertretende Nullrelativum wie in "Was once a boy 0 lived up there", "I know some folks 0 like this idea" (National Geographic 151, March 1977, 355f.), "Owen Kelsey 0 used to live next door to us has emigrated" (s. Cheshire 1982, 74). Es ist altengl. bezeugt: "Her on J)is geare gefor AElfred 0 waes ast Baöum gerefa" (s. Visser 1984, 1.12)0.2.2. das besonders im Southern American English bekannte perfektive done wie in "I have done told you" (seit der 2. Hälfte des 16. Jhs. belegt) und reduziertem "I done told you" (seit der 2. Hälfte des 19. Jhs. belegt) (s. Feagin 1979, 148ff.; Visser 1984, III.2.§ 2023) -

Nicht-standardsprachliche

und dialektale

Erscheinungsformen

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0.2.3. die ebenfalls vor allem im Southern American English ausgeprägten double und multiple modals wie may can, might could, should ought to bzw. might could oughta, die seit ca. 1200 in der Kombination finite Form + Infinitiv (Inf.) von modalen Hilfsverben belegt sind, ζ. Β. "I shall cunnenn (sic) cwemenn Godd" (ca. 1200), "thou shalt mowe haue suche pacience that thou shalt wille to receive gladli all maner of tribulación" (ca. 1390), "That ye counseille me how I shall maye avenge me" (ca. 1489) (s. Visser 1984, III.2.§ 2134), s. noch Coleman 1979; Feagin 1979, ch. 6; Kirchner 1970, § 97.26; Visser 1978, Iii.t.§§ 1649b, 1685; 1984, III.2.§ 2134 -

0.2.4. der Gebrauch des Präsens (Präs.) anstelle des Perfekts bei Handlungen/Zuständen, die in die Gegenwart hineinreichen. Dieses aus dem Altengl. datierende Phänomen kommt im Irischen und im Schottischen Englisch (Engl.), in geringerem Umfang im Amerikanischen Engl, neben dem Perfekt vor, während es in England stspr. als ungrammatisch gewertet wird. Man vergleiche altengl. "Efne min wif is for manegum wintrum untrum" (s. Visser 1984, 11.738 mit Belegen bis ins 20. Jh. ebd. und 739), Irisches Engl. "She's living here from she was married" (s. Harris 1984, 132, s. noch Taniguchi 1972, § 41.2B), Schottisches Engl. "I lead the prayers in the church for the last forty years" (s. Sabban 1982, 59 und insgesamt § 2 mit vielen weiteren Nachweisen), Amerikanisches Engl, "double negation exists to this day", "I am a Socialist for many years" (s. Kirchner 1970, § 98.63f.). 0.3. Einer genaueren und umfänglicheren Betrachtung werden unterzogen das nicht-betonte periphrastische do in der positiven Aussage (nbp do), for to- und for-Infinitiv, nicht-stspr. mehrfache Negation (nsmN) und Negation durch never. 1. nicht-betontes periphrastisches 'do' in der positiven Aussage 1.0. In stspr. formelhaften Ausdrücken wie "I, the undersigned, being of sound mind, do this day hereby bequeath" (s. Quirk et al. 1985, § 3.37 note e) und "till/until death do us part" (s. Erdmann 1981, 118) ist in Verbindung mit einem plain infinitive das nbp do bewahrt, das sonst in England dialektal nur noch im Südwesten (SW) vorkommt. Es gilt stspr. als archaisch und ist auf die Sprache des Rechts und der Liturgie eingeschränkt (Brunner 1962, 328; Visser 1978, III.l.§ 1421). Zu parallelen Konstruktionen im Deutschen (mittelhochdeutsch, dialektal, umgangssprachlich) und im Niederländischen s. Hausmann 1974, 171-176; Lenerz 1982, 212; Visser 1978, III.1.1495).

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Klaus Faiß Äußerungen mit tun + Inf. sind in der Kindersprache recht häufig: „Wir raren spielen·, dann tu' ich Klavier spielen-, dann tu' ich radfahren·, dann taten wir Spaghetti essen ; jetzt tun sie starten ; in der Schule tun wir morgen malen" (eigene Beobachtung). 1.0.1. Der SW umfaßt nach Wakelin (1986, 1) "(1) Cornwall, Devon and W. Somerset; (2) the remainder of Somerset, S. Avon (including Bristol), Wiltshire and Dorset. Avon N. of Bristol and the W. extremities of Gloucestershire, Berkshire and Hampshire are regarded as forming a marginal area". 1.0.2. Eine solche Konstruktion ist im südlichen (südl.) Walisischen Engl, (besonders Breconshire und Radnorshire) nachgewiesen. Wie für Somerset (1.3.4.1.) ist zu unterscheiden nach nbp do wie in "He did come in before I did finish" und habituellem do wie in "I do go to chapel every Sunday" (s. Thomas 1984, 191.11; 1985, 214f.; Weltens 1983, 62). Ersteres ist durch englischen (engl.) Einfluß bedingt, letzteres gälischen Ursprungs und im Irischen Engl, geläufig (Barry 1984, 109; Harris 1984, 133.14f.; 1986, 176-178; Kallen 1986; Taniguchi 1972, § 44.4Af„ in § 44.4C wird auf die Existenz eines nbp do in Verbindung mit be hingewiesen: " d o be or does be is found for the present tense form of be"). Dieses ist, wie das im südl. Walisischen Engl, belegte, durch engl. Einfluß zu erklären (Taniguchi 1972, IV). S. noch Belege in Visser 1978, III. 1 .§ 1415, wo jedoch nicht zwischen nbp do und habituellem do unterschieden wird. Zu habituellem do in atlantischen Varietäten des Engl. s. Harris 1986.

1.1. Das nbp do stammt aus dem Mittelengl. Es ist zuerst in der Poesie bezeugt und dehnt sich im 14. Jh. auf die Prosa aus. Im 15. Jh. sind Belege aus der Prosa fast ebenso häufig wie solche aus der Poesie. Der frequenzmäßige Höhepunkt ist das 16. Jh. Auch im 17. Jh. wird dieses do in Poesie und Prosa recht oft verwendet. Gegen Ende des 17. Jhs. zeichnet sich ein Rückgang in der Prosa ab, der sich in der 1. Hälfte des 18. Jhs. verstärkt und auch die Poesie erfaßt. Nach 1750 ist die nicht durch do erweiterte Verbform die Regel, unbeschadet der gelegentlichen Verwendung von nbp do in der Dichtung des 19. Jhs. S. Visser 1978, III.1.§ 1418-1421. 1.1.1. D a ß die erweiterte Verbform nbp do + plain infinitive stspr. im 16. und 17. Jh. akzeptiert war und als Variante zur nicht-erweiterten Präsens- und Präteritalbildung angesehen wurde, geht aus Grammatikerzeugnissen hervor. Palsgrave (1530) setzt I do speak und I speak gleich. Bellot (1580) schreibt: "They (sc. the verbs) haue also some signes in their moodes and tenses, to know, for the present indicative, doe, doest, doeth . . . do. For the imperfect . . . Did, didest, did . . .". Butler (1633) vermerkt, daß das Präs. mit oder ohne do gebildet werden könne, ebenso das Präteritum (Prät.): " / doo loove, thou doost loove, hee dooth bove" bzw. " / looved or did bov". Für Cooper (1685) sind I did learn und I learned gleichwertig.

Nicht-standardsprachliche

und dialektale Erscheinungsformen

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S. Visser 1978, III.1.§ 1419 p. 1503f„ § 1420 p. 1505.

1.1.2. Diese Ansichten setzen sich in Grammatiken des 18. Jhs. fort. Selbst noch 1818 wird diese Meinung von Cobbett vertreten. Seit etwa 1750 mehren sich jedoch Stimmen, die den Gebrauch von do als Indikator von Präs. und Prät. verwerfen, so Dr. Johnson (1755 "a vitious mode of speech"), Elphinston (1765), Burn (1766), Webster (1784 "inelegant and obsolete"), Coote (1788 "At present, we do not use this auxiliary in mere affirmations, unless we wish to lay some stress on what we affirm"). S. Visser 1978, III.l.§ 1421 p. 1508f.

1.1.3. Eben das von Coote angesprochene emphatische do war offensichtlich die Ursache dafür, daß das nbp do stspr. aufgegeben wurde, denn nur beim Imperativ war emphatisches do deutlich, da nbp do ausgeschlossen war. Belege für emphatisches do beim Imperativ s. Visser 1978, III.1.§ 1426ff.

Anders verhält es sich in der positiven Aussage, wo nbp und emphatisches do nur schwerlich zu trennen sind (Belege in Visser 1978, III.l.§ 1213). Mit dem Aufgeben des nbp do nach 1750 wird Eindeutigkeit erzielt : I love vs. I dó love. 1.1.3.1. Emphatisches do in der positiven Aussage datiert ohne genauere zeitliche Fixierung aus dem Mittelengl. (Visser 1978, III.1.§ 1422-1425). Prinzipiell zur Eindeutigkeit der Belege s. ebd. § 1425, speziell zum 16. Jh. Dahl 1956, zum 16. und 17. Jh. Stein 1985, 294-301, zum 17. Jh. in Nordamerika Rissanen 1985.

1.2. Das Altengl. kennt das nbp do nicht; jedenfalls ist es in den erhaltenen Texten nicht nachgewiesen (Mitchell 1985, I.§§ 667, 669). Visser vermutet aber, daß es vor der normannischen Eroberung in der gesprochenen Sprache vorhanden gewesen sei (1978, III.1.§ 1418 p. 1498). Es ist erstmals belegt in dem etwa 400 gereimte Septenare umfassenden Poema Morale, ca. 1175, nördliches (nördl.) Wiltshire, demnach in einem Teil des SW, in dem es noch heute existiert (1.3.6.): "^e jja ehte wille helde wel, t>e hwile he mu3e hi weide,/3eue hi for godes luue: Jjanne ded he hi wel ihelde" (Lewin 1881, Z. 55f.). 1.2.1. Dieser Beleg zeigt, daß durch den Einsatz von do der Inf. an das Versende gerückt werden kann, wodurch das Reimen erleichtert wird. Hinzu kommt, daß metrisch eine Silbe gewonnen wird, was ebenfalls von Vorteil für den Dichter war. Einige Stellen aus Shakespeares Sonetten mögen dies verdeutlichen: "I love not less, though less the show appear:/.. ./The owner's tongue doth publish every where./Our love was new, and then but in the

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Klaus Faiß spring,/.. ./As Philomel in summer's front doth sing", "Than when her mournful hymns did hush the night,/.. ./And sweets grown common lose their dear delight" (Sonett 102), " I f thou dost seek to have what thou dost hide,/By self-example mayst thou be deniedΓ (Sonett 142, emphatisch?), " I f that be fair whereon my false eyes dote,/. . ./If it be not, then love doth well denote" (Sonett 148). S. Pooler 1931, 98, 135, 140.

1.2.2. Die nachfolgende Belegauswahl illustriert die weitere Geschichte des nbp do bis zum 19. Jh. 1.2.2.1. mittelengl.: ca. 1225 King Horn " A writ he dude deuise, AJjulf hit dude write", ca. 1280 Southern Passion "as J?e gospel vs dop lere", ca. 1300 Robert of Gloucester "As jse water dep vp walle", ca. 1350 Siege of Troy "And euer Jje wynd ded ham dryue", ca. 1380 Wyclif "JDUS deede beggers . . . Uppen up to kynges power", ca. 1386 Chaucer "This Nicholas . . . doth ful softe vnto his chambre carie Bothe mete and drynke", ca. 1400 Perceval "Sone keuells did Jjay caste", ca. 1408 Lydgate "she doth leden and eke guye The amerouse constablerye", ca. 1425 Stonor Letters "my conceile ys fully that ye yn alle hast doe sende thether letters", ca. 1450 Merlin "that the toure doth falle", 1481 Caxton "Reynard thenne dyde grece his shoes", ca. 1490 Rule of St. Benet "that he doo no thynge but as the commyn rule of the place . . . doo shewe vnto him". S. Visser 1978, III.1.§ 1418 p. 1498-1502 mit zahlreichen weiteren Belegen.

1.2.2.2. 16. Jh.: ca. 1500 Story of Job "Job .. . owte of the worlde ded wende", 1525 Coverdale "one that ought me euell will dyd threaten me", 1561 Gorboduc "The noblenesse and glory of the one Doth sharpe the courage of the others mynde", 1571 Campion "Vivian . . . doth accurse and discommune all those", 1594 Hooker "The apostles did conform the Christians", 1596 Spenser "the wise Phisitions . . . doe teach how to cure and redress it", 1598-99 Jonson "I do impute it to those cares and griefs That did torment you". S. Visser 1978, III. 1 .§ 1419 p. 1504f. mit zahlreichen weiteren Belegen. Zu Shakespeare s. o. 1.2.1.

1.2.2.3. 17. Jh.: 1607 Shakespeare "I do wonder, his insolence can brooke to be commanded", 1626 Jonson "he doth sit like an embraced drum", 1649 D'Avenant "Alas, you do mistake my power", 1668 Dryden "since the mind of man does naturally tend to truth", 1693 Congreve "So fares it with our poet, and I'm sent To tell you he already does repent".

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und dialektale Erscheinungsformen

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S. Visser 1978, ΠΙ.1.§ 1420 p. 1505-1507 mit vielen weiteren Belegen.

1.2.2.4. 18. Jh.: 1700 Evelyn "I do perfectly remember", 1711 Steele "I did some Time ago lay before the World", 1743 Fielding "cordial liquors which do immediately inspire the heart with gladness", 1787 Winter "The vernal heat of the sun does also influence them". S. Visser 1978, III.1.§ 1421 p. 1509f. mit weiteren Belegen.

Aus Artikel X des Vertrags von Utrecht (1713) stammen: "The Catholic King does hereby . . . yield (lat. 'cedit') to the Crown of Great Britain . . . the town and castle of Gibraltar", "And Her Britannic Majesty . . . does consent and agree (lat. 'consentit convenitque')", "Her Majesty the Queen of Great Britain does further promise (lat. 'Promittit')". S. Kramer 1986, l l f .

1.2.2.5. 19. Jh.: 1807 Wordsworth "The hapless Creature, which did dwell Erewhile within the dancing Shell", 1817 Shelley "Thus, gentle thoughts did many a bosom fill", 1867 Morris "they .. . idle by the useless oars did sit". S. Visser 1978, III.1.§ 1421 p. 1510.

In der Poesie Thoreaus trifft man u. a. auf "Nature doth have her dawn each day,/.. ./Content, I cry, for sooth to say", "For when my sun doth deign to rise,/. . ./Her fairest field in shadow lies" (Bode 1965, 70), "Thus do our moments fly,/. . ./We pine, and die", "If this new lore can tell us where/.. ./Or how this soul of ours did fare", "If it do this, then should we try/.. ./So I, for one, gladly do cry" (214). 1.3. Die nachstehende Belege kennzeichnen die Verteilung des nbp do im SW Englands. Sie sind in Auswahl Wakelin 1986 entnommen, und zwar den Tonaufnahmen von Interviews (TA) und der Prosa (P). 1.3.1. In der Mundartdichtung ist die Verwendung des nbp do durch Reim und Metrum bedingt (1.2.1.). Man vergleiche ζ. B. aus Cornwall 1547 "Iche cannot brew, nor dresse Fleshe, nor vyshe;/Many volke do segge, I mar many a good dyshe", "God! watysh great colde, and fynger iche do abyd!/Wyl your bedauer, gösse, come home at the next tyde" (54), aus Somerset 17. Jh. "Chad a zore mind to zee thick zame holy thorne,/And vaith when Ice come thare Ice did zeeke vorn" (117, weitere Vorkommen 116f.), aus Somerset 1930 (1981) "I do veel that I could bust un wi' a zigh./If I do zim to stare at nothin"' (129, weitere Vorkommen 128f.), aus Dorset 1982 "To zee the beauteous countryzide/That's all around wer' I do bide" (166, weitere Belege 167), aus Wiltshire ca. 1975 "Az a zmyle 'cross 'iz face did zet,/.. ./Ther only vrends you 'aven't met" (188).

1.3.2. Belege aus Cornwall sind: 1975 (Ρ) "You da know" mit den Varianten "you d'naw" und "you da naw", "I da remember" (68), 1963

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(TA) "he - he did work from - he worked (Variation) day-light to after dark" (81). 1.3.3. Belege aus Devon sind nicht nachgewiesen. Wright vermerkt noch 1905 (§ 435 note): "The periphrastic form I do love . . . for / love, . . . is in gen. use in the south-western dialects". In EDD II findet sich unter 'do v.' II.l ein Beleg aus dem östlichen (östl.) Devon von 1853 : "Sheep da browse". 1.3.4. Belege aus Somerset sind: 1956 (TA) "If I d'get down into't" (131), 1956 (TA) "if they do see come in there" (137), 1956 (TA) "before he do get out in th'er", "they do think they don't know nothing (nsmN)" (139f.), 1975 (TA) "children ...do lob all about" (143), 1975 (TA) "Son do come out" (144), 1981 (TA) "everybody do feel better", "the freshcut lawns do look lovely", "he (sc. old blackbird) do cheer us up" (147). 1.3.4.1. In "[Is he the best you've ever had, then?] No. We if always have. We've always been lucky for that, for a good cow-dog" (140, TA, 1956) und "an old farmer . . . He did kilt Wednesdays and take it down Thursdays, you see" (144, TA, 1975) handelt es sich um das habituelle do, das Ihalainen (1976) erörtert. S. noch Harris 1986, 188-190. 1.3.4.2. Adamczewski (1982, §4.4.1) notiert Fälle wie "(1) I do remember Meredith reading aloud the passage from Plato describing Socrates's death. Very boring I thought it. Classics always did bore me", " ( 3 ) . . . Women never do know what they want when they go into a shop . . . " , "(4) Business and women never did mix" u. a., in denen die iterative Bedeutung von always und never das Setzen von do bedinge, das im übrigen nicht stark betont sei ("n'est pas porteur d'un accent fort", 97). Trotzdem interpretierten Sprecher des Engl., denen diese Beispiele vorgelegt wurden, sie als emphatisch, was darauf schließen läßt, daß nicht der iterative Charakter von always und never, sondern der emphatische Gebrauch dieser Adverbien (Adv.) do nach sich zog. Derartige Aussagen wirken nachdrücklicher als solche ohne do. Die beigegebenen Übersetzungen ins Französische bestätigen dies. Ebenso zu bewerten sind "I'll be glad when everyone believes in the only true Christ. I never did like the other one" (Punch, 29.6.1987, p. 57) und "I never did get the Fellowship" (Punch, Student Issue 1987, p. 55). Zu emphatischem never s. Quirk et al. 1985, 786.

1.3.5. Belege aus Dorset sind: 1863 (Ρ) "The treäden bargain . . . have . . . yielded fruits that be much to the good o' bwoth o' the lands that it do work upon", "Her Majesty do trust", "Her Majesty do eärnestly pray" (154), 1891 Hardy, Tess of the d'Urbervilles (P) "Y'll be fess enough, my poppet, when th'j/ ( = thou dost) know" (161), 1929 Powys, Wolf Solent (Ρ) "I bain't one o' they myself who do blame the gentry. What I do say be this . . . I do say that a man be a man while he lives" (164, weitere Nachweise 165), 1956 (TA) "They give them a few ha'pence, don't 'em when they do go to join up?" (169).

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S. noch Widén 1949, 104f. Die Transkription von do in "We do all know en very well" und "Here do come the school-master, too!" läßt emphatisches do erkennen (1.4.1.).

1.3.6. Belege aus Wiltshire sind: 1881 (Ρ) "wen thay da com out, which I da hope ya will thaseun tha zeam" (182, weitere Nachweise ebd.), 1933 (P) "Volk do seem as 'ow they be drove all the time", "varmin' do suffer zmartish droo it" (186), 1960 (TA) "they did chew 'bacco", "Now if my missus did put I whole cup o' tea", 'They do ever - never hear anybody talk about it much" (190), 1961 (TA) "these little round noffs that do tip over" (192). 1.3.7. Ein Beleg aus Bristol ist: 1979 (TA) "all the tribesmen lived up there, they did get a bit reckless now and again" (199, iterative Bedeutung ist nicht auszuschließen, s. noch Brunner 1962, 329). 1.3.8. Belege aus dem westlichen (westl.) Hampshire sind selten (s. o. 1.0.1.): 1961 (TA) "I do think that's birchwood, I should think" (213). 1.4. Aus dem in Wakelin 1986 verfügbaren Material ergibt sich, daß das nbp do von älteren, besonders ländlichen Sprechern zwar noch benutzt wird, daß aber die stspr. Bildung von Präs. und Prät. auch bei ihnen die Regel ist. Trotzdem verfehlt es seine Wirkung auf stspr. Sprecher nicht. Kevin Pilley imitiert es zusammen mit anderen Dialektmerkmalen in seinem ironisierenden Artikel Combined Harvesters in Punch, 9.9.1987, p. 13: "The men do suddenly pounce on the ladies loike what you moight say pigeons on laid barley an' everyone do get dung-faced on manky cyder . . . Tis what oi do call a ruddy waste o'toime . . . If one of they committee people do shake another tin at me . . . All in all it's all purty ( = pretty, s. Wakelin 1986, 31.3) pathetic country life at this toime o'year but you do have to (emphatisch?) smoil". 1.4.1. Eindeutig emphatisch ist do in "This house used to . . . belong to me, or us, now we've bought it. But it did belong to th' estate" (76, Cornwall 1963, TA), "Er, they do grow trees on hedges, either, you know . . . but I, I tell you what they did use to do ... they used to plant what we call skew-trees" (82, Cornwall 1979, TA), "Old blackbird . . . just sits up there to tease the cats. They can't get'n, but they do keep their eye on him", "a robin . . . He's waiting for somebody (to) do some digging, 'cause he do like the worms" (147, Somerset 1981, TA).

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2. for to-Infinitiv, for-Infinitiv 2.0. Der for to-Inf. ist nicht zu verwechseln mit stspr. Fügungen des Typs for + X + to-Inf. (s. allgemein Erdmann 1986; Seppänen 1984) wie in "MPs know it is in their own interest for there to be a degree of discipline about the place", "We can never savour the venom of the French for their collaborators, as luckily we were never in a position for ours to emerge" {Punch, 25.4.1984, pp. 17, 18), "In an effort to make clear that he did not intend for U. S. ships to be in defenseless positions, the President announced . . . " (Time, 1.6.1987, p. 8). Sie können durch in order verstärkt werden: "In order for his system to provide for the continuities in communicative behavior . . . it is essential that goaldirected behavior not necessarily imply volitional control" (William O. Dingwall, Human Communicative Behavior: A Biological Model, Die Neueren Sprachen 77 (1978), 274). 2.0.1. Zur Geschichte der im heutigen Engl, außerordentlich beliebten Konstruktion for + X + to-Inf. s. Visser 1984, II.§§ 906, 914, 922, 937, 945, 952, 961; 1984, III.2.§ 2064. Fügungen, in denen for nicht zu einem Adjektiv (Adj.) ("It was easy for him to overcome the difficulties"), Adv. ("The boys ran too fast for Joan to catch them"), Subst. ("This is no place for you to live in") oder Verb ("She was longing for him to say something") gehören kann, sind im Spätmittelengl. und in der 1. Hälfte des 16. Jhs. selten, werden jedoch in der 2. Hälfte des 16. Jhs. häufiger und bilden den Grundstein für die vielfältige Verwendung dieser Konstruktion im modernen Engl. Man vergleiche ca. 1400 "Course of kynde is for youthe to be wilde" und 1960 "the present tendency is for dramatists to get as far away as possible . . ." (s. Visser 1984, I.§ 290.5 bzw. 1984, II.§ 922) sowie 1567 "For the Emperour to be the Supreme Gouernour . . . it appeareth most plain . . ." (s. Visser 1984, II.§ 906) und die Belege in 2.0. oben.

2.1. Der for to-Inf. ist in der Absicht/Zweck ausdrückenden Variante for to + flektierte Form des Inf. erstmals in der 2. Hälfte des 9. Jhs. nachgewiesen, die aber alt- und mittelengl. nur spärlich vorkommt. 2.1.1. Belege sind: altengl. "in aelf)eodignesse lifde, for öam ecan e}jle in heofonum to begitanne", mittelengl. ca. 1225 "god wule . . . 3iuen ou liht . . . uorto iseonne & to icnowen (Variation mit dem später stspr. to-Inf)" (s. Visser 1984, II.§ 949), frühneuengl. 1548 "Men that enforce theim for to doen" (s. OED 'do v.' A.lb). 2.2. Die Konstruktion mit der nicht-flektierten Form des Inf. datiert von 1066 und drückt ebenfalls Absicht/Zweck aus. Sie nimmt im 12./13. Jh. frequenzmäßig stark zu, was zur Folge hat, daß for to zum bloßen Inf.-Kennzeichen verblassen kann. Dies verdeutlichen nicht zuletzt Belege aus den Werken Geoffrey Chaucers (2. Hälfte 14. Jh.), in denen for oft aus metrischen Gründen als Zeilenfüller fungiert.

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S. dazu noch Belege in OED 'for' I V . l l b und Visser 1984, II.§§ 904, 909, 920 u. a.

Spätmittel- und frühneuengl. festigte sich die Position des to-Infder den for to-Inf. ablöst. Dieser wird zwar frühneuengl. noch gebraucht, im 18. Jh. aber endgültig durch den to-Inf. ersetzt. Nachweise aus dem 18./19. Jh. sind als umgangssprachlich bis dialektal zu bewerten. Dialektal hält sich der for to-Inf. neben dem stspr. to-Inf. in England vorzugsweise in den nordhumbrischen Gebieten und im Süden von Kent bis zum mittleren Devon, in Schottland, in Irland und in dem auf dem Irischen Engl, basierenden Dialekt des Ottawa Valley (Carroll 1983, 416 note 3) sowie im Ozark English, in dem sich eher, wie sonst im Southern American English, das stspr. Engl, des 17. Jhs. und Dialektformen aus dem SW Englands erhalten haben (Brooks 1971, 136; Randolph/Sankee 1930). Zum for to-Inf. in den North Central States bemerken McDavid/McDavid (1971, 354), es seien "the less sophisticated speakers who use such forms as 'he came over for to tell me'". Die nachstehenden Belege dokumentieren die Verteilung des for toInf. ohne Berücksichtigung von Semantik (s. o.) und Syntax (2.4.). 2.2.1. Belege aus England sind: 2.2.1.1. spätaltengl. 1066 "And ich bidde eou alle JJ ge bien hym on fultume at t>ys cristendome Godes yerichtten for to setten 7 to driuen (Variation mit to-Inf.)" (Mitchell 1985, I.§ 921). 2.2.1.2. mittelengl. ca. 1225 Ancrene Riwle " . . . ase me deö ojje })eoue ¡jet me let forte demen (passivisch)", ca. 1250 Genesis and Exodus "And bad him cumen for to don fole of ysrael his cursing", ca. 1338 Robert Mannyng "Corineus was go for to chace Venison", ca. 1380 Pearl "... me for to mate . . .", ca. 1400 Mandeville "as a swin J>at is fedd in sty for to be made fatte", ca. 1449 Pecock "Forte meete a3ens the firste . . . opinioun, and forto unroote and updrawe it" (s. Visser 1984, II.§ 949), Paston Letters (Davis 1971) 1467 " f o r to arest the sayd felaws for syche ryot, and to bring (Variation) hem to the next preson" (61), 1472 "parte to geve (Variation) to my yonger brethyrn . . . part for to make hyr ile at Mawtby, parte for a prest to syng for hyr (for + X + to-Inf., s. o. 2.0.1.)" (93). Den Werken Chaucers (Skeat 1962) sind u. a. entnommen: "But for to teilen yow of his array", "And wente for to doon his pilgrimage", "But, for to speken of hir conscience" (420), "The goute lette hir nothing for to daunce", "Sevene hennes, for to doon al his plesaunce" (543).

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Belege wie nordhumbrisch " f o r till be myne underloute" (ca. 1300, Cursor Mundi, s. Mustanoja 1960, 515) und schottisch " f o r till her" (1375, Barbour, Bruce, s. Kaiser 1961, 393) zeigen den Ersatz von to durch das aus dem Nordhumbrischen des 10. Jhs. stammende till, das heute noch in Caithness existiert (s. OED 'till prep, etc.' III.6, CSD 'till' 1.3, SND IX 'till prep, etc.'; zum Irischen Engl. s. Taniguchi 1972, §51.10). Weitere Belege aus dem Mittelengl. s. MED V 'forto'. 2.2.1.3. frühneuengl. 1523 Lord Berners "they wolde mete hym . . . for logo over the see", 1590 Shakespeare "Here are the angels that you sent for to deliver you" (s. Visser 1984, II.§ 950), 1635-36 Sir Thomas Browne "I was born in the eighth Climate, but seem for to be framed and constelled unto all" (s. Visser 1978, III.1.§ 1254 p. 1371). 2.2.1.4. Late Modern English (18./19. Jh.) 1749 Fielding "I will claw any villain's eyes out who dares for to offer to presume for to say the least word to the contrary" (s. Visser 1978, III.1.§ 1358), 1849-50 Dickens " H e got me t h e m papers as I wanted fur to curry me through", "Em'ly, my dear, I am come furto bring fo'giveness" (s. Poutsma 1929,1.2.783). Zum 18. Jh. s. noch OED 'for' IV.ll. Die Belege sind als umgangssprachlich bis dialektal einzustufen (2.2.). Dialektal sind "Aa've a good mind for to gie ye a caation" (Northumberland), "What's best fur to dew?' (Leicestershire), "No beer or brandy, Sir, I want my courage for to rise" (Dorset), "I'm going to town for to buy my marketings" (Cornwall) (s. EDD II 'for' 7, im nordöstl. Yorkshire "commonly used"). 2.2.1.5. 20. Jh. (dialektal), nachgewiesen in SED 1.3 The Six Northern Counties and the Isle of Man § IX.5.9 (1953) für Northumberland, Durham, Westmorland, Lancashire, Yorkshire (vgl. "For to kill a pig?" in Melchers 1972,11.16), Isle of Man (nicht f ü r Cumberland), in SED II.3 The West Midland Counties § IX.5.9 (1953) f ü r Cheshire, Derbyshire, Staffordshire (nicht f ü r die restlichen Counties, s. o. 2.2.), in SED III.3 The East Midland Counties and East Anglia § IX.5.9 (1953) nur f ü r Lincolnshire, nicht f ü r die restlichen Counties (s. o. 2.2.), in SED IV.3 The Southern Counties § IX.5.9 (1953) f ü r Somerset, Wiltshire, Surrey, Kent, Devon, Dorset, Hampshire, Sussex (nicht f ü r Berkshire und Cornwall, s. o. 2.2.). In Wakelin 1986 finden sich: f ü r Cornwall 1963 (TA) "the time don't look very long forto look back on" (77), Devon 1973 (P) "'er did'n want ver to gaw traipsin' roun' the Shaw" (99), Somerset 1964 (TA) "some nice sticks forto lay down" (134), 1975 (TA) "forto feed the pigs" (142).

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Zum Londoner Cockney vermerkt Matthews (1970,198): "Infinitives are sometimes prefaced by 'for', although this practice is not very common", ζ. B. "What I want for to know". 2.2.2. Belege aus Schottland sind: 1375 Barbour " f o r till her" (s. o. 2.2.1.2.), 1535 Stewart "This Edifrid and Brudeus also, Postponid hes to battell for till go" (s. Visser 1978, III. 1.1369), 1710 "I love for to do good . . . I gave him a pen for till write with", 1847 "Then the lasses began to the barn for to thrang", 1947 "That bit was absolutely askin' fur to be laid there" (s. SND IV 'for' 1.2). Zu Glasgow stellt Macafee (1983, 50f.) fest: "Infinitival complements are often introduced by for to, especially when intention is expressed". 2.2.3. In Irland sind belegt: "He went up the street for to buy a paper" (Harris 1984, 131), "he went home for to see his mother", "He bought some brushes for to paint the room", "I went to the shop for to buy some sweets", "This hammer is for to hit it with" (s. Milroy 1981, 2,7,15); Taniguchi (1972, 99) nennt "For to tell you the truth . . . " (G. A. Birmingham), "Didn't I borrow four hundred pounds from your son there for to build 'em" (O'Faoláin), " . . . he wud be delighted for to convoy me a piece . . . " (Kipling, imitiert, s. 395.11 und 396). In einer Erhebung unter Belfaster Schülern stellten Finlay/McTear fest, daß der for to-Inf. in Aussagen wie "I went for to see him" zwar von Kindern der Arbeiter-, nicht aber von solchen der Mittelschicht verwendet wird (1986, 176.10 bzw. 177 table 1). 2.2.4. Belege aus dem Ottawa Valley sind u. a. "I am here for to fish ; I went for to get cigarettes; I am happy for to get new business; These things are for to read (passivisch)", solche aus den Ozarks "I bought some pizza for to serve at the party; They paid for to send their children" (s. Carroll 1983, 424.22, 446.63). Randolph/Sankee (1930, 268f.) bemerken: "The interpolated for before an infinitive is characteristic of the Ozark syntax, but the same thing is found in many Elizabethan plays and poems". 2.2.5. Aus der amerikanischen Literatur verzeichnet Kirchner (1970, § 123.1) zur Charakterisierung volkstümlicher Sprecher z. B. aus Mark Twain "all of us so put to it for to get along", Sinclair Lewis "we still have the real wonder of the Institute for to behold", Erskine' Caldwell " . . . it was a sin and a shame for to take my husband's money . . . " . 2.3. Der for-Inf. ist in erheblich geringerem Umfang bewahrt als der for to-Inf., in England insbesondere im nördl. Cheshire, nordwestl. Devon und in Cornwall ( L A E S 3), in den USA in South Carolina und

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im Georgia Low-Country, wo er von "old-fashioned, rustic, poorly educated speakers" gebraucht werde und "current in Negro speech, occasionally in old-fashioned white speech" sei, so "he came over for tell me" (s. McDavid 1958, 513, 525 und oben 2.2. zum Southern American English). Er ist seit der 2. Hälfte des 12. Jhs. nachgewiesen, erreicht jedoch im Mittelengl. bei weitem nicht die Frequenz des for to-Inf. Der letzte in Visser 1984, 11.1033 aufgeführte Beleg datiert von ca. 1462. In der Folgezeit muß der for-Inf. in Dialekten weitergelebt haben. Belege aus dem 19. Jh. finden sich in EDD II 'for' 6. Wie der for to-Inf. drückt der for-Inf. Absicht/Zweck aus; for kann aber auch zum bloßen Inf.-Kennzeichen werden wie in mittelengl. "hi gunne for ariue" (ca. 1300 King Horn, s. Visser 1978, III.1.1380) oder dialektalem "he 'ont be able vor come to-night" (westl. Somerset, EDD II 'for' 6). In Visser 1984, 11.1033 ist "arise" durch "ariue" zu ersetzen.

Semantik und Syntax bleiben in den folgenden Nachweisen außer Betracht. 2.3.1. Belege sind u. a.: 2.3.1.1. mittelengl. ca. 1175 Poema Morale (Lewin 1881) "J)e fce here deö eni god forhabbe godes are" (Ζ. 53), "Ne brecö neure eft Crist helle dure for lesen hi of bende" (Ζ. 182), "Ne seal neure eft Crist jDolie deö for lesen hi of deöe" (Ζ. 184), ca. 1205 Layamon "ich aem icumen j^e {jus naeh . . . for suggen joe übende", ca. 1250 Owl and Nightingale " Ich singe for lutli", ca. 1300 King Horn "wel feor icome . . . for fissen", ca. 1460 Towneley Plays "I thynk all dysdayn f f o r daunche", ca. 1462 Stonor Letters "Thomas Hörne bethe come uppe to London a fote, for make labour ayenst me" (s. Visser 1984, II.1032f.). S. noch MED V 'for' 5b(a).

2.3.1.2. 19. Jh. "The whilright's here for mend th'cart" (südl. Cheshire), "Maister zend me down vor tell ee, how he 'ont be able vor come tonight" (westl. Somerset), "We'me cruel glad vor zee" (nördl. Devon). S. EDD II 'for' 6.

2.3.1.3. Im SED ist der for-Inf. aufgeführt für Sulgrave im südwestl. Northamptonshire (III.3 § IX.5.9 p. 1280), jedoch nicht für die anderen East Midland Counties und East Anglia (s. o. 2.3.), in den West Midland Counties für Cheshire, Derbyshire, Staffordshire, nicht für die anderen sieben Counties ( S E D II.3 § IX.5.9) (s. o. 2.3.), in den Southern

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Counties für Wiltshire, Cornwall, Devon, Dorset, Hampshire, nicht für Somerset, Berkshire, Surrey, Kent, Sussex ( S E D IV.3 § IX.5.9). Wakelin 1986 belegt für Cornwall 1963 (TA) "if there was any milking for do (passivisch)" (72), "they used to spin rope, years ago, for keep the thatch on the ricks" (73); nicht eindeutig ist "Yes, s'long 's you('ve) got a reed for (to) keep adding to it" (ebd.), für Somerset 1975 (TA) "everybody was after . . . me after that for kill their pigs" (145). Fraglich ist, ob for die reduzierte Form von for to ist, wie Wakelin (1986, 38.9) für den Süden Englands postuliert. 2.4. Vor allem der for-Inf. ist charakteristisch für ältere, meist rurale Sprecher (s. etwa die Angaben zu den Informanten in SED Introduction § 1.5 und in Wakelin 1986 sowie oben 2.3.). for- und for to-Inf. sind aber zunehmend dem Druck des to-Inf. ausgesetzt, der dialektal wie schon in den älteren Sprachstufen weitaus häufiger ist. Randolph/Sankee (1930a, 430) drücken dies mit Bezug auf das Ozark English so aus: "Anybody who wishes to study the Ozark dialect had best be about it immediately, however, for the old folk-speech is already disappearing before the advance-guard of tourists and summercolonists, and a few more years will find the hillmen talking the standard vulgate of the United States in general", eine Aussage, die sich auf andere dialektale Varietäten des Engl, übertragen läßt. Man vergleiche Wakelin (1986,3): "Agriculture and tourism, the mainstays of the regional economy . . . " . Hinzu kommen zumindest für den for to-Inf. syntaktische Restriktionen, die eine grundsätzliche Austauschbarkeit mit dem to-Inf. nicht zulassen. Milroy stellt (1981,15) für Belfast fest: "It appears that the grammar of the dialect does not allow for to after certain verbs, such as verbs of wishing or liking. Thus (a) I like for to go there, (b) I want for to do that, are apparently ungrammatical (i. e. they would not occur in the speech of a good dialect speaker)". Zu syntaktischen Restriktionen im Ottawa Valley English und im Ozark English s. Carroll 1983. In diesen Dialekten ist eine Aussage wie "Mary wants for to leave" (416) grammatisch, ebenso in Devon: "'er did'n want ver to gaw ..." (s. o. 2.2.1.5.). Diese Restriktionen bedeuten, gemessen am Mittel- und Frühneuengl., eine starke Einschränkung. In diesen Sprachstufen ist die Variation zwischen for to- und to-Inf. weniger restriktiv, wie aus zahlreichen Belegen hervorgeht. S. dazu Visser 1978, III.1.§ 1177ff„ vgl. auch 1984, I.§ 290; 1984, Il.ch. 8.

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Ähnlich verhält es sich mit dem for-Inf Doch lassen die relativ seltenen mittelengl. Belege und die noch spärlicheren Nachweise aus neuerer Zeit Vergleiche, wie sie für den for to-lnf. angestellt wurden, nur sehr bedingt zu. Es ist damit zu rechnen, daß er früher außer Gebrauch kommt als der for to-lnf.

3. mehrfache Negation (mN) und Negation mit 'never' 3.0. Typisch für die nicht-stspr. mehrfache Negation (nsmN), auch als negative concord bezeichnet, die unserem Verständnis nach die doppelte Negation einschließt (s. noch Edwards/Weltens 1985, 106 § 4.1.1), ist, daß eine derartige Aussage negiert bleibt, während die mN stspr. der im Lateinischen gültigen Regel duplex negatio est affirmatio gemäß ins positive Gegenteil verkehrt wird, wie "Not many people have nowhere to live = Most people have somewhere to live" (s. Quirk et al. 1985, § 10.70, s. auch LaBrum 1984, 125ff.). Die nsmN kann zwar varietätenabhängig Restriktionen unterliegen, s. etwa Cheshire 1982, 64, mit Bezug auf die soziourbane Teilvarietät Reading English, Feagin 1979, 228, in bezug auf das nicht-stspr. Alabama English, ist aber außerordentlich weit verbreitet und wird von allen Altersklassen gebraucht. Die australische Stewardeß mit ihrem für den Engländer Alistair Sampson "quite incomprehensible Australian accent" ist sich wohl kaum bewußt, daß sie sich nicht-stspr. ausdrückt, als sie ihm antwortet: "Nar - it ain't nothing like that, Buster" (.Punch, 9.9.1987, p. 48). Demgegenüber ist die Negation mit never erheblich eingeschränkt (zu England etwa s. LA E S 9). Nicht-stspr. Varietäten kennen daneben die stspr. Negation, so daß die genannten Negationsarten mehr oder weniger als Varianten zu verstehen sind, was schon für die älteren Sprachstufen gilt. Man vergleiche beispielsweise aus dem Black English von ein und derselben Sprecherin: "No. I don't want anybody to die in my family" (stspr.) und 'They ain't nobody died in my family" (nicht-stspr.) (s. Labov 1972, 184f.) sowie aus dem Altengl. "Ne sceal nan preost his cyrican forlaetan" (Aelfric, mN) und "And we lxraö Jjaet as nig preost ne foriate t>a circan" (Wulfstan, einfache Negation) (s. LaBrum 1984, 161, s. noch Mitchell 1985, I.§ 1599ff.). Andererseits können die Vorläufer der modernen nsmN mindestens ebenso komplex sein wie diese selbst. Zum Vergleich : Alabama English "You didn have no money to pay nobody to do nothin' for ye" (s. Feagin 1979, 228.46), Early Black English "You don't know nobody

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what don't want to hire nobody to do nothin', does you?" (Schneider 1981, 210.131), Dickens "all he (sc. the butler) hopes is, he may never hear of no foreigner never boning nothing out of no travelling chariot" (Jespersen 1966, 66), Shakespeare "I haue one heart, one bosome, and one truth, And that no woman has, nor neuer none Shall mistris be of it, saue I alone" (ebd., 65), Chaucer "He neuere no vileynye ne seyde In al his lyf unto no maner wight" (ebd., 65), König Alfred (2. Hälfte 9. Jh.) "nan heort ne onscunode nanne leon, ne nan hara nanne hund, ne nan neat nyste nanne andan ne nanne ege to oörum" (s. Mitchell 1985, I.§ 1604). 3.1. mN ist im Alt- und Mittelengl. häufig anzutreffen, geht jedoch im Frühneuengl. frequenzmäßig stark zurück und gilt nach dem 17. Jh. als dialektal und nicht-stspr. Die folgenden Belege sollen die Vielfalt dieser Erscheinung, die emphatisch sein kann, aber nicht zu sein braucht, veranschaulichen. Das Merkmal ± emphatisch, das in geschriebenen Texten ohnehin nur schwer zu erfassen ist, bleibt ebenso außer Betracht wie die syntaktischen Kategorien, die Labov (1972, 145ff.) für die nsmN aufgestellt hat. 3.1.1. Einige Belege aus dem Altengl. sind: Anglo-Saxon-Chronicle I 755 "Ond hiera na nig hit gejricgean nolde .. . J>a cuasdon hie jsaet him nanig maeg leofra nare Jronne hiera hlaford, ond hie nafre his banan folgian noldon" (Kaiser 1961, 18), 896 " Naron nawder ne on Fresisc gescaepene ne on Denise" (ebd., 23), Old English Laws "Leases monnes word ne ree öu no {œs to gehieranne, ne his domas ne geöafa öu, ne nane gewitnesse aefter him ne saga öu. Ne wend öu öe no on J>aes folees unraed" (ebd., 27). Weitere Belege s. Mitchell 1985, I.§ 1604ff.

3.1.2. Aus dem Mittelengl. stammen u. a.: 2. Hälfte 12. Jh. Cotton Vespasian Homily "Gif non of him ne spece non hine ne lufede. Gif non hine ne lufede non to him ne come, ne delende nare of his eadinesse, nof his merhöe", "3efestnede se aelmihti god Jja nigen angle wasrod . . . swa {)at hi nefre ne mihten ne noldan ... fram his wille 3ebugon; ne hi mugen ne hi nelled nane synne 3ewercon" (Kaiser 1961, 177), ca. 1225 Ancrene Riwle "Eresie ne rixleö nout in Englelond", "jjet is, 3if he nolde siggen non vuel bi non oöer" (ebd., 193), 2. Hälfte 14. Jh. Chaucer "Ther nis planete in firmament,/ Ne in air, ne in erthe, noon element", " N e say noght so" (Skeat 1962, 90), "Hit η as no game" (ebd., 95), "I ne say not this be me, for I ne can/Do no servyse", "So gentil plee in love or other thing/Ne herde never no man me beforn" (ebd., 107), 2. Hälfte 15. Jh. Paston Letters 1449 "trust hem not, ne ete

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not nere drynk with hem" (Davis 1971, 14), 1461 "He is not takyn as non of that howse, fore the cokys be not charged to serve hym, nore the sewere to gyve him no dyche; fore the sewere wyll not take no men no dischys . . . he is not aqueyntyd wyth nobody but wyth Wekys" (ebd., 32). 3.1.3. Frühneuengl. Belege sind u. a.: 1551 More "they never make none (sc. leagues) with anye nación" (s. Jespersen 1966, 65), Shakespeare "I cannot go no further; There's never none of these demure boys come to any proof; it is no addition to her wit, nor no great argument of her folly" (s. Franz 1939, § 410 p. 345, s. noch Singh 1973). 3.1.4. In der Literatur des 19./20. Jhs. finden sich (dialektal, nicht-stspr.) z. B.: Dickens " N o b o d y never went and hinted no such a thing, said Peggotty", Thackeray "We never thought of nothing wrong", George Eliot "There was ni ver nobody else gen ( = gave) me nothin "', Herrick "there won't be no hung jury". S. Jespersen 1966, 66. Aus dem Londoner Cockney des 19. Jhs. sind belegt: "I have nothing to say about nobody that ain Ί no customers", "They doesn 't care no think for nobody" (s. Matthews 1970, 190). In Wakelin 1986 trifft man dialektliterarisch im SW Englands auf: Cornwall 1846 "I'll never no more be so baled" (62), Devon 1930 "I did'η zee no other hope fer't" (97), 1973 "My Gar, you ni wer zeed nort like it" (99), Somerset 1979 "but 'twarn't no gude" (126), 1930 (1981) "Zeein' we, just now 'n' agen, can't do no harm" (129), Dorset 1879 "I .../... ben't afeärd o' noo man's feäce" (155), Wiltshire 1881 "Ya rich . . ./Dwon't 'ee look down . . ,/Apon the poor . . . / N a r nevir their 'ard lots deride" (183). 3.1.5. Trudgill (1984, 35.10) notiert allgemein nicht-stspr. Fälle wie "He didn't want no supper; I couldn't find none nowhere", Cheshire (1982, 63f. § 5.2f.) für den Stadtdialekt von Reading u. a. "It ain't got no pedigree or nothing·, I wouldn't let him touch me nowhere-, I can't remember her address no more", Wright (1981, 122) für das Londoner Cockney "She didn't take no notice; They never 'ave noffink\ I ain't got none\ I never done it nohow, We wouldn't never let 'im, not in yer life" (s. noch Matthews 1970, 189f., 214, mit Belegen bis zurück zum 16. Jh.). Den TA in Wakelin 1986 aus dem SW Englands entstammen: Cornwall 1963 "and I dropped the bat then and wouldn't go out no more" (77), Devon 1981 "'come on,' he said, 'nobody won't see 'ee'" (105), 1981

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"(us) haven't got no wireless here" (107), Somerset 1956 "No, not a soul about, nor nothing else" (131), 1956 "You'd never hear him never say 'No thank you,' . . ." (137), 1956 "they do think (nbp do) they don't know nothing" (140), Dorset 1956 "Tain't no good for 'em bother by he", "I bain't no jibber", "Never give I nothing" (169), Wiltshire 1984 "Yes - never had no lights in the street" (196), Bristol 1979 "Oh no, they never had no armies then . . . It (sc. India) wasn't broke up nor nothing else" (199), Avon 1956 "Hastn't got none (sc. tobacco), farmer? 'No,' a said, Ί haven't,' he said. 'We haven't got any money to buy none"' (204). In Melchers 1972, II (West Riding von Yorkshire) finden sich: "He never lives nowhere, just exists yet" (28), "they couldn't see nobody" (117), "you can't read nought like that in books, you know" (144). 3.1.6. Im Walisischen Engl, ist nsmN wie in "I haven't been nowhere" nach Thomas 1985, 218, häufig. In 1984, 189.1, weist er "I 'aven't done no thin'·, I 'aven't seen no-one" nach. Im Wenglish (aus Welsh + English), einer regionalen Teilvarietät des Walisischen Engl., die in den südwalisischen Tälern Swansea, Rhondda, Rhymny und Newport gesprochen wird, kommen vor "If 'e don't take no notice" (s. Edwards 1985, 35), "'e don't say boo nor bah to nothin'", "She 'aven't done nothin' to deserve that", "Don't never pay any attention to 'im" (s. Edwards 1986, 19, 27, 30). 3.1.7. Zum Irischen Engl, bemerkt Taniguchi (1972, § 34.1): "In Ireland, this practice of using the double negative is still dialectally alive, but not so popular as it is in the United States". Belege sind u. a. '"No, ye don't know nothing,' wailed Mrs. Davin" (O'Flaherty), "All this time Harry never gave me no hail" (Banim) (ebd.), "No sir! I never told you no lie - not never!" (Walsh) (§ 34.1 A). Die Belfaster Erhebung von Finlay/McTear ergab für die nsmN in Aussagen wie "I didn't feel nothing", daß sie sowohl von Schülern aus der Arbeiter- als auch von solchen aus der Mittelschicht verwendet wird (1986, 176.4 bzw. 177 table 1), von Mädchen aus der Mittelschicht sogar erheblich öfter als von Mädchen aus der Arbeiterschicht, während sie bei Jungen aus der Mittelschicht im Gegensatz zu denen aus der Arbeiterschicht nicht auftritt. 3.1.8. Für das Schottische Engl, belegt Sabban 1982 u. a. "I'm no (s. 3.1.8.1.) going to do nothing with them; I'm no doing nothing" (344), "we couldn't get nothing for it; they doesn't do no cultivating" (345), "none of them couldn't do anything" (347). Speziell für Glasgow gibt Macafee 1983 an beispielsweise "She says, 'Ah'm no entering nothin like that'" (65, TA), "Don't answer nothin

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incriminatili, says the s h e r i f f ' (138, Edmund Morgan, Stobhill, Mulrine 1985, 230).

s. auch

S. noch Macafee 1983, 47.2,4 und 48.8. Zur Auffassung, in "(4) He isnae (s. 3.1.8.1.) still no working" liege keine mN im üblichen Sinne vor, "since these negatives are not mutually reinforcing", s. o. 3.1. 3.1.8.1. Das im Schottischen Engl, geläufige no steht für isoliertes not, vgl. "Oh hell, no it's no. Believe me or believe me no ...", aber "I don't believe them really" (s. Macafee 1983, 124). Dieses no erscheint in der Schreibung gelegentlich als no': "Ah'm no' comin' oot the noo" (128). Zur Herkunft und Verbreitung von no s. Sabban 1982, 314-321. Zu -nae, -na, -ny s. Aitken 1984, 104; Murison 1980, 40. 3.1.9. Labov 1972 verzeichnet für das Black English, das eine hohe Frequenz an n s m N besitzt, u. a. "Once you get an even break, don't fuck it up, cause you might not never get no time see 'im again" (178.100), "I ain't never had no trouble with none of 'em", "You better not never steal nothin' f r o m me" (179.101f.), "I didn't know nothin' about the people; or nothin"' (180.114), " D o n ' t no average motherfucker make no fifty dollars a day" (187.133), " A i n ' t nobody know about no club" (188.140). S. weitere Belege etwa in Baugh 1983, 83; Wolfram 1969, §5.2; Wolfram/Fasold 1974, 162-167. In der Literatur ist n s m N ein beliebtes Mittel, u m schwarze Sprecherinnen/Sprecher zu charakterisieren. In dem in Montgomery, Alabama, spielenden R o m a n Southern Discomfort von Rita Mae Brown (Toronto etc., Bantam Books, 3 1983) liest m a n : "Hercules held the book. T i l read it and return it next Friday.' 'She didn't say nothing about giving it back'" (19), ' T h o s e wicked women just don't seem to want no parts of the Lord" (20). 3.1.9.1. Wie im schriftlichen Code anderer nicht-stspr. Varietäten ist im geschriebenen Black English n s m N selten. Shores (1977, 182) hat "Others don't believe in nothing·, a Negro lady wasn't no more·, God didn't make no two alike". 3.1.9.2. Daß nsmN wie andere sprachliche Phänomene auf entsprechenden stspr. oder nicht mehr stspr. Erscheinungen des Frühneuengl. und des Late Modern English fußen, wird von den Kreolisten bestritten. Birmingham (1980, 337f.) vermutet wegen der Ähnlichkeit mit Papiamentu, einer in der Karibik gesprochenen, wahrscheinlich afro-portugiesischen Kreolsprache (ebd., 335f.), als Grundlage ein auf dem Portugiesischen basierendes Pidgin. Dem widersprechen vor allem die von Schneider (1981, 208ff.) vorgelegten Ergebnisse zur Häufigkeit der n s m N im f r ü h e n Black Eng-

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lish. Berücksichtigt man dazu die bereits in älteren Sprachstufen des Engl, vorhandene Komplexität der mN (s. ο. 3.O.), ist durchaus davon auszugehen, daß nsmN im Black English vom Engl, der frühen Siedler beeinflußt ist (s. noch Feagin 1979, § 9.4.3-9.6). Weiße Sprecher haben nsmN ebenfalls bewahrt (s. die folgenden Abschnitte). Zur Frage Kreolisten vs. Dialektologen und zur Behandlung des daraus für die modernen Sprachstände entstandenen Divergenzproblems s. den knappen, aber informativen Überblick in Feagin 1979, § 1.1.Iff. S. auch allgemein Hellinger 1985.

3.1.10. Von weißen Sprechern wird nsmN weniger oft gebraucht als von schwarzen. Sie ist optional, was für das Black English in weitaus geringerem Maße zutrifft. S. Feagin 1979, 23 Iff.; Wolfram/Christian 1976, 114f„ sowie Labov 1972, 177f.

3.1.10.1. Feagin 1979 bezeugt für das Alabama English u. a. "We wadn doin' nothin'" (212.14), "I sent er a wedding present twice and I ain't never heard from it" (217.37), "And they didn't whip her; they didn't do nothin'Γ, "That's cause you don't never say nothin'" (228.42,45), "I don't eat no biscuit", "We ain't never really had no tornadoes in this area here that I don't remember" (229.51, 58), "They don't none of our boys go in for stuff like that", "They didn't nobody like him", "An' they come outta there screamin' and nobody didn' do nothin' about it" (241.132, 136, 138). 3.1.10.2. Aus dem Appalachian English vermerken Wolfram/Christian 1976 ζ. B. "They don't have no work in winter; They didn't see no baby, you know, didn't see none nowhere" (109.84a, d), " N o b o d y wouldn't say nothin' about it" (112.86e), "Tell 'em I ain't never believed in 'em" (114.88c). In einem Bericht über The People of Cumberland Gap, Kentucky, heißt es: "They don't care for pride no more ... Long as I'm able to work, I don't want nobody to give me nothin'", "Why, I wouldn't have in mind calling no names" (National Geographic 140, May 1971, 596f.). 3.1.11. nsmN ist auch im Deutschen ein bekanntes Phänomen. Wie im Engl, hat es seinen Ursprung in den älteren Sprachstufen. Es ist im Althochdeutschen ebenso belegt wie im Altsächsischen. Man vergleiche "nist niaman thero friunto", "Thoh ni was giwisso er arzat niheiner" bzw. "Ne ic gio mannes ni uuarò/uuìs an minera uueroldi" (s. Coombs 1976, 90.9, 32 bzw. 132.7). Für das Gotische und das Altisländische wird nur je ein Nachweis erbracht (ebd., 239).

3.2. Das eine einmalige Situation negierende never ist stspr. selten und augenscheinlich auf wenige Kontexte beschränkt (s. DCE 'never' 2-4;

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Sabban 1982, 330). Für Quirk et al. (1985, 786) ist es stets emphatisch und offenbar stigmatisiert: "Never itself may serve for some as an emphatic informal negative in denials: (?) I never stayed there last night. [Ί certainly didn't stay there last night']". Daß dieses never keineswegs nur emphatisch und auch nicht unbedingt stigmatisiert ist, zeigt ein Beleg aus dem Roman Southern Discomfort von Rita Mae Brown (s. o. 3.1.9.): "A low white fence tempted her. She soared over it only to collide with Hercules Jinks . . . Hercules, knocked flat, never saw what hit h i m . . . " (16). Zu ± emphatisch s. noch Sabban 1982, 332.

Nicht-stspr. und dialektal existiert dieser Gebrauch von never neben den geläufigeren stspr. Negationstypen in England, Schottland und Irland. 3.2.0. iNever kann offensichtlich schon im Altengl. die Bedeutung 'not' haben. Dies legt ein Beleg aus der Anglo-Saxon Chronicle nahe. Der Eintrag für das Jahr 409 liest sich im Parker-Manuskript "Her Gotan abraecon Romeburg, 7 nœfre sicari Romane ne (mN) ricsodon on Bretone", im Laud-Manuskript "Siööan ofer }) ne rixodon leng Romana cinigas on Brytene" (Plummer 1952, 10f.). Die Übersetzung von Garmonsway (1982, 10), "and never afterwards did the Romans rule in Britain", läßt sich von der sonst üblichen Bedeutung des altengl. nafre ,nie(mals)' leiten.

Der nach MED IX 'never' 2a früheste mittelengl. Beleg aus den Lambeth Homilies (2. Hälfte 12. Jh.) ist ebensowenig eindeutig wie andere Textstellen ebd. und in Visser 1978, III. 1. § 1439 p. 1531, in denen never auch als ,nie(mals)' interpretiert werden kann: "J)u forwuröest.. . and l?u nast neure (mN) hwenne", wörtlich „Du gehst zugrunde/stirbst, und du weißt nicht nicht/nie wann". Einige sichere Nachweise sind: 13. Jh. "Ne sculen we nauœre (mN) here liggen", "Neauer nuten (mN) ha of ]seos twa hweöer ham Jjuncheö wurse", 14. Jh. "Alle his wies were went, ne wist he neuer (mN) whider", "})e peple of Rome hotef) . .. ]se J)at jjou nevere passe {ois cercle", 15. Jh. "I cannot answere ]Dee bot J>us : Ί wote neuer'", "Lat neuer JJÍS lawles ledis lau3 at his harmys" (s. MED IX 'never' 2a). Die oben vorgebrachte Einschränkung hinsichtlich der Eindeutigkeit gilt ebenso für spätere Belege (s. solche in Visser 1978, III.1.§ 1439 p. 1531 f.). Eindeutig sind z. B. aus Shakespeare "Hath your Grace ne'er a brother like you?", "never a woman in Windsor knows more of Anne's mind than I do", "an old trot with ne'er a tooth in her head" (s. Franz

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1939, 245 - in den beiden vorhergehenden Belegen wird ein Subst. negiert) und "Nay, never paint me now", "Then never dream of infancy, but go" (ebd., § 407). 3.2.1. In engl. Dialekten ist dieses never laut SED bezeugt in Yorkshire (1.3 § IX.5.5, vgl. aus Melchers 1972, II "He never lives nowhere (nsmN), just exists yet" (28), "tha never used to feed it (sc. the pig) the night afore" (34), "and then they used to lake at what's it they call it, cause you never see 'em lake now, Knur and Spel, didn't they" (112), "I were very religious at this time . . . I could never be Orthodox" (130) ), Cheshire, Staffordshire, Monmouthshire, Gloucestershire, Oxfordshire (II.3 § IX.5.5), Leicestershire, Norfolk, Suffolk, Buckinghamshire, Essex (III.3 § IX.5.5), Somerset, Wiltshire, Kent, Dorset, Hampshire (IV.3 § IX.5.5). Nach Franklyn (1953, 265) ist never für did not "deep-seated in the cockney idiom", z. B. ""Arry - you broke my screw-driver!' 'No, I neverF", "Jack never went there on Monday". Aus der Anzahl der Nachweise ist zu schließen, daß die Häufigkeit von Norden nach Süden zunimmt. 3.2.1.1. In SED IV (a. a. O.) ist für Berkshire kein Beleg verzeichnet, doch notiert Cheshire (1982) für Reading von 9 bis 17jährigen aus der Arbeiterschicht Äußerungen wie "I never went to school today", "I never said 'football', I said 'fall over'" (§ 5.3.1), "I went out early, 'cos I never had nothing (nsmN) to do" (71). never steht hier für didn 't als Verbnegator. Vgl. "She never knew how to look it up" mit "And I didn't know my mum was there" (69). never kann aber auch für isoliertes didn't stehen wie in "So they all went up und put them up, but I never" (68, s. o. 3.2.). S. allgemein Cheshire 1982, § 5.3.

3.2.1.2. Dem Material in Wakelin 1986 sind entnommen: für Cornwall 1975 (Ρ) "'ee gob me a letter to send 'em. I nivver went!" (68), 1963 (TA) (kein Nachweis in SED IV.3 § IX.5.5) "all these jobs I done do never affect me at all" (78, Emphase wird durch at all bewirkt, never steht für not), Devon 1963 (TA) (kein Nachweis in SED IV a. a. O.) "You see, years ago they never used to have any half-days, you know" (100), Somerset 1956 (TA) "I went back again, top of the two trees . . . and - went over the gate, never seed the gate" (130), "You'd never hear him never (nsmN) say 'No, thank you,' I bet a shilling" (137), 1981 (TA) "He thought I was (a) idiot. I never answered 'n for a minute" (146), Dorset 1956 (TA) "They give them a few ha'pence, don't 'em when they go to join up? Never give I nothing (nsmN)" (169) ( = "(they) didn't give me

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nothing"), "er - well, barley - always barley you - you never cut it, not before it was ripe" (173), ca. 1980 (Gedicht) "I got out my best dress, but it were tight,/Zo I bought meself a corset./Lor', I never thought, I'd breathe agin,/But I looked zo zlim 'twas worth it" (176), Wiltshire 1984 (TA) "Yes - never had no (nsmN) lights in the street" (196), Bristol 1979 (TA) "Oh no, they never had no (nsmN) armies then. They didn't" (199). 3.2.2. Nach Thomas (1985, 218) k o m m t dieses never im Walisischen Engl, oft vor. Aus dem Wenglish (s. o. 3.1.6.) stammen "Is that what he told you? - never!?' (emphatisches no), "Did I take t h e m ? - no, I neverΓ ( = "I didn't", s. o. 3.2.1.1.), "I've told him and told him, till I'm blue in the face, but he's still at it - he's never ( = not) right, for sure!" (s. Edwards 1985, 28). 3.2.3. Im Irischen Engl, belegt Harris (1984, 132.7) "I never seen him, but" f ü r stspr. "I didn't see him, though". 3.2.4. Sabban 1982 verzeichnet aus TA zum Schottischen Engl. u. a. "Well I'm going to wear my mother's old skirt . . . and a mask, I never got my mask yet", "She reached the fank . . . , her brother said . . . She never said a word but she put the kettle on the ground and put her foot to it", "They took the trousers off her . . . And the boys never gave her the trouser (sic in TA) till evening again" (333f.), aus Schulaufsätzen, in denen never als Verbnegator nicht selten erscheint, ζ. Β. "If they never got that (sc. sum of money), Britain would never see the Prince and Princess again", ' T h e ice is very thick and all of us were on it and it never broke" (335). S. allgemein Sabban 1982, 330-335.

Bibliographie Adamczewski, Henri, Grammaire linguistique de l'anglais, Paris, Colin, 1982. Aitken, A. J., Scottish accents and dialects, in: Trudgill, Peter (ed.), Language in the British Isles, Cambridge usw., Cambridge U. P., 1984, 94-114. Barry, Michael V., The English Language in Ireland, in: Bailey, Richard W./Görlach, Manfred (edd.), English as a World Language, Cambridge usw., Cambridge U. P., 1984, 84-133. Baugh, John, Black Street Speech. Its History, Structure, and Survival, Austin, University of Texas Press, 1983. Birmingham, John C , Jr., Black English near its Roots: The Transplanted West African Creoles, in: Dillard, J. L. (ed.), Perspectives on American English, The Hague/Paris/New York, Mouton, 1980, 335-346.

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Substandard und rumänische Sprachgeschichte. schungsbericht

Ein For-

Klaus Bochmann (Leipzig)

1. Vorbemerkungen Fehlurteile hängen in der Wissenschaft wie im Alltag oft mit begrifflichen Mißverständnissen zusammen. Eine ungewohnte Terminologie verstellt nicht selten den Blick f ü r die Realitäten. Fragt man sich ζ. B., ob es eine rumänische Forschung zum Substandard gibt, wird man zunächst einmal zumindest zögern, die Frage eindeutig zu bejahen. Und doch gibt es Untersuchungen, und nicht wenige, in denen unter Gegenstandsbezeichnungen wie "limbä vorbitä", "limbaj popular", "abatere de la normä", "argou" usw. Erscheinungen des Substandards behandelt werden. Allerdings - soviel sei vorweggenommen - sind diese Gegenstände nicht immer mit "Substandard" völlig deckungsgleich. Man kann Ähnliches auch hinsichtlich des Standards feststellen, der in der rumänischen linguistischen Tradition ebenfalls unter anderen Namen, vor allem unter dem der Literatursprache, zu suchen ist, ohne daß die beiden Gegenstände vollkommen identisch wären (vgl. Bochmann 1989). Könnte m a n sich aber im Hinblick auf „Standard" weitgehend damit begnügen, auf die umfangreiche Bibliographie zur rumänischen Literatursprache und ihrer Geschichte zu verweisen, so lassen sich die unter verschiedenen Benennungen durchgeführten Untersuchungen zu unserem Gegenstand nicht einfach in die Rubrik „Substandard" übernehmen, weil sie aus anderen Blickrichtungen heraus entstanden sind. Das hätte auch wenig Sinn, wenn sich daraus nicht die Bestimmung eines eigenständigen und f ü r die Rumänistik mehr oder weniger neuen Forschungsobjekts ergeben könnte, das in anderen Philologien mit „Umgangssprache", "español coloquial", "italiano popolare", "français parlé/populaire/régional", "rasgovornaja ree" usw. annähernd umschrieben werden kann und schon eine gewisse Forschungstradition aufweisen kann. Eine kritische Selektion der tatsächlich zum Substandard gehörenden Elemente aus den unterschiedlichsten Forschungen, die nicht dem Standard gewidmet sind, ist zunächst geboten. Es scheint übrigens, daß eine eigenständige Forschung zum rumänischen Substandard auch zur Überwindung der in der rumänischen Linguistik noch

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Klaus

Bochmann

häufig anzutreffenden prüden Einstellung zu den nichtliterarischen Varietäten, deren kommunikativer Wert nicht selten verkannt wird, führen würde. Diese Einstellung mag ihrerseits ein Grund für die Zurückhaltung gegenüber der Substandardforschung sein. Im vorliegenden Beitrag soll eine erste Bestandsaufnahme der für die Bestimmung des rumänischen Substandards vorliegenden Arbeiten versucht werden. Dabei interessieren die Motivierung für die Wahl der einzelnen Untersuchungsgegenstände, ihre terminologische und definitorische Bestimmung und die Ergebnisse, die für eine Skizzierung der Besonderheiten des rumänischen Substandards verwertbar sind. Unter „Substandard" sollen in Anlehnung an die Positionen des Bandes „Sprachlicher Substandard" (Holtus/Radtke ed. 1986) alle sprachlichen Elemente verstanden werden, die „unterhalb" des Standards (cf. Ammon 1986) angesiedelt sind, ohne Merkmale von Dialekten bzw. Subdialekten oder Mundarten (rum. graiuri) zu sein. Allgemein gültige, „starke" Merkmale des Substandards sind also zunächst negativ zu bestimmen: „nicht standardtypisch" und „nicht dialektal". Als situatives Merkmal ließe sich „informal" hinzufügen. Andere Kriterien sind „schwach", d. h. sie treffen zwar überwiegend, aber nicht generell zu: das soziale Kriterium „volkstümlich" und das der Mündlichkeit. Die größten forschungspraktischen Schwierigkeiten scheinen sich für das Rumänische bei der Abgrenzung von Substandard und „dialektal" zu ergeben. Die Versuchung liegt nahe, unter Substandard die Abweichungen vom Standard zu fassen, die geographisch nicht begrenzt sind, als dialektal dagegen die geographisch eingrenzbaren Erscheinungen, wie es Vulpe (1980, 36) mit ihrem Kriterium "geografie" als Unterscheidungsmerkmal für "dialectal" und "popular" tut. Wohin dann aber mit den Erscheinungen, die man als regionale Einfärbungen des Standards zu betrachten gewohnt ist? Eine konventionalisierte Unterscheidung zwischen „dialektal" ( = eindeutig dem System eines Dialekts zuzuordnen) und „regional" ( = auf Standard/Substandard bezogen, nicht eindeutig dialektal) könnte die Schwierigkeit in gewisser Weise überbrücken. Es wird bei dieser Gelegenheit noch einmal offenkundig, daß sich der Substandard eigentlich nur in bezug auf den Standard, als dessen Negation und gleichzeitig als Negation der Dialekte, erfassen und beschreiben läßt. In dem großen Kontinuum zwischen Dialekt, Substandard und Standard gibt es Übergangsformen, die sich nicht eindeutig der einen oder anderen Kategorie zuordnen lassen.

Substandard

und rumänische

Sprachgeschichte

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1. Argot als Lexik des Substandards Auf der lexikalischen Ebene ist Substandard unter dem Namen ,Argot', gelegentlich auch ,Jargon' und Epitheta wie volkstümlich', ,familiär', ,vulgär' am frühesten beschrieben worden. Die frühesten Hinweise stammen von Philologen aus der 2. Hälfte des 19. Jhs. (Baronzi 1872, 149-151 ; Hasdeu 1937 (1881), 200-204). Generell gilt aber heute immer noch der Satz, den Graur 1948 schrieb: "síntem incä departe de a fi adunat tot materialul existent" (Graur 1948, 88). In der Tat gab es eine rumänische Argotforschung nur von den zwanziger bis zu den vierziger Jahren unseres Jhs. Als erste veröffentlichte die Zeitschrift "Adevärul literar §i artistic" 1922 und 1923 eine Serie von Artikeln, in denen der Argot der Unterwelt, der Rechtsanwälte, Friseure, Schüler und Militärs beschrieben wird. Es handelt sich um linguistisch dilettantische, jedoch vom Material her interessante Arbeiten'. Eine zweite, nunmehr von Philologen getragene „Welle" setzt in den dreißiger Jahren ein. Waren die früheren Arbeiten den Sondersprachen sozialer Gruppen gewidmet, so treten Studien zum modernen Argot allgemeiner Verbreitung an ihre Seite. Sondersprachen nehmen ihrer integrativen und abschirmenden Funktion wegen eine gewisse Randstellung im Substandard ein, der in seiner modernen Gestalt weitgehend allgemein, d. h. überregional ist und die Grenzen geschlossener sozialer Gruppen überschreitet. Nicht von ungefähr hebt Dobrescu daher den modernen Argot aus dem der Unterwelt und der Berufs- und Interessengruppen heraus; er werde "de toate päturile sociale inferioare" gesprochen und sei als "un tot armonie" zu betrachten, das in den unteren sozialen Gruppen durch die Prostitution, in den mittleren und oberen durch Kabarett, Revuetheater und Literatur vermittelt werde (cf. Dobrescu 1938, 33). Ausdrücke wie a arde „betrügen", bänat „Hintern", bicicleta „Brille", a cìnta „verraten", chi§toc „Zigarettenstummel", elefant „großzügiger Spendierer", gheld „Geld" u. a. seien aus dem speziellen Gebrauch der gesellschaftlichen Randgruppen herausgetreten und für jedermann verständlich geworden (ebda., 36). Die Verwendung solcher und ähnlicher ursprünglicher Argotausdrücke in der Literatur - in Liviu Rebreanus "Golanii" von 1916, in den zwischen 1934 und 1936 entstandenen Büchern "Calea Väcäre§ti", "Foc în Hanul cu tei" und "Actele vorbeçte" von Isac Peltz, "Pe strada" von Alexandru de Herz, „Hotel Maidan" von Stoian Gheorghe Tudor und "Sfìnta mare ' Eine ausführliche Bibliographie bis um 1950 bietet Iordan 1962, 422-423; sie ist zu ergänzen durch die Angaben bei Dobrescu 1938 und Iordan 1975, 310 (Anm. 4).

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neru§inare" von George Mihail Zamfirescu - zeugen davon, daß ein beträchtlicher Teil dieses Vokabulars zu Beginn unseres Jhs. zum Gemeingut der rumänischen Gesellschaft geworden ist und verweisen auf das junge Alter des rumänischen Substandards, der erst im Gefolge der funktionalen Differenzierung und partiellen Kodifizierung des rumänischen Standards in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. entstanden ist. Die meisten Argotstudien entstanden in den dreißiger Jahren im Kreise Iorgu Iordans in Ia§i. Es gehört zu den Verdiensten des Altmeisters der rumänischen Romanistik, die während seines Studiums in Frankreich in der soziologischen Schule Meillets, Dauzats und Ballys erlernten Forschungsmethoden in der rumänischen Linguistik gleich nach seiner Rückkehr fruchtbringend angewandt und neben der Klausenburger sprachwissenschaftlichen Schule um Sextil Pu$cariu ein weiteres rumänisches Zentrum moderner Linguistik geschaffen zu haben. Im "Buletinul Institutului de Filologie romàna 'Alexandra Philippide'" erschienen zwischen 1935 und 1943 mehrere Darstellungen rumänischen Argots, die zusammen mit denjenigen Alexandra Graurs (cf. Iordan 1962, 423) eine weitgehende Erfassung des damaligen Argotwortschatzes sicherten. Ein beträchtlicher Teil der Ergebnisse dieser Forschungen ist in Iordans "Stilistica limbii romàne" von 1944 (Iordan 1975) eingegangen. Das nach Ballys Vorbild entstandene Buch hat die „gesprochene Sprache" im Sinne des Substandards - "limba vorbitä, populará sau familiarä" (308) - im Visier. Iordan unterscheidet in dem der Lexik gewidmeten Kapitel zwischen eigentlichem Argot als Sonderwortschatz sozialer und professioneller Gruppen und den daraus in die Gemeinsprache übernommenen Elementen, die von den an der Peripherie der Städte Wohnenden, von Schülern und Militärs vermittelt werden. Wenn in der Aufstellung und Kommentierung (321-342) nicht zwischen "cuvintele propriu-zise argotice $i cele familiare sau populare" unterschieden wird, weil sie alle das Produkt des Affekts und der Phantasie seien, so führt Iordan als zusätzliches Argument dafür an, daß die vorliegenden Beispiele im Bewußtsein der Sprecher ohnehin auf dieselbe Stufe gestellt werden (311). Nicht wenige der Beispiele sind in die standardnahe Umgangssprache auch der intellektuellen Sprecher eingegangen: atenfie „Geschenk", banc „Witz", bazaconie „seltsames Erlebnis, Ereignis", caraghios „alberner Mensch", cinstit „echt, rein", fain „sehr gut, toll", labä „Hand" u. a. m. scheinen mehr oder weniger salonfähig geworden zu sein. Die rumänische Argotforschung bricht am Ende der vierziger Jahre abrupt ab und ist bis auf Ausnahmen (Todoran 1969) nicht wieder aufgenommen worden. Die Ursachen sind zu einem Teil zweifellos dar-

Substandard und rumänische

Sprachgeschichte

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in zu suchen, daß der rumänischen Sprachwissenschaft nach dem zweiten Weltkrieg die Aufgabe gestellt wurde, die Kodifizierung und historische Erforschung des Standards fortzuführen, die mit der gemeinschaftlichen Ausarbeitung der „Akademiegrammatik", der präskriptiven Wörterbücher der Literatursprache und der zahlreichen Studien zur Geschichte der rumänischen Literatursprache gelöst wurde. Gleichzeitig ist aber noch eine theoretische Sichtweise dafür verantwortlich zu machen, die die praktischen Aufgaben in gewisser Weise bedingt hat oder zumindest im nachhinein zu ihrer Begründung angeführt werden konnte. Es handelt sich um die nachhaltige Wirkung der Stalinschen Schrift „Der Marxismus und die Sprachwissenschaft" (1951). Deren Grundgedanken spiegeln sich in den theoretischen Positionen der meisten Veröffentlichungen namhafter rumänischer Linguisten in den fünfziger Jahren (vgl. Bochmann 1980, 23) und manifestieren sich unter anderem in der Auffassung, daß eine beliebige Nationalsprache „für alle Klassen einer (Sprach-)Gemeinschaft einheitlich und gemeinsam" sei und die „unnützen Varianten", die „niveaulosen Verzweigungen der Sprache wie Jargons und Argots" von der Geschichte „unwiderruflich verurteilt" seien und es sie zu bekämpfen gälte (cf. Graur 1960, 321 ff.). Es hat den Anschein, daß diese Meinung im Unterbewußtsein auch der heutigen Linguistengenerationen noch nachwirkt. Wie sollte man sonst die prüde Haltung gegenüber dem Argot erklären, der im übrigen in der Literatur - bei Eugen Barbu in "Groapa", bei Fänu$ Neagu in "îngerul a strigat" und beiläufig in vielen anderen Büchern - immer häufiger erscheint? Als Fazit unserer Betrachtung der Argotforschung läßt sich festhalten, daß diese ohne Zweifel den wichtigsten Anteil an der Bestimmung der Lexik des Substandards erbracht hat und damit ihre marginale Stellung in der rumänischen Linguistik in keiner Weise verdient.

2. ' L i m b a j u l p o p u l a r ' u n d ' l i m b a v o r b i t ä ' Zu den wichtigsten Quellen für die Erschließung des rumänischen Substandards gehören die Arbeiten, die sich zur „Volkssprache" und/oder „gesprochenen Sprache" äußern. Beide Bezeichnungen werden oft synonym gebraucht, daher ist eine getrennte Betrachtung nur in Einzelfällen (ζ. B. Vulpe 1980) möglich. Es bedarf keiner ausführlichen Diskussion der Tatsache, daß die Begriffe weder untereinander noch mit Substandard deckungsgleich sind, sich aber stark überschneiden, woraus sich ihre synonyme Verwendung in manchen Veröffentlichungen erklärt.

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Eine gewisse Schwierigkeit der terminologischen Umgrenzung bietet das Epithet 'popular', weil damit ein Kreis von Varietäten umrissen wird, der außer dem Substandard auch die Mundarten subsumiert und in den Äußerungen der Schriftsteller über die poetischen Potenzen der Volkssprache sich sogar über Teilbereiche des Standards erstreckt. Während Philippide 1894 ,Alltagssprache' und .Volkssprache' gleichsetzte 2 , bedeutete f ü r Hasdeu 1881 "graiul popular" die mündliche und ursprüngliche, nicht konventionalisierte Rede, was allein auf die Dialekte zuträfe 3 . O h n e die Existenz allgemeiner umgangssprachlicher Erscheinungen zur damaligen Zeit in Abrede stellen zu wollen, die u. U. den Bedingungen, u r s p r ü n g l i c h ' und ,mündlich' zu sein, entsprochen hätten, m u ß jedoch dazu bemerkt werden, daß weder der Prozeß der Urbanisierung noch der der Festigung und Kodifizierung des Standards, die zu den Voraussetzungen f ü r die Herausbildung des Substandards gehören, zu Ende des 19. Jhs. so weit vorangeschritten waren, daß sich ein Substandard damals klar abgezeichnet und seine Erforschung auf der Tagesordnung gestanden hätte. Einer Substandardforschung nähert sich dagegen Densusianu in einem 1925 gehaltenen Vortrag (Densusianu 1968) an. 'Vorbire populará' wird zwar einleitend als "vorbirea (äranului", "rustica" oder "de la (arä" definiert, was jedoch an konkreten Beispielen geboten wird, sind Merkmale und Sprechtechniken Ungebildeter schlechthin, die sich also auch im städtischen Milieu wiederholen (können): die Juxtaposition einfacher, mit f i verbundener Sätze in narrativen oralen Texten, häufiger Verzicht auf kausale K o n j u n k t i o n e n und der Ausdruck der Kausalbeziehung durch einfache Beiordnung der Sätze, die Bevorzugung konkreter Vergleiche aus der Sphäre der sinnlichen W a h r n e h m u n g , die Einflechtung dialogischer Elemente in die Narration u. a. Den Durchbruch zur eigentlichen Substandardforschung leistete Iordan mit seiner an Frei (1929) angelehnten rumänischen „Fehlergrammatik" (Iordan 1943), die sich sowohl mit Verstößen gegen die Standardnorm als auch mit den Merkmalen der 'vorbire populara' be-

2

". . .limba de tóate zilele (pe care v o m n u m i - o populará, pentru scurtare)", cf. Philippide 1894, 8. 3 Als G e g e n s t a n d der Linguistik nennt H a s d e u "graiul popular in dezvoltarea lui istoricä" (1937, IX). "Oriunde o grupä micä se vede isolata de restul societàri, fie rpin virstá, fie prin dispre(, fie prin profesiune, prin fricä, prin crimà, ea tinde a-§i c o m b i n a o limbä a-parte care in principiu nu se deosebesce de scrisórea cea cifratà (. . .). Sub raportul psihologiei, càte o data $i prin material, aceste limbi ne pot interesa; dar nici ìntr-un cas ele nu f o r m é z â obiectul linguisticei. (. . .) limba care ne preocupa, trebui sä fie vocalâ $i nativa" (1937, 45 f.).

Substandard und rumänische

Sprachgeschichte

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faßt. Es ist der erste, alle Ebenen des Sprachsystems erfassende Versuch einer systematischen Beschreibung all dessen, was zwischen Standard und Mundart liegt, wobei weniger ein sprachpflegerisches Moment ausschlaggebend war als vielmehr der Vorsatz, der Saussureschen Forderung nach synchronischer Linguistik ("lingvistica statica sau sincronica", cf. 11) nachzukommen. In der Phonetik signalisiert Iordan den Wandel von unbet. a zu à in Fremdwörtern (atàca, fänterie, inämic, mäfinä), von bet. o zu oa (ipohoandrä, pedagoage, ftabe majoare), von au zu o in Wörtern französischer Herkunft (otomobil, otorizafie), ie zu e (atiler, betonerà, pesä, propretar), den Ausfall von η vor Konsonant (indepedenfä, delicvent) und von r nach Konsonant (apropia, propietar) u. a. m., wobei es sich vorwiegend um Anpassungen an die traditionelle rumänische Phonologie handelt (cf. Iordan 1943, 17ff.). Eine analoge Tendenz wird in der Morphologie bei der Pluralbildung der Substantive beobachtet: Die Sprache der Gebildeten bevorzuge Plurale, die der Originalform der Entlehnungen näherkomme, die Volkssprache dagegen die -/-Plurale für Maskulina (depe$i, disciplini) und -uri-Ψοτmen für Neutra (märfuri). Als volkssprachlich werden weiterhin die der Form des Nominativs entsprechenden Genitive bei Feminina (eroarei, mit Plural erori, favoarei, pudoarei), die redundante Verbindung zweier Vokativformen (domnule câpitane, domnule Nicule), die Verbreitung der ursprünglich muntenischen Demonstrativa ästa, àia auch in der moldauischen Jugend u. a. angeführt (cf. 45ff.). In der bereits genannten "Stilistica limbii romàne", die Iordan ein Jahr später veröffentlichte, werden außer den oben besprochenen Argotelementen phonetisch-phonologische, morphologische, syntaktische und Wortbildungsmerkmale der affektiven ( = „gesprochenen, volkstümlichen und familiären") Rede behandelt, die zum größten Teil in den Substandard eingeordnet werden können, in geringerem Maße aber auch nur Techniken der Sprechsprache sind. So würde man die unter "Fenomene fonetice" (3Iff.) behandelten affektbedingten Lautveränderungen {com? bon! statt cum? bun!; bene statt bine in intimer, gelöster Atmosphäre) als situative Varianten von Standardausdrücken ansehen, während andere Fälle, in denen die lautliche Veränderung mit einer stilistischen Nuancierung verbunden ist (sireac = ironisch, zu särac = neutral), durchaus Substandard sind. Dazu gehören zweifellos auch die zahlreichen Beispiele falsch ausgesprochener Lehnwörter aus Caragiales Komödien (37), bei denen volksetymologische Interpretationen (renumerafie statt remunerate, scrofulos statt scrupulos) eine Rolle spielen. Andere relevante Beispiele sind der Silbenausfall bei (cu)con, (cu)coanä, (du)ducä, dom(nul), dom(nu)le, (du)m(ne)ata, matale statt dumnitale, (mä)tufä, (bunä dimijneafä, (mîn)ca-te-ar boala! usw. (40ff.),

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während die D e h n u n g und Verdoppelung von Lauten sowie die Akzentverlagerung unter Affekteinfluß wiederum situativ-stilistische Erscheinungen sind, die Standard und Substandard gleichermaßen berühren. Einen breiten R a u m n e h m e n Schallwortbildungen ein (cf. 78-89), die vor allem im Substandard in allen Wortklassen vorkommen. Im R a h m e n der Morphologie werden Erscheinungen diskutiert, die aus synchonischer Sicht als Substandard zu betrachten, manchmal aber entweder nur spezialsprachliche (ottor) oder veraltete Formen des Standards (favor) sind. Überhaupt alternieren im morphologischen Teil Eigenheiten affektischer Rede, die im Standard geduldet werden, mit Substandardelementen. Zu den letzteren würden wir die zahlreichen volkstümlichen bzw. familiären Formen der Demonstrativa, die Futurbildung mit o bzw. am/ai/are... + Konjunktiv bzw. oi/ei/a... + Infinitiv, morphosyntaktische Erscheinungen wie die verschiedensten Realisierungen der Tempus- und Modus-Relation (Imperfekt als Optativ, Präferenz f ü r historisches Präsens, manchmal mit Perfekt alternierend, volkssprachliche modale Konstruktionen u. a.), f ü r die Volkssprache typische Wortbildungspräferenzen vor allem im Bereich der Diminutiva und Augmentativa u. a. m. zählen. Auf der Ebene der Syntax stellt sich ein gewisser Widerspruch heraus. Iordan geht von einem „tiefen Unterschied zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache" im zusammengesetzten Satz (218) aus. Bei näherem Hinsehen zeigt es sich, daß „gesprochen" in der Syntax generell viel weniger mit „volkstümlich" gleichgesetzt werden kann, als dies auf den anderen Ebenen der Sprache möglich ist. Die schon von Densusianu hervorgehobene Bevorzugung der Parataxe und die Ellipse treten auch unabhängig vom Bildungsniveau und der Normkenntnis auf, während die Einleitung indirekter exklamativer Sätze mit unde (223) in der Tat Substandard ist. Es zeigt sich, daß das von Iordan mit einer anderen Zielsetzung verfaßte Buch f ü r die Substandardforschung zwar außerordentlich nützlich ist, aber selektiv ausgewertet werden muß. Das setzt allerdings - und dies gilt f ü r den Umgang mit der vorhandenen Literatur generell - eine noch gründlichere Präzisierung der Merkmale von „Substandard" voraus. Zur Klärung der im Umfeld der Substandardforschung angesiedelten Begriffe hat Vulpe mit der bisher einzigen Monographie zur Syntax der gesprochenen Sprache, bezogen auf die Gesamtheit der dakorumänischen Mundarten 4 , beigetragen (cf. Vulpe 1980). Sie geht im Ge4

Eine weitere Monographie, die der Beiordnung im Satz gewidmet ist, hat Sabina Teiu$ vorbereitet; sie ist bisher nur in Fragmenten erschienen, cf. Teiu$ 1969, 1971a, b.

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gensatz zu Iordan von der auch von anderen (Remacle 1948, 32; Ghe{ie 1961, 173) bestätigten Ansicht aus, daß gerade auf dem Gebiet der Syntax die Unterschiede zwischen Standard und Nicht-Standard sowie zwischen Dialekten in der Regel weniger ausgeprägt sind als auf den anderen Ebenen des Sprachsystems. Dennoch ergibt ihre Untersuchung der Unterordnung in zusammengesetzten Sätzen anhand mündlicher dialektaler Texte sowohl syntaktische Besonderheiten einzelner Dialektzonen, auf die hier nicht eingegangen werden soll, als auch spezifische "elemente populare", die - da sie sich weder auf ein Dialektgebiet beschränken noch mit dem Standard übereinstimmen und auch nicht in den durch Tests bestätigten mündlichen Äußerungen habitueller Standardverwender vorkommen - dem rumänischen Substandard zuzurechnen sind: a) Erscheinungen des Satzbaus, die mit wenigen Ausnahmen allen Mundarten gleichermaßen eigen sind (Weglassen des Hauptsatzes, Einleitung von Attribut- und Objektsätzen mit kasusinvariantem care, NichtWiederholung der Konjunktion bei mehreren gleichartigen Nebensätzen u. a.); b) Besonderheiten bei der Verwendung der Konnektive (hohe Frequenz der "conjunc[ii-tip", besonders von cä, das ein allgemeines Merkmal der Subordination ist); c) spezifische Arten der Wiedergabe logischer Beziehungen und semantischer Werte (z. B. der zeitlichen Unbestimmtheit durch cît am + Part. Perf.) u s w . (cf. V u l p e 1980,

2521).

Andere Autoren, die sich der Volkssprache zugewandt haben, wie Coteanu 1973 (cf. auch Coteanu 1961 ; 1962), haben für unser Anliegen geringe Relevanz. Die Untersuchung der expressiven Besonderheiten des "limbaj popular" anhand der Volksliteratur läßt lediglich Merkmale erkennen, die entweder Techniken des oralen Codes unabhängig von der Zuordnung zu Standard oder Substandard (Anakoluth, Ellipse, Wiederholung) oder Eigenschaften volkstümlichen Sprachverhaltens sind, die sich allenfalls stilistisch erfassen lassen (z. B. "brevilocven{ä", Vergleich als dominierendes Stilmittel u. a.).

3. „Nichtliterarisches" in der Sprachpflege und „Regionalrumänisch" Eine wichtige Quelle der Substandardforschung sind die zahlreichen Veröffentlichungen, die unter dem Stichwort "cultivarea limbii" (Sprachpflege) zusammengefaßt werden können. Die Sprachpflege ist zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden, die von Zeit zu Zeit zu regelrechten Pressekampagnen führt und zu der sich nicht nur Linguisten äußern (vgl. Techtmeier 1980).

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Bereits die "Gràmatica limbii romàne" (1954; 1963), die erste und noch immer gültige Kodifizierung der rumänischen Grammatik, läßt das Bestreben erkennen, den jungen Standard so flexibel wie möglich auszugestalten, was angesichts der wenig ausgeprägten Unterschiede zwischen den Mundarten und der literatursprachlichen Norm sowie der bislang relativ großen Spielräume für die regional bedingte Variation innerhalb der letzteren eine Notwendigkeit war. Die Auseinandersetzung mit allen „nichtliterarischen" Erscheinungen ist aber ein Grundanliegen dieser Standardgrammatik und anderer großer Grammatiken und Nachschlagwerke 5 (wie Iordan 1954), die aber in der Regel die Normverstöße varietätenlinguistisch nicht eindeutig genug charakterisieren. Mit dem Blick auf die jüngere „Sprachpflegeliteratur" sollten vier Arten von Abweichungen vom Standard unterschieden werden : (a) individuelle Fehlleistungen, die auf der ungenügenden Beherrschung des Standards beruhen und keinen allgemeinen Tendenzen des rumänischen Sprachgebrauchs entsprechen; (b) gruppentypische Abweichungen, die auf der ungenügenden Beherrschung des Standards und allgemein(dako)rumänischen Tendenzen beruhen; (c) gruppentypische Abweichungen, die auf der ungenügenden Beherrschung des Standards fußen und regionalen Tendenzen entsprechen; (d) gruppentypische Varianten des Standards, die im Augenblick der Kodifizierung von dieser ausgeschlossen werden bzw. sich noch in der Diskussion befinden. Es liegt auf der Hand, daß für eine Substandardforschung vor allem (b) und (c) in Frage kommen, da (a) kaum systematisierbar und (d) sozusagen am Rande des Standards angesiedelt ist. Während (b) in den Substandard als 'popular' bzw. 'familiar' eingeordnet werden kann, ist für (c) eine neue Kategorisierung erforderlich, die - einem Vorschlag von Iancu (1976) folgend - analog zu ähnlichen Varietäten anderer romanischer Sprachen „Regionalrumänisch" heißen soll. Aus diesem Regionalrumänisch ist die regionale Einfärbung des Standards unter Gebildeten auszuschließen, die allerdings in der jüngeren Vergangenheit mehr als heute geduldet wurde und allmählich zurückzugehen scheint. Die vor allem bei Moldauern zu beobachtenden Besonderheiten sind darauf zurückzuführen, daß sich der Standard nach der Vereinigung von 1859 aus den zwei regionalen Varianten der 5

Zu diesen gehören : Dicfionaru! limbii romíne Iiterare contemporane, 4 Bde., Bucure§ti, EA, 1955-57; Dicfionarul limbii romíne moderne, Bucure§ti, EA, 1958; Dic/ionarul explicativ al limbii romàne, Bucure$ti, EA, 1975; Gramatica limbii romíne, 2 Bde., Bucure$ti, EA, 1954; 2 1963; Limba romíná, Bucure§ti, EA, 1956; îndreptar ortografie, ortoepie fi de punctua{ie, Bucure$ti, EA, 1954 u. a.

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Literatursprache, von Bukarest und von Ia$i, entwickelt hat (cf. Petrovici 1960, 60; Istrate 1960, 70f.; Dumisträcel 1978, 32). Unter Regionalrumänisch als Teil des Substandards soll vielmehr die Gesamtheit der von der kodifizierten Standardnorm ausgeschlossenen Merkmale regionaler Art verstanden sein, die beim Gebrauch des Standards auftreten. Auf regionale, nichtliterarische Besonderheiten, die es zu vermeiden gilt, weist Avram in ihren sprachpflegerischen Aufsätzen hin. Sie meint damit die Erscheinungen, die vom Sprecher als „literarisch" aufgefaßt werden, in Wirklichkeit aber regionaler Natur sind, während „schokkierend regionale" Besonderheiten ohnehin von den Sprechern als solche erkannt werden (cf. Avram 1987, 76). Solche regionalen Substandardmerkmale sind: - die Endung -sei statt -sefi (mîncasei) in der 2. Pers. Sg. des Plusquamp., die auch "în exprimarea unor vorbitori cutyi din Banat ($i Oltenia)" vorkäme (75), - die hyperkorrekten Formen vi-o dau, vi-afi propus im Banat, die durch den Dativ des Personalpron. m statt mi (m-o dzis) hervorgerufen wird, - ca $i beim Komparativ, vgl. mai tînàr ca fi mine, sowie im Sinne von "drept, in calitate de", vgl. ca si elev am fost ìn multe excursii, im Banat und in Siebenbürgen, - alt, altä „artikuliert" vor Substantiv, vgl. altul bloc, alta femeie, - Setzung der deiktischen Partikel -a bei Demonstrativa auch vor Substantiv, vgl. ceia oaspefi, in Maramure§ und Siebenbürgen, - Infinitiv nach a vrea, vgl. nu ne vrea a vedea, - altul in negierten Sätzen im Sinne von "niciodatä", vgl. nu J-oi mai vedea altul, - numai im Sinne von "decît" in negierten Sätzen, vgl. nu am vrut numai trei (Avram 1987, 75; die letzten Besonderheiten sind für Maramure§ typisch). Als eine letzte Quelle für die Erfassung der Eigenheiten des rumänischen Substandards in seiner regionalen Form bieten sich die Untersuchungen zum Einfluß der Literatursprache auf die Mundarten an, die die Interferenz zwar aus einer anderen Blickrichtung betrachten, indirekt aber auch Schlüsse auf die regionale Beeinflussung des Standards durch die Mundarten zulassen (cf. besonders Pop 1971; Dumisträcel 1978). Neben den regionalen Aspekten des Substandards sind Standardabweichungen mit allgemeiner Verbreitung im dakorumänischen Sprachgebiet unter den Bezeichnungen "vorbit", "familiar" oder "popular" teilweise in den weiter oben genannten Arbeiten (cf. 2.) signa-

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lisiert worden. Eine der Hauptsorgen ist heute in dieser Hinsicht die korrekte Schreibung, Aussprache und semantische Interpretation der Lehnwörter ("neologisme"). Zu den Erscheinungen, die gehäuft auftreten, gehören: - pleonastische Komparative bei den Adjektiven inferior, superior, optim, extrem, ulterior, posterior (cf. Iancu 1977, 16f. ; Avram 1987, 77), - undifferenzierter Gebrauch der semantisch differenzierten flexiven Varianten des Typs manifest/manifestez, rapoarte/raporturi (cf. Avram 1987, 77), - falsche Interpretation von Fremdwörtern, wie onomastica als „Geburtstag", fortuit als „zwangsweise", a insinua als „behaupten" u. a. (cf. Iancu 1977, 20; Avram 1987, 218), - Formveränderungen auf der Grundlage „volksetymologischer" Interpretationen, wie femenin analog zu femeie (cf. Iancu 1977, 12), oder im Streben nach Reihenbildung, wie complect zu perfect und cored (ebd.), usw.

4. S c h l u ß f o l g e r u n g e n Die systematische Beschreibung des rumänischen Substandards, die bisher nur Iordan mit seinen umfassenden Untersuchungen zur Fehlergrammatik und linguistischen Stilistik aus den vierziger Jahren unternommen hatte, steht für die Gegenwart noch aus. Sie könnte, abgesehen von ihrem linguistischen Eigenwert als Darstellung des breiten Raumes zwischen Standard und Mundarten, auch zur schärferen Umgrenzung des Standards und möglicherweise auch zu einer zumindest partiellen sozialen Umwertung der nicht standardgemäßen Ausdrucksweisen führen. Teilbereiche des rumänischen Substandards sind unter anderen Zielsetzungen durchaus bereits erforscht worden. Sie lassen die Existenz dreier Subvarietäten des Standards erkennen: (1) Argot: in den dreißiger Jahren intensiv erforscht, seitdem stark vernachlässigt, stellt sowohl der Argot der marginalen sozialen Gruppen als auch die Sprache der Jugend, der Schüler, Soldaten und bestimmter Berufsgruppen zusammen mit den in die allgemeine Umgangssprache eingegangen früheren Argotelementen eine wichtige Komponente des rumänischen Substandards dar; (2) 'popular' und 'familiar': eine Subvarietät mit diffusen Grenzen nach dem gesprochenen Standard hin, die alle Ebenen des Sprachsystems berührt und größtenteils beschrieben ist; (3) Regionalrumänisch: bisher am wenigsten erforscht, daher noch unklar hinsichtlich seiner Erstreckung auf die linguistischen Ebenen.

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Klassische Sprache und Substandard in der Geschichte des Griechischen Johannes Kramer (Siegen)

Die älteste Schriftsprache Europas, das Griechische, tritt in durchgeformter poetischer Ausdrucksweise, sozusagen als Übernorm, ins Licht der Geschichte 1 . Die beiden großen Epen Ilias und Odyssee, die unter dem Namen Homers überliefert sind, stellen in der Fassung, in der sie uns tradiert sind, das Resultat einer schriftlichen Fixierung von zum mündlichen Vortrag bestimmter Dichtung dar. Die Sprache dieser Dichtung ist ein in hohem Maße konstruiertes und künstliches Ausdrucksmittel, das „mit keinem jemals gesprochenen Dialekt übereinstimmte" und viele Wörter und Wendungen enthielt, die auch den Griechen des 6. Jh., als die endgültige schriftliche Redaktion der Epen erfolgte, ihrer Herkunft und Bedeutung nach völlig unbekannt waren 2 . Der Stil Homers machte auf die Griechen ausnahmslos einen ernsten (σπουδαίος, Arist.poet.l448b34), ja erhabenen (μεγαλοπρεπής, Demetr.36-38) und majestätischen (σεμνός, Pind.Nem.7,33 = 22) Eindruck. Die Sprachform der homerischen Epen blieb einschließlich ihrer von der gesprochenen Sprache weit abgesetzten, künstlichen und zugleich kunstvollen Ausdrucksweise bis ans Ende der Antike (und in Byzanz noch darüber hinaus 3 ) verbindlich; eine Norm für andere Dichtungsgenera oder gar für die Prosa konnte aber von dieser überhöhten und entrückten, an das Epos gebundenen Sprachform nicht konstituiert werden, wenn auch die Einflüsse auf alle anderen Arten des Griechischen unübersehbar sind 4 . Charakteristisch für die Geschichte der griechischen Sprache ist es vielmehr, daß sich zunächst nicht eine einzige Norm herausbildete, sondern daß jedes literarische Genus seine eigene Norm, normalerweise auf unterschiedlichen Dialekten basierend, ohne wirklich mit einer 1

Hier wird von den problematischen Linear-B-Texten, die wohl eine Frühform des Griechischen darstellen, abgesehen; vgl. dazu S. Hiller/O. Panagl, Die frühgriechischen Texte aus mykotischer Zeit, Darmstadt 1976. 2 A. Dihle, Griechische Literaturgeschichte, Stuttgart 1967, 17; vgl. auch 9. 3 H. Hunger, Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner 2, München 1978, 90-91. 4 E. Schwyzer, Griechische Grammatik 1, München 1953, 108-109 (mit Literatur).

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gesprochenen Mundart identisch zu sein 5 , erhielt 6 . Wie das homerische Griechisch für die Epik, so wurde eine auf dem Dorischen basierende Sprachform verbindlich für die Chorlyrik; die melische Lyrik bediente sich eines stilisierten Äolisch, und für das Drama wurde ein von auffälligen lokalen Zügen befreites Attisch charakteristisch. Im großen und ganzen war es so, daß in den literarischen Gattungen jeweils die mundartliche Prägung der Gegend, in der die entsprechende Gattung zum ersten Male auftrat, als Literaturdialekt beibehalten wurde ; in den meisten Fällen „verwuchs eine griechische Dichtungsgattung unzertrennlich mit dem Dialekt, in dem sie ihre Ausbildung und erste Blüte erlebte" 7 . Dieselbe Entwicklung bahnte sich auch in der literarischen Prosa, die als Genus erst an der Wende vom 6. zum 5. Jh.v.Chr. langsam aufkam, an. Im Anschluß an mündliche Erzählungen entstand nämlich in Ionien die ίστορίη (darunter sind Sage und Geschichte, Geographie, Ethnologie und philosophisch-naturkundliche Welterklärung zusammenzufassen, etwa in der Mischung, wie sie uns im Werke des Herodot entgegentreten). Für die frühe Prosa trieb die Entwicklung darauf hin, daß die ionische Literatursprache, die mit keinem Ortsdialekt identisch war, sondern überlokale Orientierung mit Bereicherung aus dem epischen Wort- und Formenschatz verband 8 , als Gattungssprache der Prosa angesehen werden sollte. Nicht nur Ionier schrieben ionische Prosa, sondern auch Männer wie Herodot aus der dorisierten Karerstadt Halikarnassos oder wie Hippokrates aus dem dorischen Kos 9 . Diese Entwicklung wurde durch Vorgänge im Bereich der politischen Geschichte unterbrochen. Die Perserkriege brachen die Kraft der ionischen Städte Kleinasiens, während Athen aus dem Konflikt gestärkt hervorging und zum wirklichen Mittelpunkt der griechischen Welt wurde. Zunächst bediente man sich in der politischen Propaganda des einheimischen Attischen (Ps.Xenoph.resp.Ath., vor 413 geschrieben), dann in schriftlich festgehaltenen Reden und schließlich in der Geschichtsschreibung und in der Sachprosa, wobei zunächst (etwa bei Thukydides) auffällig attische Eigentümlichkeiten (wie ττ und pp statt σ σ und ρσ) vermieden wurden. Im 4. Jh.v.Chr. ist diese Entwicklung zum Abschluß gekommen: Das Attische war zur normalen Prosaspra5

R. Schmitt, Einführung in die griechischen Dialekte, Darmstadt 1977, 8; C. D. Buck, Introduction to the Study of the Greek Dialects, Boston 1910, 12-14. 6 J. und Β. Kramer La filologia classica, Bologna 1979, 65-69. 7 O. H o f f m a n n / A . Debrunner, Geschichte der griechischen Sprache 1, Berlin M953, 60. 8 0 . H o f f m a n n / A . Debrunner, op.cit., 136-139. 9 E. Schwyzer, Griechische Grammatik l , München 1953, 113.

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che geworden, derer man sich unabhängig von der persönlichen Herkunft und von der eigenen Dialektzugehörigkeit bediente; wer nicht attisch schrieb, tat das aus besonderen stilistischen Erwägungen 10 . Somit hatte die griechische Prosa im 4. Jh. eine Norm, das Attische, akzeptiert; diese Norm war allerdings keineswegs einengend, sondern gab der Individualität der Sprachbenutzer weitesten Raum 11 . Leider fehlt es gerade aus der Zeit, als die attische Norm für die literarische Prosa verbindlich wurde, an ausdrücklichen Zeugnissen darüber, wo man eigentlich die Norminstanz ansiedelte. Es steht allerdings völlig außer Zweifel, daß die Literatursprache nicht einfach eine schriftliche Fixierung der Umgangssprache der besseren Kreise darstellt - dazu ist ihr kunstmäßiger Charakter allzu deutlich. Alle attischen Prosaiker verwendeten nachweislich „nicht nur in dramatisch bewegten Stellen, wie ζ. B. den Reden, sondern auch in der schlichten Erzählung eine große Zahl jonischer oder altertümlicher und poetischer Wörter, die der attischen Umgangssprache ihrer Zeit fremd waren" 12 ; das gilt nicht nur für Historiker wie Thukydides oder Xenophon, sondern auch, allerdings in geringerem Maße, für die Redner und sogar für Piaton, der doch den Eindruck erweckt, den Stil urbaner Unterhaltungen treu wiederzugeben. Insgesamt kann man sagen, daß die Norm der klassischen attischen Schriftsprache wohl auf der Umgangssprache der gebildeten Kreise Athens im 4. Jh.v.Chr. basiert, daß sie jedoch immer wieder Anleihen bei der älteren ionischen Prosa und bei der Dichtung macht, um eine gewisse Überhöhung und Verfeinerung zu erzielen; Archaismen und Poetismen wurden stets als Mittel der Abhebung von platter Alltagssprache empfunden und daher gerne eingesetzt 13 . Die klassische attische Schriftsprache ist demnach eine aus der gehobenen Umgangssprache Athens erwachsene, gegenüber anderen Erscheinungsformen des Griechischen relativ liberale Norm mit archaisierenden Tendenzen. Von den starren Sprachregelungen des Attizismus war diese Norm, die dem Individualismus der Autoren breitesten Raum ließ, meilenweit entfernt.

10

Das ist wohl schon bei Ktesias der Fall, der seine Περσικά ionisch schrieb, um den Anschluß an Herodot zu dokumentieren. Mit absoluter Sicherheit liegen stilistische Absichten beim Ionischen von Schriftstellern der Römerzeit (Arr.Ind.) vor. " E. Schwyzer, op.cit., 115. 12 O. Hoffmann/A. Debrunner, Geschichte der griechischen Sprache / , Berlin 3 1953, 140. 13 A. Meillet, Geschichte des Griechischen, Heidelberg 1920, 230-233.

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Die zweite Sprachnorm, die uns überliefert ist, tritt in den öffentlichen Inschriften 1 4 zu Tage. Die Sprache der Inschriften unterscheidet sich in vielen Einzelheiten von der der literarischen Prosa 15 . Das Attische der Inschriften hat einen noch künstlicheren, noch weiter von der Umgangssprache entfernten Charakter: Der Stil der Volksbeschlüsse, Gesetze, Verträge, Ehrenurkunden usw. ist „steif und altertümelnd" und unterscheidet sich „in der Wortwahl, im Satzbau und sogar in den äusseren grammatikalischen Formen von der beweglichen und sich schnell verändernden Sprache des Lebens recht erheblich" 16 . Immerhin kennen wir im Falle der Inschriftensprache die normgebende Instanz: die Staatskanzlei, vertreten durch den γραμματεύς τής βουλής. „Die Staatskanzlei, die für den Text der Volksbeschlüsse, Verträge und Gesetze eine möglichst einheitliche und ausgeglichene Sprachform anstrebte, versuchte natürlich, von mehreren miteinander konkurrierenden Formen die eine als ,korrekt' zu stempeln und so feste Normen für den nichtigen' Sprachgebrauch zu schaffen. Dabei tritt der jeder amtlichen Schriftsprache eigene konservative Zug unverkennbar hervor: dem Neuen wird, solange es geht, die Anerkennung und Gleichberechtigung versagt" 17 . Das Vorhandensein einer normgebenden Instanz erklärt es, warum in der Amtssprache die Wechsel von einer Ausdrucksweise zu einer anderen, ihr entsprechenden, so abrupt sind 18 . Den beiden bisher genannten Normen, der Norm der literarischen Prosa und der Norm der attischen Amtssprache, ist es gemeinsam, daß es in beiden Fällen wohl ein Herausgehen über die Norm, nicht aber eine unterhalb der Norm anzusiedelnde Sprachform gibt. Eine gewisse Erhabenheit des Tones, eine Entfernung vom Vertraut-Alltäglichen, eine Veredelung der Umgangssprache war an herausragenden Stellen einfach erforderlich und wurde normalerweise erreicht, indem man Anleihen bei der Sprache der Vergangenheit oder bei der Redeweise der Dichter machte, also zu archaischen oder poetischen Wörtern und 14

Die umfangreicheren Inschriften tragen alle öffentlichen Charakter; die privaten Inschriften - meist Grabaufschriften - sind entweder zu kurz, um sprachlich viel herzugeben, oder im Versmaß (Distichen) abgefaßt. 15 Konrad Meisterhans, Grammatik der attischen Inschriften, Berlin 31900. 16 O. Hoffmann/A. Debrunner, Geschichte der griechischen Sprache 1, Berlin 3 1953, 53. 17 O. Hoffmann/A. Debrunner, op.cit., 58. 18 Vor 420 endete der Dativ Plural der Feminina auf -ησι bzw. -ασι, danach ausnahmslos auf -αις; bis 300 ging die 3.Ps.Plur.Imperat. auf -ντων / -aScov aus, dann gab es nur noch die Formen auf -τωσαν / -σθωσαν usw. „So plötzlich ändert sich kein natürlicher Sprachgebrauch" (O. Hoffmann/A. Debrunner, op.cit., 58).

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Wendungen seine Zuflucht nahm. Es gab aber in der Prosa (und erst recht in der Amtssprache) kein gewolltes Unterschreiten der Norm, keine gewollte Annäherung an die Alltagssprache wenig gebildeter Kreise, keine gewollten Verstöße gegen die Regeln guten Sprachgebrauchs 19 . Die erste Feststellung, die sich aufdrängt, ist also negativer Art: in der attischen Klassik, also im 4. Jh. v.Chr., sind Varianten, die man zum sprachlichen Substandard rechnen könnte, weder in der Amtssprache noch in der literarischen Prosa greifbar, und es ist auf Grund der Intentionen der Verfasser der Texte auszuschließen, daß es in diesem Bereich Unterschreitungen der Normen gegeben haben könnte. Versuchen wir nun, einen angesichts der Tatsache, daß wir es mit einer nur in ihren schriftlichen Zeugnissen zugänglichen Sprachform zu tun haben, schwer faßbaren Bereich, nämlich die gesprochene Sprache, näher zu betrachten. Wir sind hier auf direkte Äußerungen der Zeitgenossen und auf die stets unbefriedigenden Spiegelungen der gesprochenen Sprache in schriftlichen Verarbeitungen angewiesen. Spiegelungen verschiedener Ebenen der attischen Umgangssprache finden wir am ehesten in der Alten Komödie, also vor allem in den Werken des Aristophanes, obwohl man nicht vergessen darf, daß auch die Komödie im Versmaß geschrieben ist und schon allein deswegen niemals eine getreue Wiedergabe des gesprochenen Attisch sein kann. Aristophanes, der ein sehr feiner Beobachter war, unterscheidet drei Arten der attischen Sprechweise (fr. 685 Kock) : διάλεκτον έχοντα μέσην πόλεως οΰτ' άστείαν ύποθηλυτέραν οϋτ' άνελεόθερον ύπαγροικοτέραν

Er hat den mittleren Dialekt der Polis und nicht den allzu weibischen der City und auch nicht den unfeinen, ganz bäurischen.

„Dies Fragment scheint trotz der Unterscheidung, die es bringt, die Einheit von Stadt und Land zu beweisen: beide hatten ihre eigene Sprechweise, gleichzeitig gab es aber noch eine dritte, die der ganzen Polis gemeinsam war" 20 . Immerhin spürt man aber auch, daß der Dialekt des Umlandes als minderwertig angesehen wurde und in den Augen der feinen Städter als unterhalb der Norm liegend, also als Substandardform, galt. Die Athener, die genügend scharfe Ohren hatten, um sich königlich darüber zu amüsieren, daß ein Schauspieler statt γαλήν' όρώ „ich sehe 19 20

Ein in Prosa gehaltenes karikierendes Genus gab es nicht. Victor Ehrenberg, Aristophanes und das Volk von Athen,

1968, 410.

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eine Windstille" γαλην όρώ „ich sehe eine Katze" (Aristoph.ran. 304) sprach, wußten natürlich wohl genau, welche Sprechweise „bäurisch", άγροικος, im Gegensatz zur feinen städtischen (άστεΐος) „Sprache", war, aber leider erfahren wir darüber nichts Konkretes. Aristophanes hebt in seiner Charakterisierung der Bauern mehr auf das unfeine Benehmen und Aussehen sowie auf die mangelnde Erfahrung im sachgerechten Darlegen von Gedanken als auf die Verwendung unpassender Ausdrücke ab (Aristoph.vesp. 1 3 2 0 - 1 3 2 1 ) : σ κ ώ π τ ω ν ά γ ρ ο ί κ ω ς και προσέτι λ ό γ ο υ ς λέγων άμαδέστατ' ούδεν είκότας τφ πράγματι

er spottet a u f b ä u r i s c h e Art und erzählt a u ß e r d e m ganz d u m m e G e s c h i c h t e n , die mit der S a c h e nichts zu tun h a b e n .

Im großen und ganzen sind Aristophanes aber die Bauern weit sympathischer als die jungen Stutzer, die unter dem Einfluß der neumodischen Redelehrer eine affektierte Redeweise angenommen hatten, also statt der Norm (μέση διάλεκτος) die Supranorm anstrebten 2 1 . In scharfem Gegensatz zu dem nachsichtigen Lächeln, mit denen die sprachlichen Schwächen der attischen Bauern behandelt werden, steht der beißende Spott, der über Leute ausgegossen wird, die in ihrer Aussprache oder Ausdrucksweise fremde Herkunft verrieten. Den Müttern bekannter Politiker wie Kleophon oder Hyperbolos wurde ihr schlechtes Attisch zum Vorwurf gemacht (Eupol.fr. 243; Archipp.fr. 27 Kock), natürlich um die Berechtigung der Söhne auf das attische Bürgerrecht in Zweifel zu ziehen. Seines thrakischen Akzentes wegen verspottete man besonders Kleophon (Aristoph.ran. 6 7 9 - 6 8 3 ) : έφ' ο ύ δ ή χ ε ί λ ε σ ι ν ά μ φ ι λ ά λ ο ι ς δ ε ι ν ό ν έπιβρέμεται Θ ρ η κ ί α χελιδών έπί βάρβαρον έζομένη πέταλον

a u f dessen zweisprachigen Lippen f ü r c h t e r l i c h tönt eine thrakische Schwalbe, die auf e i n e m b a r b a r i s c h e n Zweig sitzt.

Anlaß zum Spott gaben allerdings keineswegs nur wirklich fremdsprachige Akzente, sondern man stieß sich auch am ionischen (Aristoph.pax 933) oder böotischen (Stratt.fr. 47 Kock) Tonfall, obwohl sich besonnene Beobachter durchaus der Tatsache bewußt waren, daß in der Sprache Athens als der weltoffensten zeitgenössischen Stadt viele fremde Elemente Heimatrecht gefunden hatten (Ps.Xenoph.resp.Ath. 2,8): φωνήν πάσαν ά κ ο ύ ο ν τ ε ς έξελέξαντο τοΟτο μέν έκ της, τ ο ϋ τ ο δ ε έκ τής· καί οί μέν "Ελληνες ίδίςί μάλλον καί φ ω ν ή καί δ ι α ί τ η καί σ χ ή μ α τ ι χ ρ ώ ν τ α ι , Ά 9 η ν α ΐ ο ι δ έ κεκραμένη έξ απάντων τ ω ν 'Ελλήνων καί βαρβάρων :ι

V. E h r e n b e r g , op.cil., 2 9 0 - 2 9 1 : „ I n der O b e r s c h i c h t , sofern sie sich modern gab, liebte m a n f e i e r l i c h e R e d e n " .

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sie hören j e d e Sprechweise und haben aus der e i n e n dies, aus der anderen j e n e s herausgegriffen; und während die anderen G r i e c h e n m e h r e i n e j e w e i l s e i g e n e Sprech- weise, L e b e n s f o r m und Kleidung v e r w e n d e n , haben die Athener e i n e M i s c h u n g aus allem, das man bei G r i e c h e n und N i c h t g r i e c h e n findet.

Z u s a m m e n f a s s e n d kann m a n also sagen, d a ß in Athens klassischer Zeit, also im 5. und 4. Jh.v.Chr., die unaffektierte, möglichst wenig von den Kunstgriffen der Redelehrer beeinflußte Umgangssprache des städtischen Bürgertums als attischer Standard angesehen w u r d e ; als Substandard galten das bäurische Attisch, das sowohl regional (Sprachform des Umlandes) als auch sozial (Sprachform der unkultivierten Landbevölkerung) gekennzeichnet war, und jede Sprechweise, die f r e m d e n E i n f l u ß verriet, wobei nur der regionale Faktor zum Tragen kam (es spielte keine Rolle, ob j e m a n d bürgerlich-städtisches oder bäurischländliches Ionisch sprach, die Tatsache allein, d a ß es nicht Attisch war, zählte 2 2 ). Der erste Versuch einer theoretischen Bestimmung verschiedener Sprachebenen, der uns greifbar ist, geht auf Aristoteles (384-322) zurück. In unserem Z u s a m m e n h a n g ist seine Poetik wenig ergiebig, weil in dem uns erhaltenen Teil nur die beiden Gattungen, deren Sprachf o r m oberhalb der N o r m anzusetzen ist, nämlich die Tragödie und das Epos, abgehandelt werden. Ergiebiger sind f ü r unsere Zwecke die rhetorischen Schriften, und zwar besonders das als drittes Buch der Rhetorik figurierende Werk περί λέξεως. Aristoteles' Stilideal ist eine „angemessene Redeweise, die weder niedrig noch über G e b ü h r e r h a b e n " (rhet. 3, 1404b 3 - 4 : μήτε τ α π ε ι ν ή μήτε ύπέρ τ ό άξίωμα, ά λ λ α π ρ έ π ο υ σ α ) sein soll - in unserer Terminologie also eine von S u b n o r m und S u p r a n o r m abzusetzende Ebene des sachbezogenen Standards: „es ist ja klar, d a ß der Mittelweg der passende ist" (rhet. 3, 1414a 25: δ ή λ ο ν οτι τ ό μ έ σ ο ν άρμόττει). Angesichts der Traditionen der griechischen Literatursprache ist klar, d a ß die Absetzung von der S u p r a n o r m weit wichtiger ist als eine nähere Beschäftigung mit d e m Substandard, und nicht umsonst betont Ari" Hiermit soll natürlich keineswegs gesagt werden, daß die A t h e n e r generell j e d e f r e m d e Sprache und j e d e n anderen griechischen Dialekt als minderwertig eingestuft hätten; es geht hier nur darum, daß unattische A u s d r u c k s w e i s e v o n Leuten, die in A t h e n leben wollten und A n s p r ü c h e auf das Bürgerrecht e r h o b e n , scharf getadelt wurde. D a s attische Sprachideal war nach innen hin, auf die V e r w e n d u n g unter den Bürgern der Stadt hin, definiert; A u s l ä n d e r n und F r e m d e n g e g e n ü b e r wurde nicht etwa auf den Standard gepocht, sondern da kam es nur auf gegenseitige Verständlichkeit an, wie man ζ. B. sehr s c h ö n an den nichtattischen Dialogpartien bei A r i s t o p h a n e s s e h e n kann, w e n n es u m Kontakt mit Bürgern anderer Griechenstädte geht.

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stoteles mehrfach, daß die für Prosa angemessene Norm eine ganz andere als die der Dichtung sei (etwa rhet. 3, 1404a 28: έτέρα λόγου και ποιήσεως λέξις έστίν). Für Aristoteles hat die Prosastandardsprache offenbar eine beachtliche Bandbreite und Elastizität: je nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Stand und Stimmung ist eine andere Redeweise normal (rhet. 3, 1408a 27-30); störend wird es erst, wenn man „über gewichtige Dinge hausbacken redet oder über Belanglosigkeiten würdevoll" (rhet. 3, 1408 12-13: περί εύόγκων αύτοκαβδάλως λέγειν f| περί εύτελών σεμνώς). Aristoteles vertritt also eine weitherzige, situationsbezogene Sprachnorm; eine wirkliche Unterschreitung des Standards scheint er nur dann anzusetzen, wenn ein Verstoß gegen grammatische Regeln, ein σολοικισμός, vorliegt (rhet. 3, 1407b 18-19), denn „die Hauptvoraussetzung der Prosa ist richtiges Griechisch" (rhet. 3, 1407a 19: ¡km δ' άρχή τής λέξεως t ò έλληνίζειν). Aristoteles' Ausführungen beziehen sich freilich ebenfalls nur auf sprachliche Äußerungen hohen literarisch-kulturellen Anspruches wie Reden oder schriftstellerische Prosa, wo Phänomene sprachlichen Substandards in der Antike sowieso kaum zu erwarten sind 23 und demgemäß auch nicht theoretisch abgehandelt werden mußten. Ähnliches gilt für die Arbeiten von Aristoteles' Zeitgenossen wie z. B. Anaximenes, dessen Rhetorik ("ad Alexandrum") zufällig ins Corpus Aristotelicum geriet. Aristoteles lebte in einer Zeit, in der sich ein weltgeschichtlicher Wandel vollzog, der auch die weitere Entwicklung der griechischen Sprache tiefgreifend beeinflußte: Alexanders Eroberung des Perserreiches (327 v.Chr. abgeschlossen) machte aus dem Griechischen eine wirkliche Weltsprache. Nun hatten die Makedonier, die ohne eigenen Literaturdialekt 24 am Rande des griechischen Kulturgebietes lebten, das Attische als Amtssprache akzeptiert 25 , so daß nun das Attische zur 23

O. H o f f m a n n / A . Debrunner, Geschichte der griechischen Sprache 1, Berlin 1953, 122: „Der niedere Volksdialekt war in einem literarischen Kunstwerk ausgeschlossen". 24 R. Katicic, Die Balkanprovinzen, in: Die Sprachen im römischen Reich der Kaiserzeil, Köln/Bonn 1980, 103-120, bes. 109: „Über die Sprache der Makedonen haben wir keine eindeutigen Nachrichten, doch scheint es nach allem, was wir erfahren können, und vornehmlich nach ihrer Personennamengebung am wahrscheinlichsten, daß sie einen griechischen Dialekt, wohl dorischer Prägung, gesprochen haben. . . . Sie haben an der Bildung des hellenischen Kulturkreises nicht teilgenommen, lebten jahrhundertelang in Abgeschiedenheit und öffneten sich erst spät und plötzlich hellenischen Einflüssen". 25 J. Kramer, Antike Sprachform und moderne Normsprache 2, Balkan-Archiv 11, 1986, 117-209, bes. 141.

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Verwaltungssprache aller neu eroberten Gebiete wurde. „Die neuen Zentren griechischer Kultur, Alexandria, Pergamon, Antiochia, lagen außerhalb des eigentlichen griechischen Kernlandes, und so ist es nicht verwunderlich, wenn sich dort eine griechische überlokale Redeweise als typische Kolonialsprache durchsetzte" 26 . Auf attischer Basis entstand so eine allen von der griechischen Kultur geprägten Menschen gemeinsame Sprache, die κοινή, aber es handelte sich dabei nicht einfach um Attisch, sondern um eine Sprachform, die von typischen Provinzialismen Attikas gereinigt und dafür mit einigen Bestandteilen aus anderen Dialekten, besonders aus dem Ionischen, bereichert worden war 27 . Diese neue Sprachform wurde im allgemeinen in der literarischen Prosa verwendet, wenn man von einigen Ausnahmefällen, bei denen bewußt eine völlig andere Sprachform (ionisch bei Medizinschriftstellern, dorisch bei Archimedes, usw.) benutzt wurde, absieht 28 . Die lebendige Umgangssprache der tonangebenden Kreise der griechischen Welt war somit zum Standard auch für die literarische Prosa geworden; Rückgriffe auf das ältere Attische der großen Zeit galten allerdings, sofern sie maßvoll geschahen, durchaus als bereichernd und sprachverbessernd 29 . Die literarische κοινή ist uns leider nur sehr fragmentarisch überliefert, weil sie dem Anathema späterer, völlig anders orientierter Stilisten anheimfiel. So ist uns bereits das, was als literarische Standardnorm der κοινή gelten kann, lediglich unvollkommen bekannt; bezüglich literarischer Verwendung von Substandardformen tappen wir für die κοινή vor dem ersten Jahrhundert n.Chr. völlig im dunkeln. Dennoch steht uns für die Substandardform des κοινή-Griechischen eine Quelle zur Verfügung, die uns einen Zugang ermöglicht, von dem man für die vorangehende Epoche nicht einmal träumen kann: ich meine die in Ägypten, das ja 334 v.Chr. von Alexander dem Großen erobert worden war 30 , gefundenen griechischen Papyri, die uns zahlreiche Zeugnisse privaten Alltagssprachgebrauches (persönliche Notizen, Briefe usw.) liefern 31 . Wir haben es also zum ersten Male mit 26

J. Kramer, op.cit., 142. J. Kramer, op.cit., 143. 28 A. Debrunner, Geschichte der griechischen Sprache 2, Berlin 1954, 24 und 34. 29 A. Debrunner, op.cit., 98. 30 Der älteste datierte Papyrus, den wir haben, stammt aus dem Jahre 311/310 v.Chr., aber auf Grund der Schrift und anderer Kriterien lassen sich noch einige weitere Papyri ins 4. Jh.v.Chr. datieren, vgl. Orsolina Montevecchi, La papirologia, Torino 1973, 50. 31 Eine erste Orientierung zur Papyrologie für Außenstehende bietet J. Kramer, Papyrologie - eine interdisziplinäre Wissenschaft, Siegener Hochschulblätter 7 (1), 1984, 64-73. 27

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Sprachäußerungen zu tun, die nicht in irgendeiner Weise für die Veröffentlichung gedacht waren (auch Inschriften sind ja schließlich eine Form von Veröffentlichung, Privatbriefe und Notizen aber sind es nicht). Am leichtesten läßt sich die Sprachform, die uns in derartigen Zeugnissen entgegentritt, an einem konkreten Beispiel demonstrieren. Ich wähle eine Lohnforderung, die die Dammwächter gegenüber ihrem Dienstherrn erheben ; das Dokument stammt aus dem mehr als tausend Papyri umfassenden Archiv des Verwaltungsmanagers Zenon 3 2 (PSI IV421 33 ) und ist in die zweite Hälfte des 3. Jh.v.Chr. zu datieren. Ζήνωνι oi χωματοφύλακες χαίρειν. Γείνωσκε ήμδς διμήνου όψώνι-

Die Dammwächter grüßen Zenon. Wisse, daß wir für zwei Monate keinen ov οΰκ έχοντας οΰδέ σειτομετρία(ν], Lohn (bekommen) haben und auch keine άλλά μηνός ήνός· καλώς ά ν ούν Kornzuteilung, sondern die nur für ποιήσαις δούς ήμεΐν, Ινα μή κεινδυνεύ- einen. Du tätest gut daran, uns ωμεν ώδέ σε Οεραπεύοντες. έ τέ zu bezahlen, damit wir, die wir dir διώρυξ πλήρης έστίν. ώστε εΐ so sehr dienen, keine Unbill erleiden, μέν διδοϊς ή μ ε ΐ ν εΐ δέ μή, άποDer Kanal ist aber voll. Also, wenn du δραμούμεδα· ού γαρ Ισχύομεν. uns bezahlst, (gut); wenn aber nicht, δρρωσο. dann werden wir weglaufen; es geht uns nämlich nicht gut. Lebe wohl!

Schon die Orthographiefehler 3 4 (γείνωσκε = γίγνωσκε, σειτομετρία = σιτομετρία, ήνός = ένός, κεινδυνεύωμεν = κινδυνεύωμεν, έ τέ = ή δέ, ήμεΐν = ήμΐν) zeigen, daß wir es nicht mit einem Schreiber zu tun haben, der mit den Finessen der Norm der griechischen Schriftsprache besonders vertraut wäre. Die Sprachform des Textes weist in dieselbe Richtung. Es herrschen kurze Satzformen vor, und es ist eine bestimmte Vorliebe für Partizipialkonstruktionen, die ja weniger Anpassung an die Satzkonstruktion als finite Formen erfordern, festzustellen. Noch auffälliger ist das Fehlen des Hauptsatzes, der die eigentlich wichtige Aussage „dann sind wir einverstanden" o. ä. enthalten müßte, nach dem Bedingungsnebensatz εί μέν διδοΐς ή μ ΐ ν ; wir haben es hier mit 32

Claire Préaux, Les Grecs en Egypte d'après les archives de Zénon, Bruxelles 1947. 33 Vgl. auch den Abdruck mit Kommentar bei J. Hengstl, Griechische Papyri aus Ägypten, München 1978, 35-38. 34 Auf der Analyse von Orthographiefehlern beruht unsere Kenntnis der Phonetik (E. Mayser, Grammatik der griechischen Papyri aus der Ptolemäerzeit l: Einleitung und Lautlehre, Berlin 21970) und Phonologie (S. T. Teodorsson, The Phonology of Ptolemaic Koine, Göteborg 1977) des in Ägypten gesprochenen Griechisch.

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einer f ü r die Umgangssprache typischen Ellipse zu tun 35 , die in der Standardsprache absolut unerträglich wäre, weil ja die Klarheit von Inhalt und Konstruktion leidet. Umgangssprachliche Kürze, die zu Mißverständnissen des Sinnes f ü h r e n könnte, liegt auch im ersten Satz vor, wo man eigentlich άλλα ταύτην μηνός ένός erwarten würde, u m auszuschließen, daß μηνός ένός auch auf ό ψ ώ ν ι ο ν und nicht nur, wie es der Sinn erfordert, auf σιτομετρίαν bezogen wird 36 . Charakteristika der Subnorm, die uns aus Papyrusdokumenten entgegentreten, sind also Abweichungen von der Orthographienorm 3 7 , Hintanstellung der eindeutigen Syntaxregeln, der G r a m m a t i k n o r m zugunsten freierer Ausdrucksweisen, die aber zuweilen nur im situationsgebundenen Kontext klar werden, sowie elliptische Wendungen. Je weiter sich die gesprochene Sprache von der klassischen N o r m wegentwikkelt, desto häufiger werden auch Abweichungen von der üblichen Morphologie. Natürlich treten beachtliche Unterschiede im Grad der Normabweichungen auf, die vom Bildungsniveau der Verfasser/Schreiber und auch von der Epoche, in der das betreffende D o k u m e n t abgefaßt wurde (Faustregel : je jünger, desto mehr Normverstöße), abhängen. Als Beispiel f ü r eine besonders n o r m f e r n e Sprachform folge hier der Brief des kleinen Theon an seinen Vater, ein Paradestück umgangssprachlicher Ausdrucksweise aus dem 2./3. Jh.n.Chr. (P.Oxy.I 119), das schon oft kommentiert wurde 38 . „Ausdrucksweise, Formenlehre, Syntax und Stil sind auf diesem Blatt noch viel urwüchsiger als auf anderen vulgär 35

E. Mayser, Grammatik der griechischen Papyri aus der Ptolemäerzeit II 3, Berlin/Leipzig 1934, 7 - 8 : „Nicht selten tritt εί δε μή in Gegensatz zu einem Bedingungssatz mit et oder έάν μή, der teils einen Nachsatz bei sich hat, teils aber auch ohne άπόδοσις bleibt, worauf ει δέ μή nach einer Aposiopese zu einem wichtigeren Gedanken übergeht". 36 ούδέ dient in unserem Text nicht, wie es üblich ist, der einfachen Anreihung eines negativen Satzgliedes (dann ergäbe sich der hier nicht gemeinte Sinn: „wir haben für zwei Monate keinen Lohn und auch keine Kornzuteilung bekommen, sondern nur für einen"), sondern es hat „im engsten Anschluß an die vorausgegangene Negation die selbständige Bedeutung .nicht einmal, auch nicht' (ne . . . quidem) erhalten" (E. Mayser, Grammatik der griechischen Papyri aus der Ptolemäerzeit II 2, Berlin/Leipzig 1934, 566). 37 Es gibt Texte aus dem Schulbereich, wo die Abweichungen so stark sind, daß der gemeinte Sinn nur noch geraten werden kann, vgl. J. Kramer, Sprachliche Bemerkungen an Schuldiktaten, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 64, 1986, 246-254. 38 Man vergleiche besonders Adolf Deissmann, Licht vom Osten, Tübingen 4 1923, 168-171. Richtig ist dort die Bemerkung, daß „der Gräzist aus der .schlechten' (tatsächlich im ganzen phonetischen) Orthographie mehr lernt als aus zehn korrekten Kanzlei-Urkunden".

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geschriebenen Papyri, weil eben ein Kind die Feder führt. Der Junge spricht, wie er denkt, und schreibt, wie er spricht" 39 . Als Situation ist anzunehmen, daß Theon schmollt, weil sein Vater ihm versprochen hatte, ihn nach Alexandria mitzunehmen, dann aber in „die Stadt", also die lokale Metropole Oxyrhynchos, aufgebrochen war, ohne zu sagen, daß das die erste Etappe auf dem Wege nach Alexandria sein sollte. Θέων Θέωνι τφ πατρί χαίρειν. καλώς ¿ποίησες- ούκ άπένηχές μεμετ' έσοϋ εις πόλιν. ή ού δέλις άπενέκκειν μετ' έσοϋ εις Αλεξανδρίαν, ού μή γράψω σε έπιστολήν οϋτε λαλώ σε ούτε υίγένω σε είτα. αν δέ ελθης εις Αλεξανδρίαν ού μή λάβω χεΐραν παρά [σ]οΰ οϋτε πάλι χαίρω σε λυπόν. άμ μή 9έλΐ)ς άπενέκαι μ[ε], ταϋτα γε[ί]νετε. και ή μήτηρ μου επε Άρχελάω, δτι άναστατοι μέ· άρρον αύτόν. καλώς δέ έποίησες· δώρά μοι έπεμψες μεγάλα, άράκια. πεπλάνηκαν ήμώς έκε[ίνη] τή ήμερα ιβ', ότι έπλευσες, λυπόν πεμψον εϊ[ς] με, παρακαλώ σε. άμ μή πέμψης, ού μή φά γω, ού μή πείνω. ταύτα. έρώσΟέ σε εϋχ (ομαι).

Theon grüßt seinen Vater Theon. Das hast du ja schön gemacht: du hast mich nicht in die Stadt mitgenommen. Wenn du mich nicht nach Alexandria mitnehmen willst, werde ich dir weder einen Brief schreiben noch mit dir sprechen noch dir dann Gesundheit wünschen. Wenn du nach Alexandria gehst, nehme ich von dir keine Hand, noch grüße ich dich je wieder. Wenn du mich nicht mitnehmen willst, passiert das! Auch meine Mutter hat dem Archelaos gesagt: „Er regt mich auf; nimm ihn fort!". Das hast du ja schön gemacht: große Geschenke hast du mir geschickt, Erbsen! Beschwindelt haben sie uns am 12., als du weggefahren bist. Also schicke bitte nach mir! Wenn du nicht (nach mir) schickst, esse und trinke ich nicht. Soweit. Ich wünsche dir Wohlergehen.

Dieser Brief wimmelt nicht nur von Orthographiefehlern (ή = εί, θέλις = θέλεις, υίγένω = ύγιαίνω, λ υ π ό ν = λοιπόν, άπενέκαι = άπενέγκαι, γείνετε = γίγνεται, ά ρ ρ ο ν = άρον, ήμώς = ήμάς, πείνω = πίνω, έρωσΟε = έρρώσθαι), die zu einem großen Teil auf die inzwischen sehr starke Divergenz zwischen der Aussprache und der Schreibung zurückzuführen sind 40 , sondern wir finden auch Indizien für Substandardphänomene. Das betrifft zunächst den morphologischen Bereich: Der Unterschied zwischen den Personalendungen des Aorists und des Imperfekts ist zugunsten der Imperfektendungen aufgehoben 39 40

Robert Helbing, Auswahl aus griechischen Papyri, Berlin/Leipzig 21924, 112. F. Th. Gignac, A Grammar of the Greek Papyri of the Roman and Byzantine Periods 1, Milano 1976, 57-59.

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(έποίησες, nicht έποίησας; επεμψες, nicht επεμψας; έπλευσες, nicht επλευσας), darüber hinaus sind die Aoristendungen an die Stelle der Personalendungen im Perfekt getreten, die davon abwichen (πεπλάνηκαν statt πεπλανήκασιν), es treten gewisse formale Vermischungen zwischen den Endungen der 1./2. und der 3. Deklination ein (χεΐραν statt χείρα) usw. In der Syntax ist zunächst die Vorliebe für die Parataxe statt der in der gepflegten Schriftsprache vorgezogenen Hypotaxe festzuhalten (auffällig besonders der unverbundene Anschluß nach dem zweimaligen καλώς έποίησες); in Zusammenhängen, wo kein Mißverständnis vorkommen kann, steht statt des von der Norm geforderten Futurs Präsens (etwa ταΟτα γε[ί]νετε statt ταΟτα γενήσεται) ; häufiger Gebrauch der starken Verneinung ού μή ohne Beachtung der komplizierten Regeln für ihre Anwendung; Nichtbeachtung des Unterschiedes zwischen εί und έάν; Verwechselung von Dativ und Akkusativ (γράψω σε statt σοι, ebenso λαλώ σε statt σοι). Schließlich ist die Wortwahl in einigen Fällen deutlich von dem abweichend, was in der Literatursprache normal wäre: άποφέρειν „mitnehmen" (klassisch nur von Sachen, „wegtragen"), λαλεΐν „sprechen" (eigentliche Bedeutung „schwätzen"), άναστατοϋν „in Unordnung bringen" (klassisch nur άνάστατον ποιεΐν), Vorliebe für reihendes λοιπόν (λυπόν geschrieben), bekräftigendes ταΟτα. Ich breche hier ab, obwohl es in dem Briefchen durchaus noch weitere Erscheinungen gibt, die uns zumindest einen schattenhaften Eindruck vom sprachlichen Substandard im Griechischen der ersten Jahrhunderte nach der Zeitenwende geben können. Man kann aber gar nicht genug betonen, daß uns einzelne Phänomene entgegentreten, die dem Substandard zugerechnet werden müssen, daß aber der Druck der Norm auf alle diejenigen, die überhaupt in der Lage waren, die Feder zu führen - und das war sicher nur eine in bezug auf die Bildung privilegierte Minderheit 41 - enorm stark war: niemand wollte bewußt von der Norm abweichen, sondern man bemühte sich vielmehr mit aller Kraft um ihre Einhaltung. Ein Zeugnis, das durchgängig unbeeinflußt von der Norm die Umgangssprache wiedergeben will, existiert nicht. Wie schwierig es ist, unter diesen Umständen ein klares Bild zu gewinnen, kann man ermessen, wenn man sich einmal vorstellt, wir wären für unsere Kenntnis vom Substandard-Französisch wirklich ausschließlich auf die berühmten „Soldatenbriefe" angewiesen! Wir sind nun bei der Betrachtung der Sprache von Papyrusdokumenten bis ins 3. Jh.n.Chr. vorgeprescht, um den Zusammenhang nicht zu 41

W. V. Harris, Literacy and Epigraphy, phik 52, 1983, 87-111.

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zerreißen; inzwischen waren aber auch im Bereich der literarischen Prosa einige wichtige Veränderungen bezüglich des Sprachstandards erfolgt, die wir nun kurz in den Blick nehmen wollen. Zunächst hatte die literarische Prosa die sprachlichen Veränderungen, die auf dem Wege vom Attischen zur κοινή stattgefunden hatten (siehe oben), bereitwillig mitgemacht: Die in den Diadochenreichen übliche κοινή war zur Literatursprache geworden, mit anderen Worten, die Schriftsprache folgte den Veränderungen der Sprechsprache - also Verhältnisse, wie sie uns aus dem modernen Sprachen geläufig sind. Der für uns am besten greifbare Vertreter der literarischen κοινή ist der Geschichtsschreiber Polybios (200-120 v.Chr.), der die urbane Umgangssprache der gebildeten Kreise seiner Zeit in etwas verfeinerter Form als Schriftsprache verwendete 42 . Gewisse Änderungen im Geschmack, die mit Konflikten zwischen verschiedenen Stilidealen verbunden sind, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann 43 , führten jedoch dazu, daß die Verknüpfung der Literatursprache mit der gesprochenen Sprache mehr und mehr zugunsten eines auf die Schreibweise der attischen Autoren des 4. Jh.v.Chr. ausgerichteten Spracharchaismus aufgegeben wurde. Die Nachahmung von Sprache und Stil der attischen Klassiker, der sogenannte Attizismus, begann im 1. Jh.v.Chr. bei Literaten, die in Rom tätig waren (Caecilius von Kaie Akte, Dionysios von Halikarnassos), und erreichte im 1. Jh.n.Chr. einen ersten Höhepunkt. Zu Anfang wehrte man sich noch gegen Auswüchse wie Jagd auf entlegene Formen und Ausdrücke, aber sehr bald wurde die Frage, ob ein Wort im Attischen belegt sei oder nicht 44 , zum alles entscheidenden Kriterium für die Sprachqualität. Neben dem Wortschatz galt es aber, um Anerkennung zu finden, auch den Formenbestand und die Syntax des Attischen des 4. Jh. zu übernehmen 4 5 . Eine der gebildeten Umgangssprache nahestehende Schreibweise wurde mehr und mehr aus der Literatur verbannt, ja, mehr noch, die Schriftsteller des 3. bis 1. Jh.v.Chr. fielen aus sprachlichen Gründen der Verdrängung aus dem Kanon der lesenswerten Werke anheim (und sind daher in der Regel heute nicht mehr erhalten) 46 . 42

J. Palm, Über Sprache und Stil des Diodor, Lund 1955. A. Dihle, Griechische Literaturgeschichte, Stuttgart 1967, 388-391. 44 Athenaios (1,1) berichtet, Ulpianus von Tyros habe den Spottnamen Keitukeitos (Κειτούκειτος < κείται ή ού κείται; „belegt oder nicht belegt?") getragen, weil er, bevor er eine Speise zu sich nahm, fragte, ob ihr Name attisch belegt sei oder nicht. 45 J. Kramer, Antike Sprachform und moderne Normsprache 2, Balkan-Archiv 11, 1986, 117-209, bes. 147-151. 46 J. Kramer, op.cit., 144-145. 43

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Durch diese Entwicklung trat natürlich eine zunehmende Versteinerung der Schriftsprache ein. Literatursprachlicher Standard war auf einmal nicht mehr nur eine verfeinerte Ausprägung der aktuellen Umgangssprache gebildeter Kreise, sondern es galt, einen zeitlichen Sprung von einigen Jahrhunderten nach rückwärts zu machen. Damit war eine völlig neue Situation eingetreten: Nicht mehr das eigene muttersprachliche Sprachgefühl konnte als Richtschnur dienen, sondern Maßstab der Korrektheit waren Belege aus einem ziemlich abgeschlossenen Textkorpus, nämlich dem der klassischen Attiker. Sprachliche Spontaneität bedeutete strenggenommen bereits einen Normverstoß und wäre von strengen Attizisten, wenn sie unsere Terminologie gekannt hätten, dem Substandard zugerechnet worden, weil eben der Standard Verifizierung jeder sprachlichen Äußerung literarischen Anspruches am Sprachgebrauch der attischen Klassiker erforderte 47 . Weitsichtigere Schriftsteller vermieden natürlich derartige Übertreibungen; so plädierte etwa Lukian im 2. Jh.n.Chr. für ein Abweichen von den attischen Vorbildern, wenn das zur klareren Ausdrucksweise erforderlich war, aber diese Einsicht hinderte ihn keineswegs, selbst ein in höchstem Maße am Attischen ausgerichtetes Griechisch zu schreiben 48 . Der Siegeszug des Attizismus schuf eine doppelte Sprachbarriere: Auf der einen Seite wurde jedem, der die Feder in die Hand nahm, eine ziemlich komplizierte historische Sprachnorm aufgezwungen 49 , auf der anderen Seite öffnete sich die Schere zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache immer weiter, bis schließlich für Ungeübte Verständnisschwierigkeiten nicht mehr ausbleiben konnten. Wann dieser Zustand erreicht war, läßt sich schwer sagen, aber man darf sicher annehmen, daß hochstilisierte Partien schon im 2. Jh.n.Chr. wenig gebildeten Hörern nicht mehr ohne weiteres völlig verständlich waren. Es waren eigentlich nur zwei literarische Gattungen, in denen der Einfluß des Attizismus gering blieb (völlig auszuschließen ist er auch dort nicht), nämlich die Fachschriftstellerei 50 und die auf Wirkung bei einem breiten, auch ungebildeten Publikum bedachte weltanschauliche 47

Hilfsmittel waren die sogenannten attizistischen Wörterbücher, die nach dem Prinzip „nicht . ..", „sondern . .." aufgebaut waren. 48 W. Schmid, Der Atticismus in seinen Hauptvertretern 1, Stuttgart 1887, 216-232. 49 Der Normdruck war so stark, daß mehr und mehr auch in von Halbilliteraten geschriebenen, von Fehlern strotzenden Papyri ein Bemühen um attische Formen zu bemerken ist; typisch ist hier der Fall des jüngeren ούθείς, das im 1. Jh.n.Chr. vor dem klassischen ούδείς zurückweichen mußte. 50 A. Debrunner, Geschichte der griechischen Sprache 2, Berlin 1954, 24.

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Schriftstellerei, wie sie uns etwa in den Diatriben Epiktets (50-138 n.Chr.) 51 oder eben in den Schriften des Neuen Testamentes entgegentreten. „Von dem neutestamentlichen Griechischen als Ganzem läßt sich wegen der keinesfalls einheitlichen Sprache der einzelnen Schriftsteller nur ganz allgemein sagen, daß es weder die vornehme attizistische Literatursprache noch die einfache ungebildete Umgangssprache ist" 52 ; man muß allerdings festhalten, daß der Abstand von der uns sonst geläufigen Literatursprache oft, so etwa in der sehr nachlässig geschriebenen Apokalypse, ganz beachtlich ist, und sogar in den sorgfältiger stilisierten Partien (Lukas, Paulus, Hebräerbrief) „tritt von eigentlich klassischer Bildung so gut wie nichts hervor" 53 . Keine der Schriften des Neuen Testaments vermochte auch nur im entferntesten die Ansprüche zu erfüllen, die Stilistiker des 1. Jh.n.Chr. an „gute" Prosa zu stellen gewöhnt waren 54 . Dieses Manko wurde aber zunächst überhaupt nicht empfunden, weil „die christlichen Gemeinden von der ältesten Zeit an bis auf Mark Aurel ganz überwiegend aus geringen Leuten, aus Sklaven, Freigelassenen und Handwerkern, bestanden haben" 55 . Erst als das Christentum auch in gebildete Kreise vordrang, wurde es zum Problem, daß die Sprache der Basisschriften der neuen Religion erheblich unterhalb des üblichen Standards literarischer Werke anzusiedeln war. Im allgemeinen legten sich die christlichen Schriftsteller die Erklärung zurecht, daß „die neue Religion die Welt habe gewinnen wollen und sich daher einer allen verständlichen einfachen Sprache habe bedienen müssen" 56 . So schreibt etwa Orígenes (185-253), daß gerade die Tatsache, daß völlig ungebildete τελώναι και ναϋται, Zolleinnehmer und Schiffer, Überzeugungsvermögen hatten, bewiesen habe, daß Gottes Kraft durch sie gesprochen habe und sie nicht etwa Propagandisten einer neuen philosophischen Richtung, wie es schon so viele gab, gewesen seien (c.Cels.1,62). Trotz der von der Kirchenschriftstellern vorgenommenen Verteidigung des sermo humilis57 der Bibel gab es im griechischen Bereich 51

A. Debrunner, op.cit., 20. F. Blass/A. Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 16 1984, 3. 53 F. Blass/A. Debrunner, op.cit., 3. 54 J. Kramer, Antike Sprachform und moderne Normsprache 2, Balkan-Archiv 11, 1986, 117-209, bes. 153. 55 A. von Harnack, Die Mission und die Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 1924, 559. 56 E. Norden, Die antike Kunstprosa, Leipzig/Berlin 1909, 521 (mit Belegen). 57 E. Auerbach, Gesammelte Aufsätze, Bern/München 1967, 21-26. 52

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kaum jemanden, der seine eigene Schreibweise nach der Bibelsprache ausrichtete. „In der Theorie haben die christlichen Autoren von den ältesten Zeiten an bis tief in das Mittelalter hinein fast ausnahmslos den Standpunkt vertreten, daß man ganz schlicht schreiben müsse, in der Praxis haben sie das gerade Gegenteil befolgt" 58 . Daß es ein gewisses Unbehagen angesichts der mangelnden Eleganz der Bibelsprache immer gab, zeigt das Beispiel der μεταβολή des Nonnos (5. Jh.n.Chr.), einer Umsetzung des Johannesevangeliums in Hexameter: Hebung des Sprachniveaus, um dem Inhalt eine würdigere Form zu geben. Wenn wir zusammenfassend den Zustand der griechischen Sprache in den ersten Jahrhunderten nach Christus, also zur Römerzeit, charakterisieren wollen, so könnten wir folgendes sagen: Der Standard der Literatursprache hatte sich nach oben verschoben, weil nicht mehr die gepflegte Umgangssprache der besseren Kreise die Norminstanz war, sondern ein an einer vergangenen Epoche, der attischen Klassik, ausgerichteter Sprachgebrauch erwünscht war. Damit rechnete bereits zum Substandard, was in vorhergehenden Epochen durchaus noch auf der Standardebene stand, nämlich die unaufgeputzte Verwendung urbaner Umgangssprache. Jeder, der etwas schrieb, streckte sich nach dem hoch angesetzten Standard, wodurch sich die auffällige Unausgeglichenheit in der Schreibweise der weniger Gebildeten erklärt: Wendungen vulgärer Art stehen neben attizistischen Archaismen. Die Sprache der Bibel, die der Umgangssprache näher stand als andere literarische Erzeugnisse derselben Zeit, vermochte sich nicht als normgebende Instanz durchzusetzen; christliche Schriftsteller priesen zwar die Einfachheit der Ausdrucksweise, hüteten sich aber, diese selber anzuwenden. Wir müssen unter diesen Umständen davon ausgehen, daß die Differenz zwischen der geschriebenen Sprache (auch in nichtliterarischer Verwendung: Auch der ungebildetste Schreiber, der Aufzeichnungen für den Alltagsgebrauch vornahm, spürte den Druck der Norm, was man ζ. B. an zahlreichen Hyperkorrektismen sehen kann 59 ) und der gesprochenen Sprache immer größer wurde, denn die gesprochene Sprache entwickelte sich selbstverständlich weiter, während die Schreibsprache in ihrer Fixierung auf das Attische der klassischen Zeit erstarrt war. Dennoch kam es in der Antike noch nicht zu einer so starken Divergenz zwischen beiden Ebenen, daß man wirklich von ernsthaften Strukturunterschieden sprechen müßte. Die Startpositio58 59

E. Norden, op.cit., 529. Robert Browning, Medieval and Modern Greek, London 1969, 31: "The literate tended to maintain in use words and forms which were being replaced in the speech of the mass of the people, and all our evidence comes from the literate".

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nen für die Diglossie der byzantinischen Zeit wurden in der Spätantike bezogen, aber noch verhinderte das starke Bewußtsein der Spracheinheit ein offenes Aufbrechen des Konfliktes. Mit dem Übergang von der Antike zur byzantinischen Zeit 60 bahnte sich unmerklich - und wahrscheinlich auch von den Protagonisten unbemerkt - eine weitere Verschiebung des Sprachstandards an. Für die Attizisten der ersten zwei Jahrhunderte nach Christus war wirklich das klassische Attisch das Sprachideal gewesen, dem nahezukommen den Begabtesten unter ihnen sogar gelang. In der Theorie wurden die Postulate des Attizismus ständig wiederholt; jedem war klar, daß man das Attische anstreben solle, und folglich hieß „guten Stil schreiben" Άττικώς γράφειν 6 1 . In der Praxis fand freilich eine bemerkenswerte semantische Verschiebung statt. „Die byzantinische Epoche hat ihre gelehrte Sprache, die sie ,attisch' nannte, durch Anleihen bei allen möglichen nichtattischen Autoren der Antike bereichert. Α τ τ ι κ ό ς wird gleichbedeutend mit άρχαίως und δοκίμως, und was dazu gehört, läßt sich am besten negativ bestimmen: Was immer möglichst wenig mit der geläufigen Sprache des Alltags und mit der Sprache jener zu tun hat, die in ihren Werken die Sprache ,der vielen' (τών πολλών) sprechen und die λέξεις ίδιωτικάς verwenden. Attisch ist somit alles ,Antikische'. Um der Sprache diese Färbung zu geben, verwenden die Byzantiner nicht selten alte Dialektformen - oder was sie dafür halten -, die so unattisch wie nur denkbar sind. Sie befleißigen sich homerischer Wendungen, nehmen aber auch Anleihen bei Gregor von Nazianz, einem der beliebtesten Stilmuster, auf; Aelius Aristides oder Libanius gelten soviel wie Demosthenes, ja selbst Schriften der literarischen Koiné können im Laufe der Zeit zum Rang von Klassikern kommen" 62 . Es wurde also zum Stilideal, auf jeden Fall so zu schreiben, wie man n i c h t sprach: Je seltener die Wörter, die man sich aus möglichst entlegenen Schriftstellern zusammenklaubte, je ungewöhnlicher die Formen, bei denen man eine Vorliebe für längst Totes wie den Dual oder den Optativ feststellen kann, je gedrechselter schließlich die Syntax, desto besseres Griechisch glaubte man zu schreiben. Konsequenterweise schauten die Vertreter dieser artifiziellen Hochsprache auf alle diejenigen herab, die Sprechsprachliches - also in ihren Augen den Substandard (χυδαιότης „Niedrigkeit") - einfließen ließen. Diese Haltung 60

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Eine genaue Abgrenzung gibt es selbstverständlich nicht; man wird am besten das 4./5. Jh. als Übergangsepoche betrachten, vgl. W. Christ, Geschichte der griechischen Literatur, München 2 1890, 525. J. Kramer, Antike Sprachform und moderne Normsprache 2, Balkan-Archiv 11, 1986, 117-209, bes. 157. H. G. Beck, Geschichte der byzantinischen Volksliteratur, München 1971, 1.

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wurde noch dadurch gesteigert, daß die Verfasser der hochsprachlichen Literatur durchweg der gesellschaftlichen Elite von Byzanz angehörten 63 . Der überhöhte schriftsprachliche Standard konnte jedoch nicht verhindern, daß auch weit niedriger anzusetzende Sprachformen in die Literatur Eingang fanden und uns so greifbar werden. Schon aus der Frühzeit des byzantinischen Reiches sind uns bei Historikern Spottverse volksliedhaften Charakters überliefert 64 , und schließlich erfolgte auch in der eigentlichen Literatur hier und dort eine Orientierung in Richtung auf die Volkssprache. Romanhafte Erzählungen (Alexanderroman, Barlaam und Josaphat), populäre Naturkunden (Physiologus), Fabeln (verschiedene Äsop-Redaktionen), homiletische und hagiographische Texte 65 sollten ja auch und besonders von weniger Gebildeten verstanden werden und mußten daher der Umgangssprache Zugeständnisse machen, wenn auch keineswegs etwa auf stilistischen Aufputz verzichtet wurde. Man kann dieses Sprachverhalten, das zwischen den Ansprüchen der Supernorm und der Notwendigkeit, sich an die Subnorm anzupassen, um verständlich zu bleiben, hin und her schwankt, sehr schön an der typischen Trivialliteratur 66 der Byzantiner, den Chroniken, beobachten. Johannes Malalas (6. Jh.) stellte zum Beispiel „sein Sprachniveau etwa auf gehobene Umgangssprache ein. Nur so konnte er hoffen, von den breiten Volksschichten, für die er schreiben wollte, verstanden zu werden. Einerseits benutzte er zahlreiche Elemente der Volkssprache, andererseits bediente er sich des alten Sprachgutes in durchaus freier Weise und erzielte so einen literarisch brauchbaren, aber auch leicht lesbaren Text" 67 . Parataxe, Periphrase (434,19: συνέβη έχθραν γενέσθαι statt έχθρα έγένετο), Anakoluth, Partizip statt Nebensatz, formelhafte Sprache, Fachterminologie - all das ist das Volkssprachliche bei Malalas, dem dann doch immer wieder klassizistische Schminke aufgelegt wird 68 . 63

H. Hunger, Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner 1, München 1978 XXV. 64 Paul Maas, Metrische Akklamationen der Byzantiner, Byzantinische Zeitschrift 21, 1912, 28-51. 65 H. G. Beck, Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich, München 1959, 398-411. 66 Diese Charakterisierung stammt von Herbert Hunger, Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner 1, München 1978, 257-278. 67 H. Hunger, op.cit., 323. 68 K. Weierholt, Studien im Sprachgebrauch des Malalas, Oslo 1963; K. Wolf, Studien zur Sprache der Malalas 1-2, München 1911/1912; L. Merz, Zur Flexion des Verbums bei Malalas, Pirmasens 1911; P. Helms, Syntaktische Untersuchungen zu Joannes Malalas und Georgios Sphrantzes, Helikon 11-12, 1971/1972, 309-388.

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Allerdings entstand trotz der bemerkenswerten Abweichung von der klassizistischen Standardsprache, die man in den sich an Ungebildete richtenden Genera feststellen kann, niemals das Gefühl, man habe es mit zwei verschiedenen Sprachen zu tun. Anders als im Westen, wo vom 8. Jh. an allmählich ein Bewußtsein dafür aufkommt, daß die Umgangssprache nicht einfach schlechtes Latein, sondern etwas ganz Neues und Eigenes darstellt 69 , „ist es im griechischen Osten zu einer konsequenten Trennung zwischen dem Alten und Neuen, dem Toten und dem Lebendigen niemals gekommen; die Griechen zogen es vor, die im Spiritus der Schulbildung künstlich aufbewahrte, erstarrte, verblaßte und leblose alte Haut als literarischen Sonntagsstaat auch fernerhin zu tragen oder wenigstens die neue Haut mit den Fetzen der alten zu verkleistern und zu verdecken" 70 . Während also im Westen die romanischen Idiome immer mehr einen eigenen Sprachstandard entwickelten und nicht einfach als Substandard-Form des Lateinischen betrachtet wurden 71 , konnten im griechischen Osten die sprachlichen Ausdrucksweisen, die sich der wirklich gesprochenen Sprache annäherten, eigentlich nie den Makel loswerden, nur „schlechtes Griechisch", also Substandard, zu sein; ein eigener volkssprachlicher Standard, eine Norm der lebendigen Sprache, bildete sich unter diesen Umständen nicht heraus, wodurch es sich erklärt, warum wir in den der Volkssprache verpflichteten Texten eine sehr große sprachliche Inkonsistenz, ein willkürlich anmutendes Nebeneinander lebendiger und toter Formen, ein stilistisches Hin- und Herspringen bei demselben Autor finden. Anders als in den romanischen Sprachen, wo nur lateinische Wörter in einer an den romanischen Sprachcharakter angepaßten Form übernommen werden, sind es im Griechischen auch morphologische und syntaktische Erscheinungen, die aus der antikisierenden Ausdrucksweise übergangslos in die Volkssprache übernommen werden können 72 . Die treffendste Charakterisierung dieser Sprachform stammt von Karl Krumbacher, demzufolge man sich eine Vorstellung vom Zustand des Griechischen machen kann, wenn man annimmt, Dante hätte nicht Nessun maggior dolore / che ricordarsi del tempo

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J. Kramer, Lingua Latina, Lingua Romana, Romanice, Romanisce: Studien zur Bezeichnung des Lateinischen und Romanischen, Balkan-Archiv 8, 1983, 79-94. Karl Krumbacher, Geschichte der byzantinischen Literatur, M ü n c h e n 1897, 788. J. Kramer, Antike Sprachform und moderne Normsprache 2, Balkan-Archiv 11, 1986, 117-209, bes. 159. M. Triandaphyllidis, L'état présent de la question linguistique en Grèce, Byzantion 19, 1949, 2 8 1 - 2 8 8 , bes. 285.

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felice / nella miseria (Inf.5,121-123) gesagt, sondern nessunus maior dolor / quam recordari se de ilio tempore felice / in illa miseria73. Das ist kein Latein mehr und auch kein Italienisch, sondern eine Kunstsprache, die es nie in dieser Art geben konnte; genauso ist das geschriebene Griechisch künstlich, weder wirklich klassisch noch volkssprachlich 74 . Der Grund dafür, daß trotz allen Unterschieden zwischen Alltagssprache und klassizistischer Norm niemals ein Auseinanderfallen in zwei Sprachen erfolgte, lag in erster Linie darin, daß anders als im Westen der spätantike Staat, das (ost)römische Reich, mit seinem unumstrittenen Zentrum Konstantinopel (Byzanz) das Mittelalter überstand, was es auch mit sich brachte, daß sich keine neuen regionalen Sprachzentren herausbilden konnten; die Sprache des Zentrums, und zwar in ihrer angesehensten Ausführung, also der rückwärtsgerichteten und volkssprachefernen Literaturnorm, blieb Vorbild und anzustrebender Standard. So hatten Substandardformen keine Chance, zu einem sich verfestigenden neuen Standard zu werden. Unter diesen Umständen ist es verständlich, daß das Auffälligste an dem durch die allgegenwärtigen Anläufe, den Ansprüchen der Standardsprache gerecht zu werden, durchscheinenden Substandard seine Uneinheitlichkeit und Unbeständigkeit ist. Natürlich können wir ausgehend vom Neugriechischen Züge, die zur heutigen Sprachgestalt führten, im Mittelalter (und auch in der Antike) wiederfinden, aber neben diesen sozusagen zukunftsweisenden Phänomenen gibt es zahllose andere Normverstöße, die offenbar auf Erscheinungen der mittelalterlichen Volkssprache zurückzuführen sind, die später wieder verschwanden 75 . Eine neue Situation entstand nach dem Untergang des Byzantinischen Reiches, der ja auch Konstantinopel als Kulturzentrum in seinen Strudel zog. Ohne jeden Zweifel bedeutete die Türkenherrschaft ein beachtliches Sinken des allgemeinen Bildungsniveaus; die Kunst, lesen und schreiben zu können (was ja auch zumindest einen gewissen Kontakt zur antikisierenden Sprachform voraussetzt), beschränkte sich bald auf den hohen Klerus und die Aristokratie, die übrigens beide 73

K. Krumbacher, Das Problem der neugriechischen Schriftsprache, München 1902, 93. 74 Eine ins einzelne gehende Analyse eines Abschnittes eines mittelalterlichen „volkssprachlichen" Textes, bei der jeweils gesagt wird, ob ein Ausdruck aus der klassischen Sprache oder aus der Umgangssprache stammt oder ein mixtum compositum beider ist, findet sich bei J. Kramer Antike Sprachform und moderne Normsprache 2, Balkan-Archiv 11, 1986, 117-209, bes. 163-164. 75 R. Browning, Medieval and Modern Greek, London 1969, 85-86.

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schnell zu den wichtigsten Stützen des Osmanischen Reiches wurden 76 . Diesen gehobenen sozialen Schichten lag überhaupt nicht an einer Annäherung der Schriftsprache an die verachtete Volkssprache. So erstarrte die Standardsprache immer mehr in einer sterilen Ablehnung jeder Neuerung und in einer ausschließlichen Ausrichtung auf antike (bzw. pseudoantike) Vorbilder 77 . Das Kulturzentrum Konstantinopel verlor so immer mehr die im Mittelalter nie völlig untergegangene Fähigkeit, die Verbindung zwischen Hochsprache und Volkssprache durch beständige Beeinflussung der letzteren durch die erstere nicht abreißen zu lassen: Erst nach dem Fall von Byzanz „verwilderten" die Volksidiome völlig, d. h. erst dann ging weithin wirklich jeder Kontakt zwischen den ruralen Substandards und dem urban-aristokratischen Standard antikisierender Ausrichtung verloren. So paradox es aber klingen mag, gerade dieser Verlust der Kohärenz ermöglichte das langsame Entstehen neuer Standardformen, die von Sprachvarietäten ausgingen, die bis dahin gegenüber der antikisierenden Schriftsprache als Substandard gegolten hatten. Es gilt hierbei zwei Entwicklungsstränge zu unterscheiden: Gebiete am Rande des griechischen Sprachraumes, die dauernd (Ionische Inseln) oder zumindest lange Zeit (Kreta) dem türkischen Joch entgehen konnten, weil sie Venedig unterstanden, und andererseits das eigentliche Griechenland, „über das sich wie ein großes Leichentuch die aller christlichen und abendländischen Kultur feindselige Herrschaft des Islam breitete" 78 . In den nach Venedig ausgerichteten Gebieten machte sich abendländischer Einfluß stark bemerkbar. Zusammen mit Gegenständen und Techniken (Kompositionsverfahren, Versmaße) wurde auch der Usus übernommen, in der Sprache zu schreiben, die man auch sprach. So finden wir beispielsweise bei dem gräzisierten Venezianer Vicenzo Cornare, dessen Versepos „Erotokritos" wegweisend wurde, kaum noch aufgesetzten Archaismus. In den folgenden beiden Versen, dem Beginn der Schilderung der ersten Begegnung zwischen den Hauptpersonen Erotokritos und Arethusa 79 , fällt der umgangssprachliche Duktus trotz dem Versmaß auf :

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J. Kramer, Antike Sprachform und moderne Normsprache 2, Balkan-Archiv 11, 1986, 117-209, bes. 169-170. 77 Helene Joannidou, Die Sprachfrage in Griechenland, Diss. Hamburg 1974, 16-17. 78 Karl Krumbacher, Das Problem der neugriechischen Schriftsprache, München 1902,41. 79 Vgl. zum Werk des Vicenzo Cornaro Κ,.Θ.Δημαρύς, 'Ιστορία τής Νεοελληνικής λογοτεχνίας, 'Αθήνα 71985, 81-85.

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ήτρεμ' έκείνη 'ς μιά μεριά κι έκεΐνος εις τήν άλλη, κι ό γείς τόν άλλο άνίμενε τήν έμιλιά νά βγάλη.

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sie zitterte auf der einen Seite und er auf der anderen, und einer wartete auf den anderen, daß er das Gespräch anfange.

Das Maß der Ablösung von den klassizistischen Normen erkennt man, wenn man versuchsweise diese beiden Verse in jene Sprachform umsetzt: ίτρεμεν έκείνη έν τφ ένί μέρει και έκεϊνος έν τφ άλλω, καί ô εις τόν άλλον άνέμενεν τήν όμιλίον ϊνα άρξη80. Trotz der Tatsache, daß in den venezianischen Gebieten griechischer Zunge beachtliche Fortschritte auf dem Wege zu einer Standardisierung der Volkssprache gemacht wurden, gelang dieser Anlauf nicht, weil es sich doch nur um laterale Gebiete handelte, die vom Zentrum aus gesehen stark den Geruch des Provinziellen hatten; außerdem verfolgte der orthodoxe Klerus alle Bestrebungen der den verhaßten Katholiken unterstehenden Intellektuellen, eine dem Volke verständliche Literatur zu schaffen, mit Mißtrauen, weil diese als Vehikel für das Vordringen westlicher Gedanken zu fürchten war 81 . Im unter türkischer Herrschaft stehenden griechischen Kernland versuchten der hohe Klerus und der Adel, jede Bewegung, die auf eine Aufwertung der Volkssprache hinzielte, zu unterdrücken. Der mittlere und niedere Klerus sah sich jedoch zur Abwehr westlicher Missionsanstrengungen gezwungen, außerhalb der eigentlichen Liturgie in der Kirche die Volkssprache oder zumindest eine stark daran angenäherte Sprachform zu verwenden 82 . Das bedeutete allerdings nur, daß die Volkssprache toleriert wurde, solange sie unvermeidlich war; sobald es den Anschein hatte, sie könne den ihr noch gerade zugestandenen Bereich - Erklärung einiger Inhalte der hochsprachlichen Liturgie zum Schutz der Gläubigen vor den Verlockungen der mit verständlicher Katechese werbenden westlichen Missionare - überschreiten, ergriff der hohe Klerus harte Maßnahmen. So wurde der Patriarch Kyrillos Lukaris, der 1627 eine Druckerei zur Verbreitung religiöser Schriften im Volke gegründet hatte und der durch Gründung von Schulen das Bildungsniveau heben wollte, seines Amtes enthoben und schließlich sogar ermordet 8 3 ; Máximos Kalliupolitis, der eine an die Volkssprache 80

Die altgriechische Entsprechung zu βγάλω, nämlich έκβάλλω, würde bedeuten „verwerfen, ungültig machen". 81 J. Kramer, Antike Sprachform und moderne Normsprache 2, Balkan-Archiv 11, 1986, 117-209, bes. 167. 82 Κ.Θ.Δημαράς, 'Ιστορία τής Νεοελληνικής λογτεχνίας, Α θ ή ν α 7 1985, 46-50. 83 Κ.ΘΛημαράς, op.cit., 56-59.

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sich annähernde Version der Bibel in Genf publiziert hatte, wurde exkommuniziert 84 , und zwei Synoden (1638-1642) verboten kurzweg jede Lektüre der unkommentierten Bibel durch Laien 85 . Wer immer den Anschein erweckte, daran zu denken, den Geltungsbereich der klassizistischen Hochsprache zugunsten der Volkssprache einschränken zu wollen oder auch nur die Volkssprache für Bereiche, die über die niedrigsten Alltagsbedürfnisse hinausgingen, verwendbar zu machen, mußte damit rechnen, daß ihm Papismus oder Kalvinismus vorgeworfen würde. So ist es kein Wunder, daß die Ansätze zur Kultivierung der Volkssprache, die es im 16. Jh. gegeben hatte, bald wieder verschüttet wurden: seit der Mitte des 17. Jh. war die Volkssprache ziemlich tabu 86 . In der frühen Neuzeit finden wir also im griechischen Kernland - in verschärfter Form - dieselbe Situation, die schon das byzantinische Mittelalter charakterisiert hatte: Es gab keinen Sprachstandard für lebendige Sprache, die deswegen auch kaum verschiedene Niveaus herausbilden konnte und einfach als solche als minderwertig galt - also der latino-volgare-Gzgensatz des Westens, der dort freilich längst überwunden war. Wie prekär diese Lage war, zeigte sich, als im Laufe des 18. Jh. die Kontakte mit dem Ausland immer enger wurden und die Griechen mit den Gedanken der Aufklärung und mit anderen geistigen Strömungen des Westens in engeren Kontakt kamen und technische Neuerungen der beginnenden Industrialisierung kennenlernten. Die archaisierende Schriftsprache war wegen ihrer Rückwärtsgewandtheit nicht in der Lage, den neuen Bedürfnissen Ausdruck zu geben, aber ebensowenig war es die Alltagssprache, der es an der nötigen Elaboriertheit fehlte. In dieser Situation ergaben sich drei Grundströmungen: Die Archaisten wollten die auf die Klassik ausgerichtete Sprache beibehalten, sie jedoch unter Rückgriff auf altgriechisches Wortmaterial und altgriechische Wortbildungsverfahren den Bedürfnissen der Neuzeit anpassen; die Modernisten wollten ausgehend von der gesprochenen Sprache eine neue Nationalsprache schaffen, wobei im Wortschatz durchaus an einen maßvollen Rückgriff auf die klassische Sprache gedacht war; die Anhänger des „mittleren Weges", die sich um den Schriftsteller und Politiker Adamantios Koraïs (1748-1833) 87 scharten, 84 85

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Helene Joannidou, Die Sprachfrage in Griechenland, Diss. Hamburg 1974, 17. Vgl. den Text bei K. Krumbacher, Das Problem der neugriechischen Schriftsprache, München 1902, 174. J. Kramer, Antike Sprachform und moderne Normsprache 2, Balkan-Archiv 11, 1986, 117-209, bes. 171. V. Rotolo, Α. Korais e la questione della lingua in Grecia, Palermo 1965; B. Mondry, Quid Korais de Neohellenica lingua senserit, Bordeaux 1883.

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strebten eine „korrigierte" und „aufgewertete" Form der Volkssprache an, indem sie nicht wie die Modernisten nur den Wortschatz durch Rückgriffe auf die klassische Sprache erweitern wollten, sondern auch morphologische und syntaktische Verfahrensweisen der klassischen Sprache auf Elemente aus der Umgangssprache anzuwenden strebten. Der Unterschied sei an einem Beispiel erläutert 88 : Die Archaisten wollten für „Fisch" das wohl schon in der Antike verschwundene 89 Wort ίχθΟς verwenden, die Modernisten hielten sich ans umgangssprachliche ψάρι, und die Vertreter des mittleren Weges präferierten die etymologische Basis von ψάρι, nämlich όψάριον. Ein Beispiel aus der Syntax: Die Archaisten plädierten für antikisierendes ή τοΟ έθνους παιδεία „die Bildung der Nation", die Modernisten folgten der üblichen umgangssprachlichen Stellung ή παιδεία τοΟ έθνους, und der „mittlere Weg" war τοΟ £3νους ή παιδεία 90 . Der Freiheitskampf (1821-1830), der ja ideologisch gesehen seine Berechtigung aus der Rückbesinnung auf die antike Größe und Freiheit des Griechentums zog und in dessen Verlauf antikebegeisterte „Philhellenen" aus ganz Europa sich für die Griechen engagierten, bedeutete sprachlich einen Rückschritt für alle Bestrebungen, die auf eine Aufwertung der Volkssprache abzielten: Man glaubte es sich schuldig zu sein, die Sprachform der Epoche, in deren Namen man gegen die Türken gekämpft hatte, im neuen Staat als Nationalsprache zu verwenden. Die nationale Begeisterung war so stark, daß auch die Vertreter der „mittleren Sprache" immer näher an die Archaisten heranrückten, während diese ihrerseits von ganz ausgefallenen alten Formen abrückten 91 . Das Resultat dieser Konvergenz war die sogenannte „Reinsprache", die καθαρεύουσα, die bis 1975 die Staatssprache Griechenlands blieb. Es ist wichtig, festzuhalten, daß es sich hierbei um eine Kunstsprache handelt: Wir haben es weder mit einer organisch mit dem Altgriechischen verbundenen Sprachform noch mit einer aus der Alltagssprache herleitbaren Ausdrucksweise zu tun, sondern mit einem Schreibtischprodukt, das in äußeren Erscheinungsformen zum Altgriechischen hin tendiert, in seinen Tiefenstrukturen aber der Alltagssprache gar nicht so fern steht, wie es seine Erfinder gerne gehabt hätten 92 . 88

Nach R. Browning, Medieval and Modern Greek, London 1969, 105. J. Kramer, Glossario bilinguia in papyris et membranis reperta, Bonn 1983, 92. 90 J. Kramer Antike Sprachform und moderne Normsprache 2, Balkan-Archiv 11, 1986, 117-209, bes. 175. 91 Robert Browning, Medieval and Modern Greek, London 1969, 105. 92 Christos Ciairis, Le cas du grec, in: I. Fodor/C. Hagège, Language Reform 1, Hamburg 1983, 351-362, bes. 356. 89

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Für die Vertreter der καθαρεύουσα war natürlich jede Form der wirklich gesprochenen Sprache Substandard, und sie sparten nicht mit bösen Bemerkungen über die άπλή „einfache Sprache", χυδαία „niedrige Sprache", όχλώδης „Pöbelsprache"; der schließlich üblich gewordene Begriff δημοτική „Volkssprache" konnte sich nur mühsam durchsetzen. Die gesellschaftliche Abwertung machte es schwer, zu einer wirklichen Normierung und Standardisierung der δημοτική zu kommen, weil diese natürlich einerseits nicht vollkommen homogen war und weil andererseits auf Grund der Frontstellung gegen die καθαρεύουσα Bedenken bestanden, ausgerechnet diese zur Erweiterung und Verbesserung der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten heranzuziehen 93 . Es ist hier nicht der Ort, den Konflikt der beiden Sprachformen nachzuzeichnen 94 . Es sei nur an einem typischen Beispiel gezeigt, daß zu Anfang unseres Jahrhunderts die δημοτική nicht einfach die schriftliche Ausformung der Umgangssprache war, sondern wirklich von vielen noch als vulgärer Substandard empfunden wurde. 1901 hatte der radikale Modernist Alexandras Pallis eine volkssprachliche Übersetzung der Evangelien publiziert 95 , die die Gemüter derart erhitzte, daß es zu Studentenunruhen (mit Toten) gegen diese „Blasphemierung" kam: Substandard als Gotteslästerung! Der Kampf zwischen den beiden Erscheinungsformen des Griechischen wurde noch dadurch verschärft, daß eine Assoziierung mit politischen Richtungen erfolgte: καθαρεύουσα = rechts, δημοτική = links. So erklärt es sich, daß, je nach der politischen Couleur der jeweiligen Regierung, von offizieller Seite mal die καθαρεύουσα und mal die δημοτική herausgestrichen wurde. Angesichts der Emotionen, die beim γλωσσικό ζήτημα, also bei der „Sprachfrage", angesprochen werden, darf es nicht erstaunen, daß zu einer ruhigen Betrachtung nur Ansätze vorhanden sind, die charakteristischerweise auch noch meistens im Ausland erarbeitet wurden. Festzuhalten bleibt, daß sich die Anhänger der δημοτική ziemlich schwer mit der Definition einer unmarkierten Ebene als Norm taten. 93

Zur Gefahr des δημοτική-Purismus vgl. Hans Eideneier, Hellenisch oder Romäisch?, Folia Neohellenica 2, 1977, 41-63, bes. 60. 94 St. C. Caratzas, Die Entstehung der neugriechischen Literatursprache, Glotta 36, 1958, 194-208. Kurze Übersicht mit weiteren Literaturangaben: J. Kramer, Antike Sprachform und moderne Normsprache 2, Balkan-Archiv 11, 1986, 117-209, bes. 178-204. 95 Heute in einem Nachdruck leicht zugänglich: Αλέξανδρος Πάλλης, Ή Ν έ α Διαθήκη, Α θ ή ν α 3 1977. Zu den im einzelnen verworrenen Details des „Evangelienstreites" vgl. K. Krumbacher, Das Problem der neugriechischen Schriftsprache, München 1902, 58-63.

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Die Grundlagen zu einer solchen Standardisierung legte praktisch erst Manolis Triandaphyllidis im Jahre 194196, aber er stellte selbst einige Jahre später fest, daß man von klaren Festlegungen noch weit entfernt war, sondern daß vielmehr an die zu Ende des 19. Jh. übliche klare Unterscheidung zwischen καθαρεύουσα und δημοτική Übergangsund Mischformen jeder Art getreten waren: "Un trait des différents types intermédiaires est d'habitude le subjectivisme, le caractère individuel et provisoire (quelquefois aussi anti-esthétique), ainsi que le manque de base objective" 97 . Erst seit dem Ende der griechischen Militärdiktatur (24.7.1974), die die καθαρεύουσα in extremer Form in den Vordergrund geschoben hatte, beginnt sich ganz allmählich eine Standardsprachform herauszubilden, die jenseits des alten Gegensatzes καθαρεύουσα - δημοτική Gestalt gewinnt. Die Voraussetzung dafür ist dadurch gegeben, daß die καθαρεύουσα in raschem Tempo ihre einstigen Bastionen - Bildungsund Wissenschaftssprache, Verwaltungssprache, Justizsprache 98 - räumen mußte und daher heute nur noch eine marginale Rolle spielt; die frei gewordenen Bereiche konnten aber nicht ohne weiteres von der δημοτική im strengen Sinne übernommen werden, sondern diese mußte kurzfristig sprachliche Strukturen akzeptieren, die eigentlich der καθαρεύουσα angehören. So ist eine Sprachform im Begriff, sich herauszubilden, die jenseits vollmundiger sprachideologischer Erklärungen, an denen es nicht fehlt, wirklich gute Voraussetzungen dafür mitbringen dürfte, zum neugriechischen Standard tout court zu werden. Soweit ist es allerdings noch nicht, und deswegen ist für den heutigen Zeitpunkt die Frage, was den griechischen Substandard charakterisiert, eigentlich gar nicht beantwortbar. Solange der Standard sich noch nicht wirklich stabilisiert und eingependelt hat, kann man kaum sagen, das eine oder andere sprachliche Phänomen liege klar unterhalb dieser Ebene. Eindeutig Substandard ist heute nur die Verwendung dialektaler Formen - etwa der Gebrauch der für Nordgriechenland typischen stark synkopierten Formen; dank der Landflucht bildet sich eine städtische Mischsprache in den Metropolen Athen und Saloniki heraus, die sicherlich Substandard-Züge trägt. Unglücklicherweise fehlt es an einge96

Μ. Τριανταφυλλίδης, Νεοελληνική γραμματική της δημοτικής, Αθήναι 1941. 97 Μ. Triandaphyllidis, L'état présent de la question linguistique en Grèce, Byzantion 19, 1949, 281-288, bes. 286. 98 Im März 1986 wurde beschlossen, im Rechtswesen künftig nur noch die δημοτική zuzulassen. Vom Beschluß zur Realisierung ist es freilich angesichts der geringen Begeisterung weiter Teile der konservativen Juristenschaft ein weiter Weg.

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henderen Untersuchungen zu diesem neuen Sprachtyp, der zweifellos zum Nukleus des städtischen Substandards werden wird, sobald die Standardfrage gelöst sein wird. Fassen wir zurückschauend noch einmal zusammen, was als Charakteristikum der Substandard-Problematik im Verlaufe der langen Geschichte der griechischen Sprache anzusehen ist! Der entscheidende Punkt dürfte darin liegen, daß der als vorbildlich geltende Sprachstandard immer sehr hoch, meistens sogar zu hoch angesiedelt war; alles, was der wirklichen Alltagssprache nur entfernt ähnlich war, wurde von den wenigen, die die überhöhte Sprachnorm wirklich beherrschten (oder auch nur zu beherrschen meinten), als „falsch", „niedrig", „pöbelhaft" usw. abqualifiziert, und dieses Urteil führte dazu, daß sich bis in die jüngste Zeit keine der Alltagssprache nahestehende Norm herausbilden konnte. Überspitzt ausgedrückt: Mehr als zweitausend Jahre lang war die lebendige griechische Sprache Substandard, weil eine längst vergangene und nur von einer verschwindend kleinen Elite beherrschte Sprachform den Standard bildete. Wir erleben vor unseren Augen das Ende dieses Zustandes, aber die neue Standardbildung ist noch längst nicht abgeschlossen.

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Substandard und Sprachwandel im Türkischen Lars Johanson (Mainz)

Standardbegriffe Die Zuweisung eines sprachlichen Elements zu einem Substandard impliziert selbstverständlich, wie unterschiedlich der Terminus auch immer verwendet werden mag, zumindest des Vorhandensein einer Bezugsebene ,Standard', unterhalb welcher das betreffende Element anzusiedeln ist. Was die Türksprachen betrifft, bietet die Festlegung derartiger Ebenen verschiedene prinzipielle wie spezifische Probleme. Als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen soll, damit einige dieser Probleme und gewisse wesentliche Züge der sprachgeschichtlichen Entwicklung verdeutlicht werden, ein Bezugsrahmen dienen, der drei Abstufungen, d. h. drei sukzessiv geschärfte definitorische Varianten des Grundbegriffs ,Standard' vorsieht 1 . Der schwächste, am weitesten gefaßte Standardbegriff, im folgenden als S[tandard]a bezeichnet, bezieht sich auf eine sog. Gemeinsprache im Sinne einer überdialektalen Prestigevarietät. Das erste Definitionsmerkmal ist die grundsätzliche Dialektneutralität. Da Sprachen topische und stratische Variation aufweisen, tragen Sprachelemente diesbezügliche Merkmale und können danach eingeteilt, oft auch mehr oder weniger klar abgegrenzten Dialekten zugeordnet werden. Ein Dialekt im Sinne einer zweidimensionalen (arealen und sozialen) Dialektologie kontrastiert zum Teil horizontal (gegenüber der Nachbarschaft), zum Teil vertikal (gegenüber anderen stratischen Varietäten und der Standardsprache), was seine kommunikative Reichweite (Geltungsraum und -Schicht) begrenzt. Ein S a -Element funktioniert, obwohl seine Herkunft in bezug auf Geltungsraum und -schicht durchaus bestimmbar sein mag, nicht mehr als topisch-stratisch markiert (räum-, schichtenspezifisch). Eine S a -Varietät ist in systematischer Weise von S a -Elementen geprägt.

' Um anderen Aspekten der komplexen Sprachwirklichkeit gerecht zu werden, wären die aufgestellten Kategorien natürlich weiter zu differenzieren, was aber hier nicht unser Anliegen ist.

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Das zweite Merkmal ist die Prestigeträchtigkeif. innerhalb der Sprachgemeinschaft gilt die Verwendung von Sa als förderlicher für das gesellschaftliche Prestige als die Verwendung anderer Varietäten. Den S a -Varietäten kommt folglich Vorbildcharakter zu; sie gelten als .richtig', .bevorzugt', ,allgemein akzeptiert', dienen denjenigen als Muster, die „gut" sprechen wollen. Aus diesen beiden Merkmalen ergibt sich typischerweise folgendes: Eine S a -Varietät ist (a) überregional, erstreckt sich über einen größeren Geltungsraum als Non-S a , eint gebietsmäßig (als ,Einheitsvarietät', .Kultursprache', .Verkehrssprache', ,Koine', ,nichtdialektale Volkssprache', ,lingua franca'2 etc.) die von ihr überdachten Varietäten; (b) variationsreduzierend, zunächst aber nur in dem truistischen Sinne, daß ihre Verwendung weniger Variation aufweist als die gesamte restliche Varietätenmenge (Non-S a ); (c) normbildend insofern, als sie, wo es um Sicherung und Verbesserung überdialektaler Kommunikation geht, als die anzustrebende Varietät (.Richtschnur',,Normalmaß' etc.) gilt3. Die Norm bedeutet keine Normalität im Sinne des „Durchschnittlichen". Hat sich der Standard einmal weitgehend durchgesetzt, so dient er damit zwar als praktizierte Norm im deskriptiven Sinne des „Üblichen". Die Fähigkeit, überdialektal zu funktionieren, d. h. topisch-stratische Unterschiede zu überbrücken, geht jedoch auf extralinguistische Faktoren (Verwendung infolge sozialer Prestigestellung), nicht auf irgendwelche inhärente Mittelmäßigkeit zurück. Türkische S a -Varietäten stellen meist recht komplizierte Mischungen dar. Keine Türksprache weist eine strukturell „durchschnittliche" Varietät auf. Ein engerer Standardbegriff, S[tandard]ab, impliziert zusätzlich eine mehr oder weniger allgemeine Verbindlichkeit. Eine S ab -Varietät ist eine überdialektale Prestigevarietät, deren Verwendung infolge Sanktionierung durch eine gesellschaftliche, meist staatliche Autorität für bestimmte Personen in bestimmten Situationen obligatorisch ist. Die Verbindlichkeit bedeutet Institutionalisierung einer zu praktizierenden Norm. Der engste Standardbegriff, S[tandardf bc , impliziert darüber hinaus die Kodifikation, die mehr oder weniger präzise offizielle Fixierung der zu praktisierenden Norm, sei es formell, d. h. durch Formulierung der Norminhalte in Regeln, oder informell ("without any formal statement of rules"; Haugen 1966, 20). 2 3

Bei Überdachung unterschiedlicher Sprachen. Vgl. zur Überregionalität und Normbildung Pauls „durch ein großes Gebiet verbreitete und allgemein anerkannte Gemeinsprache", „eine ideale Norm, die angibt, wie gesprochen werden soll" (1920, 404). Die Gemeinsprache sei „nichts Reales", sondern nur eine ideale Norm, die durch den Usus eines engen Kreises bestimmt werde.

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Die Existenz nicht-geschriebener S-Varietäten, d. h. die Möglichkeit einer Standardisierung aufgrund mündlicher Muster, ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen; für die Entwicklungsmöglichkeiten einer Standardsprache im Sinne von S ab und S abc ist es jedoch erfahrungsgemäß wesentlich, daß sie geschrieben wird.

Normabweichende Sprachformen : Non-S, Sub-S Elemente, die dem jeweiligen Standard nicht entsprechen, sind Nonstandardelemente (Non-S a , -Sab, -Sabc). Hierzu gehören u. a. auch die Substandardelemente, die, wie der Terminus nahelegt, den Standard nicht erreichen und somit im jeweiligen Non-S-Bereich stratisch tiefe, grundschichtliche Elemente darstellen 4 . Der Nonstandard einschließlich des Substandards ist prinzipiell räum- und schichtenspezifisch. Maßgebend für die Zuordnung eines Elements zum Substandard ist, unabhängig von seiner topisch-stratischen Provenienz, die Beurteilung in seinem eigenen Geltungsraum. Die niedrige soziale Wertung mag in Urteilen wie ,schlecht', ,falsch', ,fehlerhaft', ,vulgär', .ungebildet', .unkultiviert', etc. zum Ausdruck kommen. Sub-S-Elemente tragen gemäß dem folgenden Schema die Definitionsmerkmale [ — standard, + tief].

+STANDARD: -STANDARD

+ TIEF: - T I E F

Türksprachen und ihre Varietäten Bei der Frage, welcher Türksprache eine gegebene S-, Non-S- oder SubS-Varietät angehört, begegnen die üblichen Grundprobleme der Varietätenlinguistik. Die Beziehungen der Varietäten zum übergreifenden System - zum „Gesamtkomplex der historischen Sprechtätigkeit" sind oft schwer bestimmbar. Mit räumlichen und sozialen Kriterien werden Varietäten abgegrenzt. Diese beziehen sich definitionsgemäß 4

Die gehobene Variation innerhalb des non-S-Bereiches bezeichnen wir analog als Superstandard. Zu beachten ist, daß Substandard oft als Oberbegriff für Dialekt und Umgangssprache, also annähernd synonym mit unserem Nonstandard verwendet wird (z. B. G. Bellmann 1983).

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auf eine variable Größe, die bekannt sein müßte, um die Feststellung zu erlauben, ob eine bestimmte Sprachform eine Varietät davon darstellt oder nicht. Die manchmal linguistisch schwer bestimmbare „historische Einzelsprache", die eigentlich als Ausgangspunkt dienen sollte, wird nun eben umgekehrt als „Menge von Varietäten" definiert. Gelegentlich herrscht Unklarheit darüber, mit welchen Kriterien eine „Varietät" der einen oder anderen türkischen „Sprache" zuzuordnen ist. Manche Varietäten erweisen sich auch als recht heterogen. Linguistische Kriterien (das oft problematische der ,genetischen Nähe' oder das vage der Ähnlichkeit'), ergeben nicht selten unterschiedliche Resultate. Zu ganz anderen Schlüssen mag man wiederum gelangen, wenn die übergreifende Größe als ,Sprache im politischen Sinne' (Nationalsprache etc.) definiert wird. Auch dann bleibt manchmal unklar, ob eine Sprachausprägung selbst eine ,Sprache' ist oder nur eine Varietät einer anderen. Da für Türksprachen andere sprachpolitische Verhältnisse gelten als ζ. B. für die meisten Sprachen Europas, sind derartige Begriffe oft problematisch als Ausgangspunkt einer Differenzierung in der Dimension S, Non-S, Sub-S. Etliche türkische „Sprachen" entstanden sekundär (als ziemlich lose Bündel mehr oder weniger verwandter Dialekte), nachdem für ihren Geltungsraum eine Gemeinsprache, manchmal auch als sprachpolitisches Artefakt, geschaffen worden war. Dementsprechend verwenden wir im folgenden den Sammelbegriff ,Türksprache' für einander genetisch nahestehende topisch-stratische Dialekte, wenn in ihrem Geltungsraum eine mit ihnen verwandte S-Varietät (zumindest S a ) als dialektneutrale Gemeinsprache funktioniert. Divergenzen zwischen einer linguistischen und einer politischen Klassifikation von Varianten begegnen auf Schritt und Tritt. Ostanatolisches „Türkeitürkisch" steht ζ. B. in sprachlicher Hinsicht (in bezug auf Verwandtschafts- und Ähnlichkeitsgrad) oft dem Aserbaidschanischen näher als dem Istanbul-basierten türkeitürkischen Standard.

Türkische Standardsprachen Von den vielen größeren und kleineren türkischen Reichen der Geschichte sind nicht wenige gewissermaßen als sprachneutral zu bezeichnen: die politische Machtkonzentration führte nicht zur entsprechenden Dominanz der Sprache der Führungselite oder zu anderen Formen sprachlicher Vereinheitlichung. Über die Existenz, Beschaffenheit und Funktion älterer türkischer S-Sprachen können nur die auf uns gekommenen schriftsprachlichen Denkmäler Auskünfte geben. Wie die je-

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weilige Norm entstand und festgelegt wurde, ist weitgehend unbekannt, wenngleich es in der turkologischen Literatur nicht an Mutmaßungen darüber fehlt. Diejenigen heutigen Türksprachen, die über eine längere standard- und schriftsprachliche Tradition verfügen, weisen oft ein recht kompliziertes Verhältnis zu dieser Tradition auf, nicht zuletzt wegen der sprachpolitischen M a ß n a h m e n dieses Jahrhunderts in der Sowjetunion, der Türkei und China. Für einige der alten, vor allem aber für die neu entstandenen sowjettürkischen S abc -Sprachen wurde als Basis ein existierender Dialekt gewählt, jedoch nicht unbedingt einer, der bei der Bevölkerung des Geltungsraumes von vornherein als der prestigeträchtigste oder mustergültigste galt. Zu den diastratischen Überlegungen der Sprachplanung gehörte, daß bei Standardisierung sowjettürkischer Schriftsprachen keine große Kluft zur volkstümlichen gesprochenen Sprache entstehen sollte (Baskakov 1955, 34). Die formelle Kodifikation chinesischer Türksprachen (u. a. Neuuigurisch, Kasachisch) ist immer noch im Gange 5 . In vielen Gebieten außerhalb der unmittelbaren Geltungsräume der S-Varietäten finden sich sog. dachlose A u ß e n m u n d a r ten (im Sinne von Kloss 1978, 60ff.) mit einem beträchtlichen Maß an freier Variation: vor allem in Iran und Afghanistan, aber auch in der Sowjetunion, ζ. B. westsibirisches Tatarisch außerhalb der Tatarischen ASSR oder Krimtatarisch in Özbekistan, u m nur ein paar Beispiele herauszugreifen. Unter den aktuellen Umständen ist es meist sehr schwer, den jeweiligen Substandard einer Türksprache zu erkennen und abzugrenzen. Die Turkologie hat sich bisher auch kaum mit der Frage befaßt. In der lexikographischen Praxis der türkischsprachigen Staaten, vor allem in den normativ ausgerichteten sowjettürkischen Wörterbüchern, sind Sub-S-Elemente meist tabuisiert 6 . Die vorhandenen deskriptiven Darstellungen der Lexik, Lautlehre und G r a m m a t i k beschränken sich fast ausschließlich auf den Standard (im Sinne der Schrift- oder Literatursprache). Bis auf dialektologische Bemühungen und einige Pionierarbeiten zur Erforschung der osmanischen Volkssprache Ende des 19. Jahrhunderts (u. a. I. Kúnos und G. Jacob) ist wenig Interesse 5

6

Verf. hatte 1984 in Urumchi Gelegenheit, innerhalb der Kommission für Sprachen der nationalen Minderheiten einer Konferenz über die (wieder auf arabischer Schrift basierte) Orthographie des Neuuigurischen beizuwohnen, was einen guten Einblick in die Problematik gab. Zum „offiziellen Puritanismus" siehe Brands 1973, 10: „Bezeichnungen aus der menschlichen Intimsphäre werden ganz allgemein auch dann schamhaft übergangen, wenn ihnen nichts von der volkstümlich-derben Direktheit anhaftet (.. .)".

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für die gesprochene Sprache zu verzeichnen. Die Alltagssprache ist noch nicht einmal in synchronischer Hinsicht, geschweige denn unter sprachgeschichtlichen Gesichtspunkten beschrieben. In der sprachhistorischen Forschung hat man die Wechselbeziehung zwischen Sprachvariation und Sprachwandel bisher kaum berücksichtigt: allenfalls werden aus der jeweils vorangehenden Entwicklung gerade diejenigen Momente ausgewählt und hervorgehoben, die sich dazu eignen, einen bestimmten Sprachzustand „kausal" zu erklären.

Vorosmanisches Anatolisch-Türkisch Wegen der dürftigen Quellenlage sind klare Aussagen über eine Schichtung in den Dimensionen [ ± standard] und [ ± tief] selten möglich. Dies gilt auch f ü r das Osmanisch-Türkische, die am besten dokumentierte Türksprache. Da die Hintergründe der osmanischen Sprachentwicklung nicht allgemein bekannt sein dürften, sei es erlaubt, sie hier kurz zu skizzieren. Die reale sprachliche Situation der ersten anatolischen Türken ist nur unzulänglich bekannt. Obwohl die seldschukische Eroberung im 11. Jahrhundert der Turkisierung Kleinasiens den Weg bahnte, verwendeten die anatolischen Seldschuken Persisch (in Verwaltung und Literatur) und Arabisch (in Religion und Wissenschaft). Türkisch, das von den Massen des Volkes außerhalb der Städte gesprochen wurde, galt als vulgäres Nomadenidiom und konnte sich gegen die beiden Kultursprachen lange nicht behaupten. Der mongolische Einfall verstärkte durch den Zustrom iranischer Flüchtlinge den persischen Einfluß. Im 13. Jahrhundert hatte das Türkische noch eine sehr untergeordnete Stellung, fand jedoch bereits begrenzte Verwendung im islamisch-mystischen Schrifttum, vorwiegend missionarischen Produkten, die „vulgär" bleiben mußten, u m von den ungebildeten Massen verstanden zu werden. Erst nach dem Niedergang der Seldschukenherrschaft im 14. J a h r h u n d e r t konnte sich Türkisch als Kultursprache entwickeln. In den vielen jetzt entstehenden Kleinstaaten, deren Fürsten wohl meist nur türkischkundig waren und deren Bevölkerung größtenteils aus neu hinzugezogenen T ü r k s t ä m m e n bestand, wurde Türkisch als hoffähige Sprache anerkannt, als Verwaltungssprache verwendet und im kulturellen Wettstreit der Höfe auch als Literatursprache eingesetzt. Dem f r ü h e n anatolisch-türkischen Schrifttum, das unsere einzige Quelle zur Kenntnis der sprachlichen Lage darstellt, dürfte keine verbindliche und kodifizierte überdialektale Prestigevarietät zugrunde-

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gelegen haben. Die Sprache der Literaturdenkmäler weist eine erhebliche Diversität auf, ist noch nicht phonologisch, graphisch, lexikalisch normiert, mutet eher wie ein Konglomerat verschiedener oghustürkischer 7 Varietäten an, ζ. T. mit beigemengten osttürkischen Elementen und vielleicht sogar individuell verzerrten „Immigrantenformen". Um die Mitte des 14. Jahrhunderts bemerkt einer der Dichter dieser Sprache selbst, daß kein türkisches Wörterbuch zur Verfügung stehe und daß daher einfach alles, was einem „auf die Zunge komme", richtig sei (Banguoglu 1938, 18). Vereinzelt wird eine den osttürkischen Schreibkonventionen entsprechende graphische Norm verwendet. Der vorherrschenden westtürkischen Graphie fehlt dagegen eine entsprechende Tradition, weshalb die ersten Dichter, wie es scheint, ziemlich regellos schreiben. Einige Werke „gemischten" Charakters zeugen jedoch offensichtlich von einer aus Zentralasien mitgebrachten hauptsächlich oghusischen Schriftsprache (siehe Mansuroglu 1954), die nicht mit der osttürkischen identisch ist und die durch die (Ende des 13. Jahrhunderts besonders intensive) Einwanderung von Chorassan-Türken eingeführt wurde. Diese „Mischsprache" mag in ihrem ursprünglichen Geltungsraum eine S-Varietät dargestellt haben; in Anatolien hat sie sich nicht als eine über topisch-stratische Differenzen erhobene Gemeinsprache durchsetzen können. In dieser Lage ist die erwähnte Uneinheitlichkeit des Schrifttums selbstverständlich nicht überraschend. Bereits ein Jahrhundert später wurden die alten anatolisch-türkischen Varietäten, die trotz etlicher Fremdelemente im wesentlichen türkisch geprägt waren, als schriftsprachlicher Substandard bewertet und die in ihnen verfaßten Werke ins „gebildete" Türkisch übersetzt.

Schaffung eines osmanischen Standards Das alte anatolisch-türkische Varietätengemenge hatte einige literarische Funktionen erfüllen können, reichte aber nicht aus, als es darum ging, auf türkischer Grundlage eine Standardsprache zur Unterstützung der osmanischen Staatsbildung zu schaffen. Es war allzu einfach, sein Wortschatz war, wie der Dichter Mäs'üd sagte, zu „eng" (Banguog7

Die Seldschuken wie die späteren Osmanen sprachen oghusische Dialekte. Die oghusischen (südwesttürkischen) Türksprachen umfassen heute außer Türkeitürkisch hauptsächlich Aserbaidschanisch, Chorassantürkisch und Türkmenisch.

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lu loc. cit.), wie dies von jedem nicht ausgebauten Primärdialekt zu erwarten ist. Mit der Entstehung und Entwicklung des osmanischen Staates entsteht und entwickelt sich auch eine osmanische Staatssprache. Der Schritt vom Vernakular zum Standard ist interessant, besonders als Beispiel für die bekannte Erscheinung, daß die Entwicklung einer Standardsprache mit dem Aufstieg zur bewußten Einheit und Identität einer Volksgruppe verbunden ist. Eine kleine Gruppe im äußersten Nordwesten des seldschukischen Territoriums, dicht an der byzantinischen Grenze, machte militärisch-politische Karriere und eroberte schnell große Gebiete in Westanatolien und Rumelien. Obwohl die ersten osmanischen Herrscher bei weitem nicht das Kulturniveau der Seldschuken besaßen und ursprünglich über einen der kleinsten Kleinstaaten regierten, waren sie imstande, eine türkische Standardsprache durchzusetzen. Als Basis - als Modell, von dem eine Norm abgeleitet werden konnte - war die spezielle westseldschukische Mundart dieser anerkannten Führungselite 8 vorgegeben. Dieses Osmanisch wurde nun zum Kommunikationsmittel zwischen Sprechern verschiedener Erstdialekte. Türken ganz verschiedener Herkunft waren am Bau des osmanischen Reiches beteiligt. Außerhalb der Gruppe der Normträger war man wegen des hohen Prestiges des Herrscherhauses bereit, Unterschiede zu akzeptieren, da die Verwendung der Norm die Identifikation mit dem sozialen Status ihrer Träger ermöglichte. Das Osmanische entwickelte sich vom Dialekt zur Sprache (im funktionalen Sinne), erlangte überregionale Gültigkeit als S-Varietät, die auch geschrieben wurde. Altosmanische Sprachdenkmäler dokumentieren eine breite geographische Gültigkeit der neuen Norm (Hazai 1978, 46). Mit der Festigung der osmanischen Macht wurde die Norm verbindlich im Sinne von S ab . Die Akzeptanz war durch die Autorität des Staates mit ihren Sanktionen und Belohnungen gewährleistet: von der Beherrschung des sprachlichen Instruments der staatlichen Autorität waren die Karrieremöglichkeiten im rigiden sozialen System des Reiches abhängig. In jedem neuen eroberten Gebiet sorgen die 'ulämä' für Stabilität durch Organisation der Verwaltung; gewissermaßen parallel zu dieser territorialen Erweiterung und Stabilisierung erfolgte der Prozeß des Ausbaus und der Kodifikation der Staatssprache. Das Osmanische 8

Unbekannt ist, welchen Dialekt die Osmanen zur Zeit ihrer Flucht aus Chorassan sprachen: eventuell ein Chorassantürkisch, das dann von der Sprache der in Anatolien bereits ansässigen seldschukischen Türken überwältigt wurde (siehe Doerfer 1978, 132).

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wurde übernational: Verteidigung und Verwaltung des Staates erfolgte bald nicht mehr nur durch die osmanische Oberschicht; es wurde deutlich, daß, wie Babinger es ausdrückt, „daran alle Anteil haben mußten, die sich in den neueroberten Ländern und Völkerschaften durch Verleugnung ihrer christlichen Religion bereit fanden, sich dem großherrlichen Machtbereich einzufügen" (1953, 451). Aufschlußreich ist ein Vergleich mit der andersartigen Entwicklung des Aserbaidschanischen, das sich vom A n f a n g des 15. Jahrhunderts an vom Anatolisch-Türkischen losgelöst hatte. Unter den Safawiden, die ebenfalls eine in sprachlicher Hinsicht türkische Dynastie waren, wurde Persien im 16. Jahrhundert zum politischen Machtfaktor. In diesem ethnisch wie sprachlich sehr heterogenen Staat waren Perser und Türken die beiden dominierenden Gruppen. Das Türkische hatte eine sehr große Verbreitung und wurde jahrhundertelang auch am Hof und im Heer verwendet 9 . Die Kanzleisprache blieb aber Persisch. Das Mittelaserbaidschanische des safawidischen Persien ist also zwar eine großlandschaftliche Kommunikationssprache S a , eine lingua franca, jedoch keine S abc -Sprache, da als solche das Persische zur Verfügung stand 10 .

Hochosmanisch Es erfolgte ein erheblicher Ausbau der Funktionen des Osmanischen, vor allem f ü r wissenschaftliches und administratives Schrifttum, wobei die Ressourcen durch zahlreiche Elemente aus den Prestigesprachen Arabisch und Persisch ergänzt wurden. Die Sprache wurde de facto normiert, ihre Struktur entwickelt, die freie Variation reduziert. Es handelt sich jedoch um einen zum Teil nur informell kodifizierten Standardsprachstand, d. h. ohne explizite Beschreibung der Normen. Zur formellen Kodifikation im Sinne eines vollständigen verbindlichen Regelwerkes kam es nicht. Für das türkische Element gab es keine präskriptive G r a m m a t i k , die Regeln zur Unterscheidung richtiger und falscher Formen aufstellte. Nur f ü r die arabisch-persischen Elemente lagen Kodexteile vor, die Sprachnorminhalte in bezug auf Graphie, Aussprache, G r a m m a t i k , Wortschatz und ζ. T. Registerspezifika formulierten. 9

,0

Adam Olearius spricht von der Verwendung des Türkischen in gewissen Provinzen und fügt hinzu: „Sonderlich haben die, so in Ispahan am Königlichen Hoffe grosse beliebung Türkisch zu reden, und höret man von ihnen gar selten ein Persisch Wort" (1663, 616). Zu der nicht unbedeutenden Dichtung in diesem Aserbaidschanisch siehe Caferoglu 1964, bes. S. 648ff.

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Zwar stand, wie man meint, diese Sprache in den ersten Jahrhunderten ihrer Existenz „der Sprache der breiten Volksschichten" relativ nahe (Hazai 1978, 24). Die Folge des Ausbaus war aber eine fortschreitende Entturkisierung, die mit der wachsenden Macht des Reiches (Höhepunkt 15.-17. Jahrhundert) und der Entfaltung der Standardsprache immer stärker wurde 11 . Unter der Verwaltung der herrschenden Elite distanzierte sie sich beträchtlich von den Varietäten anderer Schichten. Die so entstehende Hochsprache war den Arabischund Persischkundigen vorbehalten und den unteren Schichten unverständlich. Bald erreichte sie einen hohen Grad von Elaboration. Die für die Standardsprache eines Imperiums erforderliche langfristige Fixierung einer einheitlichen Norm führte jedoch zur Steife und Verkrustung: Standardosmanisch war schließlich nicht mehr geeignet für alle Zwecke, zu denen eine Sprache verwendet wird, und stellte strenggenommen weniger eine S-Varietät dar als einen mit fremden Mitteln ausgebauten Sprachstil 12 , der sich nur zu formellen Zwecken eignete. Hochosmanisch war keine zugleich als Schrift- und Sprechsprache funktionierende nationale Gemeinsprache mehr. Es kam zu einem krassen Auseinanderleben der Hochsprache und der restlichen Varietätenmenge des Osmanisch-Türkischen. Es heißt oft, daß bei der Herausbildung des Hochosmanischen im wesentlichen nur der Wortschatz, nicht aber die „innere Struktur" betroffen gewesen sei, d. h. daß das phonologische Inventar, das vokalharmonische System, die morphologischen Mittel und die Satzstruktur im Grunde unverändert geblieben seien. Auch in diesen Bereichen entstanden jedoch beträchtliche Diskrepanzen zu anderen Varietäten, obwohl sie nicht so unmittelbar auffallen wie die lexikalischen Unterschiede.

" Das 16. Jahrhundert gilt als entscheidende Epoche für die Herausbildung des Hochosmanischen und seiner „vertikalen Trabantenidiome" (Hazai 1978, 61 f.). 12 Stile werden hier als spezifischen Situationskontexten zugeordnete Gebrauchstypen verstanden. Die Hochsprache wurde zum gehobenen Stil, zu deren Erfordernissen, wie Kißling (1960, 3) sagt, eine ausgedehnte Verwendung arabischer und persischer Fremdwörter gehörte.

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Die Trichotomie In gewisser Hinsicht stellt die „unterhalb" des Hochosmanischen anzusiedelnde Varietätenmenge einen Non- bzw. Substandard dar. Es wäre indessen vereinfachend und irreführend, die osmanische Sprachkluft auf eine Dichotomie ,hoch': ,grundschichtlich' zu reduzieren. Bisweilen wird sie als sog. Diglossie 13 zwischen Hochosmanisch und „Volkssprache" dargestellt: eine literate städtische Führungselite habe die osmanische Hybridsprache gesprochen und die Rede der restlichen Bevölkerung als „roh" abgefertigt 14 . Zu rechnen ist aber auch mit anderen, allerdings weniger bekannten Varietäten. Hazai (1978, Kap. 1) spricht von Wechselbeziehungen zwischen „Gebildetensprache" und „Grundsprache", von „vertikalen Trabantenidiomen" des Hochosmanischen etc. In Anlehnung an die amtlichen Stiltheoretiker der Sultansepoche wird traditionell zwischen dem „reinen" (fasïh) und dem „gemeinen" (qaba) Türkisch auch eine „mittlere" (orta) Varietät angesetzt. Diese alles andere als eindeutige Einteilung stellt grundsätzlich eine stilistische Gradation dar. Nach Auffassung mancher Turkologen stand jedoch die „mittlere" Varietät der gebildeten Istanbuler Gemeinsprache des Alltags nahe und diente als „Konversationssprache der gebildeten Klassen" (Németh 1916, 10). Ausgangspunkt der „mittleren" Varietät war der zwischen Dialekt und Hochosmanisch liegende Kontinuumsbereich 1 5 : Hochsprache Zwischenbereich

H1

H2

B

'C=> B2 !

Α2

7

13

V T1

Τ-

Dialekt 1

Dialekt 2

Der Terminus ist irreführend, wenn darunter ein institutionalisiertes Umschalten zwischen zwei durch die ganze Sprachgemeinschaft nebeneinander existierenden Varietäten verstanden wird. 14 Siehe ζ. B. Lewis 1971, 20: "Only at home, in unguarded moments, and perhaps to servants, did they speak the Turkish which was the language of the population of Anatolia". 15 Von den durch Pfeile bezeichneten Kontrastbeziehungen besteht eine hori-

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Auch wenn anfangs eine sprechsprachliche Variante der Hochsprache bestanden haben mag, dürfte die zunehmende Entturkisierung und Verkiinstelung allmählich dazu geführt haben, daß kein Teil der osmanischen Sprachgemeinschaft die hohe Varietät regelmäßig als normales Medium alltäglicher Konversation verwenden konnte. Ziemlich früh wird sich aus dem Zwischenbereich eine neue Gemeinsprache Sa entwickelt haben, ein weniger formeller, vornehmlich gesprochener Standard, der schlecht dokumentiert ist, da die Sprachdenkmäler gewöhnlich nur das Hochosmanische widerspiegeln. Anstelle der Dichotomie ist also sicherlich mit einer Trichotomie zu rechnen.

D i e „ m i t t l e r e " Varietät Die Basis der „mittleren" Varietät ist in bezug auf den Ursprung topisch-stratisch bestimmbar: gebildete Istanbuler Sprechweise. Diese dürfte schon früh führend geworden sein und überregionalen Einfluß ausgeübt haben. Im genetischen Sinne ist der Istanbuler Dialekt ein recht heterogener westanatolischer Dialekt eines westoghusischen Dialekts eines oghusischen Dialekts. Im funktionalen Sinne, d. h. was die soziale Verwendung betrifft, entwickelte er sich jetzt vom Dialekt zur Sprache, bekam Gültigkeit über die örtliche Sprachgemeinschaft hinaus. Es handelt sich zunächst um eine nichtliterarische, nichtverbindliche, nichtkodifizierte, aber allgemeinverständliche Sprechvarietät, die, auch wenn sie manchmal „Volkssprache" (halk dilix6) genannt wurde und neben „höheren" Spielarten sicherlich auch „niedere" umfaßte, an sich keinen Substandard im Sinne von [ - standard, + tief] darstellte. Eine „mittlere" Varietät diente lange als sprechsprachliche Norm, und zwar prinzipiell bis in unser Jahrhundert hinein. Bis zu einem gewissen Grad ist allerdings auch sie in schriftlicher Form, als „gewöhnliche" Literatursprache, vertreten 17 . Ziya Gökalp, der Theoretiker zontale zwischen Teilbereich Β des Dialekts 1 und Teilbereich Β des Dialekts 2, während eine vertikale zwischen den Schichten T[ief] : H[och] und zwischen Dialekt und Hochsprache besteht. Zur vertikalen Kontinuumsbeziehung der Dialekte zur Standardsprache (durch den nichtkontrastierenden Teilbestand und den variativ verwendeten kontrastierenden Teilbestand) siehe Bellmann 1986, 3f. 16 In türkeitürkischer Terminologie wird u. a. cari bzw. geçer dil 'langage courant' oder halk dili,Volkssprache' verwendet. Devellioglu charakterisiert die Volkssprache als ein Türkisch, das jedem verständlich ist (herkesin anladigt tiirkçe ; 1980, 24). 17 Németh 1916, 10. Hazai spricht von „literarischen oder paraliterarischen Pro-

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des türkischen Nationalismus (türkcülük), machte noch 1923 geltend, daß die in Istanbul verwendete Sprache zweifellos die Nationalsprache der Türkei sei, daß es aber dort zwei Arten von Türkisch gebe: „den gesprochenen, nicht geschriebenen Istanbuler Dialekt" und „die geschriebene, nicht gesprochene osmanische Sprache" (biri qonusulub da yazïlmayan "Istanbul lähcäsi", digäri yazïlub da qonusulmayan 'Osmànli' lisäni; 1923, 99). Diese etwas übertriebene Aussage trifft dennoch den Kern des Problems: bei der „mittleren" Varietät handelt es sich um keine Schriftsprache, nur um eine gelegentlich verschriftete „Volkssprache". Über den Hintergrund dieser Koine ist uns wenig bekannt. Mit der Zeit hatte sich ein westanatolisch-rumelisches Osmanisch herausgebildet, das sich vom Ostanatolischen deutlich abhob. In den Mundarten, die die Istanbuler Sprechweise prägen sollten, hatte, vermutlich infolge des indogermanischen Substrats, u. a. eine Verschiebung der Artikulationsbasis stattgefunden (z. B. mit Develarisierung hinterer Konsonanten wie [q] und entsprechender Palatalisierung vorderer Konsonanten wie [k]; Menges 1968, 81). Das Istanbuler Türkisch wurde von Anfang an nicht nur von den Einheimischen, sondern auch von Türken und Turkisierten aus allen Ecken des Imperiums ständig entwickelt. Nach der Eroberung der Stadt waren sofort Neubesiedlungsmaßnahmen ergriffen worden; bei jeder neuen Eroberung wurden Umsiedlungen nach Istanbul vorgenommen 18 . Geholt wurden Mengen aus Griechenland, Serbien, Albanien etc., vor allem aber, zwecks Stabilisierung der Stadt, aus dem türkischen Anatolien. Aus allen Richtungen kamen im Laufe der Zeit Sklaven, Einwanderer, Kriegsgefangene und Flüchtlinge an. Die durch diese sozialen Veränderungen geschaffene ethnische Vielfalt hatte selbstverständlich auch sprachliche Folgen. So waren für die Herausbildung der erwähnten Koine sowohl intralinguale wie auch interlinguale Kontakte entscheidend: durch die Jahrhunderte hindurch wurde sie von Sprechern unterschiedlicher Herkunft modifiziert und nahm Elemente von allen Seiten auf. Es ist klar, wenn auch noch nicht dukten in einfacher Sprache", die eine nicht unbedeutende, aber im Dschungel des osmanischen Schrifttums schwer erkennbare Fortsetzung des alten „reintürkischen" Schrifttums darstelle (1978, 25). Ein Teil davon repräsentiert den dialektalen Non-S, ein anderer Teil die „mittlere" Varietät. Beide Typen erinnern an die Sprache, die in den ersten Jahrhunderten der Türkenherrschaft in Anatolien den Literaturdenkmälern zugrundelag. 18 Zur Neubesiedlung siehe Babinger 1953, 109. Vor allem wurden Bewohner eroberter Städte verpflanzt und jeweils in Stadtviertel eingewiesen, die nach ihnen benannt wurden.

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systematisch erforscht, daß der Zustrom vieler Sprecher aus all diesen Gegenden den Anstoß zu manchen Neuerungen gab, die heute auch zu den Merkmalen der türkeitürkischen Gemeinsprache gehören.

Standardverschiebung Obwohl eine Standardsprache prinzipiell immer durch das Vorhandensein rivalisierender Normen bedroht ist, kam in der Entwicklung des Osmanischen der kritische Punkt sehr spät, an dem die Hochsprache einer weniger formellen Form weichen mußte. Die Istanbuler Gemeinsprache bahnte den im letzten Jahrhundert eingeleiteten Sprachreformen den Weg. Die türkcülär genannten gemäßigten Sprachreformer empfahlen, um die sprachliche Dualität zu beheben, Türkisch so zu schreiben, wie es die Bevölkerung von Istanbul, insbesondere die Frauen, sprachen. Noch A n f a n g dieses Jahrhunderts bezeichnete es Ziya Gökalp als eine „sprachliche Krankheit", daß die in Istanbul gesprochene Sprache nicht, wie in anderen Hauptstädten der Völker, mit der geschriebenen Sprache identisch sei. Da die künstliche Schriftsprache nicht zur Sprechsprache werden könne, müsse man die Sprechsprache zur Schriftsprache machen (1923, 98). Die so erstrebte Variante wurde „neue Sprache", „schönes Türkisch", später „neues Türkisch" genannt. Die Entwicklung der erwähnten Koine mündet somit in eine neue S abc -Varietät, die bereits die Grundlage der heutigen Nationalsprache darstellt. Deny bezeichnet sie als "le parler de l'ancienne capitale de la Turquie, Istanbul, qui continue à donner le ton au pays, au même titre que Paris au regard de la France" und fügt hinzu: "Il s'agit ici d'un parler moyen, celui des hommes cultivés, qui peuvent se trouver d'ailleurs hors d'Istanbul, mais qui prennent modèle sur le parler normal de cette ville" (1955, 11)19. Gewissermaßen diente die „mittlere" Varietät auch als Basis der weiteren Entwicklung der Schriftsprache, obwohl die folgenden Phasen der Sprachreform in der kemalistischen Türkei mit ihrer zum Teil institutionalisierten intentionalen Variantenbildung, ihrer „Anatolisierung", artifiziellen Wortschatzerweiterung 2 0 etc. die schriftsprachliche Situation erheblich verschoben und verwirrten. Immer noch weist die " Banarli 1972 gibt Beispiele für nicht-Istanbuler Dichter, die das Istanbuler Türkisch besonders eindrucksvoll vertreten haben. Das türkische Element war wegen der langen systematischen Unterdrückung in der Standardsprache in Verfall geraten, weshalb zwecks einer „Nationalisierung" das Wortbildungsinventar künstlich (ζ. T. mit erfundenen Stämmen und Suffixen) erneuert werden mußte.

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Substandard

und Sprach wandel im

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Türkischen

Sprechsprache ungleich m e h r historische Kontinuität auf als die Schriftsprache, die sich, in welcher sprachpolitischen Variante auch immer, von der alten osmanischen Schriftsprache scharf unterscheidet. Bis auf die sprachpolitisch bedingte lexikalische Variation ist der neue Standard 3 0 0 heute ziemlich klar abgegrenzt und besitzt dank Schulen und Medien große Durchschlagskraft. Die Kluft zwischen Schriftund Sprechsprache verringert sich. Auch Orts- und Regionaldialekte neigen immer mehr dazu, ihren kommunikativen Schwerpunktbereich in Richtung S abc zu verlagern. Eine Zusammenschau der Beziehungen der älteren (I) und neueren (II) Standardsprache in verschiedenen sprachhistorischen Perioden 2 1 ergibt somit im Prinzip folgende funktionale Verschiebungen: Frühosmanisch I. s a b

II.

-

Mittel- u. Spätosmanisch

Türkeitürkisch

sabc

sa

-

s abc

Osman ischer Substandard Präzise sprachhistorische Aussagen zum osmanischen Substandard sind kaum möglich, da uns über das „gemeine" Türkisch sehr wenig bekannt ist und seine Elemente im Laufe der Sprachgeschichte erheblich gewechselt haben dürften. Hazai weist (1978, Kap. 1) auf die unbefriedigende Forschungssituation und die fehlende Kenntnis der sozial und kulturell bedingten Realisationsformen der „Trabantenidiome" hin. Seitens der Turkologie ist die Frage der u. a. sozial und funktional bedingten Variation im Osmanischen bisher überhaupt nicht systematisch studiert worden. Es finden sich allerdings Einzelbeobachtungen zu Erscheinungen, die meist undifferenziert als „vulgärosmanisch" bezeichnet werden und die lediglich nicht hochosmanisch sind oder ein als stilistisch niedrig beurteiltes Hochosmanisch repräsentieren (siehe vor allem Jacob 1898). „Vulgärosmanisch" erweist sich oft einfach als ein Register. Auch diese diaphasische Schichtung, die mit wertenden Urteilen wie ,gut': .schlecht' operiert, erfolgt meist mit vagen Kriterien. So versteht Pro21

Grosso modo fängt die mittelosmanische Periode Ende des 15. Jahrhunderts an, während die spätosmanische vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis nach dem ersten Weltkrieg dauert. Hier soll keine scharfe Abgrenzung erfolgen, zumal Termini wie ,alt'-, ,früh-', ,mittel'-, ,spät'- und ,neuosmanisch' bereits für unterschiedliche Periodisierungen unter anderen Aspekten verwendet werden.

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kosch (1980) die von ihm behandelten „Konstruktionen der Vulgärsprache" als „jene Konstruktionen, die außerhalb des Rahmens der Hochsprache stehen und die vorwiegend von zweitrangigen osmanischen Autoren verwendet werden". Die für seine Untersuchung relevante Grenze geht „zwischen anerkanntem Standard einerseits und nicht mehr anerkannter Vulgärsprache andererseits". Auch wenn Prokosch zeigen will, daß „eine Ausweitung dessen nottut, was man bisher als Standard betrachtet hat", beziehen sich seine Beobachtungen prinzipiell auf stilistische Abstufungen innerhalb oder unmittelbar unterhalb der Hochsprache (Iff.). Es geht ihm darum, zwischen „anerkanntem Standard" und „ungebildeter Diktion" zu unterscheiden. Wie war der Substandard unterhalb der II-Norm beschaffen, wie sind die hier anzusiedelnden grundschichtlichen Varietäten abzugrenzen? Offizielle Normen bezogen sich auf I; alles darunter galt als „vulgär". Für II gab es keinerlei präskriptive Normfestsetzung durch Autorisierung einer sprachpflegerischen Instanz. Sprachverhaltenstheoretisch fundierte Aussagen lassen sich hier kaum machen. Über die subjektiven Attitüden können wir fast nichts direkt ermitteln, selten indirekte Schlüsse ziehen. Was hier zu einem bestimmten Zeitpunkt als akzeptabel galt und was im Gegenteil als ,falsch', ,unschön', ,häßlich', ,unrein' etc. beurteilt wurde, ist meist unmöglich zu entscheiden. Substandardelemente sind selten schriftlich festgehalten; wenn ja, verdeckt die arabische Schrift oft etwaige lautliche Besonderheiten; siehe dazu unten. Bei der Stratifizierung moderner Varietäten wäre die unterhalb II befindliche Schicht leichter zu bestimmen. Auch dieser Schichtung hat die einheimische Turkologie jedoch bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Was den nichtliterarischen Wortschatz betrifft, geht man gewöhnlich von generellen Schemata aus und rechnet mit einem „allgemeinen" (genel) Niveau, unter welchem zunächst die „Volkssprache" (halk dili) steht. Darunter wird als Substandard das Argot (argo) und der „ordinäre" (bayagi) Wortschatz angesiedelt (siehe z. B. Dilâçar 1968, 19). Unter Elementen des älteren Istanbuler Sub-II-Standards verstehen wir im folgenden Varietätenelemente, die in Istanbul vorkamen und die, gleichgültig welcher topisch-stratischen Herkunft, dort unter der II-Norm lagen und als [ + tief] galten. Da der Ii-Standard auf dem Istanbuler Dialekt basierte, bezieht sich auch der Sub-II-Standard darauf. Als Forschungsgegenstand käme ohnehin nur ein Substandard Istanbuler Prägung in Frage, da uns aus anderen Gebieten Materialien ganz fehlen. Auch die Ermittlung dieses Substandard ist bis heute nicht weit gediehen; vgl. Tietzes Bemerkung: " / . . . / of the language spoken by

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the populace of the capital in bygone centuries we know hardly anything" (Sanjian/Tietze 1981, 61 f.).

Die Istanbuler M u n d a r t Wesentlich ist in diesem Zusammenhang zunächst die grundsätzliche Unterscheidung zwischen der auf gebildeter Istanbuler Sprechweise basierenden Koine (II) und den grundlegenden topisch-stratischen Varietäten Istanbuls. Wenn auch der Istanbuler Stadtdialekt die Grundlage der heutigen Gemeinsprache ist, weist das Istanbuler Türkisch wiederum Besonderheiten auf, die der Gemeinsprache fremd sind. Aksan 1985 unterscheidet hier zu Recht zwei verschiedene Varietäten, auch wenn seine terminologische Differenzierung „Istanbuler Dialekt" (Istanbul fivesi bzw. lehçesi) und „Istanbuler Mundart" (Istanbul agzi) diskutiert werden kann 2 2 . Die Besonderheiten der „Mundart" gehören definitionsgemäß dem Nonstandard, nicht unbedingt aber dem Substandard an. Wie sprachliche Varietäten allgemein, zumindest in Stadtgebieten, inhärent variabel sind, scheint die Istanbuler Mundart recht differenziert gewesen zu sein. Noch ist uns wenig bekannt über die Verteilung der Besonderheiten auf gesellschaftliche Klassen, die Abhängigkeit des Sprachverhaltens von soziokulturellen Merkmalen der Sprecher und von Situationen oder die sozialen Faktoren, die sprachliche Entwicklung motivieren. Die frühe türkische „moderne" Prosaliteratur, die Ende des vergangenen Jahrhunderts unter französischem Einfluß entstand, mag zuweilen einen Eindruck von den Eigenheiten vermitteln, die einmal für den Istanbuler Nonstandard - und zum Teil den Substandard - typisch gewesen waren. So bezeugt z. B. Aksan (1985, 19), daß in den Büchern des Prosaisten Hüseyin Rahmi Gürpinar (geb. 1864) die Sprechart der einfachen Leute, vor allem die der Istanbuler Frauen bei ihren Zusammenkünften, sehr natürlich und treffend wiedergegeben sei. Meist findet sich jedoch hier wie in anderen ähnlichen zeitgenössischen Prosawerken eine einfache Umgangssprache, die in phasischer Hinsicht zuweilen auf einer informellen oder nachlässigen Stilebene liegen mag, ohne in stratischer Hinsicht als [ + tief] eingeordnet werden zu können. Obwohl die Rolle der sprechsprachlichen Elemente in diesen Werken nicht systematisch ausgearbeitet worden ist, läßt sich vermuten, daß 22

Herangezogen werden interessante Beispiele für ζ. T. noch bewahrte phonetische, phonologische und lexikalische Eigenheiten der „Mundart".

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hier (trotz gelegentlich vorkommender Vulgarismen) Sprachformen innerhalb des örtlichen Varietätenkonglomerats nachgebildet werden, die auch zur Zeit ihres Vorkommens relativ hoch eingeschätzt wurden und nicht nur in der heutigen Retrospektive so erscheinen. Sie gehören kaum dem Substandard an. Das gesprochene Istanbuler Türkisch der Gebildeten wird zumindest einen formellen und einen informellen Stil umfaßt haben. Der informelle (teklifsiz) Stil der gebildeten Schicht ist nicht mit niedrigen Soziolekten gleichzusetzen. Da das schichtabhängige Sprachverhalten noch unerforscht ist, wissen wir auch nicht, wie die „obere" Istanbuler Umgangssprache einzuschätzen ist. Man sagt heute gerne, daß türkische Frauen in den alten Schlößchen und Villen von Stadtteilen wie Kanlica, Kandilli, Beylerbeyi, Çamlica und Erenköy das Istanbuler Türkisch am schönsten gesprochen hätten. Handelt es sich hier um Realisationen des Stadtdialekts, die dicht an der Grenze zur „mittleren" Varietät liegen, oder um die „mittlere" Varietät selbst? Auf jeden Fall dürfte eine gemäßigte Sprache gemeint sein, die darauf beruhen mag, daß die Frauensprache einerseits konservativer als die Männersprache war, andererseits aber von der Hochsprache relativ unbeeinflußt blieb (da Ämter, für welche diese verbindlich war, nicht von Frauen bekleidet wurden).

Substandard und Fremdelemente Informationen über die sozioökonomische Schichtung Istanbuls sind sicherlich wichtig für die Beurteilung der Rolle des Substandards in der Stadt. Noch wesentlicher erscheint es, die sprachlich-ethnischen Fremdeinflüsse zu berücksichtigen. Istanbul war eine multilinguale Metropole. Ihre Sprache war u. a. insofern uneinheitlich, als „die verschiedenen Dialekte der Provinz ihren Einfluß mehr oder weniger geltend machen" (Németh 1916, 10). Die Eigenart des Stadtdialekts mag sich zum Teil durch Verschmelzung von Lokaldialekten ergeben haben. Nicht weniger beachtenswert ist jedoch, wie oben angedeutet, der Einfluß der verschiedenen „Millets", der ethnischen Gruppen nichttürkischer Zunge. Zahlreiche Sprecher 23 waren zwei- oder mehrsprachig mit unterschiedlichem Grad der Sprachbeherrschung. Der Beitrag der Minderheiten zur Entwicklung des Stadtdialekts ist beträchtlich: für seinen fortwährenden Wandel spielten die verschiedenen Teilgrup23

Die Zahl der b e t r e f f e n d e n M i n d e r h e i t e n ist schwer zu ermitteln, da amtliche D o k u m e n t e meist n u r zwischen türkischen und christlichen Elementen unterscheiden.

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pen, die im Laufe der Zeit in die Sprachgemeinschaft eintraten, alle ihre spezifische Rolle. Besaß eine Teilgruppe einen niederen Status innerhalb der Sprachgemeinschaft, so wurden ihre Neuerungen zunächst negativ, als Substandard gekennzeichnet. Gerade im Substandard ist der nicht-arabisch-persische Fremdeinfluß in der Tat recht deutlich spürbar. Es ist schwer zu entscheiden, wie nichttürkische Sprachen wie Neugriechisch, Armenisch etc. den Istanbuler Stadtdialekt als Ganzheit beeinflußt haben. Fest steht nur, daß Personen aus den ethnischen Minderheiten, die in der Stadt distinkte Gruppen bildeten, den Dialekt mit besonderen Merkmalen sprachen. Zwischen Sprechern mit griechischem, armenischem, jüdischem usw. Hintergrund bestanden signifikante Unterschiede u. a. in Wortschatz und Aussprache. So wird ζ. B. im volkstümlichen Qaragöz-Schattenspiel die Identität ethnischer Gruppen traditionell durch spezifische phonetische Züge signalisiert, allerdings in karikierender Weise; Jacob weist auf die Tradition hin, die „jedesmal nur einige besonders charakteristische Lautdifferenzen zum Ausdruck bringt, dieselben vielfach übertreibt und oft ganz falsch anwendet, was wiederum die komische Wirkung erhöht" (1925, 143; vgl. Kowalski 1934,993). Die hier verzerrten Substandardmerkmale gehen auf die Wirkung nichttürkischer Sub- und Adstratvarietäten zurück. Völlig abwegig wäre jedoch die Annahme, daß das von ethnischen Minderheiten verwendete Türkisch generell unter dem Ii-Standard gelegen habe. Tietze kann nicht entscheiden, inwieweit der von ihm bearbeitete armenotürkische Text das Osmanische seiner Zeit oder den „jargon" der türkischsprachigen Armenier Istanbuls repräsentiere, erwägt aber, ob der manchmal vorkommende "vulgar style may be more strongly characterized by pecularities of Armeno-Turkish" (Sanjian/Tietze 1981, 51). Eine Tradition, im „Armenier-Türkisch" nur Pöbelsprache zu sehen, geht, wie Hetzer (1985, 41f.) bemerkt, auf die ältere (kaum turkologisch arbeitende) Islamkunde zurück. So meinte von Kraelitz-Greifenhorst (1912) vieles, was heute der türkeitürkischen Norm entspricht, den Armeniern „als Soziolektmerkmal anhängen zu müssen". Hetzer verneint die Existenz des Armeniertürkisch „als distinkte Mundart einer Bevölkerungsgruppe der alten Türkei". Stark ist der nicht-arabisch-persische Fremdeinfluß auch in den zur Verfügung stehenden Materialien zum Istanbuler Argot 24 , der für gewisse soziale Gruppen exklusive Register umfaßt, der traditionell vorzugsweise in Stadtteilen wie Kasimpaça, Kumkapi etc. gesprochen wur24

Zum Istanbuler argo (früher lisän-i äräzil, iisän-i häzälä oder qayis dili Gaunersprache' genannt) siehe Devellioglu 1980.

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de und der mit dem Milieu der Gauner (etwa der "Tulumbadschis", wörtl. ,Pumpenmänner', Mitglieder einer berüchtigten Volksfeuerwehr) verbunden wird. Die meisten Fremdwörter des Argot stammen aus dem Neugriechischen und dem levantinischen Italienisch, viele auch aus dem Armenischen, den Sprachen der Zigeuner und der spaniolischen Juden etc. Über diese und andere Sub-S-Spielarten des Stadtdialekts ist uns noch wenig bekannt. Erfreulicherweise werden jedoch in einigen neuen Beiträgen, ζ. B. Sanjian/Tietze 1981, zumindest gewisse Aspekte des Fremdeinflusses behandelt. Die bisherigen Ergebnisse erlauben kaum Generalisierungen. Angesichts der Heterogenität der nicht-arabisch-persischen Fremdeinflüsse und ihrer Verdichtung in niederen Soziolekten erscheint es jedoch klar, daß die Sprache der Ungebildeten weitaus weniger einheitlich gewesen sein muß als die der Gebildeten.

Substandard und Sprachwandel (Variation und Wandel) Klar zeichnen sich auch die dynamischen Beziehungen der sprachlichen Daten zum Substandard und seinem jeweiligen Standard ab. Jeder Standard unterliegt dem Einfluß rivalisierender Normen und der Auflösung durch sie. Im Mittelosmanischen stellen wir teils beibehaltene ältere Formen, teils Neuerungen fest. Was etwa in einem mittelosmanischen Wörterbuch als „vulgär" indiziert wird, hat als Interferenz begonnen und erzeugt eine Variation, die später zur Auflösung der Standardnorm beitragen mag. Wir stellen einen allmählichen Übergang fest: eine Zeitlang existieren Varianten, ζ. B. zwei Formen, die von je einer Gruppe (etwa Unter- und Oberschicht) bevorzugt werden. Mit den folgenden Generationen mag sich die Neuerung auf die andere Gruppen verbreiten, allgemein werden und so den früher damit verbundenen sozialen Wert verlieren. So sind ursprüngliche Sub-S-Varianten aus rivalisierenden Normen wenig später bereits dem Standard einverleibt: was auf einer Entwicklungsstufe als vulgär bzw. ungebildet gilt, ist auf der nächsten akzeptabel. Prokosch bemerkt (1980), daß die Grenze zwischen Standard und „nicht mehr anerkannter Vulgärsprache" im Laufe der Jahrhunderte nicht gleich geblieben ist (2) und daß „die Entwicklung der ungebildeten Aussprache der gebildeten - und daher konservativen - vorausgeeilt ist, wie denn auch vielfach die in den Wörterbüchern von Redhouse und Zenker angeführten volkstümlichen (vulgären) Formen die heute einzig gebräuchlichen sind" (9). Ebenso sind frühere ArgotWörter der „mittleren" Variante einverleibt worden.

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Der Übergang von ungerichteter Sprachvariabilität zur gerichteten Entwicklung des Sprachwandels birgt jedoch eine Fülle anderer Möglichkeiten. Die Durchsetzung von Neuerungen im osmanischen Sprachsystem und Sprachwissen war bei weitem nicht immer so unkompliziert. Auch gingen Neuerungen keineswegs immer von sozial niedrigeren Schichten aus. Prokosch spricht, wie gesehen, von der „gebildeten und daher konservativen" Aussprache. Dennoch kommt der gebildeten Sprache nicht nur eine konservative (archaische) Rolle zu; das volkstümliche Türkisch ist auch nicht durchgehend progressiv (innovatorisch). Auch die Sprache der osmanischen Oberschicht zeigt Neuerungen, ζ. B. lexikalische und phonologische Entlehnung, vielleicht ζ. T. als symbolische Distanzierung von der Unterschicht, wenn diese durch Übernahme von Prestigeelementen die Kluft minderte und die Exklusivität dadurch gefährdet erschien. Auf jeden Fall erweist es sich als unmöglich, auch was die Entwicklung der sog. „inneren Struktur" betrifft, eine Periodisierung der osmanisch-türkischen Sprachgeschichte ohne Berücksichtigung der vertikalen Dimension durchzuführen. So dürfte ζ. B. die für das Mittelosmanische als typisch geltende allmähliche Auflösung der alten phonologischen und morphonologischen Struktur in stratischer Hinsicht sehr komplex verlaufen sein und wäre entsprechend differenziert zu beschreiben, wenn hierfür adäquates Material zur Verfügung stünde. Sprachhistorische Verallgemeinerung aufgrund der wenigen bisherigen Befunde ist riskant. Bei allen Quellen ist zu beachten, daß sie nur Übergangszustände einzelner Variablen im synchronen Schnitt widerspiegeln. Zu den Übergangsproblemen, die die Abgrenzung zweier Varietäten erschweren, gehört ζ. B. auch, daß gewisse Elemente in beiden Varietäten, jedoch mit signifikativ unterschiedlicher Frequenz vorkommen mögen.

Quellen Zur Geschichte der Vulgärsprache sind, wie angedeutet, gewisse Informationen aus der Folklore, dem Qaragöz-Repertoire und ähnlichen Genres zu beziehen. Welche anderen Textsorten erlauben Schlüsse auf den Non- und Substandard? Bei der Beurteilung ihrer Güte sind Funktion, Domäne und Zweck, Unterschiede in der Schriftart, im Schriftsystem und in dessen Verwendung, der Grad der Vertrautheit des Übermittlers mit der Sprache etc. zu berücksichtigen. Ein großes Problem betrifft die offizielle Graphie. Die standardisierte Schreibung mit arabischer Schrift verdeckt zum großen Teil die laut-

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liehe Variation, also auch das Tempo des Wandels. Die Wandelprozesse des Osmanisch-Türkisch bleiben oft unsichtbar hinter der Kruste der Schrift. Oft dürften sie selbst dadurch retardiert worden sein: die erstarrte Struktur der geschriebenen Sprache wird bei literaten Sprachträgern bremsend gewirkt haben 2 5 . Erhebliche Möglichkeiten bieten sog. Transkriptionsdenkmäler 2 6 u. a. Wörterbücher, Glossare, Sprachführer, Gesprächsbücher, G r a m matiken - in nicht-arabischer Schrift, die vor allem deshalb wertvoll sind, weil sie mit dem praktischen Ziel geschrieben wurden, in die nichtliterarische „Umgangssprache" einzuführen, und weil sie gewisse phonetische Fragen beantworten können, bei denen uns die arabische Schrift im Stich läßt. Das bekannte Problem der „schriftlich fixierten Mündlichkeit" ist aber auch in diesem Fall sehr heikel. Auch die hier aktuellen Textsorten können selbstverständlich nicht authentisch gesprochene Sprache wiedergeben. Es handelt sich immer u m m e h r oder weniger geschönte, geglättete Texte, allenfalls dem Gesprochenen nahestehende verschriftete Textformen, die auch schriftlichem Einfluß (traditioneller Schreibweise) unterliegen können und eine getreue Wiedergabe des Gesprochenen nicht garantieren. Hierfür steht einfach kein Korpus zur Verfügung. Andere Schwächen der Transkriptionstexte liegen darin, daß sie meist nicht von Muttersprachlern zusammengestellt sind, und darin, daß auch sie das substandardsprachliche Element selten mitbehandeln bzw. kenntlich machen 2 7 . Nicht-Muttersprachlern wird gewöhnlich die jeweilige Standardvarietät einer Sprache beigebracht. Die Gesprächsbücher sind nichtliterarische Gebrauchstexte, die ein Türkisch der Alltagskommunikation reflektieren, aber, da sie sich an eine höhere Schicht richten, oft ein registermäßig angehobenes Niveau aufweisen. Die Sprache der unteren Schichten ist hier selten vertreten. Trotz aller Schwächen ist das Transkriptionsmaterial als Auswertungsgrundlage weitaus günstiger als andere Textsorten. Für das Mittelosmanische steht recht viel Material zur Verfügung: gerade das 17. Jahrhundert, der Höhepunkt der osmanischen Macht und des eu25

Zur „Verselbständigung der Schrift gegenüber der gesprochenen Rede" s. Paul 1920, 410. 26 Das Material umfaßt Aufzeichnungen in lateinischer, griechischer, armenischer, kyrillischer, syrischer, hebräischer und georgischer Schrift und ist auch im übrigen sehr heterogen. 27 So sind auch große Bedenken gegen die Zuverlässigkeit dieser Erzeugnisse geäußert worden. Kißling bezeichnet ζ. B. das von Georgievits im 16. Jahrhundert aufgezeichnete westbalkanische Material als „barbarisches Türkisch auf serbokroatischer Grundlage" (1968, 127).

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ropäischen Interesses für das Türkische, ist ungewöhnlich gut dokumentiert. Bei der Bearbeitung dieses erfolgversprechenden Materials sollte, wie Hazai (1978, 36) hervorhebt, die Aufmerksamkeit auf die der Alltagssprache am nächsten stehenden Sprachdenkmäler konzentriert werden. Die im 16.-18. Jahrhundert von europäischen Missionaren und Dragomanen kompilierten G r a m m a t i k e n und Wörterbücher spiegeln nach Hazais Auffassung im wesentlichen den Istanbuler Dialekt wider, der „die Grundlage f ü r die sich allmählich herausbildende neutürkische Literatur- und Gemeinsprache abgab" (1973,461). Hochinteressant sind auch die von Mechitaristen besorgten Drucke des 19. Jahrhunderts, die türkische Texte in armenischer Schrift, u. a. Wörterbücher, Gesprächsführer, G r a m m a t i k e n , Übersetzungen westlicher Literatur ins Türkische (noch vor dem Anfang der türkischen Moderne in den 70er Jahren des Jahrhunderts) enthalten. Hetzer (1985) bezeugt, daß diese Texte anders als orientalische Drucke tatsächlich in türkischer Volkssprache verfaßt sind, und bestätigt den Armeniern ein „wegweisendes Sprachverhalten", da die Türken später selbst den Weg beschritten, den die Armenier vorgezeichnet hatten. Alte angebliche „Armenismen" sind heute längst Bestandteil der Standardsprache. Unter anderen Rahmenbedingungen hätte man bereits Anfang des 19. Jahrhunderts in allen Schrifttumsgattungen so schreiben können: aus dieser Zeit gebe es jedenfalls „auch komplizierte Abhandlungen in türkischer Volkssprache" (S. 41). Diese Tatsache will Hetzer in einer Chrestomathie (1987) zeigen, die für die sprachhistorische Forschung eine ergiebige Quelle sein wird 28 . Die Probleme der Zuordnung - wie die Varianten zu bestimmen, welchen Gebrauchsnormen sie zuzuordnen sind - bestehen auch hier, sogar bei den spärlichen expliziten Angaben diastratischer oder sprachstilindizierender Art. Wird in einem Wörterbuch ein Element ζ. B. als „vulgär" markiert, so ist oft nicht zu entscheiden, ob es sich um eine Registermarkierung handelt, ob das betreffende Element von der H o c h n o r m abweicht (als Sub-I-Standard) oder unterhalb der „mittleren" Varietät (als Sub-II-Standard) eingestuft wird. Zahlreiche andere relevante Fragen bleiben o f f e n : über ästhetische Substandardwertungen oder über den Grad der sozialen Ächtung von Substandardvarietäten fehlen uns elementarste Auskünfte.

28

Die Texte werden unter dem Aspekt der „funktionalen Stile" des Osmanischen bearbeitet.

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Fremdwörter und ihre Phonologie Was den Wortschatz betrifft, neigte die Oberschicht, wie erwähnt, zu lexikalischer E n t l e h n u n g aus den islamischen K u l t u r s p r a c h e n : die Hochsprache (I) verfügte, wie es scheinen will, über einen potentiell o f f e n e n arabisch-persischen Wortschatz. Die mittlere Sprache (II), die m e h r einheimische Wörter beibehielt, u m f a ß t e auch eine nicht geringe, aber begrenzte Zahl arabisch-persischer Elemente, die sich im Laufe der J a h r h u n d e r t e fest eingebürgert hatten. Ein entsprechender G r u n d stock findet sich - neben F r e m d e l e m e n t e n anderer Provenienz - im Sub-II-Standard. N u r die phonologische Behandlung des Fremdgutes weist Unterschiede auf. Ein G r a d m e s s e r des Standards war immer, f r ü h e r wie heute, die Aussprache von Fremdwörtern. Die Oberschicht behielt oft die Fremdstruktur, w ä h r e n d die Unterschicht sie den einheimischen Mustern anpaßte. In bezug auf lautliche Anpassung an das einheimische System war der gesamte Nonstandard progressiver als die Hochsprache. In allen Türksprachen, die u n t e r starkem arabisch-persischem E i n f l u ß standen, existieren soziolektische Varianten der Lehnwörter, „gelehrte" und „volkstümliche", von denen erstere zur reinen Reproduktion der f r e m d e n Lautelemente tendieren (siehe u. a. Johanson 1986a). Die G r a m m a t i k e r bemerken, d a ß die Aussprache des Istanbuler Dialekts besonders bei arabischen u n d persischen W ö r t e r n oft schwanke, u n d zwar „je nach der Gelehrsamkeit des Sprechenden" ( N é m e t h 1916, 10). Die sogenannte Volkssprache „verderbe" die Fremdwörter, d. h. verändere ihre Aussprache oder auch ihre Bedeutung. Derartige Modifikationen sind aber nicht nur dem Sub-II-Standard eigen, viele waren auch in der gebildeten G e m e i n s p r a c h e akzeptabel. Durch die ganze osmanisch-türkische Sprachgeschichte h i n d u r c h ist die Anpassung ein im Substandard beginnender f o r t w ä h r e n d e r Prozeß, deren Ergebnisse nach u n d nach auch auf die oberen Strata übergreifen. A u c h in stilistischen Varianten der geschriebenen Hochsprache k o m m e n angepaßte F o r m e n vor 29 . Für die türkcülär, die erwähnten gemäßigten Sprachreformer, wurde es später zu einem gegen die proosmanischen Reinheitseiferer (fäsähatcilär) verfochtenen G r u n d p r i n 29

Nach Prokosch weisen viele arabische und persische Wörter „mehr oder weniger anerkannte orthographische Varianten auf, die in der Ursprungssprache als eindeutig falsch zu bezeichnen sind und die dem gebildeten Osmanen, der das Arabische und Persische beherrschte, auch als falsch erscheinen mußten. Dennoch hat der osmanische Usus in solchen Fällen ein derartiges Übergewicht bekommen, daß es vielleicht doch berechtigt ist, von osmanischen Varianten zu sprechen" (1980, 3).

Substandard

und Sprachwandel

im

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zip, die „korrupten" Formen auch in der Schrift so wiederzugeben, wie sie ausgesprochen wurden. Im fortlaufenden Prozeß der Anpassung verschieben sich natürlich auch die Merkmale, die Standard : Substandard indizieren. Typische Substandardmerkmale waren von Anfang an u. a. Kürzung arabischpersischer Vokallängen, Schwund arabischer Kehlkopfklusile, Ersetzung gewisser Konsonanten, Auflösung von Konsonantengruppen, Lautharmonisierung und Verwechslung ähnlich klingender Fremdwörter. Durch sprachpolitische Maßnahmen („Anatolisierung" etc.) wurden im modernen Türkeitürkisch viele „volkstümliche" Formen zum Standard erhoben. Auch heute noch gilt jedoch die „falsche" Aussprache von Fremdwörtern - etwa [abuqat] für avukat Rechtsanwalt' als eines der wichtigsten Zeichen von Substandard. Durch sprachpolitische Maßnahmen können angepaßte Formen umgekehrt zum Substandard degradiert werden. In vielen sowjettürkischen Sprachen sind assimilierte Formen russischer Wörter und russisch vermittelter Internationalismen weitgehend verpönt, gelten als Substandard. Auch im arabisch-persischen Wortschatz zeigen sowjettürkische Normsprachen eine „etymologisierende" Tendenz, die den Widerstand gegen die auch im Russischen akzeptablen Fremdstrukturen dämpft 30 . Oft gelten assimilierte Formen als typisch für den niedrigen vorrevolutionären Bildungsstand und werden dem Substandard zugeordnet.

Grammatikalische Substandard-Merkmale In der Morphologie erkennen wir weniger Unterschiede zwischen den Varietäten als in anderen grammatikalischen Teilbereichen: die tiefen Varietäten sind jedoch offenbar etwas progressiver als die nichttiefen. Die Syntax des Osmanisch-Türkischen ist noch sehr mangelhaft erforscht, weshalb auch über Substandardmerkmale wenig Informationen vorliegen. Einigkeit herrscht jedoch darüber, daß sich u. a. „die niedere Umgangssprache" oft Abweichungen von „normalen" Wortstellungsregeln gestattet (Kißling 1960, 117). Auf das Problem des sog. Satzes mit invertierter Wortstellung (dävrik gümlä) und der mit Modifikationen der Mitteilungsperspektive verknüpften Wortstellungsregeln (siehe Johanson 1975) können wir hier nicht eingehen. Nur sei darauf hingewiesen, daß manche früher als Substandard geltende Abweichung von der orthodoxen Wortfolge des Hochosmanischen in un30

Zum Wortschatz neupersischer Herkunft siehe Johanson 1986a, 196.

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serem J a h r h u n d e r t sogar in einem Teil der Literatursprache akzeptabel ist. Bei ihrer Wahl handelt es sich u m Registerspezifika, fakultative wiederkehrende Stilelemente, die nicht verschiedenen sprachlichen Subsystemen angehören, sondern Realisationsmöglichkeiten eines Systems darstellen. Auch andere als „vulgär" geltende syntaktische Erscheinungen stellen sich oft als Registerspezifika bzw. Performanzerscheinungen heraus. Prokosch spricht bei der Behandlung des sog. Vulgärosmanischen von Anakoluthen, „die dem Usus der gesprochenen Sprache entnommen sind und daraus resultieren, daß ein G e d a n k e während des Sprechens modifiziert wird". Anakoluthe seien als „die Hauptcharakteristika dieser Sprachschicht" zu bezeichnen: wo sie häufig vorkommen, sei „mit Sicherheit der Schritt vom Standard zum Vulgärosmanisch-Türkischen getan" (1980, 5). Auch die Genitivkonstruktion ohne Possessivsuffix 3 ' sei als „Konstruktion des Vulgärosmanischen zu bezeichnen, die nur von zweitrangigen Autoren verwendet wird" (1980, 39). Hier geht es um stilistische „Zweitrangigkeit" im R a h m e n des hochosmanischen Standards. Auch in manch anderer Hinsicht dürfte die vulgär a n m u t e n d e Sprache der „mittelmäßigen" Autoren nur als ein Register der Standardvarietät I einzuschätzen sein. Für die Erhellung phonetischer Probleme des Mittelosmanischen bieten die Transkriptionstexte oft wertvolles Material. Oft gehen Veränderungen innerhalb der einheimischen Phonologie offensichtlich von den stratisch tiefen Varietäten aus. In der gehobenen Sprache begegnen dagegen nicht selten Fälle von Erneuerung durch phonologische Entlehnung (arabisch-persischer, später französischer Phoneme). Über die betreffenden Durchsetzungsprozesse ist uns noch wenig bekannt. Auch bei Transkriptionstexten ist übrigens oft, wie oben angedeutet, die Frage angebracht, ob sie Laute wiedergeben oder durch N a c h a h m u n g traditioneller Schreibweise ζ. T. nur Schriftbilder transponieren. Was den Konsonantismus betrifft, zeigen sowohl Transkriptionstexte als auch Verschreibungen in Texten mit arabischer Schrift, daß in gewissen Fällen „die vulgäre Aussprache die Entwicklung der Hochsprache vorweggenommen" hat (Prokosch 1980, 16). Beispielsweise setzt spätestens im 18. Jahrhundert (mindestens in „volkstümlicher Aussprache") der Wandel von /η/ζυ/η/ ein. Vokalunterschiede, auch Nuancen, erweisen sich jedoch als stratisch signifikanter als Konso31

Die vollständige Konstruktion sieht die Abfolge rectum + Genitivsuffix, regens + Possessivsuffix vor. Die possessivsuffixlose Konstruktion war im Altosmanischen nicht unüblich gewesen.

Substandard

und Sprach wandel im

Türkischen

109

nantenunterschiede (vgl. Trudgill 1974, 49). Das sog. „geschlossene e", das für das Altosmanische angenommen wird und über deren phonetische Natur ([e], [i] oder Diphthong) kein turkologischer Konsensus besteht, ist spätestens im 17. Jahrhundert dabei, in [ε] überzugehen. Dies stellt zunächst eine Substandarderscheinung dar. Wo „geschlossenes e" etymologisch zu erwarten wäre, zeigen gewisse Transkriptionstexte entweder i oder e. Tietze spricht hier von "the archaic-conservative (and perhaps literary) /" und von "the modernistic-vulgar e" (Sanjian/Tietze 1981, 52). Eine Zeitlang dürfte / e / in Istanbul mindestens zwei verschiedene Aussprachen gehabt haben, dann verlor die alte Aussprache ihr Prestige und wurde altmodisch, während die ursprünglich vulgäre Variante [ε] sich sowohl im Stadtdialekt 32 als auch später in der Gemeinsprache durchsetzte.

Morphonologischer Systemwandel Der mittelosmanische Sprachzustand ist von höchster Relevanz als unmittelbare Vorstufe zur Entstehung eines neuen morphonologischen Systems, das im wesentlichen die Basis der heutigen türkeitürkischen Standardsprache darstellt. Transkriptionstexte erlauben gewisse Schlüsse auf die tiefgreifenden Strukturveränderungen im Zentralosmanischen des 17. Jahrhundert. Es ist wichtig zu prüfen, inwieweit die feststellbaren Unterschiede und sublinguistischen Schwankungen, die dem Wandel vorangehen, auf signifikante stratische und phasische Tendenzen zurückgeführt werden können 33 . Das älteste Osmanisch hatte mehrere Klassen von Suffixmorphem mit nicht-tiefem Vokal. Im 17. Jahrhundert befinden sich die Suffixe auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Eine Aufhebungssituation ist eingetreten. Einige Suffixe stehen auf der Indifferenzstufe, die von promiscue-Gebrauch labialer und illabialer Suffixvarianten bzw. phonetischer Neutralisation der Distinktion [± rund] (mit Zwischenvokalen des Schwa-Typus) geprägt ist. Der (nicht von allen Suffixen erreichte) Endpunkt des Neutralisationsprozesses ist die Unifikation zu einer 32

Hier fehlen nach Aksan die in anderen Dialekten vorkommenden [e] und [ae] (1985, 18). Bergsträßer fand allerdings alle drei Varianten [c, e, ae] in „gebildeter" Istanbuler Aussprache vor (1918). Abgesehen davon, ob und wie das Kontinuum der tatsächlich vorhandenen Vokalvarianten in distinkte Typen aufgespaltet werden kann, handelt es sich hier zumindest nicht um unterschiedliche Phoneme. 33 An Vorarbeiten sei besonders Hazai 1973 erwähnt. Zu Teilfragen siehe etwa Johanson 1979, 1984 und 1986b.

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Lars Johanson

Einheitsvariante. Dann folgt f ü r einige Suffixe bereits die Angleichungsstufe, deren Endstufe der vierfache Vollvokalwechsel der heutigen Normsprache ist (siehe Johanson 1979). Dieser Wechsel beruht auf der Palatal- und der Labialharmonie 3 4 . Je nach der Entwicklungsstufe, die ein Suffix zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht hat, kann es als m e h r oder weniger progressiv' bezeichnet werden. Auch Varietäten sind in entsprechender Weise, je nach Inventar von Suffixen verschiedener Entwicklungsstufen, mehr oder weniger .progressiv' 35 . Gewisse Transkriptionstexte bieten in dieser Hinsicht gute Auskünfte. Beispielsweise weisen ein armenotürkischer Text, der "the general vernacular spoken by the common people in the Istanbul of the 17th century" vertreten dürfte (Sanjian/Tietze 1981, 62), und ein 1672 von einem Ungarn zusammengestelltes Dialogbuch, das ebenfalls gesprochenes Istanbuler Türkisch dieser Epoche widerspiegelt (Hazai 1973), in bezug auf den Suffixvokalismus Unterschiede auf, die sich evolutiv-stratisch interpretieren lassen. Die Suffixe des „volkstümlichen" Textes vertreten regelmäßig eine progressivere Entwicklungsstufe 3 6 als die des zweiten und zeigen eine deutlichere Neigung, neue morphonologische Muster durch Analogie a n z u n e h m e n (siehe Johanson 1986b). Diese progressivere Harmonie war im 17. Jahrhundert sicherlich ein Zeichen von Substandard. Was die Gemeinsprache betrifft, dokumentieren einige Transkriptionstexte jedoch bereits f ü r das ausgehende 18. Jahrhundert die heute übliche Labialharmonie. Allerdings wurde durch die stereotype Notation der arabischen Schrift die neue Vokalharmonie bis zur E i n f ü h r u n g der Lateinschrift nur sehr unvollkommen repräsentiert. Heute kommt der neue Standard auch in der offiziellen Orthographie konsequent zum Ausdruck. Der alte Vokalismus, der einmal Standard war und der immer noch zum Teil dialektal vorkommt, ist zum Indikator des Substandards abgesunken. Noch vor einigen Jahrzehnten konnten gemeinsprachliche Texte mit regionaler Lautung öffentlich vorgetragen werden. Im Zuge der neuen Standardisie34

Palatalharmonie heißt: Suffixvokale gleichen sich in bezug auf das Merkmal [ ± vorn] dem Vokal der vorangehenden Silbe an. Labialharmonie: nicht-tiefe Suffixvokale passen sich in bezug auf das Merkmal [ ± r u n d ] dem Vokal der vorangehenden Silbe an. Prokosch meint irrtümlich, das 16. Jahrhundert sei „die Zeit des Überganges von der Palatal- zur Labialharmonie" gewesen (1980, 12; vgl. Johanson 1982). 35 Anatolisches Türkisch ist in dieser Hinsicht progressiver als aserbaidschanisches. 36 In der mit arabischer Schrift geschriebenen Sachprosa erkennt Prokosch derartige Tendenzen auch an den „Abweichungen von der ,Normalorthographie' in Texten, die von Halbgebildeten verfaßt wurden" (1980, 10).

Substandard und Sprachwandel im Türkischen

111

rung der letzten Jahrzehnte ist die Akzeptabilität freier phonologischer Variation erheblich zurückgegangen. Außer als Stilmittel im belletristischen Dialog werden dialektale Merkmale, wie es scheint, immer niedriger eingeschätzt.

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Lars

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Sprachwandel und idiolektale Variation im Kanuri Norbert Cyffer (Mainz)

1. Einleitung Die Kanuri-Sprache wird von ca. fünf Millionen Menschen im Gebiet um den Tschadsee gesprochen. Der größere Teil lebt im Nordosten Nigerias (ca. 4 Mill.), während sich der Rest auf die Republik Niger und den Tschad (Kanembu Dialektgruppe) verteilt. Eine geringe Sprecherzahl lebt im Norden Kameruns und in einigen Oasen des südlichen Fezzan (Libyen). Die Kanuri-Sprachforschung konzentrierte sich in den letzten 50 Jahren auf die in Maiduguri (Nigeria) gesprochene Sprachform. Maiduguri ist die Hauptstadt des Emirats Borno, dessen Bewohner zu über 90% Kanuri als Muttersprache beherrschen. In Maiduguri residiert der traditionelle Führer der Kanuri, der Shehu von Borno; dort liegt ihr religiöses (islamisches) Zentrum. Obwohl die politische Institution Borno bzw. Kanem-Borno auf eine annähernd tausendjährige Geschichte zurückblickt (Brenner 1973), ist die gegenwärtige Hauptstadt erst eine Gründung des 20. Jahrhunderts. Religiös-politisch motivierte Kriege, interne Machtkämpfe und Kolonisierung haben das Borno-Reich im 19. Jahrhundert schwer erschüttert. Alte Machtzentren wurden aufgelöst und neue errichtet. Maiduguri wurde 1906 von der britischen Kolonialverwaltung gegründet und wuchs bis heute zu einer Großstadt von mehr als 300 000 Einwohnern an. 1967 wurde Maiduguri im Zuge einer Verwaltungsreform Hauptstadt des Bundesstaates North-East State bzw. nach einer weiteren Reform 1976 des Borno State\ Das Kanuri gehörte schon früh zu den besser dokumentierten afrikanischen Sprachen. Das lag zum Teil an der ökonomischen und politischen Bedeutung des (Kanem-) Borno Reiches in der Tschadseeregion, wo sich in vergangenen Jahrhunderten die Ost-West und NordSüd Handelswege kreuzten. Die ersten seriösen linguistischen Arbeiten waren die des Missionars Sigismund Wilhelm Koelle (1854a, 1854b) und des Afrikaforschers Heinrich Barth (1862). 1

Der Borno State umfaßt ein größeres Gebiet als das traditionelle Emirat Borno.

Sprachwandel und idiolektale Variation im Kanuri

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Eine weitere wichtige Quelle wären die Aufzeichnungen des Afrikaforschers Gustav Nachtigal gewesen. Leider sind nur die ersten drei Bände mit den Reisebeschreibungen erschienen. Dem geplanten vierten Band, der die linguistischen Ergebnisse beinhalten sollte, kam der Tod zuvor. Dennoch sind seine Bemerkungen über die sprachlichen Zusammenhänge des Kanuri und der mit ihm verwandten Sprachen von Bedeutung (Nachtigal 1879-1889,11, 196ff.). Nachtigal faßt das Kanuri mit dem Teda-Daza im nördlichen Tschad und dem Berti und Zaghawa im Osten des Tschad und dem angrenzenden Sudan zu einer Sprachgruppe zusammen. Diese Gruppe ist von J. Lukas (1951/1952) als „Ostsaharanisch" und später von J. Greenberg als „Saharanisch" innerhalb des Nilosaharanischen (Greenberg 1966) bestätigt worden.

2. D i e s o z i o l i n g u i s t i s c h e R o l l e des Kanuri In den letzten Jahren, seit etwa 1974, sind sowohl in Nigeria als auch im angrenzenden Niger Anstrengungen u n t e r n o m m e n worden, autochthonen Sprachen im Erziehungs- und Kommunikationswesen eine größere Bedeutung z u k o m m e n zu lassen. Die G r ü n d e d a f ü r sind einleuchtend. Im „anglophonen" Nigeria sprechen allenfalls 20% der Bevölkerung die Kolonialsprache Englisch ; nicht anders verhält es sich mit Französisch im „ f r a n k o p h o n e n " Niger. Darüber hinaus gibt es regionale Unterschiede zugunsten bzw. zuungunsten der Kolonialsprache, ζ. B. in städtischen Zentren und ländlichen Gebieten. Mit dem geplanten Ausbau des nigerianischen Grundschulwesens Mitte der 70er Jahre (National Policy on Education 1977) sollten auch die wichtigsten nigerianischen Sprachen als Unterrichtssprachen nach dem Motto „ein Kind lernt am besten in seiner Muttersprache" Verwendung finden 2 (Cyffer 1977). Im Niger wurde Kanuri als wichtige Nationalsprache in der Erwachsenenbildung verankert. In der Sprachplanung gab es zwar hin und wieder Bemühungen, die linguistischen Aufgaben zu koordinieren, aber letztlich haben die unterschiedlichen Erziehungssysteme alle gemeinsamen Versuche scheitern lassen. Im Falle des Kanuri kommt noch hinzu, daß aufgrund dialektaler Unterschiede in beiden Ländern verschiedene Dialekte als Standard gelten, nämlich in Nigeria der Maiduguri Dialekt und im Niger das Manga, das wiederum in Nigeria nur eine periphere Rolle spielt. 2

Nach Schätzungen der Universität Ibadan werden in Nigeria ca. 400 Sprachen gesprochen (Hansford 1976), von denen etwa zehn Sprachen mehr als eine Millionen Sprecher haben.

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Norbert

Cyffer

3. Die „Standard Kanuri Orthography" und idiolektale Variation Bei der Entwicklung der Standard Kanuri Orthography (SKO) in Nigeria wurden Probleme des Standards deutlich (Cyffer/Hutchison 1979, Cyffer 1977). Dabei ging es weniger um die Wahl eines Dialekts, der als Standard akzeptiert wird, als vielmehr um die idiolektale Variation im Kanuri, ζ. B. kúlwú = kúllú = kúlú:3 'Gewand'. Der Gebrauch der einzelnen Formen hängt nur vom individuellen Sprecher ab und ist nicht durch sozio- oder psycholinguistische Faktoren bedingt. Wenn man eine einheitliche Rechtschreibung anstrebte, mußte den unterschiedlichen Realisierungen Rechnung getragen werden. Innerhalb der Sprachkomitees führten diese Probleme immer wieder zu Konflikten, da es selten Einigkeit über die geschriebene Form gab. Unsicherheiten bei der Rechtschreibung im Zusammenhang mit idiolektaler Varietät gab es schon früher. Folgendes Beispiel ist einem Text entnommen, der in den 30er bis 60er Jahren im Schulunterricht Verwendung gefunden hat (Mommadi 1951). Der Autor verwendet im selben Text verschiedene Schreibweisen für identische Worte. SKO: karaa 'Wald, Busch' Mommadi: kara, karaa, karaga Artikulation : [karáa] SKO: karaga 'Herz' Mommadi: karaa, karaga Artikulation: [karáya, karáa] Nachdem Mitte der 70er Jahre der erste Entwurf der Kanuri Orthographie fertiggestellt wurde, ist diese in Teacher Training Colleges bei Lehramtsstudenten und fortgeschrittenen Lehrern mit Kanuri als Muttersprache getestet worden. Zweck dieses Vorhabens war zunächst, die Rechtschreibregeln auf ihre Anwendbarkeit und Akzeptanz zu testen. Zum anderen sollte auf die Notwendigkeit einer standardisierten Orthographie hingewiesen werden. Letzteres leuchtete sofort ein, wenn 3

Kanuri ist eine Tonsprache. Töne werden folgendermaßen markiert: hoch: tief: unmarkiert, fallend:*. In der Standard Kanuri Orthography werden Töne nicht markiert.

Sprach wandel und idiolektale

Variation im Kanuri

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den Teilnehmern das Testergebnis bekannt gemacht wurde (Cyffer 1977). Aufgabe: Niederschreiben der Verbform kongin 'ich passiere' SKO: kongin Testergebnis: kongin, konyin, konyi, koyin, koin, koi Artikulation: [koin, kóin, selten: kór|in] Zum einen hatten die Testpersonen Probleme bei der Schreibung gewisser Lautkombinationen, die überwiegenden Schreibprobleme traten aber wegen der unterschiedlichen Realisationsmöglichkeiten auf. Man mag vermuten, daß Idiolekte in Maiduguri stärker ausgeprägt sind als in Regionen, die von städtischen Zentren und Verkehrswegen isoliert sind, die gesellschaftlichen Strukturen dort also homogener sind. Maiduguri ist in der Tat heute ein Zentrum mit großer Anziehungskraft. In den letzten 20 Jahren ist die Bevölkerungszahl um 600% gewachsen. Es waren nicht nur Kanuri, die aus allen Gebieten Bornos in die Hauptstadt kamen; alle großen Ethnien Nigerias sind vertreten. Als Verkehrssprache wird Hausa verwendet, Kanuri bleibt der Kommunikation innerhalb der eigenen Gruppe vorbehalten. Da im Kanuri die Tendenz der Konsonantenabschwächung zu beobachten ist, was in medialer Position bis zur vollständigen Tilgung führen kann, könnte man annehmen, daß sich diese Prozesse der lautlichen Abschleifung in Maiduguri schneller als anderswo abspielen. Dadurch, daß bei den einzelnen Sprechern diese Prozesse nicht gleichmäßig ablaufen, könnten sich Idiolekte so lange halten, bis die Prozesse der Lautabschwächung abgeschlossen sind, und aus den Idiolektformen würden neue Dialektformen entstehen. Ob diese Hypothese richtig ist, müßte in einem langfristigen Forschungsprojekt untersucht werden. Die Annahme, daß sich die Idiolekte eher im Schmelztiegel Maiduguri bilden und weniger in homogeneren Regionen, erweist sich als unrichtig. Wahrscheinlich gibt es die Phänomene der freien Variation seit geraumer Zeit in allen Kanuri-Dialekten. Schon Koelle stellte in seiner Grammatik fest (Koelle 1854a, 12): " . . . words which in one district are pronounced with b or p, are pronounced with f in another; yeah, one and the same individual may be found promiscuously to interchange f and b and ρ . . . " . Das gleiche Phänomen wurde auch von Nachtigal beobachtet, und zwar nicht nur für das Kanuri, sondern auch für das verwandte TedaDaza (Nachtigal, 1879-1889, II, 202): „Wie übrigens die Vertauschungen einfacher Consonanten unter einander in afrikanischen Sprachen mit großer Freiheit geübt werden, so unterliegt auch bei den Daza und Kanuri die Aussprache dahin gehöriger Wörter mehr oder weniger der

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Norbert Cyffer

Willkür des Einzelnen. Ich erinnere hier nur an den Namen der von den Arabern Jajo es-Srhir genannten Oase Bodeles, welche ebensowohl Kischikischi, als Kihikihi, Kifikifi, K j e h i k j e h i und Thefitjefi genannt wird". Wenn Nachtigal schreibt, daß die freien lautlichen Variationen in afrikanischen Sprachen allgemein verbreitet sind, so ist diese Behauptung einerseits sehr verallgemeinernd und nicht aufrechtzuerhalten. Andererseits ist es durchaus möglich, daß Nachtigal auf seiner Forschungsreise in der Sahara, dem Tschadseeraum und den sich östlich anschließenden Gebieten durchaus auf die Erscheinungen der freien und idiolektalen Variationen gestoßen ist. Es ist zum Beispiel dokumentiert, daß die Berbersprachen im nördlichen Afrika stark durch Idiolekte geprägt sind. M a n mag daher vermuten, daß es sich bei diesen Phänomenen u m areale Merkmale handelt, vielleicht verursacht oder zumindest begünstigt durch die ökologischen Bedingungen der Sahara und den angrenzenden Sahelregionen. Da Kanuri und Berber unterschiedlichen Sprachgruppen zugeordnet werden - Nilosaharanisch bzw. Afroasiatisch 4 -, spielt die genetische Zugehörigkeit wohl keine Rolle.

4. Der sprachliche Wandel Im folgenden werden nun die wesentlichen Merkmale sprachlichen Wandels im Kanuri und die daraus resultierenden idiolektalen Varianten dokumentiert. Im Bereich der Phonologie ist der gegenwärtige Wandel vor allem bedingt durch Assimilation und Abschwächung am deutlichsten zu beobachten. Im besonderen Maße sind die velaren Konsonanten k und g, im geringeren Maße auch b, t, f und s betroffen. In extremen Fällen kann die Abschwächung bis zur totalen Tilgung gehen. Die häufigsten Prozesse der Abschwächung sind: Degemination, Verstimmlichung, Spirantisierung, Sonorisation und schließlich 0 Realisation. In der Regel finden diese Prozesse in den lautlichen Umgebungen von voranstehenden Vokalen, Nasalen, Liquiden und nachstehenden Vokalen statt.

4

Eine ältere und teilweise heute noch verwendete Bezeichnung ist „Hamitosemitisch".

Sprachwandel

und idioleklale

Variation im

119

Kanari

4.1. Assimilation Im Kanuri ist die progressive Assimilation häufig zu beobachten, weniger die regressive. Im Zusammenhang mit idiolektaler Variation sind Assimilationen nur dann von Interesse, wenn der lautliche Wandel zur Konsonantenabschwächung weiter vorangeschritten ist. Beispiele für Assimilation: > lenómma progressiv *lenómna > fállada *fálkada > kákkada regressiv *kátkáda > múkko músko Die mit ,*' markierten Formen sind unterliegende bare Formen.

'du bist gegangen' 'sie wechselten' 'Buch, Papier' 'Hand, Arm' oder nicht realisier-

4.2. Degemination Einer Degemination geht in der Regel ein Assimilationsprozess voraus. Betroffen ist meistens die Konsonantenverbindung sk, die zu kk assimiliert und schließlich zu k wird, z. B. Stufe 1 a) músko b) *kaskê c) *yiskin aber d) fóska e) koská

> > >

Stufe 2 múkko kakkê yíkkin *ßkka *kakká

> > >

Stufe 3 múko kakê yíkin

'Hand, Arm' 'mein' 'ich gebe'

*fóka *k3ká

'Gesicht' 'Baum, Strauch'

Die genannten Beispiele machen deutlich, daß in einigen Fällen (Beispiele a) und b) ) Assimilation und Degemination eingetreten ist. Die Beispiele b) und c) zeigen auch, daß die Ausgangsformen nicht mehr im Gebrauch sind, dagegen ist Beispiel a) in allen drei Stufen als idiolektale Variante vorhanden. Beispiele d) und e) illustrieren, daß die lautlichen Prozesse der Assimilation und Degemination nicht parallel ablaufen. Die Stufen 2 und 3 werden im Maiduguri Dialekt (noch?) nicht akzeptiert, aber bereits in anderen Dialekten (z. B. Mowar). Am weitesten fortgeschritten in seiner lautlichen Entwicklung ist folgendes Beispiel: *kásku

> kákku

> káku > káwu > ká:u 'Kälte'

120

Norbert Cyffer

Der nächste Schritt von der Degemination zur Sonorisation und Ersatzvokallängung ist bereits angezeigt. Es stellt sich nun die Frage, warum in dem einen Falle der lautliche Wandel weiter als in dem anderen Falle fortgeschritten ist. O h n e weiteres ist diese Frage nicht zu beantworten. Es sei aber die Hypothese gewagt, daß der Wandel möglicherweise mit der Benutzungsfrequenz zusammenhängt, zumindest im Bezug auf die Beispiele a) bis e). Im Falle von kákku etc. trifft diese Erklärung aber k a u m zu. 4.3. Spirantisierung Von dem Wechsel von einem Plosiv- zu einem Frikativlaut sind die Konsonanten b, g und k betroffen, wobei die Artikulationsstelle (labial bzw. velar) erhalten bleibt. a)

/b/ *abi

> >

[f] aß 'was?'

Diese Regel findet als freie Variation Anwendung. Nach Nasalen, Liquiden und Vokalen wird jedoch häufiger die Sonorisationsregel angewandt. b)

/k,g/ > [γ] nach Liquiden bzw. in der Umgebung von p. *bárka > bárya 'Segen' *sálgá > sä/γά 'Latrine' * karága > karáya 'Herz' Auch diese Regel ist nur eine von verschiedenen möglichen idiolektalen Variationen (vgl. 5.).

4.4. Sonorisation Unter Sonorisation wird hier der Wechsel von Labialen und Velaren zu den Approximanten w und y verstanden. Die vereinfachten Regeln lauten: a)

/ b , f / > [w] bei vorangehenden Liquiden bzw. Vokalen und folgenden Vokalen. > luwála 'Streit' *lubála > zówin 'er/sie ißt' *zóbin > 'was?' awí *abí > 'er/sie findet' * saf anditi ss wandtn > sarwafín * sarbafîn 'er/sie macht reif

Sprachwandel

b)

und idiolektale

Variation im Kanuri

/ k , g / > [w] in der Umgebung > fówó *fógó > úwu *úgu > fuwáda *fukáda > *agó awó > fálwono *fálkono > * burgô burwô > *kúlgú kúlwú

121

von hinteren Vokalen. 'Wolke' 'fünf 'sie bliesen' 'Sache' 'er/sie wechselte' 'Anfang' 'Gewand'

c) /k,g/ > [y] in der Umgebung von vorderen Vokalen. > nyiya 'Hochzeit' *nyigâ > *gagin 'er/sie tritt ein' gayin > *lekáda leyáda 'sie gingen' > kúrye 'Region' * karge Wenn der vorangehende mit dem folgenden Vokal identisch ist, wird unter bestimmten Bedingungen eine obligatorische Tilgungsregel angewandt. In den Fällen, in denen die Regeln b) und c) miteinander konkurrieren, also wenn g bzw. k von vorderen und hinteren Vokalen umgeben sind, richtet sich die Regel nach dem folgenden Vokal, ζ. B. * sulúgin *mógé *digo *falékono

> > > >

sulúyin móyé díwo faéwono

'er/sie geht hinaus' 'empfange!' 'Enkel' 'er/sie zeigte'

4.5. Tilgung Der Ausfall von Konsonaten tritt in medialer Position auf, vor allem bei den Konsonanten k und g. Bei der Tilgung von k,g lassen sich im Maiduguri Dialekt drei Kategorien unterscheiden: a) generelle Tilgung, b) Tilgung als idiolekale Variante, c) Tilgung und gleichzeitige Ersatzlängung des benachbarten Konsonanten. Die einzelnen Regeln richten sich nach der jeweiligen lautlichen Umgebung. a) Generelle Tilgung Κ und g werden allgemein getilgt, wenn sie von identischen Vokalen a, e oder i umgeben sind. Dieser Lautwandel ist so weit fortgeschritten, daß er von allen Sprechern des Maiduguri Dialekts durchgeführt wird, z. B.

122

Norbert Cyffer karága likíta wanéke

> > >

karáa Hita wanée

'Wald, Busch' 'Arzt' 'vielleicht'

b) Tilgung als idiolektale Variante Außer der in a) aufgeführten Regel können k und g auch dann getilgt werden, wenn sie zwischen beliebigen Vokalen stehen, ζ. B. *CÍg3 "karága *fógó *úgu *agó *gagín *lekáda

> > > > > > >

CÍ3 karáa fóó úu aó gain leáda

'Fliege' 'Herz' 'Wolke' 'fünf 'Sache' 'er/sie tritt ein' 'sie gingen'

c) Tilgung und kompensatorische Vokallängung Die Velare k und g können getilgt werden, wenn sie Liquiden folgen, allerdings wird dann der Ausfall des Konsonanten durch Vokallängen kompensiert, ζ. B. *karkâ * karge *sálgá *kúlgú

> > > >

karâ: káre: sálá: kúlú:

'er/sie wohnt' 'Region' 'Latrine' 'Gewand'

Dieser Lautwandel tritt vor allem in der auslautenden Silbe ein. Das in b) zitierte Beispiel *karága > karáa sollte nicht mit dem Beispiel *kargâ > karâ: verwechselt werden. Während im ersten Fall trotz des Konsonantenausfalls die Dreisilbigkeit erhalten bleibt, ist das zweite Beispiel zweisilbig. a) b)

ka - rá - ga kar - gâ

> >

ka - rá - a ka - râ:

'Wald, Busch' 'er/sie wohnt'

Sprachwandel

und idiolektale

Variation im

123

Kanuri

5. Phonologische Voraussetzungen für idiolektale Varianten Wie bereits dargestellt, sind die Velare k und g im phonologischen System des Kanuri als am wenigsten stabil zu betrachten. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß bei diesen beiden Konsonanten die Voraussetzungen für idiolektale Variation am günstigsten sind. Im folgenden werden die lautlichen Bedingungen für Idiolektbildungen aufgrund der bereits dargestellten Regeln aufgezeigt (vgl. 4.). a) /k,g/ > [y], [0] *nyigâ *gagîn *lekáda * cikaráko

> > > >

:,g/ > [w], [0] > * dugô > *fukáda > *fógó > *fúgu

nyiyâ, gayin, leyáda, ciyaráko,

nyiâ gain leáda ciaróko

'Hochzeit' 'er/sie tritt ein' 'sie gingen' 'ich schnitzte'

duwó, fuwáda, fówó, fúwu,

duô fuáda fóó fúu

'zunächst' 'sie bliesen' 'Wolke' 'Vorderseite'

Besonders ausgeprägt ist die Realisationsvielfalt, wenn die Velare liquiden Konsonanten (1, r) nachgestellt sind. Hier werden im Maiduguri Dialekt bis zu vier freie Varianten beobachtet, wiederum Prozesse der Spirantisierung, Sonorisation, Tilgung mit kompensatorischer Vokallängung (KVL) und Assimilation.

*kórge *bárka *kúlgú * burgo

> > > >

Spiranti- Sonorisierung sation kárye kárye bárya kúlwú búrwo

KVL kére: bára: kúlú: búro:

Assimilation kárre bárra kúllú burro

'Region' 'Segen' 'Gewand' 'Geschicklichkeit'

Die freien Realisationsformen haben bei der Schaffung der Standard Kanuri Orthography die größten Schwierigkeiten bereitet. Wenn man die Wahl zwischen einer phonetischen und einer phonologischen Schreibung hat, wird bei einer auf der Phonetik basierenden Schrift nur eine der freien Realisationsformen berücksichtigt werden können. Ferner würden einige Konstruktionen kaum in geschriebener Form verständlich. Ein Beispiel soll dieses Problem untermauern. Es gibt im

124

Norbert Cyffer

Kanuri mehrere Suffixe mit der unterliegenden Form / - k á / bzw. /-ka/, das erste als Pluralsuffix, das letzte als Assoziativ, Konditional oder das Zeichen für das direkte Objekt, z. B. a) b) c) d)

karáa * karaaká *karáaka *karáaka

> > >

karaaá karáaa karáaa

Plural: Assoziativ: Konditional:

e)

* karáaka

>

karáaa

Dir. Objekt:

'Wald' 'Wälder' 'Wald besitzend' 'wenn es einen Wald gibt' 'den Wald'

Da, wie bereits erwähnt, k zwischen den Vokalen a getilgt wird, tritt in diesen Beispielen eine längere Sequenz des Vokals a auf. Da darüber hinaus Töne in der Orthographie nicht markiert werden, können Mißverständnisse auftreten. Praktisch unlesbar würde eine Konstruktion mit mehreren dieser gleich- bzw. ähnlichlautenden Suffixe, z. B. karáa + Plural + Assoziativ + Konditional. Das Resultat wäre eine nicht mehr interpretierbare Sequenz von aVokalen: * karáa + ká + ka + ka > karaa + á + a + a > karaaáaa 'wenn es Wälder gibt'. Kaum ein Kanuri-Sprecher könnte solche Formen lesen und verstehen. Daher ist bei der Orthographie zweigleisig verfahren worden, um einerseits nahe an der phonetischen Realität zu bleiben, andererseits die morphologische Realität erkennbar zu machen. So wurde innerhalb der Lexemgrenzen eine weitgehend phonetische Schreibung gewählt und bei grammatischen Affixen eine morphemische Annäherung vorgezogen. So wird das Pluralmorphem als -wa, der Assoziativ als -a, der Konditional als -ga und das direkte Objekt ebenfalls als -ga geschrieben. Es handelt sich zwar nicht um eine phonemische Schreibung, eher um eine Konvention, durch die Mißverständnisse vermieden werden sollen. In der Standard Kanuri Orthography lautet daher die Form: karaa + wa + a + ga > karaawaaga 'wenn es Wälder gibt.' Wenn idiolektale Formen ausgeprägt sind, wurde in der Orthographie immer die Form gewählt, die der unterliegenden Form lautlich am nächsten steht. Somit wurde auch das Problem der Akzeptanz in an-

Sprachwandel

und idiolektale

125

Variation im Kanuri

deren Dialekten entschärft. Die oben genannten Beispiele werden in der Standard Kanuri Orthography wie folgt geschrieben : a) nyiya 'Hochzeit' gayin 'er/sie tritt ein' leyada 'sie gingen' ciyarako 'ich schnitzte'

b) duwo fuwada fowo fuwu

'zunächst' 'sie bliesen' 'Wolke' 'Vorderseite'

c) karge 'Region' barga 'Segen' kulwu 'Gewand' burwo 'Geschicklichkeit'

Nach den Prinzipien der Orthographie müßte karge und barga als karye bzw. barya geschrieben werden. Um jedoch aus praktischen Gründen auf Sonderzeichen so weit wie möglich verzichten zu können, ist γ durch g ersetzt worden, ohne daß es dadurch zu Doppeldeutungen kommen kann.

6. Variationen in der Verbmorphologie Im Bereich der Morphologie werden die Variationen der 1. und 2. Person im verbalen Komplex dargestellt. Zum besseren Verständnis sind einige Erläuterungen zum Aufbau des Verbs erforderlich. Der einfache verbale Komplex der 1. Verbalklasse setzt sich aus einer Verbalbasis, einem Subjekt- und einem Aspektmorphem zusammen. Die Subjektmorpheme der 1. und 2. Person werden suffigiert, die der 3. Person präfigiert, ζ. B. tá 'ergreifen' SJ3 VB SJl/2 tá sk tá m s tá

ASP in > tákkin. in > támin in > sátain

tákin

'ich ergreife' 'du ergreifst' 'er/sie ergreift'

Mit Bezug auf die 1. Person ist bereits in 4.2. auf die Assimilation und die folgende Degemination hingewiesen worden. Die 2. Verbalklasse unterscheidet sich von der ersten darin, daß sie unter Heranziehung eines Hilfsverbs aus der 1. Klasse η 'sagen, denken' gebildet wird. Diesem Hilfsverb wird ein bedeutungstragendes Element vorangestellt, und beide Morpheme zusammen bilden die Verbalbasis, ζ. B.

126

Norbert Cyffer

le + η 'gehen' ι VB BT SJ3 le le le s

π SJl/2 η sk η m 0

ASP in > Ιβηΐη, etc. in > lenámin in > lejîn

'ich gehe' 'du gehst' 'er/sie geht'

Die tonalen Regeln werden hier nicht berücksichtigt. Es sei auch darauf hingewiesen, daß das Hilfsverb η in der Regel dann getilgt wird, wenn ihm Präfixe vorangestellt werden (Cyffer 1978). In der 1. Person Singular spielen sich komplexere Vorgänge ab. Das nächste Beispiel illustriert die morphologische Zusammensetzung und ihre Realisationsformen. i—VBT

BT le le le

a) b) c)

η η η η

SJ sk sk sk

ASP ί > ηα > in >

Ιεηgì Ιεηόηα Ιεηίη, lëîn, lein

Die einzelnen morpho-phonologischen Schritte erklären sich wie folgt: 1

a) le + n + sk + i

2

> *lenki

3

> *ΙβηΗ

4

> Ιεηξί

5

6

> *leηί > * lèi

7

> *leí

Im einzelnen handelt es sich um folgende Prozesse: Stufe 1 : Wegfall von s aus phonotaktischen Gründen. Stufe 2: Velarisierung von n zu η unter dem Einfluß von k. Stufe 3: Verstimmlichung von k in medialer Position. Stufe 4: Wegfall von g. Stufe 5: Wegfall des Nasals und Ersatznasalierung der benachbarten Vokale. Stufe 6: Denasalierung. Was nun die Veränderungen betrifft, sind diese in den einzelnen Aspekten unterschiedlich vollzogen worden, im Extremfall bis zum

Sprachwandel

und idiolektale

Variation im Kanuri

127

Wegfall des Hilfsverbs η und des Subjektmorphems der 1. Person. In den beiden anderen Aspekten erreichte der Wandel nur die dritte bzw. vierte Stufe. Die unterschiedlichen Realisationsformen des Beispiels c) sind idiolektal begründet. Es stellt sich die Frage, warum der Wandel nicht in allen Aspekten gleichmäßig vollzogen wurde. Der Grund liegt wohl in der unterschiedlichen Benutzungsfrequenz der einzelnen Formen. Die am wenigsten benutzte Form ist die Vergangenheitsform des Beispiels a), häufiger wird die Perfektform b) benutzt und am häufigsten das Imperfekt des Beispiels c). Richtungsweisend für die weitere Entwicklung der Sprache ist Form c). So sind auch für die Formen a) und b) Entwicklungen zu [leí] bzw. [leána] denkbar, natürlich vorausgesetzt, daß die Entwicklungen wie bisher weitergehen.

7. V a r i a t i o n e n in d e r Syntax Beispielhaft für idiolektale Varianten in der Syntax ist der „Kasus". Wenn man einigen älteren Publikationen Glauben schenkt, besitzt das Kanuri ein dem Lateinischen vergleichbares Kasussystem. So wird es auch bei J. Lukas (1937, 17) veranschaulicht: Nominative Accusative Genitive Dative Ablative Locative

-ye -ga -ve, -be -ro -η, -nyin, -lari -mben, -mbên

An dieser Stelle kann nicht auf das gesamte „Kasus"-System eingegangen werden. Der Begriff „Kasus" ist aber nicht angebracht, da es sich meistens eher um Postpositionen handelt, die mehr oder weniger deutschen Präpositionen entsprechen (Cyffer 1983). Im Zusammenhang mit idiolektalen Variationen findet das im Subjekt vorkommende Suffix -ye besondere Beachtung. Häufig - so auch bei Lukas - wurde dieses Morphem einem allgemeinen - allerdings fakultativen - Subjektzeichen gleichgesetzt. In Wahrheit muß es sich aber um ein Morphem zur Kennzeichnung des Agens handeln, was die folgenden Beispiele belegen. Es sei auch noch darauf hingewiesen, daß das Agenssuffix (ag) nicht gesetzt zu werden braucht, wenn der Agens, als Unterkategorie des Subjekts, in seiner regulären syntaktischen Position am Satzanfang steht.

128

Norbert

Cyffer

a) Áli ± ye kákkáda saladîn 'Ali verkauft ein Buch' Ali ag Buch er verkauft Häufiger kommt das Agenssuffix zur Anwendung, wenn von der regulären Position abgewichen wird, z. B. b) kákkáda saladîn, Áli + ye 'er verkauft ein Buch, (nämlich) Ali' Buch er verkauft Ali ag oder dann, wenn in der Oberflächenkonstruktion die Satzglieder Agens und Objekt nicht unterscheidbar sind, z. B. c) Áli + ye bákcin 'Ali schlägt' (nicht: 'er schlägt Ali') Ali ag er schlägt Stünde Ali in der Objektposition, würde das direkte Objekt (do) markiert werden: d) Áli + ga bákcin 'er schlägt Ali' Ali do er schlägt In dem Fall, daß der Satz sowohl ein Agens als auch ein direktes Objekt enthält und diese in ihrer regulären Position auftreten, ist ihre besondere Markierung redundant: e) Áli Músa bákcin 'Ali schlägt Musa' In keinem Fall wird -ye benutzt, wenn das Verb durch das Derivationsmorphem t abgeleitet ist und eine passivische Bedeutung erhält: f) Áli báktin (nicht: Áli + ye báktin) 'Ali wird geschlagen' Das Derivationsmorphem t kann aber einem Verb auch reflexivische Bedeutung verleihen. Dann wird das Subjekt von einigen Sprechern als Agens betrachtet, und die Suffigierung von -ye wird möglich. g) Áli ± ye báktin 'Ali schlägt sich' Áli ± ye kasaltin 'Ali wäscht sich' Obwohl die Beispiele f) und g) klar den Agens vom Nicht-Agens trennen, tendieren einige Sprecher dazu, den Anwendungsbereich des Agensmorphems zu erweitern, z. B. in folgender Konstruktion:

Sprachwandel

und idiolektale

Variation im Kanuri

129

h) Ali ± ye Kánoro lejîn 'Ali fährt nach Kano' Die Meinung der Sprecher über die Markierung in den Beispielen g) und h) ist geteilt. Einige akzeptieren sie, andere nicht. Man kann davon ausgehen, daß einige Sprecher den Wandel vom Agensmorphem zum allgemeinen Subjektmorphem zu vollziehen bereit sind oder zumindest den Begriff „Agens" toleranter interpretieren. Andere dagegen beharren auf einer konservativen Funktion, nämlich Agensmarkierung nur beim transitiven Prädikat. Der Grad der aktiven Beteiligung an der Handlung scheint das Kriterium für die Verwendung von -ye zu sein. Die Trennungslinie für oder gegen -ye ist vom individuellen Sprecher abhängig. Je größer jedoch die Beteiligung des Subjekts an der Handlung ist, um so stärker ist die Akzeptanz, das Agensmorphem zu verwenden.

Schlußbetrachtung Mit Beispielen aus der Phonologie, Morphologie und Syntax sind einige Aspekte des Sprachwandels und der idiolektalen Variationen im Kanuri dargestellt worden. In der Phonologie ist die Konsonantenabschwächung wesentliches Merkmal des Wandels, der häufig zu idiolektalen Variationen führt. In der Morphologie ist auf lautlichen Ursachen beruhend ebenfalls ein Verschleiß der Formen bemerkbar. In der Syntax ist Funktionswandel und dadurch bedingte unterschiedliche Akzeptanz zu beobachten. Linguistisch sind die meisten Erscheinungen erklärbar, obwohl der Zugang zu älteren Quellen begrenzt ist. Durch Vergleiche mit Dialekten und verwandten Sprachen ist es aber möglich, Erklärungen zu finden. Die eigentlichen Ursachen für den Wandel liegen aber eher im außerlinguistischen Bereich. Um die historischen, ethnologischen oder ökonomischen Faktoren zu untersuchen, die den Wandel mitbewirkt haben können, sind grundlegende Untersuchungen über die KanuriGesellschaft erforderlich. Ronald Cohen spricht über die Kanuri eher von „Nation" und weniger von „Ethnie", also von ehemals unterschiedlichen Ethnien, die sich heute aufgrund gemeinsamer Sprache, Kultur, Religion, politischer Strukturen als Einheit verstehen (Cohen 1967). Vielleicht liegt hier ein Ansatz für die Erklärung des Sprachwandels. Eingangs wurde auch auf vergleichbare linguistische Erscheinungen in anderen Sprachen im Bereich der Sahara und des Sahel hingewiesen. Cohen widmete einen Artikel der "marriage instability" bei den Kanuri (Cohen 1961). Vielleicht gibt es Zusammenhänge zwischen der sozialen

130

Norbert

Cyffer

und linguistischen Instabilität? Der Übergang von der oralen zur geschriebenen Sprache ist nicht aufzuhalten. Wird die Verschriftlichung den Wandel verlangsamen und idiolektale Erscheinungen reduzieren? Viele Fragen müssen vorerst offenbleiben, bis in einem langfristigen interdisziplinären Projekt Antworten gefunden werden können. Ebenso sinnvoll wären vergleichbare Untersuchungen in benachbarten Sprachen, um so den Grad des Sprachwandels und der Variationen messen zu können.

Literatur Barth, Heinrich (1862), Sammlung und Bearbeitung Central-Afrikanischer Vokabularien, 3 Bde., Gotha. Brenner, Louis (1973), The Shehus of Kukawa. A History of the Al-Kanemi Dynasty of Bornu, Oxford. Cohen, Ronald (1961), Marriage Instability among the Kanuri of Northern Nigeria, in: American Anthropologist, 63, 1231-1249. Cohen, Ronald (1967), The Kanuri of Bornu, New York. Cyffer, Norbert (1977), The Standard Kanuri Orthography - A Step towards Language Standardization, in : Harsunan Nijeriya, 7, 49-60. Cyffer, Norbert (1978), Die Verbalstruktur im Kanuri, in: Afrika und Übersee, 61,294-311. Cyffer, Norbert (1983), Case Marking in Kanuri?, in: Afrika und Übersee, 66, 191-202. Cyffer, Norbert, and John P. Hutchison (1979), The Standard Kanuri Orthography, Lagos. Greenberg, Joseph (1966), The Languages of Africa, Den Haag. Hansford, Keir, et al. (1976), An Index of Nigerian Languages, Studies in Nigerian Languages (Summer Institute of Linguistics), 5. Koelle, Sigismund W. (1854a), Grammar of the Bornu or Kanuri Language, London. Koelle, Sigismund W. (1854b), African Native Literature or Proverbs, Tales, Tables, and Historical Fragments in the Kanuri or Bornu Language, London. Lukas, Johannes (1937), A Study of the Kanuri Language. Grammar and Vocabulary, Oxford. Lukas, Johannes (1951/1952), Umrisse einer Ostsaharanischen Sprachgruppe, in: Afrika und Übersee, 36, 3-7. Mommadi, Mallam (1951), Kitabuwa Kanuribe IV, Zaria (Nachdruck). Federal Ministry of Education (1977), National Policy on Education, Lagos. Nachtigal, Gustav (1879-1889), Sahara und Sudan. Reisen in Afrika, 3 Bde., Berlin/Leipzig.

131

Standard und Non-Standard in der spanischen Grammatikographie Hartmut Kleineidam (Duisburg) / Wolfgang Schlör (Bochum)

1. 2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 4. 4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.1.3. 4.1.4. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 5. 5.1. 5.2. 5.3. 6.

Problemstellung Grammatikographie als Etablierung des Standards Standarddifferenzierung und Non-Standard im grammatischen Diskurs Diachronische Markierung Diatopische Markierung Registermarkierung Dianormative und diafrequente Markierung Zwei Beispiele für die grammatische Beschreibung von Standard und Non-Standard: die Objektpronomen der 3. Person und die pronominalen Anredeformen Die Objektpronomen le(s), la(s), lo(s) Das etymologische System Das klassische /rámo-System Das ¡aísmo/leísmo-System Darstellung in den Grammatiken Pronominale Anredeformen.· tú/vos - vosotros/ustedes Diachronie der pronominalen Anredeformen Konkurrierende Standards im amerikanischen Spanisch Darstellung in den Grammatiken Standard und Non-Standard im interlingualen grammatikographischen Vergleich Duden-Grammatik M. Grevisse: Le bon usage Quirk et al., A Comprehensive Grammar of the English Language Ausblick: Status quo und Perspektiven der spanischen Grammatikographie

1. Problemstellung Mit dem Terminus ,Grammatikographie' werden in dem vorliegenden Beitrag in A n l e h n u n g an Cherubim (1973) „Erscheinungsformen kodifizierender grammatischer Deskription von Sprachen zu wissenschaftlichen u n d / o d e r pädagogischen Zwecken" bezeichnet. Die im Titel angesprochene Frage nach dem Verhältnis von Standard und NonStandard soll dabei auf den gängigsten Typ kodifizierender Beschreibung, die Referenzgrammatik, bezogen und im Sinne einer weiteren thematischen Präzisierung auf grammatische Deskriptionen des Ge-

132

Hartmut Kìeineidam / Wolfgang Sch/ör

genwartsspanischen angewendet werden. Als repräsentative Auswahl der spanischen Grammatikographie werden folgende Werke zugrunde gelegt: J. Alcina Franch/J. M. Blecua, Gramática española, Barcelona 2 1980 [' 1975]; S. Gilí Gaya: Curso superior de sintaxis española, Barcelona 9 1970 ['1943]; Real Academia Española, Esbozo de una nueva gramática de la lengua española, Madrid 1973; R. Seco, Manual de gramática española, Madrid 10 1980 [Ί930], Die genannten Grammatiken sind, obwohl sie erhebliche Unterschiede in Konzeption und Umfang aufweisen 1 , von ihrer Zielsetzung her vergleichbar. Es sind Nachschlagewerke, die sich trotz eines anspruchsvollen theoretischen Darstellungsniveaus und einer ausgeprägten linguistischen Metasprache eher an den gebildeten Laien oder auch an den Studenten bzw. Lehrer des Spanischen als unmittelbar an den spezialisierten Fachwissenschaftler wenden 2 . Den Grammatiken ist gemeinsam, daß sie eine Beschreibung von Sprachnormen, oder genauer Sprachnorminhalten, in der Form eines linguistischen Kodex darstellen. Die mit der Aufnahme in einen solchen Kodex verbundene implizite oder explizite Präskription ist die wesentliche, wenn auch nicht in allen Fällen notwendige Voraussetzung dafür, daß einem Sprachzeichen die Eigenschaft ;standardsprachlich' zuerkannt wird. Wir verwenden die Termini ,Kodex' und .kodifiziert' dabei allerdings in einem weiteren Sinn als Ammon (1986,4), der diesen Begriff in Anlehnung an die Rechtspflege allein Regelwerken mit offiziellem Status vorbehalten möchte 3 . Eine solche Einengung erscheint uns im Bereich der 1

2

3

W ä h r e n d Gili G a y a sich n u r auf die Syntax beschränkt, weisen der Esbozo und Alcina F r a n c h / B l e c u a neben der Darstellung von Morphologie und Syntax ein recht u m f a n g r e i c h e s Kapitel über Phonetik und Phonologie a u f ; auch Seco behandelt in e i n e m A n h a n g Phonetik und Orthographie. In Alcina F r a n c h / B l e c u a findet sich d a r ü b e r h i n a u s eine 170 Seiten lange theoretische E i n f ü h r u n g in die Linguistik. Wir beziehen uns im folgenden auf die zentralen G r a m m a t i k t e i l e Morphologie u n d Syntax. Cf. dazu die A u s f ü h r u n g e n der G r a m m a t i k e n selbst: "Este libro ha sido redactado con el fin p r i m o r d i a l de poner en m a n o s de los estudiantes un manual útil que exponga c o h e r e n t e m e n t e los conocimientos actuales sobre la lengua española y que pueda servir de libro de consulta para los profesores de esta disciplina" (Alcina F r a n c h / B l e c u a 1980, 9) oder "En él (i. e. el m a n u a l ) se procuraba satisfacer el interés del h o m b r e de cultura media, y t a m b i é n del h o m b r e culto no especialista, respecto a la estructura de nuestro idioma, describiéndosela en f o r m a breve y racional, sin imponerle leyes ni terminología y discusiones complicadas" (Seco 1980, XII). Wenngleich A m m o n neuerdings e i n r ä u m t , d a ß es nicht entscheidend sei, wer einen Kodex verfaßt, s o n d e r n vielmehr, welcher normative Status dem bet r e f f e n d e n Werk z u k o m m t , bleibt der offizielle C h a r a k t e r Voraussetzung f ü r die E i n s t u f u n g als linguistischer Kodex und damit f ü r die Standardsprachlichkeit von Sprachzeichen, wie aus der folgenden Definition hervorgeht: „Ein linguistischer Kodex ist eine beschreibungstechnisch u m f a s s e n d e prä-

Standard

und Non-Standard

in der spanischen

Grammatikographie

133

Grammatik (im Sinne von Morphologie und Syntax) nicht immer angemessen, wenn man berücksichtigt, daß in vielen Ländern eine von staatlichen Instanzen offizialisierte Grammatik nicht existiert (ζ. B. BRD) oder aber solche Grammatiken faktisch bedeutungslos sind (ζ. B. die Akademiegrammatik in Frankreich); gleichwohl werden in diesen Ländern aber andere Grammatiken als Autorität akzeptiert. Dabei verkennen wir nicht, daß zwischen den oben genannten spanischen Grammatiken Unterschiede im Hinblick auf die Verbindlichkeit sowie den Umfang der Kodifikation bestehen. Offizieller Charakter kommt allein dem Esbozo aufgrund der staatlichen Präskriptionsautorität der Real Academia Española zu. Wenngleich in einer Advertencia dieser Grammatik von der normgebenden Institution selbst wegen des vorläufigen Charakters der Arbeit jegliche normative Gültigkeit abgesprochen wird 4 , ist deren faktische normative Wirkung und Anerkennung schon vor dem Erscheinen der geplanten neunten Auflage der Gramática de la Lengua Española nicht zu leugnen. Die anderen Grammatiken sind private Unternehmungen; sie haben nicht den offiziellen Gültigkeitsanspruch und die Durchsetzungsmöglichkeiten, die Veröffentlichungen der Real Academia eignen, doch kommt auch ihnen aufgrund ihrer Verbreitung (Auflagenzahl) und der anerkannten Kompetenz ihrer Autoren der Status von Standardwerken zu, deren Urteil sich der gebildete Sprachbenutzer freiwillig unterwirft. Der Terminus Grammatikographie verweist über die grammatischen Deskriptionen hinaus auch auf die Methodologie solcher Deskriptionen; er ist im Sinne von ,Metagrammatikographie' als „die Beschreibung und Erklärung der Grundsätze und Methoden der jeweiligen kodifizierenden grammatischen Deskriptionen" (Cherubim 1973) zu verstehen. Zu diesen methodologischen Überlegungen gehört wesentlich auch die Frage nach der Auswahl derjenigen Varietät, die als Standard gelten soll und qua Kodifizierung als explizite Norm gesetzt wird. Selbst wenn Grammatiken sich traditionell zumeist nicht explizit theoretisch mit der Abgrenzung von Standard und Non-Standard auseinandersetzen - und man sich mit Holtus (1986) fragen kann, ob es sich hier überhaupt um ein genuin grammatisches Problem handele -, impliziert eine Normfestsetzung immer Abgrenzungen. Diese spiegeln skriptive Grammatik (im weiten Sinn: bezogen auf alle grammatischen Ränge und Ebenen), hinsichtlich deren offizielle Gebotsverpflichtungen existieren, die beinhalten, daß die Präskriptionssubjekte sprachlich in Einklang mit dieser Grammatik handeln" ( A m m o n 1987, 313). 4 Cf. Esbozo (1973,5): "POR SU CARÁCTER, PUES, DE SIMPLE PROYECTO, EL PRESENTE Esbozo CARECE DE T O D A VALIDEZ NORMATIVA".

134

Hartmut

Kleineidam

/ Wolfgang

Schlör

sich, auch dort wo sie nicht Gegenstand einer zusammenhängenden Darlegung in der Grammatik sind, in der metasprachlichen Bewertung der beschriebenen sprachlichen Phänomene. Im Unterschied zu einer verbreiteten Auffassung, nach der .NonStandard' mit .Substandard' gleichgesetzt wird, verwenden wir den Begriff ,Non-Standard' hier in einem weiteren Sinn: Er umfaßt neben den als ,populär', .vulgär', etc. markierten auch die als .literarisch', archaisierend', etc. einzustufenden Sprachzeichen. Zur Benennung der letzteren Gruppe verwenden wir den zu Substandard' komplementären Begriff ,SupraStandard'. Beide Sprachzeichenmengen sind gegenüber dem Standard als marginal einzustufen, wenngleich wir nicht verkennen, daß es sich dabei um zwei Ausprägungen von Non-Standard mit unterschiedlichem Status handelt. Während der Substandard als von keiner Präskriptionsautorität anerkannter Sprachgebrauch prinzipiell Sanktionen unterliegt, ist der SupraStandard in der Regel ein Nichtmehr-Standard, der noch die Legitimation der (literarischen) Tradition genießt und daher - ebenso prinzipiell - sanktionsfrei bleibt. Neben .Standard', ,Non-Standard', ,Suprastandard' und Substandard' führen wir den Begriff ,Superstandard' ein, um die Überdachung zweier oder mehrerer komplementärer nationaler Standards zu bezeichnen. In dem folgenden Beitrag wird zu fragen sein, wie sich das Verhältnis von Standard und Non-Standard in den oben genannten neueren spanischen Grammatiken niederschlägt. Um eine angemessene Einschätzung der Bedeutung dieses Komplexes in der gegenwärtigen grammatischen Deskription des Spanischen zu erreichen, werden die ausgewählten Grammatiken mit anderen grammatikographischen Realisationen kontrastiert, und zwar in doppelter Hinsicht: Durch den Einbezug der diachronen Perspektive sollen mögliche historische Entwicklungen in der grammatischen Behandlung von Standard und Non-Standard in spanischen Grammatiken deutlich werden. Durch den Einbezug der interlingualen Perspektive, d. h. den Vergleich mit modernen Standardgrammatiken des Englischen, Französischen und Deutschen, soll der Stand der heutigen spanischen Grammatikographie im Hinblick auf das Thema Standard und Non-Standard an dem anderer Länder mit hochentwickelten Kultursprachen gemessen werden.

Standard

und Non-Standard

in der spanischen

Grammatikographie

135

2. Grammatikographie als Etablierung des Standards Im 15. Jhdt. wird die Vulgärsprache in Spanien zum ersten Mal Gegenstand ernsthafter und eigenständiger sprachlicher Reflexion. Als erste auf eine iberoromanische Vulgärsprache bezogene systematische Darstellung der Grammatik des Spanischen gilt gemeinhin die Gramática castellana von Antonio de Nebrija (cf. Lapesa 1980,286-290). Dieses 1492 kurz nach dem Abschluß des fast acht Jahrhunderte währenden Prozesses der Reconquista und unmittelbar vor der Entdeckung der Neuen Welt erschienene Werk fällt zeitlich zusammen mit der Entfaltung eines neuen nationalen Bewußtseins und der Expansion eines durch die Reyes Católicos zur politischen Großmacht erstarkten Reiches. In diesem Zusammenhang nimmt es nicht wunder, wenn Nebrija in dem an die Königin Isabel gerichteten Prolog der Grammatik ausdrücklich die Beziehungen zwischen Sprache und politischer Macht thematisiert 5 . In einem historischen Parallelismus zu dem Hebräischen, dem Griechischen und dem Lateinischen erklärt er die kulturelle Bedeutung des Kastilischen als Folge des politischen Prestiges Kastiliens und stellt die kastilische Sprache gleichzeitig in den Dienst der politischen Expansion 6 und der nationalen Einigung. Das für das 15. Jhdt. ungewöhnliche Unternehmen der grammatischen Fixierung und Standardisierung einer Vulgärsprache wird also mit dem Argument seiner politischen Zweckmäßigkeit gerechtfertigt und darüber hinaus mit dem Gedanken der dauerhaften Bewahrung des kulturellen Erbes 7 begründet. 5

In prägnanter Form findet dieser Gedanke seinen Ausdruck in dem viel zitierten Satz "Siempre la lengua fue compañera del imperio, y de tal manera lo siguió que junta mente començaron, crecieron y florecieron, y después junta fue la caída de ambos" (Nebrija 1492/1980, 97). Zur Herkunft und Auslegung der Formel "la lengua compañera del imperio" in der Renaissance cf. Asencio 1960. 6 Cf.: ". . . el muy reverendo padre Obispo de Avila me arrebató la respuesta, y respondiendo por mi dixo: que, después que Vuestra Alteza metiese debaxo de su iugo muchos pueblos bárbaros y naciones de peregrinas lenguas, y con el vencimiento aquellos temían necessidad de recibir las leies quel vencedor pone al vencido y con ellas nuestra lengua, entonces por esta mi Arte podrían venir en el conocimiento della, como agora nos otros deprendemos el arte de la gramática latina para deprender el latin" (Nebrija 1492/1980, 101-102). 7 Cf.: "Y por que mi pensamiento y gana siempre fue engrandecer las cosas de nuestra nación y dar a los ombres de mi lengua obras en que mejor puedan emplear su ocio, (. . .) acordé ante todas las otras cosas reduzir en arteficio este nuestro lenguaje castellano, para lo que agora y de aqui adelante en él se escriviere pueda quedar en un tenor, y estenderse en toda la duración de los tiempos que están por venir (. ..)" (Nebrija 1492/1980, 100-101).

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Bei der Kodifizierung der Vulgärsprache in Form einer Grammatik spielt bei Nebrija die Frage der expliziten Abgrenzung von Standard und Non-Standard keine Rolle. Er kann sich ganz natürlich auf die etablierte kastilische Reichssprache beziehen. Deren D o m i n a n z ist im 15. Jhdt. gegenüber den anderen iberoromanischen Sprachen (Portugiesisch-Galicisch, Katalanisch) und Dialekten (z. B. Asturisch-Leonesisch, Aragonesisch) unbestritten 8 . Sie leitet sich ab aus der tragenden Rolle, die Kastilien während der Reconquista, auch gegenüber seinen eigenen anderssprachigen Landesteilen, gespielt hat, und dem Prestige, das ihm zusätzlich durch die Vereinigung mit Aragonien (1479) erwachsen ist. Was hingegen einer expliziten Begründung bedarf, ist die Tatsache, daß für eine Vulgärsprache, das Kastilische, Anspruch auf Kodifizierung erhoben wird. Die Grammatik Nebrijas ist in dieser Hinsicht ein D o k u m e n t der Emanzipation der Vulgärsprache gegenüber dem Latein: das Konzept des arte oder arteficio, d. h. einer systematischen Fixierung in Regelform, bleibt nicht mehr wie bisher der Lehre der klassischen Sprachen Latein und Griechisch vorbehalten, sondern wird auf die Vulgärsprachen ausgedehnt, denen bislang nur ein auf der Sprachpraxis beruhender uso als Prinzip zugeordnet wurde 9 . W e n n Nebrija ( 1 4 9 2 / 1 9 8 0 ) in dem Prolog zur Grammatik die ka8

Die Verbreitung des Kastilischen wird in dem 1540 verfaßten Diálogo de la lengua von Juan de Valdés eindrucksvoll bezeugt: "Si me avéis de preguntar de las diversidades que ay en el hablar castellano entre unas tierras y otras, será nunca acabar, porque como la lengua castellana se habla no solamente por toda Castilla, pero en el reino de Aragón, en el de Murcia con toda el Andaluzía, y en Galizia, Asturias y Navarra, y esto aun hasta entre la gente vulgar (. . .)" (J. de Valdés 1540/1969, 62). 9 Die Opposition von uso und arte ist für die humanistische Sprachauffassung charakteristisch; ein beredtes Beispiel liefert Juan de Valdés in seinem Diálogo de la lengua: "MARCIO. Maravillóme mucho que os parezca cosa tan estraña el hablar en la lengua que os es natural. Dezidme: si las cartas, de que os queremos demandar cuenta, fueran latinas ¿tuviérades por cosa fuera de propósito que os demandáramos cuenta délias? VALDÉS. No, que no la tuviera por tal. MARCIO. ¿Por qué? VALDÉS. Porque he aprendido la lengua latina por arte y libros, y la castellana por uso, de manera que de la latina podría dar cuenta por el arte y por los libros en que la aprendí, y de la castellana no, sino por el uso común de hablar" (J. de Valdés 1540/1969, 43). Als traditioneller Topos zur Begründung der Notwendigkeit einer vulgärsprachlichen Grammatik wird das Begriffspaar 'arte' vs. 'uso' noch im Pròlogo zur ersten Akademie-Grammatik von 1771 benutzt. Dort heißt es: "Pocos habrá que nieguen la utilidad de la Gramática si se considera como medio para aprender alguna lengua estraña; pero muchos dudarán que sea necesaria para la propia, pareciéndoles que basta el uso. No lo pensaban así los Griegos

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stilische Sprache als ,nicht gezügelt' und ,nicht in Regeln gefaßt' charakterisiert: "Esta hasta nuestra edad anduvo suelta & fuera de regla, & a esta causa a recebido en pocos siglos muchas mudanças" (100), dann verweist er auf genau diesen als Mangel empfundenen Zustand des Kastilischen. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß der uso des geschriebenen Kastilisch 250 Jahre vor Nebrija unter Alfonso X bereits im Hinblick auf eine Standardisierung geformt worden war. Wie Briesemeister (1969) in einer Studie zum Sprachbewußtsein bis Nebrija dargelegt hat, ist der normgebende uso seit Alfonso X (1252-1284) der toledanische Sprachgebrauch. Der König verstand es, die geschichtliche Tradition und die politische Führungsrolle Toledos mit der Festigung und Vereinheitlichung der Sprache zu verbinden, indem er 1253 dem toledanischen Sprachgebrauch in einem für das damalige Europa einmaligen wissenschaftlichen und didaktischen Schrifttum seines Hofes Geltung verschaffte und diesen Sprachgebrauch auch bei sprachlichen Unklarheiten vor Gericht für allgemein verbindlich erklärte. Toledo erscheint somit „als Inbegriff der nationalen Geschichte, der Hof als Maßstab, Mittelpunkt und Hüter der Bildung" (Briesemeister 1969, 41). Der uso cortesano von Toledo hatte sich durch seine Geltung als Kanzleisprache und Wissenschaftssprache politisch de facto durchgesetzt; es bedurfte nur noch seiner Formulierung in der Form eines Regelwerkes, damit die Vulgärsprache ebenbürtig neben das Latein treten konnte. Bei der Kodifizierung des Kastilischen konnte sich Nebrija somit, ohne dies explizit erwähnen zu müssen, auf den uso toledano beziehen 10 . Die Existenz eines bereits bestehenden virtuellen Standards enthebt ihn der Notwendigkeit, sich mit konkurrierenden Sprachformen auseinanderzusetzen. Nichtsdestoweniger beinhaltet seine Position eine Abgrenzung auch gegenüber Non-Standards, zum einen eine Abgrenzung des Kastilischen gegenüber anderen Dialekten und Sprachen, zum anderen des Toledanischen

ni los Romanos (.. .). Lo mismo debemos nosotros pensar de nuestra lengua, en la qual hallamos que observar cada dia cosas nuevas por medio de la Gramática. (. ..) Sobre ninguna de estas cosas se hace reflexion ántes de entender el arte, y así es difícil que sin él hablemos con propiedad, exâctitud y pureza" (RAE 1771/1984, 97-99). 10 Es entbehrt dabei nicht der Pikanterie, daß Nebrija selbst Andalusier ist und sich Juan de Valdés darüber verärgert zeigt, daß er sich nicht immer an die toledanische Norm hält. So bemängelt er im Hinblick auf Nebrijas Vocabulario español-latino: "¿Por qué queréis que me contente? ¿Vos no veis que aunque Librixa era muy docto en la lengua latina, que esto nadie se lo puede quitar, al fin no se puede negar que era andaluz, y no castellano, y que scrivió aquel su vocabulario con tan poco cuidado que parece averlo scrito por burla?" (J. de Valdés 1540/1969, 46).

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gegenüber anderen kastilischen Varietäten (ζ. B. dem Burgalesischen). Diese Abgrenzung bleibt allerdings implizit, sie findet in der Grammatik keinen ausdrücklichen Niederschlag. D i e Diskussion sprachlicher Varietäten ist auch deshalb kein Thema bei Nebrija, weil sich in dieser Entwicklungsphase der vulgärsprachlichen Grammatik ein anderes zentrales Problem stellt, dem sich Nebrija in seiner Grammatik vorrangig widmet: der Adaptation der Kategorien der lateinischen Grammatik und der Schaffung eines geeigneten grammatischen Begriffssystems für die Beschreibung der Vulgärsprache 11 . Nebrija galt zu seiner Zeit eher als Autorität in der klassischen Philologie, seine Bemühungen u m die Vulgärsprache wurden nicht in dem gleichen Maße ernst g e n o m m e n wie bei den auf ihn folgenden Generationen von Humanisten und Grammatikern. Seiner Grammatik war als normgebende Werk nur wenig Erfolg beschieden; sie geriet in Vergessenheit und erfuhr erst Mitte des 18. Jhdts. eine neue Auflage (cf. Nebrija 1492/1980, 84) 12 . Im 16. und 17. Jhdt. erschien eine Reihe von vulgärsprachlichen Grammatiken (vgl. Conde de la Viñaza 1893/1978), die aber in dem hier vorliegenden Zusammenhang der Diskussion von Standard und Non-Standard übergangen werden können, da sie keine wesentlich neuen Aspekte aufweisen. Erwähnenswert bleibt allerdings, daß der uso " Die Diskussion der üblichen lateinischen Terminologie im Hinblick auf die Gegebenheiten des Spanischen nimmt zumindest in den der Morphologie und Syntax gewidmeten Teilen der Grammatik einen breiten Raum ein. Als ein Beispiel unter vielen sei hier auf die Übertragung der lateinischen Kasus auf das Spanische verwiesen: "Los casos en el castellano son cinco. El primero llaman los latinos nominativo, por que por él se nombran las cosas, & se pone quien alguna cosa haze, sola mente con el artículo del género, como el ombre. El segundo llaman genitivo, por que en aquel caso se pone el nombre del engendrador, & cuia es alguna cosa, con esta preposición de, como hijo del ombre. El tercero llaman dativo, por que en tal caso se pone a quien damos o a quien se sigue daño o provecho, con esta preposición a, como io do los dineros a tí. El cuarto llaman acusativo, por que en tal caso ponemos a quien acusamos, & general mente a quien padece por algún verbo, con esta preposición, a, o sin ella, como io amo al próximo o amo el próximo. El quinto llaman vocativo, por que en aquel caso se pone a quien llamamos, con este adverbio o, sin articulo, como io ombre! Sexto & séptimo caso no tiene nuestra lengua, pero redúzense a los otros cinco" (Nebrija 1492/1980, 177). 12 Die Erkenntnis der relativen Erfolglosigkeit seiner Grammatik veranlaßte Nebrija später dazu, mit seinen Reglas de Orthographia en la lengua castellana (1517), in einem schon in der Gramática ausführlich behandelten Bereich, dem der Orthographie, einen Normierungsversuch zu unternehmen, der größere Aussichten hatte, allgemein akzeptiert zu werden, da in Zeiten des sich ausbreitenden Buchdrucks eine Vereinheitlichung der Schreibung als unmittelbar notwendig empfunden wurde.

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cortesano y culto von Toledo, der für Nebrija und Humanisten wie Valdés Modell war, seit der zweiten Hälfte des 16. Jhdts. als Folge der Verlagerung des Hofes nach Norden (Valladolid, Madrid) durch die vorher weniger prestigeträchtige Norm des Altkastilischen abgelöst wurde. Diese Varietät des Spanischen diente Grammatikern des 17. Jhdts. (so z. B. Gonzalo Correas) als Vorbild und wurde von den großen klassischen Autoren wie Fray Luis de León, Cervantes, Lope, Quevedo, Góngora, Calderón geformt und verfeinert. Für die Geschichte der Kodifizierung des modernen Spanisch erlangt im 18. Jhdt. die Grammatik der Real Academia Española zentrale Bedeutung. Im Mittelpunkt der Tätigkeit der Real Academia stand seit ihrer Gründung (1713) die Kodifizierung der spanischen Sprache auf allen Sprachebenen: Lexik, Grammatik, Orthographie, Aussprache, eine Aktivität, die bis in die Gegenwart kontinuierlich fortgeführt wird. Die Akademie-Grammatik erscheint im Jahre 1771; die über vierzig Ausgaben, die dem Werk in der Folge zuteil wurden - die letzte überarbeitete Fassung stammt aus dem Jahre 193113 - zeugen von seiner großen Breitenwirkung. Ausgaben für den Schulbereich haben ihr lange Zeit eine Monopolstellung im muttersprachlichen Unterricht in Spanien gesichert 14 . Die Akademie-Grammatik ist in dem Gesamtrahmen des Sprachpflegeprogramms der Real Academia zu bewerten, das in dem Leitspruch Limpia, fija y da esplendor seinen Ausdruck findet und als eine zentrale Komponente die Fixierung und Stabilisierung der spanischen Sprache in jenem Zustand höchster Vollkommenheit enthält, den diese im 17. Jhdt. erreicht zu haben schien. Auf die Bedeutung der Akademie-Grammatik als Instrument der Sprachpflege hat Dagmar Fries (1984) den Blick gelenkt und dabei die Normvorstellungen der Akademie erörtert, soweit diese in den verschiedenen Ausgaben der Grammatik zutage treten. Aus ihren vergleichenden Untersuchungen der Vorworte (1771-1931) ergibt sich, daß auf der konzeptuellen Ebene keine systematische Reflexion zu Fragen der Normierung und Standardisierung erfolgt. In dem Prólogo zur ersten Ausgabe werden vielmehr traditionelle Argumente für die Rechtfertigung der Pflege und des Stu13

Eine neue Auflage der Akademie-Grammatik ist seit längerem angekündigt. Ihre Prinzipien werden u. a. bei Lapesa (1956) diskutiert und finden in dem Esbozo de una nueva gramática de la lengua española (1973) ihren Niederschlag. Die neue Grammatik läßt jedoch weiterhin auf sich warten. 14 Diese Monopolstellung ergab sich, wie Fries (1984, 92) ausführt, aus Artikel 88 des Moyano-Gesetzes vom 9. September 1857, in dem es heißt: "La Gramática y Ortografía de la Academia Española serán texto obligatorio y único para estas materias en la enseñanza pública".

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diums des Spanischen zusammengestellt; in späteren Auflagen wird der Sprachpflegegedanke immer weniger thematisiert. Zur Erklärung dieses Sachverhalts lassen sich zwei Gründe benennen: 1. Die Anerkennung der Akademie-Grammatik als offizielle normative Grammatik durch das Schulgesetz von 1857 enthebt die Akademie der Notwendigkeit einer expliziten Rechtfertigung. 2. Die Auseinandersetzung mit grammatiktheoretischen Fragen steht seit der Ausgabe von 1854 (cf. Sarmiento 1984) deutlich gegenüber dem Sprachpflegekonzept im Vordergrund. Angaben sehr allgemeiner Natur über die Normvorstellungen finden sich allerdings in einem ersten in der Akademie 1741 erörterten Entwurf für die Erstellung der Grammatik, dem von Sarmiento in seiner Ausgabe der Akademie-Grammatik abgedruckten Proyecto de Gramática de Antonio Angulo (RAE 1771/1984, 497ff.). In den hier entwikkelten Vorstellungen über den uso werden als Norminstanzen la mayor parte de las personas de la Corte sowie los mejores escritores del tiempo presente genannt. Der Verweis auf diese Gruppen sowie auch die Unterscheidung zwischen buen y mal uso legen eine direkte oder zumindest indirekte Beeinflussung durch Vaugelas und seine Lehre vom bon usage nahe. Wie Fries (1984, 183) in einer Einzeluntersuchung zeigen konnte, wird in den verschiedenen Ausgaben der Grammatik jedoch nie auf den Hof verwiesen, hingegen erscheinen gelegentlich Hinweise auf los buenos autores und los que hablan bien, los autores clásicos und los que hablan con elegancia y energía, los autores clásicos und las personas cultas, libros clásicos und personas instruidas, los buenos escritores und el uso actual de la lengua. Der Hof scheidet demnach schon in der ersten Ausgabe als sprachliches Vorbild aus; es kristallisieren sich als Normrepräsentanten die guten Schriftsteller und der sogenannte gebildete Sprecher heraus, eine Normkonzeption, die bis in die gegenwärtige Grammatikographie hineinwirkt. Wie diese Kategorien gefüllt werden, läßt sich nur aufgrund einer grammatikimmanenten Analyse ermitteln. In bezug auf die Abgrenzung von Standard und Non-Standard kann der metasprachliche grammatische Diskurs, d. h. die in der grammatischen Deskription enthaltenen Bewertungen, bis zu einem gewissen Grade Aufschluß geben. Wie Fries (1984, 171) schon für die Akademie-Grammatik festgestellt hat, ist in diachronischer Perspektive tendenziell eine Zunahme solcher metasprachlicher Wertungen zu verzeichnen. Diese sind bei Nebrija, wie wir gezeigt haben, quasi inexistent, im 18. Jhdt. in den Akademie-Grammatiken noch sehr selten, in den Grammatiken des 20. Jhdts. aber recht häufig. Bei der Deutung dieses Befundes muß man davon ausgehen, daß insbesondere in der frühen Phase der spanischen Gram-

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matikographie eine ausgeprägte Tendenz zur Homogenisierung des uso vorlag. Das völlige Fehlen von belegten Beispielen (Autorenzitaten) bei Nebrija und die kaum bessere Belegsituation in der ersten AkademieGrammatik deuten auf das Bestreben hin, einen uso constante darstellen zu wollen, der nicht durch individuelle Variationen - die, wenn sie bei den guten Autoren belegt sind, einer Erklärung und Rechtfertigung bedurft hätten - relativiert wird. Im 19. Jhdt. entsprach die Homogenisierung des uso in der Akademie-Grammatik dem Konzept eines logisch-grammatischen Parallelismus 15 . Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, daß die bedeutende, 1847 von dem Venezolaner Andrés Bello verfaßte Grammatik, obwohl sie sich an ein hispanoamerikanisches Publikum wendet, auf regionale Markierungen des Spanischen höchst selten eingeht 16 und dann zumeist nur in beiläufigen Anmerkungen. Bello fühlt sich vielmehr dem Ideal einer überregionalen Einheitssprache auf kastilischer Grundlage verpflichtet 17 . Die Hauptursache für den erheblichen Anstieg diasystematischer Markierungen in den Grammatiken des 20. Jhdts. ist wahrscheinlich, wie auch Fries (1984, 171) vermutet, in erheblichen Fortschritten bei der empirischen Erfassung des sprachlichen Materials zu sehen, wobei konkurrierende Manifestationen des Spanischen immer mehr ins Blickfeld kommen.

3. Standarddifferenzierung und Non-Standard im grammatischen Diskurs Wenden wir uns den oben genannten spanischen Grammatiken des 20. Jhdts. zu, so sind wir, abgesehen von programmatischen Erklärungen (zumeist im Vorwort oder in einer allgemeinen Einleitung), im wesentlichen auf Indizien angewiesen, die sich aus der Beschreibung des Sprachgebrauchs selbst ergeben. Solche Indikatoren sind zum einen die zum Beleg des dargestellten uso eingeführten sprachlichen 15

Cf. Sarmiento (1984,243): "Thus, it seems that language, the object of the Grammar of 1854, is something like a great simplification of linguistic reality. This is due to the logical-grammatical parallelism thought to be foundation of language and to the priority assigned to written language over oral usage". 16 Cf. etwa Bello (1847/1980, 89, 172, 225). 17 "Juzgo importante la conservación de la lengua de nuestros padres en su posible pureza, como un medio providencial de comunicación y un vínculo de fraternidad entre las varias naciones de origen español derramadas sobre los dos continentes" (Bello 1847/1980, 32).

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Beispiele, zum anderen die in der grammatischen Beschreibung sich äußernden Bewertungen. Die grundsätzlichen Erklärungen in Vorworten (Alcina Franch/Blecua, Esbozo) bzw. in einem einleitenden Kapitel (Seco) fallen bei den vorliegenden Grammatiken recht knapp aus und sind sehr allgemeiner Natur. Bei Gili Gaya werden Gegenstand und Zielsetzung der Beschreibung unter dem hier relevanten Aspekt lediglich als "describir lo más cuidadosamente posible el estado de la lengua actual" (12) gekennzeichnet. Übereinstimmungen in der Definition der Zielnorm lassen sich aus den Erklärungen der anderen Grammatiken ablesen: es geht im wesentlichen um die Darstellung eines gebildeten und literarischen Spanisch auf der Basis der anerkannten Autoren. Am traditionellsten erscheint dabei Seco, der zwar das Phänomen der Variation ausdrücklich anerkennt, aber in der lengua literaria das eigentliche Modell der grammatischen Beschreibung sieht: "(.. .) es preciso fijarse en un cierto tipo lingüístico, que es esencialmente la lengua literaria, no solo por sus caracteres de fijeza y continuidad, sino porque ella es, para un público de lenguas extrañas, representativa por excelencia de todo el idioma" (4).

Enger eingegrenzt wird die Zielnorm bei Alcina Franch/Blecua mit dem Bezug auf den iberohispanischen Standard ("se ha pretendido describir principalmente el español estándar de la Península entre gentes de cultura") sowie den Verweis auf vorwiegend moderne Autoren als Zitierautoritäten ("(...) se ha apoyado la descripción en la autoridad de escritores dominantemente peninsulares, que escribieron a finales del siglo pasado o en el siglo XX hasta nuestros días. Excepcionalmente, se acude a escritores clásicos", 11). Eine deutliche Abgrenzung gegenüber früheren Auflagen der Grammatik nimmt der Esbozo mit einer Aktualisierung der zitierten literarischen Quellen 18 unter Berücksichtigung der panhispanischen Perspektive vor: "A este respecto se observará (. . . ) que las autoridades literarias no se terminan, como occurría en las ediciones anteriores de la Gramática, en el siglo XIX, sino que incluyen a gran cantidad de escritores del nuestro, muchos de ellos vivos, y no solo españoles, sino también de los restantes países hispánicos" (6). 18

Die Aktualisierung der literarischen Dokumentation hat Fries (1984, 193ff.) durch entsprechende Auszählungen belegt. Dabei ergibt sich, daß die Autoren des Siglo de Oro zwar immer noch omnipräsent sind - und nicht nur in sprachhistorischen Exkursen -, jedoch bilden das 19. und insbesondere das 20. Jhdt. einen neuen Schwerpunkt. Zu den 69 erstmals im Esbozo zitierten Schriftstellern gehören etwa Azorín, Baroja, Delibes, Fuentes, García Lorca, Pérez de Galdós, Rodó, Unamuno. Cf. detailliertere Angaben bei Fries (1984, 194-195).

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Der letzte Aspekt wird noch deutlicher bei Lapesa (1956) in einer programmatischen Erklärung zur Zielsetzung der geplanten neuen Akademie-Grammatik betont: "a fin de que (. . .) la Gramática que proyectamos no refleje solamente los hábitos del buen hablar y escribir propios de España, sino de todo el mundo hispánico" (83-84). Während in den genannten programmatischen Erklärungen die Bestimmung des als Standard betrachteten Sprachgebrauchs recht allgemein bleibt, finden sich bei der Beschreibung der einzelnen in den Grammatiken behandelten sprachlichen Erscheinungen in größerer Anzahl explizite Aussagen zur diasystematischen Gliederung des Spanischen, die ein differenzierteres Bild von Standard und Nicht-Standard vermitteln. Im folgenden soll versucht werden, die in dem grammatischen Diskurs verwendeten Kategorien und Begriffe überblicksartig in ihren wesentlichen Erscheinungsformen zu erfassen. 3.1. Diachronische Markierung Diachronische Erklärungen und Begründungen spielen im grammatischen Diskurs der vorliegenden Grammatiken eine wesentliche Rolle. Einige Beispiele mögen dies exemplarisch verdeutlichen: (1 ) Zum Personalpronomen nos: "Nos, con valor de "nosotros", se c o n s e r v a c o r n o a r c a í s m o en algunas oraciones: Venga a nos el tu reino; Ruega por nos" (Seco, 6). {2) Zum Demonstrativum: "Es a r c a i c a su agrupación con el posesivo (esta su casa)" Franch/Blecua, 624).

(Alcina

(i)Zur Konstruktion des Agens in Passivsätzen: "En los t e x t o s l i t e r a r i o s p r i m i t i v o s es general el empleo de la preposición de con el agente de pasiva: Del rey so ayrado (Mio Cid, v. 156) (. . .) En la é p o c a c l á s i c a se usa de con mayor frecuencia que en n u e s t r o s d í a s : El q u e a m u c h o s t e m e , de m u c h o s es t e m i d o (Saavedra Fajardo, Empresa, 38). H o y se prefiere generalmente la preposición por: La noticia ha sido divulgada por las agencias" (Esbozo, 378). (A) Zum futuro de subjuntivo: "Los dos futuros de subjuntivo fueron usados h a s t a el s i g l o X V I I I , aunque limitados a las oraciones de sentido condicional. Su d e c a d e n c i a act u a l es tan completa, que no solo han desaparecido de la lengua hablada, sino casi totalmente de la escrita, reducidos a algún modismo (sea lo que fuere, que en el habla ya es sea lo que sea) y a escritos de carácter solemne, como son las disposiciones oficiales. Al imperfecto le sustituye el presente de indicativo o el presente de subjuntivo: si alguien dudare = si alguien duda; cuando regresares = cuando regreses. El perfecto es reemplazado por el pretérito perfecto de indicativo: si para Navidad no hubiere vuelto = si para Navidad no he vuelto" (Seco, 80).

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Die diachronischen Markierungen kontrastieren den heutigen Sprachgebrauch mit dem einer früheren Epoche {la época clásica, los textos literarios primitivos, etc.) und heben den heutigen Standard so von einem archaischen oder obsoleten Standard (arcaísmo, arcaico, etc.) ab. Sie sind häufig mit anderen diasystematischen Bemerkungen zu komplexen Aussagen über den Sprachgebrauch verbunden (cf. (4) ). Die Tatsache, daß der diachron markierte Non-Standard überhaupt erwähnenswert erscheint und Anlaß zu längeren historischen Exkursen sein kann, erklärt sich aus dem Prestige der klassischen Autoren und der Tradition einer an der Bewahrung des vergangenen Kulturgutes orientierten Grammatikographie. Es ist somit auch nicht verwunderlich, daß in den Grammatiken die Diachronie nach rückwärts gegenüber der Diachronie nach vorwärts, d. h. Aussagen über die gegenwärtige und zukünftige Entwicklung der Sprachnorm, dominiert, obwohl solche Feststellungen nicht fehlen: (5)Zum yeísmo: "Puede pronosticarse fácilmente que, a pesar de los esfuerzos de los gramáticos por mantener la distinción (d. h. zwischen [1] und [y]) el yeísmo acabará por imponerse en todo el mundo hispánico" (Seco, 287). (6)Zur Relativkonstruktion: "La ausencia de preposición en casos en que debiera llevarla no es infrecuente y marca el paso a la gramaticalización del que: (. ..) En el viaje que yo fui de grumete naufragaron una porción de barcos (P. Baroja, Las Inquietudes de Shanti Andía, 195)" (Alcina Franch/Blecua, 1033).

Der sich abzeichnende neue Standard wird allerdings in der Regel mit größerer Zurückhaltung registriert als der zum Non-Standard gewordene früher anerkannte Sprachgebrauch; ein Nicht-mehr-Standard ist im allgemeinen zitierfähiger als ein Noch-nicht-Standard. 3.2. Diatopische Markierung Topische Aussagen beziehen sich in den Grammatiken sowohl auf die Gliederung des iberoromanischen als auch des hispanoamerikanischen Sprachraums. Eine grundsätzliche Beschränkung auf das peninsulare Spanisch nehmen Alcina Franch/Blecua vor (cf. oben), während der Esbozo eine bewußte Öffnung im Hinblick auf den Einbezug des hispanoamerikanischen Sprachgebrauchs vollzieht (cf. oben). Die Auswahl derjenigen sprachlichen Erscheinungen, für die topische Kennzeichnungen vorgenommen werden, ist, wie auch schon bei den diachronischen Markierungen, sehr stark von dem subjektiven Ermessen des Autors sowie auch von dem Beschreibungsrahmen der Grammatiken abhängig. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen:

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(7)Zur Wortbildung mit Diminutiven: "Conviene advertir también cómo las diversas regiones españolas se especifican en general en su preferencia por determinadas formas características de diminutivo. Así, predomina la forma ico en A r a g ó n ; iño en G a l i c i a ; ino, en E x t r e m a d u r a ; ; ' « , en A s t u r i a s y L e ó n , e ilio, en A n d a l u c í a " (Seco, 135).

Ähnliche Angaben fehlen in den anderen Grammatiken, da dort die Wortbildung gar nicht oder nicht in der gleichen Ausführlichkeit behandelt wird. (8) Zur Verteilung von pretérito perfecto compuesto und pretérito perfecto simple: "Sin embargo, algunas regiones, como G a l i c i a y A s t u r i a s , muestran una marcada preferencia por el perfecto absoluto a expensas del perfecto actual. Frases como Esta mañana fui a! mercado y traje mucha fruta se oyen a menudo en ambas regiones, contra el u s o g e n e r a l e s p a ñ o l que en este caso diría he ido y he traído, por sentirse la proximidad temporal con el presente. También e n e x t e n s a s z o n a s d e H i s p a n o a m é r i c a (como Río de la Plata y Puerto Rico) predomina absolutamente canté sobre he cantado en el habla usual. (Gili Gaya, § 123, p. 160). (9) "(.. .) G a l i c i a y A s t u r i a s muestran marcada preferencia por canté, a expensas de he cantado. Frases como Esta mañana encontré a Juan y díjome son características de aquellas regiones, contra e l u s o g e n e r a l e s p a ñ o l , que en este caso diría sin vacilaciones he encontrado y me ha dicho. También en g r a n p a r t e d e H i s p a n o a m é r i c a predomina absolutamente canté sobre he cantado en el habla usual, aunque entre los escritores convivan la forma simple y la compuesta en proporción variable" (Esbozo, 466).

Weder Alcina Franch/Blecua noch Seco gehen auf diese syntaktische Varietät ein. Gili Gaya und der Esbozo verweisen auf peninsulare und hispanoamerikanische Varianten, wobei die Grammatik der Akademie sich deutlich an den Wortlaut bei Gili Gaya anlehnt. Aus den diatopischen Aussagen ist nicht ohne weiteres zu entnehmen, welcher Status ihnen in bezug auf die Unterscheidung Standard vs. Non-Standard zukommt, da sie, wie in den aufgeführten Beispielen, häufig deskriptiv und nicht normativ-wertend formuliert sind. Tendenziell sind Hinweise auf iberohispanische Variation jedoch als Abweichungen vom Standard, also als Hinweise auf Non-Standard, zu interpretieren - das suggeriert auch in (8) und (9) die Formulierung contra el uso general -, während Aussagen zu dem hispanoamerikanischen Sprachgebrauch eher im Sinne eines komplementären Standards zu verstehen sind. Die Aufwertung des hispanoamerikanischen Spanisch, verbunden mit dem sprachpolitischen Appell an die Einheit des Spanischen, findet ihren deutlichen Ausdruck in dem von Lapesa für die neue Akademie-Grammatik geäußerten Zielvorstellungen:

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"(. . .) la Real Academia podrá convertir en realidad el deseo de que su Gramática futura refleje el sentir lingüístico de todos los hispanohablantes cultos, de tal m o d o que sirva de pauta aceptable en cualquier país de lengua española y contribuya de manera eficaz a reforzar la unidad de nuestro idioma" (Lapesa 1956, 88).

Diese sind zum Teil schon in dem Esbozo verwirklicht. 3.3. Registermarkierung Unter Registermarkierung fassen wir hier Kennzeichnungen zusammen, die auf sprachliche Unterschiede Bezug nehmen, welche mit den unterschiedlichen Gegebenheiten der Sprechsituation (Thematik, Medium, Partnerbeziehung) zusammenhängen. Die Grammatiken benutzen ein zum Teil differenziertes Vokabular zur Beschreibung solcher Varietäten, das aber in keiner der untersuchten Grammatiken explizit definiert ist. Da Termini in einem Bezugssystem stehen und nicht ohne weiteres aus diesem herausgelöst werden können, soll im folgenden nur im Hinblick auf eine Grammatik argumentiert werden. Wir greifen exemplarisch den Esbozo heraus, aus dessen grammatischem Diskurs sich folgendes begriffliche Raster ableiten läßt:

(habla culta)

poesía, prosa artística lengua poética lengua literaria textos literarios uso / español culto habla normal / usual / corriente / ordinaria habla / lenguaje coloquial

habla popular

lengua / habla escrita

lengua / norma hablada, habla (oral)

habla vulgar

Der in einer Reihe von Syntagmen verwendete Terminus 'habla' ist zumindest in zwei Bedeutungen belegt. 'Habla' wird in dem Esbozo sowohl im Sinne von gesprochene Sprache' (cf. " A d e m á s de cerner (Berceo), existe el verbo cernir (. . .) m á s e x t e n d i d o h o y q u e cerner en el h a b l a y en la l e n g u a e s c r i t a de v a r i o s t e r r i t o r i o s " , Esbozo, 282) als auch im Sinne von ,Sprachebene', .Sprechweise' gebraucht (cf. " ( . . . ) en la a c t u a l i d a d la c o n f u s i ó n es m u y f r e c u e n t e e n el h a b l a c o r r i e n t e o r a l y e s c r i t a " , Esbozo, 448). Mit den Registermarkierungen vermischen sich Annahmen über die gruppenspezifische Zuordnung bestimmter Sprachzeichen. Das gilt für den in der linken Spalte aufgeführten Terminus 'habla popular', der in dem diastratischen Sinn von ,(ungebildete) Volkssprache' steht, wie

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Grammatikographie

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sich aus Formulierungen vom Typ En el habla coloquial popular abundan los casos de este uso en frases que el habla culta evita (Esbozo, 529) ergibt, und gelegentlich in Opposition zu 'habla culta' tritt. Die Termini der mittleren Spalte bezeichnen Stilniveaus, die im grammatischen Diskurs in unterschiedlicher Form gereiht oder kontrastiert auftreten, z. B. en el habla coloquial como en textos literarios (Esbozo, 396), tanto en el plano mayoritario del habla usual como en el minoritario de la creación literaria (Esbozo, 400), es más propio de la lengua literaria que del habla coloquial (Esbozo, 456), Se trata de un vulgarismo que no cabe en la conversación culta ni en la lengua literaria (Esbozo, 473), En el habla coloquial y vulgar moderna es muy frecuente esta construcción (Esbozo, 530). Die Ausdrücke der rechten Spalte bezeichnen die sprachlichen Unterschiede, die sich aus den Realisierungsformen gesprochen' oder geschrieben' ergeben, wobei durch die typographische Anordnung die Affinität von 'lengua escrita' zu den höheren und von 'lengua hablada' zu den niedrigeren Stilniveaus 19 angedeutet werden soll. Angaben zu fachsprachlichen Registern sind im Vergleich zu den genannten Kennzeichnungen situativer Register der Gemeinsprache selten (cf. la prosa administrativa, periodística, publicitaria, forense y (. . .) la prosa técnica (Esbozo, 212)). Da in dem Esbozo - wie auch in den anderen Grammatiken - die 'lengua culta' oder sogar die 'lengua literaria' die Grundlage für die Zielnorm darstellen (cf. oben), dürfen die mit 'habla vulgar' und 'habla popular' bezeichneten Register als zum Non-Standard gehörend betrachtet werden. Zum Non-Standard darf am anderen Ende der Skala aber auch die durch stilistische Eigenwilligkeiten gekennzeichnete 'lengua poética' gerechnet werden. Fraglich bleibt die Zuordnung von 'habla coloquial' sowie der mit 'lengua hablada' bezeichneten Phänomene, obwohl der synonym gebrauchte Terminus 'norma hablada' im letzten Fall auf die Standardfähigkeit dieses Bereichs schließen läßt. 3.4. Dianormative und diafrequente Markierung Dianormative Aussagen bewerten den Sprachgebrauch, indem sie diesen auf der Skala ,korrekt' - ,inkorrekt', ,akzeptabel' - ,nicht akzeptabel', .empfehlenswert' - ,nicht empfehlenswert' situieren und damit explizit Standard und Non-Standard unterscheiden. Diafrequente Aussagen situieren den Sprachgebrauch auf einer Häufigkeitsskala, wobei in der Regel angenommen werden darf, falls keine andere Charakterisie19

Gelegentliche Unterscheidungen zwischen 'conversación culta' und 'conversación rápida' relativieren diese Zuordnung.

148

Hartmut Kleineidam / Wolfgang Schtör

rung erfolgt, daß die wenig frequente Form eine Non-Standard-Form ist oder z u m Non-Standard tendiert. Dianormative und diafrequente Markierungen sind in den untersuchten Grammatiken häufig belegt: (10) " ( . . . ) es i n c o r r e c t o decir: Yo soy de los que creo en la monarquía" (Seco, 237). (11)" D e b e e v i t a r s e el v u l g a r i s m o de decir más mayor, más menor, más mejor y más peor, que cometen algunas personas poco instruidas" (Esbozo, 418). (12)"En el habla vulgar se oye c o n a l g u n a f r e c u e n c i a Me se cae la capa, Te se ve ta intención; pero esta construcción es estimada en todas partes como s o l e c i s m o p l e b e y o " (Esbozo, 427). (13)"La voz pasiva refleja es en español m u c h o m á s f r e c u e n t e que la formada con el verbo ser, que, por su parte, es una construcción p r á c t i c a m e n t e r a r a " (Seco, 198). (\4)Zum adversativen mas: "Modernamente es p o c o u s a d o y sirve solamente para evitar la repetición de pero o tiene u n i n n e g a b l e r e g u s t o de a f e c t a c i ó n y a r c a í s m o " (Alcina Franch/Blecua, 1173). (\5)"Zur -ra-Form des subjuntivo im Konditionalsatz: De hecho, sin embargo, -ra se u s a c a d a vez m e n o s en la apódosis, especialmente en el lenguaje corriente, a pesar de haberse iniciado en ella su uso en las oraciones condicionales. En estilo literario su f r e c u e n c i a es m u c h o m e n o r que en la época clásica. Frases como Si fuera o fuese conveniente lo dijera se s i e n t e n h o y c o m o a f e c t a d a s ; lo m á s f r e c u e n t e es diría. En cambio en los clásicos se u s a b a c o n p r e f e r e n c i a a -je" (Gili Gaya, § 135, p. 179). Dianormative Markierungen sind zuweilen verbunden mit der Berufung auf grammatische Autoritäten, die dem Grammatiker zur Legitimation dienen oder von denen er sich ausdrücklich abgrenzt: ( 1 6 ) " C u e r v o ( . . . ) d e n u n c i ó como de cierto sabor galicista construcciones como Mis ojos se llenaron de lágrimas en vez de Los ojos se me llenaron de lágrimas" (Alcina Franch/Blecua, 868). (17)"La apódosis hubiese + participio (me hubiese marchado a París) no la a d m i t e la A c a d e m i a (Gramática, §433), tachándola de dialectal; pero en realidad su uso es corriente" (Seco, 246).

Standard

und Non-Standard

in der spanischen

Grammatikographie

149

4. Zwei Beispiele für die grammatische Beschreibung von Standard und Non-Standard: die Objektpronomen der 3. Person und die pronominalen Anredeformen

4.1. Die Objektpronomen le(s), la(s), lo(s) Der Gebrauch der spanischen Objektpronomen le(s), la(s), lo(s) ist durch eine komplexe Verschränkung von diachronischen, diatopischen und registerspezifischen Merkmalen gekennzeichnet. Zur Bewertung der Darstellung in den vorliegenden Grammatiken empfiehlt es sich, die für die grammatikographische Beschreibung wesentlichen sprachlichen Gesichtspunkte vorab systematisch zu erfassen 20 . Das soll im folgenden überblicksartig in Form einer Gegenüberstellung verschiedener pronominaler Systeme erfolgen. Diese Systeme sind nicht unbedingt im Sinne einer chronologischen Aufeinanderfolge zu verstehen, sondern eher als idealtypische Etappen einer Reorganisationsdynamik, welche darin besteht, ein ursprünglich mehr durch Kasusopposition geprägtes System in ein vorwiegend genusdifferenzierendes System zu überführen. 4.1.1. Das etymologische System

Sing.

Akkusativ m. Tllüm > lo f. ïllam > la n. •Hud > lo

Dativ TUT > le

Plur.

m. f.

Tills > les

ïllôs > los Illas > las

Dieses ursprüngliche System beruht auf der Struktur der lateinischen Pronomen; es ist gekennzeichnet durch die Kasusopposition von Dativ und Akkusativ und die Genusopposition im Akkusativ. Das etymologische System stellt heute die am weitesten verbreitete Norm in Hispanoamerika dar (cf. Kany 1970, 133-139); es ist auch in bestimmten Gebieten Spaniens sowie auf den Kanarischen Inseln üblich.

20

Zur Entwicklung des Systems der spanischen Objektpronomen und zur Distribution von leísmo, laísmo, loísmo cf. Lapesa 1968 sowie Quilis et al. (1985, 23-39), wo auch auf einschlägige Fachliteratur verwiesen wird.

150

Hartmut Kleineidam / Wolfgang

Schlör

4.1.2. Das klassische leísmo-System Das /mwo-System unterscheidet sich von dem etymologischen System dadurch, daß die Formen des indirekten Objekts zur Kennzeichnung von Personen auf das direkte Objekt Maskulinum übertragen werden (leísmo de persona). Im engeren Sinn gilt diese Übertragung nur für den Singular, im weiteren Sinn auch für den Plural. Vergleiche: a) Leísmo im engeren Sinn DirO Sing.

Plur.

b) Leísmo im weiteren Sinn

IndirO

m. Person | Sache le lo f. n.

la lo

m. f.

los las

les les

DirO Sing.

IndirO

le

m. Person | Sache le lo

le

le le

f. n.

le le

Plur.

la lo

m. Person | Sache les los

les

f.

les

las

Das System beinhaltet eine Schwächung der Kasusopposition und eine Stärkung der Genusopposition. Das leísmo-System des Typs (a) stellt die von der offiziell noch gültigen Akademiegrammatik (1931) wenn nicht empfohlene, so doch geduldete Norm dar 21 . Neuere statistische Untersuchungen zur gesprochenen Sprache gebildeter Sprecher in Madrid (Quilis et al. 1985, 85, 96) zeigen, daß kein signifikanter Unterschied zwischen der Häufigkeit des leísmo im engeren Sinn und dem leísmo im weiteren Sinn besteht; der prozentuale Anteil von le und les als direktes Objekt für Personen ist mit 17,79% bzw. 17,91% - jeweils gemessen an dem Gesamtvorkommen von le bzw. les - ungefähr gleich. Neben dem leísmo des Typs (a) darf heute somit auch der leísmo des Typs (b) als normgerecht gelten.

21

Cf. RAE 1931, § 246c: "La Academia en este particular ha contemporizado en parte con el uso, autorizando la forma le, propia de dativo, para el acusativo o complemento directo, con igual valor que Io, aunque mejor sería que los escritores prestaran más atención a la etimología que al uso, y emplearan la forma le sólo para el dativo. Así, tendríamos le y les como dativo de singular y de plural sin distinción de género, y ¡a y lo, las y los como acusativos de singular y de plural con distinción de género (. . .)".

Standard und Non-Standard

4.1.3. Das

in der spanischen

Grammatikographie

151

laísmo/leísmo-System

Dieses System besteht in einer konsequenten - idealtypischen - Vereinheitlichung der Formen für die obliquen Kasus, so daß ein Einkasussystem mit Genusdifferenzierung entsteht: DirO

IndirO

Sing.

m. f. n.

le la lo

le la

Plur.

m. f.

les las

les las

Unter laísmo wird dabei die Übertragung der Formen des direkten Objekts Fem. la, las auf das indirekte Objekt verstanden. Mit leísmo ist die Übertragung der Formen le, les sowohl auf das direkte Personenobjekt (leísmo de persona) als auch auf das direkte Sachobjekt (leísmo de cosa) gemeint 22 . Der laísmo gilt als eine in der spontanen gesprochenen Sprache übliche Form (cf. die statistischen Angaben bei Quilis et al. 1985,64, 70), ist aber von der zur Zeit gültigen Akademiegrammatik nicht als Standard anerkannt, ebensowenig wie der leísmo de cosa, der jedoch zumindest in der Sprache der Gebildeten weniger verbreitet ist23. Neben 'laísmo' und 'leísmo' ist der als Substandard einzustufende loísmo zu erwähnen, der in dem Ersatz des indirekten Objekts Sing. Mask. le durch die Form lo besteht 24 . Die genannten Erscheinungen des 'leísmo', 'laísmo' und 'loísmo' können auf der Grundlage des aktuellen Sprachgebrauchs und seiner Einschätzung durch den gebildeten Sprecher zu dem Begriff des Standards - aus iberohispanischer Sicht - zusammenfassend in folgender Weise in Beziehung gesetzt werden: 22

Unter dem Begriff 'leísmo' werden außer dem genannten 'leísmo de persona' und dem 'leísmo de cosa' weitere pronominale Erscheinungen subsumiert, die hier nicht berücksichtigt werden: a) die Übertragung von !e auf das direkte Objekt Neutrum, b) die Übertragung von le auf das direkte Objekt Femininum. 23 In der Untersuchung von Quilis et al. (1985, 85, 96) stellt der 'leísmo de cosa' 4,72% im Sing. Mask. bzw. 1,53% im Plur. Mask, aller Vorkommen der Pronominalformen le bzw. les dar. 24 Sätze vom Typ Lo dieron una bofetada gelten als populär- oder vulgärsprachlich. Quilis et al. (1985,49) bemerken: "En realidad ya el uso culto había condenado el loísmo antes de que la Academia lo hiciera expresamente en 1874".

152 etymologisches System leísmo Typ (a) leísmo Typ (b) laísmo/leísmo loísmo

Hartmut

Kìeineidam

/ Wolfgang

Schlör

SupraStandard bzw. komplementärer Standard Standard (vorbehaltlos akzeptiert) Standard (mit Vorbehalten akzeptiert) Standard (nur gesprochen akzeptiert) Substandard (vulgär)

4.1.4. Darstellung in den G r a m m a t i k e n Angesichts der Vielfalt und Variation des Sprachgebrauchs sind in den untersuchten G r a m m a t i k e n häufige Verweise auf die offizielle N o r m nicht verwunderlich. Seco (45) führt in einer Übersichtstafel zu den Pronomen zunächst ohne jeden K o m m e n t a r nur das etymologische System auf, relativiert dann aber an anderer Stelle der G r a m m a t i k (171-172) diese Position, indem er den 'leísmo de persona' im Sing. Mask, als korrekte Form des uso culto in den Standard einbezieht und gegen den 'leísmo de persona' im Plur. Mask., den 'leísmo de cosa' sowie den 'laísmo' abgrenzt, die alle als dem uso familiar y vulgar zugehörig gekennzeichnet werden. Der 'loísmo' wird als francamente vulgar und damit als Non-Standard eingestuft. Alcina Franch/Blecua (606) berufen sich ausdrücklich auf die von früheren Akademiegrammatiken gesetzten N o r m e n : La norma académica condenó el laísmo en 1796, el loísmo en 1874 y ante el leísmo acepta con reservas el de persona y censura como vulgarismo el de cosa.

Ais Standard gelten somit das etymologische System und das klassische leísmo-System vom Typ (a) 25 . 'Leísmo de cosa' und 'laísmo' werden in einer historisch orientierten Darstellung zwar deskriptiv als Assimilationsphänomene analysiert, aber im R a h m e n einer literatursprachlich ausgerichteten Standardkonzeption als "transgresiones" (607) des Systems bewertet. Auch Gilí Gaya setzt sich ausführlich mit der Akademienorm auseinander. Er erkennt den von der Akademie etablierten Standard als N o r m des literarischen Spanisch an, nicht allerdings ohne auf zahlreiche Überschreitungen dieser restriktiven N o r m auch in der Literatursprache hinzuweisen 2 6 . U m nicht mit den Normaussagen der Akademie 25

26

Cf. Alcina Franch/Blecua, 606: "El caso de le, etimològicamente dativo que pasa a cubrir la función de lo acusativo de persona en género masculino, ha llegado a ser aceptada (sic) por el uso culto casi de una manera general". Cf. Gili Gaya (§ 175, p. 233): "En nuestra opinion, esta tolerancia académica representa bien el promedio del uso literario español de nuestro tiempo, y puede aceptarse como norma, lo cual no quiere decir que no abunden en la

Standard

und Non-Standard

in der spanischen

Grammatikographie

153

in Konflikt zu geraten, zieht sich Gili Gaya dann aber auf eine rein deskriptiv-linguistische Position zurück, die es ihm ermöglicht, differenziertere Aussagen und Bewertungen zu regionalen Verteilungen in Spanien zu treffen. Dabei wird der 'laísmo' als sozial unmarkiertes, in der gesprochenen Sprache des Irradiationszentrums Madrid verbreitetes Phänomen charakterisiert und somit als Standard zumindest der gesprochenen Sprache akzeptiert: "Este (sc. el laísmo) es el uso madrileño espontáneo en todas las clases sociales, a no ser entre personas cuya instrucción gramatical, o la procedencia de otras regiones, lo corrija más o menos. La influencia de la capital irradia su laísmo hacia otras provincias del Centro y del Norte, llegando a vencer a menudo la resistencia del lenguaje literario" (Gili Gaya, § 175, p. 234-235).

Der 'loísmo' hingegen wird im gleichen Textzusammenhang, wie auch in den anderen Grammatiken, als vulgärsprachliches Phänomen und somit als Non-Standard eingestuft. In dem Esbozo findet sich eine instruktive Übersicht über die Formen der Personalpronomen, die in dem uns interessierenden Ausschnitt folgende Form aufweist: C a s o acusativo

C a s o dativo

Sing.

m. f. n.

lo (le) la lo

le le (la) le

Plur.

m. f.

los (les) las

les les (las)

Neben den etymologischen Formen werden zunächst in Klammern ohne normative Wertung die nicht-etymologischen Formen aufgeführt ; bemerkenswert ist, daß der Esbozo im Unterschied zu früheren Akademie-Grammatiken auch den 'leísmo' im Plur. Mask, (dabei wird in der Tabelle nicht zwischen 'leísmo de persona' und 'leísmo de cosa' unterschieden) sowie den 'laísmo' im Sing, und im Plur. als legitime Varianten erwähnt. Es folgen Angaben zur topischen Verteilung von etymologischen und nicht-etymologischen Formen (204-205). Die objektive Präsentation des tatsächlichen Sprachgebrauchs gibt indes Anlaß zu der negativen Bewertung eines durch Unvereinbarkeiten gekennzeichneten sprachlichen Zustandes in León und Kastilien. Diese Bewertung mündet in eine sprachpolitische Empfehlung, welche im Sinne einer überregionalen Vereinheitlichung das etymologische System als vorbildlichen Standard propagiert: misma lengua literaria los ejemplos de leísmo y laísmo que rebasan con mucho este criterio restrictivo (. . .)".

154

Hartmut

Kleineidam

/ Wolfgang

Schlör

"Conviven, pues, en esos territorios (sc. León y Castilla) dos sistemas inconciliables y ninguna acción de política lingüística parece más conveniente, en beneficio del orden y la claridad, que la de dar paso, en lo posible, a las formas etimológicas" (Esbozo, 205).

Mit dieser Schlußfolgerung stimmt überein, daß an anderer Stelle der Grammatik die offiziell immer noch gültige restriktive Akademieregelung als Empfehlung wiederholt wird 27 , allerdings nur für den uso culto y literario. 4.2. Pronominale Anredeformen: tú/vos -

vosotros/ustedes

Der hier zu behandelnde grammatische Bereich ist, wie wohl kaum ein zweiter, in seiner Dynamik vor allem durch den pragmatischen Aspekt der Sprache bestimmt. Die vielgestaltig vorstellbaren sozialen Beziehungen zwischen sprachhandelnden Personen machen prinzipiell ebenso vielfältige Möglichkeiten der Anrede erforderlich. Dabei genügt zunächst das Vorhandensein eines nach Singular (eine angeredete Person) und Plural (mehrere angeredete Personen) unterschiedenen Pronomens der zweiten Person, das, je nach Bedarf, mit eher Vertraulichkeit oder eher Distanz betonenden weiteren Nominalformen (Namen des Angesprochenen, Substantiven, qualifizierenden Adjektiven) kombiniert werden kann. 4.2.1. Diachronie der pronominalen Anredeformen Den ersten Schritt hin zur pronominalen Diversifizierung der Anrede tut, noch vor der weiteren Entwicklung in den romanischen Nachfolgesprachen, das Latein selbst in seiner spätantiken Phase. An die Seite des ursprünglich universalen singularischen TU tritt nun VOS, bisher lediglich Pronomen der zweiten Person Plural, mit einer weiteren, ebenfalls auf einen Angeredeten bezogenen Funktion. Damit entsteht eine neue grammatisch-pragmatische Opposition ,informell' vs. .formell', die sich im Verlauf der Sprachentwicklung verfestigt und, im Fall des Spanisch-Kastilischen, zu weiteren Neuerungen im Pronominalbereich führt, so z. B. durch das Entstehen von neuen kombinierten bzw. amalgamierten Formen wie vosotros < vos + otros; usted < vuestra merced; usía < vuestra señoría; vuecencia < vuestra excelencia. 27

Cf. RAE 1973, 424: "La Academia Española, teniendo en cuenta el origen etimológico de estas formas y la práctica más autorizada entre los escritores modernos, recomienda para el uso culto y literario la siguiente norma general: lo, para el acusativo masculino; la, acusativo femenino; le, dativo de ambos géneros, y además como acusativo masculino de persona, pero no de cosa; en plural, los para el acusativo masculino; las, para el acusativo femenino; les, para el dativo de ambos géneros".

Standard

und Non-Standard

in der spanischen

155

Grammatikographie

Das folgende Schema gibt einen Überblick über die anzusetzenden (Ideal-)Etappen der Entwicklung des Systems der pronominalen Anredeformen im lateinisch-iberokastilischen Standard, wobei in der untersten Zeile zusätzlich die amerikanisch-spanische Situation als kontrastierender Standard berücksichtigt ist. Singular informell | formell klass.-lateinisch

informell

TU

Plural | formell VOS

spätlateinisch

TU

VOS

VOS

altspanisch



vos

vos vosotros

klassisch

I

vos usted usía vuecencia



II modern amerikanisch



vos

usted



usted

tú/vos

usted

vosotros

ustedes

vosotros

ustedes

vosotros

ustedes ustedes

Das Schema weist f ü r die ,klassisch'-kastilische Epoche (ca. 15. bis 17. Jahrhundert 2 8 ) die größte Ausweitung im Formenbestand aus. Die vier zunächst noch (Phase I) ohne stilistische Differenzierung miteinander konkurrierenden Formen für die formelle Anrede Singular und die zwei f ü r die formelle Anrede Plural erfahren in der weiteren Sprachentwicklung (Phase II) eine Neubewertung, die zu folgender heute gültiger Verteilung f ü h r t : vos, usía, vuecencia dienen zur Anrede hochgestellter Persönlichkeiten, wobei man vos das Merkmal m o n a r chisch' (Gebrauch gegenüber König oder Gott), usía etwa ,hierarchisch-zivil' (Staatsmann, Richter) und vuecencia ,hierarchisch-militärisch' (Generäle) zusprechen könnte 2 9 . Diese drei Anredepronomen gehören dem Suprastandard an. Die Anredeformen tú/usted, vosotros/ustedes repräsentieren den heutigen peninsularen Standard. Als Substandard schließlich ist der Fall einer regionalen Entwicklung innerhalb des Ibero-Spanischen einzustufen, nämlich die Situation in

28

29

Cf. Lapesa 1980, 392, 397, 5 7 7 - 7 8 ; Urrutia C á r d e n a s / Á l v a r e z Á l v a r e z 1983, 152-153. Vos findet darüber hinaus e i n e weitere V e r w e n d u n g : in historisierenden literarischen K o n t e x t e n , wobei es, j e nach der ( R o m a n - , Theater-)Szenerie,,alts p a n i s c h / k l a s s i s c h Γ-formell oder aber .klassisch ΙΓ-distanziert-vertraulich g e m e i n t sein kann.

156

Hartmut Kleineidam / Wolfgang Schiör

Westandalusien, wo, unter Aufhebung der Opposition .informell' /,formell', ustedes für die pluralische Anrede verallgemeinert ist. Nachstehendes Schema bildet die heutige Situation im peninsularen Spanisch ab: Sinj ular informell formell SupraStandard

Plu ral informell

formell

vos usía vuecencia

Standard



usted

Substandard



usted

vosotros

ustedes ustedes

Im SupraStandard fehlen für die formelle Anrede Plural die Entsprechungen zu den singularischen vos, usía und vuecencia. Hier muß ggf. auf nicht pronominale Wendungen wie sus majestades, vuestras excelencias, etc. ausgewichen werden. In bezug auf den heutigen amerikanischen Sprachgebrauch gilt es, bei der Interpretation der Übersicht zu beachten, daß der mit dem modernen ibero-kastilischen konkurrierende amerikanische Standard entwicklungsgeschichtlich auf dem in die Neue Welt verpflanzten klassischen System basiert und während der gesamten Kolonialzeit von dem ibero-kastilischen System beeinflußt wurde. 4.2.2. Konkurrierende Standards im amerikanischen Spanisch Die hier gewählte Überschrift kann in doppeltem Sinne verstanden werden. Zum einen konkurriert das, was hinsichlich der pronominalen Anredeformen ein eigener, gleichberechtigter hispanoamerikanischer Standard sein könnte, mit dem ibero-hispanischen Standard. Exponent dieser Eigenständigkeit ist die alle spanischsprechenden Länder Lateinamerikas umfassende Verallgemeinerung von ustedes für die pluralische Anrede, während vosotros nach Paufler (1977, 82) nur noch „vereinzelt in der Literatursprache, in der Rechtssprache und in der bewußten Imitation des kastilischen Spanisch" verwendet wird. Andererseits stehen, hinsichtlich der informellen Anrede Singular, verschiedene inneramerikanische Standards nebeneinander. Dabei dreht sich die Problematik hauptsächlich um die Verwendung von tú und vos. Zusammen mit den zugehörigen obliquen Pronominalformen, den jeweils verwendeten Possessiva bzw. Possessivsyntagmen sowie den teilweise speziellen, von vos abhängigen Verbformen spricht man in diesem Zusammenhang vom Phänomen des voseo, der bei verschiede-

Standard und Non-Standard

in der spanischen

157

Grammatikographie

nen Autoren detailliert beschrieben ist (so ζ. B. Paufler 1977, Lapesa 1980). Wir beschränken uns im folgenden, wie schon bisher, auf die Darstellung der Situation bei den Subjektspronomina. Drei Hauptbereiche der Verbreitung von tú und vos lassen sich unterscheiden: 1. der tuteo-Bereich: tú ist das einzige Pronomen für die informelle Anrede Singular; 2. der vojeo-Bereich: vos ist die einzige gängige Pronominalform für die informelle singularische Anrede; 3. der tuteo/voseo-Bereich: tú und vos stehen untereinander in Konkurrenz für die informelle Anrede ,du'. Der Bereich des tuteo entspricht dem größten Teil Mexikos, den Antillen, Teilen von Venezuela, Kolumbien und Ekuador, sowie dem größten Teil Perus und Boliviens. Zum Bereich des vorherrschenden voseo gehören im wesentlichen Argentinien, Uruguay und Paraguay, aber auch der größte Teil Mittelamerikas, während in den übrigen Gebieten (Chile, teilweise Kolumbien und Ekuador) tuteo und voseo nebeneinander bestehen. Dabei scheint in den Mischgebieten die Tendenz des sozialen Prestiges eher das tú zu fördern, während etwa in Argentinien, einem „reinen" vojeo-Gebiet, „das selten angewandte tú nur einen konservativen, puristischen, literarischen Charakter" hat (Paufler 1977, 85). Die Verteilung läßt sich schematisch wie folgt darstellen 30 :

Singular informell formell SupraStandard Bereich 1 Standard

Plural informell

formell

vosotros tú

usted

ustedes

Substandard SupraStandard Bereich 2 Standard



vosotros

vos

usted



usted

ustedes

Substandard vosotros

SupraStandard Bereich 3 Standard Substandard

30

ustedes

vos

Die schematische Darstellung des tuteo/voseo abstrahiert zum einen von der möglichen Sondersituation einiger Übergangszonen, in denen das .archaische* vos gegenüber dem sprachgeschichtlich wieder voll durchgesetzten tú eine besondere regionale Non-Standard-Rolle spielen mag, und zum anderen von solchen Mischgebieten, in denen die soziale Wertigkeit (cf. Paufler 1977, 84ff.) von tuteo und voseo nicht bestimmbar ist. Nicht berücksichtigt

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Hartmut

Kleineidam

/ Wolfgang

Schlör

Aus unseren Ausführungen geht hervor, daß f ü r die hier als ,Suprastandard' klassifizierten Pronominalformen, insbesondere vosotros, im gesamten lateinamerikanischen Spanisch, aber auch für tú im voseo-Bereich 2 mit einem eher seltenen Vorkommen zu rechnen ist, während das der Umgangssprache breiter Bevölkerungsschichten zugehörige vos des Mischbereichs 3, nach der Häufigkeit des Gebrauchs, dort wohl an erster Stelle zu nennen wäre. In diesem Z u s a m m e n h a n g erhebt sich - gerade auch im Sinne einer möglichst einheitlichen grammatischen Beschreibung - die Frage, ob sich die diversen Standards (des Ibero-Kastilischen und des amerikanischen Spanisch der drei Bereiche) in einem übergreifenden Superstandard z u s a m m e n f ü h r e n lassen. Das erscheint f ü r den Anrede-Singular möglich, zumal teilweise selbst im voseo-Bereich, zusätzlich aufgrund der auch räumlich und historisch nahe liegenden /«-Standards, tú durch die sprachpflegerische Institution Schule propagiert wird (cf. Paufler 1977, 85-86). Jedenfalls wird das diatopisch markierte tú dank der historisch-politischen gemeinhispanoamerikanischen Solidarität nicht negativ konnotiert. Für den Plural liegen die Dinge anders, da hier, im Kontrast zum Ibero-Kastilischen, die Standardsituation f ü r alle hispanoamerikanischen Länder gleich ist. Dies betrifft hauptsächlich das Fehlen der Opposition ,informell' / .formell'. Die SuprastandardOpposition vosotros/ustedes m u ß heute als nicht mehr standardfähig gelten, zumal sie auch mit historischen Konnotationen wie .kolonial' (aus der Sicht der Kolonisierten) befrachtet ist. Andererseits ist eine Akzeptanz des - sprachgeschichtlich progressiven - amerikanischen w.stofes'-Standards für Spanien kaum vorstellbar, da ihm hier die Konnotationen ,kolonial' (aus entgegengesetzter Perspektive) bzw. .regional' (cf. die westandalusische Entwicklung) entgegenstehen. Der gesuchte Superstandard stellt sich somit als in zwei komplementäre Standards aufgespalten dar: Sinj ular informell formell Superstandard

ibero-kast. amerikanisch



usted

Pli ral informell

formell

vosotros

ustedes ustedes

sind hier auch die Suprastandard-Formen usía, vuecencia und vos des iberohispanischen Systems (cf. oben), da sie für Hispanoamerika praktisch bedeutungslos sein dürften.

Standard und Non-Standard in der spanischen

Grammatikographie

159

4.2.3. Darstellung in den Grammatiken Entsprechend den unterschiedlichen Zielsetzungen der hier zugrundegelegten Grammatik-Werke präsentiert sich der Bereich der pronominalen Anredeformen unterschiedlich, wobei wiederum Seco als am stärksten und traditionellsten dem Ideal eines einheitlichen Standards verhaftet erscheint; denn bei ihm beschränkt sich (46) die Berücksichtigung von vos auf das "vos ceremonioso" (unser SupraStandard- vos unter 4.2.1.) und eine Anmerkung, die verdeutlicht, daß das "vos de algunos países hispanoamericanos, de carácter dialectal" nicht behandelt werden soll. Gili Gaya widmet den Besonderheiten der Pronominalformen der ersten und zweiten Person und ihren Konkordanzproblemen zwei Seiten (§ 173, p. 229-231), auf denen, allerdings recht summarisch, diachrone und diatopische Aspekte von vosotros/ustedes und des voseo behandelt werden. Ebenso werden hier an einem Satzbeispiel - vos te comeréis (o comerés o comerás) este pastel - ohne weiteren Kommentar die abweichenden Verbformen eingeführt und die pronominale Formenmischung vos te (sprachhistorische Vermengung von voseo und tuteo im selben Syntagma) als "chocante" gekennzeichnet. An anderer Stelle, bei den Possessiva, geht Gili Gaya noch einmal kurz auf die amerikanische vosotros/ustedes-¥Tob\ema.ü\L ein. Trotz der relativen Kürze der Abhandlung kann man den Programmsatz des Autors in der Einleitung "Nuestro libro se propone describir lo más cuidadosamente posible el estado de la lengua actual y ordenarlo con fines didácticos" (12) als wenigstens in den Grundzügen erfüllt sehen. Am umfangreichsten befaßt sich mit unserem Gegenstandsbereich der Esbozo, obwohl er in dem Kapitel 2.5. (Del pronombre personal y del posesivo) nur an einer Stelle (211) auf die lateinamerikanische Ersetzung von vosotros durch ustedes eingeht und im Bereich der Verbalmorphologie jeglicher Hinweis auf besondere Endungen im Zusammenhang mit dem voseo fehlt. Dafür ist aber gegenüber früheren Fassungen der Akademie-Grammatik im Esbozo erstmals ein eigenes, zehn Zeiten langes Kapitel zu den Anredeformen (Kap. 2.14. Del tratamiento) formuliert. Hier findet sich auch sowohl das peninsulare vos in seinen diachronen wie synchron-aktuellen Aspekten dargestellt als auch, auf gut eineinhalb Seiten, der voseo unter Einschluß des generalisierten ustedes und der zugehörigen Possessiv-Ausdrücke sowie von Beispielen für abweichende Verbformen. Allerdings behandelt auch der Esbozo, trotz ernsthafter Bemühung um lateinamerikanische Besonderheiten, diesen abweichenden Standard nicht als wirklich gleichberechtigt. Zwar wird dieser komplementäre Standard im vorlie-

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Hartmut Kleineidam

/ Wolfgang

Settlor

genden Fall immerhin in einem eigenen Unterkapitel abgehandelt und nicht mehr in die eine oder andere Anmerkung abgedrängt und dann ggf. mit einer abwertenden Kennzeichnung versehen, doch bleiben die Aussagen dieses Kapitels ohne organische Verbindung zu den anderen relevanten Grammatik-Kapiteln. Die Grammatik von Alcina Franch/BIecua wendet sich in einem kurzen Abschnitt (4.1.5.4. "Vos" Pronombre de tratamiento) der Diachronie von vos im peninsularen Spanisch zu und vermerkt, es sei, abgesehen von literarischer Verwendung, außer Gebrauch. Erstaunlicherweise wird dabei das Suprastandard- vos, als Anrede für hochgestellte Persönlichkeiten, mit keinem Wort erwähnt. Im darauffolgenden Abschnitt (4.1.5.5.) geht es um den amerikanischen voseo, dem hier, die umfangreichen Literaturhinweise nicht gerechnet, etwa eine Textseite eingeräumt ist. Der einschlägige Informationsgehalt ist dabei geringer als bei Gili Gaya, zumal weder hier noch an anderer Stelle auf den Komplex vosotros/ustedes, auf Besonderheiten der voseo- bzw. iwfóí/es-Possessiva oder auf die speziellen voreo-Verbformen eingegangen wird. Allerdings haben sich die Autoren im Prólogo zu ihrem Werk vorwiegend die Beschreibung des ibero-spanischen Standards zum Ziel gesetzt.

5. Standard und Non-Standard im interlingualen grammatikographischen Vergleich Die bisherige Darstellung von Standard und Non-Standard wollen wir im folgenden ergänzen durch einen Blick über die Grenzen der spanischen Grammatikographie hinaus, um dadurch eine bessere Grundlage für die Einschätzung der spanischen Grammatiken im Hinblick auf den hier angesprochenen Fragenkomplex zu gewinnen. Wir greifen dabei folgende maßgebenden neueren Werke als Repräsentanten der einzelsprachigen grammatikographischen Praxis heraus: Duden-Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, Mannheim/Wien/Zürich 4 1984; M. Grevisse, Le bon usage. Grammaire française, Paris/Gembloux 12 1986; R. Quirk et al., A Comprehensive Grammar of the English Language, London/New York 1985. 5.1. Duden-Grammatik Das Vorwort des Herausgebers zur 4. Auflage der Duden-Grammatik (1984) nennt als Gegenstand der Darstellung das „System der deutschen Standardsprache", wobei sofort relativiert wird, es handle sich

Standard

und Non-Standard

in der spanischen

Grammatikographie

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allerdings um ein „nicht einheitlich aufgebaut(es)", sondern „nur ( . . . ) systemähnliches Gebilde mit geschichtlichen, landschaftlichen und sozialen Varianten". Diese Erkenntnis mündet in den Programmsatz: „Dem Umstand, daß das sprachliche System nicht homogen und stabil ist, versucht die Duden-Grammatik durch eine differenzierte, der unterschiedlichen Strukturiertheit entsprechende Darstellung und eine offene Norm gerecht zu werden" (8).

Die weiteren Ausführungen betreffen zunächst die hier genannte doppelte Zielsetzung: 1. Beschreibung des Sprachgebrauchs in seiner Vielfalt; 2. Wahrnehmung normativer und präskriptiver Aufgaben. Dem schließt sich dann aber noch ein weiterer Punkt an, der tendenziell auch den Aspekt des Noch-nicht-Standards betrifft: 3. Förderung eines bewußten und schöpferischen Sprachverhaltens (9). Eine Durchsicht des Werkes ergibt, daß an vielen Stellen die programmatischen Aussagen durch Angaben zu diachronischer, diatopischer oder registerspezifischer Markierung eingelöst werden 31 . In einer (allerdings kritischen) Analyse des Regelbegriffs in der DudenGrammatik stellt Switalla (1987, 44-45) eine Vielfalt von Gebrauchshinweisen und -empfehlungen fest; unter Beibehaltung der Diktion des Duden unterscheidet er u. a. Hinweise auf standardsprachlich Übliches, standardsprachlich Unrichtiges, Umgangssprachliches, mundartliche Ausdrucksweise, altertümelnde Redeweise, in mündlicher Rede Wahrscheinliches, in geschriebenem Deutsch Unschickliches, in der Literatur (stilistisch) Wahrscheinliches, im vertraulich-familiären Be31

Einige Beispiele mögen das verdeutlichen: Zur Deklination der Eigennamen: In landschaftlicher Umgangssprache, insbesondere im Norddeutschen, werden manche Gattungsbezeichnungen aus dem Bereich der Familie (besonders Vater und Mutter) wie Eigennamen behandelt. Sie werden dann ohne Artikel gebraucht; der Genitiv wird auf -s, der Dativ und Akkusativ auf -n gebildet: „Vaters/Mutters Ermahnungen; Tantes Kleid. . . . Leibbindenindustrie und Blasenwärmer für Vätern (Benn). . . . im Frühling, wenn ich bei Muttern auf Urlaub bin und Kuchen esse (Frisch)" (253). Zur,gestreckten' Plusquamperfektform: Diese Form steht aber gelegentlich auch überflüssig und inkorrekt für die einfache Vorvergangenheit: „Wir hatten bereits gegessen gehabt, als er eintrat (richtig:) Wir hatten bereits gegessen, als . . . ) . . . . tauschte die Flasche gegen den Hof und das Land ein, das er bisher nur gepachtet gehabt hatte (richtig: . . . bisher nur gepachtet hatte)" (123). Zum relativen Anschluß: „Der Bezug von wo auf Substantive, die nicht Ort oder Zeit bezeichnen, ist stark umgangssprachlich oder mundartlich. Also nicht: Das Geld, wo auf der Bank liegt" (677).

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reich (sozial) Gebräuchliches, stilistisch Unschönes, stilistisch wie grammatisch zu Vermeidendes, grammatisch Inkorrektes. Dabei erscheint aber bei allen Einschränkungen im Hinblick auf die empirische Absicherung der Daten und die Vollständigkeit der aufgeführten Phänomene 32 bemerkenswert, daß die Aussagen zu Variation und NonStandard in deskriptiv-konstatierender oder in präskriptiv-restringierender Form vollberechtigt in die grammatische Beschreibung integriert sind. In besonderen Fällen kann sogar der Non-Standard in das Zentrum der Beschreibung rücken, so daß die im weiteren aufgeführten Standardvarianten gewissermaßen als „Ersatz" präsentiert werden 33 . 5.2. M. Grevisse: Le bon usage Die neueste von A. Goosse bearbeitete Auflage des Bon usage zeichnet sich gegenüber ihren Vorgängern durch eine grundlegende Neuorientierung im Hinblick auf das Problem der Sprachnorm aus. Die neue Grammatik modifiziert das in früheren Auflagen des Grevisse vertretene Konzept des bon usage in mehrfacher Hinsicht: 1. Das Französische vom 17.-20. Jhdt. wird nicht mehr als homogener Block aufgefaßt. Grundlage für die Beschreibung des Gegenwartsfranzösischen bilden nunmehr ausschließlich die Autoren des 19. und 20. Jhdts. (Grevisse 1986, § 10). Zitate von Werken, die vor 1800 liegen, bleiben als Beleg für eine heute literarische Sprache oder für einen veralteten Sprachstand auf die in der Grammatik mit Hist, gekennzeichneten historischen Überblicke beschränkt. Sie dokumentieren zwar einen für die Kenntnis der frz. Sprachtradition wissenswerten Nicht-mehr-Standard, werden aber damit nun prinzipiell so behandelt wie schon in den früheren Auflagen der Grammatik die Belege aus Werken vor dem 17. Jhdt.

32

Cf. ζ. Β. das Unterlassen eines Hinweises auf Non-Standard-Varianten wie die umgangssprachliche Satzkonstruktion nach weil (weil er hat mir ja nichts gesagt). 33 Ein Beispiel dafür liefert die Beschreibung der in der Standardsprache unflektierten Farbadjektive: „In der Umgangssprache wird aber oft flektiert, wobei manchmal ein η zwischen die Vokale geschoben wird: ein rosaes/rosanes Band, die lilanen Hüte, ein beiges Kleid. In der Standardsprache hilft man sich durch Zusammensetzung mit -färben, -farbig u. ä. oder durch ein Präpositionalgefüge, wenn man die unflektierten Formen vermeiden will: in rosafarbigem Kleid, eine cremefarbene Tasche, ein olivgrüner Rock, ein Kleid in Rosa" (268).

Standard und Non-Standard

in der spanischen

Grammatikographie

163

2. Die synchrone Darstellung des bon usage des heutigen Französisch bedeutet nicht einfach Reduktion des Beschreibungszeitraumes auf eine kürzere, gegenwartsnähere Epoche; gleichzeitig wurde auch die Textauswahl für den zugrunde gelegten Zeitabschnitt neu überdacht. Dabei wird insgesamt der nicht literarischen geschriebenen Sprache ein größeres Gewicht beigemessen und durch den Einbezug von journalistischen Texten (z. B. Le Monde) und Werken von Historikern, Literaturkritikern, Politikern, zahlreichen Linguisten - diese in ihrer Eigenschaft als Textproduzenten und nicht als Fachwissenschaftler -, Geographen, Juristen das Spektrum der Textsorten verbreitert. 3. Der beschriebene chronologische Ausschnitt des Französischen wird nach diatopischen, diastratischen und diaphasischen Merkmalen differenziert. Grevisse 1986 geht im Unterschied zu den vorhergehenden Auflagen explizit auf die Varietäten des Französischen ein (cf. Teil I, Préliminaires: §§ 11-14) und unterscheidet in diesem Zusammenhang insbesondere zwischen langue parlée und langue écrite (mit der Differenzierung langue écrite courante, langue littéraire, langue poétique) sowie zwischen den soziokulturell markierten niveaux de langue (niveau intellectuel, niveau moyen, niveau populaire) und den situationsspezifischen registres (registre familier und très familier bzw. registre soigné/soutenu und registre très soutenu/recherché mit ihren jeweiligen Affinitäten zu parlé bzw. écrit). Die Beschreibung der sprachlichen Daten in der Grammatik zeigt, daß diese theoretischen Abgrenzungen nicht nur leeres Programm bleiben. Ein illustratives Beispiel liefert das neu in die Grammatik aufgenommene Kapitel La phrase interrogative (§§ 381-391). Die Darstellung dieses Komplexes in Grevisse 1986 trägt der Polymorphie der Fragekonstruktionen im Frz. in überzeugender Weise Rechnung und charakterisiert die verschiedenen Formen in ihrer varietätenspezifischen Ausprägung 34 . Auch bei dem bewußten Einbezug einer differenzierten Beschreibung sprachlicher Varietäten in die Grammatik - formal findet diese Neuerung ihren Ausdruck auch in der Verwendung des Sym34

Cf. ζ. Β. Inversionsfrage mit pronominalem Subjekt: Où vas-tu? Quand parstu? (§ 386 [langue soignée]), Aimé-je? Ouvré-je? (§ 386 [très littéraire]); Est-ce que-Frage: Est-ce que tu connais la nouvelle? (§ 389 [langue parlée courante]); Intonationsfrage: Tu viens? On va au cinéma? (§ 391 [formes ordinaires de l'interrogation dans l'oral quotidien]); Frage mit vorangestelltem Fragewort und normaler Wortstellung: Où t'as vu ça, toi? (§ 391 [usage très familier, généralement considéré comme incorrect]); Fragekonstruktionen mit verschiedenen Introducteurs wie Quoi c'est donc qu 'on me veut? (Duhamel), Où c'est que vous êtes malades? (Céline) (§ 390 [franchement populaires, tenus pour incorrects par tous les grammairiens]).

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Hartmut Kleineidam / Wolfgang Schlör

bols ° zur Kennzeichnung von regional oder funktionalstilistisch markierten Konstruktionen - bleibt der Bezugspunkt für die propagierte j/fl«í/arí/sprachliche Norm weiterhin die im wesentlichen geschriebene Sprache des niveau soutenu, welche sowohl von dem Substandard spontaner und weniger kontrollierter Rede als auch von dem Suprastandard literarisch und poetisch markierter Texte abgehoben wird (cf. Grevisse 1986, § 14). 5.3. Quirk et al. : A Comprehensive Grammar of the English Language Der Komplex ,Standard und Variation' wird in Quirk et al. innerhalb des einleitenden Kapitels der Grammatik (1.7-1.11, 1.19-1.41) ausführlich abgehandelt. Dabei werden fünf Typen von Variation (region, social group, field of discourse, medium, attitude) unterschieden und in ihren unterschiedlichen soziolinguistischen Implikationen entfaltet. Als Konsequenz ergibt sich aus der theoretischen Darlegung folgendes in der Grammatik praktizierte Verfahren: "Our approach in this book is to focus on the common core that is shared by standard British English and standard American English. We leave unmarked any features that the two standard varieties have in common, marking as (BrE) or (AmE> only the points at which they differ. But usually we find it necessary to say (esp(ecially)BrE} or (esp(ecially)AmE), for it is rare for a feature to be found exclusively in one variety. Similarly we do not mark features that are neutral with respect to medium and attitude. We distinguish where necessary spoken and written language ( . . . ) We also frequently need to label features according to variation in attitude, drawing attention to those that are formal or informal" (33-34).

Während British English und American English als gleichberechtigte komplementäre Standards in die Grammatik eingehen, spielen andere nationale Standards (Scotland, Ireland, Canada, South Africa, Australia, New Zealand) für die Sprachbeschreibung keine Rolle. Zentraler Gegenstand der Grammatik ist demnach der nicht markierte, den beiden wichtigsten nationalen Standards gemeinsame Kern (common core), der insbesondere durch die Einheitlichkeit des geschriebenen Englisch eines mittleren oder höheren Formalitätsgrades begründet zu sein scheint 35 . Innerhalb der beiden komplementären Standards werden Formen und Konstruktionen, die von dem unmarkierten Sprachgebrauch abweichen, als spezifisch gesprochen oder geschrieben gekennzeichnet bzw. auf einer als fünfstufig angenommenen Formalitätsskala (von very formal bis very informal) situiert. 35

Cf.: ' T h e uniformity is especially close in neutral or formal styles of written English on subject matter not of obviously localized interest" (1.23, p. 19).

Standard

und Non-Standard

in der spanischen

Grammatikographie

165

Für die Unterscheidung von zentralen und marginalen Sprachzeichen spielen darüber hinaus die Begriffe der ,Akzeptabilität' und der ,Frequenz' eine wichtige Rolle. Aussagen zur Frequenz und Akzeptabilität basieren dabei nicht auf dem durch bestimmte Autoren legitimierten bon usage, wie etwa bei Grevisse oder auch zum Teil in der Duden-Grammatik, sondern beziehen sich auf einschlägige empirische Untersuchungen zum Sprachgebrauch, die eine repräsentative Textmenge von geschriebenen und gesprochenen Texten 36 sowie Sprachbewertungstests umfassen.

6. Ausblick: Status quo und Perspektiven der spanischen Grammatikographie Die in Kapitel 2 angesprochene historische Dimension der spanischen Grammatikographie wie auch der innerhalb dieses Beitrags notwendigerweise selektive und summarische Vergleich mit neueren Grammatiken anderer Sprachen zeigt die spanische Grammatikographie auf dem Wege einer Entwicklung, auf dem maßgebende englische, französische und deutsche Grammatiken schon ein gutes Stück weiter fortgeschritten sind. Diese Entwicklung ist gekennzeichnet durch die Relativierung eines früher als homogen konzipierten Standards im Sinne einer Differenzierung grammatischer Erscheinungen in diachronischer, diatopischer, registerspezifischer und diafrequenter Hinsicht. Allerdings wird in keiner der untersuchten spanischen Grammatiken das Problem der Variation grundsätzlich reflektiert, wie etwa in Grevisse 1986 oder Quirk et al. 1985, und mit Hilfe einer entsprechend standardisierten Metasprache systematisch für die grammatische Beschreibung nutzbar gemacht. Das ist bei Seco ('1930) und Gili Gaya ('1943), deren Grundkonzept trotz zahlreicher Neuauflagen unverändert blieb, nicht verwunderlich. Die neueren Werke - Alcina Franch/Blecua ('1975) und der Esbozo (1973) - zeichnen sich zwar durch eine moderne bzw. modernisierte linguistische Terminologie und Darstellung aus, aber auch ihnen ist 36

Als Datenmaterial haben der Grammatik verschiedene umfangreiche Korpora zugrunde gelegen, u. a. "(a) the corpus of the Survey of English Usage (SEU), covering spoken as well as written texts of British English (b) the Brown University corpus, comprising samples of American printed English (c) the parallel Lancaster-Oslo/Bergen corpus (LOB), comprising samples of British printed English" (Quirk et al. 1985, 33).

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eine die Sprachvarietäten und damit das Verhältnis von Standard und Non-Standard explizit einbeziehende Fragestellung fremd. Neu ist in dem Esbozo allerdings die programmatische Öffnung der Grammatik für eine Beschreibung der hispanoamerikanischen Varietäten als gleichberechtigtem komplementärem Standard, während sich die anderen Grammatiken ausdrücklich oder implizit auf die Darstellung des peninsularen Standards beschränken. Charakteristisch erscheint für alle spanischen Grammatiken der dominante Anteil an diachronischen Kennzeichnungen, welche auch in die diatopische und diafrequente Markierung einfließen. Ein solches Vorgehen ist symptomatisch für eine noch weitgehend an den schriftlichen Zeugnissen vergangener Jahrhunderte orientierte Normvorstellung. Der literarische oder archaisierende Suprastandard bleibt als Nicht-mehr-Standard legitimiert durch das Prestige der grandes autores de la literatura española ; demgegenüber findet der Bereich informeller, besonders gesprochener Register nur zögerliche Aufnahme in die Grammatiken. Diese wesentlich an der Schriftsprache und nach rückwärts orientierte Normauffassung verhindert einen systematischen Einbezug weiter Bereiche der Alltagskommunikation. Allerdings bleibt zu bedenken, daß ein stärkeres Abrücken von den literarischen Autoritäten als Normgrundlage entsprechende Kenntnisse derjenigen sprachlichen Daten voraussetzen würde, die für die neu einzubeziehenden Kommunikationsbereiche repräsentativ sind. Gemessen an dem von Quirk et al. (1985) gesetzten Maßstab kann sich die spanische Grammatikographie zur Zeit nicht auf eine annähernd vergleichbar abgesicherte Basis beziehen, auf deren Grundlage die Forderung nach einer Ö f f n u n g der Norm eingelöst werden könnte, immer vorausgesetzt, eine solche erschiene den Normierungsinstanzen wünschenswert.

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168

Hartmut Kìeineidam / Wolfgang

Schlör

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169

Über Standard- und Nonstandardmuster generalisierende Syntaxregeln. Das Beispiel der Adverbphrasen mit deiktischen Adverbien Beate Henn-Memmesheimer (Duisburg)

1. 2. 2.1.

Der Gegenstand Der Syntaxausschnitt Umriß der syntaktischen Funktion von Adverbien in dependentiell beschriebenen Wortgruppen 2.2. Adjektive und Adverbien 2.3. Abgrenzung gegen Wortbildungselemente 2.4. Abgrenzung gegen Präpositionen 2.5. Die textuelle Funktion 2.6. Die Regelformulierungen 3. Adverbphrasen aus deiktischem Adverb mit dependenter Substantivphrase 3.1. Die Beispiele 3.2. Die textuelle Funktion 3.3. Die Regeln 3.3.1. Systembeschreibende Regel 3.3.2. Als Standard beschriebene Varianten 3.3.3. Als Nonstandard geltende Varianten 3.4. Ausblick 4. Adverbphrasen aus deiktischem Adverb mit dependentem Pronomen/dependenter Pronominalphrase 5. Adverbialphrasen aus deiktischem Adverb mit dependenter Adjektivphrase 5.1. Die Beispiele 5.2. Die Regeln 5.2.1. Systembeschreibende Regel 5.2.2. Als Standard beschriebene Varianten 5.2.3. Als Nonstandard geltende Varianten 6. Adverbphrase aus Adverb, wiederholtem Adverb und dependenter Adjektivphrase 6.1. Die Beispiele 6.2. Die Regeln . 6.2.1. Systembeschreibende Regel 6.2.2. Als Standard beschriebene Varianten 6.2.3. Als Nonstandard geltende Varianten 7. Adverbphrasen aus deiktischem Adverb und dependentem Adverb/dependenter Adverbphrase 7.1. Die Beispiele für interrogative Adverbphrasen 7.2. Die Beispiele für negierende Adverbphrasen 7.3. Die Beispiele für definite Adverbphrasen 7.4. Die Beispiele für indefinite Adverbphrasen 7.5. Die Beispiele für generische Adverbphrasen

170 7.6. 7.6.1. 7.6.2. 7.6.3. 7.7. 8. 8.1. 8.2. 8.2.2. 8.2.3. 8.3. 9. 9.1. 9.2. 9.2.1. 9.2.2. 9.2.3. 9.3. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

1.

Beale

Henn-Memmesheimer

Die Regeln Systembeschreibende Regel Als Standard geltende Varianten Als Nonstandard geltende Varianten Tendenz Adverbphrasen aus deiktischem Adverb mit dependenter Adverbialpartikel Die Beispiele Die Regeln Als Standard geltende Varianten Als Nonstandard geltende Varianten Tendenz Adverbphrasen aus Adverb mit dependentem Adverb und davon wieder dependentem Adverb/dependenter Adverbialpartikel Die Beispiele Die Regeln Systembeschreibende Regeln Als Standard beschriebene Varianten Als Nonstandard beschriebene Regeln Tendenz Das System und der je verschiedene Sprachgebrauch Die Anerkennung der Unterscheidung Standard-Nonstandard Nonstandard statt Substandard Über Standard und Nonstandard generalisierende Syntax als Möglichkeit, Nonstandard zu beschreiben Überblick und Karten Literaturverzeichnis

Der Gegenstand

Es gab über Jahrzehnte hinweg in der Syntax keine legitimierte Sicht, die es erlaubte, syntaktische Muster, die als Nonstandard gelten, anders als zu regionalen/dialektalen Systemen gehörig zu beschreiben 1 . Weil Dialekte traditionell verstanden wurden als Kommunikationsmittel in einer räumlich eng begrenzten Bevölkerungsgruppe mit intensivem Binnenkontakt und möglichst ohne Außenkontakte 2 , wurden sie als selbständige Systeme beschrieben: die kontrastive oder intersystemische Behandlung erklärte Umgangssprachen oder Abweichungen vom Standard in intendiert standardsprachlichen Texten dann aus Interferenzen zwischen einem System Standardsprache und verschiedenen Dialektsystemen. Ich habe in einer Syntax, die Substantiv- und Pronominalphrasen behandelt, eine andere Rekonstruktion des Gegenstands „deutsche Syntax" versucht 3 : eine Beschreibung syntaktischer Muster, 1

Vgl. Henn 1983. Vgl. z. B. Mattheier 1973, 350f. 3 Henn-Memmesheimer 1986. 2

Über Standard- und Nonstandardmuster generalisierende Syntaxregeln

171

die über Standard und Nonstandard generalisiert. Als Standard geltende Muster sind dann lediglich eine Teilmenge der beschriebenen, von Deutschsprechern irgendwo kollektiv habitualisierten Muster. Eine solche Sicht ist implizit in Sprachgeschichten vorhanden, wenn dort betont wird, daß das, was man als Literatursprache und Hochsprache beschreibt, nicht „den gesamten Sprachzustand einer Zeit repräsentierte]" und nicht „ f ü r den allgemeinen Sprachwandel allein ausschlaggebend [sei]"4. Theoretisch wird dieser Ansatz unter dem Terminus „diasystemische Beschreibung" diskutiert 5 , bisweilen auch unter „subsystemische Beschreibung" 6 . Ausgeführt werden solche Beschreibungen selten oder nur ansatzweise 7 (meist mit dem konstrastiven Ansatz vermischt). Das gesamte Spektrum - von dialektalen bis zu standardisierten Mustern - umfassende diasystemische Beschreibungen gibt es nicht. Ich will die Brauchbarkeit exemplifizieren an einem Syntaxausschnitt des Deutschen, an einem Ausschnitt aus der Adverbphrasensyntax 8 . Entscheidend ist, daß hier ein System „Deutsch" rekonstruiert wird, innerhalb dessen einige Regeln als „Standard", andere als „Nonstandard" markiert sind. Dies wird in den Kapiteln 9-12 systematisch und ansatzweise soziologisch begründet. Ich spreche folglich nicht von „der Standardsprache", sondern nur von einzelnen standardisierten bzw. als Standard geltenden Mustern innerhalb des Systems „deutsche Sprache".

2.

D e r Syntaxausschnitt

2.1.

U m r i ß der syntaktischen Funktion von Adverbien in dependentiell beschriebenen Wortgruppen

Adverbien sind - im R a h m e n meiner f ü r die oben skizzierte Beschreibung des Deutschen entwickelten Wortgruppensyntax 9 - nichtflektierbare Wörter, die mindestens verbdependent vorkommen können: erarbeitete s o , überzeugte f a s t , kommt h e u t e , stand d o r t , bittet s e h r , . . einige k o m m e n außerdem substantivdependent vor: so Sachen, das Ding d o r t , n u r Martin, . . ., pronomendependent: so 4

v. Polenz 1978, S. 7, ζ. B. Vgl. Albrecht 1986, 82 mit d e m Hinweis auf Weinreich 1954. 6 Gossens 1980,445. 7 Vgl. die Ansätze französischer G r a m m a t i k e n , die Holtus 1986 darstellt. 8 Das aufbereitete Material w u r d e im R a h m e n eines D F G - u n t e r s t ü t z t e n Projekts zusammengestellt. 9 H e n n - M e m m e s h e i m e r 1986, 26-55. 5

172

Beate Henn-Memmesheimer

jemand, wem s o n s t , . . a r t i k e l d e p e n d e n t : so ein Pech, adjektivdepedent: ein s e h r kleines, adnominalpartikeldependent 10 : f a s t drei Stunden, . . . , adverbdependent: tief unten, ..., präpositionsdependent: von u n t e n , von d o r t , . . . . Dependent von Adverbien sind belegbar: Substantive: den B e r g hinauf, ..., Pronomina: (ich bin) es leid, ..., Adjektive: wo S c h ö n e s (nicht Standard!), . . . , Adverbien: w i e bald, s e h r bald, ..., Adverbialpartikel: i r g e n d - w o , e i n so (nicht Standard!), j e öfter, ..., Adjunktionen 1 1 : öfter a l s , genauso w i e , . . . , Präpositionen: unterhalb v o m Fluß, Konjunktionen, 1 2 : morgen o d e r übermorgen, ab u n d zu, . . . , Konjunktionen 2 1 3 : so d a ß , so, daß. 2.2.

Adjektive und Adverbien

Ausklammern will ich hier 14 unflektierte Wortformen, die in manchen Syntaxen als unflektierbare - mit Adjektiven homonyme - Adverbien klassifiziert werden (z. B. satt, schnell, später in: in habe es satt, kam schnell zurück, er kam einige Stunden später), in anderen Syntaxen als Adjektive, nämlich als potentiell flektierbar, in diesen Positionen aber unflektiert 15 . 2.3.

Abgrenzung gegen Wortbildungselemente

In durchschlafen wird durch orthographisch nicht wie ein handelt, sondern wie ein Wortbildungselement, ebenso: men, hinaufsteigen. Ich werde diese Einheiten, die durch phrasen oder Präpositionalphrasen ersetzbar sind, trotz thographie als Adverbien behandeln: Er wollte Er sollte

durchdie ganze Nacht herausnach K l

Adverb beherauskomSubstantivdieser Or-

schlafen kommen

Das Abgrenzungsproblem: sind dann mit, auf, über u. a. Einheiten Wortbildungselemente (Duden-Grammatik 1984, § 730ff. : „Halbpräfixe") oder ebenfalls Adverbien? 10

Adnominalpartikel nenne ich Wörter, die nicht flektieren und, z. B. im Gegensatz zu den Adverbien, nur in Nominalgruppen vorkommen. Vgl. HennMemmesheimer 1986,47. " Vgl. ebd., 49. 12 Vgl. ebd., 51. 13 Vgl. ebd., 53. 14 Im Gegensatz zu ebd., 26ff. 15 Sehr konsequent: Duden-Grammatik 1984.

Über Standard- und Nonslandardmusler Ich gehe sie will er freute

sich

er will

mit mit euch mitmit euch mit16 mit ihnen aufauf den Berg

generalisierende

Syntaxregeln

173

gehen/spielen

steigen

Ich werde diese Einheiten in solchen Kontexten, wenn sie so ersetzbar sind, als Adverbien behandeln. Auch ihre deiktische/anaphorische Funktion läßt sich zeigen: Die Kinder freuten sich. Er freute sich mit o d e r : . . . dieser Berg .... Sie wollten aufsteigen. Dagegen sind ζ. B. über in: er übersetzte das Buch, mit in: er brachte seinen Teddy mit, unter in: Wasser unterspülte die Ufer Wortbildungselemente. 2.4.

Abgrenzung gegen Präpositionen

Wenn oben (2.1.) Ausdrücke wie den Berg hinauf als Adverb mit dependenter Substantivphrase analysiert werden, so beschreibt man üblicherweise Ausdrücke wie zu der Tür (gehen) als Präpositionalphrase. Eine solche Unterscheidung läßt sich begründen aus dem Eliminationskriterium: stieg den Berg stieg -

hinauf hinauf,

ebenso aus dem Konfigurationskriterium 17 : stieg fien Berg hinauf \ Konfiguration hinauf! daraufÌ dorthin. J Resultante

Den Berg hinauf ist eine Konfiguration, hinauf alleine kann dieselbe Position einnehmen. Im Unterschied dazu sind Präpositionen keine Resultanten, können nicht alleine stehen: *

er ging zu der Tür er ging zu.

Man kann außerdem auf ein Stellungskriterium zurückgreifen:

16 17

Beleg ζ. B. Behaghel 1923-32, Bd. II, 7. Vgl. Kunze 1975, 58ff.

174

Beate

er stieg den Berg hinauf den Berg stieg er hinauf

Henn-Memmesheimer

er ging zu der Tür * der Tür ging er zu er stieg auf den Felsen * den Felsen stieg er auf.

Getrenntstellung ist also nur bei Adverbien und deren Dependentien möglich. Nimmt man diese Kriterien ernst, so gibt es Wörter, die sowohl als Adverbien wie als Präpositionen verwendet werden, man hat hier ein Kontinuum vor sich 18 : In er schläft diese Nacht durch ist durch Adverb: er schläft durch, diese Nacht schlief er durch. Es bleiben noch folgende Fälle: Wo Wo Wo Wo

gingst du mit" er das m i t beweisen kann hast du b e i gewohnt kannst du nix zu 2 0 .

Sind diese Fälle analog wo.. .her zu behandeln? Sind wo-mit, wo-bei als Adverb + Adverb oder als Adverb + Präposition zu behandeln? Mein Stellungskriterium spricht für die Lösung Adverb + Adverb, die Eliminationskriterien in manchen Fällen auch: wo

gingst du mit gingst du mit

wo -

kommst du her kommst du her,

aber mit verhält sich nicht in allen Kontexten so parallel zu her: womit wo -

brachte sie alles brachte sie alles mit brachte sie alles mit

woher wo -

brachte sie altes brachte sie alles her brachte sie alles her

Bleibt als letztes Kriterium, ob mit, zu, bei ... auch in anderen Kontexten alleine, in der Funktion von Adverbien vorkommen. So belegen die Quellen (von Süden nach Norden, Kursivsetzungen und Sperrungen von mir):

18

Vgl. Behaghel 1923-32, 23. Behaghel verwendet allerdings ein Kriterium, das zu einer anderen Grenzziehung führt: nicht um Präpositionen handelt es sich nur dort, wo der nominale Ausdruck auch alleine im selben Kontext stehen kann: er schläft diese Nacht durch, grammatisch korrekt ist auch er schläft diese Nacht, also ist durch Adverb. Ganz konsequent ist für Behaghel dann auch herauf, hinauf eine Präposition, denn: er stieg den Berg ist ungrammatisch. 19 D. h. mit wem gingst du. 20 Belege in 7.1.

Über Standard- und Nonstandardmuster die ist n a c h wie v o r

generalisierende

Syntaxregeln

175

Freising 1970

daheim; 21

n a c h ["