Diskurslexikologie und Sprachgeschichte der Computertechnologie [Reprint 2014 ed.] 9783110910681, 9783484312524

The linguistic and discursive processing of computer technology is studied here from its beginnings to the year 2000. Th

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German Pages 492 Year 2004

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Table of contents :
Abbildungsverzeichnis
TEIL 1: Theoretische Grundlagen einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie
1 Diskurslexikologie und Computerdiskurs: Fragestellung und Untersuchungsziele
2 Grundbegriffe einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie: Die Wortschatzvariation zwischen Experten und Laien in öffentlichen Diskursen als Untersuchungsgegenstand
2.1 Öffentliche, massenmediale Diskurse als Kommunikationsraum von Experten und Laien
2.2 Öffentlichkeit als Bedingung für diskursive Kommunikation zwischen Experten und Laien
2.3 Vertikale Polysemierung in disperser öffentlicher Kommunikation
2.4 Sprachliche Arbeitsteilung als Prinzip der Diskurskommunikation
2.5 Diskurskommunikation und subjektive Theorien
2.6 Analysedimensionen und Instrumente einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie
2.6.1 Untersuchungsdimension Diskursprogression: die thematische Entwicklung eines Diskurses
2.6.2 Untersuchungsdimension Diskurspersuasion: diskursive Topoi als Ausdruck diskursiver Leitbilder
2.6.3 Untersuchungsdimension Diskurslexik: die Ordnung des Diskurswortschatzes
2.7 Diskurstheoretische Einordnung: Vertikale Wortschatzvariation, ein Desiderat der Diskurstheorie?
3 Aspekte vertikaler Wortschatzvariation und die Diskurstheorie Michel Foucaults
3.1 Diskursmodellierung: Foucaults Diskursbegriff und ihr Wert für die Untersuchung vertikaler Wortschatz- und Wissensvariation
3.1.1 Foucaults Diskursbegriff aus Sicht einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie
3.1.2 Grundeinheiten von Diskursen: Diskurshandlungen von Experten und Laien anstelle von Aussagefunktionen
3.2 Diskursvertikalität: Wissens- und Wortschatzvertikalität als diskursive Formationsbedingung
3.2.1 Sprachliche Arbeitsteilung als diskursive Praxis in öffentlichen Diskursen
3.2.2 Die vertikale diskursive Streuung von Wissen und Wortschatz
3.3 Diskursprogression: Diskursgegenstand und thematische Progression
3.3.1 Diskursgegenstand und vertikale Formation
3.3.2 Thematische Diskursprogression und vertikale Variation
3.3.3 Der Diskursverlauf im onomasiologischen und semasiologischen Vergleich
3.4 Diskurskontrolle: Machtwirkungen und soziale Positionierungen
3.4.1 Machtwirkungen als Elemente der Diskurskontrolle und Movens vertikaler Variation
3.4.2 Soziale Positionierung als Element der Diskurskontrolle
3.5 Diskussionsergebnisse: Die Diskurstheorie Michel Foucaults aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie
4 Vertikale Wissens- und Wortschatzvariation und die Erweiterung der Diskurstheorie Foucaults durch die Interdiskurs- und Kollektivsymboltheorie von Jürgen Link
4.1 Diskursmodellierung: Interdiskurs und Spezialdiskurse als Vertikalitätsraum
4.2 Diskursvertikalität Interdiskurs und Kollektivsymbolik
4.3 Diskursprogression: Trennung von Experten- und Laienthemen und Analysekategorien der kombinierten Diskurs- und Interdiskursanalyse
4.4 Diskurspersuasion und -kontrolle: hegemoniale Diskurse, Diskurstaktik und Kollektivsymbole
4.5 Diskussionsergebnisse: Die Diskurstheorie Jürgen Links aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie
5 Aspekte vertikaler Wortschatzvariation in Siegfried Jägers gesellschaftsanalytischem Instrumentarium
5.1 Diskursmodellierung: „Der Fluß von Wissen durch die Zeit“
5.2 Diskursvertikalität: Diskursstrang, Diskursebenen und Realitätsformierung
5.3 Diskursprogression: die Entwicklung und Verflechtung von Diskurssträngen
5.4 Diskurspersuasion und -kontrolle: Sagbares, Nicht-Sagbares und Wissenschaftler als Initiatoren von Gegendiskursen
5.5 Diskussionsergebnisse: die Diskurstheorie Siegfried Jägers aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie
6 Aspekte vertikaler Wortschatzvariation in der sprachwissenschaftlichen Revision der Diskurstheorie Foucaults im Rahmen einer historischen Semantik als Diskursgeschichte bei Dietrich Busse
6.1 Diskursmodellierung: ein linguistischer Diskursbegriff für die Diskurssemantik
6.2 Diskursvertikalität: Sozialbindung des Bedeutungswissens als Korrektiv für subjektive Bedeutungswelten
6.3 Diskursprogression: Diskursgeschichte als Geschichte von Wortbedeutungen
6.4 Diskurspersuasion und -kontrolle: Kernelement der Analyse, aber nicht Primärziel einer Diskursanalyse
6.5 Diskussionsergebnisse: die Diskurstheorie Dietrich Busses aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie
7 Korpuslinguistische und methodologische Präzisierungen: Diskurs, Diskurskorpus und methodologische Gütekriterien einer diskurslexikologischen Untersuchung
7.1 Diskurs und Korpus: Auswahl oder Identität?
7.2 Diskurskorpus, vertikale Analyse und die Gütekriterien Validität, Reliabilität, Repräsentativität und Generalisierbarkeit in der vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie
7.3 Inhaltliche und technische Anforderungen an ein vertikales Diskurskorpus
TEIL 2: Die sprachliche Verarbeitung der Computertechnologie: Untersuchungskonzeption und Korpusbeschreibung
8 Ein Modell zur Analyse des Computerdiskurses
8.1 Integrative Heuristik zur Analyse von Diskursprogression, Diskurspersuasion und Diskursvertikalität
8.2 Operationalisierungen zum Computerdiskurs
8.2.1 Spezifisches Erkenntnisinteresse im Computerdiskurs
8.2.2 Instrumente zur Analyse der Diskursprogression im Computerdiskurs
8.2.3 Untersuchungsmethode zur Analyse der Diskurspersuasion im Computerdiskurs
8.2.4 Untersuchungsmethode zur Analyse der lexikalisch basierten Diskursvertikalität im Computerdiskurs
8.2.5 Übersicht über die Kriterien der Korpuserstellung, Untersuchungsebenen und Methoden der vertikalitätsorientierten Analyse des Computerdiskurses
8.2.6 Datentechnische Unterstützung der Analyse und Interpretation
9 Das Diskurskorpus und die Spezifik der repräsentierten Bereiche der parlamentarischen Kommunikation und der Kommunikation der Populärpresse
9.1 Parlamentskorpus, Textsorten und die Spezifik parlamentarischer Kommunikation
9.1.1 Parlamentskorpus und parlamentarische Textsorten
9.1.2 Das Parlamentskorpus und die Spezifik parlamentarischer Kommunikation
9.1.3 Der Öffentlichkeitscharakter von Plenarprotokollen des Deutschen Bundestages
9.1.4 Die Diskurszugehörigkeit von Parlamentstexten
9.1.5 Die Vertikalitätsadäquatheit: Wissensvertikalität und Wissensorganisation im Deutschen Bundestag
9.1.6 Die Diachronieadäquatheit von parlamentarischen Textsorten
9.2 Das Pressekorpus und die kommunikative Spezifik des STERN
9.2.1 Der Öffentlichkeitscharakter des STERN: ein Leitmedium aus dem Segment der politischen Presse mit illustriertentypischen Textsortenmerkmalen
9.2.2 Die Diskurszugehörigkeit von STERN-Artikeln mit Computerbezug
9.2.3 Die Vertikalitätsadäquatheit: Wissensaufbereitung für spezifische Zielgruppen
9.2.4 Die Diachronieadäquatheit: der STERN als langlebiges Populärmedium
TEIL 3: Die sprachliche Verarbeitung der Computertechnologie: Ergebnisse
10 Die gemeinsprachliche Verarbeitung der Computertechnologie
10.1 Phasen des Computerdiskurses und die Entwicklung der Computertechnologie
10.1.1 Orientierungspunkte in der Entwicklung der Computertechnologie
10.2 Die Anfangsphase des Computerdiskurses (1963-1972)
10.2.1 Die Diskursprogression in der Anfangsphase: diskursives Themenspektrum und Schlüsselthematisierungen
10.2.2 Elemente der Diskurspersuasion in der Anfangsphase: Epochen-, Schlüsselstellungs- und Werkzeugtopos
10.2.3 Der Diskurswortschatz und seine Vertikalität in der Anfangsphase: ausdrucks- und inhaltsseitige Ordnung
10.2.4 Überblick über die Anfangsphase: Periodisierung, Thematisierung, Topoi und Wortschatzvertikalität
10.3 Die Öffnungsphase des Computerdiskurses (1973-1980)
10.3.1 Die Diskursprogression in der Öffnungsphase des Computerdiskurses: diskursives Themenspektrum und Schlüsselthematisierungen
10.3.2 Elemente der Diskurspersuasion in der Öffnungsphase: Kampf um Bedeutungen: „Niemand weiß heute, was eine Datei ist!“, Technologietopoi und explizite Thematisierung der Verikalität
10.3.3 Der Diskurswortschatz und seine Vertikalität in der Öffnungsphase: ausdrucks- und inhaltsseitige Ordnung
10.3.4 Überblick über die Öffnungsphase: Periodisierung, Thematisierung, Wortschatzvertikalität
10.4 Die Publikumsphase des Computerdiskurses (1981-1994)
10.4.1 Die Diskursprogression in der Publikumsphase des Computerdiskurses: diskursives Themenspektrum und Schlüsselthematisierungen
10.4.2 Elemente der Diskurspersuasion in der Publikumsphase: Kampf um die Bezeichnung Verkabelungsstopp, persuasives Zitieren und Technologietopoi
10.4.3 Der Diskurswortschatz und seine Vertikalität in der Publikumsphase: ausdrucksseitige und inhaltsseitige Ordnung
10.4.4 Überblick über die Publikumsphase: Periodisierung, Thematisierung, Topoi und Wortschatzvertikalität
10.5 Die Omnipräsenzphase des Computerdiskurses (seit 1995)
10.5.1 Die Diskursprogression in der Omnipräsenzphase des Computerdiskurses: diskursives Themenspektrum und Schlüsselthematisierungen
10.5.2 Elemente der Diskurspersuasion in der Omnipräsenzphase
10.5.3 Der Diskurswortschatz und seine Vertikalität in der Omnipräsenzphase
11 Resümee: Diskurs-, Sprach- und Vertikalitätsgeschichte im Computerdiskurs
12 Literatur
12.1 Wörterbücher
12.2 Sekundär- und Fachliteratur
12.3 Quellenverzeichnis
12.3.1 Quellen des Parlamentskorpus
12.3.2 Quellen des Pressekorpus (Stern)
13 Sachregister
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Diskurslexikologie und Sprachgeschichte der Computertechnologie [Reprint 2014 ed.]
 9783110910681, 9783484312524

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Reihe Germanistische Linguistik

252

Herausgegeben von Armin Burkhardt, Angelika Linke und Sigurd Wichter

Albert Busch

Diskurslexikologie und Sprachgeschichte der Computertechnologie

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004

Reihe Germanistische Linguistik Begründet und fortgeführt von Helmut Henne, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand

Für Hilla

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-31252-1

ISSN 0344-6778

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Buchbinder: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Vorwort

Es gibt viele Wege, Dank zu sagen: danke schön! • dem Himmel sei Dank • vielen Dank! • Dankbarkeit • Anerkennung • Belohnung • Entgelt • Vergütung • Dank • Gefühl der Verpflichtung • großer Zapfenstreich • Laudatio • Loblied • Lobpreis • Händedruck • Verbeugung • dankbar • erkenntlich • verbunden • danken • verpflichtet • anerkennen • sich bedanken • Dank abstatten • Dank aussprechen • Dank sagen • sich dankbar zeigen • sich erkenntlich zeigen • verdanken • aufrichtig danken • Dank schulden • Gott loben • Gott preisen • verbunden sein • verpflichtet sein • von Herzen danken • verdanken • hoch anrechnen (Dornseiff)

Dies alles und herzlichst: • • • • • •

an Sigurd Wichter für seine inspirierende und freundschaftliche Hilfe, an Oliver Stenschke für Diskurse, Dialoge, Dispute und Diskussionen, an Heiko Mergard für spannende Gespräche und die gekonnte Lüftung diverser Technologiegeheimnisse, an Manuel Tants für ungezählte Hilfestellungen, an Andrea Grote, Daniela Schütte und Kai Kämmerer für die Unterstützung bei der Korpuserstellung und an Karin Peschke, Nikola Proske und Anne Meier für die Hilfe bei der Einrichtung und Durchsicht des Manuskriptes.

Ein herzliches Dankeschön an alle Kolleginnen, Kollegen und Studierenden, die mir in Diskussionen und Seminaren wertvolle Anregungen und Hinweise gegeben haben, an das Referat wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages für die Unterstützung bei der Recherche und an das Gruner & JahrArchiv für die Unterstützung bei der Recherche und die Bereitstellung von Quellentexten. Diese Untersuchung ist von der Philosophischen Fakultät der Georg-AugustUniversität in Göttingen im Februar 2003 als Habilitationsschrift unter dem folgenden Titel angenommen worden: Vertikalitätstheoretische Diskurslexikologie. Grundlagen und diskursgeschichtliche Untersuchungen zur Experten-Laien-Kommunikation im Computerdiskurs.

VI

„Eine Maschine kollaboriert nicht, sie weiß, daß sie das Wort bekommen muß, und wenn sie es nicht bekommt, schweigt sie." (Umberto Eco)

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

XIII

TEIL 1: Theoretische Grundlagen einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie 1

2

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.6.1 2.6.2 2.6.3 2.7

3 3.1

3.1.1

Diskurslexikologie und Computerdiskurs: Fragestellung und Untersuchungsziele

1

Grundbegriffe einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie: Die Wortschatzvariation zwischen Experten und Laien in öffentlichen Diskursen als Untersuchungsgegenstand 11 Öffentliche, massenmediale Diskurse als Kommunikationsraum von Experten und Laien 11 Öffentlichkeit als Bedingung für diskursive Kommunikation zwischen Experten und Laien 17 Vertikale Polysemierung in disperser öffentlicher Kommunikation 19 Sprachliche Arbeitsteilung als Prinzip der Diskurskommunikation 22 Diskurskommunikation und subjektive Theorien 25 Analysedimensionen und Instrumente einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie 28 Untersuchungsdimension Diskursprogression: die thematische Entwicklung eines Diskurses 29 Untersuchungsdimension Diskurspersuasion: diskursive Topoi als Ausdruck diskursiver Leitbilder 30 Untersuchungsdimension Diskurslexik: die Ordnung des Diskurswortschatzes 31 Diskurstheoretische Einordnung: Vertikale Wortschatzvariation, ein Desiderat der Diskurstheorie? 45 Aspekte vertikaler Wortschatzvariation und die Diskurstheorie Michel Foucaults Diskursmodellierung'. Foucaults Diskursbegriff und ihr Wert für die Untersuchung vertikaler Wortschatz- und Wissensvariation Foucaults Diskursbegriff aus Sicht einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie

47

49 49

Vili 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.5

4

4.1 4.2 4.3

4.4 4.5

5 5.1 5.2

Grundeinheiten von Diskursen: Diskurshandlungen von Experten und Laien anstelle von Aussagefunktionen 51 Diskursvertikalität: Wissens- und Wortschatzvertikalität als diskursive Formationsbedingung 57 Sprachliche Arbeitsteilung als diskursive Praxis in öffentlichen Diskursen 59 Die vertikale diskursive Streuung von Wissen und Wortschatz .... 61 Diskursprogression: Diskursgegenstand und thematische Progression 63 Diskursgegenstand und vertikale Formation 63 Thematische Diskursprogression und vertikale Variation 67 Der Diskursverlauf im onomasiologischen und semasiologischen Vergleich 70 Diskurskontrolle: Machtwirkungen und soziale Positionierungen 75 Machtwirkungen als Elemente der Diskurskontrolle und Movens vertikaler Variation 75 Soziale Positionierung als Element der Diskurskontrolle 77 Diskussionsergebnisse: Die Diskurstheorie Michel Foucaults aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie 82 Vertikale Wissens- und Wortschatzvariation und die Erweiterung der Diskurstheorie Foucaults durch die Interdiskurs- und Kollektivsymboltheorie von Jürgen Link Diskursmodellierung: Interdiskurs und Spezialdiskurse als Vertikalitätsraum Diskursvertikalität: Interdiskurs und Kollektivsymbolik Diskursprogression: Trennung von Experten- und Laienthemen und Analysekategorien der kombinierten Diskurs- und Interdiskursanalyse Diskurspersuasion und -kontrolle: hegemoniale Diskurse, Diskurstaktik und Kollektivsymbole Diskussionsergebnisse: Die Diskurstheorie Jürgen Links aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie Aspekte vertikaler Wortschatzvariation in Siegfried Jägers gesellschaftsanalytischem Instrumentarium Diskursmodellierung: „Der Fluß von Wissen durch die Zeit" Diskursvertikalität: Diskursstrang, Diskursebenen und Realitätsformierung

86 86 91

99 102

107

110 110 115

IX 5.3 5.4 5.5

6

6.1 6.2 6.3 6.4 6.5

7

7.1 7.2

7.3

Diskursprogression: die Entwicklung und Verflechtung von Diskurssträngen Diskurspersuasion und -kontrolle: Sagbares, Nicht-Sagbares und Wissenschaftler als Initiatoren von Gegendiskursen Diskussionsergebnisse: die Diskurstheorie Siegfried Jägers aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie Aspekte vertikaler Wortschatzvariation in der sprachwissenschaftlichen Revision der Diskurstheorie Foucaults im Rahmen einer historischen Semantik als Diskursgeschichte bei Dietrich Busse Diskursmodellierung: ein linguistischer Diskursbegriff für die Diskurssemantik Diskursvertikalität: Sozialbindung des Bedeutungswissens als Korrektiv für subjektive Bedeutungswelten Diskursprogression: Diskursgeschichte als Geschichte von Wortbedeutungen Diskurspersuasion und -kontrolle: Kernelement der Analyse, aber nicht Primärziel einer Diskursanalyse Diskussionsergebnisse: die Diskurstheorie Dietrich Busses aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie Korpuslinguistische und methodologische Präzisierungen: Diskurs, Diskurskorpus und methodologische Gütekriterien einer diskurslexikologischen Untersuchung Diskurs und Korpus: Auswahl oder Identität? Diskurskorpus, vertikale Analyse und die Gütekriterien Validität, Reliabilität, Repräsentativität und Generalisierbarkeit in der vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie Inhaltliche und technische Anforderungen an ein vertikales Diskurskorpus

118 122

123

125 125 132 136 138

139

142 142

145 155

TEIL 2: Die sprachliche Verarbeitung der Computertechnologie: Untersuchungskonzeption und Korpusbeschreibung 8 8.1 8.2

Ein Modell zur Analyse des Computerdiskurses Integrative Heuristik zur Analyse von Diskursprogression, Diskurspersuasion und Diskursvertikalität Operationalisierungen zum Computerdiskurs

159 159 161

X 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5

8.2.6

9

9.1 9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.1.4 9.1.5 9.1.6 9.2

Spezifisches Erkenntnisinteresse im Computerdiskurs Instrumente zur Analyse der Diskursprogression im Computerdiskurs Untersuchungsmethode zur Analyse der Diskurspersuasion im Computerdiskurs Untersuchungsmethode zur Analyse der lexikalisch basierten Diskursvertikalität im Computerdiskurs Übersicht über die Kriterien der Korpuserstellung, Untersuchungsebenen und Methoden der vertikalitätsorientierten Analyse des Computerdiskurses Datentechnische Unterstützung der Analyse und Interpretation Das Diskurskorpus und die Spezifik der repräsentierten Bereiche der parlamentarischen Kommunikation und der Kommunikation der Populärpresse Parlamentskorpus, Textsorten und die Spezifik parlamentarischer Kommunikation Parlamentskorpus und parlamentarische Textsorten Das Parlamentskorpus und die Spezifik parlamentarischer Kommunikation Der Öffentlichkeitscharakter von Plenarprotokollen des Deutschen Bundestages Die Diskurszugehörigkeit von Parlamentstexten Die Vertikalitätsadäquatheit: Wissensvertikalität und Wissensorganisation im Deutschen Bundestag Die Diachronieadäquatheit von parlamentarischen Textsorten Das Pressekorpus und die kommunikative Spezifik des STERN

9.2.1

9.2.2 9.2.3 9.2.4

Der Öffentlichkeitscharakter des STERN: ein Leitmedium aus dem Segment der politischen Presse mit illustriertentypischen Textsortenmerkmalen Die Diskurszugehörigkeit von STERN-Artikeln mit Computerbezug Die Vertikalitätsadäquatheit: Wissensaufbereitung für spezifische Zielgruppen Die Diachronieadäquatheit: der STERN als langlebiges Populärmedium

162 163 168 169

173 174

177 177 177 179 183 190 192 200 202

202 208 211 216

XI TEIL 3: Die sprachliche Verarbeitung der Computertechnologie: Ergebnisse 10 10.1 10.1.1 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 10.3 10.3.1

10.3.2

10.3.3

10.3.4 10.4 10.4.1

10.4.2

10.4.3

Die gemeinsprachliche Verarbeitung der Computertechnologie Phasen des Computerdiskurses und die Entwicklung der Computertechnologie Orientierungspunkte in der Entwicklung der Computertechnologie Die Anfangsphase des Computerdiskurses (1963-1972) Die Diskursprogression in der Anfangsphase: diskursives Themenspektrum und Schlüsselthematisierungen Elemente der Diskurspersuasion in der Anfangsphase: Epochen-, Schlüsselstellungs- und Werkzeugtopos Der Diskurswortschatz und seine Vertikalität in der Anfangsphase: ausdrucks- und inhaltsseitige Ordnung Überblick über die Anfangsphase: Periodisierung, Thematisierung, Topoi und Wortschatzvertikalität Die Öffnungsphase des Computerdiskurses (1973-1980) Die Diskursprogression in der Öffnungsphase des Computerdiskurses: diskursives Themenspektrum und Schlüsselthematisierungen Elemente der Diskurspersuasion in der Öffnungsphase: Kampf um Bedeutungen: „Niemand weiß heute, was eine Datei ist!", Technologietopoi und explizite Thematisierung der Verikalität Der Diskurswortschatz und seine Vertikalität in der Öffnungsphase: ausdrucks- und inhaltsseitige Ordnung Überblick über die Öffnungsphase: Periodisierung, Thematisierung, Wortschatzvertikalität Die Publikumsphase des Computerdiskurses (1981-1994) Die Diskursprogression in der Publikumsphase des Computerdiskurses: diskursives Themenspektrum und Schlüsselthematisierungen Elemente der Diskurspersuasion in der Publikumsphase: Kampf um die Bezeichnung Verkabelungsstopp, persuasives Zitieren und Technologietopoi Der Diskurswortschatz und seine Vertikalität in der Publikumsphase: ausdrucksseitige und inhaltsseitige Ordnung

219 220 227 241 241 251 253 274 275

275

286

293 320 321

321

341

351

XII 10.4.4

Überblick über die Publikumsphase: Periodisierung, Thematisierung, Topoi und Wortschatzvertikalität Die Omnipräsenzphase des Computerdiskurses (seit 1995) Die Diskursprogression in der Omnipräsenzphase des Computerdiskurses: diskursives Themenspektrum und Schlüsselthematisierungen Elemente der Diskurspersuasion in der Omnipräsenzphase Der Diskurswortschatz und seine Vertikalität in der Omnipräsenzphase

405

Resümee: Diskurs-, Sprach- und Vertikalitätsgeschichte im Computerdiskurs

426

12 12.1 12.2 12.3 12.3.1 12.3.2

Literatur Wörterbücher Sekundär- und Fachliteratur Quellenverzeichnis Quellen des Parlamentskorpus Quellen des Pressekorpus (Stern)

433 433 434 462 462 466

13

Sachregister

476

10.5 10.5.1

10.5.2 10.5.3

11

385 387

387 401

Abbildungsverzeichnis

Expertenkonzept „Krankheit" Wortfamilie Computer in Spiegel und Faz 03/1996 Gemeinsprachliche Bezeichnungsmotivation Anfangsphase, Pressekorpus Computerbezeichnungen Spiegel, Faz 03/1996 (Ausschnitt) Diskurswürfel Charakteristika Sozialforschung: Übersicht elektronisches Diskurskorpus, Anforderungen Untersuchungsdimensionen und Erkenntnisinteresse Thematisierungsfeld und Themen PARTHES-Dokumentationswortfeld Computer Vertikales Diskurskorpus, Kriterien elektronisches Diskurskorpus, datentechnische Anforderungen Politikberatung, Gruppen und Beratungsform Reichweitenunterschiede Printmedien von Journalisten genutzte Printmedien Computerpresse 1994 Kommunikationskulturen Wissenschaftler vs. Journalisten Diskurs- und Technologieentwicklung MEMEX, Skizze Thematisierungsfelder, Anfangsphase Zahl der EDV-Anlagen in Deutschland in den 60er und 70er Jahren Technologie-Wortfamilien der Anfangsphase im Vergleich Technologie-Wortfamilie zum Basislexem Computer, Anfangsphase Technologie-Wortfamilie zum Basislexem Daten (Lexikon DV) Gemeinsprachliche Bezeichnungsmotivation Stern, Anfangsphase Technologie-Wortfamilie zum Basislexem Daten, Anfangsphase Technologie-Wortfamilie zum Basislexem Elektronik, Anfangsphase Metapher Elektronengehirn im Stern Anfangs- bis Omnipräsenzphase Thematisierungsfelder, Öffhungsphase Entwicklung und Thematisierung Datenschutz Technologie-Wortfamilien der Öffhungsphase im Vergleich Technologie-Wortfamilie zum Basislexem Daten, Öffhungsphase, Parlamentskorpus Technologie-Wortfamilie zum Basislexem Daten, Öffhungsphase, Pressekorpus Technologie-Wortfamilie zum Basislexem Computer, Öffhungsphase, Parlamentskorpus Technologie-Wortfamilie zum Basislexem Computer, Öffhungsphase, Pressekorpus Fachsprachennahe Bezeichnungsmotivationen, Öffhungsphase, Pressekorpus Gemeinsprachliche Bezeichnungsmotivationen, Öffhungsphase, Pressekorpus Herkunftsschemata computerbezogener Tropik, Öffhungsphase, Pressekorpus

27 42 44 128 144 154 157 162 165 166 173 175 198 206 207 210 214 225 237 243 248 256 258 260 265 267 268 270 276 285 296 298 299 300 301 305 306 317

XIV Thematisierungsfelder, Publikumsphase Persuasionsstrategie, Verkabelungsstopp persuasive Zitierweise Häufigkeit der Wortbildungs-Types in Parlament und Presse, Anfangsphase bis Omnipräsenzphase Technologie-Wortfamilien der Publikumsphase im Vergleich Zweckorientierung-Thematisierungsvertikalität-Wortschatzvertikalität Technologiebezeichnungen mit Daten und Information im Parlament, Anfangsphase bis Omnipräsenzphase Technologie-Wortfamilie zum Basislexem Computer, Publikumsphase, Pressekorpus Technologie-Wortfamilie zum Basislexem Computer, Publikumsphase, Parlamentskorpus Technologie-Wortfamilie zum Basislexem Netz, Publikumsphase, Pressekorpus und Parlamentskorpus Bezeichnungsmotivationen, Stern, Publikumsphase syntaktisch integrierte Technologieerläuterungen „Knopfdruck"-Formel Herkunftsschemata computerbezogener Tropik, Stern, Publikumsphase, Die Konstruktion der Fachmetapher Virus Prominente Topoi im Redeparlament, Publikumsphase Thematisierungsfelder, Omnipräsenzphase Expertenstruktur Informatik Epochenbezeichnungen, Omnipräsenzphase Epochenbezeichnungen neben Informationsgesellschaft IuK als Projektionsfläche für politische Programmatik Technologietopoi im Redeparlament 1963-2000 wichtige Kollokationspartner des Lexems Informationsgesellschaft Technologie-Wortfamilien der Omnipräsenzphase im Vergleich Wortfamilien-Klassiker im Pressediskurs Technologie-Wortfamilien mit Beginn in der Öffnungsphase, Parlamentskorpus Technologie-Wortfamilien mit Beginn in der Öffnungsphase, Pressekorpus Technologie-Wortfamilien mit Beginn in der Publikumsphase, Parlamentskorpus Technologie-Wortfamilien mit Beginn in der Publikumsphase, Pressekorpus 1 Technologie-Wortfamilien mit Beginn in der Publikumsphase, Pressekorpus 2 Kommunikationsbereiche Informatik Wortbildung: 150Megahertz-PowerPC-604-Prozessor Kurzwort-Paradigma zum Basislexem PC, Omnipräsenzphase, Parlamentskorpus Kurzwort-Paradigma zum Basislexem PC, Omnipräsenzphase, Pressekorpus Technologie-Wortfamilie zum Basislexem Information, Omnipräsenzphase Parlamentskorpus Computertechnologie und Diskursentwicklung (Überblick)

324 344 345 353 354 355 357 361 362 363 364 372 373 378 382 386 388 391 394 395 398 405 410 411 412 413 414 416 416 417 418 420 420 421 361 427

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Diskurslexikologie und Computerdiskurs: Fragestellung und Untersuchungsziele

Die Leitfrage dieser Untersuchung lautet: „Wie ist die Computertechnologie als Leittechnologie der Gegenwart gemeinsprachlich diskursiv verarbeitet worden und welche sprachwissenschaftliche Konzeption ermöglicht es, diesen sprach- und diskursgeschichtlichen Prozess so zu analysieren, dass insbesondere die sprachliche Arbeitsteilung zwischen Experten und Laien als diskurskonstitutive Dimension sichtbar wird?" Öffentlicher Computerdiskurs, Wortschatzvertikalität und Sprachgeschichte: Die Informations- und Kommunikationstechnologie prägt unsere Kultur, ihr Wortschatz durchzieht unsere Sprache und durchdringt zahlreiche Diskurse. Vom Arbeitsplatz- bis zum Zentralcomputer, allenthalben umgeben uns Rechner, wirken in unserem Alltag, unsichtbar oder sichtbar: jedenfalls aber selbstverständlich. Die Informatisierung von Kommunikation und öffentlichen Diskursen ist in vollem Gange und ist zu einer der auffallendsten Erscheinungen der jüngsten Sprach- und Wortschatzgeschichte geworden. In jedem zweiten deutschen Privathaushalt steht Anfang des Jahres 2000 ein Vertreter der jungen Schlüsseltechnologie,1 ein Computer eben. Da überrascht es wenig, dass neue Medien überall die traditionellen Medien durchdringen und der Wortschatz des Computerdiskurses, des Sprechens über den Computer, zahlreiche technologiespezifische Wortbildungen, Entlehnungen, Metaphern und Metonymien in die Gemeinsprache einbringt2 und sie zu neuen Wortfamilien zusammenbildet. Der sprachliche Befund ist Ausdruck einer grundlegenden Veränderung des Wissenshaushaltes der Gesellschaft, er wird durch die schnelle Entwicklung der Computertechnologie gleich mehrfach technologischen Transformationen unterworfen. • Wissen kann mit großer Schnelligkeit ausgetauscht werden, räumliche Entfernungen spielen dabei kaum mehr eine Rolle. • Wissenskonzepte, Wissensorganisation und Speichertechnologien werden aufeinander abgestimmt.

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Dies zeigt die Haushalts- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes. Vgl. die jeweils aktualisierten Angaben auf der Homepage des Statistischen Bundesamtes unter http://www.destatis.de. Vgl. Busch (2004, 2003), Wichter (1999b: 268-274, 1998, 1992, 1991), die lexikalische Bestandsaufnahme in Busch/Wichter (Hg.) (2000) sowie die Einzelstudien zur Metaphorik in Busch (2000/a, b). Die fachinterne Metaphorik des Faches Informatik beschreibt der Informatiker Carsten Busch in Busch, C. (1998). Grote (2002) analysiert die Rolle der Fachübersetzung im Internetwortschatz.

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Hybride Medien ermöglichen die Nutzung der Vorteile von Display-, Speicher- und Prozessortechnologie bei der Multimediaverarbeitung und Darstellung von Wissen. • Multimediatechnologie ermöglicht eine optimale Ausrichtung der elektronischen Medien auf Perzeption und Kognition. • Der Computer ist zur universalen Wissens- und Kommunikationsmaschine geworden. Diese Informatisierung des Wissens hat Jean François Lyotard bereits vor über 20 Jahren als geradezu epochal wirkendes Movens für den Zustand und die zu erwartenden Veränderungen postmodernen Wissens hervorgehoben: [Das Wissen] ist davon in seinen beiden hauptsächlichen Funktionen betroffen oder wird es werden: in der Forschung und in der Übermittlung der Erkenntnisse. [...] Man kann vernünftigerweise annehmen, daß die Vervielfachung der Informationsmaschinen die Zirkulation der Erkenntnisse ebenso betrifft und betreffen wird, wie die Entwicklung der Verkehrsmittel zuerst den Menschen (Transport) und in der Folge die Klänge und Bilder (Medien) betroffen hat. (Lyotard 1999/1979: 22)

Heute muss man konzedieren, dass sich Lyotards Prophezeiung bewahrheitet hat. Der Computer ist zum universalen, ubiquitären und für viele unverzichtbaren Kommunikations- und Arbeitsgerät geworden. Es wird mit dem Computer kommuniziert und es wird allenthalben über den Computer kommuniziert, von Informatikexperten und -laien gleichermaßen. Damit ist der gemeinsprachliche Computerdiskurs zugleich ein fachexterner Diskurs. In ihm treffen nicht nur Wortschätze von Informatikexperten und -laien aufeinander, sondern auch deren zeitgebundene Vorstellungen, Einstellungen und Meinungen. Dies ist insbesondere in öffentlichen und massenmedial gestützten Technologiediskursen der Fall, die ein überaus breites und disperses Publikum finden. Für diesen unspezifischen Adressatenkreis muss das zu transportierende Technologiewissen popularisiert, also in laienverständliche Worte gekleidet werden. Von der vertikalen Lexikologie zu einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie: Die Auswirkungen des popularisierten Technologiegutes Computer auf Diskurse, Diskurswortschätze und den Transfer von fachlich gebundenem Bedeutungswissen in die Gesellschaft sind beträchtlich.3 Die sprachliche Verarbeitung der Computer-, Informations- und Kommunikationstechnologien hat eine erhebliche Ausweitung des gemeinsprachlichen Wortschatzes bewirkt und wichtige Wandlungsprozesse in der deutschen Gegenwartssprache angestoßen.4 Der massenmedial geführte Diskurs ist zum Träger des lexi" 4

Zum Transfer von Bedeutungswissen im Rahmen der gesellschaftlichen Kommunikation vgl. Wichter (2003, 2001/a,b, 1999 a,b,c, 1997, 1994). In dieser Untersuchung werden unter dem Oberbegriff Computertechnologie sowohl die älteren Technologiebezeichnungen aus dem Nominationsfeld EDV bzw.

3 kaiischen Wandels geworden. Hier zeigt sich die sprachgeschichtliche Relevanz von Diskursen, die zur Ausbildung eines neuen Paradigmas einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung geführt hat, dessen Perspektive Cherubim (1998) umreißt: Im Zentrum pragmatischer Sprachgeschichte steht immer die Frage nach den Möglichkeiten und der Praxis sprachgebundenen sozialen Handelns unter bestimmten historischen Bedingungen. (Cherubim 1998: 544)

Diese Perspektive weist den Weg zu einer diskursgeschichtlichen Betrachtungsweise, die eine „definierte diskursive Praxis"5 gesellschaftlicher Kommunikation und Wissensproduktion und letztlich „Sprachgeschichte als Kulturgeschichte"6 untersucht. Vor diesem Hintergrund hat der Computerdiskurs, aufgefasst als gesellschaftliches Sprechen über die Computertechnologie, zwei Erscheinungsformen: Zum einen werden eigene fachexterne Diskurse eröffnet, in denen die Computertechnologie sui generis thematisiert wird, zum andern durchzieht der Computerdiskurs zahlreiche andere Diskurse als Subdiskurs. Besonders deutlich wird dies bei der Anwendung der Technologie in verschiedenen Domänen, in denen der Computer etwa als Arbeitsmittel für bestimmte Aufgaben verwendet und nur im Hinblick auf seine Effektivität und Effizienz bei der Aufgabenerfüllung bewertet wird. Für den Wortschatz solcher fachexterner Diskurse ist eine vertikale Differenzierung zwischen fachsprachlichen und gemeinsprachlichen Signifikanten- und Bedeutungsfeldern charakteristisch. Damit die Fachwörter und Fachkonzepte in öffentlichen Diskursen verwendet und verstanden werden können, müssen sie für ein informatisches Laienpublikum - und das ist der weit überwiegende Teil der Gesellschaft - verständlich gemacht werden. Die Wortbedeutungen werden im Zuge ihrer massenmedialen Popularisierung stark verändert, mit positiven und negativen Leitbildern zur Computertechnologie angereichert und im Verlauf des Diskurses in den Medien wieter modifiziert. Für die gesellschaftlich vertikal differenzierte Wahrnehmung einer Technologie ist der massenmediale Diskurs besonders bedeutend, denn „die Massenmedien sind Bestandteil der Brille geworden, durch die hindurch wir die Wirklichkeit [...] betrachten".7 Im Verlauf solcher gemeinsprachlicher Lexikalisierungsverläufe entwickelt sich sukzessiv eine Variation und Stereotypisierung des Technologie-

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elektronische Datenverarbeitung als auch die seit der Publikumsphase des Computerdiskurses belegte technologiebezeichnende Paarformel Informations- und Kommunikationstechnologie und ihre Varianten subsumiert. Foucault (1997 AW: 260). Gardt/Haß-Zumkehr/Roelcke (1999). Meyer (2001: 8).

4 Wortschatzes, die als Spanne zwischen Experten- und Laienwortschatz fassbar wird. So sind im öffentlichen Diskurs Experten und Laien zwar kommunikativ aufeinander verwiesen, die Wörter, die sie verwenden, und besonders die Wortfamilien, zu denen diese sich gruppieren, unterscheiden sich jedoch in dem Maße voneinander, wie Experten und Laien über unterschiedliches Bezeichnungs- und Bedeutungswissen zum Diskursgegenstand verfügen. Diese Untersuchung verfolgt drei Ziele. • Ein empirisch-sprachgeschichtliches Untersuchungsziel: Die vertikale Variation zwischen Experten- und Laienwortschätzen im Computerdiskurs und ihre diskursive Genese im Verlauf der letzten 40 Jahre sollen untersucht werden. • Ein methodologisches Untersuchungsziel: Die Erreichung des sprachgeschichtlichen Ziels erfordert eine spezifische lexikologische Konzeption. In deren Rahmen muss, theoretisch gesichert, der Diskurs als sprachliche Bezugsebene aufgefasst werden. Weiterhin muss diese Konzeption, methodologisch gesichert, die Untersuchung der Verwendung, Popularisierung und Umdeutung des fachexternen Computerwortschatzes ermöglichen. • Ein theoriebezogenes Untersuchungsziel: Die beiden vorgenannten Ziele müssen theoretisch fundiert werden. Dazu muss die Grundlagenkonzeption einer vertikalen Lexikologie8 durch Weiterfuhrungen in Theorie und Methodologie zu einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie ausgebaut werden. Zur Einlösung des theoriebezogenen Untersuchungsziels muss die lexikologische Vertikalitätstheorie diskurstheoretisch eingeordnet werden. Zu diesem Zweck muss die Kompatibilität von lexikologischer Vertikalitätstheorie und linguistisch bedeutsamen Diskurstheorien erwiesen und die diskurslexikologische Relevanz der aus Vertikalitäts- und Diskurstheorie abgeleiteten Dimensionen Diskursprogression, Diskurspersuasion und Diskursvertikalität unter Beweis gestellt werden. Das theoretisch methodologische Untersuchungsziel wird durch die Entwicklung einer korpuslinguistisch basierten Methodologie umgesetzt, die es ermöglicht, • ein adäquates Diskurskorpus aufzubauen und auszuwerten, ohne dabei die Gütekriterien Validität, Réhabilitât und Generalisierbarkeit zu vernachlässigen, • die Geschichte eines Diskurses zu untersuchen, d. h. die thematische Progression, die Progression des Diskurswortschatzes und die Entwicklung zentraler persuasiver Muster nachzuzeichnen,

Vgl. dazu grundlegend Wichter (1994).

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den technologiebezogenen Diskurswortschatz im Sinne einer Bestandsaufnahme zu erfassen und zu quantifizieren und • die Wortschatzdifferenzen zwischen Experten und Laien im Verlauf von öffentlichen massenmedial gestützten Diskursen zu untersuchen. Erst auf dieser Grundlage kann das sprachgeschichtliche Untersuchungsziel umgesetzt und die Sprach- und Thematisierungsgeschichte des öffentlichen, fachexternen Computerdiskurses im Deutschen Bundestag und in der populären Presse untersucht werden. Dabei richtet sich vor dem Hintergrund des bisher Dargestellten das sprach- und diskursgeschichtliche Interesse auf drei Dimensionen, deren Relevanz in diesem Zusammenhang eine detaillierte diskurstheoretische Einordnung der Vertikalitätstheorie erweisen muss. Dabei handelt es sich um: • die thematische Diskursprogression im Verlauf von rund 40 Jahren Technologieentwicklung (z. B. von Datenschutz bis Informationsgesellschaft), • Elemente der Diskurspersuasion, insbesondere Machbarkeits-, Wunschoder Befurchtungsprojektionen im Rahmen von Technologiebildern, die im Diskurs als Topoi etabliert werden (z. B. der Computer als „Jobkiller"), • das wortschatzbasierte Phänomen der Diskursvertikalität im Diskurswortschatz: d. h. die Ausdrucks- und Inhaltsseite diskursiver Wortfamilien und ihre Vertikalität (Ausdrucksvertikalität und Inhaltsvertikalität). Langlebige öffentliche Textsorten als Untersuchungsgrundlage: Eine Analyse der Wortschatzentwicklung des öffentlichen Computerdiskurses von seinen Anfangen in den 1960er Jahren bis zum Jahr 2000 benötigt eine breite Datengrundlage mit sprach- und diskursgeschichtlicher Aussagekraft. Dazu ist es notwendig, diese Untersuchung auf besonders langlebige öffentliche Textsorten mit überregionaler Verbreitung zu stützen. Deshalb wird der Computerdiskurs der letzten 35 Jahre in parlamentarischen Textsorten untersucht und mit der Wortschatzentwicklung im populären Magazin STERN verglichen. Flankierend wird die lexikalische Entwicklung in den online zugänglichen IDS-Korpora und punktuell im Korpus des Leipziger Unternehmens „Deutscher Wortschatz" beleuchtet. 9 Der Computerdiskurs im deutschen Parlament spiegelt den gesellschaftlichen und sprachlichen Umgang mit der Informationstechnologie seit Beginn 9

Besonders interessant als Hintergrund für die Untersuchung des Diskurswortschatzes im STERN und im Parlament sind dabei das Bonner Zeitungskorpus, das zum Auswertungszeitpunkt 10.840 Texte aus den Zeitschriften „Die Welt" und „Neues Deutschland" und damit ca. 3,1 Millionen laufende Wortformen in Querschnitten der Jahre 1949, 1954, 1959, 1964, 1969 und 1974 enthält, und das MannheimerMorgen-Korpus, das für die Jahre 1989, 1991, 1994-2001 insgesamt 360.546 Zeitungsartikel mit ca. 84 Millionen Wortformen enthält. (http://www.ids-mannheim.de/kt/corpora.html). Zum Leipziger Projekt Wortschatz vgl. Quasthoff, Uwe (1998) und die Recherchemöglichkeit unter http://www.wortschatz.uni-leipzig.de/

6 der 1960er Jahre. Im Korpus ist er durch 136 Parlamentsreden mit thematischem Bezug zur Computertechnologie repräsentiert. Der zugehörige Technologiewortschatz wird im öffentlichen parlamentarischen Diskurs transportiert, popularisiert und modifiziert, und er zeigt im Kosmos der parlamentarischen Auseinandersetzung die Vielfalt sozialer Bewertungen und Technologiebilder. Zwischen der ersten parlamentarischen Erwähnung der Computertechnologie durch den Abgeordneten Dr. Rinderspächer im Jahre 1963 und den ausführlichen Debatten in der zweiten Hälfte der 90er Jahre zu Informationsgesellschaft, Internet und Multimedia liegt ein weiter Weg und eine umfangreiche Expansion des zugehörigen Wortschatzes. Der Computerdiskurs im STERN (repräsentiert durch 216 thematische Artikel) eignet sich für eine Analyse der Entwicklung des Laienwortschatzes in besonderer Weise, weil der STERN als eine der langlebigsten Zeitschriften Deutschlands einerseits im Stil einer Illustrierten auf das Unterhaltungsbedürfhis eines breiten Laienpublikums zielt, andererseits seinen Charakter „seit 1960 von einer primär Unterhaltungsstoff bietenden zu einer politischen Zeitschrift fast im Stile eines Magazins" 10 gewandelt hat. Nicht nur wegen dieser Mischung aus Unterhaltung und politischer Themenwahl bietet der STERN mit Blick auf die Popularisierung technologischen Wortschatzes ein besonderes Potenzial, sondern auch weil er trotz seiner Verankerung im Unterhaltungssegment über lange Strecken zu den „Leitmedien in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands gezählt werden kann". 11 Damit liegen Adressierungen und Wirkungen des 1948 gegründeten STERN bei höherer Auflage phasenweise durchaus im Umfeld des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL (Gründung 1949) und von Wochenzeitungen, insbesondere DIE ZEIT (Gründung 1946), die, anders als der STERN, primär auf Hintergrundinformationen und Meinungsbildung abzielen. Konkurrierende Diskursbegriffe: Eine Untersuchung, die einen sprachgeschichtlichen und vertikalitätstheoretisch spezifizierten Diskursbegriff verwendet,12 steht in einem Feld konkurrierender Diskursauffassungen, die schlaglichtartig beleuchtet werden sollen. Die Spanne reicht von einem gemeinsprachlichen Diskursbegriff über den von Jürgen Habermas etablierten philosophischen Diskursbegriff bis zum stärker sozialwissenschaftlich ausgerichteten Diskursbegriff Michel Foucaults und der großen Zahl sprachwissenschaftlicher Operationalisierungen und Weiterfuhrungen seines Ansatzes.

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Wilke (1999/b: 321). Wilke (1999/b: 321). Der im Folgenden verwendete Diskursbegriff einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie wird in Kapitel 2 fixiert und mit der Vertikalitätstheorie verbunden.

7 Der gemeinsprachliche Diskursbegriff ist polysem, das schlägt sich im Wörterbucheintrag des zehnbändigen GWDS deutlich nieder: Dis|kurs, der; -es, -e [lat. discursus = das Sich-Ergehen über etw., das Umherlaufen] (bildungsspr.): 1. methodisch aufgebaute Abhandlung über ein bestimmtes [wissenschaftliches] Thema. 2. [lebhafte] Erörterung; Diskussion: einen D. mit jmdm. haben, führen; es gab einen heftigen D.; das letzte erregte Stück des -es auf der Brücke war nicht ungehört geblieben (Fallada, Herr 64); Sie ... gedachte der beiden Kaffeetassen, die ... bei einem solchen D. zertrümmert worden waren (Fussenegger, Haus 172). 3. (Sprachw.) von einem Sprachteilhaber auf der Basis seiner sprachlichen Kompetenz tatsächlich realisierte sprachliche Äußerungen. (GWDS 2000)

In der konkreten gemeinsprachlichen Kommunikation muss demnach der polyseme Gehalt des Sprachzeichens Diskurs immer erst kontextuell disambiguiert werden, wenn die Gesprächspartner über dasselbe Konzept sprechen wollen. Für Habermas dagegen ist ein Diskurs eine idealtypische Form einer rationalen und herrschaftsfreien Kommunikation zwischen aufgeklärten und gleichberechtigten Partnern, die den „implizit erhobenen Geltungsansprüchen der Wahrheit, Richtigkeit, Angemessenheit und Verständlichkeit (bzw. Wohlgeformtheit)"13 genügen muss und die auf Konsensbildung gerichtet ist: Von Diskursen will ich nur dann sprechen, wenn der Sinn des problematisierten Geltungsanspruches die Teilnehmer konzeptuell zu der Unterstellung nötigt, dass grundsätzlich ein rational motiviertes Einverständnis erzielt werden könnte. (Habermas 1981/1999: 71)

In Habermas' Diskurstheorie ist die Frage der wissensmäßigen Experten-Laien-Strukturierung diskursiv organisierter Gesellschaftskommunikation nur am Rande, in seiner Vorstellung von der „intuitiven Kenntnis der Lebenswelt",14 angelegt. Das lebensweltliche Wissen der Kommunizierenden gilt ihm als Kommunikationshintergrund und Korrektiv, das als „intersubjektiv geteiltes Hintergrundwissen"15 verhindert, dass der Diskursbegriff und die auf ihm fußende Gesellschaftstheorie „auf fundamentalistische Abwege" 16 geraten kann: Dem Theoretiker ist die Lebenswelt, wie dem Laien, zunächst als seine eigene Lebenswelt, und zwar auf paradoxe Weise »gegeben«. [...] Das Horizontwissen, das 13

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Habermas (1981/1999: 66). Zu Habermas' Diskursbegriff und Diskursethik vgl. besonders Habermas (1999: 25-71, 1984: 177-178) und die Einführung von Horster (1999) sowie Schöttler (1999) und Lumer (1997). Die Rolle der Sprache in der Theorie Habermas' beleuchtet Greve (1999). Habermas (1981/1999: 589). Habermas (1981/1999: 32). Habermas (1981/1999: 589).

8 die kommunikative Alltagspraxis unausgesprochen trägt, ist paradigmatisch für die Gewissheit, mit der der lebensweltliche Horizont präsent ist [...]. Was außerhalb jedes Zweifels steht, erscheint eben so, als könne es niemals problematisch werden. [...] Erst ein Erdbeben macht uns darauf aufmerksam, daß wir den Boden, auf dem wir täglich stehen, für unerschütterlich gehalten haben. (Habermas 1981/1999: 589, Kursivdruck im Original)

Ein solches „Hintergrundwissen [...], über das niemand willkürlich verfügen kann", 17 bildet nach Habermas' Vorstellung ein gemeinsames, kulturell gefestigtes Fundament eines Diskurses. Auf dieser Grundlage „grenzen die Angehörigen einer Kommunikationsgemeinschaft die eine objektive Welt und ihre intersubjektiv geteilte soziale Welt gegen die subjektiven Welten von Einzelnen und (anderen) Kollektiven ab".18 Diese Auffassung von der intersubjektiven Verfügbarkeit und Identität diskursiven Hintergrundwissens kann allerdings auf zahlreiche empirische Fragen des kommunikativen Miteinanders von Experten und Laien im Diskurs nicht per se übertragen werden. Spätestens an dem Punkt, wo - um im Beispiel zu bleiben - die Bodenerschütterungen durch das Erdbeben erklärt werden müssen, stehen neben dem tektonischen Expertenwissen die „subjektiven Welten" 19 der Laienstereotype als kommunikativ eigenständige Entitäten. Dieses Nebeneinander von Experten- und Laienperspektivik ist für diskursive Kommunikation charakteristisch. Ein gesichertes gesellschaftliches Grundwissen kann daher nicht bedingungslos vorausgesetzt werden. Dies illustriert nicht zuletzt die im folgenden Kapitel näher diskutierte AllensbachUmfrage, die offenbart, dass im Jahre 2000 beinahe jeder sechste Bundesbürger glaubt, die Sonne drehe sich um die Erde.20 Stärker als Habermas' „auf die Theorie des kommunikativen Handelns gestützte Gesellschaftstheorie"21 ist für die empirische Sprachwissenschaft und Sprachgeschichte die Diskurskonzeption Michel Foucaults fruchtbar geworden, in deren Rahmen Diskurse aufgefasst werden als eine gesellschaftliche Praxis und „eine Menge von Aussagen [...], insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören".22 Sie hat (bei übergreifender Anwendung des Kriteriums der Thematizität) zur Ausbildung verschieden akzentuierter sprachwissenschaftlicher Diskursbegriffe geführt, von denen an dieser Stelle le-

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Habermas (1981/1999: 589). Habermas (1981/1999: 107). Habermas (1981/1999: 107). Vgl. Allensbach (2000). Habermas (1981/1999: 589). Foucault 1997 AW: 170. Im folgenden Kapitel 3 wird Foucaults Theorie ausfuhrlicher diskutiert und die lexikologische Vertikalitätstheorie auf ihre Kompatibilität mit Foucaults Konzept hin überprüft. Deshalb wird sie hier nicht detaillierter dargestellt.

9 diglich einige kursorisch aufgezählt werden sollen, um zu anzudeuten, wie breit das angeregte Spektrum - neben der Auffassung vom Diskurs als Form mündlicher Kommunikation - ist.23 • Diskurs = Gesellschaftsgespräch: Ein Diskurs ist ein „Gesellschaftsgespräch", das gebunden an „Diskursräume"24 stattfindet. Solche Diskurse als „thematisch gebundene Textmengen"25 sind „vertikal strukturiert, stattfindend also zwischen Teilnehmern mit unterschiedlichem Wissen und unterschiedlicher Sprachkompetenz."26 • Diskurs = Menge von Aussagen: „'Diskurs' ist eine verknüpfte Menge von Aussage-Einheiten mehrerer Sprecher zum gleichen Thema, die eine erkennbare zeitgeschichtliche Entwicklung aufweisen und die in der Regel über Text- oder Textstückkorpora zugänglich werden."27 • Diskurs = Menge von Texten: „Diskurs heißt hier (im Unterschied zum Diskursbegriff der Gesprächsanalyse) eine Menge von Texten, die unter dem Aspekt einer gemeinsamen Einordnungsinstanz - eines gemeinsamen globalen Themas - aufeinander bezogen sind".28 • Diskurs = virtuelles Textkorpus: „Unter Diskursen verstehen wir im forschungspraktischen Sinn virtuelle Textkorpora, deren Zusammensetzung im weitesten Sinne durch inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien bestimmt wird".29 • Diskurs = sozial geformte Wissensentwicklung: Diskurs als „Fluß von Wissen durch die Zeit".30 • Diskurs = soziale Praxis: „Critical Discourse Analysis sees discourse, language use in speech and writing, as a form of'social practice' [...] That is discourse is socially constituted as well as socially conditioned".31 • Diskurs = offene Textmenge: also eine prinzipiell „offene Menge thematisch zusammengehöriger und aufeinander bezogener Texte".32 23

Die Konzeptionen von Michel Foucault, Jürgen Link, Siegfried Jäger, Dietrich Busse und Matthias Jung werden im Rahmen der folgenden diskurstheoretischen Einordnung der lexikologischen Vertikalitätstheorie detaillierter besprochen. Zu sprachwissenschaftlichen Diskurskonzeptionen generell vgl. die Diskussion bei Wengeler (2003: 137-171), Busse (2003), Warnke (2002), Bluhm (2000), Jung (2000), Titscher u. a. (1998: 4 3 - 4 5 ) , Schüttler (1997), Boke (1996: 4 3 2 - 4 3 7 ) und Bentele/ Riehl (1993: 3 2 - 3 5 ) .

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Wichter (1999/b: 276 und 2003: 68). Wichter (1999/b: 276). Wichter (1999/b: 276). Jung (2000: 34). Fraas (1996: 4). Busse/Teubert (1994: 14). Jäger (2000: 35) auch (Jäger 1999/2000). Wodak (1996: 5). Adamzik (2001: 315).

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Diskurs = transtextuelle Strukur: Diskurse sind "transtextuelle Strukturen" 33 und können als „die Gesamtheit der Texte verstanden werden, die über gleiches bis Ähnliches sprechen/schreiben".34 Linguistische Merkmale von Diskursen sind: „textübergreifende Extension", „vorrangig literale Manifestation", dialogische Kommunikationsrichtung" sowie „sukzessive Erzeugung" und „prozessuale Existenz".35 Diskurs = Zeitgespräch: Wengeler (2003) fuhrt ein Analysesystem mit dem Ziel vor, ,JDiskurse als 'Zeitgespräche' über ein Thema zu untersuchen, und dabei bewusstseins- und mentalitätsgeschichtlich aussagefähige Ergebnisse zu erzielen".36 Diskurs = Menge sprachlicher Transferhandlungen: D. h. Diskurse sind mündliche und schriftliche sprachliche „Handlungen in Form von Äußerungen, die zueinander in semantischer Relation stehen, indem sie sich auf ein Thema beziehen. [...] Eine zentrale Rolle spielt dabei der Aspekt des Transfers von Wissen, der mit jeder sprachlichen Handlung einher geht.37 Diskurs = Vertikalitätsraum: D. h., ein Diskurs ist ein thematisch fixierter öffentlicher Kommunikations- und Wissensraum. Konstituiert wird er durch mehrfachadressierte sprachliche Diskurshandlungen in Textform, die sich auf denselben Diskursgegenstand (Thema) beziehen und deren Gesamtheit vertikal (im Sinne einer Experten-Laien-Formierung) organisiert ist. Diese Auffassung wird in der vorliegenden Untersuchung vertreten und begründet.

Warnke (2002: 9). Warnke (2002: 10). Warnke (2002: 10). Wengeler (2003: 515, Kursivdruck im Original). Stenschke (i. Dr.: 21).

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Grundbegriffe einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie: Die Wortschatzvariation zwischen Experten und Laien in öffentlichen Diskursen als Untersuchungsgegenstand

2.1

Öffentliche, massenmediale Diskurse als Kommunikationsraum von Experten und Laien

Öffentliche und massenmedial geführte Diskurse bilden den prominentesten Raum für die Kommunikation zwischen Experten und Laien und damit für die Konfrontation partiell inkompatibler Experten- und Laienwortschätze. Diese Ausdifferenzierung von Diskurswortschatz in Experten- und Laienlexik (Wortschatzvertikalität) ist Ausdruck einer kommunikativen gesellschaftlichen Praxis, die alle Lebens- und Alltagsbereiche durchzieht und zu den grundlegenden Kommunikationsprinzipien einer medial geprägten, arbeitsteiligen Gesellschaft zählt. Dies zeigen insbesondere die Ergebnisse einer Lexikologie der Vertikalität.1 Das Konzept der Diskursvertikalität ist aus den Erkenntnissen der Lexikologie der Vertikalität abgeleitet und stützt sich damit auf die aus der Fachsprachenlinguistik stammende Konzeption von der Vertikalität. Sie überträgt das Konzept auf das Untersuchungsfeld der öffentlichen Diskurse. Das terminologische Konzept der Vertikalität geht zurück auf die fachsprachenlinguistische Dichotomie von fachlicher Horizontalität vs. Vertikalität. Danach wird mit Vertikalität ursprünglich die sprachliche Variation zwischen Experten und Laien eines Faches bezeichnet, der das Nebeneinander der Fächer und Fachsprachen als Konzept fachlicher Horizontalität gegenüber steht.2 Der kommunikative Austausch zwischen Experten und Laien reicht durch die Entwicklung der massenmedialen Möglichkeiten jedoch immer weiter über die Grenzen der Fächer und Fachsprachen hinaus, sodass die Kommuni'

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Zur vertikalen Lexikologie in verschiedenen Domänen vgl. grundlegend Wichter (1999/a, 1994) und die domänenspezifischen Untersuchungen von Busch/Wichter (Hg.) (2000), Busch (1999), Faber (1998), Schimpf (1997), Beile (1997), TerglaneFuhrer (1996), Busch (1994), Schräder (1991) und Wächter (1991). Zum fachsprachenlinguistischen Konzept der Vertikalität vgl. besonders Hoffmann (1985), von Hahn (1983), Drozd/Seibicke (1973), Ischreyt (1965) und die Diskussion der Grundtypen fachsprachlicher Vertikalitätsmodelle bei Wichter (1994: 9 27). Zu Vertikalitätsmodellen der medizinischen Fachsprachen vgl. Busch (1994: 42-47).

12 kationspraxis der vertikalen Wissens- und Wortschatzteilung ihren wohl bedeutendsten gemeinsprachlichen Ort im öffentlichen, massenmedialen Diskurs hat, in dem Experten und Laien verschiedener Wissensniveaus über einen Diskursgegenstand kommunizieren. Dies setzt die Untersuchung der Diskursvertikalität auf die sprachwissenschaftliche Tagesordnung,3 denn Experten und Laien verwenden zwar signifikantgleiche Lexik in der sprachlichen Auseinandersetzung mit den jeweiligen Diskursgegenständen, seien dies nun die Computertechnologie, Gesundheit und Krankheit, Orthografiereform oder andere, aber die zugeordneten Wortbedeutungen können von Fach- und Terminologiewissen ebenso gespeist sein wie von fachfremdem Wissen und Laienstereotypen. Deshalb ist es für eine adäquate Erfassung der sprachlichen Phänomene (insbesondere der diskursiven Wortfamilien, der Wortschatzabdeckung von Diskursphasen und persuasiver Topoi) unerlässlich, auch die Diskursvertikalität, also die vertikale Spanne zwischen Experten und Laienwortschätzen im Diskurs, über den rein fachsprachenlinguistischen Untersuchungsansatz hinausgehend zu untersuchen und ihre Rolle in öffentlichen, massenmedial geführten Diskursen zu analysieren. Ein öffentlicher Diskurs als eine Entität der gesellschaftlichen Kommunikation, in der Experten-Laien-Kommunikation stattfindet, wird in dieser Untersuchung wie folgt aufgefasst:4 Ein Diskurs ist ein thematisch definierter öffentlicher Kommunikationsund Wissensraum. Konstituiert wird er durch mehrfachadressierte sprachliche Diskurshandlungen (meist in Textform), die sich auf denselben Diskursgegenstand (Thema) beziehen. Ihre Gesamtheit ist vertikal (im Sinne einer Experten-Laien-Formierung) organisiert.

Die Definition macht auch deutlich, dass zwar das Vertikalitätskonzept hier als diskurskonstituierendes Prinzip angesehen wird, nicht aber das Konzept fachlicher Horizontalität, das fachsprachliche Pendant der Vertikalität. Hintergrund dafür ist der Fachlichkeitsschwund bzw. die Entfachlichung im Diskurs. Das bedeutet, dass im Gesamtdiskurs und über die vertikale Spanne verschiedener Wissensniveaus hinweg eine Auflösung der Horizontalität durch das Schwinden der Fachlichkeit zu beobachten ist, denn der Grad der Fachlichkeit im Diskurs hängt von der vertikalen Niveauabstufung ab. Wäh3 4

Vgl. Wichter (2001/a, b, 1999/a, b, 1995, 1994) und Busch (1999). Diese Bestimmung knüpft an die Überlegungen zur Definition eines sprachwissenschaftlichen Diskursbegriffes bei Jung/Niehr/Böke (2000: 10), Busch (1999) und Busse/Teubert (1994: 14) an. Die Genese eines sprachwissenschaftlichen Diskursbgriffes ist im Rahmen der diskurstheoretischen Einordnung der Vertikalitätskonepion in Kapitel 3 ausfuhrlich nachvollzogen.

13 rend auf den Expertenniveaus eines Diskurses eine horizontale Ausdifferenzierung in Fächer und Fachwortschätze durchaus beschreibbar und gültig ist, verliert s i e - w e n n man sich auf der Experten-Laien-Skala dem Pol der Laienniveaus annähert - solange an Trennschärfe, bis die horizontale Fächergliederung von Wissen und Wortschätzen im öffentlichen, massenmedialen Diskurs kaum noch eine Rolle spielt. Die diskursiven Laienniveaus schließlich sind überhaupt nicht mehr nach Fächern differenzierbar. An die Stelle einer systematisierenden Horizontalität tritt daher im öffentlichen massenmedialen Diskurs der Diskursgegenstand als gemeinsamer Fokus, d. h. ein Thema oder Wissenskomplex, auf den sich Experten ggf. verschiedener Fächer und Laien in der Erörterung, Wissensakkumulation und Wissensanwendung beziehen. Dementsprechend heterogen ist das Spektrum der Wörter, mit denen auf den Diskursgegenstand rekurriert wird; Termini, Fachwörter, Laienbezeichnungen und Stereotypen stehen in (wegen der Kühnheit der Mischung) gelegentlich atemberaubender Gleichwertigkeit nebeneinander. Dieses diskursive Nebeneinander bei der Verwendung von Wörtern, die von verschiedenen Wissensebenen stammen, kann aus fachlicher Sicht oft falsch und irreführend sein. Das ändert allerdings nichts an ihrer kommunikativen Gültigkeit, also daran, dass am Diskurs beteiligte Laien die Gleichwertigkeit der im öffentlichen Diskurs verwendeten Wörter unterstellen und andere Gewichtungen der Gültigkeit vornehmen, als dies ggf. aus Expertensicht zulässig wäre. Unter diesen Bedingungen hat die für die Expertenniveaus gültige Horizontalität und Fachbezogenheit der Kommunikation auf den Laienniveaus eines Diskurses ihre Differenzierungskraft verloren. Ein Diskurs wird konstituiert durch sprachliche Diskurshandlungen, die sich auf einen Diskursgegenstand beziehen. Die sprachliche Erscheinungsform von Diskurshandlungen ist in aller Regel der Text. Eine sprachliche Diskurshandlung realisiert einen kommunikativen Zweck eines Diskursakteurs, ist in dessen Zielsystem verankert und in öffentlichen Diskursen durch Mehrfachadressierung gekennzeichnet. Die Texte, die einen Diskurs konstituieren, stehen in einem intertextuellen, thematischen und wissensmäßigen Zusammenhang.5 Ein Diskurswortschatz ist derjenige Teilwortschatz eines Diskurses, der auf gemeinsprachlichem Substrat zur Nomination spezifischer Diskursgegenstände verwendet wird. Im Computerdiskurs ist dies der technologiebezogene Wortschatz von Experten und Laien. Die wichtigsten Indikatoren für die vertikalen Wortschatzniveaus sind jeweils der Umfang und die Ordnung des Diskurswortschatzes. Die Bedeutungsunterschiede zwischen Experten- und

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Zur Rolle von Intertextualität im Diskurs vgl. Busch (1999), Fricke (1999: 130134) und die grundlegende Differenzierung in Busse/Teubert (1994).

14 Laienlexik werden an bestimmten Kernkonzepten und an der Ordnungsstruktur des Wortschatzes deutlich. Im Computerdiskurs ist etwa das Konzept von Computer ein solch grundlegendes Konzept, und in medizinbezogenen Diskursen sind es z. B. Konzepte von Gesundheit und Krankheit. Eine analytisch zugängliche, sprachliche Existenzform ist die von Schlüsselwörtern. Die Wortfamilien6 und -felder, die von solchen Schlüsselwörtern her motiviert werden, befinden sich im Kernbereich eines Diskurses. Diskursive Schlüsselwörter und diskursive Grundkonzepte als Bedeutungsseite dieser Diskurszeichen sind die Konstituenten der horizontalen und vertikalen Formierung von Diskursen, und ihre inhaltliche Beschaffenheit sowie die einem diskursiven Grundkonzept zugeordneten Signifikantenfelder und -familien sind wichtige Indikatoren für die Wortschatz- und Wissensdistribution im Diskurs. Die Untersuchung der durch die Dispersion in Experten- und Laienwortschätze entstehenden Variation innerhalb öffentlicher Diskurse (Diskursvertikalität) ist Aufgabe einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie. Sie verbindet die Analyseperspektiven von Diskursgeschichte und vertikaler Lexikologie, nimmt die Unterschiede zwischen Experten- und Laienwortschätzen in Diskursen in den Blick und macht auf der Grundlage entsprechender Diskurskorpora die Diskursvertikalität sichtbar.7 In der Forschungspraxis erfordert das eine Methodologie zur Analyse der thematischen und lexikalischen Diskursprogression, der Vertikalität des Wortschatzes und der Diskurspersuasion. Dazu bedarf eine vertikalitätstheoretische Diskurslexikologie einer methodologischen Konzeption, die es ermöglicht, in einem validen Repräsentations- und Datengewinnungsprozess (Korpusbildung) zu interpretationsreliablen und generalisierbaren Ergebnissen zu gelangen. Die wichtigste Grundlage der Untersuchung von Diskursen ist das Diskurskorpus; es besteht aus Texten, deren Zusammenstellung hinsichtlich Auswahlqualität und -quantität detailliert begründet werden muss, und die valide einen Ausschnitt eines Diskurses und dessen vertikale Formierung repräsentieren. Nur ein solches Diskurskorpus macht durch die Zusammenstellung der inkorporierten Texte die inhärenten Bedeutungs- und Bezeichnungsniveaus des Diskurswortschatzes, insbesondere der gegenstandsbezo6

7

Die lexikologische Konzeption von Wortfamilien wird in Kapitel 2.6.3 ausführlicher behandelt und in Kapitel 10 zur empirischen Beschreibung und Kontrastierung von Diskurswortschätzen von Experten und Laien im Computerdiskurs herangezogen. Zur Diskursgeschichte vgl. Jung (2000, 1996, 1994), Busse/Teubert (1994), Stötzel/Wengeler (1995) und Busse/Herrmanns/Teubert (1994). Jung (1994: 11) unterscheidet zwischen dem Beschreibungsinteresse einer Diskursgeschichte und dem anderer Perspektiven, „um den [...] Ansatz von reinen Wortschatzstudien, der Begriffsgeschichte bzw. der historischen Semantik abzugrenzen."

15 genen diskursiven Grundkonzepte - relativ zu einem Zeitraum - , einer reliablen Analyse zugänglich.8 Die vertikale Skalierung eines im Korpus abgebildeten Diskursausschnittes, der zu einer Bestimmung von Wortschatz- und Bedeutungsniveaus herangezogen wird, ist sehr differenziert und weist vielfältige Abstufungen auf. Forschungspraktisch ist diese Differenzierungsbreite ein Problem, da sie nicht adäquat mit all ihren Differenzierungsstufen abgebildet werden kann. Die vertikale Lexikologie hat jedoch gezeigt, dass die Konzentration auf die Extrempole der Skala einen guten Eindruck von der gesamten Niveaudifferenzierung zu geben vermag, wenn sie nicht als Ausdruck von Binarität aufgefasst wird. Die Extrempole dieser Skala sind wegen vielfaltiger Konnotationen mit Experte und Laie zwar unvollkommen benannt; ich werde in Anlehnung an Wichter (1994) dennoch diese Bezeichnungen verwenden, weil sie m. E. die Wissens- und Wortschatzvertikalität am deutlichsten markieren. Dabei fasse ich Experte und Laie generell als Sammelbezeichnungen für die Streuungsfelder um die Extrempole dieser Skala9 auf. Zwischen beiden Skalenendpunkten liegen im Diskurs vielfaltige Wissens- und Wortschatzniveaus. Zur sozialen Bewertung sei mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass wir alle nur in wenigen Bereichen Expertenstatus beanspruchen können und dagegen in zahlreichen Gebieten als Laien auf unterschiedlichen Wissensniveaus agieren. In öffentlich geführten Diskursen ist die Spannung zwischen Expertenund Laienwortschätzen besonders evident, denn öffentliche, massenmedial geführte und gelenkte Diskurse sind in einer Demokratie der wohl bedeutendste und umfassendste Kommunikationsraum, in dem umfangreiche Produzenten- und Rezipientenkreise miteinander kommunizieren, obgleich sie ggf. über sehr unterschiedliches Wissen zu einem Diskursgegenstand verfügen. Die Spanne der Diskursbeteiligten reicht dabei von einem dispersen Medienund Internetpublikum über Multiplikatoren und Moderatoren aus den Medienredaktionen bis zu den in ihren Fächern ausgewiesenen Experten. Einflussreiche Diskursbeteiligte sind außerdem politische Akteure, die z. B. auf Bundesebene als Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit Blick auf 8

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Michel Foucault hat in der Archäologie des Wissens „die Konstitution von kohärenten und homogenen Dokumentenkorpussen (offene oder geschlossene, endliche oder unbestimmte Korpusse)" (Foucault 1997 AW: 20) als zentrales methodologisches Problem benannt. Zu korpuslinguistischen Präzisierungen und den in dieser Arbeit angelegten Kriterien der Validität, Reliabilität und Generalisierbarkeit vgl. Kapitel 8 und 9. Den soziologischen Blick auf die Handlungsmuster von Experten und Laien beschreibt Hesse (1998). Zur psychologischen und pädagogischen Perspektive vgl. Schulz (1998).

16 einen Diskursgegenstand über sachadäquate Gesetzesrahmen streiten.10 Am Beispiel politischer Diskursakteure zeigt sich deutlich, wie vielfältig die Variationen von Expertentum im massenmedialen Diskurs sein können, und wie fragwürdig kurz eine Definition von Expertentum ausschließlich über die Fachzugehörigkeit greifen würde. Denn der Wissensfokus politischer Akteure ist nicht von den Fächern, sondern von den jeweiligen politischen Interessen her bestimmt. Als Interessenvertreter sind sie zwar Politikexperten, aber nicht zwingend Fachexperten in allen inhaltlichen Fragen. Ihre inhaltliche Expertise wird in den meisten Fällen über Politikberatung.11 (und nicht über Fachqualifikation oder grundständige Ausbildung) sichergestellt und im Lauf ihrer politischen und Abgeordnetentätigkeit sukzessiv entwickelt. Wie groß in der Praxis die Differenz zwischen der grundständigen Ausbildung von Abgeordneten und ihren Spezialgebieten in der Politik in vielen Fällen ist, zeigt ein kurzer Blick in das Bundestagshandbuch, in dem Abgeordnete u.a. mit wichtigen Abschnitten ihrer jeweiligen Berufsbiografie verzeichnet sind.12 Auch in weiteren publikumsnahen Alltagsformen und Medienformaten, von der Talkshow bis zum Wissenschaftsjournalismus, werden von verschiedenen Beteiligten unablässig Diskursbeiträge geleistet, in denen die Unterschiede zwischen Experten- und Laiensprache offen zutage treten. Bezieht man diese diskursiven Kommunikationsbeiträge in die Betrachtung der vertikalen Wissens- und Wortschatzvariation ein, so ist einmal mehr evident, dass die kommunikative Spannung zwischen Experten und Laien zwar ihren Ursprung in den fachsprachlich geprägten Domänen der einzelnen Fächer hat, ihre Auswirkungen aber oft weit über die Fächergrenzen hinaus in die Diskurse hinein reichen. Damit zeigt sich, dass neben den vergleichsweise eng begrenzten kommunikativen Feldern der Fächer selbst vorwiegend die öffentlichen fachexternen Diskurse der Kommunikationsraum sind, in denen Laien mit dem fachsprachlich kodierten Wissen von Experten konfrontiert werden.

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11

12

Einen Überblick über die Spezifik der Kommunikation politischer Akteure bietet Jarren/Sarcinelli/Saxer (1998); eine Zusammenschau wichtiger Forschungsergebnisse zur politischen Diskurskommunikation und zu politischen Textsorten wird in Kapitel 9 gegeben. Zur parlamentarischen Politikberatung im Deutschen Bundestag vgl. Petermann (1990) und Stelzer (1999) und zur Rolle von Ausschüssen bei der politischen, juristischen und inhaltlichen Bewertung von Gesetzentwürfen und Vorlagen vgl. Lemke-Müller (1996). Vgl. etwa für die 14. Legislaturperiode (Beginn Oktober 1998) das Loseblattwerk Deutscher Bundestag (1999/2) oder die Kurzform in Kürschners Volkshandbuch ( = Holzapfel 1999).

17

2.2

Öffentlichkeit als Bedingung für diskursive Kommunikation zwischen Experten und Laien

Öffentlichkeit ist die wichtigste Voraussetzung für die Existenz von Diskursen und die hier angesprochene Diskurskommunikation, die nicht auf speziell fachliche Kommunikationsgruppen oder spezifische Wissensmilieus beschränkt ist. Busse (1996) betont den diskurskonstituierenden Charakter: Diskurse, wie sie in der historischen Semantik oder jeglicher Semantik des öffentlichen Sprachgebrauchs untersucht werden, sind ohne diese Öffentlichkeit gar nicht denkbar. (Busse 1996: 347)

Öffentlichkeit, „das unsichtbare Wesen mit der großen Wirkung",13 ist die notwendige Konstituente der Diskurskommunikation, die auch für Laien zugänglich ist. Öffentliche Kommunikation ist gerade dadurch charakterisiert, dass sie offen ist, „für alle gesellschaftlichen Gruppen sowie für alle Themen und Meinungen von kollektiver Bedeutung".14 Das schließt ein, dass öffentlich geführte Diskurse in horizontaler Perspektive für Experten verschiedener Fächer ebenso offen sind wie - dies ist die vertikale Perspektive - für Laien verschiedener Niveaus. Weil diese Offenheit grundlegend für die Diskurskommunikation auf allen Ebenen des Sprachhandelns und des beteiligten kommunikativen Wissens gilt, kann auch einer Trennung von Akteuren und Publikum, wie sie etwa in der Metaphorik der folgenden, nur scheinbar präzisierenden Begriffsbestimmung von Öffentlichkeit angelegt ist, nicht zugestimmt werden. Öffentlichkeit ist ein im Prinzip frei zugängliches Kommunikationsforum für alle, die etwas mitteilen oder das was andere mitteilen, wahrnehmen wollen. In den A renen dieses Forums befinden sich die Öffentlichkeitsakteure, die zu bestimmten Themen Meinungen von sich geben oder weitertragen: Sprecher („Quellen") und Vermittler (Kommunikateure). Auf den Galerien versammelt sich eine mehr oder weniger große Zahl von Beobachtern: das Publikum. (Neidhardt 1998: 487)

Die postulierte klare Trennung zwischen Akteuren und passivem GaleriePublikum expliziert wohl in erster Linie die Vorstellung vom Agendasetting, sie trifft aber nicht generell auf die öffentliche Diskurskommunikation zu, sondern eher auf die Formung von Diskursen durch bestimmte Medien. Denn im Diskurs können ja einerseits die Beobachter als Rezipienten unmittelbar zu Diskursbeteiligten werden - je interaktiver ein Medium ist, desto einfacher ist der Zugang - und andererseits spielt das Publikum als Adressateninstanz der Diskursbeiträge eine wichtige Rolle. Die Beiträge von Akteuren in öffent13 14

Ernst (1996: 60). Neidhardt (1994: 8).

18 liehen Diskursen sind immer mehrfachadressiert, und dieses Merkmal prägt auch die Beschaffenheit und Produktion der Beiträge. An Neidhardts Metaphorik angelehnt, ließe sich pointieren: Das Publikum steigt von den Galerien herab und tritt in den Kommunikationsraum Diskurs ein. So entsteht erst das „relativ frei zugängliche [...] Kommunikationsfeld"15 als Handlungsraum, in dem Experten und Laien kommunikativ aufeinander verwiesen sind, wenn sie ihre Kommunikationsziele umsetzen wollen. Dabei können die kommunikativen Zwecke und Rezeptionsmodalitäten überaus unterschiedlich sein: Weder gibt es in der öffentlichen Kommunikation eine klare und stabile Stratifizierung nach kommunikativen Zwecken, noch existieren in der Öffentlichkeit der Massenkommunikation16 exklusive Diskurse für Experten (fachintern) und davon eindeutig abgegrenzte Laiendiskurse (fachextern). Öffentliche Diskurse sind in aller Regel fachtranszendierende Mischformen, in denen Experten und Laien verschiedener Niveaus und Fächer miteinander kommunizieren. Hierdurch wird aber die grundlegende Differenzierung zwischen fachinterner, fachtranszendierender und fachexterner Kommunikation im gesamten Kommunikationshaushalt einer Gesellschaft nicht aufgelöst.17 Nichtöffentlich finden nach wie vor exklusive Fachkommunikationen statt. Dabei handelt es sich um fachinterne Kommunikationen, die nicht öffentlich im Sinne eines frei zugänglichen Kommunikationsfeldes sind. Aufgrund der fachlichen Wissensbarriere sind sie für Nichtexperten nicht zugänglich und auf Domänenexperten begrenzt. Damit dieses Wissen in öffentliche Diskurse einfließen kann, muss es didaktisiert, in Gemeinsprache übersetzt und an Wissensbestände angebunden werden, die bei einer nichtfachlichen Öffentlichkeit vorausgesetzt werden können. Erst dieser Wissenstransfer ermöglicht die öffentliche Zugänglichkeit des Wissens und des Fachwortschatzes für Laien, und in seiner Folge entstehen die Wissens- und Wortschatzniveaus, die durch differente Wissensquantitäten und -qualitäten geprägt werden und im Diskurs aufeinander treffen. Die Experten- und Laiengruppen in Diskursen repräsentieren damit auch Strukturebenen einer dispersen Öffentlichkeit. 15

16

17

Neidhardt (1994: 7). Zu den verschiedenen Aspekten der Entstehung und Produktion von Öffentlichkeit vgl. Bentele/Rühl (1993), Gerhards (1994) und Wunden (1994). Zum Zusammenhang von Massenmedien, Öffentlichkeit und Demokratie vgl.: Beierwaltes (2000) und Neidhard (1998), Kaase (1998), Bentele/Haller (1997), Habermas (1992), zur Mediengeschichte: Wilke (1999/a), zum öffentlichen Wissenstransfer in Ratgeber-Mediensorten: Franke (1997), zum öffentlichen Sprachgebrauch vgl. Böke/Jung/Wengeler (1996) und Stötzel/Wengeler (1995) sowie Wells (1995). Den Zusammenhang von Bedeutungswandel, Diskurs und Öffentlichkeit umreißt Busse (1996). Zur Differenzierung von fachinterner, fachtranszendierender und fachexterner Kommunikation vgl. Busch (1994: 42^17).

19 2.3

Vertikale Polysemierung in disperser öffentlicher Kommunikation

Die Lexik in öffentlichen Diskursen ist, wie oben skizziert, besonders davon geprägt, dass sie in der Folge der Wissensdispersion einer vertikalen Polysemierung unterliegt. Wenn Experten und Laien verschiedener Wissensniveaus den Sprachzeichen unterschiedliche Bedeutungen zuordnen, werden in der öffentlichen Diskurskommunikation auch ggf. zahlreiche (aber nicht unendlich viele) Konzepte, die unterschiedlichen Bedeutungsniveaus angehören, aufeinander treffen. Diese vertikale Polysemierung ist bislang lexikografisch kaum erfasst. Indes hat Hausmann (1985) gefordert, das Laienwissen von Durchschnittssprechern auch lexikografisch zu repräsentieren. Er verdeutlicht den Hintergrund seiner Forderung am Beispiel des Wahrig-Wörterbuchartikels „Schaf: Schaf = Angehöriger einer Gruppe von Horntieren aus der Familie der Ziegenartigen. (Wahrig 1966) Die Wirklichkeitserfahrung des Durchschnittssprechers [...] verbindet mit dem Schaf mindestens noch sein (mehr oder weniger zotteliges) Fell, die daraus gewonnene Wolle, sein Blöken und nicht zuletzt die Konnotation von Dummheit, Gutmütigkeit und blindem Herdentrieb, die es zu einem Antipoden des Wolfs machen. Das alles sollte sich im Artikel Schaf wiederfinden. (Hausmann 1985: 374)

An diesem Beispiel wird deutlich, dass das Wissen, aus dem die unterschiedlichen Bedeutungsfelder gespeist sind, in seinem Status sehr variabel ist; es umfasst die Möglichkeit praktisch und theoretisch abgesicherten Wissens" ebenso wie von Einzelpraktiken bestimmtes ,flantierungswissen" oder „Unterhaltungswissen" und auch metonymisches und metaphorisches Surrogatwissen ".18 Wie umfangreich und ungeordnet das Wissensspektrum sein kann, aus dem Laienbedeutungen, die an einem Diskurs beteiligt sind, partiell gespeist werden, macht auch der Blick auf die Träger dieses Wissens deutlich. In massenmedialen Diskursen werden Laienbedeutungen über die gesamte Breite eines „dispersen Publikums" (Maletzke 1963: 28) hinweg generiert; die Wissensdispersion findet unter den Bedingungen einer Sprecherdispersion statt. Durch den Begriff des „dispersen Publikums" will Maletzke (1963: 28) die Konstituente Masse im Kompositum Massenkommunikation adäquat ersetzt sehen. Damit grenzt er die schwer bestimmbare Größe eines öffentlichen Publikums gegen die personale Vorstellung von einem ,J>räsenzpublikum" ab und deutet damit auch den großen Umfang des Potenzials an, aus

18

Wichter (1994: 186-187, Kursivdruck im Original).

20 dem heraus Laienbedeutungen generiert werden können. Während die Anzahl der an einem massenmedialen Diskurs beteiligten Experten vergleichsweise überschaubar ist, kann sich in den an der Kommunikation im öffentlichen Diskurs beteiligten Laiensystemen die gesamte Breite der Bedeutungskonzepte eines dispersen Publikums offenbaren. Die Heterogenität des dispersen Publikums geht aus Maletzkes Bestimmung deutlich hervor: Das disperse Publikum ist weder strukturiert noch organisiert, es weist keine Rollenspezialisierung auf und hat keine Sitte und Tradition, keine Verhaltensregeln und Riten und keine Institutionen. (Maletzke 1963: 28)

Diese Detailbestimmung des dispersen Publikums gilt weitgehend auch für die an einem öffentlichen, massenmedial vermittelten Diskurs beteiligten Akteure, allerdings nur dann, wenn man den „gemeinsamen Gegenstand" als Diskursgegenstand und nicht lediglich als singulär zufälliges Thema auffasst: Das disperse Publikum konstituiert sich durch die gemeinsame Zuwendung mehrerer, in der Regel vieler Menschen zu einem gemeinsamen Gegenstand [...] Aus diesem Merkmal der „gemeinsamen Zuwendung" ergibt sich unmittelbar eine wichtige Konsequenz: [...] disperse Publika sind keine überdauernden sozialen Gebilde. Sie entstehen jeweils von Fall zu Fall dadurch, daß sich eine Anzahl von Menschen einer Aussage der Massenkommunikation zuwendet. (Maletzke 1963: 28)

Für die öffentliche Diskurskommunikation muss diese Bestimmung in dreierlei Hinsicht eingegrenzt werden. Erstens treten die Diskursakteure nicht völlig zufallig über eine „Aussage der Massenkommunikation" in den Kommunikationsraum des Diskurses ein, sondern motiviert. Die Motivation ergibt sich aus ihrem Kommunikationsinteresse, das sich auf einen Diskursgegenstand, ein Diskursthema bezieht. Darüber hinaus wird durch die Entwicklung interaktiver Medien ein immer gezielterer Diskurszugang möglich, je stärker die medientechnischen Entwicklungen den Einbahnstraßencharakter der Massenkommunikation aufheben. Zweitens lassen sich Wissen und Wortschatz eines dispersen Publikums ordnend stratifizieren, wenn man die Niveaus bestimmen kann, zu denen sich Experten- und Laienlexiken jeweils gruppieren. Diese Wortschatz- und Bedeutungsniveaus können indes sehr unterschiedlich sein und ruhen keineswegs immer auf einem gemeinsamen Fundament eines allgemeinen Wissens. In einer wissensteiligen, ja wissensdispersen Gesellschaft kann sogar auf der Ebene von Weltbildern nicht uneingeschränkt von einem gemeinsamen Wissensfundament ausgegangen werden, eine Grundbedin-gung, die für Fragen gesellschaftlichen Wissenstransfers außerordentlich wichtig ist. Drittens bilden sich auf den verschiedenen Vertikalitätsniveaus mit Blick auf einen Diskursgegenstand Stereotypien aus, die das fehlende Fachwissen kommunikativ kompensieren. Sprachliche Indikatoren für Stereotypien sind

21 tropische Konstruktionen, Metonymien und Metaphern, die einen Gegenstand oder Sachverhalt an bekannte Wissenselemente anbinden und visuali19

sieren. Einen quantitativen Beleg für die Dispersion selbst gesellschaftlichen Grundlagenwissens liefern die Ergebnisse einer repräsentativen Studie des Instituts für Demoskopie in Allensbach, das über den Zeitraum von 11 Jahren den Zusammenhang von gesellschaftlichem und individuellem Wissen anhand eines bestimmten Indikators, des Wissens zum „Drehverhältnis von Sonne und Erde",20 verfolgt hat. Die Frage: „Was meinen Sie, dreht sich die Erde um die Sonne oder dreht sich die Sonne um die Erde", die von 503 Interviewern einem „repräsentativen Querschnitt der Deutschen ab 16 Jahre"21 im Zeitraum zwischen dem 2. und 15. März 2000 gestellt worden ist, erbrachte 83 Prozent richtige Antworten; aber: 11 Prozent vertreten tatsächlich die Auffassung, dass es sich umgekehrt verhält, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Hinzu kommen 6 Prozent, die nicht genau wissen, wer von beiden sich dreht und wer sich bewegt: „Unentschieden". (Allensbach 2000: 3)

Dass etwa jeder sechste Bundesbürger im Jahr 2000 glaubt, die Sonne drehe sich um die Erde, stellt im Vergleich zu den Vorjahren sogar eine Verbesserung des Wissensstandes dar. Die Antwort auf diese Frage ist seit 1989 mehrfach erhoben worden (1989, 1996, 1998, 2000), und die Forscher konstatieren für das Jahr 2000 im Vergleich zu den Vorjahren eine „überraschende Verbesserung des Kenntnisstandes",22 die sie auf die Berichterstattung zur Sonnenfinsternis Anfang April 2000 zurückführen. So hatte die Zahl der Uninformierten (beide Gruppen zusammengenommen) im Jahre 1996 noch bei 26 % in den alten Bundesländern und bei 14 % in den neuen Bundesländern gelegen. Die Autoren der Studie interpretieren diesen Befund, dass es zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland eine solch umfangreiche Präsenz eines vorkopernikanischen Weltbildes gibt, als Hinweis auf einen „Schrumpfungsprozess fundamentalen Faktenwissens",23 zumal „Langzeitmessungen in anderen Bereichen, etwa über das einfache naturkundliche oder historische Wissen, bestätigen, dass es in diesen Bereichen eine ähnliche Erosion des 19

20 21 22 23

Zur Rolle von Stereotypien und Tropen vgl. Busch (2000/a, 1994: 254-276), Wichter (1999) und Liebert (1999, 1995). Eine Auswahlbibliografie zur Tropik im Computerdiskurs findet sich bei Busch (2000/c: 300-302). Allensbach (2000: 2). Allensbach (2000: 3). Allensbach (2000: 3). Allensbach (2000: 3).

22 Wissens gibt".24 Die Zahlen belegen quantitativ die ausgeprägte Dispersion der beteiligten Wissenspotenziale, d. h., mit Blick auf nur scheinbar gesicherte allgemeine Wissensbestände: „die Menschheit weiß es, aber nicht jeder einzelne Mensch". Das hier thematisierte unterschiedliche Wissen zum Drehverhältnis ErdeSonne fuhrt in der Diskurskommunikation zum entsprechenden Thema zur Ausbildung ggf. inkompatibler Diskurskonzepte. Insofern belegt die Studie anschaulich, wie weit die Wissens- und Überzeugungssysteme innerhalb einer Gesellschaft, die im Rahmen der massenmedialen, öffentlichen Kommunikation aufeinander treffen, auseinander liegen können.

2.4

Sprachliche Arbeitsteilung als Prinzip der Diskurskommunikation

Dass eine öffentliche Diskurskommunikation trotz Wissens- und Sprecherdispersion in weiten Teilen gelingen kann, ist hauptsächlich auf das gemeinsprachlich wirksame Kommunikationsprinzip der sprachlichen Arbeitsteilung zurückzufuhren. Hilary Putnam (1991) diskutiert dies am Beispiel der Experten-Laien-Verwendung der Wörter Rotkehlchen, Gold oder Ulme. Er stellt die Frage, ob eine sprachliche Arbeitsteilung mit Blick auf gemeinsprachliche Verwendungskontexte zu Schwierigkeiten führe, wenn man davon ausgeht, dass die Expertenbedeutungen einem Zeichen ebenso zugeordnet werden müssen wie die gemeinsprachlichen Bedeutungen und antwortet: In Wirklichkeit gibt es [...] kein Problem hinsichtlich der Frage, wie Nichtexperten imstande sein können, das Wort zu verwenden: In zweifelhaften Fällen können sie stets die Experten in ihrer Umgebung zu Rate ziehen! Es gibt eben eine sprachliche Arbeitsteilung. Die Sprache ist keine wesentlich individualistische Tätigkeit, sondern eine Art kooperative Tätigkeit. (Putnam 1991: 63, Kursiv im Original)

Das putnamsche Postulat lässt sich insoweit auf die Sprache im Diskurs beziehen, als Sprache als „kooperative Tätigkeit" aufgefasst wird und als eine gesellschaftliche Kommunikationspraxis beschrieben wird, in der Experten und Laien beim Umgang mit Wortbedeutungen kooperativ miteinander umgehen.25 Allerdings zeigen die empirischen Untersuchungen im Rahmen einer Lexikologie der Vertikalität, dass der Kooperationsaspekt in Putnams

24 25

Allensbach (2000: 3). Zur Diskussion von Putnams Ansatz aus Sicht der vertikalen Lexikologie vgl. Wichter (1994: 69-76).

23 Bestimmung als Idealtypus verstanden werden muss. Zwar hat in der gemeinsprachlichen Kommunikation nahezu jeder Laie im Einzelfall die Möglichkeit, sich näherungsweise Zugang zum Expertenwissen zu verschaffen, aber in der alltäglichen kommunikativen Praxis der Gemeinsprache bleibt dies wohl eher die Ausnahme. Hier stehen Experten eben nicht jederzeit als semantische Korrekturinstanz für Laien zur Verfügung und bieten ihnen fortwährend die Möglichkeit, ihr Bedeutungswissen explizit an den Expertensystemen auszurichten. Im Gegenteil: Die Untersuchung vertikaler Bedeutungsanordnungen in verschiedenen Wortschatzbereichen zeigt, dass Expertenund Laiensysteme kommunikativ jeweils eigenständige Systeme bilden. Für ein Verständnis der Kommunikation zwischen Experten und Laien bedarf es nicht der Fiktion, daß ein und dasselbe Zeichen beiden Parteien zur Verfugung stehe, nur der einen in einer spezifisch besseren Weise als der anderen. Wenn eine Bedeutung so beschaffen ist, daß sie bestimmte Merkmale nicht enthält, die das Pendant des Experten hat, dann ist diese Bedeutung nicht eine unvollkommene Realisierung einer anderen Bedeutung, sie selbst ist vielmehr vollständig eine Bedeutung, denn sonst würde sie nicht konventionell (und beobachtbar) in der Kommunikation eingesetzt werden. (Wichter 1994: 72)

Die kommunikativ eigenständigen Experten- und Laienbedeutungen sind über Stereotype miteinander verbunden und bilden ein Ensemble signifikantgleicher Zeichen, daher lässt sich die Relation, in der die diskursiven Laiensysteme zu den Expertensystemen stehen, als „stereotypisches Verhältnis" zueinander auffassen. Die kommunikativen Muster der Konfrontation von Laien verschiedener Wissens- und Wortschatzniveaus mit dem Expertenwissen und -Wortschatz sind abhängig vom jeweiligen Konfrontationstypus, der sich aus der Konstellation der beteiligten Niveaus ergibt. Man kann bei entsprechender horizontaler Einbindung in zugehörige Fächer drei idealtypische Niveaukonstellationen als Positionsmarkierungen auf einer Skala von Konstellationsmöglichkeiten ausmachen, die ihrerseits jeweils einen spezifischen Streubereich aufwiesen: Niveauentsprechung, Niveaunähe und Niveauverschiedenheit. Eine Niveauentsprechung liegt im Falle gleicher Wortschatz- und Wissensniveaus der Kommunikationspartner (Laie - Laie oder Experte - Experte) vor. Die Konstellation Experte - Experte betrifft in aller Regel nicht die öffentliche Kommunikation, sondern ist Prototyp der fachinternen Kommunikation. Dagegen ist die kommunikative Niveauentsprechung Laie - Laie typisch für verschiedene Formen öffentlicher und privater, aber in beiden Fällen fachexterner Kommunikation. Eingängige Beispiele dafür sind-neben der face-to-face-Kommunikation des direkten Gesprächs - etwa Internetforen oder Chats zu Diskursgegenständen, die als Informationsbörse für Laien fungieren, oder Diskursbeiträge in inszenierten Formen von Privatheit in audio-

24 visuellen Medien, in denen die Grenzen zwischen öffentlicher und privater Kommunikation aufgehoben werden. Die Niveaunähe zeichnet eine kommunikative Konstellation aus, in deren Rahmen ein Laie bereits über fundiertes Wissen zu einem Diskursgegenstand oder einzelne Aspekte eines Diskursgegenstandes und der zugehörigen Fachsprache verfugt und nun mit konkreten Fragestellungen auf das Expertenwissen eines elaborierteren Niveaus zugeht. Beispiel für ein solches gesteuertes und kontrolliertes Wissensmanagement ist etwa der Umgang mit Wissen und Fachwortschatz in den Enquetekommissionen des Deutschen Bundestages, in denen das Expertenwissen verschiedener Fächer für die Abgeordneten des Parlaments nach deren politischen Fragestellungen aufbereitet werden muss. Allerdings mündet auch bei diesen Kommunikationstypen der Wissenstransfer oft in eine öffentliche Debatte und geht in einen öffentlichen Diskurs mit dem Konstellationsmerkmal der Niveauverschiedenheit über. Die Niveauverschiedenheit markiert eine kommunikative Konstellation, in der Expertenwissen für Laien ohne oder mit geringem Vorwissen zum Diskursgegenstand aufbereitet wird. Diese beiden Niveaus sind einander fern, hier entsteht die Wissenskluft,26 die von den beteiligten Laien häufig als Kluft zwischen Experten- und Laiensprache und als Inkompatibilität von Experten- und Laienwortschatz im Diskurs erlebt wird und die bei skeptischer Bewertung zur „Krise des diskursiven Fundamentes"27 beitragen kann. Solche niveauverschiedenen Konstellationen sind gerade für öffentliche und mediale Diskurse typisch, weil hier Expertenwissen für Laien aufbereitet werden muss. Sie reflektieren unterschiedliche Kompetenz und Beteiligungsmöglichkeit von Experten und Laien im Diskurs; dem kommt große Bedeutung zu, weil es unter den Bedingungen einer arbeitsteiligen Gesellschaft häufig Laien sind - einschließlich Laien fortgeschrittener Niveaus - , die über die Anwendung und die gesellschaftliche Akzeptanz des Expertenwissens entscheiden. Für den demokratischen Prozess ist das ein grundlegendes Prinzip. Auch bei Experten-Laien-Konstellationen mit Nähe zum Expertenniveau sind die Fachexperten (außerhalb der Forschung) in den seltensten Fällen identisch mit den Entscheidern, die zielbezogen und unter Berücksichtigung der jeweils zur Verfügung stehenden Ressourcen (meist personelle und finanzielle) die Ergebnisse verschiedener Fächer zusammenführen, um auf dieser Basis Entscheidungen zu treffen. Das gilt in der Politik ebenso wie auf kultureller, volkswirtschaftlicher und betriebswirtschaftlicher Ebene.

26 27

Vgl. Holst (2000), Bonfadelli (1994), Wirth (1997) und Jäger (1996). Jäger (1996: 68).

25

2.5

Diskurskommunikation und subjektive Theorien

Diskurswortschätze sind Kristallisationspunkte und Indikatoren der Wissensvertikalität im Diskurs. Daher ist es für die vertikalitätsorientierte Analyse lexikalischer Diskursinventare, die in „Sektoren oder Feldern"28 und Wortfamilien repräsentiert sind, unerlässlich, den Wortschatz daraufhin zu analysieren, in welcher Weise er die jeweiligen Sachbereiche sprachlich abdeckt, wie er auf jeweils zugrunde liegende Sachschemata referiert und in welcher Weise diese Passung von Wortschatz und Sachbereich zwischen Experten und Laien differiert. Deshalb lassen sich die Bedeutungen diskursiver Schlüsselwörter, also die diskursiven Grundkonzepte, als Wissenseinheiten auffassen, die jeweils einem Wissensniveau zugehörig sind und ihren sprachlichen Ausdruck in spezifischen Wortschatzeinheiten finden. Es ist somit auch bei der Bedeutungskonstitution und -beschreibung diskursiver Schlüsselwörter zwischen Experten- und Laienkonzepten je spezifischer Niveaus zu unterscheiden.29 Konstitutiv für die Niveaus sind entweder das terminologisch fachsprachlich kodierte Expertenwissen, gemeinsprachliche Annäherungen an das Expertenwissen oder eigenständige Bedeutungstheorien von Laien. Solche Laientheorien sind den Expertenniveaus deskriptionspraktisch gleichgestellt, da sie als Produzenten- und Rezipientenniveaus Diskurse weitgehend mitkonstituieren. Sie bestehen, wie Groeben für subjektive Theorien generell formuliert hat, aus: - Kognitionen der Selbst- und Weltsicht - die im Dialog-Konsens aktualisier- und rekonstruierbar sind - als komplexes Aggregat mit (zumindest implizierter) Argumentationsstruktur - das auch die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen - der Erklärung, Prognose, Technologie erfüllt - deren Akzeptierbarkeit als , objektive' Erkenntnis zu prüfen ist. (Groeben u.a. 1988: 22, Kursivdruck, Spiegelstriche und Anordnimg im Original)

Groebens empirisch abgesicherte Definition zeigt, dass für Laientheorien kontextuelle Sinnzuschreibung und subjektive Orientierungsfunktion als parallele Funktionen zur wissenschaftlichen Orientierungsfunktion von Wissen 28 29

Stötzel/Wengeler (1995: 15). Diskursive Schlüsselwörter sind - meist ohne Berücksichtigung ihres vertikalen Gehaltes - in der Linguistik bisher auch aus anderen Blickwinkeln betrachtet worden, vgl. den Überblick von Liebert (1994). Ihre allgemeine sprachgeschichtliche Rolle ist zum Teil auch Thema im Rahmen sprachgeschichtlicher Bestandsaufnahmen der Gegenwartssprache. Hier ist besonders das Spektrum, das durch die Publikationen von Eichhoff-Cyrus/Hoberg (2000), Debus (1999) und Glück/Sauer (1997) sowie Braun (1993) umrissen ist, zentral.

26 auftreten. Subjektive Theorien werden ggf. unabhängig von fachlichen Richtigkeitsvorgaben und -bewertungen elaboriert. Eine solche Kognition, die auch die Laienbedeutung eines Sprachzeichens begründen kann, wird auf der Basis eines Wissens aggregiert, das einem Laien zu einem Zeitpunkt zur Verfugung steht. Dabei ist für den Laien auf seinem Wissensniveau jeweils entscheidend, ob die jeweilige Theorie funktional zur Welterklärung oder als Handlungsgrundlage ausreicht, nicht ihre Richtigkeit gemessen am Expertenwissen. Am Beispiel medizinischer Diskurse sei die Konzeption eines Kommunikationsraumes, in dem differente diskursive Grundkonzepte miteinander konfrontiert werden, exemplarisch illustriert und der Zuschnitt und die kommunikative Bedeutung dieser Grundkonzepte kurz umrissen.30 Wenn etwa ein Medizinlaie im Rahmen des kurativen oder eines benachbarten Diskurses über Gesundheit und Krankheit spricht, so spricht er auch als Nichtmediziner ggf. durchaus über etwas, das er selbst erlebt. Von den Geschehnissen, die zu einem Zustand der Gesundheit oder Krankheit fuhren, haben auch Medizinlaien zum Teil sehr elaborierte Vorstellungen.31 Diese subjektiven Theorien können zwar aus Sicht der Experten der beteiligten Fächer als fachlich falsch bewertet werden, das ändert indes an ihrer Existenz und kommunikativen Eigenständigkeit ebenso wenig wie an der alltäglichen Konfrontation des Expertenwissens mit ihnen. Wenn etwa das Grundkonzept Krankheit in einem Diskurs aktualisiert wird, können auf Laienseite die folgenden empirisch belegten Stereotype als diskursive Grundkonzepte beteiligt sein:32 • Krankheit als Schicksal • Krankheit als Folge einer ererbten Disposition • Krankheit als Folge von Umwelteinflüssen und -noxen • Krankheit als Folge ungesunder Lebensweise • Krankheit als Folge beruflicher Belastungen und Risiken • das psychogene Modell von Krankheit • das Risikofaktorenmodell von Krankheit. Die Stereotype weisen neben unterschiedlichem Wissensprofil zu einem großen Teil eine starke Wertungskomponente auf, die als Bestandteil der Diskurskonzepte aufgefasst werden muss; das Wissen ist in solchen Fällen nicht von der Bewertung zu trennen. Zu kommunikativen Konflikten kommt es häufig, wenn solche diskursiven Grundkonzepte von Laien mit dem pathogenetischen Expertenkonzept der 30

31

32

Die Unterschiede zwischen Experten und Laienkonzepten von Gesundheit und Krankheit sind detaillierter ausgeführt in Busch (1999). Vgl. grundlegend Groeben u.a. (1988) und zu Laientheorien zu Gesundheit und Krankheit vgl. Busch (1999, 1994), Flick (1998) und Faltermaier (1994). Vgl. Busch (1999: 109).

27 Medizin konfrontiert werden, das anders aufgebaut ist. Die Übersicht fasst die Grundlinien des Konzeptes schematisch zusammen.33 Experten-Konzept: KRANKHEIT 34 Grundmodell/Paradigma: Pathogenese Störungsspezifik: Krankheit ist die Störung der normalen Funktionen der Organe und Organsysteme im Körper. Organbezug: Erkrankte Organe werden als Träger von Störungen behandelt. Ursachenbezug (Ätiologie): Ursachen von Störungen im Organsystem, Risikofaktoren Klassifizierung: Gattungskrankheit, Klassifikation nach ICD (International Classification of Diseases) Körperkonzept: biologischer Organismus, Maschinenmodell des Körpers Indizierte Therapie: Die Therapie zielt auf die Behebung der Funktionsstörung. Die Art der Störung wird auf der Basis naturwissenschaftlicher Grundlagen und physikalisch-chemischer Prozesse erklärt und mit naturwissenschaftlichen Methoden behandelt. Das Beispiel illustriert, dass beim Expertenkonzept zwar eine klare, fachlich gesicherte Wissenssystematisierung vorliegt, diese aber in der Kommunikation mit Laien bei diesen nicht unterstellt werden kann. Deren subjektive Theorien können vom Expertenwissen so verschieden sein, dass sie mit dem jeweiligen diskursiven Grundkonzept eines Experten inkompatibel werden. Eine direkte Beziehung zwischen dem Expertenkonzept und einem Laienkonzept wird daher nicht in jedem Fall herstellbar sein. Somit liegt eine breite unsystematische semantische Streuung des Bedeutungswissens vor, wenn im Diskurs dem Signifikanten Krankheit einmal ein ausgeformtes pathogenetisches Krankheitskonzept als Bedeutungswissen zugrunde liegt, ihm andererseits aber auf Laienseite ein stereotypisiertes Bedeutungswissen wie Krankheit = Schicksal zugeordnet sein kann. Da im Diskurs aber die verschiedenen Bedeutungen jeweils eigenständig - also 33

34

Das zugrunde liegende Körperkonzept klassifizieren Medizinpsychologen und -Soziologen als Maschinenmodell des Körpers. Nach dem pathogenetischen Krankheitskonzept ist jeder Mensch als gesund oder als krank klassifizierbar. Der kranke Mensch ist der Träger, die Instanz des pathogenen Prozesses und „wird in der Folge zum Objekt einer Behandlung" (Faltermaier 1994: 20). Vgl. Faltermaier (1994: 20-24) und Busch (1999: 109).

28 ohne den Bezug auf den Idealtypus des Expertenkonzeptes - aktualisiert werden, müssen sie als partiell autonome Bedeutungen signifikantgleicher Zeichen aufgefasst werden, die im Diskurs vertikal verteilt sind. Von einer diskurssemantischen Analyse erfordert das in besonderem Maße, ein vertikal geschichtetes Wortschatzkontinuum anzunehmen und es in seinen wichtigsten Elementen über die ganze Vertikalitätsspanne hinweg zu beschreiben, weil die vertikale Formation des Wissens die vertikale Formation des Wortschatzes auf eigenständigen Experten- und Laienniveaus in einem Diskurs nach sich zieht. Dabei kann - dies sei noch einmal betont - nicht generell von einer fachsystematischen Organisation der Elemente dieses Wissensraumes ausgegangen werden. Soll der semantische Raum ausgemessen werden, in dem Experten- und Laienkonzepte im Rahmen eines Diskurses positioniert sind, so kann auf Laienseite nicht von festen Wissensformationen ausgegangen werden, die dem Fachwissen ähnlich sind und die mit dem Expertenwissen zusammen ein kohärentes systematisches Wissensabbild zu einem Diskursgegenstand, etwa auf der Grundlage von Annäherungen verschiedener Grade, bilden. Dies ist nur eine der Möglichkeiten, das Bedeutungswissen von Laien kann auch, in Medizindiskursen ist das häufig der Fall, grundlegend anders strukturiert und stereotypisiert sein als das von Experten. Auf diese Weise fuhrt die unterschiedliche Verfassung von Experten- und Laienwissen innerhalb eines Diskurses dazu, dass jeweils mit einem Ensemble polysemer Bedeutungspositionen der diskursiven Grundkonzepte zu rechnen ist.

2.6

Analysedimensionen und Instrumente einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie

Zur Beschreibung solch heterogener Korrelationen zwischen Experten und Laien hat Wichter (1994) eine schemabasierte Besetzungstypologie vorgeschlagen, mit deren Hilfe die quantitativen und qualitativen Differenzen zwischen diskursiven Experten- und Laienbedeutungen untersucht werden können. Die Typologie sieht vier Besetzungsklassen vor: 1) Eine Gleichbesetzung liegt vor, wenn das Expertenwissen und das Laienwissen miteinander übereinstimmen. 2) Eine Näherungsbesetzung liegt vor, wenn das Laienwissen vom Expertenwissen nicht abweicht, dieses aber nicht vollständig abdeckt. 3) Eine Falschbesetzung liegt vor, wenn das Laienwissen am Expertenwissen gemessen falsch ist.

29 4)

Eine Nullbesetzung liegt vor, wenn auf der Seite des Laien zu einer vorgegebenen Kategorie jegliches Wissen fehlt. (Vgl. Wichter 1999: 91) Die Typologie ermöglicht es, die Differenzen zwischen Experten und Laienlexik zu erfassen und abzubilden und stellt eine bewährte Heuristik dar, die Beziehung zwischen semasiologischen Schemata (Experten-Laien-Bedeutungen), onomasiologischen Schemata (Experten-Laien-Bezeichnungen) und ihrer vertikalen Formierung im Diskurs zu explizieren. Allerdings erfordert sie die Möglichkeit eines klaren Rückbezuges auf ein bestimmtes Fach und dessen Expertenwissen und die Möglichkeit, Bedeutungsexplikationen von Laien verschiedener Niveaus aus dem Korpusmaterial isolieren zu können. Dies ist für eine Beschreibung von Diskurswortschätzen problematisch, denn wo dies nicht der Fall ist, etwa weil Bedeutungsexplikationen bewusst vermieden werden, lässt sich eine Besetzungstypik zumindest bedeutungsseitig nur schwer festlegen. Darüber hinaus spielt im Diskurs auch die thematische und persuasive Einbindung der Lexik eine so wichtige Rolle, dass sich für eine vertikalitätstheoretische Diskurslexikologie die Untersuchungsperspektive erweitert und drei Grundfragen in ihr Zentrum rücken: • Wie ist die Diskursprogression, d. h. die Progression der Diskursthemen, zu analysieren? • Wie ist die Diskurspersuasion, d. h. insbesondere die Progression diskursiver Topoi analysierbar? • Wie ist die Diskurslexik und ihre vertikale Ordnung analysier- und darstellbar, wenn sowohl das Inventar der Signifikanten, die zugehörigen Experten- und Laienbedeutungen und darüber hinaus die sowohl semasiologisch als auch onomasiologisch sichtbar werdende vertikale Ordnung des Wortschatzes berücksichtig werden sollen?

2.6.1

Untersuchungsdimension Diskursprogression: die thematische Entwicklung eines Diskurses

Die Progression des Diskurses wird sichtbar, wenn die Entwicklung von Themen und Wortschätzen durch die Zeit hindurch dargestellt wird. Das bedeutet, eine Progressionsanalyse muss den diskursiven Entwicklungszusammenhang von Wörtern, Themen und Sachen, also Sachgeschichte, Themengeschichte und Wortschatzgeschichte transparent machen. Eine solche Darstellung hängt stark von der Aufarbeitung der Sachgeschichte ab, die gegenstandsspezifisch und nur bedingt standardisierbar ist. Im Fall des weiter unten analysierten Computerdiskurses ist die Sachgeschichte allerdings durch technikgeschichtliche Studien vergleichsweise gut belegt. Die Themen- und Wortschatzentwicklung muss konsequent auf die Diskursgeschichte und ihre

30 Veränderungstypen bezogen werden. Die Kategorien zur Analyse solcher Veränderungstypen werden in der nachfolgenden Diskussion diskurstheoretischer Konzeptionen gewonnen. Im Vorgriff darauf sei gesagt, dass es sich bei den wichtigsten Dimensionen, die zur Erfassung der Transformationstypik innerhalb von Diskursverläufen dienen und mit deren Hilfe sich Diskurs-, Wortschatz- und Themengeschichte erschließen lassen, um die Folgenden handelt: • Semasiologische Stabilität (Bedeutungsstabilität) • Onomasiologische Stabilität (Bezeichnungsstabilität) • Vertikale Umdeutung (nichtfachlich motivierte Konzeptveränderungen) • Konstitution (dauerhafte Präsenz von Wörtern und Konzepten) • Übergang (von einer Diskursperiode zur anderen) • Reaktivierung (obsoleter Elemente und Konzepte) • Diskursive Proliferation (gehäufte Übertragung diskursiver Thematisierungen in weitere Bereiche) • Diskursstrategiewechsel.

2.6.2

Untersuchungsdimension Diskurspersuasion: diskursive Topoi als Ausdruck diskursiver Leitbilder

Die umfassenderen Strukturen der Diskurspersuasion erschließen sich insbesondere in Technologiediskursen über die Leitbilder35 zum Diskursgegenstand, die im Diskurs generiert werden. Leitbilder sind Schemata, die sowohl Sach- und Bewertungswissen zu einem Gegenstand enthalten als auch implizite oder explizite Technologie-, Menschen-, Gesellschafts-, Natur- und Weltbilder. Ihren sprachlichen Ausdruck finden solche Leitbilder neben der Metaphorik besonders in diskursiven Topoi. Bei ihrer Analyse kann sich eine Diskurslexikologie auf den Toposbegriff einer neueren sprachwissenschaftlichen Forschung stützen, wie sie grundlegend in Kienpointner (1992), überblicksartig in Ueding/Schirren (2000), mit Blick auf diskurstypspezifische Topos-Konfigurationen in Klein (2000) und bezogen auf die Analyse diskursiver Einzeltopoi besonders in Wengeler (2003, 2000, 1992) repräsentiert ist. Eine solche sprachwissenschaftliche Auffassung begreift Topoi als „Sinnzusammenhänge, die Bewußtsein und Handlungsfeld strukturieren",36 dies aber ausdrücklich nicht in dem „auf Curtius beruhenden bildungssprachlichen Verständnis, das [den Topos] als einen zu einem sprachlichen Klischee ge-

35 36

Vgl. Kuckartz (1999: 2 1 5 - 2 2 7 ) und Barben/Dierkes/Marz (1993). Ueding/Steinbrink (1994: 196).

31 ronnenen Gemeinplatz faßt".37 Die Bedeutung für die Analyse der Diskurspersuasion bestimmt Wengeler, wenn er darauf hinweist, dass Analysen diskursiver Topoi Aufschlüsse geben über dominierende Denkfiguren, Denkstrukturen, Wirklichkeitskonstitutionen bezüglich eines Themas. Die Linguistik kann so auch zur Entschlüsselung und Transparenz wiederkehrender Argumentationsmuster in öffentlichen Debatten, in Diskursen beitragen. [...] Topos meint [...] einen vielseitig verwendbaren, für den Argumentierenden bereitliegenden und von ihm dann sprachlich hergestellten Sachverhaltszusammenhang, der zur argumentativen Begründung konkreter, zur Diskussion stehender Positionen herangezogen wird. (Wengeler 2000: 222)

Solche Toposanalysen sind insbesondere in stark persuasionsgeprägten Kommunikationssegmenten, etwa in politischen und parlamentarischen Diskursen, notwendig. Mit Blick auf Laienadressaten gehören sie in das Instrumentarium einer Diskurslexikologie, denn der Wortschatz solcher Segmente kann ohne Berücksichtigung seiner persuasiven Formung nicht adäquat analysiert werden.

2.6.3 Untersuchungsdimension Diskurslexik: die Ordnung des Diskurswortschatzes Das für einen bestimmten Diskurs spezifische lexikalische Inventar ist bisher besonders aus zwei Richtungen betrachtet worden: mit Blick auf die Breite des Diskurswortschatzes und seine semasiologische und onomasiologische Ordnung und - in einer Art Fokusanalyse - hinsichtlich zentraler Items, die eine besonders wichtige Bedeutung für den Diskurs haben, also hinsichtlich diskursiver Schlüsselwörter oder Grundkonzepte.38 Im Rahmen einer vertikalitätsbezogenen Untersuchung von Diskurswortschätzen ergänzen beide Perspektiven einander. Die Blickrichtung auf den Diskurswortschatz, die stärker auf besonders zentrale Schlüsselwörter eines Diskurses abhebt, geht davon aus, dass Diskurse durch solche Schlüsselwörter geprägt und gelenkt werden und dass 37

38

Wengeler (2000: 222). Gegen diese explizite Absetzung von Curtius lässt sich indes einwenden, dass die Sinnzusammenhänge und Schemata, die mithilfe eines sprachwissenschaftlichen Diskursbegriffes erfasst werden, durchaus auch als Syntagmen lexikalisiert werden können und dann die Form sprachlicher Klischees annehmen können. Hier sei noch einmal in Erinnerung gerufen, dass ich, wie in Kapitel 2.1 bestimmt; als Diskurswortschatz denjenigen Teil des lexikalischen Diskursinventars auffasse, der auf gemeinsprachlichem Substrat zur Nomination des jeweiligen Diskursgegenstandes verwendet wird.

32 Schlüsselwörter Diskurse strukturieren, Diskurswissen niveauspezifisch bündeln und persuasive Projektionen ermöglichen. Solche Schlüsselwörter der politischen, sozialen und technologischen Entwicklung „sind wie sprachliche Schaumkronen auf den Wellen und Wogen der Geschichte"39 und dienen einer Diskurslexikologie und Diskursgeschichte gleichermaßen als „Indikatoren der Sprachgeschichte".40 Schlüsselwörter als Indikatoren der Sprachgeschichte ansetzen zu können, bietet wichtige Ansatzpunkte für die Analyse von Diskurswortschätzen und ihrer Entwicklung. Gleichzeitig erfordern sie auch die Berücksichtigung persuasiver Strategien bei der Analyse, denn ein solches Schlüsselwort kann, besonders in der politischen Auseinandersetzung, sowohl für einen ganzen Diskurs stehen und ihn zusammenfassen, wie auch innerhalb von verschiedenen Diskursen und sogar in gegensätzlicher Bedeutung operativ gebraucht werden. (Günther 1979: 49)

Diese Eigenschaften machen, wie die Schlüssel- und Schlagwortforschung zeigt,41 diskursive Schlüsselwörter zu sehr variablen, aber auch sehr persuasionslastigen Sprachzeichen. Ob die Bedeutungsseite eines diskursiven Schlüsselwortes mit einem bestimmten Wissen in einem Diskurs besetzt ist, ob das Schlüsselwort seinerseits für einen ganzen Teildiskurs steht oder ob es konnotativ aufgeladen zur Persuasion verwendet wird, ist nur im konkreten Gebrauch zu klären. Das Ziel, Diskursgeschichte auf der Grundlage von Schlüsselwörtern als Wortgeschichte zu schreiben, wird besonders in den Beiträgen des Sammelbandes von Stötzel/Wengeler (1995), in der Tat „eines exzellenten Beitrags zur Nachkriegssprache in der Bundesrepublik"42, verfolgt und in weiterführenden Publikationen breiter entfaltet.43 Die Beiträge im genannten Band richten sich, auch wenn dies terminologisch anders gefasst wird, letztlich auf die Analyse zeitgeschichtlicher Diskurse. Das wird daran deutlich, dass Schlüsselwörter und Leitvokabeln des öffentlichen Sprachgebrauchs unter der Maßgabe analysiert werden, dass ihre Bedeutungsfelder eine „Sprachgeschichte der Gegenwart als Themen- oder Problemgeschichte" transportie-

39 40 41

42 43

Wimmer (1996: 405). Wimmer (1996: 405). Hertmanns (1994) gibt einen Überblick über die Forschung zu Schlüssel-, Schlagund Fahnenwörtern. Zu politischen Schlagwörtern im öffentlichen Diskurs in der BRD von 1966 bis 1974 vgl. Niehr (1993). Wells (1995: 360). Der Ansatz wird insbesondere in den folgenden Arbeiten in Richtung Diskursanalyse ausgeweitet: Jung/Niehr/Böke (2000), Jung (2000, 1994,), Jung/Wengeler/ Boke (1997), Böke/Jung/Wengeler (1996), Böke/Liedtke/Wengeler (1996), Busse/ Herrmanns/Teubert (1994) und Wengeler (1992).

33 ren. 44 In der Konzeption des Zeitgeschichtlichen Wörterbuches der deutschen Gegenwartssprache von Stötzel/Eitz (2002) wird diese Orientierung konsequent fortgeführt und mit lexikografischen Mitteln realisiert. Gestützt auf ein Pressekorpus, das als Diskurskorpus aufgefasst werden kann, illustrieren die Beiträge nachdrücklich das große analytische Potenzial, das sich erschließt, wenn die Indikatorfunktion von Schlüsselwörtern genutzt wird, um die „Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs" 45 nach Kriegsende darzustellen. Auf der Grundlage des Pressekorpus werden mit begriffsgeschichtlichem Interesse spezifische „länger andauernde öffentliche Debatten", 46 letztlich also „Konfliktdiskurse" 47 in den Blick genommen, die allerdings nicht im Rückgriff auf die Begrifflichkeit des Diskurses operationalisiert werden. An die Stelle des analytischen Aufsuchens öffentlicher Diskurse tritt hier das parallele Interesse an „der Erfassung und Interpretation bedeutsamer öffentlicher Spracherscheinungen". 48 Bei der identifizierenden Bestandsaufnahme von diskursiven Schlüsselwörtern konzentrieren sich die Autoren wesentlich auf die Kriterien, die Stötzel für die Analyse des öffentlichen Sprachgebrauches zusammengefasst hat: • die (metasprachliche) explizite Thematisierung von Sprache in Texten, • die indirekte Thematisierung von Sprache, die durch das Vorhandensein und die strategische Nutzung konkurrierender Interpretationsvokabeln deutlich wird, • Strategien der Auf- und Abwertung bestimmter Bezeichnungen, • Neuwörter (incl. Neulexikalisierung) und Neubedeutungen • das Kriterium der Thematisierung. (Vgl. Stötzel 1995: 3-10). Diese sprachgeschichtliche Methodologie und die empirischen Arbeiten belegen parallel zu den Ergebnissen der vertikalen Lexikologie die Notwendigkeit der kombinierten Anwendung von onomasiologischen und semasiologischen Perspektiven bei der Repräsentation von Bedeutungs- und Bezeichnungswissen in der Untersuchung der Lexiken einzelner Domänen und Diskurse. Stötzel unterstreicht den methodologischen Befund: Insgesamt hat sich gezeigt, dass eine sektorale Aufteilung der Sprachgeschichte die Bedeutung wichtiger Vokabeln durch Bedeutsamkeitserzählung wesentlich besser vergegenwärtigen kann, als dies isolierte Einzelworterläuterungen vermögen, zumal sich das Vokabular in diesen Sektoren oder Feldern zum Teil erst gegenseitig semantisch konstituiert (zum Beispiel in Gegensatzpaaren wie Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit). (Stötzel 1995: 15)

44 45 46 47 48

Stötzel Stötzel Stötzel Stötzel Stötzel

(1995: (1995: (1995: (1995: (1995:

16). 2). 14). 14). 3).

34 Die methodologische Skizze umreißt eine Vorgehensweise, die auch für die vertikalitätsbezogene Untersuchung von Diskurswortschätzen nutzbar gemacht werden kann, wenn sie durch eine vertikalitätstheoretische Explikation des Diskursbegriffes fundiert wird. Insbesondere das bei Stötzel/Wengeler (1995) angelegte Fragen nach Neuwörtern, Neulexikalisierung von Komposita und Neubedeutungen sowie thematischer Fokussierung ist auch für die Analyse diskursiver Experten- und Laienwortschätze interessant, da diese ihrerseits neue Wortfamilien begründen können oder in die Wortbildungs- und Bedeutungszusammenhänge bestehender diskursiver Wortfamilien eingeordnet werden. Durch eine solche Integration von Schlüsselwörtern in den Horizont von Untersuchungen, die breitere Diskurswortschätze in den Blick nehmen, lässt sich auch einer möglichen analytischen Verengung begegnen, auf die Jung mit seinem Plädoyer für eine „allgemeine Untersuchung des diskursgebundenen lexikalischen Inventars"49 hinweist: Zu bedenken geben möchte ich an dieser Stelle lediglich, ob die Fixierung auf Schlag-, Schlüssel-, Zeitwörter, Leitvokabeln o. Ä. nicht besser durch eine allgemeine Untersuchung des diskursgebundenen lexikalischen Inventars ersetzt werden sollte. So vermeidet man zum einen die schwierige Abgrenzung zentraler von nicht-zentralen Diskurswörtern, [...] zum anderen gerät dadurch im Sinne einer „Linguistisierung" diskursgeschichtlicher Ansätze auch die Vielfalt lexikbezogener Untersuchungsverfahren besser in den Blick. (Jung 2000: 31)

Eine vertikale Diskurslexikologie muss sich dem anschließen und beide Perspektiven verbinden. Sowohl die Betrachtung vollständiger Diskurswortschätze oder umfangreicher Teilwortschätze als auch die Fokusanalyse von Schlüsselwörtern oder diskursiven Grundkonzepten ist möglich und sinnvoll. Der jeweilige Analyseschwerpunkt muss daher immer mit Blick auf den einzelnen Untersuchungsgegenstand und seine Spezifik festgelegt werden. Diskurswortschätze und ihre semasiologische und onomasiologische Ordnung: Schaut man auf die Breite eines Diskurswortschatzes, wird deutlich, dass die lexikalischen Inventare, mit denen Diskursgegenstände bezeichnet werden, gleichermaßen die Nominationsbedürfnisse der Sprachgemeinschaft erfüllen und der Differenziertheit mancher Diskursgegenstände gerecht werden müssen. Aus diesem Spannungsfeld resultiert in jedem öffentlichen Diskurs der spezifische Diskurswortschatz, der Resultat des Aufeinandertreffens ggf. fachsprachlicher Nominationscharakteristika und des gemeinsprachlichen Verständlichkeitsbedarfs ist. Im Falle des Computerdiskurses sind hier der gesamte computerbezogene Technologiewortschatz, der im Diskurs vorzufinden ist, die Ordnung dieses Wortschatzes und seine vertikale Differenzierung Untersuchungsgegenstand einer Diskurslexikologie. Für eine solche 49

Jung (2000: 31).

35 Analyse vertikaler Wortschatzstrukturen, die sich jeweils auf ein ursprünglich fachlich definiertes Wissenssegment beziehen, hat Wichter (1994) im Rahmen der Grundlegung einer vertikalen Lexikologie die Bezeichnungen „Ausdrucksteilschema" und „Inhaltsteilschema" verwendet.50 Das Ausdrucksschema, ein Signifikantenfeld, repräsentiert eine niveauspezifische ausdrucksseitige Ordnung der Wörter, die zu einem Diskursgegenstand in einem Korpus aufzufinden ist.51 In der Spezifik eines solchen Signifikantenfeldes manifestieren sich aber auch gleichermaßen die zentralen Bedeutungsvorstellungen bestimmter Sprachteilhabergruppen im Gebrauch der gemeinsprachlichen Zeichen, seien es nun Fachexperten oder Fachlaien.52 Wie lässt sich nun ein solches Ausdrucksteilschema in seiner Bindung an ein Inhaltsteilschema und in seinem semasiologischen Umfeld analytisch adäquat repräsentieren, ohne durch eine rein alphabetische Anordnung die inhaltliche Beziehung zwischen den Wörtern zu ignorieren? Eine primär fachsystematische Ordnung des Wortschatzes, wie sie sich in der fachsprachenorientierten vertikalen Lexikologie als hilfreich erwiesen hat, ist für Diskurse zumindest wegen zweier Gründe nicht optimal: Der erste Grund ist das Schwinden des Fachbezuges im Diskurs. Wenn die Kommunikation über Diskursthemen nur begrenzt fachspezifischen Ordnungskriterien unterworfen ist, ist auch eine explizite Ordnung des Wortschatzes nach einer Fachwissensstruktur nur begrenzt sinnvoll. Darüber hinaus existieren im Diskurs Verdeckungsstrategien, die eine solche onomasiologische Beschreibungsstrategie verhindern. Wenn etwa ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages sich in einer Debatte z. B. zu den Chancen und Risiken des Internet oder der Informations- und Kommunikationstechnologie äußert, wird er sein wirkliches Wissensniveau in dieser Sache nicht zu erkennen geben, indem er Erläuterungen zur Technologie gibt, die für eine vertikale Analyse nutzbar sind. Zwar gibt es, wie die unten nachfolgende Analyse zeigen wird, einige Muster (wie z. B. das explizite Expertenzitat), mit denen die Vertikalität thematisiert wird, für eine wortschatzorientierte Analyse sind sie aber allein nicht geeignet. Es ist daher für die vertikale Analyse von Diskurswortschätzen ein Untersuchungsformat nötig, das auch von der Ebene des unmittelbar beobachtbaren Sprachphänomens, dem Ausdrucksschema, her eine Annäherung an die Bedeutungsstruktur von Wortschatzfeldern, an das Inhaltsschema, ermöglicht. Diese Brücke zwischen Ausdrucksschema und Inhaltsschema ist die 50 51

52

Wichter (1994: 123-144). Zum Konnex von klassischer Wortfeldtheorie und Vertikalitätstheorie bei der Wortschatzbeschreibung vgl. Wichter (1994: 112-118). Dies gilt - die Bedeutung eines Zeichens ist sein Gebrauch - insbesondere vor dem Hintergrund eines empirisch kommunikativen Zeichenbegriffes, wie ihn Wichter (1988: 11, 75) postuliert hat.

36 synchrone WortfamilieP Der Rückgriff auf die Konzeption der Wortfamilie als lexikologische Ordnungs- und Darstellungssystematik ist nicht neu. Auf dieses lexikologische Potenzial haben bereits Agricola/Fleischer/Protze (1969: 538-540), Iskos/Lenkowa (1970: 246-252) und Schippan (1992: 4 2 44) verwiesen. 54 Heinrich Erk (1985) hat Wortfamilien in wissenschaftlichen Texten statistisch erfasst, ihre syntaktische Varianz untersucht und ihre Bedeutung paraphrasiert. Auch Henne (1998) betont das Analyse- und Veranschaulichungspotenzial, das durch die Integration einzelner Lexeme in den Sinnzusammenhang einer synchronisch-gegenwartsbezogenen Wortfamilie entsteht: Eine Wortfamilie ist eine durch den Prozess der Wortbildung erzeugte, objektivierte lexikalische Struktur. Sie zeigt den lexikalischen Zusammenhang, der durch die Wortbildung gestiftet wird. Die vergleichbare und divergierende Semantik der Wortbildungen wird im Zusammenhang deutlicher, zudem werden undurchsichtige Strukturen [...] einsichtig. (Henne 1998: 577)

Das synchron orientierte Wortfamilienkonzept ist von Gerhard Äugst (1990, 1992, 1996, 1997 a, b) lexikologisch expliziert und in Äugst (1998) lexikografisch in Form des Wortfamilienwörterbuches der deutschen Gegenwartssprache verfugbar gemacht worden.55 Zur Einfuhrung in das Wörterbuch stellt er programmatisch die Frage, die auf den Vorteil einer bedeutungsnahen Ordnung des Wortschatzes nach Wortfamilien deutet: „Glauben Sie, dass der Wortschatz in ihrem Kopf alphabetisch geordnet ist?".56 Mit seinem Versuch, mithilfe dieses Wörterbuchtyps die „Bedeutungsklumpen"57 der „atomisierten alphabetischen Wörterbücher"58 zu zerschlagen, und 53

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56 57 58

Dieser Gedanke geht zurück auf ein überaus anregendes und Gewinn bringendes Gespräch mit Sigurd Wichter, dem ich an dieser Stelle - stellvertretend für zahlreiche spannende und aufschlussreiche Diskussionen - herzlich danken möchte. (Die Verantwortung für die Richtigkeit und Vertretbarkeit der vertikalitätstheoretischen Entfaltung dieses Konzeptes und besonders für mögliche Fehleinschätzungen dabei verbleiben ganz und gar beim Autor dieser Untersuchung.) Oft wird die Wortfamilie als diachrones Muster vom synchronen Muster eines Wortbildungsnestes abgehoben. Eine gegenwartssprachlich orientierte vertikalitätslexikologische Betrachtung konzentriert sich dagegen im Einklang mit Äugst (1998, 1997/a, b, 1996, 1992, 1990) primär auf die synchrone Formierung von Wortfamilien in der Gegenwartssprache, fasst also solche Wortbildungsnester ebenfalls als synchrone Wortfamilien auf. Ickler kritisiert unter dem Titel „Der erfundene Laie" die lexikografische Konzeption des Wörterbuches. Vgl. http://www.rechtschreibreform.com/Seiten2/Wissenschaft/ 964IcklerLaie.html [Version vom 16.04.04]. Ausführlicher stellt er die Kritik in Ickler (1999) dar. Äugst (1998: VII). Weisgerber (1971: 201). Äugst (1997a: 3)

37 „die durch semasiologische Anordnung zerrissenen Beziehungen der Wörter zueinander wiederherzustellen" 59 deutet er auf ein lexikologisches Analyseformat, das auch für eine Nutzung in der vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie geeignet ist. Auch Ickler (1999: 297) betont mit Blick auf das Wortfamilienwörterbuch von Äugst den grundsätzlichen Nutzen eines solchen Ansatzes, kritisiert aber die lexikografische Realisierung von Äugst in seiner Rezension mit dem Titel „Spekulative Volkslinguistik" als „Kopistenwerk", 60 und empirisch ungesicherte „Laienlinguistik". 61 Trotz der überzogenen Polemik ist Icklers Kritik für die Vertikalitätsfragestellung in zwei Aspekten interessant: in der Frage der empirischen Belegung der Wortfamilien und in der Frage der Varietäten übergreifenden, synchronen etymologischen Kompetenz. Hinsichtlich der empirischen Absicherung kritisiert Ickler zu Recht, dass Äugst zur Stützung einzelner Wortfamilien unspezifisch von Informanten spricht, ohne dies zu konkretisieren. Überdies betont Äugst: im Großen und Ganzen spiegelt dieses Wörterbuch die Ordnung nach Wortfamilien so wider, wie wir sie als (re)konstruierende Wörterbuchautoren dem 'normalen' Sprachteilhaber idealtypisch unterstellen. (Äugst 1998: X)

Wenn Ickler dies aber als „Ungeheuerlichkeit" (Ickler 1999: 298) kritisiert, übersieht er, dass Äugst hier keineswegs eine „spekulative Volkslinguistik" etablieren will, sondern einen lexikografischen Realismus zeigt, der darin besteht, dass man beleggestützt eine durchschnittliche gemeinsprachliche Sprecherinstanz als Idealtypus ansetzt. Dies scheint mir arbeitspraktisch auch kaum anders machbar, da eine vollständige empirische Erfassung und lückenlose Belegung der Gesamtsprache einschließlich der innersprachlichen Variation mit heutigen Mitteln unmöglich ist.62 Andererseits wird an dieser Diskussion allerdings auch sichtbar, dass die Etablierung eines solchen lexikografisch und arbeitspraktisch notwendigen Idealtypus die Frage der vertikalen Differenzierung weitgehend ausblendet. Ickler wirft Äugst auch vor, dieser gehe von der „undiskutierten Annahme aus, dass jede Wortfamilie genau ein 'Kernwort' besitze und die weitere Struktur 'hierarchisch' sei". 63 Allerdings macht er keinen Alternatiworschlag

59 60 61 62

63

Drosdowski (1977: 128). Ickler (1999: 296). Ickler (1999: 297). Dass bei der Beschreibung eines sprachlichen Teilsystems, über das nahezu alle Sprachteilhaber verfugen, bisher nie vollends befriedigende Lösungen, sondern eben Idealtypen konstruiert werden können, zeigt sehr deutlich die Diskussion um das Konstrukt der Gemeinsprache. Vgl. dazu Kalverkämper (1990) und den Übersichtsartikel von Hoffmann (1998). Ickler (1999: 298).

38 und geht mit seiner Polemik deutlich zu weit, wenn er, seinerseits unbelegt, Äugst beschuldigt: Hier hat offenbar der Interviewer seinen Probanden erst eingeredet, dass die Wortfamilie ein 'Kernwort' haben muss, denn von sich aus dürften die Sprecher eine solche Notwendigkeit nicht gesehen haben. (Ickler 1999:298)

Für eine vertikalitätsorientierte Lexikologie, die das Wortfamilienkonzept nutzt, lässt sich aus dieser Diskussion dreierlei schließen: 1) Die angesetzten diskursiven Wortfamilien müssen empirisch belegt sein. 2) Die vertikale Ausdifferenzierung zwischen fach- und gemeinsprachlichen Wortfamilien muss aufgezeigt werden, 3) Die Legitimität der Annahme eines Familien bildenden Kernwortes muss zumindest auf Wortbildungsebene durch Belege nachgewiesen werden. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Wortfamilienkonzeptes ist für eine vertikalitätsorientierte Lexikologie die Tatsache, dass es sich bei der Betrachtung eines Wortschatzes in der Einbettung in eine Wortfamilie weder um eine rein semasiologische noch um eine rein onomasiologische Betrachtungsweise handelt. Auch Heringer (1999) formuliert, ohne sich dabei auf das Wortfamilienkonzept zu beziehen, für eine textorientierte, distributive Semantik diesen Zusammenhang, wenn er auf der Grundlage empirisch ermittelter Affinitätswerte von Wörtern64 zu dem Ergebnis kommt: Wortbildungen zu einer Wurzel ergeben ihren nächsten Kotext. Sie sind distributiv begünstigt. Darum ist ihnen auch so viel über die Bedeutung zu entnehmen. (Heringer 1999: 192)

Damit wird die text- und isotopiebezogene Relevanz der Wörter betont, die im lexikalischen Zusammenhang einer Wortfamilie stehen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse lässt sich schließen, dass die semantische Struktur der Wortfamilie in ihren wichtigsten ausdrucksseitigen Interdependenzen darstellbar und von lexikologischer Relevanz ist.65 Möglich ist dies durch die semiotische Mehrfachcodierung, die darin besteht, dass eine synchrone Wortfamilie als Zeichensubsystem drei sprachlichen Phänomenen Ausdruck verleiht, die jeweils im Zentrum einer lexikologischen Analyseperspektive stehen: 1) den spezifischen Wortbildungsprozessen und der ausdrucksseitigen Vertikalität (onomasiologische Perspektive),

64

65

Heringer legt ein „Korpus von ca. 50 Mio. Textwörtern zugrunde. Es besteht aus etwa 22 Mio. Textwörtern des Mannheimer Korpus und etwa 25 Mio. Textwörtern des sog. Augsburger Korpus." (Heringer 1999: 44) Schaeder (1996: 120) zeigt, wie ein solcher Zusammenhang fachlexikografisch expliziert wird.

39 2)

den spezifischen Benennungsmotiven und einem darin erkennbar werdenden, charakteristischen vertikalen Nominationsbedarf (semasiologische Perspektive), 3) einem lexikalischen Zusammenhang, der vertikalitätsspezifisch eingeordnet werden kann, wenn er an bestimmte Vertikalitätsniveaus gebunden ist (vertikalitätstheoretische Perspektive auf die semasiologische und onomasiologische Wortschatzordnung). Die Ordnung und Entfaltung einer synchronen Wortfamilie wird nicht nur durch Wortbildungsprozesse konstituiert, sondern in erster Linie durch die jeweilige Benennungsmotivation und das zu versprachlichende Weltwissen. Daraus resultiert eine semantische Struktur der Wortfamilie, die mit den Mitteln der Wortbildung ausgedrückt wird und stark „von der Bedeutung der Kernwörter und der sich daraus ergebenden Position in den entsprechenden onomasiologischen Gruppierungen"66 abhängig ist. Ein Kernwort wie Computer etwa, prägt die Bedeutung aller zugehörigen Mitglieder einer Wortfamilie nachhaltig. So ist auch durch die gemein- oder fachsprachlichen Benennungsmotive ein „Sach- und Bedeutungswissen in der Nomination"67 in die synchrone Wortfamilie eingeprägt. Es bestimmt ihre interne Ordnung mit und spiegelt wichtige Charakteristika der sprecherseitigen Anschauung der zu benennenden außersprachlichen Referenten. Demzufolge repräsentieren die Familien bildenden Lexeme ein „Motivationssystem",68 also ein lexikalisches Paradigma von Wörtern, „deren lexikalische Bedeutung aus der Motivationsbedeutung erschließbar ist".69 Die Möglichkeit, den Wortschatz auf dieser Grundlage zu ordnen, ohne auf die Darstellung des grundlegenden lexikalischen Zusammenhanges verzichten zu müssen, ist für die Analyse der Signifikantenfelder von Experten und Laien außerordentlich hilfreich.70 Die Unterschiede zwischen Experten- und Laienperspektive manifestieren sich sprachlich in der unterschiedlichen Quantität, Struktur und Bildungsart der Besetzung einer diskursiv relevanten synchronen Wortfamilie. Damit spiegeln die Wörter einer Wortfamilie und die Rückbindung jedes einzelnen Lexems und Wortbildungsproduktes an ein Familien bildendes Basislexem

66

67

68 69 70

Fleischer/Barz (1995: 73). Synchrone Wortfamilien werden bei Fleischer/Barz (1995) in Abgrenzung zu diachron definierten Wortfamilien als „Wortbildungsnest" bezeichnet. Ihre Definition eines Wortbildungsnestes trifft aber auch auf synchron definierte Wortfamilien zu. Knobloch (1996: 43). Zu Fragen des Verhältnisses von Referenz, Motivation und Nomination vgl. auch die weiteren Beiträge in Rnobloch/Schaeder (1996). von Polenz (1980: 171). Fleischer/Barz (1995: 72). Die Überprüfung der praktischen Eignung dieses Beschreibungsformates für eine diskurslexikologische Untersuchung ist ein weiterer Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung.

40 auch familieninterne Bedeutungsbeziehungen, die von den Sprechergemeinschaften verschiedener Experten- oder Laienniveaus aufgrund ihres Weltund Bedeutungswissens jeweils unterschiedlich konstruiert werden.71 So erschließt der weitergehende Blick auf Wortfamilien und die gemeinsprachlichen Benennungsmotive der vertikalitätsorientierten Analyse eine Möglichkeit, wesentliche Spezifika der Lexemverwendung auf einem vertikalen Niveau zu ermitteln. Überdies werden durch den Zugang über die lexikalischen Inventare des Ausdrucksschemas auch Analysen in Domänen oder Textsorten ermöglicht, in denen die Bedeutungsseite des verwendeten Wortschatzes (und damit das niveauspezifische Bedeutungswissen) im Einzelfall kaum eruierbar ist, wie beispielsweise in parlamentarischen Diskursen. Zur Illustration des Gesagten sei nun die Ordnung einer Wortfamilie aus dem gemeinsprachlichen Computerdiskurs einer rein alphabetischen Ordnung gegenübergestellt. Es handelt sich dabei um eine Auswertung von Computerbezeichnungen aus SPIEGEL und FAZ im März 1996. Der Lexembestand dieses Monats ist auf der Grundlage eines elektronischen Diskurskorpus erhoben worden, das in Busch/Wichter (2000) detailliert beschrieben ist. Weiter reichende Wortschatzanalysen, die auch die sprach- und diskursgeschichtliche Entwicklung des Computerwortschatzes seit 1963 reflektieren, folgen in Kapitel 10 dieser Untersuchung. An dieser Stelle soll zunächst an einem kleinen Ausschnitt demonstriert werden, dass die Darstellung der Ordnung eines diskursiven Teilwortschatzes in seinem Familienzusammenhang auf den ersten Blick bereits mehr Zusammenhänge innerhalb eines solchen Lexemverbandes verdeutlichen kann, als eine rein alphabetische Ordnung dies vermag.

71

Insofern manifestiert sich in ihnen eine spezifische Sichtweise vertikaler Wissensund Wortschatzniveaus, die wegen ihrer Vielfalt mit den häufiger angesetzten onomasiologischen Kategorien innerhalb der Substantivparadigmen (etwa als Nomen actionis, agentis, qualitatis, instrumenti oder loci) nicht ausreichend erfasst werden können. Vgl. dazu Fleischer/Barz (1995: 86-87).

41 Computerbezeichnungen S P I E G E L u n d F A Z im M ä r z 1996 Alphabetische O r d n u n g Apple-Computer Home-Computer PC-Tastatur Billigcomputer Internet-Computer PC-Welt Bürocomputer Internet-PC Pentium-PC Computer Internet-ServerPersonalcomputer Computer Computer-Gigant MultimediaPower-PC Computer Netzcomputer Computerhirn Power-PCArchitektur Nixdorf-Computer Computersystem Power-PCProzessor Desktopcomputer PC Power-PC- Version ErmittlungsPC-Architektur Schreibtischcomputer computer PC-Speicher FahndungsZentralcomputer computer HandheldPC-Steckkarte Computer Um zu zeigen, dass innerhalb der Wortfamilie auch Sach- und Bedeutungswissen offenbar wird, das die fachexternen Bezeichnungen motiviert hat, ist ein Notationsformat angezeigt, das sowohl die semasiologische Ordnung des Lexemverbandes abzubilden vermag als auch zentrale onomasiologische Dimensionen. Deshalb ist die Wortfamilie folgend in zwei verschiedenen Notationsformen dargestellt, die einander ergänzen. Darin sind die Elemente der onomasiologischen, semasiologischen und quantitativen Wortschatzordnung repräsentiert: • onomasiologische Wortschatzordnung: nach den Familien konstituierenden Wortbildungsprozessen • semasiologische Wortschatzordnung: nach dem lexikalischen Zusammenhang, der in der Wortbildungsmotivation sichtbar wird • quantitative Wortschatzverteilung: Zur Einschätzung der Quantität der Bezeichnungen ist in beiden Darstellungsformen für jeden Type die Token-Frequenz in runden Klammern angegeben.

42 Technologie-Wortfamilie zum (entlehnten) Basislexem Computer SPIEGEL und FAZ (März 1996) Ordnung nach Wortbildung Computerkonzem Computerbranche

9 8

Derivat

Computerei

1

Komposita mit Basislexem als Determinatum oder als Konstituente des Determinatums

Personalcomputer 24 Personal Computer 13 Internet-Computer 4 Computerfreak 3 Stiftcomputer 3 Personal-Computer 2 Alpha-Computer 1 Apple-Computer 1 Billigcomputer 1 j-Computer 1 CD-Rom-Computerspiel 1 Dec-Computer 1 Desktop-Computer 1 Ermittlungscomputer 1 Fahndungscomputer 1

KompositionsMetaphem

Computemetz 14 Computervirus 11 Computerwelt 6 Netzcomputer 4 Computersprache 3 Computer-Plattform 1 Computernetzwerk 1 Computerhirn 1 Computer-Gigant 1 Computergeneration 1

LLI

Kurzwort-Komposita

Kurzwörter,

K

Büro-PC Desktop-PC Familien-PC Power-PC-Architektur [insgesamt 68 Types]

65

(PCMCIA 1

Zahlenangaben = Token-Frequenz; Ordnungsreihenfolge innerhalb der Wortbildungsklassen: 1) Token-Frequenz 2> Aiphabetisch

Die Tropen (primär Metaphern und Metonymien) sind auch in der Wortbildungs-Darstellung jeweils als eigene Gruppe ausgewiesen und der Wortfamilie zugeordnet. Zwar handelt es sich bei ihrem Entstehen in der Folge figurativer Motivation und tropischer Projektion nicht um einen Wortbildungsprozess, aber die Wortbildung ist von der tropischen Motivation derart stark dominiert, dass hier das Ansetzen in einer eigenen Gruppe selbst bei Ausgreifen in den syntagmatischen Bereich sinnvoll erscheint. 72

72

Für die Kodierung der Tropen gilt: I) Tropen werden nur als solche klassifiziert, wenn ihr metaphorischer oder metonymischer Gehalt durch tropische Projektion innerhalb der deutschen Sprache entsteht. Eine Metapher in der englischen Sprache wie etwa Chip wird

43 Solche Kompositions-Tropen können einer Wortfamilie zugeordnet werden, soweit sie sich - auch wenn es sich um Mehrwort-Tropen handelt - noch als ein einziges Sprachzeichen auffassen lassen. So werden z. B. Kompositionstropen in Form von Bindestrich-Komposita wie Computer-Gigant (FAZ 18.3.1996)73 ebenso aufgenommen wie Mehrwort-Tropen ohne Bindestrich, z. B. Kollege Computer (STERN 1-2/1970). Nicht mehr in die Wortfamilie aufgenommen werden dagegen tropische Syntagmen. Wenn es im STERN 53/1970 in einem Artikel mit dem Titel „Dr. med. Computer: Arzt ohne Seele" heißt ,JDer Computer malt den Teufel an die Wand\ so ist ein solches Syntagma außerhalb der Wortfamilie Computer zu analysieren. Ordnet man den Wortschatz nach den erkennbaren Benennungsmotiven, so ergibt sich für den Wortschatz im Magazin STERN in der Anfangsphase ausschnittsweise das folgende Bild:

von deutschen Muttersprachlern nicht unbedingt als Metapher aufgefasst und deshalb hier auch nicht als Metapher klassifiziert. 2) Metaphorische Basislexeme können ebenfalls Wortfamilien konstituieren, etwa Maus, Netz oder Virus. Diese Wortfamilien werden insgesamt als tropische Wortfamilien aufgefasst. Eine Kategorisierung von Kompositionsmetaphern innerhalb dieser tropischen Wortfamilien entfallt daher. Zur figurativen Motivation und den metaphorischen und metonymischen Prozessen vgl. Fleischer/Barz (1995: 15) und zu tropischen Prozessen besonders im Computerdiskurs und der Rolle von Tropen bei der laienadressierten Veranschaulichung der Computertechnologie vgl. Busch (2000/a). 73

Vgl. die Belegübersicht in Busch/Wichter (2000: 4 5 1 ^ 5 6 ) .

44 Gemeinsprachliche

Bezeichnungsmotivation

Stern: Anfangsphase; Zahlenangaben = Tokenfrequenz PROXIMUM

Computer 126, Daten 4, Elektronik 6, Maschine 11, Programm 9

TEILGEBIET

Datentechnik 1

GENUS

HERSTELLER/MODELL

TECHNOLOGIEELEMENT ANWENDUNGSBEREICH

TROPISCHE PROJEKTION

PERSONENBEZEICHNUNG

Computerhersteller 1, IBM-Computer 1, Siemens-Computer 2, Siemens-Computer 4004/45 1, Univac-Computer 2, IBM-Computer-Industrie 1, Computer-Company 1, Computerfabrik 1, Computer-Industrie 1 Computer-Programmierung 1, Computerbasis 1, Computer-Tastatur 1, Elektronenröhre 3 Unterrichtscomputer 1, Lerncomputer 1, Zensurencomputer 1, Computeranwendung 1, Medizin-Computer 1, ComputerfEheJvermittlung 2, Dienstleistungscomputer 1, Küchencomputer 1, Küchen-Computer 3, "Ehe-Computer" 1 Kollege Computer 1, Dr. med Computer 1, "Computerseuche" 1, Computer-Seuche 1, Computer-Fähigkeit 1, Datenbank 1, Elektronengehirn 13, Ehemaschine 1 Computer-Fachleute 1, Computer-Boss 1, ComputerLeute 1, Computerjreund 1, ComputerfHochzeitsJ-Partner 1, Elektronik-Ingenieure 1, Programmierer 4, Datenverarbeiter 1

ÖKONOMIE

Computer-Dienst 1, Computer-Markt 2, Computermarkt 1, Computer-Plan 1, Elektrokonzern 2, Elektronik-Branche 1

VORGANG

maschinell 2, programmieren 5, Computer-Programmierung 1, Programmierung 1

TÄTIGKEIT

Datenverarbeitungsanlage 7, Datenverarbeitung 5

GRÖßE

Mini-Computer 2, Klein-Computer 1

LAND

US-Computer 1, Sowjet-Computer 1

EIGENSCHAFT SINGULÄR BESETZT

elektronisch 25 Computerhilfe 1, Computer-Turnier 1, Computer-Diät 1, Computer 360/201

45 2.7

Diskurstheoretische Einordnung: Vertikale Wortschatzvariation, ein Desiderat der Diskurstheorie?

Zur diskurstheoretischen Einordnung des Vertikalitätskonzeptes und zur Konturierung eines theoretisch gesicherten Konzeptes einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie muss überprüft werden, welche Antworten grundlegende Diskurskonzeptionen auf die zentralen vertikalitätslinguistischen Fragen geben und inwieweit das Analyseinstrumentarium, das sie bereitstellen, auch zur Analyse der vertikalen Variation von Diskurslexik verwendet werden kann. Im Einzelnen gilt es in der Auseinandersetzung mit den für die Linguistik zentralen Diskursanalyse-Konzeptionen zu überprüfen, • inwieweit sie mit der Vertikalitätsperspektive kompatibel sind, • inwieweit die vertikale Formierung von Wissen und Wortschatz in Diskursen implizit Gegenstand zentraler Diskurstheorien ist und • welche methodologischen Anregungen sie für eine Vertikalitätsforschung in der Diskurslexikologie geben können. In diesem Rahmen muss expliziert werden, inwieweit die Grundannahmen der Lexikologie der Vertikalität in eine Diskurskonzeption einfließen müssen, damit die Experten-Laien-DifFerenzierung in Diskurswortschatz und Diskurswissen analysierbar wird. Die Auseinandersetzung mit den genannten Diskurstheorien orientiert sich an vier heuristischen Dimensionen. Diskursmodellierung: In einem ersten Schritt der diskurstheoretischen Einordnung wird für die betrachteten Theoriekonzeptionen zunächst geklärt, in welcher Weise eine Diskurstheorie jeweils ihren Gegenstand, den Diskurs, bestimmt und wie der Diskursbegriff im Rahmen des jeweiligen theoretischen Modells konstituiert wird. Diese Gegenstandsbestimmung muss daraufhin bewertet werden, ob sie mit der Auffassung kompatibel ist, die den Diskurs als Kommunikationsraum auffasst und die die vertikale Formierung von Diskursen anhand der Vertikalität des grundlegenden Diskurswortschatzes untersucht. Diskursvertikalität: Im zweiten Schritt muss überprüft werden, in welcher Weise die gesellschaftliche Teilung von Wissen und Wortschatz im Rahmen der jeweiligen Theorie verarbeitet ist. Es geht hier also um die Fragen: Wie ist der Diskurs vertikal organisiert? Welche Wissens- und Wortschatzniveaus sind innerhalb des Diskurses feststellbar? Welche kommunikativen Konstellationen der Niveaus zueinander sind in welcher Weise möglich, etwa durch Stereotypien als Wissensbasis? Diskursprogression: Im dritten Schritt gilt es zu überprüfen, inwieweit eine Diskurstheorie Instrumente und Kategorien zur Erfassung der Fortentwicklung, Expansion und Differenzierung der Diskursgegenstände im Verlauf der Zeit bereitstellt und welche Antworten die jeweilige Theorie auf die

46 folgenden Fragen gibt: Welche Diskursgegenstände sind einem Diskursfabschnitt) zugehörig? In welcher Weise hat sich die Formierung zentraler Diskursgegenstände weiterentwickelt: Welche Diskursgegenstände sind hinzu gekommen, welche sind verschwunden, welche sind weiter differenziert worden? Diskurspersuasion/Diskurslenkung: Hier muss geprüft werden, welche Kontrollmechanismen, denen ein Diskurs unterworfen ist, von der jeweiligen Theorie erfasst werden. Dazu gehört die Frage, in welcher Weise die Experten* und Laienwortschätze an Institutionen und Gruppen gebunden sind, ebenso wie die Fragen danach, wie Diskurse in Gang gesetzt werden, wie ihr Verlauf kontrolliert werden kann, und die Frage nach Exklusionen und der Rolle der Persuasion innerhalb von Diskursen. Für die später zu untersuchenden Technologiewortschätze steht die Frage im Zentrum, welche Wünschbarkeits-, Machbarkeits- und Vermeidungsvorstellungen auf einen Diskursgegenstand projiziert werden, um den beteiligten Diskurswortschatz an Gruppenzielen orientiert konnotativ aufzuladen.

3

Aspekte vertikaler Wortschatzvariation und die Diskurstheorie Michel Foucaults

Besonders die Diskurstheorie von Michel Foucault hat die Entwicklung wichtiger linguistischer und literaturwissenschaftlicher Diskursanalysen und Diskurskonzeptionen angestoßen. Deshalb muss eine Wortschatz- und vertikalitätsorientierte Diskurslexikologie überprüfen, inwieweit ihre Analyse der kommunikativen Arbeitsteilung zwischen Experten und Laien, die in der Vertikalität der Diskurslexik fassbar wird, mit den methodologischen Aussagen Foucaults zu einer wissensorientierten Diskursanalyse, einer Wissensarchäologie, kompatibel ist.1 Die Differenzierung zwischen der vertikalen und horizontalen Strukturierung von Diskursen und die Detailbetrachtung vertikaler Formierung wird bei Foucault nicht thematisiert. Auf die Wissensdistribution zwischen Experten und Laien geht er nicht ein, wenn er die Verfassung des Wissens in historischen, wissenschaftlichen Diskursen untersucht, und auch im Rahmen seiner „poststrukturalistischen Methodologie" 2 oder in seiner Analyse des Zusammenhangs von Macht, Subjekt und Wahrheit3 bearbeitet er diese Fragen nicht. In den Forschungsrahmen, den Foucault umreißt, gehört aber die Frage nach der diskursiven Verteilung von Wortschatz und Bedeutungswissen zwischen Experten und Laien ganz gewiss: Was in Frage steht, ist die Weise, in der Wissen zirkuliert und funktioniert, seine Beziehungen zur Macht, kurz das Régime des Wissen. (Foucault 1994 WM: 246)4 1

2

3 4

Die foucaultsche Theorie wird hier lediglich in den Punkten diskutiert, die für die Einordnung der Vertikalitätsperspektive wichtig sind. Einen umfassenderen Einblick in die Entwicklung der Theorie, ihre Veränderungen und die Rezeption der foucaultschen Theorie bieten besonders Dreyfus/Rabinow (1994) und Lemke (1997). Den Blick auf das forschungspraktische Potenzial der Diskursanalyse richten besonders die Beiträge in Bublitz u. a. (1999), und den Zusammenhang von Wissensarchiv und Gesellschaft beleuchtet Bublitz (1999). Eine strukturierte Kurzbibliografie zu Foucault liefert Fink-Eitel (1997). Fink-Eitel (1997: 82). Fink-Eitel (1997: 134) verweist darauf, dass Foucault seine antistrukturalistische Perspektive besonders in der Archäologie des Wissens elaboriert und anschließend auch auf vorgängige Untersuchungen angewendet hat. In der zweiten Auflage der Geburt der Klinik (1972) etwa „ersetzt er die strukturalistische zeichentheoretische Terminologie stellenweise durch diskursanalytische!" Zu Macht und Wahrheit bei Foucault vgl. Dreyfus/Rabinow (1994: 216-242). Foucault (1997 AW: 116). Um die Zuordnung der Zitate zum Werk Foucaults zu erleichtern, werden die zitierten Bände mit folgenden Siglen versehen: ,AW' = Archäologie des Wissens, ,OD' = Die Ordnung der Dinge, ,ODK' = Die Ordnung

48 Darüber hinaus ist Foucaults Methodologie für eine diskurstheoretische Einordnung der Vertikalitätstheorie zentral, auch wenn Dreyfus/Rabinow (1994: 105) „das methodologische Scheitern der Archäologie" konstatieren, weil sie den Blick auf den Wissenshaushalt einer Gesellschaft richtet, aus dem sich auch die Wortbedeutungen speisen, und danach fragt, wie man die Wissensverteilung, die Diskurspraktiken (Archäologie des Wissens, 1969) und die Kontrolle (Die Ordnung des Diskurses, 1971) im „begrenzten Kommunikationsraum"5 des Diskurses beschreiben kann.6 Die Rolle der Sprache ist dabei von größter Wichtigkeit, weil sie in Foucaults Anschauung schon beim Erwerb ein grundlegendes „Umgangswissen"7 transportiert, d. h. weil durch die Sprache „die Menschen in Kommunikation treten und sich in dem bereits geknüpften Raster des Verstehens befinden". 8 Es ist Aufgabe einer vertikalitätsbezogenen Diskurslexikologie, die verschiedenen „Raster des Verstehens"9 und die daraus erwachsende Lexik bei Experten und Laien, die einander im diskursiven „Kommunikationsraum"10 begegnen, zu untersuchen.

5 6

des Diskurses, ,WW' = Der Wille zum Wissen, ,M' = Warum ich die Macht untersuche, ,MM' = Mikrophysik der Macht. Foucault(1997 AW: 183). Fink-Eitel (1997: 8 - 1 7 ) ordnet die Entwicklung der Methodologie einer zweiten und dritten Phase im Werk Foucaults zu. Als Strukturierungshilfe sei Fink-Eitels Überblick über das Werk kurz schematisiert:

Phase 1)

2)

Theorie der Diskursprak- • tiken • Theorie der Machtpraktiken • • •

Die Geburt der Klinik (1963) Archäologie des Wissens (1969) Die Ordnung des Diskurses (1971) Überwachen und Strafen (1975) Sexualität und Wahrheit I, Der Wille zum Wissen (1976) Der Gebrauch der Lüste (1984) Die Sorge um sich (1984)

4)

8 9 10

Haupttexte Wahnsinn und Gesellschaft (1961) Die Ordnung der Dinge (1966)

3)

7

Hauptthema Theorie der Wissensformie- • rung: Wissen, Machtsystem • und Individuum

Achse der Ethik, Rückkehr • zum Subjekt mit dem Ver- • mögen, zur Freiheit

Dreyfus/Rabinow (1994: 63). Foucault (1997 OD: 399). Foucault (1997 OD: 399). Foucault (1997 AW: 183).

49

3.1

Diskursmodellierung'. Foucaults Diskursbegriff und ihr Wert für die Untersuchung vertikaler Wortschatz- und Wissensvariation

3.1.1

Foucaults Diskursbegriff aus Sicht einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie

Foucault liefert keine präzise Nominaldefinition des Begriffes Diskurs. Seine Begriffsabgrenzungen fungieren eher als „funktionale Analyseraster, als Brille, durch die wir das zu analysierende Material auswählen und daraufblicken". 11 Er präzisiert seinen Diskursbegriff im Verlauf des Methodologieentwurfes in Archäologie des Wissens sukzessiv, indem er zunächst die „schwimmende Bedeutung des Wortes Diskurs"12 schrittweise enger fasst. Auf die anfangliche Etikettierung des Diskurses als einer „Menge von sprachlichen Performanzen"13 oder eine „Menge von Formulierungsakten, eine Folge von Sätzen oder Propositionen"14 folgt die explizite Bindung an den Aussagenbegriff als Definiens. Der Diskursbegriff wird damit zunächst eingegrenzt, weist aber nach wie vor drei polyseme Bedeutungsebenen auf; Diskurs bedeutet in dieser Phase der Erörterung: einmal allgemeines Gebiet aller Aussagen, dann individualisierbare Gruppe von Aussagen, schließlich regulierte Praxis, die von einer bestimmten Zahl von Aussagen berichtet. (Foucault 1997 AW: 116)

Die weiterfuhrenden Präzisierungen münden in eine Abgrenzung des Diskursbegriffes; nach dieser wird der Terminus Diskurs bestimmt werden können: eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören. Und so werde ich von dem klinischen Diskurs, von dem ökonomischen Diskurs, von dem Diskurs der Naturgeschichte, vom psychiatrischen Diskurs sprechen können. (Foucault 1997 AW: 156)

Als Definientia zieht Foucault hier das Formationssystem und die Aussage heran. Das Formationssystem bildet den Bezugsraum für eine Aussage. Aus diesem Blickwinkel gehört eine Aussage „zu einer diskursiven Formation, wie ein Satz zu einem Text und eine Proposition zu einer deduktiven Gesamt-

11

12 13 14

Hanke (1999: 110). Diaz-Bone (1999). Foucault (1997 AW: Foucault (1997 AW: Foucault (1997 AW:

Zur Operationalisierung der vagen Begrifflichkeit vgl. auch 116). 156). 156).

50 heit gehört".15 Es folgt eine weitere, partiell zirkulär anmutende Begriffsbestimmung: Diskurs wird man eine Menge von Aussagen nennen, insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören. [...] Er wird durch eine begrenzte Anzahl von Aussagen konstituiert, für die man eine Menge von Existenzbedingungen definieren kann. (Foucault 1997 AW: 170)

Hier wird der Diskursbegriff erneut explizit an den Aussagenbegriff gebunden. Foucault grenzt seinen Diskursbegriff weiterführend ein, indem er betont, dass er den Diskurs als empirisch fassbare, zeitlich situierte Entität auffasst und nicht als Idealtypus: Der so verstandene Diskurs ist keine ideale und zeitlose Form [...]. Er ist durch und durch historisch. (Foucault 1997 AW: 170)

Ein solcher zeitlich und wissensmäßig situierter Diskurs ist darüber hinaus durch eine diskursive Praxis auch sozial determiniert. Diese Diskurspraxis stellt das zeitgebundene und kulturspezifisch ausgeformte Regelsystem dar, dem ein Diskurs unterliegt: Sie ist eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geografische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben. (Foucault 1997 AW: 171)

Foucault fasst also den Diskurs als konkretes „Strukturmuster gesellschaftlicher Ordnung"16 auf, als Menge von Aussagen, die im Rahmen eines historischen und situativen Kontextes im Sinne gesellschaftlicher Praxis gemacht werden und die eingebettet sind in ein Formationssystem, das die Formationsbedingungen festlegt und das seinerseits in der diskursiven Praxis gespiegelt wird.17 Diese Menge von Aussagen bildet in der spezifischen Anordnung ihrer historischen Ausprägung eine Wissenskonstellation, eine „Positivität"18, die Diskurse prägt: Die Positivität eines Diskurses „definiert einen begrenzten Kommunikationsraum"19. Dieser Diskursbegriff, dessen Bestimmungsspektrum von „regulierte Praxis"20 über „Menge von Aussagen"21 und „Gebiet aller Aussagen"22 bis „be15 16 17

18 19 20 21 22

Foucault (1997 AW: 170). Bublitz (1999/c: 24). Zu Foucaults Diskursbegriff und seiner Auffassung als gesellschaftliche Praxis vgl. auch Bublitz (1999), Bublitz u. a. (1999/a, b). Foucault (1997 AW: 182, Kursivdruck im Original). Foucault (1997 AW: 183). Foucault (1997 AW: 116). Foucault (1997 AW: 170). Foucault (1997 AW: 116).

51 grenzte[r] Kommunikationsraum"23 reicht, hat sich, möglicherweise gerade weil er Vagheiten aufweist, die Interpretationsspielräume zulassen, für die Diskursanalyse als ausgesprochen fruchtbar erwiesen. Konersmann betont in seinem Essay „Der Philosoph mit der Maske": Foucault wäre nicht Foucault, würde er die Frage nach dem Diskurs-Begriff schlicht und erschöpfend mit einer bündigen Definition beantworten. [...] Seine Unbestimmtheit, die Schwäche und Stärke zugleich ist, gewinnt der Diskursbegriff dadurch, daß er nicht nur die Organisation des Wissens beschreibt, also eine Form, sondern auch seine Produktion, also eine Praxis [...]. (Konersmann 1997: 77)

Diese beiden Aspekte, die Organisationsform des Diskurswissens und die spezifische Praxis der vertikalen Wissens- und Wortschatzverteilung zwischen Experten und Laien in der Diskurskommunikation, stehen auch im Interessenfokus einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie. Daher ist nun zweierlei zu prüfen, nämlich inwieweit Foucaults aussagebasierter Diskursbegriff mit dem Konzept vom Diskurs als „Kommunikationsraum"24 auch im Sinne einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie übereinstimmt und auf welche Formationsbedingungen und diskursive Praktiken die Wissens- und Wortschatzvertikalität in öffentlichen Diskursen zurückzuführen ist.

3.1.2

Grundeinheiten von Diskursen: Diskurshandlungen von Experten und Laien anstelle von Aussagefunktionen

Für die Frage nach den Grundeinheiten von öffentlichen Diskursen geben Foucaults Ausfuhrungen zum Aussagebegriff zwar wichtige Anregungen zur Einbindung von Diskursbeiträgen in den Wissens- und Sozialhorizont, sein Aussagenbegriff selbst kann aber von einer Diskurslexikologie nicht übernommen werden, weil er nicht auf die Erfassung der Diskurskommunikation gerichtet ist. Einer Diskurslexikologie geht es dagegen aber gerade um die kommunikative Praxis, und das diskursive System wird als kommunikativer Raum und Produktionsbedingung von Experten- und Laienkommunikation aufgefasst. Foucault dagegen setzt mit seinem Aussagebegriff eine Entität als Grundeinheit von Diskursen an, die er weder als Äußerung noch als sprachliche Einheit im Sinne bloßer Ausdruck-Inhalts-Verbindungen verstanden wissen will:

23 24

Foucault (1997 AW: 183). Foucault (1997 AW: 183).

52 Sprache und Aussage stehen nicht auf der gleichen Existenzstufe; und man kann nicht sagen, daß es Aussagen gibt, so wie man sagt, daß es Sprache gibt [...] Die Aussage ist keine Einheit derselben Art wie der Satz, die Proposition oder der Sprechakt. (Foucault AW 1997: 126) Ein weiteres Element der Entsprachlichung des Aussagebegriffes ist die Ablehnung einer Identität von Sprechakt und Aussage, die Foucault ausdrücklich betont, wobei er den (aus Sicht der Sprechakttheorie) falschen Schluss zieht, Sprechakte könnten nicht wiederum Sprechakte beinhalten.25 Es bedarf also mehr als einer Aussage, um einen >Sprechakt< zu bewirken: Schwur, Bitte, Vertrag, Versprechen, Demonstration verlangen die meiste Zeit eine bestimmte Zahl von unterschiedlichen Formulierungen oder getrennten Sätzen: Es wäre schwierig, jedem von ihnen den Status der Aussage unter dem Vorwand vorzuenthalten, dass sie alle von ein und demselben illokutionären Akt durchquert sind. (Foucault 1997 AW: 121) In einem derart entsprachlichten Aussagebegriff ist eine Aussage „in sich selbst keine Einheit" mehr, sondern „eine Funktion, die ein Gebiet von Strukturen und möglichen Einheiten durchkreuzt und sie mit konkreten Inhalten in Zeit und Raum erscheinen lässt".26 Eine Aussage ist nach dieser Bestimmung also keine sprachliche Einheit, sondern „eine Existenzfunktion, die den Zeichen eigen ist",27 und es ist diese abstrakte Funktion, die den Diskurs zu einem Raum dynamischer Wissenskonstellation formiert. Aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie wäre eine Übernahme dieses Aussagebegriffes nicht haltbar. Aus ihrer Sicht bestehen öffentliche Diskurse aus kommunikativen Diskurshandlungen im Rahmen von vertikal eingeordneten Diskursbeiträgen. Damit gilt auch für eine vertikalitätsorientierte Diskurslexikologie das Postulat der generellen Handlungsorientierung in der Diskursanalyse, das Busse in Opposition zum reduzierten Sprach- und Aussagebegriff Foucaults so eindringlich und programmatisch fixiert hat: Jede Semantik, auch die historische Form der Diskurssemantik, kann nur die kommunikative Handlung als Grundeinheit der Analyse betrachten. Jede historische Semantik, und gerade eine Diskurssemantik, muß zuerst die ,Produktionsbedingungen' der diskursiven Äußerung analysieren, um eine Analyse der diskursiven Formationen selbst zu ermöglichen. (Busse 1986: 259)

25

26 27

Searle hat diese Lesart angezweifelt und in einem Brief an Foucault darauf hingewiesen, dass in der Sprechakttheorie der Fall durchaus vorgesehen ist, dass ein Sprechakt, z. B. ein Versprechen, einen anderen Sprechakt, etwa eine Feststellung, integrieren kann. Foucault hat den Einwand akzeptiert. (Zu diesem Briefwechsel vgl. Dreyfus/Rabinow (1994: 313-314)). Foucault (1997 AW: 126). Foucault (1997 AW: 126).

53 Als kommunikative Handlung gilt in diesem Sinne jede schriftliche oder mündliche Äußerung, „die zum Zweck hat, bei einem oder mehreren Adressaten Sinn zu konstituieren".28 Der Wortschatz, mit dem die sprachliche Seite der kommunikativen Handlungen innerhalb eines Diskursbeitrages realisiert wird und durch den die Wissenskonzepte verbalisiert werden, muss im Rahmen der vertikalen Analyse jeweils auf einem spezifischen Experten- oder Laienniveau verortet werden. Das „Atom des Diskurses"29 ist aus dieser Perspektive also nicht die Aussage, sondern eine mehrfachadressierte Diskurshandlung, die auf niveauspezifischen diskursiven Grundkonzepten mit ebenfalls niveauspezifischer sprachlicher Abdeckung beruht. Ihre sprachliche Erscheinungsform ist in aller Regel der Text. Auch wenn wir Foucault bei der Festlegung der Aussagefunktion als diskursiver Grundeinheit nicht folgen, gibt sein Aussagebegriff für die Untersuchung der Diskursvertikalität und der zugeordneten Formierung von Diskurswortschätzen dennoch Anregungen insbesondere mit Blick auf die Einordnung von Diskursbeiträgen in den Umgebungsraum des Wissens und der Sozialität. Eine Aussage unterscheidet sich im Verständnis Foucaults von sprachlichen Zeichen besonders dadurch, dass sie nicht über ein materielles oder kognitives Korrelat verfugt, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie bei bilateralem Zeichenbegriff die Bedeutung das Korrelat zum Signifikanten eines Sprachzeichens bildet. Eine Aussage hat demnach „als Korrelat kein Individuum oder einzelnes Objekt, das durch ein bestimmtes Wort des Satzes bezeichnet würde",30 sondern sie ist mit einem „Raum der Differenzierung"31 als Referential verbunden, in dem sie niveauspezifisch positioniert ist: Sie [die Aussage] ist mit einem »Referential« verbunden, das nicht aus »Dingen«, »Fakten«, »Realitäten« oder »Wesen« konstituiert wird, sondern von Möglichkeitsgesetzen [...]. Das Referential der Aussage bildet den Ort, die Bedingung, das Feld des Auftauchens, die Differenzierungsinstanz der Individuen oder der Gegenstände, der Zustände der Dinge und der Relationen, die durch die Aussage selbst ins Spiel gebracht werden [...]. Diese Gesamtheit charakterisiert das Aussagendem der Formulierung im Gegensatz zu ihrem grammatischen Niveau und ihrem logischen Niveau. (Foucault 1997: 133, Kursivdruck im Original)

28 29

30 31

Busse (1986: 259). Foucault (1997 AW: 117). Der Aussagenbegriff Foucaults hat wegen seiner Vagheit zu Recht Kritik auf sich gezogen und ist von Fink-Eitel (1997: 134) als „der wohl dunkelste, am meisten zu Konfusionen Anlaß gebende Teil der Archäologie" bezeichnet worden. Zur Kritik am Aussagebegriff vgl. die Literaturzusammenstellung bei Fink-Eitel (1997: 134) sowie die Bewertung von Fricke (1999: 2 7 ^ 2 ) und die semantische Bewertung des Aussagenbegriffes bei Busse (1986: 227-237). Foucault (1997 AW: 132, Kursivdruck im Original). Foucault (1997 AW: 133).

54 Den Aussagen korrespondiert also ein Wissens-Differenzierungsraum, so wie auch im Falle öffentlicher Diskurse die Beiträge gleich in mehrfacher Hinsicht einer wissensmäßigen und sozialen Einordnung in einen Differenzierungsraum unterliegen. Dort sind Diskursbeiträge Ausdruck eines Wissens, das einer vertikalen Einordnung im Wissensraum des Diskurses unterliegt, und die Wissensspezifik (Expertenwissen, Laienwissen, Stereotype als Näherungen) bestimmt hier die kommunikative und sprachliche Spezifik einer Diskurshandlung. Dementsprechend ist die kommunikative Fragestellung einer vertikalitätstheoretischen Semantik und Lexikologie auf die vertikale Formation des Bedeutungsraumes gerichtet, d. h. auf die im Diskurswortschatz sichtbar werdenden Unterschiede zwischen Experten und Laienbedeutungen, die Stereotypen und Besetzungstypen (Gleich-, Näherungs-, Falsch- oder Nichtbesetzung).32 Die Position eines Experten- oder Laiensprachzeichens im Diskursraum kann nur in Beziehung zum diskursiven Gesamtwissens- und Sprachraum erfasst werden. Erst von dieser kommunikativen Positionierung im Vertikalitätsraum her können die Varianzen auf der Bezeichnungsseite, die Einbindung in diskursive Wortfelder und die Phänomene der Tropik bewertet und die pragmatische Dimension eines Wortschatzes (z. B. seine Rolle im Wissenstransfer oder seine persuasiven Wirkungen) analysiert werden. Ob z. B. ein Signifikant wie Informationsgesellschaft von einem Informatiker in einer Informationssendung im Fernsehen zum Thema .Anwerbung ausländischer Informatikfachkräfte' (sog. Green-Card-Debatte zu Anfang des Jahres 2000) verwendet wird oder von einem Vertreter von Bundesregierung oder Opposition in einer Debatte im Deutschen Bundestag, macht einen großen Unterschied. Weiterhin unterscheiden sich z. B. diese beiden Verwendungsweisen deutlich von der öffentlichen Verwendung des Signifikanten durch einen Laien, der keine weitergehende, z. B. berufliche Verbindung zur Informatik hat, sich aber im Rahmen des öffentlichen Diskurses mit dieser Thematik auseinander setzt. Solche explizit als Laienaussagen gekennzeichneten Verwendungen können über verschiedene mediale Formate in öffentliche Diskurse eingebracht werden, so z. B. über entsprechende Moderationen thematischer Sendungen oder Zufallsbefragungen ebenso wie durch Formen der Publikumsbeteiligung, etwa in Fernseh-Talkshows oder Leserbriefen in Printmedien und Online-Diskussionen in Foren oder thematischen Chats. Von der diskursexternen linguistischen Vertikalitätsbewertung zu trennen ist die diskursinterne Vertikalitätsbewertung, die von den Diskursbeteiligten selbst vorgenommen wird. Auch sie bewerten Diskursbeiträge, indem sie sie 32

Zu den Besetzungstypen vgl. Wichter (1994: 123-144).

55 wissensmäßig und sozial einordnen. Produzenten und Rezipienten weisen diskursive Aussagen in aller Regel als Experten- oder Laienaussagen einem spezifischen Wissens- und Statusniveaus zu, und diese Einordnung ist entscheidend für das Verständnis und die Reichweite der Aussagen sowie für die Bereitschaft von Rezipienten, diese als (mehr oder weniger) gesichertes Wissen anzunehmen oder, im anderen Falle, als falsch, unglaubwürdig oder persuasiv zurückzuweisen. Die Einordnung von Diskurshandlungen in eine Rangskala des Wissens und der sozialen Dignität, also eine Verortung im Raum der Wissensvertikalität und der sozialen Hierarchie, ist für Diskursaussagen konstitutiv. Jeder öffentliche Beitrag eines Diskursbeteiligten wird von den Rezipienten hinsichtlich des Wissensniveaus (Handelt es sich jeweils um Expertenwissen, Beteiligten- oder Betroffenenwissen oder offenkundig um Laienwissen?) und hinsichtlich des Sprecherstatus bewertet. Wenn Diskursbeiträge von Experten und Laien analysiert und spezifischen Wissens- und Wortschatzniveaus im vertikalen Diskursraum zugeordnet werden, um am Beispiel einzelner Wissensdomänen das diskursive System der Wissens- und Wortschatzvertikalität zu beschreiben, so entspricht dies als deskriptive Variante weitgehend dem von Foucault geforderten Vorgehen bei der Analyse von Aussagegruppen bzw. diskursiven Formationen. Gemäß der foucaultschen Basisforderung impliziert auch eine Vertikalitätsanalyse, „daß man das allgemeine System definiert, dem die verschiedenen Äußerungsweisen, die mögliche Verteilung subjektiver Positionen [...] gehorchen",33 und sie impliziert - auch hier parallel - , dass bei der Untersuchung der Diskursvertikalität das diskursive „Differenzierungsprinzip"34 betrachtet wird, das gekennzeichnet ist durch den Bezug auf ein „Subjekt", „ein angeschlossenes Feld" und „eine Materialität".35 Dabei bedeutet das Subjekt für Foucault „nicht das sprechende Bewußtsein, nicht [den] Autor der Formulierung, sondern eine Position, die unter bestimmten Bedingungen mit indifferenten Individuen gefüllt werden kann".36 Diese indifferenten Individuen sind einem Diskurs geradezu ausgeliefert, der ein „Netz der Machtwirkungen, ein dichtes Gewebe bildet, das die Apparate und Institutionen durchzieht".37 33 34 35 36 37

Foucault (1997 AW: 166). Foucault (1997 AW: 167). Foucault (1997 AW: 167). Foucault (1997 AW: 167). Foucault (1976 WW: 118). Zwar „verwirft Foucault die Vorstellung eines souveränen Subjektes". (Bührmann 1999: 51) In den späteren Publikationen räumt er allerdings dem Subjekt mehr Freiheit ein. Mit dieser Abwendung von der Vorstellung der Auflösung des Subjektes im Diskurs zugunsten eines Subjektbegriffes, der dessen Freiheit einräumt, sich zur Diskursmacht fugend oder widersetzend zu

56 Für eine Diskurslexikologie müssen dagegen sowohl komplexere Produktions- und Rezeptionsinstanzen als auch Personen als eigenständig kommunizierende Diskurssubjekte bzw. Diskursakteure gelten, denn in öffentlichen Diskursen ist nicht nur auf der Rezeptionsseite mit differenzierten Adressatenfeldern zu rechnen, sondern auch auf der Produktionsseite mit differenzierten Autorenfeldern. Die Komplexität dieser Felder wird am Beispiel einer Bundestagsrede deutlich. Sie wird zwar von einer Sprecherperson öffentlich dargestellt, dahinter können aber ganze Autorenfelder stehen, die bis in die einzelnen Formulierungen hinein das in der Rede verarbeitete Wissen aufbereitet haben. Neben den Fachreferaten und -abteilungen in den Ministerien und der Politikberatung durch externe Sachverständige findet sich die institutionalisierte Form umfangreicherer Autorenfelder besonders in Ausschüssen oder Enquetekommissionen. Sie bereiten das Wissen verschiedener Fächer mit Blick auf politische Fragestellungen auf, und dieses Wissen wird von den Redenschreibern verarbeitet. Jede Diskurshandlung und jeder Diskurs gründet in einem gesamtgesellschaftlichen Wissenspotenzial, und nur mit Hilfe einer archäologischen Diskursanalyse, die der Komplexität des Wissens und seiner sozialen Einbindung gerecht wird, kann nach Foucaults Ansatz dieses Wissensarchiv einer Gesellschaft erschlossen und in seinen diachronen Transformationen beschrieben werden38. Das Wissensarchiv repräsentiert für ihn „das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen",39 Wenn nun im Sinne einer diskurstheoretischen Einordnung behauptet wird, dass die vertikale Wortschatzvariation infolge sprachlicher Arbeitsteilung als spezifische Regelmäßigkeit aufgefasst werden kann, nach der die von Experten und Laien „gesagten Dinge [...] sich in distinktiven Figuren anordnen",40 dann müssen die Wissens- und Wortschatzvariation auch im Rahmen der Grunddimensionen nachweisbar sein, die eine diskursive Formation ausmachen. Deshalb ist nun detaillierter darzulegen, dass es sich bei der Diskursvertikalität um eine spezifische Formationsbedingung und bei der sprachlichen Arbeitsteilung um ein Prinzip diskursiver Praxis in öffentlichen Diskursen handelt.

38 39 40

verhalten, vollzieht Foucault, so Fink-Eitel (1997: 98) einen „radikalefn] Bruch" mit seiner ursprünglichen Subjektphilosophie. Bührmann (1995) zeigt auf, dass Foucault mit seinem Subjektbegriff keineswegs jede Vorstellung eigenständig handelnder Subjekte ablehnt. Zum Wissensarchiv moderner Gesellschaften vgl. Bublitz (1999). Foucault (1997 AW: 188, Kursivdruck im Original). Foucault (1997 AW: 187).

57

3.2

Diskursvertikalität: Wissens- und Wortschatzvertikalität als diskursive Formationsbedingung

Stellt nun also die Wissens- und Wortschatzvertikalität zwischen Experten und Laien eine spezifische Formationsbedingung öffentlich geführter Diskurse dar, die wiederum ein diskursives Formationssystem etabliert? Das wissensmäßige Formationssystem spezifiziert das diskursive Aussagenpotenzial und gewährleistet dessen Zusammenhang und Identität. Die diskursbestimmende Formierung des Wissens zu einem Formationssystem beruht ihrerseits auf grundlegenden und zeitgebundenen Überzeugungssystemen, Foucault nennt sie Episteme,41, die innerhalb wissenschaftlicher Diskurse die „Modalitäten der Ordnung"42 in archäologischen Gebieten fixieren. Die epistemischen Formierungsregeln liegen wissenschaftlichem Wissen in horizontaler, Disziplinen übergreifender Weise zugrunde43. Dementsprechend lautet auch Foucaults Grundfrage bei der Untersuchung von Diskursen des sechzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts: Welche Modalitäten der Ordnung sind erkannt, festgesetzt, mit Raum und Zeit verknüpft worden, um das positive Fundament der Erkenntnisse zu bilden, die sich in der Grammatik und in der Philologie ebenso wie in der Naturgeschichte und in der Biologie, in der Untersuchung der Reichtümer und der politischen Ökonomie entfalten? (Foucault 1999 OD: 24)

Die Frage nach den „Modalitäten der Ordnung" und den zugehörigen Grundeinheiten führt auch ins Zentrum der Analyse der Verfassung und Verteilung von Experten- und Laienwissen im Diskurs, denn die Vertikalität lässt sich als spezifische Ordnungsmodalität von Diskursen auffassen, in denen Experten und Laien miteinander kommunizieren, und in denen die Grenzen zwischen Episteme und Doxa44 nicht objektiv gezogen werden können.

41

42 43 44

Foucault (1999 OD: 24). Foucault (1997 AW: 272) definiert: „Unter Episteme versteht man in der Tat die Gesamtheit der Beziehungen, die in einer gegebenen Zeit die diskursiven Praktiken vereinigen können." Foucault (1999 OD: 24). Zur Rolle der Episteme vgl. Bublitz (1999/c). Doxa wird hier allgemein im platonischen Sinne verwendet, nach dem Doxa, die Meinung, als Mittleres zwischen Wissen und Nichtwissen steht. Zum platonischen Doxa-Begriff vgl. Sprute (1962), Tieisch (1970) und Ebert (1974). Vertikalitätstheoretisch besonders interessant ist die Aufnahme und Variation des Doxa-Begriffes bei Pierre Bourdieu (1976: 318-334), (1982: 122-146) und (1987: 727-755). Die Berührungspunkte von Doxa, praktischem Sinn bzw. Realitätssinn bei Bourdieu und dem linguistischen Stereotypbegriff wird hier nicht weiter untersucht und bleibt zunächst Desiderat.

58 Die Wissens- und Wortschatzvertikalität ist damit eine entscheidende Konstituente der empirisch überprüfbaren Formation diskursiven Wissens. Die Breite der Experten- und Laienaussagen bildet im Diskurs ein vertikales Formationssystem aus, in dem sich vielfaltige Wissens- und Wortschatzebenen finden, die in unterschiedlichen Konstellationen zueinander stehen und miteinander konfrontiert werden. Beschreibbar wird auch dieses vertikale Formationssystem nur in der kommunikativen Praxis: Ein Formationssystem in seiner besonderen Individualität zu definieren heißt also, einen Diskurs oder eine Gruppe von Aussagen durch die Regelmäßigkeit seiner Praxis zu charakterisieren. (Foucault 1997 AW: 108)

Hier ist erneut die Rolle der Praxis als Bedingung für Foucaults Diskurskonzept angesprochen, und es wird nochmals greifbar, wie explizit die vertikale Verteilung von Wissen und Wortschatz eine geradezu in alltäglicher Regelmäßigkeit erlebbare „definierte diskursive Praxis"45 darstellt, die die diskursive Kommunikation und die Möglichkeiten der Verständigung prägt. So wird in der Diskursvertikalität der Konnex von nichtsprachlichem Formationssystem (der vertikalen Wissensdistribution) und sprachlicher Praxis (Experten-Laien-Kommunikation) sichtbar, der es erforderlich macht, die foucaultsche Bestimmung dieses Zusammenhanges, die sich primär auf wissenschaftliche Wissensformationen bezieht, auch auf die Bedingungen der vertikalen Wissens- und Wortschatzformierung von Diskursen auszuweiten: Unter Formationssystem muss man also ein komplexes Bündel von Beziehungen verstehen, die als Regel funktionieren: Es schreibt das vor, was in einer diskursiven Praxis in Beziehung gesetzt werden [muss], damit diese sich auf dieses oder jenes Objekt bezieht, damit sie diese oder jene Äußerung zum Zuge bringt, damit sie diesen oder jenen Begriff benutzt [...]. (Foucault 1997 AW: 108)

Die Wissensverteilung zwischen Experten und Laien und die Beziehungen zwischen den zugehörigen Wissens- und Wortschatzniveaus entsprechen geradezu idealtypisch dem angesprochenen „Bündel von Beziehungen", die ein nichtsprachliches Formationssystem konstituieren. Auch Fink-Eitel (1997: 37) betont, dass in Foucaults Perspektive „Wissensstrukturen, Wissenschaft und Alltagswissen wechselseitig aufeinander verwiesen sind." Sichtbar wird die Wissensvertikalität aber erst in der vertikalen Wortschatzvariation, und das bedeutet konkret in der kommunikativen Verwendung des zugehörigen Bezeichnungs- und Bedeutungswissens, die dem Prinzip der sprachlichen Arbeitsteilung folgt.

45

Foucault (1997 AW: 260).

59 3.2.1

Sprachliche Arbeitsteilung als diskursive Praxis in öffentlichen Diskursen

Inwiefern lässt sich nun die sprachliche Arbeitsteilung als die praktische Seite der Wissens-Ungleichverteilung, als diskursive Praxis im Sinne der foucaultschen Analyseorientierung auffassen? Die Grenzverläufe, Brüche und Inkompatibilitäten in der vertikalen Ordnung werden besonders dann sichtbar, wenn Experten- und Laienniveaus im öffentlichen Diskurs zueinander in Beziehung treten. Die entstehenden kommunikativen Spannungen verweisen bereits auf das Prinzip der sprachlichen Arbeitsteilung als Regel diskursiver Sprachpraxis, denn wenn die Wissensund Wortschatzvertikalität erst in der Diskurspraxis sichtbar wird, zeigt das, dass Diskurse nicht als bloße Zeichensysteme aufgefasst werden dürfen. Sie müssen als gesellschaftliche Praktiken verstanden werden, in deren Verlauf die jeweiligen Diskursgegenstände niveaubezogen erst konstituiert werden. Deshalb ist es unerlässlich, Diskurse als arbeitsteilig organisierte kommunikative Handlungsräume zu analysieren und nicht als handlungsneutrale Zeichensysteme. Foucault unterstreicht in diesem Sinne: Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses Mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses Mehr muss man ans Licht bringen und beschreiben. (Foucault 1997 AW: 74, Kursivdruck im Original)

Ein grundlegendes ,Mehr\ in dem gesellschaftliche Wissensteilungspraktiken sichtbar werden, ist das Prinzip der sprachlichen Arbeitsteilung. Die Analyse von Experten- und Laienwortschätzen darf sich daher nicht auf eine statische Bestandsaufnahme der Experten- und Laienzeichen beschränken, die in einem Diskurs verwendet werden. Sie muss explizit nach den zugeordneten Beständen des Bedeutungs- und Bezeichnungswissens und den Handlungsbedingungen fragen, die ein bestimmtes Wissen zur Kommunikationsgrundlage im Diskurs machen. Die vertikale Wortschatzvariation reflektiert somit die enge Verschränkung von Sprache, Wissen und gesellschaftlicher Teilungspraxis, und das bedeutet: Das Prinzip der sprachlichen Arbeitsteilung fungiert als diskursivsprachliches Prinzip „in einem Feld nicht-diskursiver Praktiken".46 Dabei wirken sich besonders drei solcher nicht-diskursiver und damit nichtsprachlicher Praktiken aus: die Spezialisierung innerhalb von Fächern mit ihren Auswirkungen auf Diskurse, die Notwendigkeiten gezielten Wissenstransfers und die Popularisierung des Fachwissens. Das niveauspezifische Fachwissen wird

46

Foucault (1997 AW: 98, Kursivdruck im Original).

60 fachextern erst durch die explizite Versprachlichung in einer Diskurspraxis wirksam. Damit gilt auch für die Wortschatzvertikalität: [Es] gibt kein Wissen ohne definierte diskursive Praxis; und jede diskursive Praxis kann durch das Wissen bestimmt werden, das sie formiert. (Foucault 1997 AW: 260)

Die „diskursive Praxis", die von einer vertikalitätsorientierten Diskurslexikologie untersucht werden muss, ist die Praxis der arbeitsteiligen Kommunikationsorganisation auf der Grundlage des Wortschatzes von Experten und Laien im Diskurs. Diese wiederum fuhrt - relativ zu verschiedenen Wissens- und Bedeutungsniveaus - zu unterschiedlichen Diskurswirklichkeiten von Experten und Laien. Foucault räumt die Möglichkeit unterschiedlicher Diskurswirklichkeiten, die sich unabhängig von den wissenschaftlichen Diskursniveaus etablieren können, durchaus ein, wenn er betont, dass „sorgfaltig zwischen den wissenschaftlichen Bereichen und den archäologischen Gebieten unterschieden werden muss".47 So betont er mit Blick auf Beispiele aus dem Gebiet der Naturgeschichte, dass die archäologischen Gebiete sowohl „Fiktionen", „literarische Texte" oder Einzelperspektiven umfassen können, auch wenn sie „zu einem großen Teil nicht den zu ihrer Zeit anerkannten wissenschaftlichen Normen entsprechen".48 Es lässt sich festhalten, dass die sprachliche Arbeitsteilung eine konstitutive diskursive Praxis im foucaultschen Sinne darstellt, unter deren Bedingungen die wechselseitige Bestimmung von Wissen und seine vertikale Positionierung im Diskurs vonstatten geht. Sie bildet die kommunikative Praxis, mit der die vertikale Formierung von Diskursen sprachlich bewältigt wird. Wenn das Prinzip der sprachlichen Arbeitsteilung die diskursive Praxis lenkt und in dieser Praxis die Wissens- und Wortschatzvertikalität als abstrakte Formationsbedingung sichtbar wird, stellt sich die Frage nach dem Status und der Autonomie der Vertikalitätsebenen. Bilden die Experten- und Laienniveaus eigenständige Formationsebenen im diskursiven Formationssystem, oder sind sie jeweils abhängig von wissenschaftlichem Wissen als niveauhöchster Instanz? Richten sich also Laien in der Diskurskommunikation im Normalfall am Expertenwissen aus?

47

48

Foucault (1997 AW: 260). Hier betont er die Unabhängigkeit seiner Untersuchungsgegenstände von Fächerzugehörigkeiten: „So wie die Dinge liegen, versteht man, daß sorgfaltig zwischen den wissenschaftlichen Bereichen und den archäologischen Gebieten unterschieden werden muss: Ihre Einteilung und ihre Organisationsprinzipien sind ganz verschiedene." (Kursivdruck im Original) Foucault (1997 AW: 260). Vgl. hierzu auch die Kategorie der bestrittenen Vertikalität bei Wichter (1994: 27-29).

61 Keineswegs. Zwar kommt es in den meisten Fällen nicht zum „Aufstand der Laien",49 aber die Wissens- und Wortschatzniveaus sind, wie eingangs schon betont, in der diskursiven Praxis kommunikativ eigenständig. Sie beruhen auf niveauspezifisch ausgeprägten Bedeutungskonzepten, kognitiven Schemata, die als diskursive Grundkonzepte fungieren.

3.2.2

Die vertikale diskursive Streuung von Wissen und Wortschatz

Ist unter diesen Bedingungen der aus fachlicher Sicht unsystematischen vertikalen Streuung des Wortschatzes in Diskursen die kommunikative Vertikalität einer linguistischen Analyse überhaupt zugänglich? Es ist die Aufgabe einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie, Verfahren zu entwickeln und zu erproben, die es ermöglichen, die vertikale Streuung zu untersuchen, der das Wissen über einen Diskursgegenstand und die zugeordnete sprachliche Abdeckung unterliegt. Diese Analyse muss dem Primat der Empirie gehorchen, also Diskurswortschätze und ihre Bedeutungen so abbilden, wie sie im Diskurs verwendet werden, unabhängig davon, ob sich die Regelmäßigkeit der Formierung auf fachliche Systematik oder Laienstereotype zurückfuhren lässt oder nicht. Wenn Foucault bei seinen Analysen der zeittypischen Wissensformierung sogar für die wissenschaftlichen Gebiete der Grammatik, Naturgeschichte und politischen Ökonomie des sechzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts unterstreichen muss, dass deren Spezifik und Varianz nicht in der „Einheitlichkeit einer logischen Architektur"50 zu finden ist, sondern in der „Einbettung eines selben Themas in verschiedene Gesamtheiten",51 dann kann eine vertikalitätstheoretische Lexikologie noch viel weniger feste Wissensformierungen im Diskurs voraussetzen, auf deren Grundlage dann feststehende Diskursbedeutungen generiert werden könnten. In vertikaler Hinsicht existieren in Diskursen keine generell fachlich bestimmten Beziehungen zwischen Experten- und Laienniveaus, die es möglich machen, die Wissensebenen „wie ein fortschreitend deduktives Gebäude"52 aufeinander zu beziehen und die Methodik daraufhin auszurichten. Daher muss eine adäquate Analysekonzeption darauf gerichtet sein, die vertikalen Bedeutungsensembles als empirisch vorfindbare, vertikale Systeme der Streuung"53 zu beschreiben. Diese Wissens- und Wortschatzformationen unterliegen einer Ordnung, die auf den Laienniveaus geprägt sein kann von vielerlei Streuungsmo49 50 51 52 53

Kerner (1996). Foucault (1997 Foucault (1997 Foucault (1997 Foucault (1997

AW: AW: AW: AW:

57). 57). 57). 58, Kursivdruck im Original).

62 menten wie fachfernen Zufälligkeiten, individuellen Wissensvoraussetzungen, medialen Kontakten oder subjektiven Theorien. Dieses Grundmotiv der Wissensdeskription klingt auch an, wenn Foucault für die Ebene der Aussagen fordert, eine Menge von Aussagen nicht als geschlossene und übervolle Totalität einer Bedeutung zu beschreiben, sondern als eine lückenhafte und zerstückelte Figur; eine Menge von Aussagen nicht als in Bezug zur Innerlichkeit einer Absicht, eines Gedankens oder eines Subjekts zu beschreiben, sondern gemäß der Streuung einer Äußerlichkeit. (Foucault 1997 AW: 182)

Bei der diachronen Analyse der Streuung von Diskurswissen und -Wortschätzen ist von einer vertikalen Formierung auszugehen, für die in verstärktem Maße gilt, was Foucault für den historischen Wechsel wissenschaftlichen Wissens konstatiert hat. Die Analyse richtet sich auf: Eine Ordnung in ihrer sukzessiven Erscheinung, Korrelationen in ihrer Gleichzeitigkeit, bestimmbare Positionen in einem gemeinsamen Raum, ein reziprokes Funktionieren, verbundene hierarchische Transformationen. (Foucault 1997 AW: 57)

Die Experten-Laien-Variation in Diskursen zeigt im Zeitverlauf solche „sukzessiven" Erscheinungen, hier werden im diskursiven Austausch semantische Grundkonzepte niveauspezifisch „sukzessiv" weiterentwickelt. Die „Gleichzeitigkeit" von Wissens- und Wortschatzeinheiten bei Experten und Laien verschiedener Domänen ist empirisch an den Ergebnissen von Analysen im Rahmen der Lexikologie der Vertikalität ablesbar, und es ist diese Gleichzeitigkeit, die für die Existenz von Experten- und Laienwortschätzen konstitutiv ist. Vor diesem Hintergrund müssen nun zentrale Aussagen zur Diskursprogression bewertet werden, mit deren Hilfe Foucault die Entwicklung von Diskursen im Zeitverlauf umreißt. Insbesondere betrifft das „die Ebene der Aussagen selbst in ihrem besonderen Hervortreten; die Ebene des Erscheinens der Gegenstände, der Aussagetypen, der Begriffe". 54

54

Foucault (1997 AW: 243).

63

3.3

Diskursprogression: Progression

Diskursgegenstand und thematische

3.3.1

Diskursgegenstand und vertikale Formation

Die Diskursprogression zu verfolgen, bedeutet, Diskursgegenstände in ihrem Verlauf zu beobachten und zu analysieren, welcher Ausdifferenzierung in Themen, Aspekte und Teildiskurse ein Diskurs im Zeitverlauf unterliegt und welchen Veränderungen die thematischen Ebenen und die diskursiven Grundkonzepte im Diskursverlauf unterworfen sind. Da eine Diskurslexikologie Diskursgegenstände als sprachlich-kommunikative Entitäten auffassen muss, ist eine Auseinandersetzung mit den folgenden beiden Fragen nötig: 1) Was konstituiert und konfiguriert einen Diskursgegenstand aus Sicht einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie? 2) Foucault lehnt eine Wortschatzanalyse als Analyseverfahren ab. Ist das Vorgehen der vertikalen Diskurslexikologie damit vereinbar, wenn sie Diskursgegenstände als sprachliche Objekte behandelt und Diskurse gerade auf ihre vertikale Variation von Wortschätzen und Kommunikationspraktiken hin untersucht? Zunächst zur Frage, was aus Sicht der vertikalitätsorientierten Diskurslexikologie einen Diskursgegenstand konstituiert. Wie oben ausgeführt wird ein Diskurs aus Sicht einer Experten-Laien-Lexikologie durch Sprachhandlungen von Experten und Laien begründet. Damit müssen auch die Diskursgegenstände solcher Diskurshandlungen als komplexe sprachlich konstituierte Gebilde, ähnlich einem Diskursthema, aufgefasst werden. Der Diskursgegenstand umfasst aber im Gegensatz zu einem niveauneutralen Globalthema auch die Wissensspezifik der an der Kommunikation beteiligten Niveaus. Er repräsentiert den Gegenstand oder Sachverhalt, über den in einem Diskurs zu einem Zeitpunkt kommuniziert wird, mit dessen thematisierten Aspekten, sowie das spezifische Bedeutungs- und Bezeichnungswissen der beteiligten Vertikalitätsniveaus. Im Computerdiskurs beispielsweise ist ein Diskursgegenstand das sprachlich soziale Konstrukt, das in der Kommunikation über die Computertechnologie niveauspezifisch konstruiert wird. Zugespitzt kann man also sagen, dass Experten, die über Aspekte dieser Technologie kommunizieren, über einen anderen oder niveauverschiedenen Diskursgegenstand verfugen als Laien unterer Niveaus. Das wird besonders anschaulich, wenn Experten über Details der Computertechnologie sprechen, zu denen ein Laie über kein Wissen verfugt. Wenn also Informatiker beispielsweise über einen Ring, Bus, Stern oder Baum sprechen, so kann ein Laie, der nicht weiß, dass es sich dabei um Be-

64 Zeichnungen für Netzwerktopologien55 handelt, nicht über dasselbe Wissen zum Diskursgegenstand verfugen wie ein Experte, auch wenn er aus seinem Erfahrungshorizont heraus über ein Konzept zu Computernetzwerk verfügt oder sich über die Tropik einem Grundverständnis der Expertenbedeutung nähern kann56. Der Diskursgegenstand Computernetzwerk wird also im Diskurs je nach Niveau, auf dem er thematisiert wird, partiell neu konstituiert und erfährt so eine niveauspezifische Ausdifferenzierung. Das Computernetzwerk-Konzept des Experten entspricht nicht dem Computernetzwerk-Konzept des Laien. Die Computertechnologie selbst ist davon getrennt zu sehen, sie ist ihrerseits nicht Gegenstand des Diskurses, sondern bildet das außersprachliche Referenzfeld, die Referenztechnologie, auf das sich die niveauspezifischen Diskursgegenstände beziehen. Ein Diskursbeitrag bezieht sich demnach also auf einen sprachlich konstruierten, niveauspezifischen Diskursgegenstand, und der Referenzträger für die verschiedenen Experten- und Laien-Diskursgegenstände ist eine außersprachliche Entität. Noch deutlicher wird dies am Beispiel von Diskursen, denen, anders als in Technologiediskursen, keine materielle Referenz zugrunde liegt, wie z. B. dem Migrationsdiskurs in Deutschland seit dem Kriegsende. Sprachliche Gegenstände innerhalb eines solchen Diskurses haben ggf. überhaupt kein materielles Korrelat, sondern existieren als Diskursgegenstände auf sozialer, sprachlicher und kognitiver Ebene.57 Diese semantisch-konstruktivistische Perspektive geht ausdrücklich davon aus, dass die diskursive Wirklichkeit in der Kommunikation niveaugebunden konstruiert wird, dass die Diskursgegenstände demnach in erster Linie als sprachlich kognitive Objekte fassbar sind und eine diskursive Praxis spiegeln, die wiederum auf das zugrunde liegende diskursive und wissensmäßige Formationssystem hindeutet. Ist nun diese semantische Perspektive noch mit Foucaults Auffassung in Einklang zu bringen, wenn er Sprache lediglich als Instanz auffasst, „die das Konstruktionssystem möglicher Sätze definiert"?58 Nein, hier verläuft eine Kompatibilitätsgrenze zwischen der diskurslexikologischen und der archäologischen Perspektive, denn Foucault vertritt in seiner dezidiert antistrukturalistischen Haltung59 einen Sprachbegriff, der zwischen Sprache und Handeln

55 56 57

58 59

Vgl. Halfar (1997) und Busch, C. (1998: 33-35). Vgl. dazu Busch (2000/a). Zum Migrationsdiskurs vgl. Jung (2000), Jung/Niehr (2000) und zu nationalen Stereotypien Dabrowska (1999). Foucault (1997 AW: 188). Zu Foucaults Vermeidung einer strukturalistischen Analyse, obwohl, wie Dreyfiis/ Rabinow (1994: 21) betonen, seine Archäologie „gewisse Grundannahmen mit

65 trennt: Foucault „grenzt jede Sprachanalyse vom sozialen Gebrauch und der sozialen Bedeutung der Sprache ab".60 Die Analyse der lexikalischen Inhalte definiert sowohl die Bedeutungselemente, über die die sprechenden Wesen zu einer gegebenen Zeit verfugen, als auch die semantische Struktur, die an der Oberfläche der schon geäußerten Diskurse erscheint; sie betrifft nicht die diskursive Praxis als Ort, an dem eine verschachtelte Vielfalt, die lückenhaft und übereinandergelegt zugleich ist, vor Gegenständen sich formiert und deformiert, erscheint und erlischt. (Foucault 1997 AW: 73)

Für die Diskursanalyse bedeutet das aus seiner Sicht: Die Wörter sind in einer Analyse, wie der, die ich erstelle, ebenso bewußt fern wie die Dinge selbst; nicht mehr Beschreibung eines Wortschatzes als Rückgriff auf die lebende Fülle der Erfahrung. (Foucault 1997 AW: 73, Kursivdruck im Original)

Diese extreme Pointierung ist vor dem Hintergrund von Foucaults dezidierter Ablehnung des Strukturalismus, seinem eingeschränkten Sprachbegriff und seinem Bestreben zu bewerten, „die Rolle des Subjektes in der Wissensgeschichte zurückzudrängen".61 Die paradox anmutende Haltung Foucaults, der Untersuchung von Wissenskonstellationen, die nur als sprachliches Handeln einer Analyse zugänglich sind, einen Sprachbegriff zu unterlegen, der zwischen sprachlichem und diskursivem Handeln trennt, ist in der praktischen Diskursanalyse wenig hilfreich und hat, an diesem Punkt zu Recht, den Vorwurf praxisferner Programmatik auf sich gezogen. Indem er auf diese Weise eine „Praxistheorie ohne eigenen Handlungsbegriff' 6 2 kreiert, schüttet, so Busse, „Foucault wieder einmal das Kind mit dem Bade aus".63 Mit dieser Haltung steht der Sprachbegriff in Foucaults methodologischem Entwurf im Umkreis eines älteren Prototyps von Sprachwissenschaft, „der einen sehr engen /««gwe-Begriff hätte und dessen parole allenfalls das Einzelgespräch umfasste".64 Diesen Prototyp formuliert Foucault explizit, wenn er in unterstellter Gleichsetzung der Sprachwissenschaft mit einer „generativen Grammatik"65 zur Unterscheidung der Perspektiven von Wissens- und Sprachanalyse betont:

60 61 62 63 64 65

dem Strukturalismus teilt", vgl. die Diskussion bei Dreyfus/Rabinow (1994: 1524). Bublitz (1999: 152). Busse (1986: 247). Sloterdijk (1972: 182, zitiert in Busse (1986: 247)). Busse (1986: 247). Wichter (1999/b: 85). Foucault (1997 AW: 295).

66 Dieses Unterfangen [der Wissensarchäologie] löst sich von einer Untersuchung, die die linguistische Kompetenz zum privilegierten Gebiet hätte, indem sie, in der Masse der gesagten Dinge, die als Funktion der Realisierung der sprachlichen Performanz definierte Aussage in Angriff nimmt. (Foucault 1997 AW: 295, Kursivdruck im Original)

Sein Begriff von sprachwissenschaftlicher Analyse ist sehr eingeschränkt und dient der strategischen Aufwertung der Wissensarchäologie als praxisnahes Verfahren der „Analyse verbaler Performanzen"66 und Praktiken sowie der „Definition der Bedingungen ihrer Realisierung"67 gegenüber einer als praxisfern etikettierten strukturalistischen Analyse der Sprachoberfläche im Sinne eines Ensembles pragmatisch kaum eingebundener Realisierungsformen der Langue. Dieser eingeschränkte Begriff von Sprache und Sprachwissenschaft, der darauf zielt, die Diskursanalyse aus dem Feld einer sprachwissenschaftlichen Analysetätigkeit herauszulösen, ist aus Sicht einer Diskurssemantik und Diskurspragmatik nicht haltbar. Hier gilt in besonderer Weise Wichters Hinweis auf die interdisziplinäre Zuständigkeit der Sprachwissenschaft für das gesamte kommunikative Handeln, denn: Alle Formen der Kommunikation, die zwischen Individuen und die zwischen Gruppen bis hin zu Großgruppen, die von Angesicht zu Angesicht und die von Computer zu Computer, sind Gegenstand der Sprachwissenschaft. (Wichter 1999/b: 85)

Deutliche Gemeinsamkeiten dagegen finden sich, wenn man den Kommunikationsbegriff einer Diskurslexikologie, die den Diskurs als Ensemble gegenstandsbezogener Kommunikationshandlungen auffasst, mit der Vorgehensweise der archäologischen Analyse vergleicht, denn die vertikalitätstheoretische Diskurslexikologie betrachtet einen Diskurs als einen Raum kommunikativer Handlungsbezüge, in deren Verlauf eine diskursive Wirklichkeit erst konstruiert wird. Sprachhandlungen und niveauspezifische Ausprägungen von Diskurskonzepten sind die Konstituenten der vertikalen Konstruktion von Experten- und Laienwirklichkeiten im Diskurs, die es zu untersuchen gilt. Diese Auffassung stimmt mit dem Grundsatz der Wissensarchäologie überein, Diskurse „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen".68

66 67 68

Foucault (1997 AW: 294). Foucault (1997 AW: 295). Foucault (1997 AW: 74).

67 3.3.2

Thematische Diskursprogression und vertikale Variation

Welche Anregungen gibt nun die foucaultsche Konzeption einer vertikalitätsorientierten Diskurslexikologie im Hinblick auf die Zielstellung, die Diskursvertikalität zu analysieren und im Zeitverlauf zu beschreiben? In der Methodologie Foucaults wird die Gestalt der Diskursgegenstände bestimmt durch die Gesamtheit von Beziehungen zwischen „den Instanzen des Auftauchens, der Abgrenzung und der Spezifizierung"69 und ihre vertikale Verfassung ist entlang ebendieser Dimensionen beschreibbar. Die „ersten Oberflächen ihres Auftauchens",70 also den Startpunkt eines Diskurses zu finden, bedeutet am Beispiel des gemeinsprachlichen Computerdiskurses, zunächst danach zu fahnden, an welcher Stelle und in welcher sprachlichen Form der Computer als Technologie erstmalig thematisiert worden ist. Die Progressionsanalyse impliziert auch, dass im Rahmen der Analyse in den verschiedenen Diskursabschnitten auf den verschiedenen Niveaus jeweils ein begrenztes ,^4usdrucksschema betrachtet wird, d. h. das Pendant zu dem die Begrifflichkeit darstellenden Inhaltsschema".71 Das Ausdrucksschema repräsentiert in einer vertikalen Lexikologie die sprachliche Abdeckung des Experten- bzw. Laienwissens. Im Diskurs ist das Ausdrucksschema auch das Wortschatz-Korrelat der diskursiven Bedeutung und repräsentiert einmal die thematische Progression eines Diskurses und außerdem die vertikale Niveaustufung jeweils zu einem Diskurszeitpunkt. Die Entwicklung des Ausdrucksschemas zeigt die thematische Progression etwa von der erstmaligen mündlichen Thematisierung der Computertechnologie im Deutschen Bundestag durch den Abgeordneten Rinderspächer im Jahre 1963 bis zur Bundestagsdebatte über die Erfahrungen, Chancen und Risiken bei den neuen Informations- und Kommunikationsdiensten am 20. Januar 2000. Foucaults Hinweis auf die „Instanzen des Auftauchens, der Abgrenzung und der Spezifizierung"72 verweist auch darauf, dass bei der Untersuchung der Diskursprogression berücksichtigt werden muss, dass zu den verschiedenen Zeitpunkten des Diskurses Wissen und Wortschatz im Diskurs unterschiedlich verteilt sind. Besonders im Rahmen der Popularisierung eines Technologiewortschatzes wie des im nachfolgend untersuchten Computerdiskurses ist generell mit vielschichtigen Prozessen der Wissensdispersion zu rechnen. Methodisch erfordert das, (neben der Erfassung der diskursiven Expansion und der Wortschatzabdeckung) semantisch zu untersuchen, worin die

69 70 71 72

Foucault(1997 Foucault (1997 Wichter (1994: Foucault (1997

AW: 67). AW: 62). 133). AW: 67).

68 konzeptuellen Unterschiede zwischen den Experten- und Laienbedeutungen liegen, etwa zwischen den Expertenkonzepten in den Arbeiten Konrad Zuses oder zum Röhrencomputer ENIAC (Electric Numerical Integrator and Computer, 1943), und dem zeitlich versetzten Auftauchen von gemeinsprachlichen Signifikanten wie Rechenmaschine, Maschinengehirn oder ElektronenGehirn z. B. im SPIEGEL der Jahre 1949 bis 1952.73 Um vertikalitätssemantischen Aufgabe der „Eruierung, Beschreibung, Analyse und Erklärung der vertikalen Strukturen des Wortschatzes"74 gerecht zu werden, müssen fur Experten- und Laiensysteme die onomasiologische Verfassung, also Ausdrucks schéma und Bezeichnungs wissen, ebenso erfasst werden wie die semasiologische Kontur von Inhaltsschema und Bedeutungswissen, da beide in der Diskurskommunikation aufeinander treffen. Dazu sind empirisch abgesicherte Beschreibungen von Wissens- und Wortschatzverteilungen unerlässlich. Eine Diskurslexikologie kann nicht von Fachwissen und Expertenwortschätzen als Idealtypen ausgehen, da das Wissen im Diskurs nicht nach primär fachlichen Gesichtspunkten verteilt ist, sondern sie muss die lexikalischen Realverteilungen von Diskurswortschätzen und dem korrespondierenden Bedeutungswissen von Experten und Laien beschreiben.75 Diese Perspektive des deskriptionsheuristischen Abweichens von den Wissensabgrenzungen der beteiligten Fächer kommt dem wissensarchäologischen Vorgehen recht nahe. Auch eine Wissensarchäologie muss sich nach Foucaults Überzeugung von (in dieser Hinsicht) einengenden fachlichen Perspektiven lösen, um den diskursiven Formationen und Praktiken auf die Spur zu kommen. Die Formation der Begriffe, die innerhalb eines Diskurses eine Rolle spielen, muss über Fachsystematiken hinausgehend auf der Basis ihres realen Auftauchens, ihrer Koexistenz und Entwicklung im Diskurs beschrieben werden: Anstatt die Begriffe in einem virtuellen deduktiven Gebäude erneut anordnen zu wollen, müßte man die Organisation des Feldes der Aussagen beschreiben, in dem sie auftauchen und zirkulieren. (Foucault 1997 AW: 83)

Als Vorgehensweise schlägt er vor, die „verschiedenen Anordnungen der Äußerungsfolgen" ebenso zu beschreiben wie die „Abhängigkeits typen der Aussagen" und die „diversen rhetorischen Schemata mittels deren man Aussagegruppen kombinieren kann".76 Seine Beschreibung zielt darauf, das „System der begrifflichen Formation"77 im Diskurs sichtbar zu machen, die Art 73 74 75

76 77

Vgl. Wichter (1991: 8-10). Wichter (1994: 118). Vgl. die Grundsätze und das Eruierungsinstrumentarium in Wichter (1994: 118230). Foucault (1997 AW: 84, Kursivdruck im Original). Foucault (1997 AW: 88).

69 und Weise, auf die verschiedene Diskurselemente und Stränge begrifflich gefasst und tradiert werden: die Weise, auf die die verschiedenen Elemente [im Diskurs] miteinander in Beziehung gesetzt werden [...] die Weise, wie die Annäherungsmodi und Entwicklungsarten der Aussagen und die Weise der Kritik, der Kommentare, der Interpretation von bereits formulierten Aussagen verbunden sind. Dieses Bündel von Beziehungen konstituiert ein System begrifflicher Formation. (Foucault 1997 AW: 88)

Der Analysegegenstand ist hier zwar in erster Linie die wissenschaftliche Begriffsbildung und die Formierung wissenschaftlicher Begriffssysteme im Diskursverlauf. Es liegt jedoch auf der Hand, dass eine vertikalitätsorientierte Semantik neben wissenschaftlichen Expertenkonzepten auch das „System begrifflicher Formation" von Laien explizit in die Analyse der „verschiedenen Elemente" einbeziehen muss, die im Diskurs zueinander in Beziehung stehen. Schließlich bilden die Laienwortschätze in öffentlichen Diskursen ein Laiensystem begrifflicher Formation aus, das mit dem jeweiligen Expertensystem über Stereotypien verbunden ist.78 Demnach ist evident, dass grundlegende Elemente des foucaultschen Programms zur Beschreibung wissenschaftlicher Begriffsformation und ihrer „Verstreuung"79 im Diskurs mit entsprechender Akzentsetzung auf die Laiensysteme auch für die vertikale Lexikologie gelten müssen. Auch ihr geht es aus der eigenen Perspektive und gestützt auf einen Sprachhandlungsbegriff anstelle des empirisch nebulösen Aussagenbegriffes - darum, herauszufinden, wie die rekurrenten Elemente der Aussagen erneut erscheinen, sich auflösen, sich erneut zusammensetzen, an Ausdehnung oder Bestimmung gewinnen, innerhalb neuer logischer Strukturen aufgenommen werden, umgekehrt neue semantische Inhalte annehmen und untereinander partielle Organisationen bilden können. (Foucault 1997 AW: 89)

Bei der Beschreibung der begrifflichen Formation in Diskursverläufen geht es der vertikalitätsbezogenen Lexikologie ebenso wenig wie Foucault primär darum, die im Diskurs auftauchenden Begriffe nach idealtypischen fachlichen Kriterien zu klassifizieren und das Wissen in die Begriffssystematiken einer Wissenschaft einzuordnen. Vielmehr erfordern beide Perspektiven, die Begriffe nach den Eigenarten ihres Auftauchens im Diskurs empirisch zu beschreiben. So wird der Diskurs aus beiden Blickwinkeln zum Ort des Auftauchens der Begriffe; man verbindet die Konstanten des Diskurses nicht mit den idealen Strukturen des Begriffs, sondern man beschreibt begrifflichen Raster ausgehend von den immanenten Regelmäßigkeiten des Diskurses. (Foucault 1997 AW: 91) 78 79

Vgl. Wichter (1999/a, b, 2000) und Busch (1994, 1999). Foucault (1997 AW: 89).

70 Eine vertikalitätstheoretische Diskurslexikologie teilt diese Perspektive, versteht allerdings unter den von Foucault angesprochenen „immanenten Regelmäßigkeiten des Diskurses" besonders die Regelmäßigkeiten der vertikalen Wissens- und Wortschatzverteilung und bezieht sich damit explizit auf die Vertikalität als eine der wichtigsten „Konstanten des Diskurses". Wo Foucault die Diskursprogression als Entwicklung von Expertenwissen durch die Zeit hindurch untersucht, muss eine vertikalitätsbezogene Lexikologie die Diskursprogression mit Blick auf die vertikale Spanne zwischen Experten- und Laienbegriffen und deren diachrone Entwicklung analysieren. Ihre Beschreibungsmittel sind, wie vorab bereits genannt, Expansionskarten der thematischen Progression und des gemeinsprachlich wirksamen Diskurswortschatzes für verschiedene Vertikalitätsniveaus. Trotz der Unterschiede ist bei der Analyse der Diskursprogression beiden Perspektiven die Konzentration auf die Formation von Begriffen in Diskursen gemeinsam, und damit wird in beiden Fällen die Untersuchung der Diskursprogression zur Analyse eines „sehr beachtlichen Spiel[es] mit Begriffen und einer sehr bedeutenden Anzahl von Transformationen, die gleichzeitig diese Begriffe und ihre Beziehungen betreffen".80

3.3.3

Der Diskursverlauf im onomasiologischen und semasiologischen Vergleich

Wenn es Aufgabe einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie ist, die thematische Progression und die Wortschatzprogression sowie die vertikale Formierung in Diskursen zu untersuchen, dann bedeutet das auch, dass sie neben den genannten Expansionsbeschreibungen weitere Kategorien als Instrumente für den onomasiologischen und semasiologischen Vergleich von Diskursverläufen benötigt. Das Ziel solcher Vergleiche des onomasiologischen Bezeichnungswissens und des semasiologischen Bedeutungswissens von Experten und Laien im Verlauf eines Diskurses weist Überschneidungen mit Foucaults Zielstellung für die archäologische Analyse auf, die er folgendermaßen umreißt: Die archäologische Analyse individualisiert und beschreibt diskursive Formationen. Das heißt, sie muss sie in der Gleichzeitigkeit, in der sie sich präsentieren, konfrontieren und sie einander gegenüberstellen, sie von denen unterscheiden, die nicht dieselbe Zeitrechnung haben, sie in ihrer Spezifität mit den nicht-diskursiven Praktiken in Beziehung setzen, die sie umgeben. (Foucault 1997 AW: 224).

80

Foucault (1997 AW: 92).

71 Beim diachronen Vergleich von Wissenssystemen müssen wichtige „Vergleichstatsachen"81 berücksichtigt und insbesondere die folgenden Grundsätze beachtet werden: (a) Die Begrenzung auf ein Wissensgebiet: „Weit entfernt davon, allgemeine Formen erscheinen lassen zu wollen, versucht die Archäologie einzelne Konfigurationen aufzuzeichnen".82 Dies gilt für eine vertikalitätsorientierte Lexikologie im besonderen Maße. Zwar kann man mit Putnam unterstellen, dass es sich bei der sprachlichen Arbeitsteilung zwischen Experten und Laien um ein universales Prinzip handelt, aber die konkrete Beschreibung, mit der eine solche vertikale Diskurs- und Kommunikationsformation nachgewiesen wird, kann immer nur sehr begrenzt im Rahmen explorativer Studien durchgeführt werden. Ein systematischer und empirisch abgesicherter Aufriss der Sprachund Wissensvertikalität ist für die Breite der Diskurse mit dem Anspruch der quantitativen Repräsentativität für das gesamte „Gesellschaftsgespräch"83 nicht zu leisten. Besonders die empirische Eruierung von Vertikalitätsformationen ist außerordentlich aufwendig, aber (durchaus ohne den Anspruch quantitativer Repräsentativität für die gesamte Sprachgemeinschaft erheben zu müssen)84 notwendig. (b) Kommunikative und wissensmäßige Gemeinsamkeiten verschiedener Diskurse: Nach dieser Gemeinsamkeit zu suchen, bedeutet zu fragen, ob sich in verschiedenen Diskursen und unabhängig vom Diskursthema ein gemeinsames „Gesetz ihrer Kommunikation"85 ermitteln lässt. Foucault spricht bei solchen Gemeinsamkeiten von „archäologischen Isomorphismen" oder von einer „archäologischen Isotopie"86 und nimmt, wenn „ein und derselbe Begriff (eventuell durch ein und dasselbe Wort bezeichnet) zwei archäologisch distinkte Elemente abdecken kann [...] archäologische Verlagerungen"87 an. Ebenfalls beschrieben werden müssen die Subordinations- und Komplementaritätsbeziehungen zwischen Wissenseinheiten, die „archäologischen Korrelationen",88 Der Blick auf die Wissens- und Wortschatzvertikalität zeigt auch, dass die vertikale Vermittlung von Wissen und die korrespondierende Entwicklung von Wortschätzen hier einige Isomorphien aufweist. Die Vertikalität ist als eine solche kommunikative Gemeinsamkeit aufzufassen, und es ist nach den 81 82 83 84

85 86 87 88

Foucault (1997 AW: 224). Foucault (1997 AW: 225). Wichter (1999/b: 276). Zur Unterscheidung zwischen Repräsentativität und Generalisierbarkeit als Gütekriterium für Vertikalitäts- und Diskursanalysen vgl. Kapitel 7. Foucault (1997 AW: 225). Foucault (1997 AW: 229-230, Kursivdruck im Original). Foucault (1997 AW: 229-230, Kursivdruck im Original). Foucault (1997 AW: 229-230, Kursivdruck im Original).

72 spezifischen Verfahren zu fragen, mit denen sie auf Wissens- und Sprachebene realisiert ist. So sind es etwa im Computerdiskurs besonders tropische Verfahren sowie Wortbildungs- und Entlehnungsprozesse, über die neues Wissen für Laien versprachlicht und zur diskursiven Verwendung bereit gestellt wird.89 Besonders die tropischen Prozesse sind auch in zahlreichen anderen Diskursen immer dann zu finden, wenn Wissen versprachlicht und an Laien vermittelt werden soll.90 (c) Vergleichskategorien'. Hinsichtlich der Analyse diachroner Wissensund Wortschatzentwicklung gibt Foucault Anregungen, die für eine Experten-Laien-Lexikologie fruchtbar gemacht werden können. Seine Typologie der Veränderungsprozesse in Diskursen ist wegweisend für die Analyse von Diskursverläufen. Aus seiner Beschreibung diskursiver Transformationen91 lassen sich für diskurssemantische Untersuchungen wichtige Kategorien der Veränderung von Wissens- und Wortschatzfeldern in Diskursen ableiten und zueinander in Beziehung setzen. Für die Analyse der Sprach- und Bedeutungsentwicklung innerhalb eines Diskurses unterscheide ich die Dimensionen der Stabilität, Konstitution, Umdeutung, des Überganges und der Reaktivierung. Der Entwicklungstypus der Stabilität kann jeweils auf semasiologischer oder auf onomasiologischer Ebene angelegt sein. 1) Semasiologische Stabilität (Bedeutungsstabilität) liegt vor, wenn ein Wissenselement im Verlauf eines Diskurses weitgehend stabil bleibt, sich die Ausdrucksseite aber verändert. Findet sich z. B. im Diskurs eine (wohl meist stereotype) Bedeutungsposition, der der Signifikant Computer zugeordnet ist, und verändert sich dieses Bedeutungskonzept in seiner Grundkontur nicht, obwohl die Zahl der Bezeichnungen wächst, die diesem stabilen Konzept zugeordnet werden können, etwa Computer, Rechner, PC, Schreibtischcomputer, Tower, 286er, Pentium dann liegt ein Fall von Bedeutungsstabilität vor. Diese Kategorie umfasst nicht lediglich die Fälle einfacher Synonymie, sondern auch Fälle, in denen aus Laiensicht eine scheinbare Synonymie vorliegt, weil ein Laie eines spezifischen Niveaus zwar weiß, dass etwa mit 286er, Tower oder Pentium jeweils ein Computer einer bestimmten Art gemeint ist, er die Unterschiede aber nicht kennt und nicht explizieren kann. 2) Onomasiologische Stabilität (Bezeichungsstabilität) liegt vor, wenn eine Bezeichnung oder ein Bezeichnungsfeld im Diskursverlauf stabil bleibt, sich die Bedeutungen und Wissenskontinua, die mit einem Signifikanten oder Signifikantenfeld verbunden sind, aber verändern. Dies ist der Fall, wenn im Diskursverlauf unter Beibehaltung des Signifkantenfeldes das 89 90 91

Vgl. Busch (2000/a,b) und Stocker (1999). Vgl. Jung (1999) und Biere/Liebert (1997). Vgl. Foucault (1997 AW: 229-230 und 236-252).

73 zugehörige Wissen verändert wird. Geradezu prototypisch wird dieser Typus indiziert durch Worterklärungen und Differenzierungen in Randspalten von Computermagazinen für Laienzielgruppen. So wird etwa in der Zeitschrift ComputerBild 11/99 im Rahmen eines Testberichtes in der mit einem Foto von einem Scanner versehenen Randspalte erklärt: Scanner: Wie ein Fotokopierer tastet ein Scanner ein Bild Punkt für Punkt ab. Die Daten erfasst er dabei in einer für den Computer verständlichen Form und überträgt sie dann an diesen. Dort kann die Bilddatei weiterverarbeitet werden. (Computer Bild 11/99)

Die Bedeutungserklärung in der Randspalte des Artikels zeigt, dass hier ein Laienniveau angesprochen wird, dessen Repräsentanten man zwar einerseits unterstellt, dass sie die Bezeichnung Scanner kennen, also über das Bezeichnungswissen verfügen, von denen man aber andererseits weiß, dass sie unsicher bei der Zuordnung des Bedeutungswissens sind, sie also nicht genau wissen, was ein Scanner ist. Ihr Wissen wird durch die Bedeutungserklärung modifiziert, ohne das Bezeichnungswissen zu verändern. 3) Vertikale Umdeutung liegt vor, wenn ein Diskursgegenstand oder ein diskursives Grundkonzept nach einer Zeit der Bedeutungsstabilität durch vertikale, nicht expertengebundene Verwendung umgedeutet wird und so eine andere Bedeutung erhält. Hier wirken sich insbesondere persuasive Prozesse, Wunsch-, Vermeidungs- oder Machbarkeitsprojektionen aus, und viele vertikale Umdeutungen werden durch Konnotatsmanipulation oder Konnotatsveränderungen realisiert. Eine solche Umdeutung liegt beispielsweise den Anschauungen zugrunde, die in Schlagworten vom Typ Computertechnologie = Jobkiller versus Computertechnologie = Jobmaschine sichtbar werden. Ein sehr prägnantes Beispiel für eine diskursive vertikale Umdeutung hat auch Jung in seiner Fallstudie zur diskursiven Veränderung des Konzeptes vom GAU im Atomdiskurs vorgelegt.92 In diesem Fall ist im Diskursverlauf das Expertenkonzept soweit verändert und metaphorisiert worden (z.B. zu Super-Gau, Klima-GAU, Rechner-GAU), dass inzwischen unklar scheint, inwiefern „GAUund Super-GAUjeweils überhaupt noch als (vereinheitlichte) Fachzeichen aufzufassen sind".93 Während das ursprüngliche Expertenkonzept GAU = größter glaubhafter bzw. anzunehmender Unfall bedeutete, also „die schwerste Störung, die die Sicherheitssysteme nachweislich zu beherrschen hatten",94 ist das Konzept

92 93 94

Vgl. Jung (1999: 202-205) und Jung (1994: 70-74, 84-89 und 171-174). Jung (1999: 205). Jung (1999: 202).

74 im Diskursverlauf zu GAU = größter anzunehmender Unfall, zum Synonym für eine nicht mehr beherrschbare Katastrophe geworden. 4) Konstitution liegt vor, wenn sich im Verlauf von Diskursen bestimmte Elemente herausgebildet und zu einer stabilen Form gefunden haben und ihrerseits nun Teildiskurse oder Diskurse bestimmen. So ist z. B. das Konzept von der Informationsgesellschaft eines, das im Verlauf des Computerdiskurses eine relativ stabile Form gewonnen hat und eigene Teildiskurse konstituiert. Das Spektrum von Teildiskursen zur Informationsgesellschaft reicht, wie ein Blick in den „Bericht der Bundesregierung Info 2000 - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" oder in den Abschlussbericht der Enquetekommission des Deutschen Bundestages zeigt,95 von Diskursen über Informationswirtschaft, OnlineDienste, Beschäftigte, Markt und Handelsströme in der Informationsgesellschaft bis zu Multimedia und Anwendungsfragen. Solche Konzepte sind im Einzelfall sehr abstrakt und können einen Einzel- oder auch zahlreiche Subdiskurse konstituieren oder überdachen. 5) Übergang von einer Diskursperiode zur anderen liegt vor, wenn die thematische Progression innerhalb eines Diskurses weitergeführt wird und der Gesamtdiskurs oder einer seiner Subdiskurse in eine neue Phase eintritt. Dies lässt sich z. B. an der Entwicklung des Computerdiskurses in der Gemeinsprache zeigen. Wichter (1991) belegt dazu die Phasierung des Diskurses in eine Anfangsphase (fachintern), eine Öffnungsphase (steigende Aufmerksamkeit in allgemeinen Medien) und eine Publikumsphase (intensive Präsenz des Diskurses in Massenmedien). Daran ist die gemeinsprachliche Wortschatzentwicklung und die Phasierung des Eindringens von Elementen eines Technologiediskurses in die Gemeinsprache ebenso zu beobachten wie das Auftauchen, die phasenweise Lexikalisierung und das Verschwinden einzelner Diskursgegenstände und der zugehörigen Signifikantenfelder. Solche Entwicklungen sind etwa bei der metaphorischen Verwendung von Elektronengehirn in der Gemeinsprache deutlich sichtbar. Für die Frage der Popularisierung, aufgefasst als Wissenstransfer von Expertenniveaus zu diskursiven Laienniveaus, ist es wichtig, nach den Konzepten des Übergangs und nach der kommunikativen Besetzung der Phasen zu fragen und diese abzubilden. Während Wichters Phasenbildung von den fachgeschichtlichen und soziologischen Kriterien geprägt ist, muss eine diskurssemantische Fragestellung diese Phasierung durch eine diskursive Phasierung ergänzen, die die Entwicklung von Diskursgegenständen, diskursiven Grundkonzepten und deren Übergangsphänomenen als Periodisierungskriterien heranzieht. 95

Vgl. Bundesregierung (1996).

75 6)

Reaktivierung liegt vor, wenn Elemente im Diskurs wieder auftauchen, die eine Zeit lang vergessen waren und im Diskurs nicht verwendet worden sind. Ob im Computerdiskurs solche Reaktivierungen eine Rolle spielen, ist empirisch zu klären.

3.4

Diskurskontrolle: Machtwirkungen und soziale Positionierungen

3.4.1

M a c h t w i r k u n g e n als Elemente der Diskurskontrolle u n d M o v e n s vertikaler Variation

Die Untersuchung von Fragen der Diskurskontrolle gehört zu Foucaults zentralen Forschungsorientierungen, deren Umsetzung seine Methodologie dient. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Bandes Der Wille zum Wissen fasst er sein Ziel prägnant in die Formulierung: Es ist das Problem, das fast alle meine Bücher bestimmt: wie [sie!] ist in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursen, die (zumindest für eine bestimmte Zeit) mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen gebunden? (Foucault 1977 WW: 8)

Diskurskontrolle, das wird hier deutlich, ist bei Foucault nicht in erster Linie als diskursinterne, etwa persuasive Strategie aufzufassen, bedeutet also nicht Kontrolle im Diskurs, sondern ist übergreifendes, den Diskurs konstituierendes Prinzip und bedeutet vielmehr Kontrolle des Diskurses. Dabei stellt Foucault den Konnex von Macht, Dispositiv, Wissen und Wahrheit im Sinne einer „Matrix dar, die spezifische Arten von (interessegeleiteten) Analysen ermöglicht, die [...] jeweils bestimmte Perspektiven auf das zu untersuchende Material erlaubt". 96 Eine Experten-Laien-Lexikologie akzentuiert bei der Zielformulierung weniger global als Foucault, ihr geht es nicht in erster Linie darum, Machtverteilungen zu analysieren, sondern sie nimmt die konkret beobachtbaren kommunikativen Formationen von Wortschatz und Wissen in Diskursen in den Blick. Für diese Analyse diskursiver Differenzierungen zwischen Experten und Laien ist es zwar geradezu konstitutiv einzubeziehen, dass sich in Diskursen Machtformationen niederschlagen, Sprachhandlungen Ausdruck von Macht96

Seier (1999: 85). Zum Zusammenhang von Macht und Wahrheit bei Foucault vgl. Dreyfiis/Rabinow (1994: 216-242).

76 handlungen sind und die kommunikative und wissensmäßige Vertikalität gesellschaftliche Formationen manifestiert. Aber ihr vorrangiges Interesse gilt der Frage, wie gesellschaftliche Formationen und Wissensverteilungen in der Sprache sichtbar werden. Dazu gehört selbstredend die Einbeziehung der sozialen und pragmatischen Sprachhandlungsbedingungen in Diskursen, nur eben mit der besonderen Akzentsetzung auf sprachliche Ausdrucksformen, die aus diesem Spannungsfeld erwachsen. Gleichwohl stellt sich für die Diskurslexikologie stärker die Frage nach der Kontrolle im Diskurs und den sprachlichen Mitteln, mit denen versucht wird, diese Steuerungswirkung zu erzielen. Wenn Foucaults Problemstellung, in ein Schlagwort gefasst, lautet: „das menschliche Subjekt im Bedingungskreis der Macht- und W7.Me«.sgeschichte",97 dann lässt sich die der vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie, soweit sie auch Diskursgeschichte in den Blick nimmt, umreißen als: Experten und Laien im kommunikativen Bedingungskreis von Macht-, Wissens- und Sprachgeschichte oder kürzer und schlichter als: Experten und Laien im Kommunikationskreis des Diskurses, und dies schließt den Blick auf die diskursiven Wissens- und Handlungsbedingungen ausdrücklich ein. Eine vertikalitätsorientierte Lexikologie untersucht die Kette Macht - Wissen - Diskurs Sprache von der Sprache und vom diskursiven Wortschatz her, eine Untersuchungsrichtung, die auf die empirische Absicherung ihrer Aussagen angewiesen ist. Vertikalitätsorientierte Semantik ist immer eine empirische Semantik, denn sie beschreibt diskursive Realverteilungen von Wortschatz und Wissen, soweit sie empirisch belegbar sind. Die Frage der Vertikalität klingt auch in Foucaults Untersuchung der Diskurskontrolle an, wenn der Blick auf die Rolle von Herrschaft und Macht im Diskurs gerichtet wird, denn: „Foucault setzt Macht und Wissen gleich".98 Daher wirken sich die diskursiven Teilungspraktiken im Wissensarchiv als grundlegende gesellschaftliche Teilungspraktiken aus.99 Zu den wissensbezogenen Teilungspraktiken verhalten sich die gesellschaftlichen Machtbeziehungen „nicht etwa als etwas Äußeres, sondern sind ihnen immanent".100 Diskurswissen und Diskurslexik werden also einerseits durch Teilungspraktiken segmentiert und stratifiziert, in denen gesellschaftliche Machtverhältnisse zum Ausdruck kommen, andererseits bestimmen sie auch die Koordinaten, nach denen die Position eines Subjektes im Wissensraum festgelegt ist: Ein Wissen ist auch der Raum, in dem ein Subjekt die Stellung einnehmen kann, um von Gegenständen zu sprechen, mit denen es in seinem Diskurs zu tun hat. (Foucault 1997 AW: 259)

97 98 99 100

Fink-Eitel (1997: 9, Kursivdruck im Original). Bublitz (1999: 170). Vgl. dazu Bublitz (1999: 169-174). Foucault (1977 WW: 115).

77 Die gesellschaftlichen Machtverhältnisse sind, insoweit sie das Diskurswissen konfigurieren und die Wissensdistribution steuern, auch sprachlich und in vertikaler Hinsicht wirksam. Deshalb bedeutet Macht im diskursiven Wissensraum wissensformierende Macht, und die Mechanismen der Diskurskontrolle fungieren im Sinne einer Wissenskontrolle, d. h. als gesellschaftsübergreifende Verfahren, mit deren Hilfe in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren der Diskurse zu bändigen [...]. (Foucault 1997 ODK: 10)

Um ein adäquates Abbild des Diskurswissens zu erhalten, das durch solche gesellschaftlichen Macht-Wissens-Teilungspraktiken konfiguriert ist, muss die Position im „Ordnungsraum des Wissens",101 die ein Subjekt einnehmen kann, auch in vertikaler Hinsicht bestimmt werden. Dies gilt nicht nur für wissenschaftliche Diskurse, sondern auch für die Praxis der vertikalen Wissensverteilung in öffentlichen massenmedialen Diskursen.

3.4.2

Soziale Positionierung als Element der Diskurskontrolle

Zentrale Elemente der Diskurssteuerung hat Foucault nach ihrer Wirkung in interne und externe Ausschließungsmechanismen unterteilt. Die externen Ausschließungssysteme wirken „gewissermaßen von außen"102 auf den Diskurs ein: Drei größere Ausschließungssysteme treffen den Diskurs: das verbotene Wort, die Ausgrenzung des Wahnsinns, der Wille zur Wahrheit. (Foucault 1997 ODK: 16)

Für die Untersuchung der diskursinternen Vertikalität ist hingegen die zweite Gruppe von Kontrollstrategien interessanter, nämlich: Interne Prozeduren, mit denen die Diskurse ihre eigene Kontrolle selbst ausüben; Prozeduren, die als Klassifikations-, Anordnungs-, Verteilungsprinzipien wirken. (Foucault 1997 ODK: 16)

Als Beispiele für solche internen Kontrollprozeduren nennt Foucault besonders die Abstufung verschiedener Diskursarten, das „Gefälle zwischen den Diskursen",103 das durch ihre unterschiedliche Dauerhaftigkeit und Akzeptanz entsteht. Ob aber Diskurse Resonanz und Fortfuhrung finden, oder „mit

101 102 103

Foucault (1999 OD: 24). Foucault (1997 ODK: 16). Foucault (1997 ODK: 18).

78 dem Akt ihres Ausgesprochenwerdens vergehen",104 ist hauptsächlich eine Frage der gesellschaftlichen Position des Diskursakteurs sowie der Akzeptanz des Wissens, das er repräsentiert. Die Rolle dieser Faktoren für die Diskurssteuerung thematisiert Foucault als Aspekte diskursiver „Äußerungsmodalitäten",105 und für eine diskurssemantische Analyse sind besonders drei Dimensionen ihrer Bestimmung bedeutend: • die soziale Indikatorfunktion der Fachsprache eines anerkannten Wissensgebietes, • der institutionelle Standort eines Diskursakteurs, der einen Diskursbeitrag mit einem Wahrheitsanspruch ausstattet, und • die Position eines Sprechersubjektes im Diskursraum. Fachsprachen sind im Diskurs sozial und vertikal markiert, sie werden aufgefasst als sichtbarer Ausdruck des Expertentums, der die Gültigkeit eines Diskursbeitrages im wissenschaftlichen Diskurs signalisiert und legitimiert, und der dem Diskurssubjekt einen der akzeptierten und mit diskursivem Äußerungsrecht versehenen „institutionellen Plätze"106 zuweist. Die Sprache eines Wissensgebietes, die Fachsprache, weist folglich einerseits den Sprecher als Experten aus, weil sie als Indikator des Expertenstatus aufgefasst wird. Andererseits wird durch den sozialen Expertenstatus eines Sprechers dessen Sprache ihrerseits zum Expertenidiom erhoben. Diese diskursive Zirkularität von sprachlichem und sozialem Expertentum bildet den Kern der Frage nach den Äußerungsmodalitäten. In Foucaults Formulierung: Wer spricht? Wer in der Menge aller sprechenden Individuen verfugt begründet über diese Art von Sprache? Wer ist ihr Inhaber? Wer erhält von ihr seine Einzigartigkeit, sein Prestige, und umgekehrt: Von wem erhält sie wenn nicht ihre Garantie, so wenigstens ihren Wahrheitsanspruch? (Foucault 1997 AW: 75)

Damit zeigt sich, dass hinter dem Blick auf die Äußerungsmodalitäten die Frage nach dem sozialen Status und Sozialprestige von Expertenwissen und Fachsprachen, in Foucaults Formulierung nach dem gesellschaftlichen „Statut",107 steht. Es geht ihm dabei um die „Machtwirkungen, die an Wissen, Kompetenz und Qualifikation gebunden sind".108 Die institutionelle Einbindung und Formung des diskursiven Wissens und den zugehörigen Gruppenbezug kleidet er in die Frage nach den Instanzen der Abgrenzung und Anerkennung eines Diskursgegenstandes am Beispiel der Medizin und ihres wissenstheoretischen Charakters 104 105 106 107 108

Foucault Foucault Foucault Foucault Foucault

(1997 (1997 (1997 (1997 (2000

ODK: 18). AW: 75). AW: 76, Kursivdruck im Original). AW: 166). M: 75).

79 als reglementierte Institution, als Gesamtheit der Individuen, die die Körperschaft der Ärzte ausmacht, als Wissen und Praxis, als von der öffentlichen Meinung, Justiz und Administration anerkannte Zuständigkeit. (Foucault 1997 AW: 63)

Besonders interessant für eine Experten-Laien-Lexikologie ist hier der Hinweis auf die „öffentliche Meinung" als Anerkennungsinstanz, die an erster Stelle genannt wird, denn die öffentliche Meinung wird in ihrer Breite von Laien getragen; sie sind häufig Adressaten und Produzenten gleichermaßen. Dies zeigt sich auch darin, dass etwa auch Journalisten und politische Entscheider häufig keine Fachexperten sind, sondern Politik- und journalistische Experten. Demzufolge wird auch die Dignität von Wissenschaftsbereichen und Fächern in einem weiteren Sinne von der Laiengesellschaft getragen. Die innerfachliche wissenschaftliche Dignität baut erst auf diesem Fundament gesellschaftlicher Akzeptanz auf. Zudem ist bei historischen Diskursanalysen die Zeitgebundenheit der Formierung von Öffentlichkeit zu beachten und der „Strukturwandel der Öffentlichkeit"109 von „der strukturell wenig verfassten Interaktionsöffentlichkeit über örtlich zentrierte Öffentlichkeiten wie Salons, Kaffeehäuser und Lesegesellschaften und politische Veranstaltungen hin zur medial vermittelten Öffentlichkeit".110 Die publikumsseitige Ausdifferenzierung von einer Kaffeehausöffentlichkeit zur massenmedialen Öffentlichkeit geht mit einer massiven Ausweitung der beteiligten Personenkreise einher, durch die immer mehr Laienniveaus in den Diskurs einbezogen werden. Besonders die Massenmedien spielen inzwischen bei der Produktion öffentlicher Meinung und dem Einbezug von Laien in öffentliche Diskurse eine überaus dominante Rolle, wie die publizistischen Analysen zu Schweigespirale, Wissenskluft und zum Agendasetting111 verdeutlichen. Mit Blick auf die von Foucault diskutierten „Ausschließungssysteme"112 lassen sich Schweigespirale, Wissenskluft und Agendasetting angesichts ihrer ausschließenden Wirkungen als medienspezifische Ausschließungssysteme im Rahmen öffentlicher Diskurse auffassen. Öffentlichkeit, Medien und Institutionen bestimmen also die soziale Gültigkeit eines Themas oder Wissensgebietes als Diskursgegenstand und legitimieren die zugeordneten Sprecherpositionen. An der Konstituierung des Faches Informatik lässt sich dieser Prozess der Institutionalisierung eines Wissens deutlich beobachten, das sukzessive autonom wird, sich von den Spezifikationsrastern der Herkunftsfacher emanzipiert und sich als eigenes, sozial anerkanntes Fach etabliert.

109 110 111

112

Habermas (1971/1990). Gerhards (1994: 11). Zu Schweigespirale, Agendasetting und Wissensklufthypothese vgl. die Überblicksdarstellung in Burkart (1998: 240-258). Foucault (1997 ODK: 16).

80 Was uns heute als sehr differenziertes Fach Informatik entgegentritt, ist seit Beginn seiner Entwicklung ein sehr heterogenes Wissensgebiet. Der technologische Startschuss war mit dem Aufkommen der frühen Elemente einer Computertechnologie in Deutschland, England und den USA in den 1930er und 1940er Jahren gegeben. In Deutschland entwickelte Konrad Zuse während seines Studiums als Bauingenieur die Idee einer programmgesteuerten Rechenmaschine und stellte 1941 den Z3 als ersten funktionsfähigen und frei programmierbaren, programmgesteuerten Rechenautomat vor.113 Parallel dazu und ohne voneinander zu wissen, wie Zuse in seiner Biografie betont,114 wurden in den USA ähnliche Rechner entwickelt, so der IBM-Mark I (Entwicklungszeitraum 1939-1944), der auf einem Konzept von Howard H. Aiken beruhte, oder die Relaisrechner Model I bis Model VI, die in den New Yorker Bell Laboratories auf Anregung von George R. Stibitz entstanden. Entscheidend für die weitere technologische Entwicklung wurde dann der Röhrenrechner ENIAC, der im Zusammenhang mit militärischen Berechnungen (primär Berechnungen von Feuertabellen für Artilleriegeschütze, und vornehmlich durch weibliches Personal, die Computer115) an der Universität in Pennsylvania entwickelt und von 1944 an durch den Mathematiker John von Neumann und sein Team weiterentwickelt worden war. Im Zusammenhang mit diesen Gründungsentwicklungen hat sich die Informatik aus anderen Fächern heraus entwickelt und verselbstständigt. Beteiligt (auch mit ihren Fachsprachen) waren besonders die Physik (Ingenieurwissenschaften), Mathematik (Angewandte Mathematik und Algebra) und die Logik (formale Sprachen und Kalkültheorie).116 In den rund 60-70 Jahren seines Bestehens hat sich der institutionell bald eigenständig überdachte Wissensbereich weiter ausdifferenziert, und heute findet man innerhalb des massiv expandierten Faches kaum noch Einigkeit darüber, was denn im Detail das Fach Informatik ausmache. So konstatiert der Informatiker Carsten Busch humorvoll-resignierend: Wenn man wissen will, was Informatik ist, dann darf man alle fragen, nur keine Informatikerinnen - und nie mehr als einen. (Busch, C 1998: 256)

Die technologische Expansion, die der Institutionalisierung zugrunde liegt, schlägt sich gemeinsprachlich in der Expansion des zugehörigen popularisierten Technologiewortschatzes nieder. Diese diskursiv-gemeinsprachlichen Auswirkungen der Technologieentwicklung vollziehen sich primär in vier der Technologie gegenüber verzögerten Phasen der Wortschatzabdeckung, vom frühen Computerwortschatz der Anfangsphase über eine Öffhungsphase bis 113

Vgl. Vgl. 115 Vgl. 116 Vgl. 114

HNF (1997: 47). Zuse (1984: 34). Schinzel/Zimmer (1998). Busch, C. (1998: 29).

81 hin zur Publikumsphase, die in die heutige Massenphase mit zahlreichen gemeinsprachlich fest lexikalisierten Technologie-Sprachzeichen mündet. 117 Eine vertikalitätstheoretische Diskurslexikologie muss im historischen Längsschnitt solche Veränderungen institutioneller Abdeckungen von Wissensbereichen als diskursive Produktions- und Formationsbedingung in ihre Untersuchung einbeziehen. Es gilt also bei der Analyse von Experten- und Laienwortschätzen stets auch zu fragen, in welcher Weise das Wissen institutionell überdacht ist und welche Instanzen, ggf. aus verschiedenen Fächern, ihre wissensformierende Macht innerhalb eines Diskurses ausüben, indem sie bei der Fixierung des Diskursgegenstandes ihre ,J$pezifikationsraster"ni auf das Diskurswissen anwenden. Dabei sind die Ergebnisse der Professionssoziologie hilfreich, die für einzelne Wissensbereiche die sozialen Hintergründe der Diskursformierung sehr klar herausgearbeitet hat. So hat sie z. B. dargestellt, dass es sich bei der heutigen Medizin um einen Prototyp einer wissensautonomen Profession handelt, die die Kontur des Wissensbereiches ebenso selbstständig festlegt, wie sie autonom gegenüber Staat und Klientel die Akzeptabilität und Wissenschaftlichkeit von Praktiken innerhalb dieses Feldes fixiert. 119 Die Rolle des Subjektes in diesen institutionell geformten Wissensbereichen wird bei Foucault vom Sprecher abgelöst und auf die Ebene subjektiver Positionen innerhalb diskursiver Praktiken und Formationen gestellt. Der Diskurs wird so zur „Gesamtheit, worin die Verstreuung des Subjekts" ihren Platz hat, und zum „Feld von Regelmäßigkeit für verschiedene Positionen der Subjektivität", kurz: „Er ist ein Raum der Äußerlichkeit, in dem sich ein Netz von unterschiedlichen Plätzen entfaltet". 120 Diese diskursiven Plätze werden in Foucaults Analysen als Positionen innerhalb wissenschaftlicher Diskurse aufgefasst und sind gebunden an die relative Wissensautonomie etablierter Wissenschaftsbereiche und -Institutionen, auch wenn er in horizontaler Hinsicht die Fächergrenzen für seine Beschreibungsperspektive aufhebt. Während es Foucault also primär um eine diachron-horizontale Analyse des Expertenwissens und dessen Legitimationen und Machtwirkungen in Diskursen geht, muss eine vertikalitätstheoretische Lexikologie nach dem Miteinander von Experten und Laien im Diskurs fragen. Dazu ist es unerlässlich, das von Foucault benannte „Netz von unterschiedlichen Plätzen" 121 auch auf die Machtwirkungen innerhalb diskursiver Praktiken zu befragen, die mit der institutionellen Formung eines Wissensbereiches eng verbunden sind. Foucaults Analyseperspektive setzt somit die 117 118 119 120 121

Vgl. Wichter (1991) und Busch/Wichter (2000). Foucault (1997 AW: 64, Kursivdruck im Original). Vgl. dazu Busch (1994: 39^11) und Lachmund (1997, 1995, 1987). Foucault (1997 AW: 82). Foucault (1997 AW: 82).

82 Frage nach den Machtwirkungen bei der Formierung von Diskursen und damit auch die Frage nach der Steuerung von Diskursen generell auf die analytische Tagesordnung.

3.5

Diskussionsergebnisse: Die Diskurstheorie Michel Foucaults aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie

Die Befragung der foucaultschen Diskurskonzeption zur diskurstheoretischen Einordnung der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie erbringt als wichtigste Ergebnisse: • den Befund der grundsätzlichen Vereinbarkeit beider Konzeptionen, • Klarheit über die Grenzen der Kompatibilität zwischen beiden Theorien, • die Erweiterung des analytischen Instrumentariums der Experten-LaienLexikologie. Zur grundlegenden Kompatibilität beider Konzeptionen: Eine Anwendung der foucaultschen Theorie auf weitere Phänomene der gesellschaftlichen Praxis, die die Formation von Diskursen bestimmt, wird von Foucault ausdrücklich gewünscht, und er kennzeichnet das Projekt der Wissensarchäologie als grundsätzlich offen für weitere Untersuchungsperspektiven und „andere Archäologien", 122 wie er hervorhebt: Befaßt sich die Archäologie nur mit Wissenschaften? Ist sie immer nur eine Analyse wissenschaftlicher Diskurse? [Man kann] zweimal mit Nein antworten. Was die Archäologie zu beschreiben versucht, ist nicht die Wissenschaft in ihrer spezifischen Struktur, sondern der durchaus andersartige Bereich des Wissens. (Foucault 1997 AW: 278, Hervorhebung im Original)

Will man das Diskurswissen aus weiterfuhrenden Blickwinkeln untersuchen, kann man „ebenso gut das Wissen in eine andere Richtung befragen und es in einem anderen Bündel von Beziehungen beschreiben". 123 Die „andere Richtung", in der das Wissen in öffentlichen massenmedialen Diskursen von einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie befragt werden muss, besteht in der Orientierung an den kommunikativen und wissensbezogenen Differenzierungen zwischen Experten und Laien. An die Stelle der Untersuchung von Wissensformationen in Wissenschaftsdiskursen tritt in der Vertikalitätsanalyse eine vertikalitätsbezogene Wissens- und Wort122 123

Foucault (1997 AW: 274). Foucault (1997 AW: 278).

83 schatzforschung, für die die Perspektivik einer Lexikologie der Vertikalität konstitutiv ist. D. h., auch für die Analyse vertikaler Diskursformationen gilt: [Sie] muss grundsätzlich abheben auf das Gesamtgebiet der sprachlichen vertikalen Variation, auf den Wissensbezug, auf die sprachliche Subsystemgegliedertheit und auf die Synchronie- und Diachronieperspektive. (Wichter 1994: 315)

Wie in der archäologischen Analyse wird in der Vertikalitätsanalyse von Diskursen die „Analyse verbaler Performanzen: [die] Spezifizierung eines Niveaus, der Aussage und des Archivs"124 zum Gegenstand der Untersuchung. So hebt die vertikalitätstheoretische Diskurslexikologie besonders auf die Bedeutung der Wissensdistribution ab, die hinter der Variation der „sprachlichen Performanzen" von Experten und Laien steht. Die Experten-Laien-Lexikologie kann sich dabei neben empirischen Ergebnissen zur Variation in verschiedenen Domänen auch auf eine Bilanz Foucaults stützen, der betont: Den Mechanismus der diskursiven Formation konnte man gerade im Zwischenraum der wissenschaftlichen Diskurse aufgreifen. (Foucault 1997 AW: 279)

Analog dazu konzentriert sich eine vertikal orientierte Analyse darauf, den „Mechanismus der diskursiven Formation" im Zwischenraum der ExpertenLaien-Strukturierung öffentlicher, massenmedial geführter Diskurse zu untersuchen. Die Auseinandersetzung mit der foucaultschen Theorie erbringt im Überblick die folgenden Konkretisierungen und Weiterführungen: • Ein Diskurs ist aus dem Blickwinkel einer Diskurslexikologie der kommunikative Raum, in dem Experten- und Laiensysteme (Wortschätze und Wissen) miteinander konfrontiert werden. • Das Prinzip, das diese Begegnung prägt, ist das der sprachlichen Arbeitsteilung. • Die nach diesem Prinzip stratifizierten Experten- und Laienwortschätze verweisen auf eine nichtsprachliche und nichtdiskursive Praxis der Wissensorganisation: die Vertikalität. Wenn sie im Diskurs wirksam wird, kann man von Diskursvertikalität sprechen. • Diskursive Vertikalitätsniveaus sind kommunikativ eigenständig und nicht grundsätzlich analog zur fachlichen Wissenssystematik gebildet. • Ihre sprachliche Repräsentation finden sie in diskursiven Grundkonzepten von Experten und Laien, die in der Variation von Experten- und Laienlexik einer empirischen Analyse zugänglich sind. • Die Diskursprogression wird fassbar in der Entwicklung von Diskursgegenständen im Zeitverlauf.

124

Foucault (1997 AW: 294).

84 •

Zur Erfassung der Diskurskontrolle müssen externe Faktoren wie der soziale Standort von Diskursakteuren und die Rolle der Fachsprachen ebenso berücksichtigt werden wie diskursinterne Persuasionsstrategien. Grenzen der Kompatibilität zwischen beiden Theorien'. Die Auffassungen hinsichtlich der Grundeinheiten diskursiver Kommunikation unterscheiden sich in wichtigen Punkten. Unterschiede ergeben sich insbesondere in den folgenden Bereichen: • Während für Foucault der Diskurs ein Aussagensystem ist, das existiert als „Menge von Aussagen, [...] insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören",125 ist ein Diskurs aus der Perspektive einer Diskurslexikologie ein öffentlicher, horizontal und vertikal stratifizierter Kommunikationsraum. • Foucaults empirisch nebulöser, entsprachlichter Aussagenbegriff kann von einer Diskurslexikologie nicht mit Gewinn verwendet werden. Für sie ist die mehrfachadressierte sprachliche Diskurshandlung in Form von Texten das „Atom des Diskurses".126 • Sprachbegriff: Für Foucault sind Sprache, Wortschatz und diskursives Handeln wesensmäßig voneinander getrennt. Aus kommunikativer Sicht ist das nicht haltbar. Erweiterung des analytischen Instrumentariums der Experten-Laien-Lexikologie: Für die Erweiterung des methodologischen Instrumentariums sind besonders die Kategorien der Erfassung der Diskursprogression anregend. Grundlegend können der gemeinsprachlich wirksame Diskurswortschatz und die Vertikalität diskursiver Schlüsselwörter auf der Grundlage des Instrumentariums der vertikalen Lexikologie und der zugehörigen Typologie (Gleich-, Näherungs-, Falsch-, Nullbesetzung bei Ausdrucksschema und Inhaltsschema) erfasst und untersucht werden. Hinzu kommen für die Erfassimg der thematischen Entfaltung und die Entwicklungen der vertikalen Wortschatzstrukturen im Diskursverlauf zwei Expansionskartierungen, mit deren Hilfe die thematische Entwicklung und Expansion der Bezeichnungsfelder abgebildet werden können. Die Transformationsprozesse, die anhand der Kartierung und der Vertikalitätsanalyse sichtbar werden, können auf der Grundlage einer Vergleichstypologie näher untersucht werden, die aus der Diskussion der foucaultschen Transformationstypen erwachsen ist. Damit stehen einer Diskurslexikologie die folgenden Vergleichskategorien zur Verfugung: a) Semasiologische Stabilität (Bedeutungsstabilität) b) Onomasiologische Stabilität (Bezeichnungsstabilität) c) Vertikale Umdeutung (nichtfachlich motivierte Konzeptveränderungen) 125 126

Foucault (1997 AW: 170). Foucault (1997 AW: 117).

85 d) e) f)

Konstitution (dauerhafte Präsenz von Wörtern und Konzepten) Übergang (von einer Diskursperiode zur anderen) Reaktivierung (obsoleter Elemente und Konzepte) Die Überprüfung der foucaultschen Theorie erbringt also als Ertrag die Einsicht, dass die vertikale Perspektive in grundsätzlicher Übereinstimmung mit Foucaults Konzeption steht, jedoch einige klare Unterschiede in der Einschätzung der kommunikativen Verhältnisse diskursiver Kommunikation machen muss. Für die Etablierung einer Analysemethode lassen sich trotz der unterschiedlichen Blickwinkel aus der foucaultschen Konzeption wichtige Analysedimensionen gewinnen.

4

Vertikale Wissens- und Wortschatzvariation und die Erweiterung der Diskurstheorie Foucaults durch die Interdiskurs- und Kollektivsymboltheorie von Jürgen Link

4.1

Diskursmodellierung: Interdiskurs und Spezialdiskurse als Vertikalitätsraum

Für eine Betrachtung von Diskursen als Kommunikationsraum, in dem Experten und Laienwortschätze und die zugehörigen Wissenssysteme miteinander konfrontiert sind, bietet die Diskurstheorie Jürgen Links 1 interessante Anknüpfungspunkte besonders (1) in der Auffassung, Diskurse seien typologisch gesehen Zwischeninstanzen zwischen Langue und Parole, (2) in der Gliederung des diskursiven Raumes in wissensbasierte Spezialdiskurse und den Interdiskurs sowie (3) im Hinblick auf die Kollektivsymboltheorie. Ein Diskurs ist in Links Modellierung „eine institutionell verfestigte redeweise, insofern eine solche redeweise schon handeln bestimmt u n d verfestigt und also auch schon macht ausübt und verfestigt". 2 Im Geflecht von Sprachhandeln und Machthandeln fasst er ihn grundsätzlich als „redeweise" 3

Die literaturwissenschaftlich ausgerichtete Diskurstheorie von Link wird hier insbesondere deshalb behandelt, weil sie direkt an die foucaultsche Konzeption anschließt und mit der Differenzierung von Diskurs, Interdiskurs und Spezialdiskurs und speziell mit der Kollektivsymboltheorie einflussreiche Konzepte entwickelt hat, die ihrerseits wieder zahlreiche Analysen angeregt und beeinflusst haben, die auch für die Fragestellungen einer vertikalitätstheoretischen Untersuchung wichtig sind (vgl. Becker/Gerhard/Link 1997, Fleischer 1996 und Drews/ Gerhard/Link 1985). Auf die weitere vielfältige Auseinandersetzung der Literaturwissenschaft mit dem Diskursbegriff werde ich nicht näher eingehen, da es mir um eine diskurstheoretische Positionierung des Vertikalitätsmodells im Rahmen zentraler Konzeptionen geht, die direkt an Foucault anknüpfen und darüber hinaus für die Frage der Vertikalität und ihrer lexikologischen Erfassung besonders anregend sind. Zum Diskursbegriff in der Literaturwissenschaft seit der frühen Verwendung bei Kittler/Turk (1977) vgl. Link/Link-Heer (1990) und Fohrmann/Müller (1988). Zur Etablierung von Diskurstheorien in anderen Bereichen vgl. die Überblicksdarstellungen in Fricke (1999), Jäger (1999/a: 120-158), Titscher u.a. (1998: 4 3 ^ 8 , 178203, 219-234 und 268-292) sowie Nennen (2000). 2 3

Link (1983: 60, Fettdruck im Original). Link (1983: 60).

87 auf und legt damit eine Verortung im Bereich der Parole nahe; eine Zuordnung, die auch eine vertikalitätsorientierte Diskursperspektive teilt. An anderer Stelle dagegen widerspricht Link dieser klaren Auffassung, der Diskurs sei primär ein Phänomen der Parole, und so verlegen Link/Link-Heer (1994) die Position der Diskurse in der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation und damit der zugehörigen Lexik ausdrücklich zwischen Langue und Parole. Aus dem modifizierten Blickwinkel ist ein Diskurs, der nach Foucaults Konzeption in einer historisch fixierten Wissensumgebung und dem historischen Apriori als „Realitätsbedingung für Aussagen" 4 eingebettet ist, als Zwischeninstanz aufzufassen, die sich ihrerseits weder Langue noch Parole zuordnen lässt. Die Bezugsinstanz der Kollektivsymbolanalyse ist nicht direkt die „Sprache" als solche, sondern vielmehr die Zwischeninstanz des „Diskurses" (discours), wiederum in Anschluss an Foucault. Geht man nämlich von der bekannten Dichotomie von langue und Parole aus, so lässt sich die Ebene des „historischen Apriori" weder von der einen noch von der anderen Instanz aus erreichen. (Link/Link-Heer 1994: 54)

Diese Einordnung des Diskurses in die saussuresche Dichotomie wirft Fragen auf, zumal Link anderenorts vom sprachlichen Charakter des Diskurses noch weiter abstrahiert, wenn er betont, dass für sein Verständnis der Diskurs im Sinne Foucaults ein „spezialisierter Wissensbereich"5 ist und „in keinem Fall synonym mit debatte", 6 wie in Habermas' Konzept des Diskurses als Konsens-Herstellungs-Kommunikation. 7 Eine Erweiterung der saussureschen Dichotomie zur Trichotomie durch den Diskurs scheint mir aber nur sinnvoll zu sein, solange der Diskursbegriff ein sprachlicher ist. Denn wenn der Diskurs als „spezialisierter Wissensbereich"8 und ausdrücklich nicht als Kommunikationsraum im Sinne einer Paroleentität aufgefasst wird, bleibt offen, welche Fragen diese Einpassung in die saussuresche Dichotomie beantwortet. Darüber hinaus ist mir auch nicht einsichtig, inwiefern sich die Ebene des „historischen Apriori", 9 also die Ebene der „Realitätsbedingungen von Aus4 5 6 7

8 9

Foucault (1997 AW: 184). Link (1986: 4). Link (1999/b: 151). Gegen Habermas Diskursbegriff grenzt Link seine Perspektive wiederholt explizit ab, vgl. etwa Link/Link-Heer (1990: 88-91), und schlägt in Link (1986: 5) eine Indizierung nach dem Muster „diskursH und diskursF" vor. In Link (1999/b: 148-151) betrachtet er beide Diskursbegriffe, gewissermaßen durch die Brille des jeweils anderen, und hebt hervor: „Das, was der Diskurs-H als (einzelne) Diskurse bezeichnet (die Debatten), wären also in der Terminologie des Diskurses-F >diskursive Ereignisse^'(Link 1999/b: 150). Link (1986: 4). Foucault (1997 AW: 184).

88 sagen",10 nicht über die konkrete Rede, also nicht über Texte erreichen ließe, denn gerade dies scheint mir der Kern (auch der linkschen) Diskursanalyse sein. Die sprachliche Abdeckung von Wissen in Texten kann durchaus auf der Grundlage des Parole-Konzeptes von de Saussure erfasst werden," denn die diskursiven Phänomene lassen sich, soweit sie kommunikativ fassbar sind, mit den Mitteln einer Parole orientierten linguistischen Pragmatik analysieren. Wenn Link/Link-Heer diese Möglichkeit der Erfassung von Diskursen von der Parole her in zu Abrede stellen, scheinen sie an diesem Punkt auf den reduzierten Sprachbegriff Foucaults zu abzuheben, der, wie weiter oben dargestellt, aus diskurslinguistischer Sicht nicht haltbar ist. Eine weitere Frage wird durch die Etikettierung des Diskurses als „Zwischeninstanz"12 aufgeworfen. Wenn der Diskurs als kulturell kommunikative Ebene zwischen Langue und Parole etabliert werden soll, wird er typologisch in die Nähe anderer Bestimmungen von Zwischeninstanzen, wie Coserius Norm- und Nabrings Varietätenbegriff, gerückt, von denen er sich jedoch klar unterscheidet,13 wie der Blick auf die jeweilige Begriffsbestimmung erweist. Als Instanz zwischen Langue und Parole sieht Coseriu im Rahmen seines Entwurfes die Norm: Man kann daher zeigen, daß bei einer Reduktion des Systems der Sprache auf ein abstraktes System von funktionellen Invarianten zwischen diesem und dem konkreten Sprechen (Rede) ein ebenfalls abstraktes System normaler Realisierungen gelagert ist. [...] Sie bilden das, was wir eine Norm nennen. (Coseriu 1970: 2 0 7 208, Unterstreichung im Original)

Diese Zwischeninstanz der Norm entspricht ebenso wenig einem Diskurs wie die Varietät in der Bestimmung von Nabrings, nach der der Raum zwischen Langue und Parole durch Varietäten konturiert wird: Daher wird hier vorgeschlagen, die Varietäten (einschließlich der Gemeinsprache) als Realisationsmuster des Sprachsystems aufzufassen. [...] Sie stellen also keine Sonder- und Subsysteme dar, sondern typische Verwendungsweisen eines sprachlichen Systems. (Nabrings 1981: 180)

Auch diese Bestimmung der Entitäten zwischen Langue und Parole weist kaum Bezüge zum Diskursbegriff auf, auch hier handelt es sich um kategorial verschiedene Phänomenbereiche. Es ist evident, dass die Positionierung des 10 11

12 13

Foucault (1997 AW: 184). Die Unterschiede zwischen dem 'kanonischen de Saussure', wie er in der Rekonstruktion seiner Konzeption durch seine Schüler im Cours generiert worden ist, und dem 'anderen de Saussure' wird durch die Auswertung des Nachlasses, die Fehr (1997) vorgenommen hat, sichtbar. Vgl. dazu Fehr (1997) und den Überblick von Burkhardt (1998). Link/Link-Heer (1994: 54). Vgl. Coseriu (1975), Nabrings (1981) und Adamzik (1998).

89 Diskurses zwischen Langue und Parole für die Interessen einer ExpertenLaien-Lexikologie nicht hilfreich ist und mehr Fragen aufwirft, als durch den Versuch der Einbindung des Diskurses in die saussuresche Dichotomie beantwortbar werden. Dagegen spielt die Kernfragestellung einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie, die kommunikative Differenzierung von Diskursen in Experten- und Laienniveaus, in Links Diskursmodell eine wichtige Rolle, insbesondere als Indikator für Sozial- und Machtverhältnisse. Demgemäß wird die Ausdifferenzierung des diskursiven Wissensraumes einer ausgeprägt arbeitsteiligen Gesellschaft in unterschiedliche Wissens- und Kommunikationsniveaus besonders im Hinblick auf ihr sozial differenzierendes Potenzial und die damit verbundenen Machtwirkungen hin analysiert. Die Stratifizierung von Diskursen in wissensspezifisch definierte Dimensionen (Spezialdiskurse, Interdiskurs) ist für Link als Untersuchungsgegenstand bedeutsam, weil die soziale Differenzierung, die mit der Wissensspezialisierung einhergeht, nur in der kommunikativen Auseinandersetzung erlebbar wird: Ich gehe davon aus, daß im „Alltag", d. h., in der elementaren Soziokultur der Zivilgesellschaft die primär wahrgenommenen Distinktionen auf diskursiver Ebene liegen. [...] Während also die Klassendifferenz zwischen einem Facharbeiter und einem Beamten im Alltag kaum als solche wahrnehmbar ist, springt die Diskursdifferenz zwischen Facharbeiter und Lehrer bzw. Facharbeiter und Arzt im Alltag sehr viel stärker ins Auge. (Link 1988: 48, Fettdruck im Original)

Damit wird der Diskurs als elementares Gebiet gesellschaftlicher Kommunikation und Repräsentationsfolie für soziale Differenzierung hervorgehoben. Diskurse sind diejenigen Wirklichkeitsbereiche, in denen es möglich wird, gesellschaftliche Differenzierung wahrzunehmen und einer Analyse zugänglich zu machen.14 Diese Bewertung schlägt sich auch im von Link verwendeten Diskursbegriff nieder, der explizit an Foucault anschließt und als Heuristik dazu dient, den Zusammenhang „zwischen sozialen Konflikten, Struktur der Zivilgesellschaft und kultureller Integrationskapazität"15 zu untersuchen: Dabei benutze ich den Diskursbegriff von Michel Foucault, verstehe unter einem Diskurs also ein institutionalisiertes Spezialwissen einschließlich der entsprechenden ritualisierten Redeformen, Handlungsweisen und Machteffekte. (Link 1988: 48, Kursiv- und Fettdruck im Original)

Aus diesem Blickwinkel wird der Diskurs als sprachliche Erscheinungsform wissensmäßiger und sozialer Differenzierung wahrgenommen. Er entsteht demnach als „spezialisierter Wissensbereich (=diskurs i.s. foucaults) [und] ist 14

15

Zur Erfassung gesellschaftlicher Differenzierung vgl. Schimank/Volkmann (1999) und Schimank (1996). Link (1988: 48).

90 also direktes resultat der hochgradigen arbeitsteilung im industrialismus".16 Im Sinne einer diskursiven Arbeitsteilung wird der Diskursbegriff weiter ausdifferenziert in zwei große Diskurskomplexe, den Bereich des Fachwissens, das Spezialdiskurse konstituiert, und den Bereich des Interdiskurses, der durch Alltagswissen begründet wird. Diese beiden Diskurskomplexe grenzt Link klar voneinander ab. Aus einer vertikalitätsorientierten Perspektive ist die Trennung von Spezialdiskursen und Interdiskurs besonders interessant, zumal Link zur Bestimmung auf das Kriterium der Systematisierung des Wissens zurückgreift. Die Sphäre der Spezialdiskurse ist der gesellschaftliche Ort wissenschaftlichen Wissens im Rahmen der Systematik der Fächer. Diese Horizontalität der Einzelfacher unterteilt Link in die drei Großbereiche „(1) naturwissenschaftliche, (2) humanwissenschaftliche lind (3) interdiskursiv dominierte spezialdiskurse",17 eine Unterscheidung, die er aufgrund der Wissensspezifik der jeweiligen Fächer vornimmt. Während die ersten beiden Gruppen jeweils über empirisch fassbare Gegenstände als Referenten verfugen, sieht Link die dritte Gruppe, für die etwa Theologie und Philosophie als Beispiele angeführt werden, durch eine Nicht-Materialiät ihrer Gegenstände ausgewiesen, sie besitzen in der Tat keine speziellen empirischen gegenstände als korrelat ihres wissens, sondern beschäftigen sich speziell mit Integrationen und totalisierungen der diskurse. (Link 1986: 5)„ Während „das arbeitsteilige system der spezialdiskurse"18 durch den gesellschaftlichen Status, das Sozialprestige und die Systematisierungen des zugrunde liegenden Wissens charakterisiert ist, finden sich dagegen im Interdiskurs alle „diskurselemente, die nicht spezifisch, sondern mehreren einzeldiskursen gemeinsam sind".19 Sie bilden „ein stark selektives kulturelles allgemein-wissen, dessen gesamtheit hier interdiskurs genannt wird".20 Link sieht dieses „allgemein-wissen"21 aus der fachlichen Systematisierung gelöst, seine Elemente unterliegen im Interdiskurs, dem Feld des Laien- und Alltagswissens, keiner erkennbaren Fachsystematik mehr. Daher wird das gesamte Ensemble von Spezialdiskursen und Interdiskurs nicht durch gemeinsam geteiltes Wissen zusammengehalten, sondern die Kohärenz wird durch Kollektivsymbole hergestellt. Kollektivsymbole, die unter dem Aspekt der

16 17 18 19 20 21

Link Link Link Link Link Link

(1986: (1986: (1986: (1988: (1986: (1986:

4). 5). 5). 48). 5, Fettdruck im Original). 5).

91 Diskursvertikalität noch genauer betrachtet werden müssen, bilden so den diskursiven ,Jtitt der gesellschaft". 22 Links Diskursbegriff sieht zentrale Differenzierungen vor, mit denen er sich auf kommunikative Gegebenheiten bezieht, die für eine Vertikalitätsperspektive konstitutiv sind. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung findet ihren sprachlichen Ausdruck im Diskurs. Daher unterliegt auch der Diskurs seinerseits einer analogen Differenzierung. Diskurse werden aufgefasst als „Wissensmengen", 23 was auf gesellschaftlicher Ebene eine wissensmäßige Arbeitsteilung nach sich zieht. Diese hat ihr diskursives Pendant in der sprachlichen Arbeitsteilung, die wiederum zu einer Stratifizierung von Diskursen fuhrt. Diese Grundansichten in Links Diskurskonzept w e i s e n - b e i unterschiedlicher Schwerpunktsetzung - deutliche Parallelen zur vertikalitätstheoretischen Diskurskonzeption und deren Grundannahme von der diskursiven Differenzierung in Experten- und Laiensysteme auf.

4.2

Diskursvertikalität:

Interdiskurs und Kollektivsymbolik

Hinsichtlich der Fragestellung, inwieweit die vertikale Strukturierung von Diskursen in Experten- und Laiensysteme in der Diskurstheorie von Link eine Rolle spielt, lassen sich besonders die Interdiskurstheorie und die Kollektivsymboltheorie als theoriespezifische Konkretisierungen zum Phänomen der Diskursvertikalität auffassen. Bei der Bewertung des Zusammenhanges von Interdiskurstheorie und Vertikalität muss berücksichtig werden, dass Links Bestimmung des Interdiskurses zwischen graduell verschiedenen Betrachtungsweisen changiert. So konstituiert den Interdiskurs, wie im Folgenden näher beleuchtet wird, einerseits das „alltagswissen" 24 und ein „allgemein-wissen", 25 andererseits aber auch eine Menge von Beziehungen zwischen Spezialdiskursen. Eine grundlegende Übereinstimmung besteht hinsichtlich des theoretischen Diskursmodells und der Diskursstratifizierung, solange man davon ausgehen kann, dass die kommunikativen Orte des Expertenwissens die Spezialdiskurse sind, während das Laienwissen, in Links Formulierung das „alltagswissen" 26 bzw. das „allgemein-wissen", 27 im Interdiskurs seinen kommu22 23 24 25 26

Link (1982: 11, Kursivdruck im Original). Link-Link/Heer(1990: 96) Link (1986: 6). Link (1986: 5). Link (1986: 6). Zur Frage von Alltagswissen und Alltagssemantik vgl. Hannappel/ Melenk (1984) und die Anmerkungen dazu bei Wichter (1994: 80-81). Der All-

92 nikativen Ort hat. Dass die Auffassung einer Vertikalitätsstufung in Links Konzeption elementar angelegt ist, wird besonders anschaulich, wenn er die von Karlheinz Jakob (1991/a: 4) verwendeten linguistischen Bezeichnungen in die Terminologie seines Modells übersetzt: Konkret werden [bei Jakob] drei »Varietätenbereiche« in ihrer Korrelation untersucht: »Theoriesprache«, »Technikfachsprache« und »Alltagssprache« [...], also Spezialdiskurse, angewandte Spezialdiskurse und Inter- bzw. Elementardiskurse. (Becker/Gerhard/Link 1997: 84, Hervorhebungen im Orginal) Die diskursiven Teilbereiche stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung, und zur öffentlichen Diskurskommunikation sind sowohl Spezialdiskurse von Experten und laiennaher Interdiskurs notwendig. Zwar bleiben die Laien - „die spezialdiskurse sind ja bloß den Spezialisten zugänglich"- 28 ohne entsprechende Vermittlungsinstanzen von den Expertenniveaus ausgeschlossen, aber im Rahmen eines umfassenden Diskurses müssen auch die Nichtexperten einbezogen und die Inhalte niveaugerecht popularisiert werden:

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tagsbegriff leidet insgesamt unter fehlender Differenzierungskraft, weil er suggeriert, es gebe über die soziale und kommunikative Differenzierung einer Gesellschaft hinweg ein Feld grundlegender und stabiler Gemeinsamkeiten, die alle sozialen Schichten, Professionen und Varietäten vereine. Dies scheint mir nur sehr begrenzt der Fall zu sein. Hinzu kommt, dass das gemeinsprachliche Alltagskonzept einen starken Berufsbezug aufweist, wie etwa der entsprechend Artikel im DGWS zeigt: All|tag, der; -[e]s, -e [zu älter alletag = täglich, gewöhnlich]: 1. Werktag, Arbeitstag: die Feier fand an einem A. statt. 2. (geh.) tägliches Einerlei, gleichförmiger Ablauf im [Arbeits]leben: Man müsste aus dem A. ausbrechen können, wofür lebt man denn sonst? (Ziegler, Konsequenz 185); Für uns, die wir den grauen A. der Politik zu begreifen ... versuchen (Dönhoff, Ära 82); Schwere Kopfverletzungen von Skifahrern gehören ... leider schon bald zum A. (werden alltäglich; NZZ 30. 1. 83,1). Mit Blick auf den Berufsbezug muss man jedoch feststellen, dass die Unterschiede erheblich sind. Der Alltag eines Germanistikprofessors weist etwa im Vergleich mit dem Alltag eines Drehers außerordentliche soziale, sprachliche und wissensmäßige Unterschiede auf, und diese Differenzen werden eben nicht durch ein alltagsbezogenes „Minimalwissen" (Hannappel/Melenk 1984: 155) überbrückt, das beide Alltagsformen miteinander verbindet. Zwar gibt es übergreifende Wissensbestände, diese scheinen jedoch mit dem verwendeten Alltagsbegriff nicht erfasst zu werden. Wie sehr auch der außerberufliche Alltag der Menschen in einer Gesellschaft in verschiedenste Ausprägungen zerfallt, die nicht nur auf die berufliche Differenzierung zurückgehen, zeigt auch die Lebensstilforschung. Vgl. dazu: Endruweit (2000), Kudera/Voß ( 2000) und Hartmann (1999). Link (1986: 5). Link (1986: 6).

93 Außer den Spezialdiskursen braucht die gesellschaft also den interdiskurs, worunter wir jene redetypen verstehen, die das arbeitsteilige system der spezialdiskurse (natürlich äußerst stark selektiv) wieder reintegrieren und totalisieren. (Link 1986: 5, Fettdruck im Original)

Damit formuliert Link den Grundzusammenhang, um den es einer vertikalitätstheoretischen Lexikologie geht: den kommunikativen Umgang von Experten und Laien im gesellschaftlichen Diskurs. Zur Abgrenzung zwischen Spezial- und Interdiskurs zieht er als Unterscheidungskriterium den Grad der Wissenssystematisierung heran, pointiert dabei aber zu stark, wenn er im Rahmen der Explikation des theoretischen Diskursmodells den Interdiskurs als regelloses, chaotisches Feld charakterisiert: Der interdiskurs ist nicht wie die spezialdiskurse explizit geregelt und systematisiert, ihm werden keine definitionen abgefordert, keine widerspruchsfreiheit usw. Bildlich haben wir den interdiskurs deshalb als fluktuierendes gewimmel zu kennzeichnen gesucht. (Link 1986: 5, Fettdruck im Original)

Die vertikale Lexikologie hat gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Auch die diskursiven Ebenen der Alltags- und Laienkommunikation, in der linkschen Terminologie eben der Interdiskurs, sind keineswegs regellos und völlig willkürlich, sondern weisen durchaus Systematisierungen auf.29 Die Laiensysteme können zwar aus der Sicht der Spezialdiskurse falsch oder willkürlich verkürzt sein, denn die Wissenssystematik von Laienniveaus orientiert sich in erster Linie an der Eigenperspektive der Laien und nicht primär am fachlichen Wissen. Dennoch sind sie kommunikativ eigenständig und darüber hinaus nicht vollständig arbiträr, sondern - wie im zweiten Kapitel näher ausgeführt - zumindest in dreierlei Hinsicht festgelegt und einer empirischen Untersuchung zugänglich: durch die Forderungen nach interner Kohärenz von subjektiven Theorien, durch Stereotypisierungen (im putnamschen Sinne) und durch ihren Bezug zum Expertensystem, der auf einer Vertikalitätsskala und im Rahmen einer Besetzungstypologie abgebildet werden kann. Link weist dem Interdiskurs auch die Aufgabe zu, die gesellschaftlichen und kommunikativen Spannungen, die durch die Wissensspezialisierung entstehen, wieder auszugleichen, er betont: Je mehr sich die Arbeitsteilung in Industriegesellschaften und mit ihr die Wissensspezialisierung und Diskursvielfalt entfaltet, um so dringender wird die zivilgesellschaftliche Reintegration im Alltag. Diese Reintegration erfolgt spontan, so meine These, durch das, was ich „Interdiskurs" nennen möchte. Darunter möchte ich die Gesamtheit all der Diskurselemente verstehen, die [...] mehreren Einzeldiskursen gemeinsam sind. (Link 1988: 48, Fettdruck im Original) 29

Dies zeigen die empirischen Untersuchungen in Wichter (1999/a, 1994), Busch/ Wichter (2000), Busch (1999, 1994), Faber (1998), Schimpf (1997), Beile (1997), Terglane-Fuhrer (1996), Schräder (1991) und Wächter (1991).

94 Neben der Etikettierung des Interdiskurses als unsystematisches „fluktuierendes gewimmel" 30 und der funktionalen Bestimmung als Instrument einer „Reintegration im Alltag"31 klingt hier nun mit dem Hinweis auf das Einzeldiskurse übergreifende Moment eine weitere Facette des Interdiskurskonzeptes an. Dies wird noch deutlicher, wenn Link in seiner wohl ausfuhrlichsten Begriffsbestimmung des Interdiskurses festlegt. 32 Ich möchte als Interdiskurs also im engeren Sinne die Gesamtheit diskursiver Elemente definieren, die nicht diskursspezifisch, sondern mehreren Diskursen gemeinsam sind. Diese Elemente können materieller (z. B. Symbole, Situationen, Mythen, Charakterkonfigurationen usw.), formaler (z. B. syntaktische Anordnungsschemata im wörtlichen und übertragenen Sinne, Matrizen, mathematischlogische Formalisierung usw.) sowie pragmatischer Art sein (z. B. Institutionalisierung von Symbolen usw.; Versuchsanordnungen, Handlungsschemata usw.). (Link 1984: 149, Fettdruck im Original) Diese Bestimmung ist ungemein umfassend und schließt mit der Berücksichtigung aller Elemente, die „mehreren Diskursen" gemeinsam sind, offenbar das gesamte gemeinsprachlich kulturelle Substrat ein, auf dem Spezialdiskurse stattfinden können. Diese Ausweitung der Definition führt zu einer erheblichen Vagheit, die in der Spannbreite der aufgezählten semiotischen Gegenstände sichtbar wird. So bleiben in dieser Begriffsbestimmung die Kriterien für eine klare Abgrenzung zwischen Kultur, Interdiskurs und Spezialdiskurs diffus, zumal einige der aufgezeigten Elemente, etwa „mathematisch-logisch Formalisierung" oder „Versuchsanordnungen" gerade auch spezifisch fachliche Mittel auf Expertenniveau sind. Sie müssten in der linkschen Terminologie den Spezialdiskursen zugerechnet werden. Mit dieser Akzentsetzung bei der Bestimmung des Interdiskurskonzeptes ist der Charakter des Interdiskurses als Bereich des „alltagswissens" 33 und damit auch der Laiensysteme nicht mehr eindeutig auszumachen. Dies wird noch problematischer, wenn in einer weiteren Nominaldefinition bestimmt wird, alle interferierenden, koppelnden integrierenden usw. Quer-Beziehungen zwischen mehreren Spezialdiskursen „interdiskursiv" zu nennen. „Interdiskursiv" wären dann z. B. alle Elemente, Relationen und Verfahren, die gleichzeitig mehrere Spezialdiskurse charakterisieren. (Link/Link-Heer 1990: 92)

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Link (1986: 5, Fettdruck im Original). Link (1988: 48, Fettdruck im Original). Diese Definition wird häufig paraphrasiert und auch zur Etablierung einer „Literaturtheorie als (generative) Interdiskurstheorie" (Link/Link-Heer 1990: 92) herangezogen. Link (1986: 6).

95 Hier ist der Interdiskurs nur noch als eine Menge von Beziehungen und Elementen aufgefasst, die zwischen Spezialdiskursen bestehen. Die Einschätzung, dass „Interdiskurse [...] Spezialwissen überbrückende, integrative Funktionen bedienen und vor allem an Subjektapplikationen gekoppelt sind"34 und dass „ihre dominante Funktion gerade in der kulturellen Integration und Generalisierung selektiven Wissens für die Subjekte besteht",35 tritt ebenso in den Hintergrund wie die Vorstellung eines selbstständig existierenden Alltagswissens, das auch ohne Anbindung an Fach- und Spezialwissen vorhanden sein kann. Eine solche Zuspitzung ist aus Sicht eines vertikalitätsorientierten Zuganges zur Diskurskommunikation, der ja die kommunikative Eigenständigkeit der Laiensysteme im Feld des Alltagswissens betont, nicht mehr annehmbar. Für eine vertikalitätstheoretische Einordnung könnte man pointieren: Je stärker das Laienwissen durch den expliziten Bezug auf Spezialdiskurse aus dem Interdiskurskonzept ausgegliedert wird, desto mehr schwindet auch die Kompatibilität mit der Vertikalitätstheorie. Die Vereinbarkeit ist dann am größten, wenn das Interdiskurskonzept an die ursprüngliche Koppelung von Interdiskurs und Alltagswissen angebunden wird. So lässt sich festhalten: Die Vereinbarkeit des Interdiskurskonzeptes mit Grundannahmen der Vertikalitätskonzeption ist zwar grundsätzlich gegeben, insbesondere, wenn Link die detaillierte Untersuchung der „Streuung aller interdiskursiver Aussagen, Diskurs-Komplexe, Modelle, Themen usw." 36 als Ziel seiner Erweiterung der foucaultschen Diskursanalyse zur Interdiskursanalyse bestimmt. Der Vertikalitätsanalyse geht es indes primär um die lexikalischen Erscheinungen der vertikalen Streuung. Aber diese partielle Übereinstimmung muss immer in Bezug zur jeweiligen Ausprägung der Bestimmung des Interdiskurskonzeptes gesehen werden, da sich durch die unterschiedlichen Akzentsetzungen Kompatibilitätsprobleme ergeben. Diese Vagheit, die durch die Betonung verschiedener Aspekte des Interdiskurskonzeptes entsteht, ist wohl in weiten Teilen auf die Weiterentwicklung der foucaultschen Diskurskonzeption zu einer Interdiskursanalyse im Dienste einer primär literaturwissenschaftlichen Analyse zurückzufuhren, denn der komplexe Gegenstand der Literatur kann, wie Link hervorhebt, „wohl kaum als diskursive Formation im Sinne einer Region speziellen Wissens aufgefasst werden".37 Die Frage, auf welche Weise in der gesellschaftlichen Kommunikation die Stratifizierung des Gesamtdiskurses in Interdiskurs und Spezialdiskurse über-

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Link Link Link Link

(1999/b: (1999/b: (1999/b: (1999/b:

155). 155). 155). 154).

96 wunden wird, beantwortet Link im Rahmen seiner Kollektivsymboltheorie?% Unter Kollektivsymbolik versteht Link „den Gesamtbereich der Symbolik, 'Bildlichkeit', Metaphorik, der anschaulichen Stereotypen und Klischees",39 soweit sie einer Gesellschaft insgesamt, also Experten und Laien gleichermaßen, als ikonische Elementarkonzepte zur Verfugung stehen. Damit löst sich Link von metaphorologischen, literaturwissenschaftlichen und rhetorischen Terminologien und etabliert mit der Kategorie der Kollektivsymbole als Alternative einen pragmatisch begründeten „Oberbegriff' 40 für die diskurswirksamen, ikonischen Bestände einer Kultur. Er umfasst „die Gesamtheit der so genannten >Bildlichkeit< einer Kultur, die Gesamtheit ihrer am weitesten verbreiteten Allegorien und Embleme, Metaphern, Exempelfälle, anschaulichen Modelle und orientierenden Topiken, Vergleiche und Analogien".41 Solche Kollektivsymbole bilden synchrone Zeichensysteme im Interdiskurs. Prägnante Beispiele für historische Ausprägungen von Kollektivsymbolen im technischen Bereich sind etwa „die Reihe der symbolisch jeweils dominierenden Maschinen: Uhr, Dampfinaschine, Elektromaschine, Computer-"42. Sie existieren auf der Ebene der Einzelkulturen als elementare Wissensbestände, die den kulturellen Zusammenhang sichern. Im Rahmen von Diskursen wird auf diesen ikonischen Grundbestand von Sprache und Kultur zurückgegriffen, und je nach Position und Kommunikationszweck des Diskursakteurs werden die Konzepte in aktuelle Diskurse hinein projiziert. Der Charakter der Projektion ist je nach Diskursart und Kommunikationszweck unterschiedlich. Während im Laienbereich die „integrativen Diskurse des Alltags (z. B. der Presse) durch vielfältige Katachresen die Synchronie des Systems [der Symbole] ständig offen legen, bemühen sich besonders die 38

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Die Kollektivsymboltheorie, ihre Begründung und ihre Beziehung zu weiteren Tropiktheorien ist mehrfach ausführlich dargestellt worden. Dies soll hier nicht reproduziert werden, vielmehr werden hier lediglich Aspekte thematisiert, die für die Vertikalitätsperspektive besonders interessant sind. Ausführliche Darstellungen der Theorie finden sich bei: Jäger (1999/a: 127-142), Becker/Gerhard/Link (1997), Jäger, M. (1996: 23-31), Drews/Gerhard/Link (1985) und Link (1984/a, b). Link (1988: 48). Becker/Gerhard/Link (1997: 74). Link sieht seinen Ansatz ausdrücklich als integrativen Entwurf zur Schaffung von Vereinbarkeit zwischen verschiedenen Perspektiven und Terminologien: „Der Vorschlag, »Symbol« (statt z. B. »Metapher«, »Sprachbild« oder auch »Denkbild«) als Oberbegriff zu nutzen, ist rein pragmatisch intendiert. Er bestreitet anderen Usancen (vor allem den »metaphorologischen«) keineswegs ihre Legitimität, zielt im Gegenteil vielmehr auf Kompatibilisierung und Erleichterung von [terminologischer] >KonvertibilitätTrichteK, durch die - wie extrem selektiv und komplexitätsreduzierend auch immer - Wissen aus den Spezialdiskursen in den melting pot des interdiskursiven Materials fließt. Dieses Material wird in eigenen, elaborierten Interdiskursen (Populärwissenschaft, Populärreligion, Populärphilosophie [...] »Mediendiskurs«) unter je verschiedenen Blickwinkeln systematisiert und für subjektive Applikationen (einschließlich Subjektbildung) bereitgestellt. (Becker/ Gerhard/Link 1997: 73, Kursivdruck im Original).

Damit ist evident, dass die linksche Operationalisierung und Erweiterung der foucaultschen Theorie für die Literaturwissenschaft und Kulturanalyse auch die Untersuchung wesentlicher Aspekte des Phänomenbereichs der Diskursvertikalität einschließt, dessen lexikologische Erfassung und Beschreibung im Interessenfokus einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie steht.

4.3

Diskursprogression: Trennung von Experten- und Laienthemen sowie Analysekategorien der kombinierten Diskurs- und Interdiskursanalyse

Für die Frage der Progression von Diskursen sind wie bei Foucault die Perspektiven auf die Veränderungen bei Diskursthema und Diskursgegenstand zentral. Das Diskursthema fasst Link mit terminologischer Nähe zu Jägers Diskursstrang-Begriff50 auf als potenziell-aktuelles, gegenstandsbezogenes Reproduktionsschema typischer Verkettungen von Aussagen (z. B. Geburtenrückgang - Nation - Rasse - Aufstieg und Niedergang - Vitalität und Degeneration von Nationen, Rassen - sexuelle Verhaltensweisen, und zwar normale und anormale - Diagnosen und Therapien usw). (Link 1999/b: 153)

Der Motor der Progression eines solchen Diskursthemas ist, im Falle öffentlicher, massenmedialer Diskurse bis zum Äußersten dynamisiert, die Aktualität. Ein Thema muss aktuell sein, damit es öffentlich und nicht ausschließlich innerhalb von Spezialdiskursen weiterentwickelt wird; nur dann entwickelt es eine diskursive Dynamik, die sich darin äußert, dass sich „an ihm entgegen50

Link (1999/b : 153) weist selbst auf diese Parallele hin.

100 gesetzte diskursive Positionen (z. B. in Form von Debatten) konfrontieren" (Link 1999/b: 153)unddass ein >Thema< nach der Art eines Magneten sehr viele Aussagen um sich zu kumulieren scheint, und zwar nicht bloß über kurze Zeit (diskursives Ereignis), sondern über mittlere oder sogar lange Zeit. [...] Da ein >Thema< sowohl für einen einzelnen Diskurs spezifisch wie diskursübergreifend Aussagen kumulieren kann, gibt es sowohl spezialdiskursive wie interdiskursive Themen (Link 1999/b: 153)

Die Vorstellung, die mit der Magnetismusmetapher illustriert wird, scheint mir auch mit Blick auf öffentliche Diskurse mit Laienbeteiligung evident zu sein, indes kann aus vertikalitätstheoretischer Sicht einer grundlegenden Trennung in „spezialdiskursive wie interdiskursive >ThemenSchubladen< konstruiere, dann kann ich die jeweiligen Okkurrenzen von >normal< darin (einschließlich ihrer Querverbindungen, ihres jeweiligen typischen kollektivsymbolischen >Mantels< und ihrer Verkettung mit Themen) sowohl quantitativ als auch qualitativ mehr oder weniger genau rekonstruieren. (Link 1999/b: 156)

Mit diesen Konkretisierungen gibt Link auch in methodologischer Hinsicht Anregungen zur Erfassung der Diskursprogression. Die von ihm ermittelten Kategorien ergänzen die diskursanalytischen „Werkzeugkisten",59 zu deren Nutzung Foucault aufgerufen hat, und die auch für eine Vertikalitätsanalyse nutzbar zu machen sind.

4.4

Diskurspersuasion und -kontrolle: hegemoniale Diskurse, Diskurstaktik und Kollektivsymbole

Die Mechanismen der Diskurskontrolle, insbesondere auch in massenmedial geführten Diskursen, aufzudecken, ist zentrales Motiv in Links Konzeption. Diskursanalyse ist in dieser Hinsicht Gesellschafts- und Machtanalyse. Für eine Vertikalitätsanalyse sind dabei besonders zwei Aspekte aufschlussreich, die ein Schlaglicht auf die Bedingungen werfen, unter denen die unterschiedliche Verteilung von Experten- und Laienwissen ein Fundament für Persuasion und Diskurslenkung in öffentlichen, massenmedialen Diskursen bietet. Zentrale Anknüpfungspunkte dafür sind in Links Konzeption die Strategien einer Kontrolle des Diskurses selbst (kulturelle Hegemonie von Diskursen) sowie die Kontrolle im Diskurs (Diskurstaktik). Die Analyse der Kontrolle des Diskurses von außen stellt die grundlegende Frage nach der Macht in einer Gesellschaft und den Partizipationsmöglichkeiten von Laien an der Diskursproduktion, gewissermaßen die Frage nach dem diskursiven Agendasetting. Dabei geht es letztlich um die Frage, wie zwischen Experten und Laienöffentlichkeit die Macht verteilt ist, Diskurse zu inszenieren und sie (zulasten anderer, damit ausgeschlossener Diskurse) auf die Agenda der öffentlichen Erörterung zu setzen. 58 59

Link (1999: 156). Foucault (1976 MM: 53).

103 An Foucault anknüpfend betonen Link/Link-Heer, dass es bei der Analyse der Wissensverteilung und Diskurssteuerung nicht um die permanente Suche nach Machtwirkungen und Machtmissbrauch durch einzelne Personen geht, sondern in erster Linie um die Analyse von Diskurskonstellationen, durch die Macht ausgeübt wird. Analyse von Diskursmacht darf also nicht pauschal als Analyse einer „mit Subjektstatus versehene[n] Manipulations-Macht"60 missverstanden werden: „Die" Macht existiert nicht, bzw. existiert sie positiv nur als das je historisch-konkrete Geflecht aller positiv-empirischen Machtbeziehungen (das „hegemoniale" Netz). (Link/Link-Heer 1990: 91)

Die Lenkung von Diskursen durch Selektion und die Ausschließung bestimmter Diskurse findet also im Rahmen einer je spezifisch historisch geprägten Situation und Machtkonstellation statt. Die Diskurse, die unter den jeweiligen historischen Bedingungen durchgesetzt werden können, repräsentieren für Link die „Konsequenz der Dominanz der „hegemonialen" Interessen"61 und zeigen insgesamt die „kulturelle Hegemonie"62 der Interessengruppen, die ihre Diskurse etablieren können. Als Träger dieser diskursiven Selektionsstrategie sieht er eine elitäre „hegemoniale, mediopolitische Öffentlichkeit",63 die er mit Teun van Dijk auffasst als die „(kleinen) Gruppen und Institutionen" mit „Zugang zu Machtressourcen wie Reichtum, Einkommen, gesellschaftliche Position, Beschäftigung, Bildung Status, Macht und Wissen".64 Daraus folgt für die Untersuchung der Diskurssteuerung in Mediendiskursen, dass es gilt, diskursanalytische Antworten auf die folgende Frage zu finden: „Was heißt es, das die mediopolitische Hegemonie etwas 'sieht' bzw. anderes nicht 'sieht'?".65 Aus dieser Verbindung von Diskursmacht und Elitenstatus lässt sich ablesen, dass für die Mechanismen der Diskurskontrolle wie bei Foucault die Einschätzung der Sozialposition entscheidet, eine Einschätzung, nach der die Laienöffentlichkeit von der Mitwirkung an der Selektion von Diskursen weitgehend ausgeschlossen ist. Im Rahmen der traditionellen Massenmedien gilt dies sicher weithin, auch wenn die Rolle von Wissenseliten wechselnd und

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Link/Link-Heer (1990: 91). Link (198B: 49, Fettdruck und Anfuhrungszeichen im Original). Link (1988: 49). Link (1993: 31). Zur Rolle der Kollektivsymbolik in Mediendiskursen vgl. auch Link (1982). Van Dijk (1993: 38). Link (1993: 31, Hervorhebung im Original).

104 zum Teil auch kritisch thematisiert wird.66 Eine Änderung ergibt sich allerdings, wenn man die Internetkommunikation einbezieht, die gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass eine solche Diskurskontrolle hier noch nicht durchgesetzt werden konnte. Skeptisch ist Link auch im Hinblick auf die Frage, ob eine Laienbevölkerung nicht wenigstens in grundlegenden politisch relevanten Bereichen als Adressateninstanz über die Meinungsforschung in den Diskursselektionsprozess kulturell-hegemonialer Eliten eingebunden ist: Die Fragen, bei denen die Bevölkerung den „dringlichsten Handlungsbedarf' sieht, werden nicht in einer völlig freien Sondierung [...] sozusagen demokratisch konstituiert, sondern von den [Meinungsforschungs-]Instituten vorgegeben. Aufgrund welcher Vorgaben vorgegeben? Aufgrund der von der mediopolitischen Hegemonie so „gesehenen" Vorgaben. Womit der Zirkel wiederum geschlossen wäre. (Link 1993: 32, Hervorhebungen im Original)

Die Kontrolle und Etablierung von Diskursen ist demnach eindeutig gesellschaftlichen Wissenseliten vorbehalten. Das darf in der Analyse der Zusammenhänge des Diskurshaushaltes einer Gesellschaft indes nicht zu statisch aufgefasst werden, und für die Partizipationsmöglichkeiten einer Laienöffentlichkeit muss darauf hingewiesen werden, dass die Rolle der Massenmedien in diesem Prozess sich verändert und die mediale Diskurssteuerung auch wechselnde Diskurssteuerungs-Partnerschaften mit sich bringt. Diese ermöglichen es im Einzelfall auch kleinen Gruppen, die nicht in den Kreis der etablierten Träger der kulturellen Hegemonie gehören, Diskurswirkungen zu erreichen. Darauf deuten die Ergebnisse von Imhoff (1996), der eine zunehmende Symbiose von Ökonomie und Medien konstatiert. Diese Symbiose führe u.a. zu einer Strukturveränderung von Öffentlichkeit, die in die Ausbildung einer „Bewegungsgesellschaft" 67 mit Entfernung von politisch dominierter Diskursselektion münde. Aufgrund dieser Veränderung der Selektionskriterien „können heute einigermaßen geschickt inszenierte, also medienwirksame Regel- und Tabubrüche auch kleinster Gruppen mediale Aufmerksamkeit finden", 68 eine sehr kurzfristig ausgerichtete Diskurssetzungsstrategie, die immer häufiger anzutreffen ist. Hinzu kommt eine grundlegende Änderung in der Motivation von Massenmedien bei der Diskurssetzung und -Selektion. War in der Vergangenheit die Selektion öffentlicher Diskurse noch stärker an politische Inhalte gekoppelt, 66

67 68

Vgl. etwa die Beiträge in Kerner (1996), sowie Mohr (1997), Bonfadelli (1994) und für den Gesundheitsbereich Faltermaier/Kühnlein/Burda-Viering (1998) und Faltermeier (1994). Imhoff (1996: 178). Imhoff (1996: 178).

105 so agieren die Massenmedien mehr und mehr eigenständig und in politisch inhaltlicher Hinsicht neutral.69 In einer neuen Symbiose von Medien und Ökonomie etablieren Massenmedien weniger Diskurse, die für politische und systembezogene Fragen relevant sind, vielmehr organisieren sie zunehmend „Kaufkraftgruppen für die Wirtschaft". 70 Diese Funktion wirkt sich so massiv auf die Strategien und Inhalte der Diskursselektion aus, dass man fragen muss, ob nicht an die Stelle der von Link postulierten kulturellen Hegemonie inzwischen eine ökonomische Hegemonie getreten ist. Dieser Aspekt der ökonomisch motivierten Diskursselektion ist für Technologiediskurse und den Computerdiskurs zentral, denn eine Technologie in der Publikums- und Massenphase ist ökonomischen Gesetzen unterworfen, die auch den zugehörigen Technologiediskurs steuern. Neben der Diskursselektion von außen analysiert Link auch in zahlreichen Beiträgen die Ausübung von Kontrolle im Diskurs, die Diskurstaktik.71 Im Mittelpunkt stehen dabei die Rolle der Kollektivsymbolik und normalistische Diskurstaktik, die auf der gesellschaftlichen Codierung von Systemgrenzen (normal vs. nicht normal) beruhen. Die Manipulationskraft von Tropen und die Möglichkeiten der diskursiven „Verführung durch Kollektivsymbole"72 hängen, wie Links Ergebnisse zeigen, von vier Bedingungen ab: erstens vom relativen Gewicht jener Symbole [...], die die Systemgrenze markieren, sowie vom relativen Gewicht absoluter Negativsymbole; sie hängt zweitens ab vom Grad der Umkehrbarkeit der Symbole; drittens von der 'Dichte des Netzes' (ob eine Gruppe, die als 'Flut symbolisiert wird, automatisch auch als 'Schmutz', 'Krebs' usw. symbolisiert wird [...]); viertens vor allem von statistisch hergestellten referentiellen Identitäten: ob also der Jude, der Türke, der marxistische Gewerkschafter [...] stets und stereotyp symbolisch als Feind kodiert wird, so dass etwa das Durchschnittsindividuum der hegemonialen Kultur schon beim Bild 'Ratte' automatisch den Sinn 'Jude' konnotiert. (Link 1988: 50, Kursiv- und Fettdruck im Original)

Die angesprochenen sprachlichen Persuasionsmechanismen hat Link vielfach in Analysen von Medientexten belegt.73 Für die Frage, inwieweit die sprachliche Vertikalität in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt, ist die komplexitätsreduzierende Wirkung von Ikonisierungen und Kollektivsymbolen entscheidend. Durch die an Laien adressierte Übersetzung, Vereinfachung und Stereotypisierung komplexer Zusammenhänge der Expertenebenen wird im Rahmen öffentlicher Diskurse massiv manipuliert. Besonders prägnant 69 70 71 72 73

Vgl. Jarren (1998: 77). Jarren (1998: 77). Vgl. etwa Link (1983). Fricke (1999: 98). Vgl. etwa Link (1995,1994,1993,1988,1984, 1983,1982).

106 und Besorgnis erregend ist dies leider beim Zusammenhang von demografischem Wandel in der Bundesrepublik Deutschland, der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme und der Angst vor Einwanderung und Konfrontation mit fremden Kulturen. Der so geschürte Rassismus im Deutschland der Gegenwart ist nicht zu übersehen. Dabei kann die Wissenskluft zwischen Experten und Laienöffentlichkeit als Resonanzraum für manipulatorische Kodierung gerade in massenmedialen Darstellungen interessenbezogen ausgenutzt werden. Diese Möglichkeit des manipulatorischen Missbrauchs der Wissenskluft zwischen Experten und Laienöffentlichkeit macht Link am Beispiel der Aufbereitung von Expertenwissen in Form statistischer Darstellungsweisen im Diskurs deutlich: Es sind die Massenmedien, denen in erster Linie [...] die Aufgabe zufällt, die statistischen Daten und Kurven an die Individuen auszustrahlen. Dabei kodieren die Medien diese Daten und Kurven kollektivsymbolisch, um sie in Subjektivität zu >übersetzenFlutLawineüberfulltes Boot< usw. (Link 1995: 34, Hervorhebungen im Original)

Die diskurstaktische Strategie solcher Kodierung besteht u.a. darin, dass auf diese Weise unter Berufung auf Expertenwissen und Expertenzahlen ein gesellschaftlicher oder gruppenbezogener Handlungsbedarf, eine angebliche Normalität wieder herzustellen, suggeriert wird. Das Konzept von Normalität bildet, wie Link (1997) ausführlich zeigt, als kulturelles Grundmuster den Bezugsrahmen für die Positionierung des Subjektes in der Gesellschaft. Die „(meistens heimlich und schweigend gestellte) Frage 'bin ich normal?' [wurde] zur Schicksalsfrage des 19. und 20 Jahrhunderts".74 Bei der Festlegung von Normalitätsgrenzen hat Link im Verlauf der Entfaltung des Konzeptes von Normalität zwei Diskursstrategien ausgemacht: 1) eine restriktive protonormalistische Diskursstrategie, die durch fixe Normalitätsgrenzen, enge Toleranzen und Ausrichtung auf lange Zeiträume gekennzeichnet ist, 2) eine gegenläufige flexibel-normalistische Diskursstrategie, die durch dynamisch-gleitende Normalitätsgrenzen und breite Übergangsbereiche zwischen Normalität und Anormalität charakterisiert ist.75 Im Überblick lassen sich die Kategorisierungen Links zur Diskurssteuerung drei Dimensionen zuordnen, die deutliche Bezüge zur Diskursvertikalität aufweisen: Sowohl (a) die Selektion von Diskursen als auch (b) die Persuasion durch Kollektivsymbole und (c) die von Link so genannten normalistischen 74 75

Link (1995: 27). Vgl. Link (1999/a, b, 1995). In Link (1999/a: 185-312) liefert er eine Diskursgeschichte des Normalismus.

107 Diskursstrategien funktionieren vor dem Hintergrund der Stratifizierung von Diskursen in Experten- und Laienniveaus. Jedem Niveau ist jeweils unterschiedliche Diskursmacht zugeordnet und jede spezifische Experten-LaienKonstellation im Diskurs birgt eine spezifische Machtkonstellation, die zur mehr oder minder asymemtrischen Kommunikation fuhren kann.

4.5

Diskussionsergebnisse: Die Diskurstheorie Jürgen Links aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie

Die grundlegende Kompatibilität beider Konzeptionen wird deutlich in einer Reihe von Anknüpfungspunkten, die für die Untersuchung vertikaler Wissens- und Wortschatzstrukturen in öffentlichen Diskursen zentral sind, auch wenn Link diese nicht explizit zum Thema macht. Besonders deutlich sind die Gemeinsamkeiten bei den folgenden Aspekten: • Diskursmodellierung: Ein Diskurs, insbesondere ein massenmedial geführter Diskurs, reflektiert sowohl die Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Wissensraumes als auch die damit verbundene Sozialdifferenzierung. Diese Stratifizierung der Lebenswelt ist über den Diskurs als empirisch zugängliches Korrelat erfassbar. • Interdiskurstheorie: Diskurse sind intern stratifiziert, und die einzelnen Ebenen, bei Link durch die Opposition von Spezialdiskursen vs. Interdiskurs bestimmt, sind aufgrund ihrer Wissensspezifik charakterisiert. Links Konzept vom Interdiskurs weist große Nähe zum Feld der vertikal geordneten Laienniveaus im Vertikalitätskontinuum auf, solange der Interdiskurs im Rahmen des schwankenden Gebrauches dieses Konzeptes als Alltagswissen oder Allgemeinwissen konkretisiert wird. • Kollektivsymboltheorie'. Das Funktionsspektrum von Kollektivsymbolen entspricht der Breite der Funktionen beim vertikalen Wissenstransfer generell. Insbesondere sind für die Überbrückung der Wissenskluft zwischen Experten und Laien die folgenden Potenziale wichtig: Erschließungs-, Brücken-, Veranschaulichungs-, Kohärenz- und Persuasionsfunktion. Kollektivsymbole bieten so einerseits ausgezeichnete Möglichkeiten der Komplexitätsreduzierung zur Aufbereitung von komplexem Expertenwissen für Laien. Andererseits ermöglichen sie aber Manipulation und diskurstaktische Persuasion durch konnotative Aufladungen, persuasive Koppelungen und Projektionen. Deutliche Grenzen der Kompatibilität zwischen beiden Theorien sind bei den nachstehenden Aspekten zu verzeichnen:

108 •

Eine vertikalitätsorientierte Betrachtungsweise, die den Diskurs als Kommunikationsraum auffasst und die das kommunikative Handeln und die Diskurswortschätze von Experten und Laien in diesem Raum mit einem linguistischen und lexikologischen Instrumentarium detailliert zu untersuchen vermag, kann der linkschen Vorstellung vom Diskurs als Zwischeninstanz zwischen Langue und Parole nicht folgen. Die Etablierung des Diskursbegriffes im Sinne einer Zwischenebene zwischen Langue und Parole wirft Probleme auf, so etwa die Abgrenzungsprobleme zu anderen Zwischeninstanz-Festlegungen (wodurch der Diskurs etwa gegen Coserius Normbegriff oder das Varietätenkonzept abgegrenzt werden müsste). Darüber hinaus bleibt unklar, welchen heuristischen Wert diese Auffassung des Diskurses als Zwischeninstanz hat. • Die Grenze der Vereinbarkeit mit der Vertikalitätstheorie wird überschritten, wenn der Interdiskursbegriff, der durch einen schwankenden Gebrauch gekennzeichnet ist, zu weit von der Vorstellung des Interdiskurses als Alltags- oder Allgemeinwissen abweicht. Wenn unter Interdiskurs lediglich eine Menge von Elementen verstanden wird, die nur noch durch ihr Verhältnis zu Spezialdiskursen definierbar sind und deren Funktion in der Verbindung von Spezialdiskursen besteht, ist der Bezug zum Raum der Laienniveaus in der Diskurskommunikation verloren. • Auch in den Systematisierungsaspekten des Interdiskurses zeigen sich Unterschiede. Während Link davon ausgeht, dass der Interdiskurs sich weit gehend als unsystematisches „fluktuierendes gewimmel"76 darstellt, geht eine vertikalitätsbezogene Lexikologie davon aus, dass der Bereich des laiennahen Alltags- und Allgemeinwissens und die dazugehörigen Wortschatzbereiche durchaus einer Ordnung unterliegen, denn auch Stereotypien sind Ordnungselemente des Laiensystems. Diese Ordnung des Laiensystems ist einer empirischen Analyse zugänglich und kann auf einer Vertikalitätsskala, die auch Stereotypien in Wortbedeutungen berücksichtigt, abgebildet werden. Eine potenzielle Erweiterung des Untersuchungsinstrumentariums einer vertikalitätstheoretischen Lexikologie ermöglicht insbesondere Links Untersuchung der Diskursgeschichte der Normalismuskonzeption. Die Kategorien der Diskursentwicklung, die Link in diesem Zusammenhang ermittelt hat, erweitern das aus der Diskussion der foucaultschen Vergleichskategorien erwachsene Tableau um die Dimensionen der diskursiven Proliferation und des Diskursstrategiewechsels. Vor diesem Hintergrund steht für die Erfassung der Diskursprogression und der Diskursvertikalität nun das folgende Raster externer Kategorien zur Verfügung: 76

Link ( 1 9 8 6 : 5, Fettdruck im Original).

109 semasiologische Stabilität (Bedeutungsstabilität) onomasiologische Stabilität (Bezeichnungsstabilität) vertikale Umdeutung (nichtfachlich motivierte Konzeptveränderungen) Konstitution (dauerhafte Präsenz von Wörtern und Konzepten) Übergang (von einer Diskursperiode zur anderen) Reaktivierung (obsoleter Elemente und Konzepte) diskursive Proliferation (gehäufte Übertragung diskursiver Grundkonzepte in neue Bereiche) Diskursstrategiewechsel.

5

Aspekte vertikaler Wortschatzvariation in Siegfried Jägers gesellschaftsanalytischem Instrumentarium

5.1

Diskursmodellierung-. „Der Fluß von Wissen durch die Zeit"1

Jägers Diskursmodell knüpft an Foucault an und betrachtet den Diskurs als ein Feld gesellschaftlicher Wissenskommunikation, durch die soziale Macht repräsentiert und ausgeübt wird. Die gesellschaftliche Praxis der Wissensverteilung, die Art und Weise, wie einem Wissen soziale Gültigkeit verschafft wird und wie auf diese Weise in konkreten Fällen Macht ausgeübt wird; dies zu untersuchen, ist in Jägers Konzeption Aufgabe einer aufklärenden, emanzipatorischen Diskursanalyse. Seit Beginn der 1980er Jahre verfolgt Jäger den Rassismus im öffentlichen Diskurs, d. h., die Tatsache, dass „die öffentliche Darstellung, das alltägliche Sprechen über und die Behandlung von Einwanderern und Flüchtlingen ausgesprochen diskriminierende Züge angenommen hatte",2 ein bedrückender Sachverhalt, dessen Dramatik durch die Kette von rassistisch motivierten Gewalttaten und Morden der letzten zwei Dekaden unübersehbar geworden ist. Zu den Wechselwirkungen zwischen Diskursen, diskursiven Ereignissen und rassistischen Gewalttaten konstatiert Jäger bereits 1992 zutreffend: Bereits vor den Bundestagswahlen im Jahr 1987 brannten Flüchtlingsunterkünfte, und lange vor Saarloi, Hoyerswerda und Hünxe wurden ausländische Menschen von deutschen Rassisten verfolgt, verletzt und in den Tod gehetzt bzw. ermordet. Die Begleitmusik dazu wurde von einer langanhaltenden öffentlichen Diskussion in Politik und Massenmedien über ein neues Ausländergesetz gespielt. (Jäger 1992: 3)

Der Zusammenhang von öffentlichem Diskurs, Rassismus und Gewalttaten ist in den Publikationen von Siegfried und Margret Jäger und den Reihenpublikationen des Duisburger Institutes für Sprach- und Sozialforschung ebenso präzise dokumentiert3 wie die Elemente einer fortschreitenden Ideologisierung weiterer öffentlicher Diskurse, deren sprachlicher Ausdruck völkisch-nationalistische Ideologeme sind, die in Diskursbeiträgen in Wissenschaft, Wis1 2 3

Jäger (2000: 35). Jäger (1999/a: 218) Vgl. etwa Jäger (1998, 1994, 1992, 1991) Jäger/Link (1993), Jäger, M. (1996) und Jäger/Jäger (1996).

111 senschaftsjournalismus und Politik auffindbar sind. 4 In Jägers Konzeption ist der Diskurs in erster Linie Ausdruck einer gesellschaftlichen Praxis, deren Ziel darin liegt, Macht auszuüben, und es ist Aufgabe der kritischen Diskursanalyse, diese Strategien der Machtausübung aufzudecken. Ausgangspunkt für die Entwicklung einer diskursanalytischen Methodologie, die Instrumente für konkrete Analysen bereitstellt, ist eine dynamische Auffassung des Diskurses als „Strom von Wissen durch die Zeit",5 eines Wissens, das sozialen, institutionellen Formierungen unterliegt und dessen soziale Gültigkeit über einen diskursiv hergestellten Wahrheitsanspruch etabliert wird. Jäger umreißt sein Diskursmodell: Der Diskurs ist [...] »der Fluß von > Wissen< durch die Zeit«; und wenn das so ist, dann ist davon auszugehen, dass der Diskurs immer schon mehr oder minder stark strukturiert und also »fest« und geregelt (im Sinne von konventionalisiert bzw. sozial verfestigt) ist. Da dieses »Wissen« zudem als jeweils richtiges Wissen gilt und als solches (hegemonial und daher immer nur zeitweise) verfestigt ist, gleichviel, ob auf der Ebene der Wissenschaften oder auf der des Alltags, hat die Diskursanalyse die Möglichkeit, dieses »Wissen« und die Institutionen und Regelungen, die es stützen, kritisch zu hinterfragen. Was jeweils als »Wahrheit« gilt, ist ja nichts anderes als ein diskursiver Effekt. [...] »Wahrheiten«, »Evidenzen« enthält aber auch das ungezwungenste Alltagsgespräch. Diese Bestimmungen verstehe ich als essentiellen Bestandteil von Diskurs überhaupt. (Jäger 1999/a: 129, Kursivdruck und Hervorhebungen im Original)

4

Zur Frage der Ideologeme und eines wachsenden Rechtspopulismus vgl. Jäger u.a. (1998) und aus Sicht der Parteienforschung Decker (2000). Zu sozialen und nationalen Stereotypien verschiedener Art vgl. BpB (2001), Florack (2001), Marsden (2001), Wichter (2001/a, b), Heinemann (1998), Dabrowska (1996), Metin (1990), Wenzel (1973) und Quasthoff (1973). Einige Bewertungen im Rahmen des jägerschen Forschungsprogramms müssten m. E. methodologisch noch weiter abgesichert werden. So hat zwar das Heranziehen der Verwendung nationaler und ethnischer Stereotypen im Diskurs große Aussagekraft als Indikator für rassistische Diskursstränge. Allerdings scheint bei der Auswertung der umfangreichen EmpirieKorpora, die im Rahmen der Forschungen Jägers erstellt worden sind, besonders in Jäger (1992, 1991), eine klare Zuweisungsmethodik zu fehlen, nach der entschieden werden kann, inwieweit die vorgefundenen nationalen und ethnischen Stereotype oder Stereotypfragmente zwangsläufig Indikator sein müssen für rassistisches Denken „als Bestandteil der 'Grundhaltung' von Menschen, die aus der alltäglichen Lebenspraxis heraus entwickelt wird" (Jäger 1992: 16). Ohne eine solche Bewertungsmethode scheint jede Verwendung eines Stereotyps immer auf eine diskriminierende rassistische Grundhaltung eines Sprechers zu deuten. Hier muss man ohne jede Relativierung rassistischer Diskurselemente und Diskurse weiter differenzieren, wenn nicht jede kritische oder unbedachte Thematisierung von Ethnien, gerade in Alltagsdiskursen, grundsätzlich unter Rassismusverdacht stehen soll.

5

Jäger (2000: 35).

112 An dieser Bestimmung ist für eine Vertikalitätsperspektive beachtenswert, dass hier ein Diskurs und das Wissen, das ihn prägt, sowohl das Expertenwissen als auch das Laienwissen gleichberechtigt umfassen. Dies klingt im Hinweis auf den „Alltag" und das „ungezwungenste Alltagsgespräch" deutlich an. Stärker als in Links Festlegung handelt es sich hier zunächst um einen integrierenden Diskursbegriff, der die institutionellen, sozialen und wahrheitsbezogenen Fixierungen für das Diskurswissen insgesamt festlegt, bevor er in Anbindung an Links Konzeption eine heuristische Trennung von Interdiskurs und Spezialdiskursen vornimmt. Die Regeln der sozialen Formierung gelten hier zunächst für Experten und Laien gleichermaßen. Insbesondere Jägers Postulat vom diskursiven Wahrheitsanspruch ist auch für die Analyse der kommunikativen Auseinandersetzung zwischen Experten und Laien im Diskurs von unmittelbarer Relevanz, denn die Möglichkeit, den eigenen Diskursbeitrag als wahr und gültig im Diskurs zu etablieren, steht Laien nicht in derselben Weise wie Experten zur Verfügung. Diese Qualitätsbewertung ist im öffentlichen Diskurs grundlegend, denn das Wissen und die Wortschätze von Experten gelten im Hinblick auf spezifische Diskursgegenstände in aller Regel als höherwertig; das ist der kommunikative Normalfall. Wichter (1994: 27) spricht in solchen Fällen von beidseitig anerkannter Vertikalität. Er weist aber auch darauf hin, dass im Konfliktfall deren Umkehrung, eine „bestrittene Vertikalität"6 möglich ist, wenn um Wortbedeutungen, Konnotate und Bewertungen gestritten wird: Eine Chemiefirma beispielsweise wird womöglich dem Laien eine reduzierte Bedeutung von „sauber" oder etwa von „verschmutzt", „belastet", „umweltgefährdend" o. Ä. unterstellen, wenn dieser aus lebensweltlicher Perspektive eine entsprechende Qualifizierung vornimmt. Der Laie wird umgekehrt der Firma die Relevanz einer apparativ gestützten und formalisierten Bedeutung von „sauber" auch als Terminus bestreiten, wenn er meint, daß es hier an Validität mangelt. [...] Es gibt hier eine Fülle von problematischen Verhältnissen. Man streitet sich, ob eine Baustelle allzu „laut" arbeitet, ob eine Verkehrsführung den Anwohnern noch „zumutbar" ist, ob ein Verfahren „korrekt" durchgeführt und eine Beurteilung „gerecht" vorgenommen wird. (Wichter 1994: 28, Hervorhebungen im Original)

Die Beispiele zeigen, wie sehr die diskursive Auseinandersetzung zwischen Experten und Laien vom Kampf um den Wahrheitsanspruch geprägt sein kann, der auch für Jäger so grundlegend zur Ausstattung des Diskursbegriffes gehört. Selbst einzelne Wörter, nicht nur komplexe diskursive Grundkonzepte, können so zwischen Experten und Laien mit gegensätzlichem Wahrheitsanspruch versehen sein. Jägers Diskursbegriff ist genuin sprachlich. Er betont, dass der Zugang zum Diskurswissen nur über die Sprache möglich ist, weil das Diskurswissen 6

Wichter (1994: 27).

113 nur in sprachlicher Form existiert. So unterstreicht er, dass „dieses Wissen im wesentlichen in Text und Rede auftritt, die natürlich aus Wörtern und Sätzen bestehen".7 Er betrachtet, wie eine Diskurslexikologie und Diskurssemantik ebenfalls, den Text als elementaren Bestandteil des Diskurses und hebt aus Sicht einer diskursanalytischen Textanalyse hervor, „daß Texte von vorneherein als Bestandteil von Diskursen aufgefaßt werden".8 Dabei bindet er die sprachliche Repräsentation von Diskursen explizit an einen Textbegriff, den er durch die Integration der Grundlagen der leontj ewschen Tätigkeitstheorie in eine umfassende, textlinguistisch gesicherte Textdefinition gewinnt.9 Die umfangreiche Definition von Text umfasst die Ebenen der Tätigkeit, des Denkens und des Textwissens ebenso wie die der produktions- und rezeptionsseitigen Voraussetzungen und Motive. Für eine vertikalitätstheoretische Diskurslexikologie ist an diesem Textbegriff zentral, dass er die Breite der Aspekte des diskursiven Wissens und diskursiver Tätigkeit systematisch zu verbinden sucht. Für die Erfassung und Untersuchung von diskursiven Laien- und Expertenwortschätzen muss hier aber weiter differenziert werden, damit berücksichtigt werden kann, inwieweit die Diskurshandlungen von Experten und Laien und die jeweilige sprachliche Umsetzung sich voneinander unterscheiden. Wenn der Wortschatz, mit dem Laien und Experten im Diskurs ihre Kommunikationsziele umzusetzen versuchen, und das zugehörige Bedeutungswissen zwischen Experten und Laien verschieden sind, dann differieren auch die Texte in vertikaler Hinsicht. Wenn Texte also als konstitutive Elemente von Diskursen aufgefasst werden, dann ist in Erweiterung der jägerschen Textdefinition zu berücksichtigen, dass Diskurstexte besonders hinsichtlich des Wortschatzes dem Prinzip der sprachlichen Arbeitsteilung unterliegen. Dies weist einmal mehr darauf, dass • der Diskurswortschatz und das zugehörige Bedeutungswissen einer vertikalen Differenzierung unterliegen, die auf der Grundlage des Instrumentariums der vertikalen Lexikologie mithilfe einer Experten-Laien-Skalierung sichtbar gemacht werden kann, • die Diskurshandlungen, die mithilfe diskursiver Texte ausgeführt werden, ebenfalls einer sprachlichen und wissensmäßigen Teilung unterliegen, die Textproduktion und -rezeption entscheidend beeinflusst.10 Allerdings verwirft Jäger seinen Textbegriff, kaum, dass er ihn definiert hat, als „zu ungenau"11 und legt fest: 7 8 9 10

11

Jäger (2000: 36-37). Jäger (1999/a: 119). Vgl. Jäger (1999/a: 118). Zum textlichen Wissenstransfer in der Medizin und den unterschiedlichen Wissensvoraussetzungen beim Textverstehen vgl. Busch (1994). Jäger (1999/a: 120).

114 Ich werde ihn [den Terminus Text] deshalb i. R. durch »Diskursfragment« ersetzen. Das bietet sich deshalb an, weil der Text alltagssprachlich an schriftliche Sprachprodukte gekoppelt ist, aber auch deshalb, weil Texte häufig thematisch heterogen sind und daher Elemente verschiedener Diskursstränge [...] transportieren können. (Jäger 1999/a: 120, Hervorhebung im Original)

Diese Differenzierung ist hilfreich, um die Texte in einem Korpus idealtypisch auf einzelne thematische Linien bzw. Diskursstränge zu fokussieren. Für unsere Betrachtung von Experten-Laien-Kommunikation im Diskurs ist indessen die Eigenperspektive der Kommunizierenden in besonderer Weise zu berücksichtigen. Speziell Laientexte sind durch thematische Heterogenität charakterisiert, und die Verbindung der thematischen Linien in einem diskursiven Laientext kann aus Expertensicht durchaus falsch sein. Das ändert nichts an der kommunikativen Relevanz dieser thematischen Heterogenität aus Sicht der Laien, schafft aber in der diskursiven Konfrontation Probleme. Ein eindrückliches Beispiel dafür liefert Liebert (1999), der am Exempel mystifizierenden Metapherngebrauchs zeigt, welche kommunikativen Probleme entstehen können, wenn etwa in einem populärwissenschaftlichen Rundfunkbeitrag zu Aspekten der Gentechnik eine Wissenschaftlerin und ein Hörfunkredakteur keine gemeinsame Bildlichkeit finden können. Ein weiteres Beispiel für solche Kommunikationsprobleme bietet der eingangs schon angeführte Wortschatz zu Gesundheit und Krankheit. Wenn also z. B. für eine bedeutsame Zahl von Laien-Diskursteilnehmern mit dem Wort Krankheit auch der Bedeutungsinhalt Krankheit = Schicksal konzeptuell verbunden ist,12 wäre für diese Diskursteilnehmer auf Textebene das thematische Nebeneinander von Krankheit und Schicksal und ggf. eine Ausfacherung von Teilaspekten beider Themenkomplexe erwartbar und kohärent, auch wenn diese thematische Koppelung aus Expertensicht nicht zu vertreten wäre. In einem übergreifenden Sinn modelliert Jäger „den gesamtgesellschaftlichen Diskurs als den allgemeinen Wissenshorizont, der die Entwicklung einer Gesellschaft bestimmt".13 In der Operationalisierung dieses Diskursmodells integriert er die linksche Interdiskurs- und Kollektivsymboltheorie und unterscheidet die folgenden diskursiven Strukturebenen.14 • Spezialdiskurs und Interdiskurs (Jäger folgt dabei nicht dem Postulat Links von der Unstrukturiertheit des Interdiskurses), • Diskursfragmente (d. h. Texte, die ein bestimmtes Thema behandeln), • Diskursstränge (d. h. eine Menge verschränkter und synchron wie diachron zu analysierender Diskursfragmente gleichen Themas, die zusammengenommen den gesamtgesellschaftlichen Diskurs bilden und die analytisch gebündelt werden können), 12 13 14

Vgl. Busch (1999). Jäger (1999/a: 167). Vgl. Jäger 1999/a: 158-169.

115 •

Diskursive Ereignisse (d. h. medial aufbereitete Ereignisse, die einen Diskursstrang beeinflussen), • Diskursebenen (d. h. die soziale Position, von der aus gesprochen wird, z. B. Wissenschaften, Politik, Medien, Erziehung, Alltag, usw.), • Diskursposition (d. h. der spezifische politische Standort einer Person oder eines Mediums). Jägers Operationalisierung des Diskursbegriffes durch Aufgliederung in klar umrissene Analysedimensionen und seine methodischen Hinweise zur Erfassung derselben ermöglichen es, Diskurse gezielt zu untersuchen und detailliert den Anteil des Wortschatzes an der Etablierung diskursiver Isotopien aufzuzeigen. Auf diesem Weg lassen sich die komplexen Verflechtungen innerhalb von Diskursen (auf Wortschatz-, Text- und Wissensebene) sichtbar machen und in Beziehung zu sozialen Praktiken setzen. Für die Erfassung der Experten-Laien-Differenzierung von Diskursen ist diese Methodik damit prinzipiell anregend. Allerdings ist das Ziel, zu dessen Umsetzung das Instrumentarium entwickelt wurde, ein anderes und sehr umfassendes, nämlich die Erfassung des gesamten Diskurses und seiner Machtwirkungen. Der vertikalen Lexikologie dagegen geht es nicht primär darum, Machtverteilungen und Machtwirkungen zu analysieren, sondern in erster Linie darum, Diskurswortschätze auf ihre Vertikalität zu untersuchen, die auf eine gesellschaftliche Praxis zurückgeht.

5.2

Diskursvertikalität: Diskursstrang, Diskursebenen und Realitätsformierung

Vertikalitätsrelevante Fragestellungen thematisiert Jäger auch in seiner Verarbeitung der linkschen Konzeption und seiner Betonung der bewusstseinsund realitätsformierenden Wirkung von Diskursen. Jägers Stratifizierung des Diskurses in Interdiskurs und Spezialdiskurs ist eingebettet in weitere Inklusionsverhältnisse. Interdiskurs und Spezialdiskurse sind demzufolge Bestandteil des Gesamtdiskurses einer Gesellschaft, und der Gesamtdiskurs einer Gesellschaft ist wiederum Teildiskurs eines „globalen Diskurses oder anders: des Weltdiskurses".15 Während die Frage, ob es 15

Jäger (2000: 100). Eine diskutierenswerte Perspektive, die ich hier nicht detailliert verfolgen werde, ist angerissen durch die (skeptische) Frage, inwieweit man (mit Ausnahme der UNO) trotz der einschränkenden Wirkung von internationalen Wissensunterschieden und Sprachgrenzen überhaupt von der Existenz eines Weltdiskurses ausgehen kann.

116 einen Weltdiskurs geben kann, offen bleiben muss, erbringt Jägers Adaption des Interdiskursbegriffes eine wichtige Weiterfuhrung in Richtung Vertikalitätsannahme. Er wendet sich gegen Links Einschätzung, beim Interdiskurs handele es sich um ein unsystematisches „fluktuierendes gewimmel",16 und betont die interne Organisiertheit des Interdiskurses. Gegen Links Auffassung vom interdiskursiven Wirrwarr wendet er ein: Die hier anklingende scharfe Unterscheidung von Wissenschaft und alltäglichem Denken und Sprechen in Medien, Politik und Alltag möchte ich so nicht teilen. In allen Berufen wird systematisch gedacht und auch im Alltag ist, ohne rationales Verhalten kaum auszukommen. (Jäger 1999/a: 132)

Jäger betrachtet das Merkmal der Unstrukturiertheit in Links Interdiskursbegriff damit kritisch, eine Bewertung, die eine wortschatzorientierte Vertikalitätslexikologie teilt. Diese wiederum stellt darüber hinaus die Experten-Laien-Stratifizierung des Diskurses in Wortschatz- und Wissensniveaus noch stärker in den Vordergrund, und Jägers Vorstellung von der internen Stratifizierung des Diskurses kommt dem näher als Link, wenn er verschiedene Diskursebenen ansetzt. Ein Diskursstrang wie z. B. der zur Computertechnologie unterliegt auch in Jägers Vorstellung einer Ausdifferenzierung „auf verschiedenen diskursiven Ebenen (Wissenschaften), Politik, Medien, Erziehung, Alltag, Geschäftsleben, Verwaltung etc.)".17 Damit berührt er neben der Varietätenproblematik den Grundgedanken einer vertikalen Strukturierung ebenso wie wenn er unterstreicht, „daß diese Diskursebenen aufeinander einwirken, sich aufeinander beziehen, einander nutzen etc".18 Ein weiterer Aspekt, den Jäger im Anschluss an Link thematisiert, ist für eine Vertikalitätsperspektive aufschlussreich: die Überzeugung, dass der Diskurs Bewusstsein formiert. Jäger bekräftigt dementsprechend mit Link und Foucault, „daß Diskurse [...] Realität determinieren",19 und führt weiter aus: [Der Diskurs] stellt eine eigene Wirklichkeit dar, die gegenüber der »wirklichen Wirklichkeit« keineswegs nur Schall, Rauch, Verzerrung und Lüge darstellt, sondern eine eigene Materialität hat und sich aus den vergangenen und (anderen) aktuellen Diskursen speist. (Jäger 1999/a: 146-147)

Diese Einschätzung steht sowohl im Einklang mit dem Stereotypbegriff nach Putnam als auch mit der vertikalitätslexikologischen Vorstellung eines Diskursgegenstandes, der erst in der Diskurskommunikation etabliert und konstruiert wird. Die an der Konstruktion eines Diskursgegenstandes beteiligten Wortschätze sind nach dem Prinzip der sprachlichen Arbeitsteilung Experten16 17 18 19

Link (1986: 5, Fettdruck im Original). Jäger (1999/a: 163, Kursivdruck im Original). Jäger (1999/a: 163). Jäger (1999/a: 146).

117 und Laienniveaus zugeordnet, und man kann je nach Niveauzugehörigkeit durchaus verschiedene Diskursgegenstände unterscheiden: den Diskursgegenstand aus der Sicht von Laien und den Diskursgegenstand aus der Perspektive von Experten. Das kann dazu fuhren, dass bei weit auseinander liegenden Bedeutungskonzepten verschiedene Diskursgegenstände etabliert werden, etwa der Diskursgegenstand Computer des Informatikers oder eines Anwenders. Jäger thematisiert implizit auch die Frage der sprachlichen Arbeitsteilung, wenn er die Materialität diskursiver Praxis mithilfe der folgenden Analogie zu veranschaulichen sucht: [Der Diskurs] ist (kollektive) Tätigkeit sui generis, materiell und praktisch wie das Bauen eines Hauses, das ich ebenfalls als diskursiv bezeichnen kann. Der Eindruck, daß das denkerische Planen eines Hauses etwas prinzipiell anderes wäre als das Bauen eines Hauses, kann nur daher rühren, dass diese Tätigkeiten historisch voneinander getrennt wurden, nach Maßgabe einer Arbeitsteiligkeit, die merkwürdigerweise Hand- und Kopfarbeit separiert hat. Dies ist jedoch im Grunde nur Herrschaft legitimierende Grenzziehung [...] (Jäger 1999/a: 147)

Zwar halte ich die generelle Parallelität zwischen gesellschaftlicher, sprachlicher und diskursiver Arbeitsteilung für evident und stimme nachdrücklich mit der Charakterisierung des Diskurses als sprachliche Tätigkeit überein. Das verwendete Beispiel allerdings ist in seinen Anklängen an Topoi der marxschen Entfremdungstheorie als Illustration in diesem Zusammenhang völlig irreführend. Das denkerische Planen eines Hauses und das handwerkliche Bauen eines Hauses unter heutigen Praxisbedingungen scheinen mir durchaus etwas „prinzipiell anderes" zu sein, insbesondere aus der Eigenperspektive der beteiligten Berufe und ihrer kommunikativen Ausstattung. Das habe ich nicht zuletzt im Rahmen einer Vielzahl von Projekten mit Handwerksinnungen und -betrieben erlebt.20 Darüber hinaus erweckt die angeführte historische Trennung von „Handund Kopfarbeit",21 die Jäger hier „merkwürdigerweise"22 vorgenommen sieht, den Eindruck einer allzu schlichten Adaption der marxschen Entfremdungsund Mehrwerttheorie.23 In deren Rahmen allerdings zielt die Darstellung auf 20

21 22 23

Dieses während meiner mehljährigen Tätigkeit als Leiter des Referates für Gesundheitsberichterstattung im Bundesverband der Innungskrankenkassen. Hinzu kommt, dass ich im Rahmen meiner Ausbildung im Maschinenbau dieselbe Erfahrung auch in Industriebetrieben gemacht habe. Jäger (1999/a: 147). Jäger (1999/a: 147). Zur Arbeitsteilung und Manufaktur vgl. Marx (1867: 356-390) und zur Trennung von Hand- und Kopfarbeit bei Marx (1867) etwa die folgenden beiden Zitate: „Die Scheidung der geistigen Potenzen des Produktionsprozesses von der Handarbeit und die Verwandlung derselben in Mächte des Kapitals über die Arbeit vollen-

118 die historischen Bezugspunkte der Teilung von Arbeit in der kapitalistischen Produktionsweise der Manufaktur sowie beim historischen Übergang zur Industrialisierung. Die Aussagen, die Karl Marx im Jahre 1867 dazu gemacht hat, lassen sich m. E. nicht schlicht auf die heutige Spezifik der Arbeitsteilung übertragen, ohne dass das Argumentationsbild verzerrt wird. Insbesondere der Aspekt der Herrschaftslegitimation via Arbeitsteilung scheint mir unter heutigen Bedingungen überaus erläuterungsbedürftig. Zentraler als diese irreführende Analogie ist für die Frage der sprachlichen Arbeitsteilung in Diskursen Jägers Hinweis darauf, dass eine adäquate Analyse der Machtwirkungen von und in Diskursen nur möglich ist, wenn wir die Verteilungen der speziellen Lebenspraxen der Menschen in dieser Gesellschaft berücksichtigen, ihre besondere Art und Weise der Verstricktheit in den Alltagsdiskurs, die den hegemonialen Diskursen teilweise oder auch ganz entsprechen oder widersprechen kann. (Jäger 1999/a: 151)

Diese Ausführung liest sich geradezu wie eine Übertragung vertikalitätslexikologischer Perspektiven, einschließlich des Prinzips der kommunikativen Eigenständigkeit der Laiensysteme, auf die Frage der Diskursmacht. An dieser Stelle ist die theoretische Nähe beider Konzeptionen ebenso augenfällig wie die Unterschiede zwischen einem machtanalytischen Vorhaben und einem lexikologischen Interesse, das zunächst auf Wortschatzverteilungen und ihre kommunikativen Voraussetzungen und Wirkungen gerichtet ist.

5.3

Diskursprogression: die Entwicklung und Verflechtung von Diskurssträngen

Die Diskursprogression ist bereits in Jägers Bestimmung des Diskursbegriffes und durch seine generelle Aufgabenstellung explizit angesprochen, weil seine Methodologie darauf beruht, dass der Diskurs als „Fluss von Wissen durch die Zeit"24 aufgefasst wird und das Ziel, das mithilfe der diskursanalytischen Methode erreicht werden soll, die Beschreibung der „Produktion von Wirklichkeit [ist], die durch die Diskurse - vermittelt über die tätigen

24

det sich, wie bereits früher angedeutet, in der auf der Grundlage der Maschinerie aufgebauten großen Industrie." (Marx 1867: 446) „Wie im Natursystem Kopf und Hand zusammengehören, vereint der Arbeitsprozeß Kopf- und Handarbeit. Später scheiden sie sich bis zum feindlichen Gegensatz" (Marx 1867: 531). Jäger (2000: 35).

119 Menschen - geleistet wird".25 Die entscheidende Kategorie in der Operationalisierung dieses Untersuchungsgegenstandes ist die des Diskursstranges; insofern kann Jäger kurz gefasst sagen: Das allgemeine Ziel von Diskursanalysen kann darin gesehen werden, einen Diskursstrang oder auch mehrere miteinander verschränkte Diskursstränge historisch und auch gegenwartsbezogen zu analysieren. (Jäger 1999/b: 136)

Wenn also die synchrone und diachrone Untersuchung von Diskurssträngen zur elementaren Zielstellung erhoben wird, dann dient letztlich die gesamte Methode der Analyse der Diskursprogression. Jägers praxisorientierter Leitfaden zur Diskursanalyse soll aber hier nicht reproduziert werden; denn Jäger selbst hat dies an verschiedenen Stellen ausführlich dargestellt und auch in Checklistenform für die Praxis aufbereitet.26 Für eine Vertikalitätsperspektive sind dagegen zwei Aspekte aufschlussreich, zum einen Jägers Koppelung der Analyse von Diskursstrang und Diskursebenen in der diachronen Analyse und zum Anderen die fulminante Kritik Frickes an Jäger, die sich an der Frage entzündet hat, ob ein Diskursstrang mit dessen Methode vollständig erfasst werden kann. Die Erfassung der Diskursprogression ist in Jägers Modell operational als eigene Dimension, die der historisch diachronen Diskursanalyse, eingebunden, die wiederum, analog zu de Saussures Achsenkreuz, im „Vergleich synchroner Schnitte durch Diskursstränge"27 besteht. Die Erfassung der thematischen Progression und die Ausdifferenzierung von Ober- und Unterthemen ist dem untergeordnet und dient der Darstellung eines Diskursstranges. Die Untersuchung mithilfe synchroner Schnitte erhellt demnach die Entwicklung von Diskursgegenständen, und dies wird in Jägers Modell zur Voraussetzung für das Verständnis heutiger Diskursformation: Fragen wir also nach den »Ursachen« (besser: dem historischen Apriori) der (aktuellen) Diskurse, müssen wir ihre vergangenen Formen, ihre Genealogie zu analysieren versuchen, deren Fortsetzung sie darstellen. (Jäger 1999/a: 201, Hervorhebung und Kursivdruck im Original)

Bei dieser Rekonstruktion muss berücksichtig werden, so betont Jäger, dass ein Diskursstrang ,je nach Fragestellung und Diskursebene unterschiedlich aussehen"28 kann. Hier klingt die Vertikalitätsthematik insofern an, als Jäger darauf verweist, dass auch in der diachronen Untersuchung von Diskursen 25 26

27 28

Jäger (2000: 39). Vgl. etwa die ausführliche Darstellung bei Jäger (1999/a: 158-214) und die Praxisleitfaden bei Jäger (1999/b: 140-147). Eine kritische Anwendung der Methode Jägers im Vergleich mit anderen Methoden liefert Fricke (1999: 136-196). Jäger (1999/a: 200). Jäger (1999/b: 139).

120 die Spanne zwischen „diskursiven Ebenen (Wissenschaft(en), Politik, Medien, Erziehung, Alltag, Geschäftsleben, Verwaltung etc.)"29 wichtig ist. Jäger hat sein Ziel, die „vollständige Erfassung und Analyse der Diskursstränge (und ganzer Diskurse)"30 zwar als „heißes Eisen"31 etikettiert, weil die synchron vollständige Erfassung und Repräsentation von Diskurssträngen und ihrer Verläufe außerordentlich hohe Anforderungen an die Theorie, Forschungspraxis und Ressourcensituation stellen, sieht aber seine Methode als ein Werkzeug zur Schaffung einer „qualitativen Vollständigkeit der Erfassung des Diskursstrangs".32 Diese sehr optimistische Ausrichtung hat massive Kritik auf sich gezogen; Fricke (1999) stellt das gesamte Verfahren in Frage und wirft Jäger ungerechtfertigterweise Verschleierung, „Scheinobjektivität" und kontrafaktisches Vortäuschen von Genauigkeit vor: Dort, wo es ihm [Jäger] darum geht, diskursive Verschlingungen zu erhellen, [...] verbleibt er im Bereich nackter Spekulation, die jeder sprachwissenschaftliche Laie mit Interesse am diskursiven Gegenstand [...] anstellen kann. Jägers Verfahren verschleiert diesen Zusammenhang von (vermeintlich) profunder Analyse und beliebiger Spekulation zulasten einer [...] 'forschungspraktischen' Klärung und Legitimierung des Zusammenhangs von Analyse und Interpretation mit dem Deckmantel der Scheinobjektivität, der die akribische Mikroanalyse meines Erachtens umgibt. Wie schon im Falle meiner Analyse verliert der Analysierende daher zwangsläufig einige für das [Diskurs-] Fragment zentrale sprachliche Aspekte völlig aus dem Blick. In Jägers Deckmantel gehüllt, kommt der Analysierende erst gar nicht in Versuchung, die Illusion abzulegen, schlichtweg „alles" an einem Diskursfragment analysieren zu können, um schließlich zu einer, nach Jäger, vollständigen Analyse des gesamten Diskursstranges zu gelangen. Was die Erreichung dieses Analyseziels angeht, täuscht Jäger eine Genauigkeit der Ergebnisse [...] bloß vor. (Fricke 1999: 194-195).

Frickes Vorwürfe zielen zwar nachvollziehbar auf einige Schwachpunkte der Methode Jägers, sind aber in dieser massiven Form m. E. nicht gerechtfertigt, zumal die Kritik zweierlei außer acht zu lassen scheint. Zum einen lässt sich die polemische Bewertung nicht verifizieren, dass es sich bei einer Interpretation, weil sie auch der „sprachwissenschaftliche Laie mit Interesse am diskursiven Gegenstand" durchfuhren kann, um „nackte [...] Spekulation"33 handeln muss. Die Sprachwissenschaft liefert Werkzeuge zur Überprüfung von Hypothesen, die interdisziplinär durchaus auch von linguistischen Laien formuliert werden können, die ja ihrerseits in anderen Fächern durchaus Experten sein können. Letztlich handelt es sich beim linguistischen Instrumentarium in aller 29 30 31 32 33

Jäger (1999/a: 163, Kursivdruck im Original). Jäger (1999/a: 213). Jäger (1999/a: 205). Jäger (1999/a: 205). Fricke (1999: 194).

121 Regel um hermeneutisch-interpretative Verfahren, gegen die man immer ins Feld fuhren könnte, dass sie mehr als eine einzige Interpretation, eben auch die von Laien, zulassen. Dabei darf man aber nicht, wie Fricke im zitierten Resümee, außer acht lassen, dass für die linguistische Methodologie nach wie vor die Kriterien der Adäquatheit, Validität und Reliabilität gelten. Beschreibungsadäquate, reliable und valide Aussagen, die theoriebasiert auf der Grundlage einer klar explizierten und begründeten Methode gemacht werden, und das scheint mir bei Jägers Methodologieentwurf weitgehend der Fall zu sein, werden nicht dadurch zu „nackter Spekulation",34 dass das methodische Instrumentarium auch Ansatzpunkte für Kritik aufweist oder Laien zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen können. Außerdem ignoriert Fricke Jägers expliziten Hinweis darauf, dass er seine Diskursanalyse nicht in erster Linie als ein Verfahren zur Sprachanalyse, sondern als eines der „Gesellschaftsanalyse"35 und Machtanalyse auffasst. Gleichwohl stellen sich in der Tat bei Jägers Erfassung von Diskurssträngen konkreter Diskurse methodologische Probleme mit Blick auf die Repräsentativität der Materialgrundlage für eine vollständige Erfassung und Repräsentation des synchronen Zustandes eines Diskurses. Wenn Jäger z. B. postuliert, dass mithilfe des 1991 erhobenen Korpus von 22 Interviews „der Diskursstrang »alltäglicher Rassismus« vollständig dargestellt war",36 halte ich dies für zu optimistisch. Zwar bietet die Materialgrundlage mit 22 umfangreichen Interviews ein gutes Fundament, auf dem Aussagen über den Rassismus in Alltagsdiskursen möglich sind. Die Bewertung aber, der gesellschaftliche Diskursstrang sei damit „vollständig dargestellt"37 und der Diskursgegenstand komplett „synchron deskriptiv bzw. positiv erfasst",38 teile ich nicht. Um eine synchron abschließende, vollständige Erfassung eines Diskursstranges konstatieren zu können - wenn dies überhaupt ein realistisches Ziel einer Diskursanalyse sein kann - , müssten systematisch weitere Bevölkerungskreise einbezogen werden, die aufgrund relevanter soziodemografischer Variablen (hier zumindest Alter, Geschlecht, Stellung im Beruf, ethnisch kulturelle Kontaktspezifik) ausgewählt sind. Dass dies natürlich wegen der äußerst bescheidenen Ressourcen, die für eine solche Forschung zur Verfügung stehen, zurzeit kaum machbar sein dürfte, ist eine ausgesprochen bedauerliche forschungspraktische Frage, die aber die methodologische Fehleinschätzung nicht abschwächt. Die valide und vollständige Erfassung eines Diskursstranges mit all seinen Verästelungen (bei einer Grundgesamtheit von einigen Millionen potenzieller Diskursteilnehmer) kann nicht auf der Basis von 22 34 35 36 37 38

Fricke (1999: 194). Jäger (1999/a: 200). Jäger (1999/a: 218). Jäger (1999/a: 218). Jäger (1999/a: 219).

122 Interviews gewährleistet werden, und es kann mit Blick auf einen Diskursgegenstand auf dieser Materialgrundlage keineswegs konstatiert werden: „Der Gegenstand ist zumindest synchron deskriptiv bzw. positiv erfasst".39

5.4

Diskurspersuasion und-kontrolle: Sagbares, Nicht-Sagbares und Wissenschaftler als Initiatoren von Gegendiskursen

Die Möglichkeiten der Diskurskontrolle erfasst Jäger mit Foucault als Begrenzungen des Sagbaren: Diskursanalyse erfaßt das in einer bestimmten Zeit jeweils Sagbare in seiner qualitativen Bandbreite bzw. alle Aussagen, die in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit geäußert werden (können), aber auch die Strategien, mit denen das Feld des Sagbaren ausgeweitet oder auch eingeengt wird, etwa Verleugnungsstrategien, Relativierungsstrategien etc. Der Aufweis der Begrenzung und Entgrenzung des Sagbaren stellt demnach einen weiteren kritischen Aspekt von Diskursanalyse dar. (Jäger 2000: 37)

Damit thematisiert er die externen und internen Möglichkeiten, Diskurse zu steuern, aus der Analyseperspektive. Da es ihm grundlegend um die Analyse der Koppelung von Diskurs und Macht geht, stellt die Aufdeckung der Strategien von Diskurssteuerung für ihn das dominante Untersuchungsmotiv dar. Die Möglichkeiten, Diskurse zu etablieren oder zu unterdrücken, und der diskursive Wahrheitsanspruch als Ausdruck von Macht- und Herrschaftsbedingungen werden hier in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Damit wird die Diskursanalyse aus Jägers Sicht zur kritischen Diskursanalyse. Er ruft ausdrücklich auf, mithilfe der kritischen Diskursanalyse Herrschaftskritik zu üben, Gegendiskurse und Gegenwissenschaft zu etablieren und die Diskursanalyse auf das von Foucault formulierte Ziel der „Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen"40 zu richten. Dies ist ein neuer Aspekt in der Erweiterung der foucaultschen Diskurstheorie, wenn die wissenschaftliche Diskursanalyse nicht nur aufgerufen wird, durch Analyse und die Schaffung von Transparenz die Grundlagen und Anregungen für eine Auseinandersetzung mit diskursiven Konstellationen zu schaffen, sondern aufgefordert wird, konkrete „Gegendiskurse zu etablieren".41 39 40

41

Jäger (1999/a: 219). Jäger (1999/a: 234). Vgl. insgesamt Jägers Ausführungen zur Kritik als Aufgabe von Diskursanalyse in Jäger (1999/a: 222-234). Jäger (1999/a: 223).

123 Nicht das bloße Aufdecken von diskursiv hergestellten „Normen und mehr oder minder flüchtigen und vorübergehenden Gültigkeiten"42 ist nach Jägers Einschätzung Aufgabe einer kritischen Diskursanalyse, vielmehr betont er programmatisch, daß es darum geht, sich auf die diskursiven Kämpfe einzulassen. Indem man dies [als Diskursanalytiker] tut, arbeitet man an der Entfaltung von Gegendiskursen mit, die aber immer Bestandteile des gesellschaftlichen Gesamtdiskurses sind. (Jäger 1999/a: 2 2 8 - 2 2 9 , Kursivdruck im Original)

Der programmatische Appell an die diskursanalytischen Wissenschaften erwietert das wissenschaftliche Ethos der Wahrheitssuche explizit um das (nach meiner Auffassung von Wissenschaft ohnehin selbstverständliche) Element der Kritik. Mit Jägers Pointierung soll allerdings sicher nicht ausgedrückt werden, dass Diskursanalytiker, die mit anderen Methoden arbeiten, unkritisch seien. Eine vertikalitätstheoretische Diskurslexikologie sieht dagegen ihre Aufgabe in erster Linie in der Erfassung und Beschreibung von Wortschätzen, ihrer diskursiven Realität und der Repräsentation der damit verbundenen sozialen und kommunikativen Phänomene. Auf diese Weise werden Praktiken der Wissens- und Wortschatzteilungen beleuchtet. Inwieweit solche Wortschatzbeschreibungen dazu geeignet sind, Gegendiskurse zu etablieren oder Machtkritik zu üben, zeigt der Einzelfall. Die Erhebung und Analyse diskursiver Praktiken und Wortschätze sowie ihrer Stratifizierung in Experten- und Laiendimensionen ist eine Aufgabe, die nicht unkritisch betrieben werden kann, die aber nicht primär der Machtkritik dient. Hierin unterscheidet sich die Aufgabe einer Diskurslexikologie deutlich von Jägers Unternehmen.

5.5

Diskussionsergebnisse: die Diskurstheorie Siegfried Jägers aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie

Vertikalitätslexikologie und die kritische Diskursanalyse weisen in wichtigen Grundeinschätzungen Kompatibilität und Übereinstimmungen auf: • Insbesondere die Modellierung des Diskurses als „Fluß von Wissen durch die Zeit"43 und seine enge Verbindung zur Sprache liegen nahe bei der

42 43

Jäger (1999/a: 228, Kursivdruck im Original). Jäger (2000: 35).

124 diskurslexikologischen Vorstellung von Diskurs als kommunikativem Wissens- und Handlungsraum. • Im Rahmen dieser Diskursmodellierung berücksichtigt Jäger auch, dass Experten und Laien kommunikativ aufeinander verwiesen sind, wenn er eine Typologie von diskursiven Ebenen einfuhrt. Die Vorstellung diskursiver Ebenen (von der Wissenschaft bis zu diskursiven Alltagsebenen) in Jägers Konzeption thematisiert einen ähnlichen Zusammenhang wie die der vertikalen Schichtung von Wissen und Wortschätzen. • Die Hervorhebung der Bedeutung eines diskursiven Wahrheitsanspruches, der im Diskurs generiert wird, berührt die von einer vertikalen Lexikologie thematisierte Frage der anerkannten und bestrittenen Vertikalität. Die Grenzen der Kompatibilität zwischen beiden Theorien werden besonders an den folgenden Punkten erkennbar: • Die Rolle von Texten als wesentliche Einheiten von Diskursen wird aus beiden Perspektiven ähnlich gesehen, aber das, was Jäger am Textbegriff als zu ungenau zurückweist, die thematische Heterogenität, stellt sich aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Betrachtung als potenzieller Indikator für Vertikalität und Laienstereotypien dar und wird deshalb weiterhin als Bestandteil des Textbegriffes aufgefasst werden. • Jägers Instrumentarium zielt auf die vollständige Erfassung synchroner Diskursstränge und der damit zusammenhängenden Mechanismen konkreter Machtausübung. Das Diktum der Vollständigkeit der Erhebung und Abbildung ist für eine lexikologische Unternehmung dagegen allenfalls als Idealtypus aufzufassen. Einen Diskurswortschatz synchron und diachron vollständig zu erfassen und zu repräsentieren, übersteigt die Möglichkeiten explorativer Wortschatzerhebungen und -analysen, auf die sich eine vertikale Lexikologie stützen kann. Auch wenn Vollständigkeit hier wünschenswert ist, so muss doch letztlich die Fiktion der quantitativen Repräsentativität bei der Erfassung, Untersuchung und Abbildung von Lexikon und Teilwortschätzen zugunsten des Gütekriteriums der begründeten Generalisierbarkeit von lexikologischen Analysen aufgegeben werden. • Ein fundamentaler Unterschied besteht im Forschungsziel beider Konzeptionen. Während die kritische Diskursanalyse vollständige Diskurse erfassen und repräsentieren will, um Herrschaftskritik zu fundieren und Gegendiskurse zu etablieren, geht es einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie primär um die Untersuchung und Repräsentation der Themenentwicklung und der Diskurswortschätze zur Analyse von Lexikund Wissensentwicklung, die in der diskursiven Kommunikation zwischen Experten und Laien sichtbar wird. Dies schließt selbstredend die kritische Analyse der zugrunde liegenden sozialen Mechanismen der Wissensdistribution nicht aus.

6

Aspekte vertikaler Wortschatzvariation in der sprachwissenschaftlichen Revision der Diskurstheorie Foucaults im Rahmen einer historischen Semantik als Diskursgeschichte bei Dietrich Busse

6.1

Diskursmodellierung-, ein linguistischer Diskursbegriff für die Diskurssemantik

Busses Diskursmodellierung weist im Verlaufe seiner Arbeiten verschiedene Explizierungsstufen auf, die sich als zwei einander ergänzende Modellebenen auffassen lassen. Zunächst greift er zur Modellierung eines für die diachrone Semantik geeigneten Diskursbegriffes auf Foucaults Beschreibung von Diskursen zu. Er führt als erste Modellierungsstufe dessen theoretische Leitgedanken weiter und präzisiert sie aus sprachwissenschaftlicher Sicht im Hinblick auf die Erfassung der sprachlichen, handlungstheoretischen und textbezogenen Charakteristika diskursiver Kommunikation. So integriert er den Grundgedanken vom Diskurs als Wissens- und Sprachhandlungsraum in seine Beschreibung eines Modells kommunikativer Interaktion. Die zweite Modellebene realisiert er in Form einer ergänzenden, forschungspraktisch-methodologischen Explikation des Diskursbegriffes in der späteren Publikation von Busse/Teubert (1994). Seine Modellierung des Diskursbegriffes weist eine besonders große Nähe zu Grundannahmen der Vertikalitätslexikologie auf, wenn der Diskurs als Sprachhandlungsraum aufgefasst ist, der seinen Sitz in der massenmedialen Öffentlichkeit hat. Öffentlichkeit, in Busses Konzeption explizit als „Raum der Diskurse"1 verstanden, bildet damit die Voraussetzung für gesamtgesellschaftliches Kommunikationshandeln überhaupt. Im Rahmen dieser Öffentlichkeit finden Diskurse statt und die Mechanismen und Merkmale einer massenmedialen Öffentlichkeit bestimmen auch den Charakter der Diskurse, die in dieser Öffentlichkeit stattfinden. Die Diskurse und die diskursiven Wissens- und Praxissysteme wiederum bestimmen ihrerseits die Bedeutungen von Wörtern. Wenn unter diesen Bedingungen Bedeutungen und ihre Handlungsbedingungen erfasst werden sollen, so muss ihre Einbettung in Diskurse

1

Busse (1996: 347).

126 und Handlungsmuster berücksichtig werden. Dazu entwirft Busse sein diskursbasiertes „Modell kommunikativer Interaktion",2 von dem er sagt: In dem hier vorgeschlagenen Modell treten besonders die kognitiven, situativen und epistemischen Voraussetzungen der kommunikativen Handlungen wie der Verstehensakte in den Vordergrund, da nur deren Analyse die Einbindung sprachlicher Äußerungen in signifikante Kontexte, und damit die semantische Beziehungsstruktur hinreichend freilegen kann. (Busse 1987: 13)

Es liegt auf der Hand, dass aus einer Vertikalitätsperspektive die Bedeutungsunterschiede zwischen Experten- und Laienwortschätzen, deren Erfassung Busse indes nicht anzielt, eine „semantische Beziehungsstruktur" darstellen, die über Busses originäres Anliegen hinausgehend freigelegt und analytisch erfasst werden muss. Eine diachrone Semantik, deren methodologische Grundlage das von Busse etablierte Modell darstellt, muss für die Untersuchung der sprachlichen Arbeitsteilung um die Vertikalitätsdimension erweitert werden. Darauf läuft auch eine vertikalitätstheoretische Rezeption von Busses Auffassung der diskursiven Sinngenerierung in der Kommunikation hinaus. Er kritisiert an Foucault, wie ich meine völlig zutreffend, dass dessen reduzierter Sprachbegriff außer acht lässt, dass Wissen weitgehend sprachlich tradiert wird. Eine Abtrennung des Wissens von kommunikativen Handlungsbedingungen und Sprache ist deshalb nicht sinnvoll, insbesondere weil Wissen sich den Individuen als sprachlich vermittelter Sinn erschließt, nicht allein sprachlich, aber immer in der Verknüpfung praktischer Tätigkeit mit sprachlicher Aneignung der Wirklichkeit. [...] Im Gegensatz zu Foucault bin ich der Meinung, daß eine Analyse des Wissens sehr wohl die Analyse der Produktionsebene von Sinn (in den sprachlichen Äußerungen) mit der der wissensformierenden Möglichkeitsbedingungen [...] verbinden kann und muss. [...] Struktur des Wissens und Produktionsbedingungen von Sinn liegen auf derselben Analyseebene. (Busse 1987: 249-250)

Diese geforderte Einbettung des Diskursbegriffes in ein Sprachhandlungsmodell zur diskursiven Sinngenerierung ist auch für eine Diskurslexikologie unverzichtbar. Nur wenn die Produktion diskursiver Wirklichkeit durch Experten und Laien als sprachliche Produktion von Sinn im Zuge der Sprachhandlungen aufgefasst wird, kann die Vertikalität von Diskurswortschätzen adäquat erfasst werden. Eine Trennung zwischen Sprache einerseits und Wissen (Experten- und Laienwissen), diskursiver Praxis (sprachliche Arbeitsteilung) sowie diskursiver Formation (Vertikalität) andererseits würde die Erfassung der Diskursvertikalität unmöglich machen. Einer Diskurshandlung liegen immer alle vier Dimensionen gleichzeitig zugrunde, und sie können allenfalls zu 2

Busse (1987: 13).

127 heuristischen Zwecken getrennt voneinander betrachtet werden. Sowohl das Spektrum der Diskurshandlungen als auch der Wortschatz von Experten und Laien kann nur adäquat beschrieben werden, wenn die Niveaueinbettung in das vertikal unterschiedlich verteilte Diskurswissen ebenso berücksichtigt wird wie die davon abhängige Formung im Wortschatz. Deshalb ist die Analyse von Diskursen nicht ohne die Analyse des in Sprachhandlungen verwendeten Diskurswortschatzes möglich. Diese Untersuchung des Diskurswortschatzes Perspektiven ist eine genuin sprachwissenschaftliche Aufgabe, dies ist gemeinsame Überzeugung von vertikaler Lexikologie und Busses Diskurssemantik.3 Die Bedeutungsseite diskursiver Sprachzeichen muss, wie Busse zutreffend hervorhebt, mit den Mitteln der Wortschatzbeschreibung ermittelt, repräsentiert und dokumentiert werden: Wir begreifen eine potenzielle Diskurssemantik (die - schon vom Begriff her - nur als diachrone Semantik, d. h. als Diskursgeschichte, möglich ist) als eine Erweiterung der Möglichkeiten einer linguistisch reflektierten, mit genuin sprachwissenschaftlichen Methoden arbeitenden Wort- und Begriffsgeschichte. (Busse/Teubert 1994: 13)

Wichter (1999) fuhrt hier weiter: Für eine vertikal orientierte Betrachtung von Experten- und Laienwortschätzen, die in Diskursen zumeist über Stereotypien miteinander in Verbindung stehen, hält er fest, dass auch eine vertikale Diskurslexikologie mit spezifisch sprachwissenschaftlichem Instrumentarium arbeiten muss und insofern Diskurse zwingend zum Gegenstand der Linguistik gehören. Allerdings muss Busses Konzept einer diachronen Semantik um den lexikologischen Blick auf die Ausdrucksseite der Wörter erweitert werden, wenn die diskursive Experten-Laien-Spezifik im Wortschatz sichtbar gemacht werden soll. Der rein semantische Blick auf die Wortbedeutungen reicht dazu nicht aus. Für die Erfassung von Experten-Laien-Wortschätzen und ihre Verteilung in Diskursen muss die Diskurssemantik durch stärkeren Einbezug der Ausdrucksseite zur Diskurslexikologie expandiert werden. Die im Diskurs verwendeten, vertikal indizierten Wortschätze weisen nicht nur auf der Bedeutungsseite wissensniveauabhängige Formierungen auf, sondern auch auf der Ausdrucksseite. So gilt es auch, zu untersuchen, welche Wörter und Ausdrucksfelder im Laiendiskurs dominieren. Dies kann z. B. der Fall sein, wenn sie für Laien anschaulicher sind als die aus fachlicher Sicht korrekten Termini, oder weil intertextuelle Bezüge ihre Verwendung aus Sicht der massenmedialen Produzenten nahe legen. Weiterhin kann sich der Laienwortschatz auf der Ausdrucksseite der verwendeten Sprachzeichen, präziser auf der Ebene des onomasiologischen Schemas, auch quantitativ von den onomasiologischen Schemata der Expertenni3

Vgl. Wichter (1999/a, b) und Busse (1994: 13).

128 veaus eines Diskurses erheblich unterscheiden, weil der Laienwortschatz durch Vereinfachungs- und Verdeutlichungsbestreben zwar einerseits weniger Fachprägung, terminologische Präzision und Monosemierung aufweist, andererseits aber oft reicher ausgestattet und damit umfangreicher sein kann als der Wortschatz der Expertenebenen. Die quantitative Veränderung resultiert in Teilen daraus, dass Tropen, Neologismen und neue Wortbildungen hinzukommen, deren Verwendung durch kommunikative und popularisierende Zwecke motiviert ist, die auf dem jeweiligen Vertikalitätsniveau angesiedelt sind.4 Wie different solche Ausdrucksfelder auf Laienniveaus sein können, illustriert ein Auszug aus dem eingangs bereits dargestellten Signifikanntenfeld. Im Computerdiskurs im Monat März des Jahres 1996 wurden in den entsprechenden Ausgaben des SPIEGEL und der FAZ folgende Bezeichnungen für den Computer verwendet, die sich zu einem gemeinsprachlichen Signifikantenfeld bzw. Ausdrucksteilschema addieren: Gemeinsprachliches Signifikantenfeld der Computerbezeichnungen in SPIEGEL und FAZ (Auszug) (März 1996) Alpha-Computer High-Tech-Helfer Pavillon-Computer Apple-Rechner Internet-Computer Pentium-Rechner Arbeitsplatzrechner Internet-ServerPersonalcomputer Billigcomputer Computer Personal-Computer Intranet-Rechner Rechner Billig-Computer SchmalspurBilligrechner Java-Netzcomputer Homecomputer Bürocomputer Kabelcomputer Schreibtisch-Computer Computer-Giganten Kleincomputer Schreibtischrechner Computersystem Kleinrechner Server-Computer Dec-Computer Knoten-Rechner Serverrechner der kleine Kerl Kodier-Rechner Simpelcomputer Desktop-Computer Kompaktrechner Stiftcomputers dummes Terminal Komplett-Rechner elektronischer Begleiter Multimedia-Computer Supercomputer Tischcomputer Ermittlungscomputer Netzcomputer Universitätsrechner Fahndungscomputer Netzrechner Unix-Netzrechner Großcomputer NetzwerkVax-Computer Großrechner Knotenrechner Zentralrechner Handheld-Computer Newton-Computer Zusatzrechner handliche Java-Schachtel Nixdorf-Computer 128-KB-Rechner Helfer Notebook-Rechner

4

Vgl. Grote/Schütte (2000) und Busch (2000/a).

129 Bereits ein erster Blick auf das reichhaltige und bedeutungsfern alphabetisch geordnete Bezeichnungsfeld zeigt, dass die Nomination in zahlreichen Fällen wohl weniger von Terminologieorientierung geprägt ist als von einer an Laienadressaten orientierten Anschaulichkeit. Dementsprechend kann das Bezeichnungsfeld nach verschiedenen Kriterien geordnet werden, z. B. nach Wortbildungsmerkmalen, etwa den Kompositionskonstituenten (z. B. Komposita mit den Konstituenten PC, Rechner, Computer). Für eine Vertikalitätsanalyse stehen allerdings weitere Kriterien im Mittelpunkt, besonders die Niveauspezifik und der Bezug zum zugrunde liegenden Sach- bzw. Technologiewissen. Wird ein solches, zunächst nur als Sammlung von Bezeichnungen existierendes Feld nach Wortfamilien geordnet und auf eine im Wortschatz erkennbare Sachstruktur abgebildet, zeigt es, wie im Eingangskapitel illustriert, auch den onomasiologischen lexikalischen Zusammenhang an. Im Beispielfall könnten Dimensionen der Sachstruktur etwa

die

VERWENDUNGSWEISE,

LEISTUNGSFÄHIGKEIT,

EINSATZSPEZIFIK,

HERSTELLERFIRMA o d e r d i e CHIPGENERATION s e i n , d i e d a s B e z e i c h n u n g s m o -

tiv bilden. Die Einbettung in den Wissensrahmen darf bei der lexikografischen Repräsentation von Wortbedeutungen nicht verloren gehen. Deshalb warnt Busse, der die Textebene bei der Diskursanalyse für wichtiger hält als eine möglicherweise isolierende Untersuchung der Wortebene, vor einer zu engen lexikografischen Konzentration auf eine unverbundene Auflistung von Lexemen, wenn er betont, dass ihm historische Semantik „als in die Tiefe gehende und weit ausgreifende Wissensgeschichte [...] nur in Monographien möglich"5 scheint und nicht in „Wörterbuchartikeln".6 Busse umreißt in dieser Entgegensetzung von Monografie und Wörterbuch eine sehr enge lexikografische Vorstellung von Wörterbuchartikeln, um so die Relevanz der Textebene deutlich hervorzuheben. Damit suggeriert er, Wörterbuchartikel müssten generell vergleichsweise kurz sein und seien daher grundsätzlich ungeeignet zur Darstellung weiterer diskursiver Zusammenhänge. Diese Vorstellung hat ihren Hintergrund in der Überzeugung, dass „wortbezogene Lexikographie [...] implizit immer eine Form der Darstellung und Beschreibung des im sprachlichen Zeicheninventar aufgehobenen gesellschaftlichen Wissens"7 ist. Um eine diskurslexikologische Untersuchung durchzufuhren, die, wie Busse/ Teubert bekräftigen, auch „der Erhellung semantischer Voraussetzungen für Wortschatzstrukturen und ihren Wandel"8 dient, ist darum ein lexikografisches Format zu wählen, das einer monografischen Darstellung nahe kommt und den diskursiven Wissenszusammenhang transparent macht. In dieser 5 6 7 8

Busse (1987: 173). Busse (1987: 173). Busse/Teubert (1994: 26). Busse/Teubert (1994: 26).

130 Hinsicht scheint mir das „Zeitgeschichtliche Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" von Stötzel/Eitz (2002) wegwiesend zu sein. Wenn die Transparenz des diskursiven Zusammenhanges durch das lexikografische Format gewährleistet ist, dann kann die Repräsentation von Diskurslexik und ihrer Wissenskontexte offenbar auch in Busses Einschätzung in Form von erweiterten Wörterbuchartikeln geschehen. Dies zeigt seine ausdrückliche Anerkennung einer lexikografischen Konzeption, wie sie etwa im zehnbändigen begriffsgeschichtlichen Wörterbuch „Geschichtliche Grundbegriffe" von Brunner/Conze/Koselleck (1972 - 1997) realisiert worden ist9. Zu den Möglichkeiten, die ein derart erweitertes Darstellungsformat für die Repräsentation diskursiver Wortbedeutungen bietet, kommt für eine vertikalitätsorientierte Untersuchung der Diskurslexik hinzu, dass im Rahmen der jüngeren lexikografischen Entwicklungen 10 inzwischen Instrumente und Repräsentationsformate entwickelt worden sind, die es ermöglichen, Diskurswissen auch auf Wortebene darzustellen, ohne dass der diskursive Wissenszusammenhang verloren geht11. Wortbedeutungen von diskursiven Schlüsselwörtern sind aus dieser Perspektive stereotype Wissensrepräsentationen, die in das Wissensnetz des Diskurswissens als Konzepte eingepasst sind. Fraas (1996) fuhrt dies am Beispiel der Konzepte Identität und Deutsche im Diskurs zur Deutschen Einheit vor12. Insofern betreffen Busses Zweifel gegenüber der Wortebene nicht das Vorgehen einer Experten-Laien-Lexikologie, da diese ja die Einbindung der Wortbedeutung in das gesamte Diskurswissen betont und im Rückgriff auf das Instrumentarium der Schematheorie abzubilden versucht. Eine Repräsentation und Einordnung der Diskurswortlexik nach Vertikalitätsniveaus auf Inhalts- und Ausdrucksseite erweitert somit Busses Vorgaben für eine diachrone Semantik. Mithin treffen sich diachrone Diskurssemantik und vertikalitätstheoretische Diskurslexikologie in einer eng verwandten Aufgabenstellung, die Busse umreißt, wenn er postuliert:

9

10

11 12

Busse (1987: 32-42) beschreibt diese beeindruckende Konzeption, in deren Umfeld die initiale Begriffs- und Methodenbildung der diachronen Semantik weitgehend stattfand, und bezeichnet sie zu Recht als „herausragend" (S. 38). Hier sind besonders die Erkenntnisse zur Nutzung von Hypertextstrukturen und Framebasierung bei der Bedeutungsrepräsentation sowie die Entfaltung und Fortentwicklung einer vertikalitätstheoretischen Lexikologie zu nennen. Vgl. Fraas (1996), Wichter (1994), Konerding (1993) sowie Wegner (1985). Als Konzepte in diesem Sinne gelten nach dem Konzeptbegriff von Fraas (1996: 12) und Konerding (1993: 94, 104) „Typen strukturierter Inhalte von subjektiven Wahrnehmungserlebnissen" (Fraas 1996: 12). Frames dagegen werden von Fraas (1996) und Konerding (1993) nicht als Konzepte aufgefasst, sondern als „sprachliche Texte, die den rationalen Zugang zu stereotypischem Wissen ermöglichen, das an Lexik gebunden ist". (Fraas 1996: 16)

131 Historische Diskurssemantik [...] entwirft das Szenario des kollektiven Wissens einer gegebenen Diskursgemeinschaft in einer gegebenen Epoche hinsichtlich des zum Untersuchungsgegenstand erwählten thematischen Bereichs bzw. des Bedeutungsfeldes bzw. der Diskursformation. (Busse 1987: 267)

In der Betonung des vom Analysator gewählten Untersuchungsbereiches klingt bereits Busses spätere forschungspraktische Definition des Diskursbegriffes an. Bereits hier weist er darauf hin, dass die Beschreibung gesellschaftlichen Wissens immer nur hinsichtlich eines „zum Gegenstand gemachten Diskursbereiches"13 erfolgen kann. Diese Pointierung präfiguriert bereits die überzeugende und häufig zitierte Definition des Diskursbegriffes bei Busse/ Teubert, in der ein Diskurs in linguistischem Sinne fixiert wird: Unter Diskursen verstehen wir im forschungspraktischen Sinn virtuelle Textkorpora, deren Zusammensetzung im weitesten Sinne durch inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien bestimmt wird. Zu einem Diskurs gehören alle Texte, die -

sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissenskomplex oder Konzept befassen [...] oder in einem gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang stehen,

-

den als Forschungsprogramm vorgegebenen Eingrenzungen im Hinblick auf Zeitraum/Zeitschnitte, Areal, Gesellschaftsausschnitt, Kommunikationsbereich, Texttypik und andere Parameter genügen

-

und durch explizite oder implizite (text- oder kontextsemantisch erschließbare) Verweisungen aufeinander Bezug nehmen bzw. einen intertextuellen Zusammenhang bilden. (Busse/Teubert 1994: 14)

Diese Definition erfüllt alle Anforderungen, die von einer empirisch arbeitenden Sprachwissenschaft an einen praxisorientierten linguistischen Diskursbegriff gestellt werden. Sie ist für eine linguistische Analyse von Diskursen von grundlegender Bedeutung, insbesondere weil sie nicht allein auf den Wissensbegriff (bei Foucault Episteme und Archiv) abhebt, sondern, den foucaultschen Ansatz linguistisch weiterführend, auch die Handlungs-, Wort-, und Textebene sowie die Frage der Intertextualität in einer Weise integriert, die eine sprachwissenschaftliche Analyse von Gesamtdiskursen ebenso zu fundieren vermag wie eine diskursbezogene Wortschatzanalyse, und dies, ohne auf den problematischen Sprach- und Aussagenbegriff Foucaults zurückzugreifen. Hinzu kommt eine klare Trennung zwischen dem Diskurs als einem kommunikativ sozialen Phänomen einerseits und dem für sprachwissenschaftliche Zwecke erstellten Korpus andererseits. Demzufolge gilt die forschungspraktische Relation: „Textkorpora sind Teilmengen der jeweiligen Diskurse"14, und 13 14

Busse (1996: 267). Busse/Teubert (1994: 14).

132 die Beziehung zwischen Diskurs und Korpus wird als Relation von Potenzial und Auswahl festgehalten. Die damit zusammenhängenden Fragen der Repräsentativität von Diskurskorpora werden weiter unten im Kapitel „Diskurs und Korpuslinguistik" erörtert. Es lässt sich an dieser Stelle resümieren, dass Busse zur Modellierung eines linguistischen Diskursbegriffes das foucaultsche Diskurskonzept einer sprachwissenschaftlichen Revision unterzieht und es auf diese Weise für eine semantische und auch für eine lexikologische Verwendung nutzbar macht.

6.2

Diskursvertikalität: Sozialbindung des Bedeutungswissens als Korrektiv für subjektive Bedeutungswelten

Fragen der Diskursvertikalität werden von Busse besonders im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Wissenssoziologie nach Schütz thematisiert. Eine Stratifizierung in Experten- und Laienkommunikation ist in Busses Modell nicht durchgeführt, das Grundmoment der Wissensungleichverteilung klingt aber in Busses Aussagen zur Spannung zwischen sozial abgestecktem Wissenshorizont und individuellem Kommunikationshandeln spürbar an. Die soziale Festlegung von Realitätsdefinitionen und deren Gültigkeit fasst Busse als historisch gewachsen auf. Diese sozial konstituierte Wirklichkeit sieht er in Übereinstimmung mit der Wissenssoziologie als ein Gefüge an, das in sich nicht stimmig ist, „sondern eher brüchig und verschwommen".15 Zur Illustration zieht Busse interessanterweise die Formulierung Siegfried Schmidts heran, nach der dieses inkonsistente Sprachspielwissen wirkt wie eine „Durchschnittsbildung von Wirklichkeitsbildern".16 Diese Formulierung von Schmidt scheint denselben Gedanken auszudrücken, wie er in der putnamschen Stereotyptheorie entfaltet wird. Sie geht ebenfalls davon aus, dass unter den Bedingungen der Stratifizierung der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation in Experten- und Laiendomänen ein Stereotyp als eine Art semantischer Durchschnitt die vermittelnde Instanz für die gemeinsprachliche Kommunikation ist. Den kommunikativen Ort dieser semantischen Durchschnittsbildung bildet die massenmediale Öffentlichkeit. Sie ist das Forum für diskursive Realitätsfestlegungen, und es ist die Öffentlichkeit, die den Raum bietet, in dem das 15 16

Busse (1987: 283). Schmidt (1971: 216), zitiert in Busse (1987: 283).

133 Individuum abprüfen kann, ob sein „Bewusstsein der Alltagswelt"17 von der Allgemeinheit geteilt wird. Dementsprechend weist Busse mit Blick auf die historische Herausbildung einer bürgerlichen und später massenkommunikativen Öffentlichkeit besonders auf ihre wichtige Rolle für die soziale Einbettung semantischer Entwicklungen hin: Indem Öffentlichkeit einen Raum der Rede entfaltete, entfaltete sie die Rede selbst: Sie ist also eigentlich Möglichkeitsbedingung jeder gesamtgesellschaftlichen Kommunikation und damit auch des unmittelbaren gesamtgesellschaftlichen Wirksamwerdens semantischer Entwicklungen. (Busse 1996: 347)

In der Betonung des gesamtgesellschaftlichen Charakters der Kommunikation und dem Rekurs auf die Analyse des Strukturwandels der Öffentlichkeit von Habermas wird deutlich, dass für Busse - ebenso wie für eine vertikalitätstheoretische Diskursbetrachtung - die Öffentlichkeit den übergreifenden Kommunikationsraum darstellt, in dem Semantisierungen ihren Platz haben, die einer sozialen Fixierung des Wissens unterliegen. Diese Sozialbindung des Bedeutungswissens gewährleistet die „Verbindlichkeit der sprachlich-sozial angeeigneten Alltagswelt".18 Das sozial fixierte Potenzial hat die Funktion eines regulierenden Maßstabes und ermöglicht es dem Individuum erst, für sich selbst den Rahmen der zulässigen Handlungs- und Interpretationsmuster abzuschätzen. Erst diese kommunikative Validierung des subjektiven Bedeutungswissens durch den Vergleich mit dem sozial abgesicherten Gemeinwissen gibt den „sicheren Boden"19 ab, auf dem Sprachhandeln stattfindet. Dies gilt, so hebt Busse hervor, insbesondere für subjektives Wissen, das immer aus dem Resonanzraum des kollektiven Wissens heraus bestätigt werden muss: Subjektive Welten (einschließlich aller subjektiven Auffassungen) bedürfen ihrer intersubjektiven Anerkennung, um als Wirklichkeit bestätigt zu werden. Diese Bestätigung ist die Funktion der Sprache; ihr Ort ist die kommunikative Handlung. Mit der Konstitution von Sinn in der kommunikativen Interaktion wird die Wirklichkeit gesetzt, bestätigt und so als gesellschaftliche erst geschaffen. (Busse 1987: 283)

In dieser Allgemeinheit formuliert trifft die Aussage für den Prozess gemeinsprachlicher Lexikalisierungen sicherlich zu, muss aber mit Blick auf Vertikalität im öffentlichen Diskurs differenzierter betrachtet werden. Zwei Perspektivierungen scheinen mir im Hinblick auf die kommunikative Validierung unter den Bedingungen sprachlicher Arbeitsteilung besonders wichtig:

17 18 19

Busse (1987: 273). Busse (1987: 273). Busse (1987: 277).

134 die Vertikalitätsbindung kommunikativer Validierung und die Möglichkeit der Stereotypbeharrung trotz niveauhöheren Wissens. Vertikalitätsbindung bei der kommunikativen Validierung bedeutet, dass der Aushandlungs- und Bestätigungsprozess der kommunikativen Validierung ebenfalls den Regeln der Wissens- und Wortschatzvertikalität unterworfen ist. Er ist abhängig von den subjektiven Wissens- und Bedeutungsbeständen, da er auf der Ebene einzelner Wissens- und Wortschatzniveaus stattfindet. Jede Instanz des sprachlichen Absicherungsprozesses muss sich in der Diskurskommunikation auf die Adressaten in der Weise einstellen, dass sie ein Wortschatz- und Explikationsniveau verwendet, das dem Adressatenfeld zugänglich ist. Das bedeutet: Die intersubjektive Anerkennung von Alltagsund Bedeutungswissen setzt zumindest Niveaunähe voraus. Eine Bestätigung von Wirklichkeitsdefinitionen, die gegenseitiges Verstehen voraussetzt, ist aber im diskursiven Vertikalitätsraum nur bei bestimmten Niveaukonstellationen möglich. Ein Laie kann nicht die subjektiven Modelle eines Experten in dessen Fachgebiet bestätigen, und der Experte wiederum kann nicht die Wirklichkeitskonstruktion eines Laien bestätigen und gültig machen oder verbessern und modifizieren, wenn der Laie ihn nicht versteht. Die Missverständnisse in der Praxis der Arzt-Patient-Kommunikation sind hierfür prägnantes und etabliertes Beispiel. Den eingangs formulierten Vertikalitätskonstellationen kommt daher an dieser Stelle große Bedeutung zu; dies wird erkennbar, wenn man die Vorstellung des kommunikativen Vergleichens von Realitätsbildern in Beziehung zu den Kommunikationskonstellationen setzt. Keine grundsätzlichen Probleme gibt es bei der kommunikativen Validierung im Falle der Niveauentsprechung und der Niveaunähe. Bei einer Niveauentsprechung, die im Falle gleicher Wortschatz- und Wissensniveaus der Kommunikationspartner vorliegt (Laie - Laie oder Experte - Experte), ist eine solche kommunikative Validierung des Einzelwissens durch den Bezug auf das kollektive Wissen eines gemeinsamen Niveaus problemlos möglich und häufig 1 überflüssig. Wichtiger ist der Abgleich in Fällen der Niveaunähe, also einer kommunikativen Konstellation, in deren Rahmen ein Laie bereits über fundiertes Wissen zu einem Diskursgegenstand oder zu einzelnen Aspekten eines Diskursgegenstandes und der zugehörigen Fachsprache verfugt und nun mit konkreten Evaluierungsfragen auf das expertennähere Wissen eines elaborierteren Niveaus zugeht. Einer kommunikativen Validierung stehen hier keine grundsätzlichen Hindernisse im Weg. Bei Niveauverschiedenheit ist dagegen eine kommunikative Validierung nicht möglich, denn in diesem Fall sind die beteiligten Niveaus einander fern; es entsteht die kommunikative Kluft, die, wie mehrfach betont, von den beteiligten Laien häufig als Inkompatibilität zwischen Experten- und Laienspra-

135 che wahrgenommen wird. Diese Inkompatibilität verhindert auch den Prozess der kommunikativen Validierung. Das Phänomen der Stereotypbeharrung trotz niveauhöheren Wissens zeigt allerdings, dass die kommunikative Validierung keineswegs immer durchgeführt wird, wenn Unterschiede zwischen Laien- und Expertensystem bestehen. Es gibt durchaus Fälle, wo die Eigenperspektive der Laien dominant bleibt. Die Untersuchung von Laienwortschätzen zeigt, dass Laien zwar grundsätzlich bereit scheinen, aus fachlicher Sicht höherwertiges Wissen als richtiger als ihr eigenes Wissen einzustufen,20 aber dabei nicht grundsätzlich ihr eigenes Wissen verwerfen. Es gibt durchaus Stereotypien, die so grundlegend sind, dass sie nicht verworfen werden, selbst wenn klar ist, dass sie aus Expertensicht nicht akzeptiert werden. Ein besonders deutliches Beispiel ist das mehrfach angeführte Laienstereotyp KRANKHEIT IST SCHICKSAL,21 das zwar aus der Perspektive einer pathogenetisch orientierten Medizin Krankheit weder erklären kann, noch als Beschreibung der Krankheitsursache oder als Diagnose akzeptiert werden kann. Dennoch wird es, wie Befragungen zeigen, von vielen Patienten zur Erklärung und Bewältigung der eigenen Erkrankung herangezogen. Hier wird die kommunikative Validierung ebenfalls eingeschränkt. Eine subjektive Theorie, die aufgrund der hohen und fachlich nicht abgesicherten Relevanz für das Individuum ein so auffallendes Beharrungsvermögen aufweist, ist einer kommunikativen Validierung kaum mehr zugänglich. Im weiteren Zusammenhang mit Fragen der Bedeutungskonstitution im Diskurs weist Busse auch auf die „kommunikative Gegenstandskonstitution"22 hin, einen Sachverhalt, der auch für die Analyse der Diskursvertikalität interessant ist. Er umreißt damit das Phänomen, das ich als Erstverwendung diskursiver Schlüsselwörter auffasse: Gesellschaftliches Wissen und gesellschaftliche Wirklichkeit sind eine Sache der Geltung; wirklich und wißbar ist in einer Gesellschaft das, was als solches gilt. Die Geltendmachung einer bestimmten kommunikativ handelnd vorgebrachten Sinnrealisierung erfolgt immer irgendwann und irgendwo ein erstes Mal. Eine solche kommunikative Handlung kann man „Einfuhrungshandlung" [...] nennen, oder, legt man das Gewicht auf bestimmte Ausdrücke (oder Handlungsmuster), eine 'erstmalige Anwendung' eines Ausdrucks oder Handlungsmusters. (Busse 1987: 286, Kursivdruck im Original)

Wenn innerhalb eines Korpus die erstmalige Anwendung eines Expertenoder Laienzeichens festgestellt werden kann, so ist dies möglicherweise Indikator für den Beginn einer neuen Diskursphase oder für eine Neukonstitution 20 21 22

Vgl. auch Engberg (2000). Vgl. Busch (1999) und Faltermaier (1994). Busse (1987: 286).

136 eines Diskursgegenstandes. In solchen Fällen spreche ich von einer Erstverwendung eines Experten- oder Laienzeichens. Hier sind jeweils das bedeutungskonstitutive Potenzial (Fachwissen oder Stereotype) und ggf. die schrittweise Elaborierung einer Bedeutung durch Laien zu untersuchen.

6.3

Diskursprogression: Diskursgeschichte als Geschichte von Wortbedeutungen

Busses Ansatz richtet sich auf eine „Historische Semantik als Diskursgeschichte"23 und liefert damit letztlich ein linguistisch abgesichertes Semantikmodell für die Analyse der Diskursprogression. Gemäß der Überzeugung, dass es Aufgabe einer historischen Diskurssemantik sei, „die zeitliche Gebundenheit der Diskurse selbst (ihr historisches Apriori) auf[zu]hellen",24 unterstreicht Busse (1987: 270): „Historische Diskursanalyse ist deshalb der eigentliche Ort der Analyse von Bedeutungswandel." Deshalb entwickelt er in Auseinandersetzung mit der Methodendiskussion der historischen Semantik ein Analyseschema, das verschiedene Analyseperspektiven integriert. Um die wissensmäßigen und handlungsbezogenen Dimensionen eines Diskurses, die die Semantik prägen, zu erfassen, müssen demnach die folgenden vier Analyseperspektiven einbezogen werden: Ebene I

Ebene II: Ebene III

Ebene IV

Ebene der einzelnen kommunikativen Akte (Bestimmung der kommunikativen Funktion des einzelnen Aktes und Funktionsbestimmung der linguistischen Einheiten Wort und Satz) Ebene des einzelnen Textes (thematische Linien) Ebene der thematischen Tiefenstruktur, die die kommunikativen Akte und die einzelnen Texte durchzieht (umfasst alle Elemente, die für die Sinngenerierung wichtig sind, z. B. aktualisierte Wissenssegmente, anschließbare Kontexte, Verweise, Präsuppositionen) Das Paradigma einer Epoche (Möglichkeiten diskursiver Strategien und Formationen, grundlegende Erkenntnisformen und Ausschließungsmechanismen) (vgl. Busse 1987: 261-263)

Auch hier tritt, wie in den bereits besprochenen Verarbeitungsvarianten der Diskurstheorie Foucaults bei Link und Jäger, die Analyse einzelner Texte in 23 24

Busse (1987: 302). Busse (1987: 269).

137 den Hintergrund zugunsten einer textübergreifenden Sichtweise, die sich stärker auf die Art und Weise der Konstitution eines Diskursgegenstandes und die thematische Progression innerhalb desselben konzentriert. Busses Verbindung dieser Perspektiven mit einem Sprachhandlungsmodell gibt, angelehnt an die Vorgehensweise Foucaults, der Semantik ein Instrumentarium an die Hand, das es möglich macht, den semantischen Entwicklungen im Sprach-, Wissens- und Handlungsraum Diskurs mit sprachwissenschaftlichen Mitteln nachzugehen. Das Hauptaugenmerk einer Diskurssemantik muss dabei (ebenso wie bei einer vertikalitätsorientieren Diskurslexikologie) auf die Progression der diskursiven Schlüsselwörter und ihre Beziehungen zum Wissenssystem eines Zeitabschnittes oder einer Epoche gerichtet sein. Daher gilt Busse/Teuberts Postulat für einen Zugriff auf die Diskursprogression über den Wortschatz auch für eine vertikale Analyseperspektive: Ein ergiebiges Zugriffsobjekt sind die Verwendungsweisen von Wörtern in ihren jeweiligen Kontexten. Dieses Verfahren erlaubt einmal die Ermittlung begrifflicher Äquivalenz (oder Teil-Äquivalenz) zwischen Wörtern in verschiedenen Texten des Korpus [...]; zum anderen ermöglicht der Zugriff auf Wörter die Feststellung von Bedeutungswandel [...] Diskursgeschichte ohne Wort(bedeutungs-)geschichte oder zumindest ohne semantische Berücksichtigung einzelner Lexeme ist nicht denkbar und nicht sinnvoll: jedoch ist Wortgeschichte immer nur ein Teil einer (umfassenden) Diskursgeschichte. (Busse/Teubert 1994: 18)

Mit Blick auf den unten zu besprechenden Computerdiskurs erfordert ein solcher Zugriff auf die Verwendungsweisen von Wörtern in ihren diskursiven und vertikal spezifischen Kontexten, dass die Repräsentation der diskursiven Schlüsselwörter in den Horizont ihrer technologischen Wissensrahmen eingepasst sein muss. D. h. für das hier untersuchte Feld: Die konkrete Repräsentation von Wörtern, die im Computerdiskurs eine wichtige Rolle spielen, muss auch den Zusammenhang zur Technologiegeschichte und zur Vertikalität abbilden. Kurz gefasst: Die Abhängigkeit der Sprachgeschichte von der Sachund Produktgeschichte muss sichtbar werden; ein Ziel, für das Busse eine methodologische Leitlinie formuliert hat: Diskurssemantik erstreckt sich dabei über zwei Achsen. Zum einen versucht sie diachron die Kontinuitäten diskursiver Formationen zu bestimmen, zum anderen setzt sie an den Bruchpunkten zu einer Breitenstudie an, die die Gründe der aufgefundenen Diskontinuitäten quer durch das ganze Spektrum diskursiver und sozialer Voraussetzungen aufzufinden versucht. (Busse 1987: 269)

Darüber hinaus scheint im Rahmen dieser diskurssemantischen Diachronie, bei entsprechender Interpretation des Gesagten, in Busses Konzeption durchaus auch die Berücksichtigung vertikalitätstheoretisch zu bearbeitender Fragestellungen auf, wenn Busse für die diskurssemantische Erfassung der Dia-

138 chronie auf den Ensemblecharakter lexikologischer Ergebnisdarstellungen und die Rolle der Einzelbedeutungen hinweist: „Begriffe", als überindividuelles Bedeutungsspektrum, können nur retrospektiv, in der theoretischen Analyse freigelegt werden; ein einzelnes Individuum verfügt nie zugleich über all die Momente, welche in einer Gesellschaft mit der Verwendung eines bestimmten Zeichens in Verbindung gebracht werden. Das Wortzeichen selbst ist dabei nur der Faden, der nur oberflächlich betrachtet ein Ganzes bildet, konkret jedoch aus einzelnen Fasern besteht, welche zwar ineinander greifen, aber am einen Ende des Fadens mit denen am anderen Ende gar nichts mehr zu tun haben. (Busse 1987: 304)

Das Bild vom Faden, den es in der Analyse von Diskurswortschätzen zu untersuchen gilt, lässt sich für die Vorgehensweise einer vertikalitätsorientierten Analyse ausgezeichnet weiterführen. Eine vertikalitätsanalytische Untersuchung muss demzufolge nicht nur den einzelnen Sprachzeichen, also den Fasern des Fadens nachgehen, sondern sie muss, um die Vertikalität sichtbar zu machen, auch die Parallelität und Funktion der Einzelfasern bei der Bildung des Gesamtfadens sichtbar machen. Mit dieser Ausrichtung kann eine vertikalitätsorientierte Analyse der sprachgeschichtlichen Entwicklung von Experten- und Laienwortschätzen ein Forschungsinteresse realisieren, das sich mit dem einer Diskurssemantik an vielen Punkten deckt und mit dem spezifischen Interesse an der ExpertenLaien-Stratifizierung von Diskursen weiterführend ist. Mit der Konzentration auf die diskursive Experten-Laien-Stratifizierung liegt dann das gemeinsame Augenmerk auf der „Berücksichtigung von semantischen [und ausdrucksseitigen A. B.] Querbeziehungen, Begriffs-, Aussage- und Wissenselemente-Netzen (auch über Text- und Epochengrenzen hinweg)".25

6.4

Diskurspersuasion und -kontrolle: Kernelement der Analyse, aber nicht Primärziel einer Diskursanalyse

Die Beschreibung von Mechanismen der Diskurssteuerung sind in Busses semantischer Konzeption nicht so dominant gesetzt wie in den Arbeiten Links und auch nicht als Wissenschaftscredo fixiert wie bei Jäger. Sie gehören aber auch in Busses Konzeption zum Kern einer Diskursanalyse. Insbesondere die Dynamik diskursiver Begriffsbildung und die Einbettung diskursiv-sprachlicher Entwicklung in das diskursiv-soziale Gefüge machen es notwendig, auch bei einer semantischen Vorgehensweise Fragen der Macht und des Ein25

Busse/Teubert (1994: 27).

139 flusses bestimmter Gruppeninteressen auf die im Diskurs verwendete Sprache einzubeziehen. Diskursive Formationen, so Busse, haben immer eine Handlungsorientierung, die über einen rein diskursiven Zusammenhang hinausreicht. Sie sind damit in besonderem Maße anfällig für die Macht. (Busse 1987: 294)

Diese Anfälligkeit für die Macht und ihre konkreten Auswirkungen sind bei einer diskurssemantischen Untersuchung einzubeziehen, wenn die gesellschaftliche Verwendung von Begriffen erkannt werden soll. Daran, dass dies im Einzelfall und detailliert erfolgen muss, lässt auch eine diskurssemantische Perspektive keinen Zweifel aufkommen: Solche Zusammenhänge müssen in der historischen Semantik aufgedeckt werden, wenn die Funktion bestimmter Begriffe und diskursiver Strategien für die gesellschaftliche Konstitution der historischen Wirklichkeit erklärt werden soll. Auffassungen wie die oft zitierte 'Inhaltsleere' politischer und historischer Begriffe helfen da nicht weiter. (Busse 1987: 294)

Busse räumt hier der Analyse gesellschaftlicher Machstrukturen, die im Diskurs sichtbar werden, aus sprachwissenschaftlicher Sicht einen hohen Stellenwert ein, ohne sie zum Ziel einer diskurssemantischen Analyse zu erklären. Für eine vertikalitätsorientierte Wortschatzbetrachtung ist dies eine überzeugende Gewichtung und Relevanzeinschätzung, da es ihr ebenfalls in erster Linie um die Untersuchung der Rolle des Wortschatzes im Diskurs geht. Das Analyseinstrumentarium dient diesem Zweck und nicht, wie in der oben diskutierten Konzeption Jägers, in erster Linie der Machtanalyse. Zu trennen von einer Wortschatzuntersuchung ist dies natürlich nicht, denn gerade in der Frage der Experten-Laien-Kommunikation sind insbesondere Fragen der Sagbarkeit bzw. Nicht-Sagbarkeit für einzelne Vertikalitätsniveaus ebenso wichtig und wortschatzwirksam wie die Auseinandersetzung auf expertennahen Niveaus, die Wichter (1994: 27-29) unter dem Signum der bestrittenen Vertikalität zusammenfasst.

6.5

Diskussionsergebnisse: die Diskurstheorie Dietrich Busses aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie

Busses Revision der foucaultschen Diskurstheorie aus dem Blickwinkel einer Diskurssemantik zeigt in grundlegenden Fragen weitgehende Übereinstimmung mit den Perspektiven einer Vertikalitätsorientierung in der Diskurslexi-

140 kologie. Die deutlichsten Kongruenzen in den Beschreibungs- und Untersuchungsinteressen finden sich in den folgenden Punkten: • Im Rahmen der Modellierung des Diskursbegriffes wird die foucaultsche Theorie bei Busse hinsichtlich ihres Nutzens für eine sprachwissenschaftliche Untersuchung überprüft. Besonders der problematische Sprach- und Aussagenbegriff bei Foucault wird aus der Konzipierang eines für die empirische Semantik brauchbaren Diskursmodells relegiert. Die foucaultsche Konzeption vom Diskurs als Wissensraum mit je historischer Spezifik wird so in einen linguistischen Diskursbegriff integriert, der der Tatsache Rechnung trägt, dass Wissen in den meisten Fällen sprachlich gebunden und geformt ist. Deshalb muss für die Diskurssemantik ebenso wie für eine vertikalitätstheoretische Diskurslexikologie das wissensanalytische Instrumentarium erweitert werden. Die wichtigste Erweiterung aus linguistischer Perspektive besteht in der unerlässlichen Einbindung sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse zum Handlungscharakter von Sprache, zur kontextuellen Einbettung von Sprachhandlungen und zu den Interdependenzen zwischen den sprachlichen Ebenen Wort, Satz, Text, Diskurs und ihrer analytischen Repräsentation. Nur durch diese Erweiterung können die foucaultschen „Werkzeugkisten"26 linguistisch optimiert und für eine semantische und lexikologische Nutzung aufbereitet werden. • Der Diskursbegriff einer diachronen Diskurssemantik, wie sie Busse beschreibt, stimmt weitgehend mit dem Diskursmodell einer Vertikalitätslexikologie des Diskurses überein. Aus beiden Blickwinkeln stellt sich der Diskurs als öffentlicher Wissens- und Sprachhandlungsraum dar, dessen Grundeinheiten Sprachhandlungen in der sprachlichen Form von Texten sind, die auf einen gemeinsamen, thematisch fixierten Diskursgegenstand bezogen sind. • Gleichermaßen findet sich Übereinstimmung in der Einschätzung, dass Diskurse ein Öffentlichkeitsphänomen sind. Öffentlichkeit als Raum, in dem Diskurse stattfinden und aufgrund der rezeptions- und produktionsseitigen Interessen geformt werden, ist eine der entscheidenden Konstitutionsbedingungen für Diskurse überhaupt. • Die Überzeugung, dass Diskurse zum Gegenstand der Linguistik gehören, ist eine weitere wichtige Gemeinsamkeit. Busse verlegt seine Analyseperspektive besonders auf die Ebenen der Wörter und der Texte, in die Wörter und Wortschätze eingebettet sind. Er steht dabei in Übereinstimmung mit einer vertikalen Diskurslexikologie, wenn er darauf abhebt, dass Wörter nicht nur Konstituenten des Diskurses sind, sondern dass

26

Foucault (1976 MM: 53).

141 durch Schlüsselwörter auch komplexere Einheiten, diskursive Grundkonzepte und ganze Teildiskurse repräsentiert werden können. Eine vertikalitätstheoretische Diskurslexikologie muss allerdings an einigen Punkten untersuchungsspezifische Erweiterungen vornehmen. Weil eine diachrone Semantik, für die Busses Methodologie entwickelt worden ist, keine Kategorien für die Untersuchung der sprachlichen Arbeitsteilung vorsieht, muss sie insbesondere um zwei Dimensionen zur Erfassung der Diskursvertikalität ausgedehnt werden. • Für eine Untersuchung der Diskurswortschätze von Experten und Laien ist die gemeinsame Grundauffassung des Diskurses als Wissens-, Kommunikations- und Handlungsraum um die Vertikalitätsdimension zu ergänzen, sodass für eine Vertikalitätslexikologie ein Diskurs sich darstellt als ein öffentlicher Kommunikations- und Wissensraum, der eine horizontale (nach Wissensgebieten) und eine vertikale Ausdifferenzierung (durch eine Experten-Laien-Skalierung) aufweist. Die horizontalen Abgrenzungen sind auf Expertenniveaus noch an Fächergrenzen entlang beschreibbar, sind aber von der Diskursvertikalität abhängig. Je stärker das Diskurswissen und die zugehörige Lexik einen Platz auch auf den diskursiven Laienniveaus finden, desto unschärfer werden die horizontalen Grenzen, bis schließlich die Horizontalität auf den Laienniveaus des öffentlichen und massenmedialen Diskurses ihre Trennschärfe nahezu vollständig verloren hat. • Darüber hinaus reicht für eine Wortschatzuntersuchung, die sich auf die Diskursvertikalität richtet, eine rein semantische Analyse und die Spezialisierung auf Bedeutungsfragen nicht aus. Die Ausdrucksseite von Wörtern und ihre spezifische Organisation, die sichtbar wird, wenn man die Einbettung der Wörter in onomasiologische Schemata betrachtet, sind für eine Vertikalitätsuntersuchung ebenfalls wichtig. Deshalb muss der ausdrucksseitigen Anordnung und Systematisierung der Lexik mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden, als Busses Konzeption dies vorsieht.

7

Korpuslinguistische und methodologische Präzisierungen: Diskurs, Diskurskorpus und methodologische Gütekriterien einer diskurslexikologischen Untersuchung

Wenn der Diskurswortschatz, die Diskursprogression und die diskursive Persuasion untersucht werden sollen, muss der Diskurs für eine Analyse aufbereitet werden, denn er selbst ist in seiner ganzen Breite in aller Regel nicht repräsentierbar. Das würde erfordern, alle Texte, die als sprachliche Repräsentation von Diskurshandlungen einen Diskurs bilden, in die Untersuchung einzubeziehen, unabhängig davon, in welchen der verschiedenen Medien, medialen Formate oder Textsorten der jeweilige thematisch bestimmte Diskurs geführt wird. Dies ist aus forschungspraktischer Sicht undurchführbar. Deshalb müssen Stichproben eines Diskurses gezogen werden, die als Sprachdatenkorpora Diskursausschnitte repräsentieren. Die linguistischen Einschätzungen, auf welche Weise die Qualität eines solchen Korpus und die Qualität des Erstellungs- und Auswertungsprozesses zu sichern sind, differieren. In vielen diskurssemantischen Untersuchungen sind die Fragen, was die Qualität eines Diskurskorpus ausmacht, auf welche Weise es intersubjektiv nachvollziehbar erstellt und ausgewertet werden kann, und in welchem Verhältnis die Stichprobe, das Diskurskorpus, zur Grundgesamtheit des Diskurses steht, nur ansatzweise beantwortet. Da aber diese Fragen hier wie in jeder korpusbasierten Diskursuntersuchung klar beantwortet werden müssen, ist es erforderlich, den Zusammenhang von Diskurs, Diskurskorpus und Diskurslexik zu bestimmen und einen Weg aufzuzeigen, wie Prozessqualität und Ergebnisqualität diskurslexikologischer Erkenntnisgewinnung gesichert werden können. Der Weg einer solchen methodologischen Qualitätssicherung führt über die diskurslinguistische Präzisierung der Gütekriterien Gültigkeit (Validität), Zuverlässigkeit (Reliabilität) und Generalisierbarkeit (statt Repräsentativität).

7.1

Diskurs und Korpus: Auswahl oder Identität?

Das Problem des Zusammenhanges von Diskurs und Korpus stellt sich in jüngerer Zeit zunehmend in Untersuchungen zur historischen Semantik, Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Im Vordergrund stehen dabei meist

143 die klassischen korpuslinguistischen Fragstellungen, ob ein Korpus repräsentativ für eine Grundgesamtheit, etwa eine natürliche Sprache, sein kann, und die Frage, ob das Korpus mit dem Diskurs identisch sein kann. Die Fragen nach der Relation von Diskurs und Korpus werden im Rahmen verschiedener Untersuchungen allerdings recht unterschiedlich beantwortet.1 Die Spanne der Einschätzungen reicht von der Dichotomie virtuelles Korpus (=Diskurs) vs. aktuelles Korpus bei Busse/Teubert (1994) bis zur Gleichsetzung Korpus = Diskurs bei Jung (1994, 1996).2 Zur Etablierung der Dichotomie virtuelles Korpus (=Diskurs) vs. aktuelles Korpus konstatieren Busse/Teubert (1994), wie oben im Kapitel zu Busses Verarbeitung des foucaultschen Diskursbegriffes ausführlicher besprochen, bei Diskursen handele es sich um „virtuelle Textkorpora, deren Zusammensetzung durch im weitesten Sinne inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien bestimmt wird"3. Ein Sprachdatenkorpus, das einen solchen Diskurs repräsentiert, wird dagegen als Ausschnitt aus einem solchen Diskurs aufgefasst: Konkrete (d. h., einer diskurssemantischen Untersuchung zugrunde liegende) Textkorpora sind Teilmengen der jeweiligen Diskurse. (Busse/Teubert 1994: 14)

Damit steht dem Diskurs selbst als dem zu untersuchenden kommunikativen Phänomen (dem abstrakten Potenzial) das konkrete Korpus als ausgewählte Teilmenge gegenüber. Dabei sind Objektbereich und Untersuchungsbereich klar als zwei verschiedene Entitäten aufzufassen, die zueinander in einem Inklusionsverhältnis stehen. Diese Trennung von Diskurs und Korpus findet sich auch bei Herrmanns (1995), der zur Darstellung von Potenzial und Auswahl eine Trichotomie generiert. Er unterscheidet ein imaginäres Korpus (Menge aller Äußerungen, die in einem Untersuchungszeitraum gemacht worden sind) von einem virtuellen Korpus (im Sinne Busse/Teuberts 1994) und einem konkreten Korpus, das die Menge der Texte enthält, die zu Untersuchungszwecken ausgewählt und zusammengestellt worden sind. Allerdings wird in beiden Fällen der Diskurs selbst auch als eine Art Korpus bezeichnet, was in der Rezeption dieser Vorstellung auch zu terminologischen Unklarheiten geführt hat. Jung (1994) beschreibt Diskurse im Rückgriff auf die Definition bei Busse/Teubert als „virtuelle Textkorpora"4. Später (Jung 1996, 1999) erweitert er 1

2

3 4

Vgl. dazu besonders Jung/Niehr (2000), Jung (2000, 1994), Böke/Jung/Wengeler (1996), Böke/Liedtke/Wengeler (1996), Busse/Herrmanns/Teubert (1994) und Wengeler (1992). Zur Korpuslinguistik und ihrer Methodologie vgl. Lenders/ Willlee (1998) und Paprotte (2002). Das Spektrum der Pointierungen zum Verhältnis von Diskurs und Korpus hat Boke (1996: 432 - 438) zusammenfassend dargestellt. Busse/Teubert (1994: 14). Busse/Teubert (1994: 14).

144 die Definition und überträgt das Würfelmodell nach von Hahn (1983) auf den Diskursbegriff. Dieser Vorschlag ist für empirische Analysen hilfreich, weil der Untersuchungsbereich auf diese Weise in den Koordinaten Teildiskurs, Textsorte und Diskursebene trennscharf bestimmt werden kann. Auch die verdeutlichende Grafik transportiert die Vorstellung vom Korpus als untersuchungsspezifischer Teilmenge des Diskurses:

Oesamtdiskure D

Textsorten

Schaubild in Jung (1999: 199) Problematisch ist allerdings, dass die Teilmengenvorstellung in der zugrunde gelegten Definition explizit aufgelöst wird: Ich verstehe Diskurs als Korpus (mündlicher oder schriftlicher) Aussagen bzw. Texte zu einem bestimmten Thema. (Jung 1999: 199, Unterstreichung A. B.)

Der Diskurs wird nun mit dem Korpus gleichgesetzt, das Korpus wird als vom Forscher durch Belegauswahl konstituierter - Diskurs aufgefasst. Eine Konkretisierung dieser Auffassung findet sich an anderer Stelle, wo der Vorteil des „Verständnisses von Diskursen als Aussagekorpora"5 betont wird. In

5

Jung (1996: 462, Unterstreichung A. B.) Aussagen fasst Jung (1996: 461) als „eine bestimmte thematisch definierte Behauptung" auf und grenzt sie gegen den Propositionsbegriff ab.

145 beiden Fällen wird der Diskurs mit dem Korpus gleichgesetzt, eine Perspektive, die ich nicht teilen kann. Das Diskurskorpus kann nach meinem Verständnis nur die konkrete Zusammenstellung sprachlicher Einheiten sein, deren Untersuchung Rückschlüsse auf die kommunikativen Verhältnisse im Wissens-, Sprach- und Handlungsraum des Diskurses ermöglicht. Deshalb plädiere ich für eine strikte heuristische und terminologische Trennung zwischen Diskurs und Korpus. Der Diskurs ist nach meiner Auffassung ein kommunikatives Phänomen, während das Diskurskorpus eine Auswahl von Texten aus diesem Diskurs darstellt, die unter spezifischen Untersuchungsperspektiven vorgenommen wird. Bei der Erstellung und Auswertung eines Diskurskorpus müssen zumindest die folgend beschriebenen Gütekriterien beachtet werden, damit auf der Grundlage des Korpus überhaupt adäquate Aussagen über den Diskurs möglich werden, die über Existenzaussagen hinausgehen.

7.2

Diskurskorpus, vertikale Analyse und die Gütekriterien Validität, Reliabilität, Repräsentativität und Generalisierbarkeit in der vertikalitätstheoretischen Diskuslexikologie

Für die empirische Sprachwissenschaft gilt wie für jede empirische Forschung der generelle Leitsatz, den Lamnek (1995) noch einmal bekräftigt: Um die Qualität des Weges zur wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung durch bestimmte Methoden feststellen zu können, sind generelle Kriterien nötig, die die verschiedenen Aspekte aller Methoden (vor einem bestimmten wissenschaftstheoretischen Hintergrund) erfassen und untereinander vergleichbar machen. Diese Kriterien dienen als Zielvorgaben und Prüfsteine einer beliebigen angewandten Forschungsmethode, an denen der Grad der Wissenschaftlichkeit dieser Methode gemessen werden kann [...]. Die Güte von wissenschaftlich-empirischen Studien hängt also zu allererst von den entwickelten methodologischen Kriterien ab. (Lamnek 1995: 152)

Hinsichtlich der Frage, welche Gütekriterien als „Zielvorgaben und Prüfsteine" für eine empirische Diskurslexikologie angemessen sind, ergeben sich aus der Diskussion der qualitativen empirischen Sozialforschung wertvolle Anhaltspunkte. Hier erweist sich, dass das Bewerten der Prozess- und Ergebnisqualität durch Überprüfung der Gütekriterien ausgezeichnet auf hermeneutisch-empirische Vorgehensweisen anwendbar ist, ja sogar angewandt wer-

146 den muss, wenn mehr als Einzelfallaussagen beabsichtigt sind und korpusbasierte Analyseergebnisse generalisiert werden sollen. Bei der Bewertung diskurslinguistischer Untersuchungen nach verfahrensbezogenen Gütekriterien ist allerdings zu beachten, dass hier nicht schlicht die klassischen Gütekriterien der Validität, Reliabilität und Repräsentativität, so wie sie in der quantitativen Sozialforschung verwendet werden, übernommen werden können, denn: Die traditionellen Kriterien wie Repräsentativität, Validität und Reliabilität sind für Forschungen, die stärker auf Feinanalysen von Prozessen ausgerichtet sind als auf die notwendig gröbere Bestimmung von Gesamtverteilungen, nicht oder nur modifiziert anwendbar. (Küchler u. a. 1981: S.V)

Dies gilt besonders auch für die empirische Diskurslexikologie. Sie ist aufgrund der Spezifik ihrer Forschungsgegenstände und -ziele sowie der wissenschaftstheoretischen und methodologischen Ausrichtung nach den quantitativ orientierten Kriterien nicht adäquat bewertbar. Dies ist allerdings kein Defizit diskurslinguistischer Forschung, sondern der generellen Abhängigkeit der Gütekriterien von spezifischen Erkenntnisformen geschuldet, denn wo auch immer Gütekriterien zur Beurteilung von Forschung herangezogen werden, gilt, „daß Gütekriterien begrifflich, inhaltlich, und methodologisch keine von Wissenschaftstheorie und Methodologie unabhängige Kontrollgrößen sein können".6 Diese Beurteilung ist für eine empirisch hermeneutische Sprachwissenschaft ausgesprochen produktiv, solange daraus keine Ablehnung von Gütekriterien für die empirische Diskursforschung resultiert. Denn die Einsicht, dass Gütekriterien keine Axiome sind, die unabhängig von den jeweiligen Eigenperspektiven und Vorgehensweisen über Wissenschaften hinweg gelten, sondern dass sie uneinheitlich sind und je nach Wissenschaftsbereich differieren, eröffnet für die empirische Linguistik die Notwendigkeit, die Gütekriterien an die Spezifik diskurslinguistischer Untersuchungen anzupassen und ihre Beachtung im Rahmen jeder empirischen Untersuchung zu gewährleisten. Dies ist eine Aufgabe, die in vielen empirischen und diskurssemantischen Arbeiten bisher vernachlässigt wurde. Für die linguistische Diskursforschung muss damit das bereits zwanzig Jahre alte Resümee von Ostner bestätigt werden, das sie seinerzeit für die qualitative Sozialforschung gezogen hat: Für die konventionellen sozialwissenschaftlichen Methoden sind Gütekriterien wie Gültigkeit und Zuverlässigkeit eingeführt, andere sind Generalisierbarkeit und Repräsentativität. Damit stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich diese Kriterien auch auf qualitative Verfahren anwenden lassen. Eine Beschäftigung mit diesem Problem ist bislang kaum erfolgt. (Ostner 1982: 71)

6

Lamnek (1995: 153). Vgl. auch Dzeyk/Groeben (2000).

147 In der qualitativen Sozialforschung ist dieses Desideratenproblem in der Zwischenzeit durch ausfuhrliche Bearbeitung behoben7. Überdies ist dort eine Diskussion gefuhrt worden, auf deren Ergebnisse sich die Diskurslinguistik stützen kann. Auch für diskurslinguistisch-lexikologische Untersuchungen ist es erforderlich, die Qualitätskriterien zu spezifizieren und die Fragen nach Gültigkeit, Zuverlässigkeit, Repräsentativität und Generalisierbarkeit klar zu beantworten. Die Frage nach der Gültigkeit oder Validität in der empirischen Diskursanalyse stellt sich hier wie auch in der qualitativen Sozialforschung in zweifacher Hinsicht: „einmal bei der Konstruktion geeigneter Erhebungssituationen und -methoden und ihrer Kontrolle, zum anderen bei der interpretativen Auswertung der gewonnenen Daten".8 Auch für die Diskurslexikologie sind dabei die wichtigsten Kriterien die Absicherung der Erhebungssituation gegen Verzerrungen und gegen zu starken Einfluss der subjektiven Perspektive und Präsenz der Forscher sowie die intersubjektive Überprüfbarkeit von Erhebung, Auswertung und Interpretation. Dies entspricht der Differenzierung in externe und interne Validität in der qualitativen Methodologie, wie sie Volmerg (1983) durchführt: Gültigkeit wird dabei in externe und interne Gültigkeit unterschieden. Unter externer Gültigkeit soll die Realitätshaltigkeit der Daten verstanden werden, die unter Anwendung bestimmter Erhebungsmethoden in einer bestimmten Erhebungssituation gewonnen werden. Die interne Gültigkeit bezieht sich auf die intersubjektive Überprüfbarkeit und damit die Zuverlässigkeit der Erhebung. (Volmerg 1983: 124)

Die Methoden, mit deren Hilfe interne und externe Validität in der qualitativen Forschung überprüft werden, lassen sich auch auf die vertikalitätsorientierten, diskurslexikologischen Erhebungsverfahren, deren methodologische Dimension Wichter (1994) beschrieben hat, beziehen. Das zeigt ein Blick auf zwei wichtige Methoden zur Validitätsprüfung qualitativ interpretativer Untersuchungen, die auch für kommunikative, diskurslinguistische Untersuchungsgegenstände herangezogen werden können: die ökologische und die argumentative Validierung.9

lethoden der Validierung expliziert: ökologische Validierung Gültigkeit im natürlichen Lebensraum der Untersuchten bzw. der Gruppe

148 Das Verfahren der ökologischen Validierung ist primär auf die Sicherung der externen Validität gerichtet und bildet den Kern dessen, was in der qualitativen Sozialforschung unter Gültigkeit oder Validität verstanden wird. In diesem Sinne bedeutet Validität „Gültigkeit im natürlichen Lebensraum der Untersuchten bzw. der Gruppe".10 Damit wird als wichtigstes Prinzip qualitativer Datengewinnung hervorgehoben, dass „gültige Informationen über interessierende Forschungsgegenstände und Untersuchungspersonen nur in deren natürlichem Lebensraum' gewonnen werden können, der möglichst wenig durch künstliche Versuchsanordnungen [...] eingeengt und entfremdet werden sollte".11 Für eine vertikalitätstheoretische Diskurslexikologie bedeutet die ökologische Validierung, dass die Erhebung von Quellenmaterial, etwa das Führen explorativer semantischer Interviews, möglichst nah an der Alltagsrealität der befragten Laien und Experten orientiert sein muss und dass die untersuchungsbedingten Verzerrungen so weit wie möglich zu minimieren sind. Die Wege, wie solche Verzerrungen minimiert werden können, hat Wichter (1994) für die verschiedenen Interviewformen als Erhebungsinstrument im Rahmen einer vertikalen Lexikologie, die eine vertikale Diskurslexikologie nutzen kann, dargelegt. Darüber hinaus lässt sich das Kriterium der ökologischen Validierung, das ja auf die realistische und möglichst verzerrungsarme Repräsentation der Forschungsgegenstände in einer Untersuchungsstichprobe gerichtet ist, in erweitertem Sinne auch auf schriftliche Quellen und Textsorten anwenden. Hier ist aus Validierungsperspektive darauf zu achten, dass der Diskurs, der untersucht werden soll, im Korpus angemessen repräsentiert ist, dass also die Repräsentation des Diskurses im Korpus den tatsächlichen gesellschaftlichen Kommunikations- und Wissensraum in seiner thematischen Bindung realistisch abbildet. Für eine diachron untersuchende vertikalitätstheoretische Diskursuntersuchung muss demnach sichergestellt werden, dass das Korpus, wie kommunikative Validiemng argumentative Validierung kumulative Validierung

Validierung an der Praxis 10 11

Absicherung der Ergebnisse von Interviewstudien durch erneutes Befragen der Interviewten Offenlegung der Vorannahmen und Interpretationsweisen des Forschers und argumentative Absicherung der Interpretationen Ein sukzessiver Prozess, in dessen Verlauf die eigenen Forschungsergebnisse in den wissenschaftlichen Kontext von Ergebnissen anderer Untersuchungen gestellt werden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt als richtig und gültig anerkannt sind. Transformation wissenschaftlicher Erkenntnisse in gesellschaftliche Praxis

Lamnek (1995: 165, Kursivdruck im Original). Lamnek (1995: 165, Hervorhebung im Original).

149 weiter unten näher erläutert wird, definierten Anforderungen an Öffentlichkeitscharakter, Diskurszugehörigkeit, Diachronieadäquatheit und Vertikalitätsadäquatheit gerecht wird. Die argumentative Validierung hingegen ist stärker auf die Sicherung interner Validität, also die intersubjektive Nachvollziehbarkeit von Erhebung, Auswertung und Interpretation, gerichtet. Sie besteht im Wesentlichen darin, dass der Interpret seine Vorannahmen transparent macht und seine Interpretation argumentativ absichert: Die „Argumentation" bildet das Vehikel des Validierungsprozesses. Indem sie regelgeleitet und nachvollziehbar ist, garantiert sie eine gewisse Intersubjektivität des Interpretationsergebnisses. (Lamnek 1995: 166, Hervorhebung im Original)

Dabei handelt es sich unverkennbar um eine hermeneutische Vorgehensweise, die stärker auf den Auswertungsprozess gerichtet ist als auf die Erhebungssituation. Für eine diskurslinguistische Untersuchung unterstreicht diese Validierungsforderung die Notwendigkeit, transparent zu machen, auf welche Weise ein Diskurs repräsentiert und analysiert werden soll. Konkret muss also intersubjektiv nachvollziehbar ausgewiesen werden, auf welcher Materialgrundlage und auf welche Weise die Dimensionen der Diskursprogression, der Diskursvertikalität und die der Diskurspersuasion bzw. -lenkung hergeleitet und untersucht werden. Das Gütekriterium der Zuverlässigkeit oder Reliabilität hat in der qualitativen Forschung einen deutlich anderen Charakter als der quantitative und genuin messtheoretische Reliabilitätsbegriff. Dieser quantitative Begriff von Reliabilität bezeichnet den Grad der Genauigkeit, mit dem eine bestimmte Methode bzw. ein bestimmtes Instrument einen Sachverhalt erfaßt, unabhängig davon, ob sie ihn zu erfassen beansprucht (eine ungültige Methode kann also durchaus zuverlässige Ergebnisse liefern). Es wird davon ausgegangen, daß sich jeder empirische Meßwert aus dem wahren Wert und dem Wert eines Meßfehlers zusammensetzt. (Lamnek 1995: 173)

Die schlichte Übertragung einer solchen naturwissenschaftlich definierten Vorstellung von Zuverlässigkeit bei der Erhebung und Auswertung empirischer Daten auf qualitative Untersuchungen wird von Vertretern einer qualitativen Methodologie als unzweckmäßig zurückgewiesen. Stattdessen wird angestrebt, an dieser Stelle das Konzept der Interpretationszuverlässigkeit zu verwenden, das Intersubjektivität ermöglicht, aber auf die numerisch definierte Reliabilitätsvorstellung der quantitativen Forschung verzichtet.12 Einige Forscher gehen, geprägt von der Auseinandersetzung zwischen quantitativer und qualitativer Forschung, noch weiter und fordern in direkter Absetzung

12

Vgl. Lamnek (1995: 173-178).

150 von einer quantitativen Methodologie neue „Standards der Wissenschaftlichkeit"13 für hermeneutisch-qualitative Forschung, etwa: -

Transparenz statt Objektivität: [d. h.,] die Offenlegung des Forschungsprozesses, statt der unerreichbaren Idealvorstellung nachzujagen, die Interaktion zwischen Forscher und Beforschtem [sei] messtechnisch zu neutralisieren;

-

Fidelität statt Validität: Die Güte der Daten wird in Bezug auf das zu lösende Problem beurteilt, statt in Bezug auf ein handlungsleitend und alltagssprachlich ungeklärtes Modell innerer, logischer Konsistenz;

-

Stimmigkeit statt Reliabilität: [d. h.„] die Vereinbarkeit von Zielen und Methoden der Forschungsarbeit statt Aufstülpung methodologischer Modelle;

-

Offenheit statt Variablenkontrolle: Angemessenheit gegenüber der Komplexität der sozialen Forschungssituation statt Verbieten möglicher alternativer Handlungsverläufe;

-

Diskurs statt Intersubiektivität: Forscher und Feldsubjekte interpretieren ihre Daten gemeinsam und hinterfragen Geltung, Hintergrund und Konsequenzen ihrer Ergebnisse, statt Vertrauen in die Fiktion der scientific Community zu haben. (Bogumil/Immerfall 1985: 71, Unterstreichungen im Original)14

Das methodologische Ziel dieser Gütekriterien, die für die Hermeneutik im Grunde schon seit Dilthey gelten, ist letztlich das Überwinden der Vertikalität zwischen wissenschaftlich methodologischer Forschungsexpertise und den alltags- und laiennahen Forschungsgegenständen. Das wird deutlich, wenn die Autoren betonen, die neuen Kriterien für Wissenschaftlichkeit und Forschungsqualität dienten dazu, „wissenschaftliche Reflexion und alltägliches Handeln zu vereinen". 15 Eine empirische Sprachwissenschaft kann sich keinem der beiden Lager exklusiv zuordnen. Sie benötigt Untersuchungs- und Messinstrumente, die je nach Gegenstand und Forschungsziel entweder für quantitative oder qualitative Auswertungen geeignet sind. So verwendet etwa die quantitative Linguistik überwiegend quantitative Beschreibungsmethoden und entwickelt eigene quantitativ basierte Instrumente zur Lösung ihrer Aufgaben 16 . Eine vertikalitätsorientierte Diskurslexikologie dagegen muss eher qualitativ hermeneutische Strategien verfolgen, da ihr Gegenstand sich rein quantitativer Analyse

13 14

15 16

Bogumil/Immerfall (1985: 71). Hier ist ein Diskurs als herrschaftsfreies Konsensverfahren im Sinne Habermas' gemeint. Zu dieser Form des gesteuerten Diskutierens in der Technikfolgenabschätzung vgl. die Beiträge in Nennen (2000). Bogumil/Immerfall (1985: 71). Zur Perspektive der quantitativen Linguistik vgl. Best (2001, 1999).

151 entzieht17. Daher ist für eine Diskurslexikologie das Kriterium der Interpretationszuverlässigkeit wertvoller als ein quantitativer Begriff von Reliabilität. Interpretationszuverlässigkeit im Rahmen einer diskurslinguistischen Untersuchung erfordert, dass die Korpusbildung, die Datenauswertung und ihre Interpretation transparent gemacht werden und insbesondere der Bezug dieser drei Dimensionen zu den zugrunde gelegten Forschungszielen belegt wird. Diskurstheorie und vertikale linguistische Diskursanalyse müssen eindeutig aufeinander bezogen sein. Die Konzentration auf das dritte Gütekriterium, das der Generalisierbarkeit (statt Repräsentativität), hat besonders in der Korpuslinguistik eine längere Tradition, denn die Frage nach der Repräsentativität von Korpora für die Gesamtsprache stellt eines der Grundprobleme der Korpuslinguistik dar. Lange war hier die Vorstellung leitend, es sei möglich und ihre Aufgabe, ein Korpus zusammenzustellen, das die Gesamtsprache und ihre Interdependenzen im Kleinen (als Korpus) und auch in den quantitativen Verteilungen exakt abbildet.18 Das hat sich in der Praxis als undurchführbar erwiesen, und so muss heute konstatiert werden: Inzwischen hat sich die Einsicht, dass es Repräsentativität in diesem Sinne nicht geben kann, weitgehend durchgesetzt. (Teubert 1998: 131)

Für die linguistische Untersuchung von Diskursen und die Frage der Repräsentativität von Diskurskorpora gilt zwar dasselbe, es ist aber nicht immer in der nötigen Klarheit formuliert, sodass im Einzelfall der Eindruck entstehen kann, diese Vorstellung existiere doch weiterhin. Dies verdeutlicht etwa der schwer nachzuvollziehende Sinneswandel bei Jung. In seiner Untersuchung zur Geschichte des Diskurses über die Atomenergie hat er mit Bezug auf Busse/Teubert (1994) völlig zu Recht betont: Die Totalerfassung eines öffentlichen Diskurses ist unmöglich. Die üblichen Auswahlverfahren nach Repräsentativitätsgesichtspunkten versagen, da diskursgeschichtliche Schlüsselbelege selbst durch ein sehr feinmaschiges Stichprobennetz zu fallen drohen. Berücksichtigt der Untersuchende umgekehrt nur Texte, die nach seinem Verständnis eines bestimmten Diskurses zentral sind, wird er lediglich das bestätigt finden, wovon er bereits vorher überzeugt war, bzw. eine reine Höhenkammanalyse machen. In beiden Fällen bleibt fraglich, ob sich die Ergebnisse über die untersuchten Texte hinaus verallgemeinern lassen, und welchen Aussagewert sie eigentlich haben. Bei diskursgeschichtlichen Untersuchungen hat man also in besonderem Maße die Subjektivität des eigenen Ansatzes in Rechnung zu stellen. (Jung 1994: 13)

17

18

Das schließt natürlich das Darstellen quantitativer Verteilungen (etwa von Lexemverteilungen in einem Korpus) mithilfe deskriptivstatistischer Beschreibungsformate nicht aus. Vgl. dazu Teubert (1998,1999).

152 Damit wird einer allzu schlichten Verallgemeinerungs- und Repräsentativitätsforderung eine Absage erteilt. Leider scheint Jung (1996) von dieser überzeugenden Position abzurücken, wenn er später, ohne weitergehende Erläuterung, für diskursgeschichtliche Untersuchungen betont: Ich möchte hier im Unterschied zu Busse/Teubert an einem quantitativen Verständnis von Repräsentativität festhalten. (Jung 1996: 463)

Dabei klingt an, dass es möglicherweise doch Wege gäbe, sich auch in quantitativer Hinsicht gesicherter Verfahren zu bedienen, um ein Diskurskorpus aufzubauen, das als eine Art verkleinertes Abbild des Diskurses selbst in einer messbaren Repräsentativbeziehung zum Diskurs steht. Sollte Jung hier tatsächlich auf eine quantitativ messbare Repräsentativität rekurrieren, die sich im Sinne der mathematischen Stichprobentheorie mit Hilfe von Algorithmen zur Zusammenstellung von Zufalls-, Klumpen- oder Schichtenstichproben herstellen lässt,19 so ist das eine Fiktion. Eine solche Repräsentativität zwischen Korpus und Diskurs herzustellen, halte ich schon deshalb für undurchführbar, weil die Vielzahl der potenziell zur Grundgesamtheit zu rechnenden Varietäten kaum zu integrieren sein wird und weil diese Grundgesamtheit überdies den Status eines heuristischen Begriffs für einen öffentlichen Wissens- und Sprachhandlungsraum hat. Die Grenzen des Diskurses können daher im forschungspraktischen Einzelfall (zur Herstellung von quantitativer Repräsentativität des Korpus für den Diskurs) nicht mit hinreichender Klarheit und Trennschärfe gezogen werden. Einen Ausweg aus dieser Situation bietet auch das Verfahren Jägers nicht, der an die Stelle des Diskursbegriffes seinen Begriff vom „Diskursstrang"20 setzt und nun dessen vollständige Erfassung zum methodologischen Postulat erhebt. Ohne klare Grenzen der Grundgesamtheit und ohne mathematisch bestimmbare Kriterien der Stichprobenziehung ist eine quantitativ berechenbare Repräsentativität der Beziehung zwischen Korpus und Diskurs nicht denkbar. Auch die unerlässliche Forderung an ein Stichprobengewinnungsverfahren, dass jedes Element der Grundgesamtheit die gleiche Chance haben muss, in der Stichprobe vertreten zu sein, scheint mir nicht zuletzt wegen der Vielzahl der Varietäten kaum umsetzbar zu sein. Dies ist aber kein Defizit der Diskurslinguistik! Vom Mythos von der Repräsentativität eines Korpus (für einen vollständigen Diskurs) kann sich eine linguistische Diskursanalyse verabschieden, ohne dass es zu Nachteilen führt, weil eine solche statistische Messbarkeit der quantitativen Repräsentativitäts-

19

20

Zur mathematischen Stichprobentheorie und den praktischen Aspekten der Anwendung der Verfahren vgl. Leiner (1994). Jäger (1999/a: 204-214).

153 beziehung zwischen Diskurs und Korpus für eine diskurs- und sprachgeschichtliche Untersuchung entbehrlich ist. Denn das quantitative Ziel, das bei der Ziehung von Stichproben, die jeweils für eine Grundgesamtheit quantitativ repräsentativ sind, verfolgt wird, ist ein völlig anderes als das einer diskurslinguistischen Analyse. Es kann einer linguistischen Analyse nicht primär darum gehen, den Diskurs und all seine internen Qualitäten in nuce, und quantitativ repräsentativ, abzubilden. Nur dafür wäre eine Repräsentativerhebung von Diskursformationen notwendig. Einer Diskurslexikologie geht es um die Analyse der kommunikativen Phänomene, der Wortschatzphänomene und ihrer Regeln, d. h., die Diskurslexikologie stellt grundlegende Prozesse, Lexikalisierungsvorgänge und Sprachhandlungsphänomene ins Zentrum ichres Blickfeldes. Dabei ist die Qualität der hermeneutischen Durchdringung entscheidend und nicht die Frage, ob die gewonnenen Muster in exakt gleicher quantitativer Verteilung auch in der Grundgesamtheit auftreten. Auch die Analyse eines (mit Blick auf die Untersuchungsinteressen) valide und reliabel zusammengestellten Diskurskorpus, dessen quantitative Repräsentativität für die Grundgesamtheit des Diskurses nicht nachweisbar ist, erbringt entscheidende und wichtige Ergebnisse zum Verständnis der kommunikativen Formierungen des Diskurses. Dies scheint mir, wie in jeder hermeneutischen Untersuchung, das entscheidende Ziel zu sein und daher ist es legitim, für Generalisierungen in der Diskurslinguistik keine quantitativen, sondern qualitative Maßstäbe anzulegen. Bevor nun die Möglichkeiten qualitativer Generalisierung erörtert werden, sei noch einmal der qualitativ hermeneutische Charakter einer diskurslexikologischen und diskursgeschichtlichen Untersuchung betont: Die Korpuszusammenstellung, Auswertung und exemplarische oder generalisierende Übertragung von korpusbasierten Analyseergebnissen auf einen Diskurs sind Akte der Interpretation. Dies gilt natürlich auch, wenn die im Diskurskorpus nachweisbaren Häufigkeiten und Verteilungen mithilfe der Deskriptivstatistik abgebildet werden. Die Frage, ob diese Verteilungen dann ein quantitativ exaktes Spiegelbild der Verhältnisse im Diskurs bieten, hat dagegen keine so große Bedeutung und ist aufgrund fehlender methodischer Möglichkeiten auch nicht zweifelsfrei zu beantworten. Besonders darf beim Einsatz despkriptivstatistischer Beschreibungen von Verteilungen im Korpus nicht der Eindruck erweckt werden, eine Diskurslexikologie verfüge über abgesicherte quantitative Inferenzverfahren, die es ermöglichten (über die deskriptivstatistische Darstellung bestimmter Verteilungen im Korpus hinausgehend), einen quantitativ-repräsentativen statistischen Zusammenhang zwischen den Verteilungen im Diskurskorpus und den Verteilungen im Diskurs selbst festzustellen. Jede Übertragung von Ergebnissen der Korpusanalysen auf den gesellschaftlich stattfindenden Diskurs muss, im Sinne interner und externer Validität, durch argumentative Validie-

154 rung, also durch überzeugende und nachvollziehbare Interpretationsleistung hergestellt werden. So kann in einer korpusbasierten, diskurslinguistischen Untersuchung Reliabilität im Sinne von Interpretationszuverlässigkeit hergestellt werden, ohne auf den unrealistischen Anspruch quantitativ messbarer Repräsentativität zugreifen zu müssen, auf den eine Diskurslexikologie wegen fehlender methodischer Absicherungsmöglichkeiten nach wie vor verzichten muss. Das bedeutet jedoch nicht, dass eine Korpusuntersuchung durchgängig auf generalisierende Übertragungen verzichten muss. Wenn die Gütekriterien der Validität und der Reliabilität (Interpretationszuverlässigkeit) im Rahmen einer Untersuchung eingelöst sind, ist es zweckmäßig und nicht nur in den Geisteswissenschaften etabliert und akzeptiert, die Möglichkeit der exemplarischen Verallgemeinerung 21 zu nutzen. Einige Aspekte der exemplarischen Verallgemeinerung, die an die Stelle des nicht einlösbaren Repräsentativitätsanspruches treten muss, sind für eine empirische Diskurslinguistik besonders bedeutsam 22 . Das gilt hauptsächlich für die folgenden Charakteristika, die von Lamnek und Kudera für die qualitative Sozialforschung akzentuiert werden: Exemplarische Verallgemeinerung durch Typenbildung

„Statt der statistischen Repräsentativität geht es qualitativer Sozialforschung um das Typische; das schließt Formen der Typenbildung (Idealtypen, Extremtypen, Prototypen, wichtige Typen) ein." (Lamnek 1995: 192, Kursivdruck im Original) „Dies impliziert eine Entscheidung gegen den Zufall Auswahl statt und für eine theoretische systematische Auswahl." Zufall (Lamnek 1995: 192, Kursivdruck im Original) Allgemeines im „Ziel der Typenbildung ist - im Unterschied zum Besonderen Repräsentativitätskonzept - nicht die Übertragung von Begrenztem auf Allgemeines, sondern das Auffinden von Allgemeinem im Besonderen." (Kudera 1989: 12) Repräsentation „Generalisierung soll durch typische Fälle und nicht statt durch viele zufallige Fälle ermöglicht werden; Repräsentativität Typenbildung im Sinne von Repräsentanz (nicht Repräsentativität im statistischen Sinne)." (Lamnek 1995: 192, Kursivdruck im Original) Abstraktion auf das „Im Fall der Generalisierungen in quantitativer Wesentliche Forschung wird die Verallgemeinerung vollzogen durch 'einen bedingten Rückschluß vom Teil aufs 21 22

Vgl. Lamnek (1995: 192). Eine ausführliche Besprechung der Generalisierbarkeit in Abgrenzung zum Konzept der Repräsentativität liefert Lamnek (1995: 187-192).

155

Generalisierende Existenzaussagen

Ganze', im Fall qualitativer Forschung dagegen 'durch Abstraktion aufs Wesentliche'."(Kudera 1989: 12, Hervorhebungen im Original) „Generalisierungen können vor allem im Sinne von Existenzaussagen („Es gibt ") vorgenommen werden." (Lamnek 1995: 193, Kursivdruck im Original)

Diese Pointierungen zur exemplarischen Generalisierung durch Typenbildung zeigen, dass hier im Gewand der sozialwissenschaftlichen Methodologie geisteswissenschaftliche Vorgehensweisen aktiviert worden sind, derer sich eine empirische Diskurslexikologie bevorzugt bedienen kann, um korpusbasiert generalisierende Aussagen über ihren kommunikativen Untersuchungsgegenstand zu machen.

7.3

Inhaltliche und technische Anforderungen an ein vertikales Diskurskorpus

Führt man die bisher besprochenen methodologischen und korpuslinguistischen Aspekte und Erfahrungen zusammen, lassen sich für die folgende Untersuchung des Computerdiskurses bei Verzicht auf einen quantitativen Repräsentativitätsanspruch die wichtigsten inhaltlichen und technischen Anforderungen an ein vertikales Diskurskorpus präzisieren. Die Basis für eine vertikalitätsorientierte diachrone Untersuchung von Diskursen, insbesondere des Computerdiskurses, und der Sprach- und Wortschatzentwicklung im Rahmen öffentlicher Diskurse erfordert die Zusammenstellung eines vertikalen Diskurskorpus, das die drei Dimensionen der Diskursprogression, -vertikalität und -persuasion adäquat repräsentiert. Um den methodologischen Gütekriterien der Gültigkeit und Zuverlässigkeit zu entsprechen, muss es aus relevanten Quellen- und Textsorten zusammengestellt werden, die den folgenden Anforderungen gerecht werden: Öffentlichkeitscharakter. Das Korpus muss relevante Textsorten integrieren, die öffentlich zugänglich sind, also einen breiten gemeinsprachlichen Adressatenkreis abdecken. Hier werden mit Zeitungen, Zeitschriften und Plenarprotokollen Textsorten verwendet, die in schriftlicher Form vorliegen, auch wenn ein Teil der zugrunde liegenden Texte ihren Öffentlichkeitsstatus durch Verlesen (im deutschen Bundestag) erhalten hat. Sowohl für die Pressetexte als auch für die Parlamentstextsorten ist der Öffentlichkeitsstatus konstitutiv.

156 Diskurszugehörigkeit: Das Korpus muss Texte integrieren, die dem Computerdiskurs zweifelsfrei zugeordnet werden können. Dabei stellt sich die Frauge, inwieweit ein Text einem Diskurs zugeordnet werden kann. Generell wird im Rahmen dieser Untersuchung jeder Text zum Computerdiskurs gezählt, in dem die Computertechnologie oder eines ihrer Elemente thematisiert wird. Damit der Thematisierungsgrad sichtbar wird, ist beim vorliegenden Material über eine vierfache Indizierung bestimmt worden, ob es sich bei der jeweiligen Thematisierung der Computertechnologie um das zentrale Thema oder eine Aspektthematisierung im Rahmen eines anderen Themas handelt. Dazu werden die folgenden vier Thematisierungsstufen angesetzt: 1) Die Computertechnologie als Ganzes ist Hauptthema eines Textes. 2) Die Computertechnologie als Ganzes ist Nebenthema eines Textes. 3) Ein Aspekt der Computertechnologie ist Hauptthema eines Textes. 4) Ein Aspekt der Computertechnologie ist Nebenthema eines Textes. Diese Indizierung wird im Rahmen der Analyse der Diskursprogression näher ausgeführt. Sie ist notwendig, um bei den Korpustexten die Nähe zum Diskurszentrum auszuweisen. Auf der Ebene des Einzeltextes bedeutet das, zu überprüfen, ob die Computertechnologie im Zentrum eines Textes steht, oder ob nur ein Aspekt der Technologie im Rahmen anderer Themen dargestellt oder erwähnt wird. In das Diskurskorpus werden primär Texte aufgenommen, in denen die Technologie oder eine ihrer Anwendungen zentral thematisiert werden. Vertikalitätsadäquatheit: Wenn die Wortschatzvertikalität im Computerdiskurs durch das Korpus analysierbar werden soll, dann muss das Gesamtkorpus nach Expertennähe und -ferne bzw. Laiennähe und -ferne geschichtet werden. Dies muss schon bei der Auswahl der Textsorten und Texte, die inkorporiert werden, berücksichtigt werden. In den meisten Fällen ist dies durch die Kombination von fachlichen oder expertennahen Textsorten einerseits und popularisierenden Textsorten andererseits erreichbar23. Diachronieadäquatheit: Diachronieadäquatheit bedeutet im Rahmen der Zusammenstellung eines Korpus für die Analyse eines Technologiediskurses zumindest zweierlei. Zum einen: Wenn ein Korpus geeignet sein soll, die Sprachgeschichte eines Diskurswortschatzes darzustellen, muss bei der Auswahl der Texte darauf geachtet werden, dass die Entwicklungsphasen des Diskurses durch Einbeziehung langlebiger Textsorten adäquat repräsentiert werden. Es sollte möglich sein, einen Längsschnitt der Diskursentwicklung auf der Basis je einer Textsorte durchzufuhren.

23

Dies zeigen die Korpuszusammenstellungen etwa bei Busch (1994) und Busch/ Wichter (2000). Zu den Anforderungen an ein elektronisches Diskurskorpus vgl. Petersen (2000: 15-16).

157 Zum anderen muss das Korpus bei der Untersuchung von Technologiediskursen ermöglichen, die diachrone Entwicklung von Diskurs und Sprache mit den Entwicklungen der zugrunde liegenden Sachgeschichte in Verbindung zu setzen. Insbesondere für den Computerdiskurs gilt in hohem Maße: Die fachexterne Sprachgeschichte folgt der Sach- und Produktgeschichte. Diachronieadäquatheit bedeutet also hier, dass das Korpus so zusammengestellt werden muss, dass Sprachgeschichte und Technologiegeschichte aufeinander abgebildet werden können. Für die Analyse der Diskursprogression, der Diskurslexik und -vertikalität bedeutet das, die Korpusbelege müssen so systematisiert werden können, dass die Wortschatzentwicklung und die thematische Progression vor dem Hintergrund der Technologieentwicklung nachgezeichnet werden können. Aus diesen inhaltlichen Forderungen an ein vertikales Diskurskorpus ergeben sich ähnliche Konsequenzen, wie sie sich auch bei der Erstellung eines Diskurskorpus in Busch/Wichter (2000) als grundlegend herausgestellt haben.24 Ein Korpus, das den inhaltlichen Forderungen genügt, einen relevanten Ausschnitt aus dem Computerdiskurs valide repräsentiert und einer interpretationsreliablen Auswertung zugänglich macht, muss zur Bewältigung des meist großen Umfanges und zur einfacheren Bearbeitung in den wesentlichen Teilen als elektronisches Korpus vorliegen. Im Einzelnen muss ein elektronisches Diskurskorpus wichtige Anforderungen erfüllen, die in der nachfolgenden Tabelle skizziert sind. Formatunabhängigkeit

Allgemeines Text-Retrieval Zuordnung von Ausdrucks- und Inhaltsschema Tagging

24

Es muss die relevanten Texte, die als dem Diskurs zugehörig bewertet werden, aus beliebigen Quellen zur Auswertung bereitstellen, d. h., sowohl eingescanntes Papier-Quellenmaterial, HTML-Texte und Texte aus CD-ROM-Ausgaben von Zeitungen und Zeitschriften müssen ebenso integriert und auf eine einheitliches Format gebracht werden können wie auch die elektronischen Versionen der Parlamentsprotokolle. Das Korpus muss ein differenziertes Text-Retrieval über die Textsortengrenzen hinweg ermöglichen. Es muss möglich sein, den Wortschatz auf die Kategorien eines zugrunde gelegten Sachschemas abzubilden, um die Besetzungstypik und die Zugehörigkeit des Wortschatzes zu Vertikalitätsniveaus zu bestimmen. Die Kodierung für linguistische Basiskategorisierungen muss möglich sein, z. B. Wortbilung, Entlehnung, Tropik usw.

Vgl. Petersen (2000).

158 Diachronie

Die Diachronie der Quellentexte muss an jeder Stelle des Bearbeitungsganges sichtbar bleiben können. Kontextstabilität Das Korpus muss ko- und kontextstabil sein, d. h., es muss an jeder Stelle des Bearbeitungsganges relevante Ko- und Kontexte zur Verfugung stellen können. Zukunftsoffenheit Ein elektronisches Diskurskorpus muss zukunftsoffen sein, d. h., sicherstellen, dass zukünftig die diachrone Analyse weitergeführt werden und aktuelles Material integriert werden kann.

8

Ein Modell zur Analyse des Computerdiskurses

8.1

Integrative Heuristik zur Analyse von Diskursprogression, Diskurspersuasion und Diskursvertikalität

Die gemeinsprachliche Verarbeitung der Computertechnologie hat schon früh die Aufmerksamkeit von Sprachwissenschaftlern auf sich gezogen, 1 und so hat Leo Weisgerber bereits 1969 betont: Bei der Gewohnheit, ein vergangenes Jahr nach Gegenständen zu nennen, die auffallig in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückten, wäre es durchaus denkbar, daß unter den Kennzeichen des Jahres 1968 einmal der Durchbruch der Datenverarbeitung im Allgemeinbewußtsein erschiene. Nicht als ob vorher nichts davon über die Fachkreise hinausgedrungen wäre. Aber das, was zunächst mehr als Domäne besonderer wissenschaftlicher oder technischer Arbeitsgebiete erschienen war, erreichte nun - gewiß seit Jahren vorbereitet - in raschen Schüben die Öffentlichkeit. [...] Auf jeden Fall kann man mit Augen sehen, wie im Laufe des Jahres 1968 nach allen Seiten der Computer Raum gewinnt. (Weisgerber 1969: 67 - 68) Im Folgenden wird nun untersucht, (1) wie die Computertechnologie seit Beginn ihrer Popularisierung im öffentlichen gemeinsprachlichen Diskurs verarbeitet wird, (2) wie sich Sprach- und Diskursgeschichte der Computertechnologie abhängig von der Technologiegeschichte entwickelt haben, und (3) zu welchen lexikalischen Veränderungen in der Gemeinsprache die Computertechnologie bis heute geführt hat. Die Untersuchung wird auf der Grundlage eines integrativen Modells vorgenommen, mit dessen Hilfe die ermittelten Theoriedimensionen (Diskursprogression, lexikalische Diskursvertikalität und Diskurspersuasion) operationalisiert und zu einer Heuristik zusammengeführt werden. Zur Etablierung einer theorie- und empirieadäquaten Untersuchungsmethode, die eine trenn-

Erste Linien der Ausbreitung des Computer-Wortschatzes in die Gemeinsprache hat Wichter (1991, 1992) umrissen. Zur Fachsprache der Informatik vgl. Wichter (1998). Eine Bestandsaufnahme der Versprachlichung der Technologie im öffentlichen Diskurs im Jahre 1998 ist in den Beiträgen in Busch/Wichter (2000) vorgenommen. Wie außerordentlich groß bis heute das Forschungsinteresse zum Thema „Sprache und Computer" ist, zeigt die Auswahlbibliographie in Busch (2000/c), die allein für den Zeitraum von 1990 bis 2000 und bei starker Einschränkung auf Titel, die nur den kommunikativ-sprachlichen Aspekt untersuchen, 560 Titel verzeichnet.

160 scharfe Analyse der zu untersuchenden Phänomene gewährleisten muss, ist es erforderlich, methodologische Grundlagen der Diskursanalyse, der Korpuslinguistik und der vertikalen Lexikologie zusammen zu fuhren, detailliert zu begründen und exakt auf die Analyse der Diskursprogression, Diskurspersuasion und Diskursvertikalität im Computerdiskurs auszurichten. Die Konzentration zumindest auf diese drei Ebenen ist unerlässlich, weil eine adäquate Beschreibung des fachexternen, öffentlichen Computerdiskurses von den Anfängen in den 1960-er Jahren bis zum Jahr 2000 die thematische Entwicklung und die Wortschatzentwicklung ebenso nachzeichnen muss, wie sie auch die vertikale Differenzierung in Experten-Laien-Wortschatzniveaus und die öffentlich generierten Technologieleitbilder in den Blick nehmen muss. Besonders die Ausbreitung des Wortschatzes in die Gemeinsprache und die öffentliche Projektion von Wünschbarem, Machbarem und zu Vermeidendem auf die Computertechnologie bringen die Veränderungen mit sich, die über den öffentlichen und fachexternen Diskurs hinaus als Wandelphänomene der Gegenwartssprache sichtbar werden. Diese Phänomene, die z. B. als Technologietopoi fassbar werden, gilt es zu erfassen. Zur Fundierung der sprachgeschichtlichen Aussagekraft benötigt ein solches Unternehmen eine breite Datengrundlage, d. h., es müssen zeitgeschichtliche Quellen ausgewertet werden, die außerdem eine vertikale Kontrastierung ermöglichen. Dazu muss die Untersuchung auf besonders langlebige öffentliche Textsorten mit überregionaler Verbreitung gestützt werden. Deshalb wird der Computerdiskurs der vergangenen 35 Jahre in parlamentarischen Textsorten untersucht und für denselben Zeitraum mit dem popularisierten Wortschatz im Magazin STERN verglichen. Diese Textsorten, deren Relevanz fur die Verwendung beim Aufbau eines vertikalen Diskurskorpus detailliert begründet werden muss, werden zu einem vertikalen Diskurskorpus zusammengestellt, das aus einem Parlamentsund einem Pressekorpus besteht. Im Rahmen einer solchen Untersuchung der Wortschatz-, Themen- und Diskursgeschichte des öffentlichen Computerdiskurses ist aus der Perspektive einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie auch zu zeigen, inwieweit die Grundeinheiten des Diskurses und die Formationsregeln in öffentlichen Diskursen einer vertikalen Niveaugliederung zwischen Experten- und Laienniveaus unterliegen. Die wichtigsten Dimensionen, die bei der Untersuchung des Computerdiskurses betrachtet werden müssen, sind daher: • die Abhängigkeit der Diskursgeschichte von der Technologiegeschichte (Entwicklung und Steuerung der Technologie), • die Einbettung des Wortschatzes in den Entwicklungsverlauf parlamentarischer und printmedialer, öffentlicher Diskurse über die Computertechnologie,

161 •

die Popularisierung des computerbezogenen Expertenwortschatzes in der Parlaments- und Illustriertenkommunikation bei der sprachlichen Aufbereitung der Technologie für eine Laienöffentlichkeit, • die persuasive Verwendung und konnotative Aufladung dieser Lexik. Der Computerwortschatz hebt sich in der parlamentarischen sowie in der Pressekommunikation als fachsprachlich begründeter Wortschatz sowohl von der gemeinsprachlichen Lexik als auch vom politischen Wortschatz2 ab, auch wenn er in Verbindung mit beiden Varietätentypen verwendet wird. Zwar handelt es sich dabei um einen vertikal variierten Wortschatz, der seinen Ursprung im informationstechnischen Fachwortschatz hat, aber seine Bindung an die informatische Fachlexik bedeutet nicht, dass er im öffentlichen Gebrauch auch den fachlichen Verwendungsbedingungen, Konzeptualisierungen oder gar einer terminologischen Systematik folgt. Im Gegenteil: Wird der Computerwortschatz im Parlament und in Printmedien verwendet, folgt er nicht den Gesetzen des Faches, sondern primär denen des jeweiligen Diskurses. Wortbildung, Wortschatzauswahl, Frequenz, Funktion und die thematische Einbindung sind durch die Positionierung und Zweckbindung im Diskurs bestimmt. So spiegeln sich in der gemeinsprachlichen Verarbeitung der Computerlexik die Technologieentwicklung und -expansion sowie die soziale Adaptation der Technologie. So wird der fachexterne Diskurs zur Triebfeder des lexikalischen Wandels, denn erst die diskursive Verwendung ermöglicht die gemeinsprachliche Lexikalisierung des Computerwortschatzes.

8.2

Operationalisierungen zum Computerdiskurs

Wie sind nun die erörterten Fragestellungen zu bündeln und diskurslexikologisch so zu operationalisieren, dass die korpusbasierte Untersuchung des Computerdiskurses den Gütekriterien der Validität und Reliabilität entspricht und auf der Grundlage der Korpusanalyse auch generalisierende Aussagen zum Computerdiskurs möglich werden? Dazu sind drei Operationalisierungs- und Bündelungsschritte erforderlich: 1) die Präzisierung der spezifischen erkenntnisleitenden Fragestellungen für den Untersuchungsbereich, d. h. für jede der drei diskurstheoretischen Dimensionen,

2

Zur Analyse des politischen Wortschatzes vgl. Klein (1998/a, b, 1991/a, b, 1989), Diekmannshenke/Klein (1996), Burkhardt (1996), Herrmanns (1994), Niehr (1993), Kaempfert (1990), Strauß (1986), Dieckmann (1975).

162 2)

die Explikation und Begründung der Analysemethode für die jeweilige Untersuchungsdimension {Diskursprogression, Diskursvertikalität und Diskurspersuasion) 3) die Explikation der datentechnischen Realisierung des Untersuchungsganges.

8.2.1

Spezifisches Erkenntnisinteresse im Computerdiskurs

Bezieht man die hier aufgeworfenen Perspektiven und Fragestellungen zum Computerdiskurs auf das spezielle Erkenntnisinteresse einer vertikalitätstheoretischen Diskurslexikologie und ihre Dimensionen, die eingangs in der Diskussion der Diskurskonzeption Foucaults und der Verarbeitung seiner Theorie in kultur-, literatur- und sprachwissenschaftlichen Diskurstheorien gewonnen wurden, lassen sich die folgenden Zuordnungen treffen: Untersuchungsdimension

Erkenntnisinteresse •

Diskursprogression •

Diskurspersuasion •



• Diskurswortschatz/Diskursvertikalität

• •

Welche thematischen Entwicklungen, Differenzierungen und Expansionen kennzeichnen den Verlauf des Computerdiskurses im deutschen Bundestag in Abhängigkeit von der Technologieentwicklung von 1963 bis zum Jahr 2000? Welche für Diskursabschnitte typischen Technologietopoi werden im Diskursverlauf generiert, und welche zugeordneten Machbarkeits-, Wünschbarkeits- und Vermeidbarkeitsvorstellungen in den Technologiewortschatz projiziert? Verändern die Topoi ihre Frequenz im Laufe des Diskurses? Welche treten neu auf und welche verschwinden aus der Debatte? Welcher Wortschatz wird in den aufeinander folgenden Diskursphasen zur Nomination der Computertechnologie herangezogen? Wie ist dieser Computerwortschatz semasiologisch und onomasiologisch organisiert? In welcher Weise verändert er sich im Verlauf des Diskurses, also von Diskursphase zu Diskursphase? In welcher Weise verändert sich der Computerwortschatz im Verlauf seiner Popularisierung und auf welchen vertikalen Wortschatzniveaus wird er verwendet?

163 8.2.2

Instrumente zur Analyse der Diskursprogression Computerdiskurs

im

Ziel der Untersuchung der thematischen Progression ist es, die Ausbreitung des Themenspektrums im parlamentarischen Computerdiskurs zu analysieren. Durch diese Untersuchung der Themenprogression über nahezu vierzig Jahre hinweg sollen die Bezüge zwischen öffentlicher, gesellschaftlicher Adaptation und der Versprachlichung der Computertechnologie, ihre jeweils unterschiedliche Bezeichnung (von der EDV zur Informations- und Kommunikationstechnologie) und die parlamentarischen Thematisierungsanlässe deutlich werden. Eine Bestandsaufnahme der thematischen Diskursentwicklung muss dabei berücksichtigen, dass zwischen der ersten parlamentarischen Erwähnung der Computertechnologie am 4. Dezember 1963 und den ausführlichen Debatten zu Informationsgesellschaft, Internet und Multimedia um die Jahrhundertwende eine enorme Expansion des zugehörigen Themenspektrums liegt. Sie geht einher mit einer umfangreichen Erweiterung des Wortschatzes, mit dem die neue Technologie sowohl in der öffentlichkeitsabgewandten Sacharbeit, dem Arbeitsparlament, als auch in der öffentlichen Parlamentsdarstellung, dem Redeparlament, versprachlicht wird 3 . Die Thematisierungslinien des Arbeitsparlamentes sind zahlreicher und bilden den Hintergrund für die öffentlichkeitswirksamen Thematisierungen im Redeparlament. Damit dieser Konnex sichtbar bleibt, wird im ersten Schritt der Untersuchung der parlamentarischen Thematisierungen noch nicht zwischen denen des Arbeits- und denen des Redeparlamentes getrennt. Die Bestandsaufnahme soll zunächst die Thematisierungsbreite in Rede- und Arbeitsparlament übergreifend erfassen. Erst in einem weiteren Schritt wird dann auf zentrale Thematisierungen der Computertechnologie im Redeparlament fokussiert, die für deren öffentliche Darstellung wesentlich sind. Deshalb werden zur Analyse der thematischen Entfaltung des Computerdiskurses die parlamentarischen Thematisierungen der Computertechnologie im Zeitraum von 1963 bis zum Jahr 2000 zunächst unabhängig davon erfasst, in welche der parlamentarischen Textsorten- und Kommunikationszusammenhänge die Thematisierung eingebettet ist4. Die sich anschließende Diskussion von Schlüsseldebatten des Computerdiskurses der einzelnen Diskurs-

3

4

Zur Differenzierung von Arbeitsparlament und Redeparlament vgl. Patzelt (1998/b) und Zimmermann (1997: 271-277). Die diskursive Relevanz beider Bereiche wird in Kapitel 9.1.3 näher erläutert. Die wichtigsten parlamentarischen Textsorten sind, wie in Kapitel 9 detaillierter beschrieben, Plenarprotokolle (Redeparlament), Plenardrucksachen (Arbeitsparlament), Plenar-Beschlussprotokolle sowie Gesetz- und Verordnungsblätter (Arbeitsparlament).

164 phasen und die nachfolgende Wortschatzuntersuchung fokussieren dann stärker auf die im Deutschen Bundestag öffentlich vorgetragenen Reden zur Computertechnologie. Sie beziehen sich ausschließlich auf das Redeparlament. Diese ergänzende Fokussierung auf die Thematisierungen im Redeparlament ist notwendig, weil Bundestagsreden im Gegensatz zur Sacharbeit in aller Regel auf direkte Akzeptanz beim Publikum gerichtet sind und, besonders wenn es darin um technologische Sachverhalte geht, auch zum Ziel haben, den Redner im jeweiligen Technologiebereich als Experten darzustellen. Diese Stilisierung des jeweiligen Politikers zum Technologieexperten hat für die Wahrnehmung der Technologie durch ein Laienpublikum weit reichende Wirkungen als die parlamentsinterne Sacharbeit, die von einer breiten Öffentlichkeit meist nicht wahrgenommen wird. Somit ist das Redeparlament das öffentliche Aushängeschild des parlamentarischen Computerdiskurses. Die so zu analysierende thematische Entwicklung des parlamentarischen Computerdiskurses ist derart vielschichtig und verästelt, dass zum Nachvollzug der zentralen Entwicklungslinien zumindest drei Schritte notwendig sind. Untersucht werden müssen daher die: • • •

Progression der Thematisierungsfelder, Progression zentraler Einzelthemen innerhalb dieser Felder, wichtigsten Schlüsselthematisierungen für die einzelnen Diskursphasen. Im ersten Schritt, der Untersuchung der Progression der Thematisierungsfelder, wird die thematische Entwicklung mit der Computertechnologie abgeglichen. Der Blick richtet sich so, gewissermaßen aus dem Diskurs heraus, auf die Technologie. Ausgehend von der Leitfrage, „Welche Aspekte der Computertechnologie werden zum Gegenstand im Parlament?" werden die relevanten technologischen Themenfelder identifiziert und ihre Entwicklungen analysiert. Dabei wird sichtbar, welche Segmente und Aspekte der Computertechnologie zu welcher Zeit jeweils den Computerdiskurs im Parlament bestimmt haben, ob sie durchgängig oder punktuell thematisiert wurden, oder aber nach einer Thematisierungspause wieder aufgenommen worden sind. Um die Frage zu beantworten, welche Aspekte der Computertechnologie im Zeitverlauf zum Diskursgegenstand im Parlament werden, muss die Vielfalt der konkreten Einzelanlässe und thematischer Stränge gebündelt werden, damit eine thesaurusartige Übersicht möglich wird. Im zweiten Schritt geht es um die Untersuchung der Progression der Einzelthemen: Hier muss geklärt werden, mit welchen Themen und Fragestellungen sich der Bundestag im Rahmen der relevanten Thematisierungsfelder im Einzelnen beschäftigt hat. Die Leitfragen sind hier: • Welche Einzelthemen sind auf den Thematisierungsfeldern angesprochen? • Was ist der Thematisierungsanlass? • Aus welchem Grund wird ein bestimmtes Technologiesegment thematisiert?

165 Die Abbildung verdeutlicht den Zusammenhang:

Im dritten Schritt sind die Schlüsselthematisierungen einer Diskursphase genauer zu untersuchen. Dabei muss überprüft werden, in welcher Art und Wiese die Computertechnologie und ihre sozialen Auswirkungen kommunikativ verarbeitet werden. Die Aussagen dazu müssen mit Korpuszitaten belegt werden, damit die diskursiven Zusammenhänge anschaulich werden. Bei dieser Vorgehensweise wird schnell deutlich werden, wie überaus breit das thematische Spektrum des Computerdiskurses im deutschen Parlament angelegt ist, und wie sehr im parlamentarischen Diskurs zeitversetzt die vielfaltigen Aspekte, Zusammenhänge und Relevanzstufen der gesellschaftlichen Einbettung der Technologie gespiegelt werden. Daher öffnet sich bereits in der Anfangsphase ein reiches und schwer überschaubares Spektrum diskursiver Verarbeitung, das im Verlauf der späteren Diskursphasen bis zu einer Art Themenexplosion expandieren wird. Dennoch ist eine Bestandsaufnahme der wichtigsten Thematisierungslinien des Computerdiskurses unerlässlich, wenn sichtbar werden soll, welche Aspekte der Computertechnologie in der jeweiligen Diskursphase für eine Thematisierung im Parlament relevant waren. Quellenlage\ Die thematische Fülle kann durch die Diskursphasen hindurch nur überschaubar gemacht werden, wenn das zentrale Hilfsmittel der Parlamentsdokumentation als Quelle herangezogen wird, der Parlamentsthesaurus (PARTHES). Er erfasst zu Dokumentationszwecken neben vielen anderen auch die Thematisierungen der Computertechnologie mithilfe eines sukzessive gewachsenen Dokumentationsvokabulars von 70 Wortfeldern (im April 2001). Die Spanne reicht vom Wortfeld ARBEITSPLATZCOMPUTER bis zum Wortfeld ÜBEREINKOMMEN ZUM SCHUTZ DES MENSCHEN BEI DER AUTOMATISCHEN VERARBEITUNG PERSONENBEZOGENER DATEN.

Die differenziertesten Wortfelder, mit denen die Thematisierungen der Computertechnologie erfasst werden, sind die Dokumentationswortfelder COMPUTER und DATENVERARBEITUNG. Um einen Eindruck davon zu geben, wie differenziert die Dokumentationswortfelder die diskursiven Thematisierun-

166 gen und die jeweils relevanten Aspekte der Computertechnologie auf der Metaebene spiegeln, seien sie folgend kurz angeführt5. Das PARTHES-Dokumentationswortfeld COMPUTER COMPUTER (Wortfeldanfuhrer) SY ELEKTRONISCHE DATENVERARBEITUNGSANLAGE SY ELEKTRONISCHER RECHNER SY EDV-ANLAGE SY RECHENANLAGE W DATENVERARBEITUNG W ELEKTRONIK E ARBEITSPLATZCOMPUTER E BILDSCHIRMGERAET E RECHENZENTRUM A TECHNISCHES KOMMUNIKATIONSSYSTEM A DATENVERARBEITUNGSINDUSTRIE A SIMULATIONSTECHNIK A CD-ROM A SUPRALEITER A GELDAUTOMAT A NEUE MEDIEN A COMPUTERVIRUS A HALBLEITER A ELEKTRONISCHES GERAET

5

Diese Zusammenstellung repräsentiert das Ergebnis meiner Analyse des relevanten Dokumentationsvokabulars und seiner Differenzierungsstufen im Informationssystem für Parlamentarische Vorgänge von Bundestag und Bundesrat, vgl. PARTHES-DIP (2001). Zum PARTHES als einem Thesaurus, der die Erschließung der Parlamentaria nach thematischen Gesichtspunkten ermöglicht, und zum diskurslexikologischen Nutzwert dieser schlüsselwortgesteuerten Zuordnung von Texten zu einem oder mehreren Diskursen vgl. Kapitel 9.1.4. Der Parlamentsthesaurus mit seinen derzeit etwa 18.000 Schlagwörtern wird von den wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages gepflegt und von allen Parlamenten auf Bundesund Landesebene genutzt. Das DIP-Datenmodell und der Thesaurus PARTHES wurden durch Beschluss der Parlamentspräsidenten im Jahre 1978 für die Bundesrepublik verbindlich eingeführt. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist dieses Modell auch von allen neuen Landesparlamenten übernommen worden. Der bei Bundestag und Bundesrat in einem vorzüglichen gemeinsamen Datenbanksystem erreichte Stand wird im Internet der Öffentlichkeit zur Nutzung bereitgestellt. Inzwischen sind die Plenarprotokolle und Parlamentsdrucksachen häufig binnen Tagesfrist über das Internet abrufbar.

167 Das PARTHES-Dokumentationswortfeld DATENVERARBEITUNG

DATENVERARBEITUNG (Wortfeldanführer) ELEKTRONISCHE DATENVERARBEITUNG SY SY EDV W AUTOMATION E COMPUTER E COMPUTERKRIMINALITAET E DATENBANK E DATENERFASSUNG E DATENFERNVERARBEITUNG E DATENSICHERHEIT E DATENTRAEGER E GESELLSCHAFT FUER MATHEMATIK UND DATENVERARBEITUNG E SOFTWARE E TEDIS UEBEREINKOMMEN ZUM SCHUTZ DES MENSCHEN BEI A DER AUTOMATISCHEN DATENVERARBEITUNG DATENAUSTAUSCH A A DATENSCHUTZ A DV-BERUFSBILDUNGSZENTREN-VERORDNUNG A MATHEMATIK MULTIMEDIAKOMMUNIKATION A A OUTSOURCING A TELENORMA TELEFONBAU UND NORMALZEIT SIMULATIONSMODELL A A BILDSCHIRMARBEITSPLATZ Legende: Wortfeldanführer D = Deskriptor (Vorzugsbenennung) zum Wortfeldanfuhrer, Synonym W = Weiterer Begriff zum Wortfeldanfuhrer E = Engerer Begriff zum Wortfeldanfuhrer A = Assoziativer Begriff zum Wortfeldanfuhrer SY = Synonym zum Wortfeldanfuhrer Auf der Grundlage solcher Dokumentationswortfelder und der Zuordnung der Parlamentaria zu diesem Netz von dokumentarischen Schlüsselwörtern lässt sich für die Analyse der Diskursprogression erheben, welche Themenfelder der Computertechnologie zu welchem Zeitpunkt angesprochen worden sind und eine genauere Periodisierung des parlamentarischen Computerdis-

168 kurses auf der Basis der Thematisierungen vornehmen. Diese lässt sich dann von der Periodisierung nach Technologiestufen abheben, damit augenfällig wird, an welchen Punkten sich Technologie- und Diskursentwicklung unterscheiden oder überschneiden.

8.2.3

Untersuchungsmethode zur Analyse der Diskurspersuasion Computerdiskurs

im

Die Elemente der Diskurspersuasion sind zahlreich und von unterschiedlichem Charakter. Hier stellen sich Fragen diskursiver Machtausübung ebenso wie die Frage nach einzelnen persuasiven Strategien und Mustern, die eng mit der thematischen Progression des Diskurses verknüpft sind. Diese Breite soll in der Analyse des Computerdiskurses nicht untersucht werden. Der Blick richtet sich hier vielmehr auf prominente, sprachliche Muster, die in der Darstellung bestimmter Aspekte der Computertechnologie für ein Laienpublikum immer wieder verwendet werden. Solche Technologietopoi werden besonders im parlamentarischen Diskurs häufig generiert, um Technologieleitbilder zu evozieren und Wünschbarkeit, Machbarkeit oder Ablehnung bestimmter Aspekte der Computertechnologie in den Diskurs zu projizieren. Ob es sich bei dem Computer um einen „Jobkiller" oder eine „Jobmaschine" handelt, ob eine durch die Technologieentwicklung hervorgerufene Revolution oder eine neue gesellschaftliche Epoche ausgerufen wird: Dies findet sich gerade im parlamentarischen Diskurs so formelhaft und schematisiert vorgebracht, dass es auf bewertende Technologiestereotype schließen lässt, die so in den Diskurs eingebracht werden. Die hermeneutische Aufdeckung solcher auf Stereotype deutenden, diskursiven Topoi legt widerstreitende persuasive Diskursperspektiven und Technologiebilder frei, die für die Experten-Laien-Struktur des Diskurses wichtig sind und den Hintergrund für die Wortschatzverwendung und Wortschatzmotivierung bilden. Die persuasive Funktion von Technologietopoi wird durch ihr ausgeprägtes Konnotationspotenzial verstärkt. So drücken sie nicht nur bestimmte Technologievorstellungen aus oder rekurrieren darauf, sondern können darüber hinaus etwa auch Geschichtsmodelle in den Konnotationshorizont einer Technologie integrieren. Dies geschieht im parlamentarischen Computerdiskurs häufig durch die Aktualisierung eines technologisch begründeten Epochen- oder Revolutionstopos. Häufig ist dies der Fall, wenn Regierung oder Opposition sich wechselseitig die Schuld an drohender technologischer Rückständigkeit vorwerfen. Der jeweilige Diskursakteur nimmt durch die Nutzung eines solchen Topos für sich in Anspruch, dass entweder sein Handeln oder die Entwicklung der Technologie, auf die es zu reagieren gilt, in

169 historischen Dimensionen wahrzunehmen sei. Dieser Anspruch, den der Historiker Bernd-A. Rusinek (1996/a, b) in den Diskursen der Kernenergie- und Großforschungsgeschichte aufgedeckt hat, gilt auch für den parlamentarischen Umgang mit der Computertechnologie. Auch hier wird im Verlauf der Diskursgeschichte sichtbar, „wie sich das Geschichtsdenken von Ingenieursund Technik-utopien kombinierte",6 auch hier wird allenthalben „von neuen, durch Naturwissenschaften und Technik geprägten 'Zeitaltern' wie etwa dem 'Zeitalter der Weltraumfahrt' oder dem 'Computer-Zeitalter' gesprochen und auf diese Weise eine neue Ordnung der Historie entworfen".7 Die Analyse der Rolle solcher toposförmiger diskursiver Perspektiven stützt sich wie eingangs dargestellt auf einen sprachwissenschaftlichen Toposbegriff und die dazugehörige Methodologie, nach der ein Topos nicht als schematisches Muster im Sinne eines Allgemeinplatzes aufgefasst wird, sondern Topoi als „Sinnzusammenhänge, die Bewußtsein und Handlungsfeld strukturieren",8 verstanden werden. Auf dieser Grundlage können die Technologietopoi im Computerdiskurs als diskursive Wissensstrukturen begriffen werden, die zur Darstellung eines technologischen Leitbildes ebenso verwendet werden wie zum Ausdruck eines bestimmten technologiegeschichtlichen Bewusstseins. Durch die Toposanalyse wird überdies augenfällig, welche weitergehenden Interessen und Perspektiven mit einer Thematisierung der Computertechnologie im Einzelnen verbunden sind.

8.2.4

Untersuchungsmethode zur Analyse der lexikalisch basierten Diskursvertikalität im Computerdiskurs

An den vertikalen Unterschieden zwischen fachexternen, fachsprachennahen und fachinternen Technologiewortschätzen wird deutlich, in welchem Maße sich in den durch Wortbildung konstituierten Wortfamilien verschiedener Niveaus elementare Technologievorstellungen ausdrücken, die ihren semantischen Bezugspunkt jeweils im Erfahrungs- oder Anwendungswissen der Träger eines Wissensniveaus haben. Oder, um es mit Weisgerber zu formulieren, in welcher Weise die sprachliche „Eingliederung des neuen Bereiches der Datenverarbeitung in die Denk- und Sehweisen der Alltagssprache"9 vonstatten geht. Daraus sind für diesen Untersuchungsteil die folgenden Ziele abgeleitet:

6 7 8 9

Rusinek (1996/a: 203). Rusinek (1996/b: 297). Ueding/Steinbrink (1994: 196). Weisgerber (1969: 78).

170 •





Erhebung, Repräsentation und Analyse der Entwicklung des Technologiewortschatzes und seiner Entwicklung im parlamentarischen Computerdiskurs Erhebung, Repräsentation und Analyse des Technologiewortschatzes und seiner Entwicklung im Computerdiskurs der populären Presse (am Beispiel des STERN). Über das STERN-Korpus hinausgehend werden punktuell flankierend die Onlinekorpora beim IDS und des Leipziger Projektes „Deutscher Wortschatz" einbezogen. Analyse der vertikalen Unterschiede in Abhängigkeit von der Sachentwicklung und vor dem Hintergrund der kodifizierten Bestände des fachsprachlichen Computerwortschatzes in gemeinsprachlichen Wörterbüchern und in der Fachlexikografie. Der lexikografische Referenzraum der Diskursphasen wird für die Gemeinsprache erschlossen durch den punktuellen Einbezug von Computerwortschatz-Beständen in den Auflagen des DUW (2000, 1996, 1983, 1989) sowie des zehnbändigen Duden DGDS (2000). Davon heben sich die fachlexikografischen Strukturen erheblich ab, sie werden für die einzelnen Phasen erschlossen durch den Einbezug von Löbel/Schmid/Müller (1969), Häuf (1977, 1976), IBM (1978, 1971), Schneider (1997, 1983)10.

Dabei ist eine lückenlose Vollerhebung des gesamten gemeinsprachlichen Technologiewortschatzes im STERN und im Parlament über vier Jahrzehnte hinweg aus Kapazitätsgründen nicht möglich. Eine solche Bestandsaufnahme als Vollerhebung ist in Busch/Wichter (2000) für einen Monat in SPIEGEL und FAZ durchgeführt worden. An dieser Piloterhebung für das Jahr 1996 hat sich gezeigt, dass der Computerwortschatz der Gegenwart mit (zum Erhebungszeitpunkt) über 1880 Types, deren Tokens zum Teil hoch frequent im Korpus repräsentiert sind, derart umfangreich ist, dass eine Vollerhebung nur für sehr kurze Zeiträume möglich ist. Indes ist aber auch sichtbar geworden, dass es eine überschaubare Anzahl von Technologiewortfamilien gibt, die den größten Teil des Wortschatzes binden. Die folgende Untersuchung des Diskurswortschatzes fokussiert deshalb auf diese Wortfamilien und nimmt die zentralen Basislexeme in die Analyse auf, die nach Auswertung von Busch/Wichter (2000) die größten Wortschatzanteile binden. Im Einzelnen sind dies die besonders produktiven Wortfamilien mit den folgenden Kernwörtern (oder einem Familien begründenden Wortstamm): Computer, Chip, Cyber-, Daten, Elektronik, digital, Hardware, Information, Internet, online, Programm, Rechner, Maus, Multimedia, Netz, Software, virtuell, Virus.

10

Vgl. Busch (2003, 2004)

171 Markennamen, etwa IBM, Macintosh, Windows, Intel, CEBIT, T-Online oder America Online sind aus Kapazitätsgründen nur dann aufgenommen, wenn sie als Kompositionskonstituente Bestandteil einer anderen Wortfamilie sind. Eigenständige Marken-Wortfamilien sind nicht aufgenommen, ebensowenig Vorkommen der Lexeme als Bestandteil von Internet-Adressen. Zwar spiegelt ihre Entwicklung die Markengeschichte des Diskurses, die auch den Gesamtdiskurs stark beeinflusst hat, ihre sprachgeschichtliche Auswertung bleibt indes vorerst lexikologisches Desiderat. Der relevante Wortschatz und seine lexikalische Umgebung wurden aus Presse- und Parlamentskorpus mithilfe des Korpusanalysetools „WordSmithTools" von Oxford University Press aus dem Gesamtkorpus extrahiert. Dabei sind im Falle von signifikantgleichen Zeichen11 nur die computerbezogenen Zeichen ausgewählt worden. Die Aufnahme von computerrelevanten Basislexemen ist dabei weitgehend an Augsts „Wortfamilienwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" (Äugst 1998) orientiert, damit die Bindung des technologiezugewandten Teilwortschatzes an die Gemeinsprache erhalten bleibt. Über Äugst (1998) hinausgehend sind auch weitere-im gemeinsprachlichen Computerdiskurs lexikalisierte - entlehnte Basislexeme (z. B. Hardware, Software) aufgenommen,12 die bei ihm wohl wegen des starken Fachbezuges nicht inventarisiert worden sind. Der Computerwortschatz ist außerordentlich umfangreich und muss dennoch in seiner ausdrucksseitigen und seiner inhaltsseitigen Ordnung systematisiert werden, damit die lexikalischen Unterschiede zwischen den Ausdrucks- und Inhaltsschemata von Fachexperten und Fachlaien sichtbar werden. Dazu werden im Folgenden für jede der vier Entwicklungsphasen (Anfangs*, Öffnungs-, Publikums- und Omnipräsenzphase) des parlamentarischen Computerdiskurses, gestützt auf die schemabasierte Konzeption der vertikalen Lexikologie und insbesondere die heuristische Unterscheidung zwischen Ausdrucksschema und Inhaltsschema13, folgende Aspekte dargestellt: 1) A usdrucksschema und A usdrucksvertikalität Hierzu wird die bezeichnungsseitige onomasiologische Ordnung des Computerwortschatzes in einer Entwicklungsphase repräsentiert und analysiert; d. h. die Dimension der Technologiewortfamilien, ihre Fami11

12

13

Zur Subsumierung von Homonymie und Polysemie unter den gemeinsamen Oberbegriff der Signifikantgleichen Zeichen vgl. Wichter (1988). Äugst nimmt z. B. die Wortfamilie Computer auf (differenziert sie aber nicht weiter), nicht dagegen die Wortfamilie Software, diese auch nicht als Element der bei ihm verzeichneten Wortfamilie mit dem Basislexem soft. Als einziges Kompositum für diese gemeinsprachliche Wortfamilie setzt er unter Berufung auf das DUW Softeis an. Zum Zusammenhang von Ausdrucksschema, Inhaltsschema und Wortfamilienkonzept vgl. Kapitel 2.6.3.

172

2)

3)

lien konstituierenden Wortbildungsprozesse und der lexikalische Zusammenhang jeweils auf Experten- und Laienniveaus, der sich darin ausdrückt. Inhaltsschema und Bedeutungsvertikalität Hierzu wird die inhaltsseitige semasiologische Ordnung des Computerwortschatzes in einer Entwicklungsphase repräsentiert und analysiert; d. h. die bedeutungsseitige Dimension und der lexikalische Zusammenhang, der in der Wortbildungsmotivation zum Ausdruck kommt. Lexikalisch basierte vertikale Ausgleichsstrategien Auch die Elemente vertikaler Nivellierung müssen näher betrachtet werden. Dabei müssen sowohl die zentralen Metaphern einer Diskursphase in den Blick genommen werden wie auch persuasiv (z. B. Expertenanrufungen) und nicht-persuasiv eingesetzte explizite Vertikalitätsthematisierungen oder -signale (etwa Technologieerläuterungen oder Anführungszeichen). Das ist notwendig, weil beide Strategien sich, trotz ggf. unterschiedlicher argumentativer Nutzung, auf die partielle Überwindung der Wissenskluft richten.

173 8.2.5

Übersicht über die Kriterien der Korpuserstellung, Untersuchungsebenen und Methoden der vertikalitätsorientierten Analyse des Computerdiskurses

VERTIKALES DISKURSKORPUS (bestehend aus Parlamentskorpus und Pressekorpus) Kriterien für die Zusammenstellung des Korpus: Textsorten mit Öffentlichkeitscharakter • Diskurszugehörige Texte • diachronieadäquate Textauswahl • vertikalitätsadäquate Textauswahl Korpuszusammenstel lung: • Parlamentskorpus: 136 Parlamentsreden (1963 bis Jan. 2000) •

Pressekorpus: 216 Artikel aus dem STERN (1968 bis Jan. 2000)

• Flankierend: Untersuchungsebene Diskursprogression

Onlinekorpora (IDS und „Deutscher Wortschatz") Fragestellung/Ziel Methode • • •

Technologiegeschichte Diskursgeschichte thematische, diachrone Diskursprogression

Diskurspersuasion

• •

Vertikalität im Diskurswortschatz



Persuasive Strategien Topoi und Wunsch-, Machbarkeits- und Vermeidungsprojektion Bestandsaufnahme des relevanten Diskurswortschatzes Analyse der Technologiewortfamilien Analyse der vertikalen Wortschatzvariation

• •

• •

Progressionsanalyse Überblicksanalyse, Thematisierungsfelder je Diskursphase • Detailanalyse Schlüsselthematisierungen • Analyse der im Diskurs verwendeten Technologietopoi



Repräsentation der Technologiewortfamilien je Diskursphase

174 8.2.6

Datentechnische Unterstützung der Analyse und Interpretation

Der skizzierte Untersuchungsablauf ist nur praktizierbar, wenn das Korpus in einer Form vorliegt, die von technischer Seite die Auswertungsstrategien der Progressions-, Vertikalitäts- und Leitbildanalyse möglich macht. Im Rahmen dieser Untersuchung wird dies durch die Datenbankerstellung und die computerunterstützte Analyse der Sprachdaten mithilfe der QDA-Sofitware WTNmax und des Korpusanalyseprogramms WordSmith (Oxford University Press) gewährleistet. Diese beiden Programme mussten eingesetzt werden, weil sie die Verbindung von Analysen auf Wort- und Kollokationsebene (WordSmith) mit qualitativen Analysen von Stereotypien und Topoi (WINmax) ermöglichen. Sie unterstützen die einzelnen Akte der Exploration, Kategorisierung, Klassifikation und Typisierung,14 bei denen es sich aber in jedem Fall um interpretative Akte handelt. Die Software stellt Instrumente zur Auswertung sehr umfangreicher Korpora zur Verfugung, es gibt aber über Suchroutinen hinausgehend keine Automatisierung inhaltlicher Interpretation, wie dies etwa in der quantitativen Inhaltsanalyse der Fall ist. Jede einzelne Codierung muss begründet und manuell durchgeführt werden. Formen der automatisierten Codierung sind im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich. Während die WordSmithTools als klassisches Korpusanalysesystem Funktionen wie die Erstellung von Konkordanzen, Wortfrequenzlisten und Suchalgorithmen bereitstellt, unterscheiden sich die Leistungen der QDA-Software (QDA = qualitative Datenanalyse) WINmax von diesem Anwendungsspektrum ebenso wie von dem klassischer Textverarbeitungsprogramme oder dem von Textarchivierungs- oder Retrievalprogrammen. Eine QDA-Software eignet sich besonders für die diskurslinguistische Korpusanalyse, weil sie die Integration verschiedener Formate in eine Datei ermöglicht, in der dann die Korpustexte ausgewertet werden können. In der folgenden Übersicht wird die Umsetzung der datentechnischen Anforderungen an ein elektronisches Diskurskorpus kurz skizziert. Darüber hinaus liegt mit Kuckartz (1999) eine gute Einführung in Methoden und Arbeitstechniken der computergestützten qualitativen Datenanalyse und Dateninterpretation vor, die hier für die sprachwissenschaftliche Nutzung fruchtbar gemacht werden konnte.

14

Vgl. Kuckartz (1999: 17).

175 Formatunabhängigkeit

Allgemeines Textretrieval

Lexikalische Explorationsfahigkeit

Tagging

Diachronie

Kontextstabilität

Zukunftsoffenheit

WordSmith-Tools inventarisieren ebenso wie WINmax Texte nur im ASCII-Format. Daher wurden alle Texte, die in das Korpus integriert worden sind, unabhängig davon, ob sie vorher im DOC-, HTML- oder PDF-Format vorlagen, in ASCII-Texte umgewandelt. Der sehr große Anteil von Texten, die nur in Papierform vorlagen, wurde gescannt und mithilfe der Texterkennungssoftware OMNIPAGE in das ASCII-Format transformiert. Alle Texte wurden in Winmax eingelesen. WINmax und WordSmith-Tools ermöglichen ein umfangreiches Textretrieval auf Wortebene über Textgrenzen hinweg. In WINmax können zusätzlich Textelemente mit Bezug zu einem Codewort (z. B. „Rechnerbezeichnung") zusammen gestellt und auch mit den Textbestandspassagen, die anderen Codewörtern und Themen zugeordnet sind, kontrastiert werden. Insbesondere die WordSmith-Tools ermöglichen die einfache und verknüpfte Suche über Textgrenzen hinweg und geben für jede Belegstelle definierte Kotexte an, z. B. eine bestimmte Anzahl von Wörtern oder Zeilen. Auf diese Weise lassen sich types, tokens und Belegkontexte über das gesamte Korpus hinweg zusammenstellen. Auf dieselbe Weise ist auch eine Kodierung für linguistische Basiskategorisierungen (z. B. Wortbildung, Metaphorik, Themenzugehörigkeit etc.) möglich. Die diachrone Zuordnung der Quellentexte bleibt an jeder Stelle des Bearbeitungsganges sichtbar, wenn die Textdateien im ASCII-Format im Dateinamen die Textsorte und das Quellendatum enthalten. Durch die Analyse der Daten in WINmax ist gewährleistet, dass an jeder Stelle des Bearbeitungsganges die Kound Kontexte der jeweiligen lexikalischen Einheiten zur Verfügung stehen. Die Zukunftsoffenheit ist, soweit sich dies zurzeit einschätzen lässt, bei einer Software am ehesten gegeben, die auf ein allgemeines Basisformat zur Darstellung von Buchstaben, Ziffern und Sonderzeichen zurückgreift. WINmax verwendet mit dem ASCII-Format den gängigsten normierten Code zur Darstellung alphanumerischer Zeichen auf dem Computer. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die diachrone Analyse in Zukunft weitergeführt und neues Material integriert werden kann, ohne ein komplett neues Korpus aufbauen zu müssen.

176 Das auf diese Weise erstellte und zur Auswertung vorbereitete vertikale Diskurskorpus bildet die Grundlage für die vertikalitätsorientierte diachrone Untersuchung des öffentlichen Computerdiskurses. Es muss dazu die drei Dimensionen der Diskursprogression, -vertikalität und -persuasion valide repräsentieren. Zu diesem Zweck muss es aus (für die Fragestellung) relevanten Textsorten zusammengestellt werden und den oben beschriebenen methodologischen Kriterien genügen. Ebenso wie die Anwendung der datentechnischen Möglichkeiten bereits eine Form der elektronisch gestützten Dateninterpretation darstellt, ist die Auswahl der Korpustexte bereits ein entscheidender interpretativer Akt. Daher muss zur internen und externen Validierung detailliert belegt werden, dass die Teilkorpora (Parlamentskorpus und Pressekorpus) aus denen das Gesamtkorpus zusammengestellt ist, die Anforderungen an ein vertikales Diskurskorpus erfüllen, das wesentliche Dimensionen des Computerdiskurses repräsentieren soll. Deshalb muss im Folgenden dargelegt werden, weshalb die inkorporierten Texte und Textsorten aufgrund ihres Öffentlichkeitsstatus, der Diskurszugehörigkeit sowie ihrer Vertikalitäts- und Diachronieadäquatheit für eine Korpusbildung mit dem Ziel einer validen und reliablen Repräsentation des öffentlichen Computerdiskurses und seiner Vertikalität besonders geeignet sind.

9

Das Diskurskorpus und die Spezifik der repräsentierten Bereiche der parlamentarischen Kommunikation und der Kommunikation der Populärpresse

9.1

Parlamentskorpus, Textsorten und die Spezifik parlamentarischer Kommunikation

9.1.1

Parlamentskorpus und parlamentarische Textsorten

Das Parlamentskorpus besteht aus Plenarprotokollen von 136 Parlamentsreden, die in der Zeit von Dezember 1963 bis Januar 2000 im Deutschen Bundestag gehalten worden sind1. Diese Textsorte ist für die Analyse des öffentlichen Computerdiskurses besonders interessant, weil die Parlamentsreden und -debatten2 öffentlich sind und unter den Bedingungen der Fernsehdirektübertragung starken Einfluss auf öffentliche Diskurse haben und diese anstoßen, beenden oder modifizieren können. Burkhardt (2003) umreißt: Die Parlamentsdebatte ist heute zwar kein ganz und gar authentisches Großgruppengespräch mehr, weil sie einerseits inmitten oder am Ende öffentlicher Diskussi1

2

Die Plenarprotokolle oder stenografischen Berichte sind vielfach charakterisiert und hinsichtlich ihres linguistischen Quellenwertes positiv eingeschätzt worden. Vgl. etwa die Zusammenstellungen bei Eispaß (1998: 45-58), Zimmermann (1997: 268-301) und die grundlegende Bestandsaufnahme von Simmler (1978: 29), die von Tillmann (1989: 69-71) kritisch kommentiert worden ist. Die spezifischen Aspekte der Verschriftung der Parlamentsdebatten macht Olschewski (2000) transparent. Ich verwende einen Parlamentsbegriff, nach dem das Parlament eine Vertretungskörperschaft ist, die aus Abgeordneten, nicht aus Staaten- oder Ländervertretern zusammengesetzt ist. Nach diesem Parlamentsbegriff ist in Deutschland der Deutsche Bundestag ein Parlament, nicht aber der Deutsche Bundesrat, der als Vertretungsorgan der Bundesländer an der Gesetzgebung mitwirkt; vgl. dazu auch Patzelt (1998/a). Andere Parlamentsformen skizziert Burkhardt (2003). Zu den Grundstrukturen parlamentarischer Kommunikation, die die Parteienkommunikation ebenso umfasst wie die Regierungs- und Oppositionskommunikation, vgl. Burkhardt (2003), von Alemann (2000: 95-125), Wolf (1998), Patzelt (1998/b), Wiesendahl (1998), Steffani (1998), Gebauer (1998). Zur semantischen Entwicklung und Repräsentation des Sprachzeichens Parlament in deutschsprachigen Wörterbüchern vgl. Kilian (1996).

178 onen stattfindet, die von den Politikern selbst in den Medien gefuhrt werden, und dennoch andererseits mindestens zum Teil für die Medien veranstaltet wird. Sie bleibt aber Dialog und bedient sich typischer Sprachformen. (Burkhardt 2003: 543)

Überdies sind die Rednerinnen und Redner meist bestrebt, sich auch ohne grundständige Ausbildung und ggf. mit nur geringen Vorerfahrungen im Fach öffentlich als Experten zu profilieren. Neben den Plenarprotokollen sind (Plenar-)Drucksachen, (Plenar-)Beschlussprotokolle sowie Gesetz- und Verordnungsblätter die wichtigsten parlamentarischen Textsorten. Alle parlamentarischen Textsorten haben gemein, dass ihnen im Zusammenhang mit der parlamentarischen Debatte3 jeweils Beweis-, Steuerungs-, Arbeitsmittel- und Publizitätsfunktion4 zukommt. Die Rede im Deutschen Bundestag, die dem Parlamentsprotokoll zugrunde liegt, gilt als „Prototyp der politischen Rede".5 Die thematisch und zweckzentral fixierte Debatte als ihr kommunikativer Rahmen stellt eine fundamentale Kommunikationsform demokratischer Öffentlichkeit dar und wird „als die parlamentarische Dialogsorte schlechthin"6 aufgefasst. Ihre schriftliche Fixierung im Plenarprotokoll weist Besonderheiten auf, die bei ihrer Nutzung als linguistische Quelle zu beachten sind. Simmler (1978) hat in seiner umfangreichen Analyse der parlamentarischen Text- und Redesorten nach redeintemen (Schreiber/Sprecher, Leser/Hörer, Kommunikationssituation) und -externen Merkmalen (Kode im jeweiligen Medium) darauf hingewiesen:7 Die Form der stenographischen Berichte zeigt [...] in einigen Aspekten die gleichen Auswertungsmöglichkeiten wie ein von vorneherein ausschließlich schriftlich konzipierter Text. Da aber die Redner im Deutschen Bundestag grundsätzlich im freien Vortrag sprechen, auch wenn sie dabei Aufzeichnungen benutzen dürfen, und die Stenographen dem freien Vortrag folgen, besteht in anderen Aspekten wiederum eine Nähe zur Spontaneität der gesprochenen Form der Gegenwartssprache. (Simmler 1978: 37)

Simmler macht hier die Verschränkung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit als zentrales Textsortenmerkmal deutlich, denn die Textsorte Plenarprotokoll

3

4

5 6 7

Kilian (1997: 94-115, 150-166) zeigt die programmatischen Implikationen dieses Demokratieideals auf und weist darauf hin, dass „dem „Schreien" und Befehlen der NS-Diktatur" (Kilian 1997: 95, Hervorhebungen im Original) zunächst politische Schweigen und dann die Debatte als grundlegend demokratische Kommunikation folgte. Zu den parlamentarischen Textsorten und ihrer Funktion vgl. Schröder (1998: 131-133). Klein (1991/b: 268). Kilian (1997: 151). Vgl. Simmler (1978: 29).

179 kann nicht eindeutig als schriftlich oder mündlich klassifiziert werden.8 Dies kann u. U. in der Rezeption zu entsprechenden Akzentuierungen fuhren. Bei der Rezeption in zeitlicher Nähe zur Debatte oder zu Direktübertragungen durch das Fernsehen kann stärker die mündliche Dimension dieser Rede und Textsorte aktualisiert werden, bei der linguistischen Auswertung ohne zeitliche Nähe rückt dagegen der Schriftcharakter stärker ins Zentrum. Dennoch muss in beiden Rezeptionszusammenhängen die jeweils andere Dimension von Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit bewusst bleiben, da ihre Verschränkung in der Rezeption bestehen bleibt. Mit Blick auf die schriftliche Produktionsseite der Manuskripte muss darüber hinaus bei der Analyse bewusst bleiben, dass es sich nicht immer um Einzelautoren handelt, sondern insbesondere bei Reden von Regierungsmitgliedern um Autorenteams, die an der Erstellung eines Redemanuskriptes beteiligt sein können. Die Spanne der möglichen Koautoren, die entweder direkt am Manuskript arbeiten oder aus deren Expertisen Textbausteine verarbeitet werden, reicht vom Redenschreiber bis hin zu Fachreferaten und Abteilungen eines oder verschiedener Ministerien und Beratungsinstitutionen (z. B. Sachverständigenrat). Simmler spricht ein weiteres Merkmal von Parlamentsreden an, das sich bereits als Vertikalitätseinordnung auffassen lässt: Da die Redner mit den behandelten Themen vertraut [...] sind, müssen sie aber in jedem Fall als routiniert oder speziell vorbereitet angesehen werden. (Simmler 1978:37)

Den Abgeordneten wird also keineswegs generell Expertenstatus zugewiesen, sondern sie sind, wie Simmler formuliert hat, „mit den behandelten Themen vertraut".9 Damit kann durchaus auch ein laiennahes Wissens- und Wortschatzniveau umschrieben sein. So wird einmal mehr greifbar: Plenarprotokolle repräsentieren in vertikaler Hinsicht die für die Parlamentssprache typische „Zwischenschicht zwischen Fachsprache und Gemeinsprache".10

9.1.2

Das Parlamentskorpus und die Spezifik parlamentarischer Kommunikation

Der Computerdiskurs und die Verwendung von Computerlexik im Parlament folgen den Regeln medial vermittelter, politischer Kommunikation. Sie sind festgelegt durch diskursive Verfahren, strategische Wortschatzverwendung und die Wirkungsabsichten der politischen Akteure mit ihrer spezifischen 8

9 10

Zum Verhältnis der mündlichen Rede und ihrer verschriftlichten Form vgl. Heinze (1979) und Olschewski (2000). Simmler (1978: 37). Burkhardt (1991:44).

180 Adressaten- und Öffentlichkeitsorientierung.11 Sarcinelli resümiert unmissverständlich: Machen wir uns nichts vor! Politische Publizität in der modernen Mediengesellschaft ist alles andere als ein herrschaftsfreier Diskurs oder ein in Watte gepackter vielstimmiger Chor, der das Hohelied politischer Rationalität singt. Inszenierung und Schein liegen nahe beieinander, die Übergänge von angemessener Realitätsdeutung und unangemessener Realitätstäuschung sind fließend. (Sarcinelli 1996: 45)

Die Spannung zwischen „angemessener Realitätsdeutung und unangemessener Realitätstäuschung" wird im Falle öffentlichkeitsbezogener, parlamentarischer Technikdiskurse noch durch die Tatsache verschärft, dass es sich um eine Kommunikationsform handelt, in der Abgeordnete und Journalisten 1

' Die Charakteristik des politischen Sprachgebrauchs ist in einer Vielzahl von politolinguistischen Untersuchungen analysiert worden. In der folgenden Übersicht sind einige zentrale Untersuchungen nach ihren Schwerpunkten zusammengestellt, soweit sie auch für Vertikalitätsfragen bedeutsam sind: 1) Übersichtsdarstellungen zur Methodik der Politolinguistik bieten: Klein (1998a), Diekmannshenke (1997) und Burkhardt (1996). 2) Roth (2004) legt ein Modell zur politischen Sprachberatung vor. Interdisziplinäre Perspektiven zur politischen Kommunikation bieten die Beiträge in Jarren/ Sarcinelli/Saxer (1998), die zusätzlich mit einem Lexikonteil versehen sind. Eine Auswahlbibliographie zu den Interdependenzen zwischen Politik und Öffentlichkeit bietet Hoffmann (1998). Den älteren Forschungs- und Literaturstand erschließen Dieckmann/Held (1986). Sie bieten eine interdisziplinäre Bibliographie zur politischen Sprache in der BRD 1975-1984. 3) Zur politischen Kommunikation aus sprachgeschichtlicher und historischer Perspektive vgl. Burkhardt (2003) und die Beiträge in Burkhardt/Pape (2000), Kilian (1997), Dörner/Vogt (1995) und Liedtke/Wengeler/Böke (1991), Diekmannshenke (1993, 1994). 4) Zum Verhältnis von Politik und Massenmedien vgl. die Bibliographie von Kreuzfeld/Schmidt (1995) und die Beiträge in Sarcinelli (1998/b), Reiher (1995), Jarren/Donges/Weßler (1995), Biere/Henne (1993) und Plasser (1985). 5) Zur Kommunikation zwischen Parlament, Experten und Öffentlichkeit vgl. Knobloch (1998), Kepplinger (1998, 1989) sowie die Beiträge in Kerner (1996). 6) Zur Wechselwirkung von öffentlicher Meinung und Politik vgl. Avenarius (2000: 289-332), Pfetsch (1999a,b, 1998), die Beiträge in Sarcinelli (1998/b), Brettschneider (1995) sowie die Beiträge in Grewenig (1993) und Wittkämper (1992). 7) Zur Phraseologie der Parlamentsdebatten vgl. Eispaß (2000, 1998). 8) Zur textsortenbildenden, semantischen und pragmatischen Dimension politischen Wortschatzes vgl. Zimmermann (1997) und die Beiträge in Diekmannshenke/Klein (1996) sowie Gimth (1996), Liedtke/Wengeler/ Boke (1991), Niehr (1993), Kaempfert (1990), Herrmanns (1994), Strauß (1986). 9) Zur rhetorischen und argumentativen Formung politischer Kommunikation vgl. Klein (2000), Wengeler (2003, 2000, 1996) sowie Kopperschmidt (1995).

181 meist als Informatiklaien auf der Grundlage aufbereiteten Expertenwissens ggf. von einem mittleren fachlichen Niveau aus interessengebunden agieren und ihre Aussagen an eine Laienöffentlichkeit richten. Der Expertenwortschatz wird dazu selektiert und für Laien aufbereitet. Technologiemetaphorik wird verwendet und Technologiestereotype werden generiert, um mit Hilfe der Lexik eine Brücke zwischen Experten- und Laienwissen zu schlagen. Dass aber die Generierung oder Verwendung solcher Stereotype und Tropen in Parlamentsreden nicht primär zum Zweck der didaktischen Popularisierung von Technologiewissen geschieht, liegt in der Natur parlamentarischer Kommunikation. Technologische Sachverhalte werden in Bundestag und Bundesrat nicht thematisiert, um Wissen zu vermitteln, sondern zur Lösung von Problemstellungen und zur Durchsetzung politischer Interessen. Zwar wird auch im parlamentarischen Computerdiskurs versucht, die Vertikalitätsschranken zwischen Informatikexperten und Laien zu überwinden, aber das kommunikative Ziel in der öffentlichen Debatte ist nicht Wissensvermittlung und Veranschaulichung, sondern die Darstellung und Inszenierung bestimmter Aspekte der Technologie, um auf diese Weise Zustimmung zu einem politischen Vorhaben zu bekommen oder schlicht die personale Akzeptanz zu erhöhen. Es handelt sich bei Parlamentsreden also meist nicht um repräsentatives, sondern um appellatives Sprechaktgeschehen. Das bedeutet, Denotat und Konnotat des technologiebezogenen Wortschatzes sind von den persuasiven Mechanismen dieser Experten-Laien-Kommunikation geprägt und müssen untersucht werden. Zwei wichtige Ebenen der Persuasion müssen dabei unterschieden werden. Die Ebene der allgemeinen Persuasion, die für die parlamentarische und politische Kommunikation typisch ist, und die technologiespezifische Persuasion durch die Generierung von Leitbildern. Die allgemeine Persuasion, mit der in der öffentlichen Parlamentskommunikation immer gerechnet werden muss, ist linguistisch vielfach untersucht worden. Klein (1998/b) hat die vielfaltigen Ergebnisse verarbeitet und hebt zusammenfassend die folgenden zentralen Sprachstrategien heraus: 1) Basisstrategien • Orientierung an Laienadressaten, „die kein professionelles oder expertenartiges Verhältnis zur Politik haben".12 • Selbstaufwertung und Gegnerabwertung 2) Medienbedingte Strategien • Slogan-Formate in schriftlicher Kommunikation • Dominanz von Kürzest-Statements in TV-Kommunikation • drastisch-polemische Formulierungen (um ins Bild zu kommen) • Personalisierung • verbaler Infight 12

K l e i n (1998/b: 3 7 7 ) .

182 3)

Kaschierstrategien • Kaschieren von Informativitätsdefiziten • Kaschieren von Wahrheitsdefiziten • Kaschieren von Relevanzdefiziten • Kaschieren von Eindeutigkeitsdefiziten 4) Konkurrenzstrategien • Begriffe besetzen (Bedeutungs- und Bezeichnungskonkurrenz) • Verteidigen von Begriffen • Rückzug aus Begriffen • Demontage gegnerischer Begriffe • Attackieren des Missbrauchs von Begriffen • auf Begriffe festnageln • nicht lexikalische Strategien (z. B. Redezeiten begrenzen).13 Eine Fokussierung auf das „strategische Operieren mit Wörtern"14 leisten besonders die Arbeiten von Niehr (1993), Klein (1991), Kaempfert (1990) und Herrmanns (1994, 1986); deren Ergebnisse zeigen, dass sich wortschatzbezogene Strategien typologisch zu fünf Basisstrategien bündeln lassen, die auch für die Analyse des Computerdiskurses wichtig sind: 1) Begriffsprägung 2) Bezeichnungskonkurrenz 3) Umdeuten 4) Umwerten 5) Ausbeuten von Assoziationen.15 Von diesen Strategien ausgehend, verweist Wengeler (1992) auf weitergehende politische Argumentations- und Stilfiguren, die über die Einzelwortklassifizierung hinausgehen und für textübergreifende Argumentationen wichtig sind. Er isoliert in seiner Untersuchung zur Geschichte der Rüstungsdiskussion nach 1945 neben den von Klein zusammengestellten Klassen: 1) Remotivierung sprachlicher Zeichen, d. h., Wörter oder Syntagmen werden auf ihre „ursprüngliche" Bedeutung zurückgeführt und die gegnerische Sprachverwendung als manipulativ oder falsch dargestellt, 2) Verwendung angeblich realistischer Diktion (z. B. In Wirklichkeit ist das ein Berufsverbot), 3) Assoziative Diffamierung durch Aufladung gegnerischer Begriffe und Syntagmen mit negativen Konnotationen (z. B. die assoziative Gleichsetzung von real existierendem DDR-Sozialismus mit der SPD), 4) Direkter Vorwurf, 5) Fremdwort-Verwendung zur Suggestion von Sachkompetenz, 13

14 15

Vgl. Klein (1998/b). Die Strategien des Besetzens von Begriffen sind in Klein (1991/a) weiter ausgeführt. Diekmannshenke (1997: 154). Vgl. zusammenfassend Diekmannshenke (1997: 151-155) und Klein (1991/a).

183 6) Personalstil zur Stützung des Politikerimages, 7) abstrakte Unverbindlichkeit. (vgl. Wengeler 1992: 71-72) Solche Persuasionsstrategien spielen für die Untersuchung des Computerdiskurses eine wichtige Rolle, weil sie auch zur Generierung von Technologieleitbildern eingesetzt werden. Sie werden hier aber nicht in ihrem Eigenwert für das Debattengeschehen untersucht (dies wäre Gegenstand einer genuin politolinguistischen Untersuchung), sondern immer dann einbezogen, wenn sie für den Technologiebezug der Debatte relevant werden. Der für den Computerbezug zentrale Persuasionsmechanismus ist das Generieren technologischer Leitbilder mit den damit verbundenen Wunsch-, Machbarkeits- und Vermeidungsprojektionen. Mit Hilfe von Technologieleitbildern, wie sie etwa in den Paraphrasen Der Computer ist ein Jobkiller versus Der Computer ist eine Jobmaschine greifbar sind, werden Bewertungen etabliert, die nach der Intention der parlamentarischen Interessengruppen als Konnotate in die Technologiestereotypen des Laienpublikums integriert werden sollen. So schafft die persuasive Konnotationsbildung über Leitbilder und Projektionen einen zentralen wortschatzbezogenen Persuasionsmechanismus im parlamentarischen Computerdiskurs.

9.1.3

Der Öffentlichkeitscharakter Deutschen Bundestages

von Plenarprotokollen des

Der Öffentlichkeitscharakter von Parlamentsdebatten lässt sich in zweierlei Hinsicht bestimmen: mit Blick auf den grundgesetzlich garantierten Öffentlichkeitsstatus von Parlamentsdebatten und mit Blick auf die Ausrichtung der Debatten auf eine Öffentlichkeit als Adressaten. Zum ersten Aspekt: Für Plenarprotokolle über Sitzungen des Deutschen Bundestages sind ein weitreichender Öffentlichkeitsstatus und dokumentarische Unabhängigkeit grundgesetzlich verankert. Damit handelt es sich bei den Parlamentsprotokollen um eine ausgezeichnete zeitgeschichtliche Quelle, die unter Beachtung der strategischen und persuasiven Dimension der parlamentarischen Kommunikation, auch für die Untersuchung des Computerdiskurses herangezogen werden kann. Das Öffentlichkeitsgebot wird vom Grundgesetz in Artikel 42 Abs. 1 GG gesetzt: Der Bundestag verhandelt öffentlich. Auf Antrag eines Zehntels seiner Mitglieder oder auf Antrag der Bundesregierung kann mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Über den Antrag wird in nichtöffentlicher Sitzung entschieden. (Grundgesetz 1949/1998: Artikel 42, Abs. 1)

Diese grundgesetzliche Festlegung wird in § 19 der Geschäftsordnung des deutschen Bundestages übernommen. Dort heißt es entsprechend:

184 Die Sitzungen des Bundestages sind öffentlich. Die Öffentlichkeit kann nach Artikel 42 Abs. 1 des Grundgesetzes ausgeschlossen werden. (Deutscher Bundestag 1999: § 19)

Das Öffentlichkeitsgebot für die Sitzungen des Parlaments schlägt sich auch in Form einer jederzeit öffentlich zugänglichen Dokumentation des Sitzungsgeschehens nieder, d. h., die Textsorten der Parlamentsdokumentation sind frei zugänglich und inhaltlich erschlossen. Auch in der grundgesetzlichen Verankerung des Öffentlichkeitsstatus von Parlamentsprotokollen, Drucksachen und Registern kommt ein grundlegend demokratisches Öffentlichkeitsverständnis zum Ausdruck. Dies zeigt der Gegensatz etwa zur Dokumentationspraxis der Deutschen Demokratischen Republik, in der die Protokolle der Sitzungen der Volkskammer den Textsortenstatus von Akten hatten. Die Volkskammer hat Protokolle und Drucksachen nicht öffentlich zugänglich gemacht; und da die Protokolle Aktenstatus hatten, galten für sie die entsprechenden Bestimmungen in der Geschäftsordnung der Volkskammer,16 die bestimmte: Die Einsichtnahme durch dritte Personen in die Akten des Archivs sowie die Veröffentlichung von Akten durch Abgeordnete oder dritte Personen kann nur vom Präsidium gestattet werden. (Geschäftsordnung Volkskammer 1954: 87)

Auf diese Weise standen, der Einsichtnahme der Bevölkerung entzogen, die Protokolle der Sitzungen der Volkskammer, die im Volkskammerarchiv aufbewahrt wurden, weder einer breiteren Öffentlichkeit noch der Wissenschaft zur Verfügung. In der Bundesrepublik dagegen besteht für die Sitzungsprotokolle von Beginn an ein Veröffentlichungsgebot, und überdies ist auch der Vorgang der Dokumentation der öffentlichen Parlamentssitzungen grundgesetzlich vor Einflussnahme Dritter geschützt: Wahrheitsgetreue Berichte über die öffentlichen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei. (Grundgesetz 1949/ 1998: Artikel 42, Abs. 3)

Damit liegt ein Textsortenspektrum vor, das grundsätzlich öffentlich und weitgehend vor Beeinflussung oder Indienstnahme durch Interessengruppen geschützt ist. Dies betrifft wohlgemerkt den Prozess der Dokumentation und nicht die Inhalte der Debatten. Auch die oder der einzelne Abgeordnete kann auf den Prozess der Dokumentation des Gesagten nur bedingt Einfluss nehmen. Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages sieht in den §§ 117, 118, 119 vor, dass jeder Redner die Niederschrift seiner Redebeiträge zur Prüfung erhält und sie in16

Vgl. Schröder (1998: 107-108) und Olschewski (2000).

185 nerhalb von zwei Stunden an den Stenografischen Dienst zurückgeben muss. Die Korrektur darf den Sinn der Rede oder einzelner Teile der Rede nicht verändern. Im Konfliktfall entscheidet der Bundestagspräsident17. Auch Zwischenrufe sind Bestandteil des Parlamentsprotokolls und können nur mit Zustimmung des Präsidenten und der Beteiligten gestrichen werden.18 Diese Festlegungen zur Anfertigung von stenografischen Berichten zu jeder Sitzung des Bundestages sorgen für einen außerordentlich hohen Dokumentations-, Authentizitäts- und Öffentlichkeitswert dieser Textsorten. Vom grundlegenden Öffentlichkeitsgebot gibt es nur wenige und in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages fest definierte Ausnahmen: 1) Das Öffentlichkeitsgebot für die Parlamentsdebatten kann nur auf Antrag und mit Zweidrittelmehrheit eingeschränkt werden. 2) Weitere Einschränkungen der öffentlichen Zugänglichkeit treten bei Verschlusssachen in Kraft; ihre Definition und die verschiedenen Geheimhaltungsstufen (die Spanne reicht von STRENG GEHEIM (Abkürzung: str. geh.), GEHEIM (Abkürzung: geh.), VS-VERTRAULICH, (Abkürzung: VS-Vertr.) bis zu VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH (Abkürzung: VS-NfD.)) sind festgelegt in der Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages, die als Anlage 3 Bestandteil der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ist. 3) Den dritten Ausnahmebereich bilden nichtöffentliche Sitzungen, z. B. Ausschusssitzungen, die „grundsätzlich nicht öffentlich"19 sind, oder Anhörungen innerhalb nichtöffentlicher Sitzungen. Sieht man von diesen Einschränkungen des Öffentlichkeitsgebotes ab, so handelt es sich bei den öffentlich zugänglichen Textsorten, mit denen das parlamentarische Geschehen dokumentiert wird, um vorzügliche zeit- und technologiegeschichtliche Quellen, die bei der Zusammenstellung von vertikalen Diskurskorpora von hohem Quellenwert sind, weil sie eine Materialgrundlage darstellen, die auf expertennahen Wissensniveaus zentrale zeitgeschichtliche Diskurse repräsentieren. Für die praktische Korpusarbeit ist es besonders wertvoll, dass im Rahmen der WWW-Version des Dokumentationsmodells (DIP) die Parlamentsprotokolle seit der 8. Wahlperiode (1976 1980) online verfügbar sind.20 Die zweite Dimension des Öffentlichkeits17

18

19 20

Zu den Rednerkorrekturen und der Spezifik der Korrekturen durch die Parlamentsstenografen vgl. Olschewski (2000). Zur Verschriftung von Zwischenrufen im Parlament vgl. Olschewski (2000). Eine linguistische Bewertung parlamentarischer Zwischenfragen und Zwischenrufe liefern Burkhardt (1995) und Kipke (1995). Deutscher Bundestag (1999/a: § 69). Zur Geschichte der Parlamentsdokumentation in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, den Veränderungen in der Dokumentation und Inhaltserschließung nach 1945, dem Fehlen einer Parlamentsdokumentation in der DDR und den

186 status von Parlamentsdebatten ist die Ausrichtung der parlamentarischen Kommunikation auf eine Medienöffentlichkeit. Um die ergebnisorientierten internen kommunikativen Arbeitsformen des Parlaments von den öffentlichkeitsbezogenen Inszenierungen21 abzugrenzen, wird häufig die Unterscheidung zwischen Arbeits- und Redeparlament herangezogen.22 Diese Dichotomie bezeichnet zwei parlamentarische Arbeitsformen mit unterschiedlichem Vertikalitätscharakter: So ist der einzelne Abgeordnete einmal als Experte für ein Sachthema im Ausschuss gefragt, während er als Plenardebattenteilnehmer als universalkompetenter Honoratior über die unterschiedlichsten Themen abstimmen - und theoretisch als Informant der Öffentlichkeit auch berichten muss. (Zimmermann 1997: 272)

Die für die Verarbeitung der Computertechnologie im Parlament ausgewerteten Plenarprotokolle betreffen primär das Redeparlament, in dessen Rahmen die Einzelrede direkt auf öffentliche Wirkung zielt. Die Parlamentsrede, die in schriftlicher Form als Plenarprotokoll vorliegt, muss den Erwartungen von Fraktion, Partei, Wahlkreis, Öffentlichkeit gerecht werden, und nicht zuletzt ist sie natürlich dem eigenen Gewissen der Abgeordneten verpflichtet. Daher ist die Textsorte der Parlamentsrede in extremem Maße mehrfachadressiert.23 Die Untersuchung von Zimmermann (1997) zeigt als Eckpunkte des Adressatenfeldes auf: Politiker, Experten, Presse, Parteimitglieder, Wähler. Zu den verschiedenen Dimensionen des Adressatenfeldes und zur Politikvermittlung liegen jeweils zahlreiche Detailuntersuchungen vor, die hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden können. Um aber zu zeigen, wie sehr die untersuchten Textsorten von der Adressaten- und Medienöffentlichkeit geformt werden, soll kurz skizziert werden, wie sich die Politik- und Parlamentsdarstellung in Massenmedien entwickelt hat, und wie die Redekultur des Parlamentes sich im Verlauf dieses Prozesses auf die Öffentlichkeit, insbesondere in Form von Fernsehübertragungen, eingestellt hat.24 Einige Äußerungen von

21

22

23 24

Veränderungen und Möglichkeiten, die seit den 1970er Jahren durch den zunehmenden Einsatz der EDV zu Dokumentationsswecken entstanden sind, vgl. Schröder (1998). Zur Inszenierung von Politik in den Massenmedien vgl. die Beiträge in: Grewenig (1993), zur Inszenierung im Rahmen informeller politischer Kommunikation vgl. Holly (1990). Zur Differenzierung von Arbeitsparlament und Redeparlament vgl. Patzelt (1998/b) und Zimmermann (1997: 271-277). Vgl. Zimmermann (1997), Kühn (1995) und Burkhardt (1993: 164-165). Vgl. Bäuerlein (1992). Die erst Live-Übertragung einer parlamentarischen Debatte aus dem Deutschen Bundestag per Hörfunk fand, wie Bäuerlein (1992: 218) angibt, am 7. September 1949 statt, und am 6. Oktober 1953 die erste Live-Fernsehübertragung aus dem Deutschen Parlament.

187 Politikern verschiedener Parteien verdeutlichen das Spannungsfeld von Politik und öffentlichkeitswirksamer Mediendarstellung. So prangert etwa der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in einem Interview mit der Fernsehzeitschrift HÖR ZU Verzerrungen an, die durch den direkten Öffentlichkeitsbezug in Direktübertragungen aus dem Bundestag entstanden seien: Ich war stets ein Gegner von Fernsehen im Bundestag. Ich habe mich damals, als es eingeführt wurde, dagegen gewehrt. Ich bedaure es, daß ganze Debatten auf das Fernsehpublikum ausgerichtet werden, damit man möglichst sympathisch wirkt. Es ist nicht Aufgabe des Parlaments sympathisch zu sein [...] ich fühle mich vom Fernsehen auch nicht schlecht behandelt, trotzdem halte ich es objektiv für eine schlimme Sache, daß das Fernsehen im Parlament ist. Da ziehen sich Leute ein hellblaues Hemd an, damit sie auf dem Bildschirm besser aussehen [...] Demnächst gibt es da noch Regisseure und Maskenbildner für die Politiker. (Schmidt 1981) Die angeprangerte Technik beherrschte Schmidt, selbst ein „Meister der parlamentarischen Rhetorik",25 allerdings vorzüglich, weswegen er von politischen Gegnern gelegentlich als „Staatsschauspieler"26 verspottet wurde. Auch in Bundestagsreden sind mediale Zwänge immer wieder einmal thematisiert worden. So fordert der Abgeordnete Josef Ertl (FDP) am 20. September 1984 im Parlament: Das hier soll der Ort des Dialogs, der freien Rede und der Gegenrede, werden. Dann gibt es auch nicht so viel Sich-Einstellen auf das Fernsehen. Denn dann muß man ad hoc reden und kann sich nicht so präparieren und darauf achten, wie man ankommt. (PLPR 10/85: 6226)27 Einen regelrechten Inszenierungsdruck beklagt die Abgeordnete Antje Vollmer (Die Grünen). Sie beschwert sich am 18. September 1987 über eine „gefahrliche Entwicklung" in ihrer Partei, die nach Einschätzung von Bäuerlein (1992) in den ersten Jahren ihrer Fraktionsarbeit durch spektakuläre Aktionen dem „Publizitätskommödiantentum bedenklich nahe gekommen" 28 sei: Man wird permanent gezwungen, die Medienmittel zu dramatisieren. Wir müssen uns ständig etwas Neues einfallen lassen. (PLPR 11/28: 1878)

25 26 27

28

Bäuerlein (1992: 226). Bäuerlein (1992: 226). Zitierweise für Parlamentaria am Beispiel der Angabe: „PLPR 11/28: 1878": PLPR Textsorte „PLPR" = Plenarprotokoll „DRS"= Drucksache Bäuerlein (1992: 236).

11/28 1878 Wahlperiode des Deutschen Bundes- Seitenangatages/laufende Nummer der Sitzung be oder Drucksache

188 Und im Jahr 2000 beschreibt die CDU-Vorsitzende Angela Merkel in einem SPIEGEL-Interview die Politikvermittlung unter Bedingungen der Medienkonkurrenz und allgemeiner Informationsbeschleunigung: Es ist ein unglaublicher Wettkampf um das Ziel eingetreten: Wer erreicht die Menschen? Anders als früher können wir heute schnell über fast alle Informationen verfugen. Aber die Vielzahl der Informationen und die Vielzahl der Medien trifft auf die immer gleich bleibende emotionale Aufnahmefähigkeit der Menschen. Für uns alle wird es immer schwieriger, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Fast nimmt mit mehr Information die Desinformation zu. Das hat weit reichende Auswirkungen auf die Politik. [...] Zwar musste sich auch schon Konrad Adenauer bei seinen Wahlkampfreisen mit dem Zug die Aufmerksamkeit im Radio mit Filmstars wie Liselotte Pulver teilen. Aber heute ist ein enormer Beschleunigungseffekt hinzugekommen. (Merkel 2000)

Die kommunikativen Auswirkungen des medialen Filters beschreibt sie als Druck zur Vereinfachung und Popularisierung, der von den Medien verursacht werde: Die größte Schwierigkeit besteht für mich persönlich darin, dass moderne Medien Vereinfachung erfordern. Wenn ich fünf gleichwertige Beweggründe habe, weiß ich eigentlich, dass ich nur mit einem durchdringe. Den muss ich dann zum wichtigsten erklären. (Merkel 2000)

Diese Wahrnehmung spiegelt das derzeitige Ergebnis einer Entwicklung, das darin besteht, dass die politische Kommunikation in den Medien auch Einzug in Unterhaltungsformate gehalten hat. Politische Akteure nutzen solche Formate dazu, eine „permanente Kampagne"29 zu fuhren, die inzwischen durchgehend und nicht nur in Wahlkampfphasen die Massenmedien zur Erreichung von Meinungsfiihrerschaft und Wählerzustimmung nutzt. Die Personalisierung dieser Situation fuhrt zu Charakterisierungen wie der vom Medienkanzler, wie Pfetsch anschaulich macht: Daß Bundeskanzler Gerhard Schröder bei „Wetten dass" mit seinem Dienstwagen in den Saal rollte und sich als idealer Stargast bei Thomas Gottschalk erwiesen hat, blieb kaum einem deutschen Fernsehzuschauer verborgen. Solche Auftritte des Regierungschefs, seine Talkshow-Präsenz auf vielen Kanälen, seine Interviewbereitschaft in der Presse vermitteln den Eindruck, daß mit dem Regierungswechsel auch eine neue Ära der Kommunikationspolitik gegenüber den Medien angebrochen ist. (Pfetsch 1999/a: 12)

Im Zuge diese Entwicklung ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Bundeskanzler Schröder dann im Jahre 2000 den Deutschen Medienpreis erhalten hat. Dass indessen diese Art öffentlichkeitswirksamer Auftritte aber keineswegs eine neue Ära einleitet, sondern zum sukzessiv entwickelten Repertoire 29

Pfetsch (1999a: 12).

189 dessen gehört, „was im anglo-amerikanischen Kontext als "News-Management' bezeichnet wird",30 belegt Pfetsch (1999/a, b) in ihrem Vergleich der Politikdarstellung und -inszenierung in Deutschland und den USA. Aus dem sukzessiv gewachsenen Medienbewusstsein der Abgeordneten haben sich auch für die live übertragene Parlamentskommunikation bestimmte Grundmuster herausgebildet, die Bäuerlein (1992) analysiert und belegt hat. Besonders wichtig für die Frage der medialen Präsentation im Parlament sind demnach: 1. Das Achten auf strenge Anstandsnorm in der Direktübertragung, d. h., coram publico verhält man sich korrekter als in informellen Runden:, „Dem Auge der Öffentlichkeit soll nichts Ungünstiges auffallen, es soll kein 'falscher' Eindruck entstehen".31 2. Das Ausmaß der Öffentlichkeitsbeteiligung bestimmt besonders auch den Grad der politischen Selbstdarstellung. „Die große Öffentlichkeit der Direktübertragung bewirkt eine schärfere Profilierung der Standpunkte als die kleine Öffentlichkeit der Zuhörer- und Pressetribüne. Das Scheinwerferlicht des Fernsehens fordert eine andere Sprech- und Argumentierweise".32

Für eine vertikalitätslexikologische Untersuchung dieser Textsorte sind solche pragmatisch wirksamen Anpassungen des Sprachverhaltens wichtig und bei der Auswertung des Diskurszusammenhanges und des Wortschatzes immer zu berücksichtigen. Wie sehr sich die Abgeordneten auch der politischen Vorteile eines direkten Transfers ihrer Botschaften bewusst sind, illustriert auch die transfertheoretische vielsagende Beschwerde Konrad Adenauers, der regelmäßig ausgewählte Journalisten zu Teerunden einlud: Er klagte darüber, dass bei der indirekten Berichterstattung in der Presse die Debattengegenstände immer erst „den Geist der Journalisten"33 passieren müssen, bevor die Adressaten erreicht werden.

30

31 32 33

Pfetsch (1999a: 12). Vgl. dazu auch Meyer (2001), der entsprechende Veränderungen im demokratischen System, im Untertitel seines Mediokratie-Buches skeptisch als „Kolonisierung der Politik durch die Medien" bezeichnet. Bäuerlein (1992: 217). Bäuerlein (1992: 217). Bundeskanzler Konrad Adenauer am 4. April 1960 in der Hörfunk-Sendereihe des Bayerischen Rundfunks „Politik aus erster Hand"; zitiert in Bäuerlein (1992: 218).

190 9.1.4

Die Diskurszugehörigkeit

von Parlamentstexten

Der Quellenwert von Parlamentsprotokollen für die Repräsentation von Diskursen ist in verschiedenen Untersuchungen bestätigt worden; so untersucht etwa Dubiel (1999) die Bundestagsdebatten über die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands, und mit stärker sprachgeschichtlichem Interesse ziehen Wengeler (1992) und Jung (1994) diese Textsorte zur empirischen Fundierung ihrer Untersuchungen zur Geschichte der Rüstungsdiskussionen und zur Geschichte des Diskurses über die Atomenergie heran. Für die Erstellung von Diskurskorpora für die sprachgeschichtliche Analyse bieten Parlamentsprotokolle zusätzlich den Vorteil einer vorzüglichen Inhaltserschließung durch den Parlamentsthesaurus (PARTHES), der - wie in Teilkapitel 8.2.2 detaillierter ausgeführt - die grundlegende Erschließung der Parlamentaria nach thematischen Gesichtspunkten ermöglicht.34 Aus einer diskurslexikologischen Perspektive handelt es sich dabei um eine systematisierte Form der schlüsselwortgesteuerten Zuordnimg von Texten zu einem oder mehreren Diskursen, die hier als Dokumentationsgebiete aufgefasst werden. Das wird deutlich, wenn man die informationswissenschaftliche Definition eines Thesaurus, die in der DIN 1463 formuliert ist, aus Diskursperspektive betrachtet. Nach dieser Charakteristik ist ein Thesaurus eine Dokumentationssprache, die gekennzeichnet ist, durch eine geordnete Zusammenstellung von Begriffen und ihren (vorwiegend natürlichsprachigen) Bezeichnungen, die in einem Dokumentationsgebiet zum Indexieren, Speichern und Wiederauffinden dient. Er ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: a) Begriffe und Bezeichnungen werden eindeutig aufeinander bezogen („terminologische Kontrolle"), indem Synonyme möglichst vollständig erfasst werden, Homonyme und Polyseme besonders gekennzeichnet werden und für jeden Begriff eine Bezeichnung (Vorzugsbenennung, Begriffsnummer) oder Notation festgelegt wird, die den Begriff eindeutig vertritt. b) Beziehungen zwischen Begriffen (repräsentiert durch ihre Bezeichnungen). (DIN 1463, zit. in Burkart 1990: 160)

Auf diese Weise werden Diskursgegenstände (Dokumentationsgebiete), die zugeordneten Schlüsselwörter und die Beziehung zwischen Diskursgegenständen transparent und wiederauffindbar gemacht und der Diskurs dokumentarisch erschlossen. Der Bezug zum Wissenskontinuum eines Diskurses

34

Eine detaillierte Beschreibung der Systematik, nach der im PARTHES die Begriffe und Bezeichnungen aufeinander bezogen sind, signifikantgleiche Zeichen unterschieden und die Relationen zwischen den Bezeichnungen sichtbar gemacht werden, liefert Deutscher Bundestag-Gruppe-Datenverarbeitung (1985).

191 wird noch deutlicher, wenn Thomas Schröder für den (ebenfalls durch solche Bezeichnungsnetze konstituierten) Parlamentsthesaurus festhält: Der Thesaurus repräsentiert durch sein Wortgut die parlamentarischen Dokumente von Bund und Ländern und ermöglicht so einen Weltausschnitt des parlamentarischen Geschehens. (Schröder 1998: 146)

Der Parlamentsthesaurus repräsentiert mit dem „parlamentarischen Weltausschnitt"35 auch die Zweckorientierung des Parlamentes und macht über eine „intellektuelle Erschließung mit einem kontrollierten Wortmaterial"36 die Themenstruktur der Diskurse zugänglich. Das geschieht nicht durch eine automatisierte Inhaltsanalyse, sondern kann wegen der Komplexität der Inhalte nur durch menschliche Deskriptionsarbeit geschehen.37 Diese wiederum unterliegt der gesellschaftlichen Wissensdifferenzierung, denn zur Konstituierung eines Themenfeldes und seiner Benennung sowie der Zuordnung von Themen zu einem bestimmten Themenfeld muss eine Übereinkunft zwischen den Parlamentariern und dem dokumentarischen Sachverstand der wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages erzielt werden. Hier können zwischen den Akteuren durchaus unterschiedliche Einschätzungen bestehen, die sich aus der Spannung zwischen verschiedenen sprecherseitigen Vertikalitätsniveaus und einer streng deskriptiven oder stärker definitorischen Ausrichtung der Dokumentation ergeben. Schröder (1998: 149) verdeutlich dies an einem Beispiel: „wenn z. B. in einer mündlichen Anfrage von einem Abgeordneten gefordert wurde, man solle die Reklame für Rauchwaren im Fernsehen verbieten, gab es einen Konflikt: Die Abteilung Sach- und Sprechregister wollte aufgrund des Textes der Parlamentsdebatte „Rauchwaren" als Thesaurusdeskriptor für dieses Dokument. Die Redaktion des Parlamentsthesaurus PARTHES war aber definitorisch präziser. Der Deskriptor „Rauchwaren"sei für das diskutierte Thema falsch, es müsse richtig Tabakwaren heißen, denn Rauchwaren sei ein Begriff für Tierpelze." (Schröder 1998: 149)

Daran wird deutlich, dass auch das Wissen im „parlamentarischen Weltausschnitt"38 einer Experten-Laien-Differenzierung unterliegt, deren dokumentarische Auswirkungen allerdings durch die Beteiligung verschiedener Instanzen reduziert werden.

35 36 37

38

Schröder (1998: 145). Schröder (1998: 146, Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch Schröder (1998) und Deutscher Bundestag-Gruppe Datenverarbeitung (1985). Schröder (1998: 145).

192 9.1.5

Die Vertikalitätsadäquatheit Wissensvertikalität und Wissensorganisation im Deutschen Bundestag

Für die Analyse der vertikalen Dimension von öffentlichen Technologiediskursen ist die Berücksichtigung des „parlamentarischen Weltausschnitt[es]" 39 zumindest aus zwei Gründen besonders aufschlussreich. Zum einen gibt es eine Art institutioneller Wissensregulation, die verhindern soll, dass der parlamentarische Technologiediskurs auf ein Vertikalitätsniveau fallt, das dem gesellschaftlichen Diskurs nicht mehr gleichberechtigt ist, und zum anderen weist der gesamte Wissenshaushalt, der der parlamentarischen Kommunikation zugrunde liegt, ein sehr spezifisches Profil auf. Ein Beispiel für die institutionelle Wissensregulation in Form der Etablierung einer Beratungsstelle für die Abgeordneten, die natürlich nicht auf allen Technologiegebieten Experten sein können, bietet die „Institutionalisierung einer Beratungs-Kapazität für Technikfolgenabschätzung und -bewertung". 40 Die Einführung einer solchen Beratungsmöglichkeit für den Deutschen Bundestag ist in der Folge des technologischen Wandels auf die Erkenntnis der Parlamentarier zurückzuführen, dass der parlamentarische Diskurs in der Frage der Einschätzung von Technologien und deren Folgen hinter dem gesellschaftlichen Diskurs zurückgeblieben ist. Dies wird in der Begründung des Einsetzungsbeschlusses der Enquetekommission „Einschätzung und Bewertung von Technikfolgen" im Jahre 1985 deutlich formuliert. Auch die Forderung nach verbessertem Zugang zum Expertenwissen und das gleichberechtigte Ineinandergreifen öffentlicher und parlamentarischer Diskurse werden zur Legitimation der Einrichtung einer solchen Beratungsmöglichkeit herangezogen: Das Parlament hat bis heute zu einer der gestiegenen Bedeutung von Wissenschaft und Technik angemessenen Rolle erst in Ansätzen gefunden. Ähnliches gilt für die öffentliche Debatte über Chancen und Risiken bestimmter Techniken. Die breite Diskussion über die Frage, ob und wie wir zukünftig in einer zunehmend technischen Umwelt leben wollen, wurde von Bürgerinitiativen, Interessengruppen, Regierungen und Administration sowie von Wirtschaft und Wissenschaft bestimmt. [...] Sowohl im Hinblick auf die faktische Entwicklung und Nutzung von Techniken als auch, was deren gesellschaftliche Diskussion anlangt, teilt der Deutsche Bundestag das Schicksal der meisten parlamentarischen Gremien moderner Industriegesellschaften. Gegenüber Wissenschaft, Wirtschaft und Exekutive und dem dort verfugbaren Sachverstand ist er ins Hintertreffen geraten. (BT-DRS 10/5844: 5)

39 40

Schröder (1998: 145). BT-DRS 10/5844: 5. An dieser Stelle sei die Zitierweise für Drucksachen kurz erläutert: Texsorte = BT-DRS (Bundestagsdrucksache), Wahlperiode = 10, Dokumentnummer = 5844, Seite = 5.

193 Hier wird die Wissenskonkurrenz zwischen gesellschaftlichen Gruppen ebenso deutlich wie die zwischen Parlament und Regierung. Auch wird klar, dass das Parlament versucht, den Wissensvorsprung, die Wissensvertikalität, auszugleichen, indem eigens zu diesem Zweck eine Beratungsinfrastruktur aufgebaut wird, die künftig verhindern soll, dass der Technologiediskurs des Parlamentes wissens- und erkenntnisbezogen hinter dem anderer Träger zurückbleibt. Die Grundmotive dieser Form der Institutionalisierung des Wissenstransfers zwischen Fachexperten und Abgeordneten sind bestimmend für die gesamte Wissensorganisation des deutschen Bundestages. In der parlamentarischen Kommunikation herrscht generell eine überaus interessante vertikale Mischung vor, das zeigt der Blick auf die Spezifik der parlamentarischen Wissensorganisation, der durch die folgenden fünf zentralen Merkmale gekennzeichnet ist: 1) partielle Vertikalitätsinversion 2) politische Umformung wissenschaftlichen Wissens, 3) Anbieterkonkurrenz bei der Bereitstellung von Wissen für die Politik, 4) Wissenskonkurrenz zwischen Bundestag und Regierung, 5) Dominanz der Politik in Ausschüssen und Kommissionen. Die partielle Vertikalitätsinversion ist ein besonders wichtiges Merkmal der parlamentarischen Wissensorganisation. Der Transferprozess Experte Laie wird in vertikaler Umkehrung von der Fragedominanz der Laien abhängig gemacht. Diese Vorschaltung der Transferbedingung Laie Experte vor den eigentlichen Transferprozess ist für die Politikberatung konstitutiv. Die Abgeordneten als Laien initiieren den Wissenstransfer und setzen die thematischen und inhaltlichen Standards fest, nach denen das Expertenwissen ausgewertet wird. Ott hebt deshalb hervor: Die Problembeschreibung durch die Laien legt die Fokussierungen der Experten und ihrer Gutachten fest. Wissenschaftliche Expertise und das lebensweltliche Wissen der Laien müssen im Hinblick auf die Erzeugung relevanten Wissens aufeinander bezogen bleiben. (Ott 2000: 299)

Die Abgeordneten sind als Politikexperten einerseits Fachlaien und haben hohen Beratungsbedarf bei der Beantwortung politischer Fragestellungen, die sich aus der Entwicklung der Computertechnologie ergeben. Andererseits müssen sie in der öffentlichen Debatte Kompetenz und Expertise signalisieren. Im Rahmen von Technologiediskursen besteht die Aufgabe der Parlamentarier darin, die neuen technologischen Entwicklungen auf ihre möglichen Auswirkungen auf die Gesellschaft, die Lebensbedingungen der Bürger, die Wirtschaft und die Umwelt zu überprüfen und adäquate normative Rahmen für die Förderung und Begrenzung der Technologie und ihrer Anwendungen

194 zu setzen. Die Grundlage dazu bietet eine Technikfolgenabschätzung, die sich aus Sicht des Parlamentes auf die interdependenten Prozesse zwischen gesellschaftlicher (das schließt sprachliche Prozesse ein) und technologischer Entwicklung beziehen muss. Dies wird in der Bestimmung der Enquetekommission zur Technikfolgenabschätzung und -bewertung deutlich: Technik und Technologie existieren nicht einfach, sondern werden gemacht. Ihr Entstehungsprozeß ist nicht nur als Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen oder Erfahrungswissen in technische Verfahren oder Produkte zu begreifen. Entstehung, Einfuhrung und Nutzung von Techniken sind eingebettet in ein System gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen. Das heißt, sie sind von diesen beeinflußt und verändern diese wiederum selbst. Daraus folgt, daß durch Techniken bewirkte gesellschaftliche Entwicklungsprozesse Bestandteil von Technik sind. In diesem Sinne kann man von Technik als soziotechnischem Prozeß sprechen. (BTDRS 10/5844: 9)

Den Abgeordneten des Deutschen Bundestages stellt sich damit eine gewaltige Aufgabe bei der Einschätzung der Folgen von Technologien. Gleichzeitig sind aber die Wenigsten von ihnen aufgrund ihrer Ausbildung und Berufsbiografie sachverständig im Expertensinne. Um dennoch adäquate Entscheidungen zu ermöglichen, spielt die Politikberatung hier eine entscheidende Rolle. Die Abgeordneten müssen als Informatiklaien von Sachverständigen so beraten werden, dass ihnen präzise das Fachwissen zur Verfügung gestellt wird, das sie zur Beantwortung der politischen Fragen benötigen, ohne dass die Interpretation des Wissenschaftlers bereits die Bewertung durch den jeweiligen Abgeordneten vorwegnimmt. Wie in den meisten Technologiediskursen geht es dabei auch im Computerdiskurs um Fragen der Technologieforderung und der grundlegenden Technikfolgenabschätzung, für die eine Umkehrung der Vertikalität in den meisten Fällen obligatorisch ist. Die grundlegenden Ziele der parlamentarischen Kommunikation zur Technikfolgenabschätzung sind: a.

b.

c. d. e.

Der Gesamtzusammenhang von technischem und gesellschaftlichem Wandel soll als komplexes System von sich gegenseitig bedingenden Ursachen und Wirkungen systematisch erfaßt und vorausschauend analysiert und bewertet werden. Der Schwerpunkt der Analyse und Bewertung soll [...] bei den sekundären, nicht intendierten, indirekten, synergistischen und langfristigen Folgen [liegen], Als Folgen von Techniken sollen auch nichtquantifizierbare, gesellschaftliche und kulturelle Auswirkungen erfaßt und bewertet werden. In Analyse und Bewertung sollen direkt oder indirekt Betroffene miteinbezogen werden. Es wird angestrebt, verschiedene Handlungsoptionen im Sinne von alternativen Wahlmöglichkeiten zu formulieren. [...]

195 f.

TA ist anwendungsorientiert. Sie ist gedacht als Beitrag zur konstruktiven Entscheidungsvorbereitung in aktuellen und für zukünftige Handlungssituationen. (BTDRS 10/5844: 10) Bei der Etablierung eines Beratungssystems, das die Umsetzung dieser Zielstellung ermöglichen soll, kann es sich, wie die Enquetekommission betont, nur um eine „Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik" 41 handeln, für die die Inversion der Vertikalität, also die Rahmensetzung durch Abgeordnete als Laien, konstitutiv ist. Die Vertikalitätsinversion ist dabei der sichtbare Ausdruck einer spezifischen Wissensorganisation, die der politisch notwendigen Umformung wissenschaftlichen Wissens folgt. Die politische Umformung wissenschaftlichen Wissens nach nichtwissenschaftlichen Kriterien, etwa dem der Handlungsorientierung oder dem der Mehrheitsfähigkeit, entsteht durch die Spezifik des Informationsbedarfes, der die parlamentarische Kommunikation charakterisiert. 42 Dieser Informationsbedarf der Parlamentarier zielt auf politische Handlungs- und Entscheidungspotenziale und unterscheidet sich vom Informationsbedarf anderer Gruppen, etwa der Wissenschaft, erheblich. Deshalb muss Technologiewissen, das für Abgeordnete aufbereitet wird, • unmittelbare politische Relevanz haben, • wissenschaftlich gesichert sein, • von Fachexperten, den Sachverständigen, inhaltlich bewertet werden, • inhaltlich erschlossen sein, • interdisziplinär verarbeitet sein, • für den einzelnen Abgeordneten schnell abrufbar sein, • in die Zukunft gerichtet sein und • als eine Art Frühwarnsystem fungieren können. 43 Eine solche idealtypische Aufbereitung von wissenschaftlich gesichertem Wissen zu einem für politische Entscheidungen verwendbaren Wissensfundament findet indes in der Praxis nicht in Reinform statt, denn die Aufbereitung wissenschaftlichen Wissens ist nicht grundsätzlich von der politischen Ausrichtung der Wissensträger zu trennen: Eine von politischer Bewertung unab41 42

43

BT-DRS 10/5844:9. Vgl. Schröder (1998: 16-21) und Hassemer (1990), der betont: „Wissenschaft und Politik folgen unterschiedlichen Ethiken; der Wissenschaftler und der Politiker verfolgen unterschiedliche Ziele: Wissenschaft verfolgt Einsichten, Politik verfolgt Absichten." (Hassemer 1990: 191). Vgl. auch die Formulierung der Anforderungen in den Bundestagsdebatten zum Zwischenbericht und den Ergebnissen der Enquetekommission „Einschätzung und Bewertung von Technikfolgen; Gestaltung von Rahmenbedingungen der technischen Entwicklung" am 4. Juni 1987 (PLPR 11/16) und am 5. November 1987 (PLPR 11/36). Hier wird durchgängig eine Funktionalisierung des Fachwissens zu einem gesellschaftlichen Frühwarnsystem gefordert. Vgl. auch Schröder (1998: 10-20) und Backhaus-Maul (1990: 19-37).

196 hängige Politikberatung ist eine Fiktion. Dies streicht z. B. auch der FDP-Abgeordnete Laermann in einer parlamentarischen Debatte zur Technikfolgenabschätzung plastisch heraus: Ist es denn tatsächlich möglich, daß wir Objektivität der Sachverständigen erwarten können? Werden nicht die Experten in Kommissionen, auch Enquete-Kommissionen, zu Anhörungen und sonstigen Veranstaltungen des Parlaments nach dem Parteienproporz, nach den Vorstellungen oder - lassen Sie es mich deutlicher sagen - nach den Vorurteilen der vorschlagenden Gruppen bzw. Fraktionen ausgewählt? Können nicht auch auf diese Art und Weise Experten politisiert werden? Ich habe so meine Erfahrungen in den Enquete-Kommissionen. Führen nicht widersprüchliche Aussagen von Experten in reinen Sach- und Fachfragen auf den verschiedensten Gebieten, nicht nur in der Technik, die oft auch diffus und vorurteilsbehaftet sein können, eher zur Verunsicherung und Verwirrung der Politiker als zu deren Erleuchtung? Da sagt der eine Experte: ja, der andere Experte sagt: nein; wir stehen da und müssen entscheiden. Entscheiden wir nach der Farbe der Krawatte, die passender zum Anzug ist, als die eines anderen? (PLPR 11/16, 4.6.1987: 1056)

Das so bereits politisch gerichtete Wissen wird im Rahmen des weiteren Umformungs- und Aufbereitungsprozesses nicht nur mit Blick auf seine politische Relevanz bewertet, sondern auch hinsichtlich der Frage, in welcher Weise es in Argumente umgesetzt werden kann, die mehrheitsfähig sind. Der Bundestagsabgeordnete und ehemalige Senator von Berlin, Volker Hassemer, betont den Unterschied zwischen politischer und wissenschaftlicher Information und den Aspekt der Mehrheitsfahigkeit politischen Wissens: Beiden Bereichen gemeinsam ist, dass Information keine unabhängige Größe, keinen Wert an sich darstellt, sondern Relevanzkriterien unterliegt. Das Relevanzkriterium, nach dem sich Information im Bereich Politik bemißt, ist die Verminderung von Unsicherheit des Handelns. Politische Information, bzw. Information in politischen Handlungs- und Entscheidungszusammenhängen ist in sehr viel engerem Maß als in der Wissenschaft wertbezogen. [...] Darum durchzieht das Politische auch der Grundsatz der Mehrheitsentscheidung. Die wäre überflüssig oder sogar verwerflich, wenn es nur um Sachwissen ginge. (Hassemer 1990: 192)

Bei der Bereitstellung von Wissen für die politische Verarbeitung spielen also andere Relevanzkriterien eine Rolle als in der Wissenschaft und im nicht politischen Umgang mit Wissen. Für die Wissenschaft stehen Wahrheits- und Richtigkeitskriterien im Vordergrund und für die breitere öffentliche Diskussion ist eher die Orientierungsfunktion zentral. Orientierungsfunktion und Handlungsermöglichung prägen zwar auch den politischen Informationsbedarf, aber die Forderung nach Mehrheitsfahigkeit eines Wissens, also die Frage der strategischen Verwertbarkeit, unterscheidet den politischen Informationsbedarf vom Informationsbedarf anderer Vertikalitätsniveaus. Diese Spannung zwischen der Richtigkeit des Wissens und seiner mehrheitsfahigen und strategisch verwendbaren Selektion hat Folgen auf der Handlungsebene und

197 wirkt sich massiv auf die sprachliche Fassung des Wissens aus. Diese Auswirkungen einer interessengebundenen Selektion des Wissens auf das politische Handeln betont Schröder, wenn er hervorhebt: Die Qualität der Information steigert nicht automatisch die Qualität der politischen Entscheidung! (Schröder 1998: 17)

Hinzu kommt, dass die politische Auswahl und die öffentliche Diskussion auch auf das Wissen im Fach zurückwirken. Das Wissen überquert dann gewissermaßen die Vertikalitätsniveaus wieder in umgekehrter Richtung, wenn es zunächst für die politische Anwendung aus einem Fach heraus transferiert wird und anschließend aber, durch die öffentliche Diskussion verändert, wieder in das Fach selbst hineinwirkt, wie Habermas betont: Sobald Fachwissen zu politisch relevanten Steuerungsproblemen herangezogen wird, macht sich dessen unvermeidlich normative Imprägnierung bemerkbar und löst polarisierende Kontroversen unter den Fachleuten selbst aus. (Habermas 1992: 426)

Der strategische Umgang mit Wissen im Parlament muss demnach bei der Analyse berücksichtigt werden, insbesondere weil er sich sprachlich niederschlägt und die Auswahl der Lexik und die Art der Projektionen (Wunsch, Vermeidung oder Machbarkeit) elementar prägt. Die Anbieterkonkurrenz bei der Bereitstellung von Wissen für die Politik wird im Vorhandensein verschiedener Wege der Bereitstellung des Wissens für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sichtbar. Bundestagsintern wird diese Aufgabe von den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages übernommen. 44 Deren Beratungsspektrum ist in vier Funktionsbereiche aufgeteilt: • den Ausschussdienst, der Wissen für Bundestagsausschüsse aufbereitet, • den Gutachter- und Recherchedienst, der auftragsbezogen Wissen aquiriert und zusammenstellt, • Die Dokumentation, die von der klassischen Bibliothek bis zu Fachdateien Wissen archiviert und dokumentiert,

44

Zur Entwicklung der Wissenschaftlichen Dienste, ihrer Integration in die Bundestagsverwaltung und zur Konkurrenz der parlamentarischen Wissensanbieter vgl. Backhaus-Maul (1990). Aspekte der Systematisierung und sukzessiver Institutionalisierung der Politikberatung besonders im Bereich der Technikfolgenabschätzung stellen Braß (1990), Petermann/Franz (1990), von Westfalen (1990), von Thienen (1990) dar. Den Einsatz diskursiver Verfahren im Rahmen der öffentlichen Technikfolgenabschätzung beschreiben aus der Perspektive der habermasschen Diskurstheorie Kreß (2000), Gottschalk (2000), Ott (2000), Nennen (2000).

198 •

parlamentsrechtliche Fachbereiche und Referate, die Abgeordnete und Parlamentsgremien in parlamentsrechtlichen Fragen beraten.45 Diese Beratung durch die wissenschaftlichen Dienste wird durch eine Fülle weiterer Wissensanbieter ergänzt und steht zu ihnen in Konkurrenz. Solche Anbieter können sein: persönliche Mitarbeiter der Abgeordneten, Fraktionsdienste, Ministerialbürokratie, Interessenverbände, wissenschaftliche Institute oder Stiftungen. Das Wissen aus diesen Quellen steht den Abgeordneten zwar zur Verfügung, erfahrt aber in der Praxis Einschränkungen, z. B. durch die Ressourcenlage. Dies gilt nicht für die Bundesregierung, und so kommt es zu einer Wissenskonkurrenz zwischen Bundestag und Regierung. Die Regierung hat über die Bundesministerien Zugriff auf eine weit reichende Beratungsinfrastruktur, die ein weit gespanntes Netz externer Beratungsinstitutionen umfasst: Beratergruppen Beiräte, Kommissionen, Sachverständigenausschüsse staatliche Forschungsinstitute kommerzielle Forschungsinstitutionen staatlich geforderte Institute private Institute

Beratungsform offizielle, ständige wissenschaftliche Beratung Ad-hoc-Ausschüsse Einzelaufträge, Gutachten informelle Gespräche punktuelle Information zu Einzelfragen Universitätseinrichtungen und einzelne punktuelle Information zu EinzelWissenschaftler fragen (Vgl. Backhaus-Maul 1990: 27) Gegen diese umfangreichen Möglichkeiten der jeweiligen Bundesregierung, sich über ihre Ministerien umfangreich beraten zu lassen, während die Beratungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten und des Bundestages vergleichsweise gering waren, hat sich seit Mitte der 1960er Jahre Widerstand geregt, der dazu gefuhrt hat, dass für den Bundestag die Möglichkeit geschaffen worden ist, zu definierten Sachkomplexen Enquetekommissionen einzurichten. Die Enquetekommissionen spiegeln in kommunikativer Hinsicht sehr deutlich die partielle Umkehrung der Vertikalität, die hier wie in der gesamten Politikberatung zu einer Dominanz der Politik gefuhrt hat. Die Richtung der Vertikalität, also die Frage ob die Politiker oder die Wissenschaftler eine solche Kommission dominieren, hat in der Anfangsphase der Etablierung zu Auseinandersetzungen und Konkurrenzen zwischen den beiden Gruppen geführt. Wichtige Gründe für die kommunikativen Probleme zwischen Abgeordneten und Sachverständigen in einer solchen Kommission sind-neben 45

Vgl. Backhaus-Maul (1990: 31).

199 dem Bewusstsein, dass die Sachverständigen inhaltlich mitentscheiden46 der unterschiedliche strategische Wert, der jeweils dem Wissen beigemessen wird und, die Verschiedenheit der Orientierung bei der Suche nach Problemlösungen: Während der Wissenschaftler das 'Richtige', die 'ideale Lösung' sucht und herausarbeitet, gibt es für den Politiker auch die richtige, ideale Lösung im jeweils günstigsten Augenblick. (Möller 1967: 38, Hervorhebung im Original)

Die Verständigung zwischen Wissenschaftlern und Abgeordneten in der Enquetekommission ist keine herrschaftsfreie Kommunikationsform, sondern eine, die von den Beteiligten als „Zusammenarbeit zweier um Macht und Einfluss konkurrierender Gruppen erfahren wird".47 Die Kommunikation wird dadurch erschwert, und eine zu starke Wissenschaftsorientierung kann innerhalb der Kommission zu erheblichen Nachteilen fuhren, wie Braß hervorhebt: Wissenschaftler, die in EK ihre „Steckenpferde reiten", die sich mit Kollegen in Fachsimpeleien verlieren, deren Beiträge nicht anwendungsorientiert sind, verlieren daher tendenziell an Einfluß auf die Willensbildung des Abgeordneten. (Braß 1990: 75)

Diese Einschätzung illustriert nicht nur die kommunikative Problematik, sondern zeigt deutlich die Machtverteilung innerhalb der Enquetekommission. Sie wird dominiert von den Abgeordneten, die in den fachlichen Fragen, in denen sie Beratungsbedarf haben, mehr oder weniger auf der Laienseite stehen, und aus dieser Perspektive ihren Informationsbedarf formulieren. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der die inhaltliche Aufbereitung des Wissens mitbestimmt, ist die Information einer breiten Öffentlichkeit über die Ergebnisse der Kommission. Das wichtigste Instrument der Veröffentlichung der Ergebnisse einer Enquetekommission sind Ergebnis- oder Zwischenberichte. Der Öffentlichkeitsbezug eines solchen Berichtes „hat Auswirkungen auf seine inhaltliche und sprachliche Gestaltung. Allerdings sind einer Vereinfachung der oftmals erforderlichen Wissenschaftssprache Grenzen gesetzt, da sich der Bericht auch an Fachwelten wendet, denen die Sachverständigen angehören." (Braß 1990: 86) Der Bericht einer Enquetekommission ist damit einem expertennahen Wortschatzniveau zuzuordnen, da versucht werden muss, die Laienöffentlichkeit als Adressaten ebenso einzubeziehen wie die Experten eines Faches. Die an der Kommission beteiligten Wissenschaftler werden dementsprechend bemüht sein, die Berichte so abzufassen, dass sie zwar eine gewisse Vereinfachung zugestehen, dies aber nicht zulasten der wissenschaftlichen Substanz 46 47

Zur inhaltlichen Mitentscheidung der Experten vgl. Braß (1990: 75). Braß (1990: 75).

200 gehen z u lassen. Dabei wird aber im W e c h s e l mit fachsprachlichen Anteilen durchaus gemeinsprachlich und zum Teil leserwerbend populär formuliert. Besonders anschaulich wird dies z. B. im 1998 vorgelegten Abschlussbericht der Enquetekommission „Zukunft der M e d i e n in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands W e g in die Informationsgesellschaft". D e s s e n Vorwort ist so anschaulich formuliert, dass hier ein längeres Zitat gerechtfertigt ist, u m an d i e s e m Beispiel zu illustrieren, w i e sehr diese Textsorte auch auf Akzeptanz bei einer Laienöffentlichkeit hin ausgerichtet ist: Kein Stein wird auf dem anderen bleiben! Das ist die Quintessenz Roland Bergers über die Perspektiven der Informationsgesellschaft in seinem Gutachten für die Enquete-Kommission [...] Buchdruck, Dampfmaschine und Telefon haben neben anderen Erfindungen den Lauf der Weltgeschichte entscheidend verändert. Vor etwa 30 Jahren überschritten wir die Schwelle ins Computer-Zeitalter, ohne die auf uns zukommenden revolutionären Veränderungen dieser Technik vorauszuahnen. Heute leben wir in einer Informationsgesellschaft, die sich in rasantem Tempo global weiterentwickelt. Um nur ein Beispiel zu geben, wie diese Informationsgesellschaft unser Leben verändert: Durch die Revolution der Kommunikationstechnologie wird es möglich, Informationen mit Lichtgeschwindigkeit um den ganzen Globus zu schicken. Bisher bestehende räumliche und zeitliche Beschränkungen verschwinden. Jeder kann mit jedem auf weltweiten Datenautobahnen in Wort, Bild und Ton kommunizieren. Die Welt wird zu einem elektronischen Dorf. Auf dem Weg in die wissensbasierte Gesellschaft kommt der Informationstechnologie eine Schlüsselrolle zu. Die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" ist der Auffassung, daß sich durch die neuen Informations- und Kommunikationstechniken das Leben in unserer Gesellschaft nachhaltig verändern wird. Viele vergleichen diesen Wandel mit den Veränderungen, die sich beim Übergang von der Agrargesellschaft zur modernen Industriegesellschaft vollzogen haben. Dieser Wandel löst bei vielen Menschen Unsicherheiten aus. Um diese abzubauen, müssen die Chancen der neuen Technologien deutlich gemacht und gleichzeitig die Risiken durch politisches Handeln begrenzt werden. (BTDRS 13/11004/1998: 1, Kursivdruck im Original) Es ist deutlich, dass der Textsorte Vorwort gemäß sehr anschaulich formuliert wird, bevor der fachlich abstrakte Teil angeschlossen wird. Aber auch dort findet sich ein Sprachgestus, der sich bei der Beschreibung informatischer Sachverhalte nicht allzu stark an die Fachsprache annähert. S o bleiben die Inhalte für Abgeordnete und Laienöffentlichkeit verständlich.

9.1.6

D i e Diachronieadäquatheit

v o n parlamentarischen Textsorten

D i e Textsorten des Parlamentskorpus sind bestens geeignet, die Sprach-, T h e m e n - und Wortschatzgeschichte des parlamentarischen Computerdiskurses zu repräsentieren. Seit 1963 ist die Computertechnologie immer stärker in

201 Debatten, Forschungsberichten, Anfragen, Hearings und Enquetekommissionen thematisiert worden. In das vorliegende Korpus sind zwar vornehmlich die Texte des öffentlichen Redeparlamentes integriert worden, also die Parlamentsprotokolle von mündlich vorgetragenen Reden, die ihrerseits auf schriftlichen, ggf. von mehreren Autoren erstellten Manuskripten beruhen. Dort allerdings, wo die Technologie in ihrer Frühphase nur im Arbeitsparlament thematisiert worden ist, wurden auch die Forschungsberichte und vereinzelt originär schriftliche Textsorten einbezogen. Diese Texte spiegeln den Verlauf des Computerdiskurses im Parlament und zeigen auch die Aufspaltung in zahlreiche Teil- und Subthematiken in Abhängigkeit von der Sachentwicklung der Computertechnologie. Sie repräsentieren auch die gesellschaftliche Karriere der Computertechnologie und die Begriffskarrieren des zugehörigen Wortschatzes. Darüber hinaus zeigen sie am Beispiel des parlamentarischen Computerdiskurses den fundamentalen Wandel im Umgang mit gesellschaftlichen Wissensbeständen, der durch die Computertechnologie in Gang gesetzt worden ist, in seinem zeitlichen Verlauf. Gerade in den Textsorten des expertennahen Parlamentsdiskurses wird sichtbar, dass die diachrone Untersuchung des zugeordneten Wortschatzes nicht von der Wissensentwicklung und der Frage der Wissensdistribution absehen kann, sondern dass sie ins Zentrum gerückt werden müssen. Denn insbesondere bei der Untersuchung zu Bezeichnungs- und Bedeutungswissen der informatisehen Leittechnologie im Deutschen Parlament ist auch die Frage zu stellen, „nach welchem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert hat".48 Die Diachronie der sprachlichen Verarbeitung der informatischen Leittechnologien zeigt die Metamorphose des „Ordnungsraumes", in dem das parlamentarische und gesellschaftliche Technologiewissen seinen Platz hat. Die massiven Veränderungen, die die Computertechnologie mit ihren zugeordneten Wissenschaftsfeldern angestoßen hat, sind so einschneidend, dass sie den Alltag der meisten Menschen stark verändert haben. Die gemeinsprachliche Verarbeitung dieser Vorgänge, die auch in den parlamentarischen Texten fest etabliert ist, findet ihren populären parlamentarischen Reflex in den Schlagworten von der Informationsgesellschaft, dem E-Commerce und den Datenautobahnen, deren Denotate zunehmend die Geschwindigkeit des wirtschaftlichen und zum Teil des sozialen und politischen Lebens vorzugeben scheinen. Die diachrone Betrachtung des Diskurses macht aber auch sichtbar: Die Wahrnehmung und Bewertung der Computertechnologie durch Parlamentarier im Zeitverlauf ist ambivalent. Technologieskeptizismus und Euphorie halten sich die Waage, Generationenfragen werden angeschnitten und aus dem Erfahrungsfundus zu Nutz- und Schundanwendungen der Technologie finden 48

Foucault (1997 OD: 24).

202 beide Richtungen mit allen Facetten ihr Belegmaterial. Daher sind die parlamentarischen Textsorten besonders geeignet, einen analytischen Längsschnitt der Diskursentwicklung zu fundieren, der es ermöglicht, die Wortschatzentwicklung und die thematische Progression vor dem Hintergrund der Technologieentwicklung nachzuzeichnen.

9.2

Das Pressekorpus und die kommunikative Spezifik des STERN

9.2.1

Der Öffentlichkeitscharakter des STERN: ein Leitmedium aus dem Segment der politischen Presse mit illustriertentypischen Textsortenmerkmalen

Das Pressekorpus besteht aus 216 Artikeln mit Computerthematisierungen aus dem Magazin STERN. Der Einbezug eines Leitmediums der populären Presse ist notwendig, weil Öffentlichkeit mit Hilfe von Massenmedien hergestellt wird und öffentliche Diskurse ohne Massenmedien undenkbar sind. Für eine Vertikalitätsuntersuchung öffentlicher Diskurse stellen die Printmedien mit Laienausrichtung, die Vertreter der Populärpresse, eine besonders wichtige Quelle dar. 49 Deshalb ist das Pressekorpus aus relevanten Texten des Magazins STERN, dem Reichweitenfiihrer im Feld der politischen und Illustriertenpresse, zusammengestellt. Das Öffentlichkeitsprofil der Textsorten im Pressekorpus wird deutlich, wenn die charakteristische öffentlichkeitswirksame Dimension des STERN betrachtet wird, insbesondere im Hinblick auf: • den Charakter des STERN als Organ der Populärpresse, • seine Reichweite, • die Struktur seiner Leserschaft (incl. der Nähe zu Multiplikatoren), • seine redaktionelle Linie im politischen Rechts-Links-Spektrum. Der STERN ist ein Organ der Populärpresse. Der Wert von Textsorten der Populärpresse für eine Wortschatzuntersuchung, die auch die Laienniveaus einbezieht, liegt besonders in der Notwendigkeit, fachliche Inhalte gemeinsprachlich und laiengerecht aufzubereiten. Das wird auch in der publizistischen Beschreibung dieser Pressegattung deutlich. Der Terminus der Populärpresse, in der Form, wie er bei Vogel (1998) verwendet wird, löst die älte49

Zur Definition der Gattung Populärpresse und zur Abgrenzung gegen andere Pressegattungen (wie Tagespresse, Fachpresse, Mitgliedschaftspresse, Kontaktpresse, politisch literarische Presse und Bekenntnispresse) vgl. Vogel (1998: 13-67).

203 ren Begriffe der Publikumszeitschriften und den Gattungsbegriff der Unterhaltungs- und Freizeitzeitschriften ab und präzisiert ihn: Es scheint dem Autor daher erforderlich, den Terminus der Publikumspresse nun eindeutiger und aussagekräftiger durch den Begriff der Populärpresse abzulösen. Der Vorteil dieser Bezeichnung besteht in der Konnotation des Populären als Bekanntem, Beliebtem, Allgemeinverständlichem - Merkmale, die ganz besonders auf den hier zu bezeichnenden Pressetypus zutreffen. Wenngleich die Titel der Populärpresse aus Lesersicht vielfältige Funktionen erfüllen können, so sind die Hauptfunktionen der Populärpresse, dem Leser über die tagesaktuelle Reaktion hinaus Orientierung zu ermöglichen und ihm Erlebnisse zu verschaffen. Ihre Titel sind somit Kaleidoskope der Umweltwahrnehmung [...]. (Vogel 1998: 36, Unterstreichungen im Original)

Vogel beschreibt hier einen Pressetypus, der sich für die Analyse von Laienwissen besonders anbietet, denn die genannten Merkmale und Funktionen beziehen sich unmittelbar auf ein disperses Laienpublikum ohne fachliche Bindung. In einer solchen Printmediengattung lässt sich ausgezeichnet nachvollziehen, wie die Computertechnologie auf ihrem Weg zu etwas „Bekanntem, Beliebtem, Allgemeinverständlichem" versprachlicht worden ist und welche Technologieorientierung das Medium seiner Leserschaft anbietet. Der STERN, in den ersten Jahren seines Erscheinens eine Illustrierte, nimmt heute im Segment der populären Presse eine Position zwischen Illustrierten und Nachrichtenmagazinen ein, eine Position, die in der Eigencharakterisierung des Verlages geradezu zum Markenzeichen stilisiert wird: Mit Spiegel und Focus verbinden ihn Aktualität und Thematik, mit der Bunten hat er deren Unterhaltungs-Charakter und mit GEO eine starke Bildorientierung gemeinsam. (G+J 2000)

Auch die publizistische Klassifizierung hat die Zwischenstellung des STERN

mehrfach bestätigt; er weist sowohl Merkmale der Politischen Presse als auch von Illustrierten auf. 50 Zwar legt der STERN wie klassische Illustrierte großen Wert auf Unterhaltung und umfangreiche Bildberichterstattung, im Verlaufe seines Erscheinens hat er sich aber vom typischen Illustriertencharakter gelöst. Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich bei prototypischen Illustrierten um Titel handelt, die prinzipiell jedes Themenspektrum aufgreifen können, einen nur latenten gesellschaftspolitischen Anspruch im Heft ausweisen und auf diese Weise die generelle Zielrichtung der Populärpresse, kaleidoskopische Umweltwahrnehmungen wiederzugeben, besonders ausgeprägt umsetzen. (Vogel 1998: 117)

50

Vogel (1998: 123) weist eine Reihe inhaltsanalytischer Studien aus, die zu diesem Ergebnis gekommen sind.

204 Der STERN, der am 1. August 1948 in einer Auflage von 130.735 erstmals erschienen ist, schaffte sich in den ersten zwei Dekaden seines Erscheinens mit zahlreichen Tatsachenberichten ein Profil, das die kaleidoskopischen Umweltwahrnehmungen der Nachkriegszeit in den Mittelpunkt stellte, und zur Mitte der sechziger Jahre „behandelte der STERN in leicht verständlichen Beiträgen und mit einem großen Identifikationspotenzial beispielsweise in nahezu jedem vierten Beitrag individuelle Lebensprobleme". 51 Parallel dazu fanden immer stärker politische Themen Eingang in den STERN und zur Mitte der sechziger Jahre waren bereits über 20 Prozent der STERN-Berichterstattung auf politische Themen bezogen. 52 Seit dieser Zeit hat der STERN seinen Charakter durch weitergehende Konzentration auf politische Themen sukzessive verändert und schließlich das Segment der reinen Illustrierten verlassen. Deshalb ist er „seit dem Ende der sechziger Jahre zur Politischen Presse und nicht mehr zur Gruppe der Illustrierten zu zählen.". 53 Das wird auch im Selbstbild vieler STERN-Mitarbeiter deutlich, die sich unabhängig vom Ressort als politische Mitarbeiter sehen 54 . Allerdings ist auch in den Selbsteinschätzungen von Verlagsmitarbeitern das Spannungsfeld zwischen politischem Magazin und Unterhaltungsmedium offenbar in voller Breite angelegt. So wurde in einem meiner Gespräche mit Verlagsmitarbeitern der STERN auch als „Unterhaltungsdampfer für Lieschen Müller" charakterisiert. Das könnte auch darauf deuten, dass sich der Charakter des STERN wiederum gewandelt hat. Aus der Tradition, in der aus einer Illustrierten allmählich ein eher politisch orientiertes Magazin geworden ist, resultiert das heutige Profil des STERN, der mit seinem Informations-, Aufklärungs- und gesellschaftspolitischem Anspruch weiterhin auch Illustriertenmerkmale verbindet, ganz besonders die starke Unterhaltungsorientierung und die illustriertentypische Gestaltung durch qualitativ hochwertige Bildberichterstattung. 55 Gerade weil er sich bei breiter thematischer und expliziter Ausrichtung auf ein Laienpublikum nicht ausschließlich dem Unterhaltungssegment oder der politischen Berichterstattung zuordnen lässt, sondern beides verbindet und sich selbst das Image eine „Wundertüte" zu geben versucht, „die Woche für

51 52

53 54 55

Boes(1997: 64). Zur weiteren Geschichte des STERN und zur Glaubwürdigkeitskrise nach der Veröffentlichung der als Fälschung entlarvten 'Hitler-Tagebücher' vgl. Boes (1997: 68). Vogel (1998: 123). Vgl. Boes (1997: 66). Zur Frage der illustriertentypischen Bildberichterstattung im STERN vgl. Boes (1997: 67-68).

205 Woche von Millionen Menschen neugierig geöffnet wird",56 ist der STERN als Grundlage für eine vertikale Untersuchung sehr gut geeignet. Neben dieser Charakteristik erweist er sich auch durch seine große Reichweite als besonders geeignet für eine vertikale Analyse. Er erreicht im 3. Quartal 2000 mit einer verbreiteten Auflage von rund 1,2 Millionen Exemplaren 10,6% der Gesamtbevölkerung, die Einzelhefte werden dabei jeweils von mehreren Personen gelesen.57 Damit weist er die höchste Reichweite verglichen mit Wochenmagazinen der populären Politischen Presse (SPIEGEL, ZEIT, FOCUS) auf und verfügt über eine deutlich höhere Reichweite als typische Illustrierte aus den Segmenten klassisch (Bunte, Super-Illu, Weltbild), jung (Fit for fiin, Max) oder sexorientiert (Neue Revue, Coupe, Blitz Illu, Praline, Wochenend).58 Die folgende Übersicht zeigt die Reichweitenunterschiede zwischen den verschiedenen Printmedien und dokumentiert, dass der STERN mit der größten Reichweite in den Segmenten Politische Presse und Illustriertenpresse auch die größte Öffentlichkeit erreicht.

56

57

58

Eigenwerbung auf der Gruner und Jahr-Homepage: http://www.guj.de/produkte/zeitschriften/3stern.html (Version vom 02.09.2000). Die IVW (=Informationsgemeinschafil zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern), an die quartalsmäßig die Auflagenzahlen gemeldet werden, weist für den Stern für das 3. Quartal 2000 die folgenden Auflagenzahlen aus: Druck: 1.438.346/ Abo: 289.067/ Verkauft: 1.141.133/ Verbreitet: 1.158.680. Werte nach: www.media-daten.de (Version vom 3.1.2001). Die Reichweitenangaben stammen aus der MA 2000 (=Allensbacher Werbeträgeranalyse) II. (Stand August 2000). Quelle: www.media-daten.de (Version vom 3.1.2001). Klassifizierung nach Vogel (1998: 117-122) und Bohrmann (1999).

206 Pressemedien

Gesamt

Gesamtbevölkerung ab 14 Jahre Reichweite in %

Reichweite in Mio.

100,0

63,83

politische Presse STERN

10,6

6,74

Focus

9,2

5,88

Der Spiegel

9,0

5,76

DIE ZEIT

1,8

1,17

Die Woche

0,4

0,28

Illustrierte klassisch Bunte

5,5

3,52

Super Illu

3,9

2,51

Weltbild

1,2

0,78

Illustrierte jung, lifestyle fit for fun

2,4

1,54

MAX

0,7

0,44

Illustrierte sexorientiert Neue Revue 3,3 2,13 Coupe 0,75 1,2 0,92 Praline 1,4 0,62 Blitz-Illu 1,0 Wochenend 0,8 0,49 Zusammenstellung nach MA 2000 II. (Stand August 2000). Quelle: www.media-daten.de (Version vom 3.1.2001). Die Leserschaft des STERN ist überwiegend männlich und nicht auf spezifische soziodemografische Gruppen eingeschränkt. Sie weist hinsichtlich Alter und Bildungsniveaus eine vergleichsweise breite Streuung auf, wie die Analyse der Leserschaftsstruktur in der MA 2000/11 für das zweite Quartal 2000 belegt: 59 59

Die MA ist neben der Allensbacher Werbeträgeranalyse eine der beiden wichtigsten periodisch durchgeführten Erhebungen, die seit den fünfziger Jahren regelmäßig durchgeführt wird. Vogel (1998: 80) hebt hervor: „Für die wissenschaftliche Untersuchung der Populärpresse ist die MA ergiebig, sofern hochauflagige Zeit-

207 Für die vertikalen Transfeiprozesse ist bedeutsam, dass ein Teil der Leserschaft des STERN auch als Multiplikator wirkt. Als Indikator fur diese Multiplikatorenfunktion können die Ergebnisse von Untersuchungen dienen, die zeigen, in welchem Maße ein Medium seinerseits von Journalisten anderer Medien als Informationsquelle benutzt wird. Für den STERN belegen Wieschenberg/Löffelholz/Scholl (1994), dass er im Jahr 1993 als dritthäufigstes Medium von Journalisten zur Information herangezogen worden ist: /

\

Von Journalisten genutzte Printmedien (Quelle:. Weischenberg/Löffelholz/ Scholl 1994:163) Spiegel I

166.70%

Süddeutsche I

146.60%

Stern I

I

FAZ I

136.20%

Zeit I

134.40%

Focus I

129.30%

taz I FR I

L

124,50% —123.20%

Welt I

122,20%

Bild I

121.80%

Handelsblatt I

37,10%

110.60%

Die potenzielle Multiplikatorenfunktion ist für die popularisierenden Wirkungen beim Wissenstransfer besonders wichtig, denn, auch ohne hier den empirischen Nachweis führen zu können, liegt es nahe, dass es bei Medien, die regelmäßig von Journalisten genutzt werden, zu Wissens-, Themen- und Darstellungsübernahmen kommt. Das fuhrt dann dazu, „dass sich die Berichterstattung von Presse, Hörfunk und Fernsehen in Parallel-Schwüngen entwickelt".60 Darüber hinaus ist für die Bewertung der Rolle, die der STERN in öffentlichen Diskursen spielt, auch die Frage wichtig, wie seine redaktionelle Linie im politischen Rechts-Links-Spektrum eingeordnet wird. Die redaktionelle Li-

60

schriften untersucht werden sollen; diese sind nahezu vollständig MA-gemeldet, soweit sie Anzeigen aufnehmen." Zu weiteren pressestatistischen Quellen vgl. Vogel (1998: 69-88). Kepplinger (1998: 44).

208 nie des STERN wird im Mitte-Links-Segment verortet, wie die Untersuchung von Peter (1998) zeigt, in der 421 Pressesprecher und Bundestagsabgeordnete befragt worden sind. Der Vergleich mit den Werten aus der Untersuchung von Stolz (1987, zit. in Peter 1998) ergibt, dass sich dabei in den elf Jahren zwischen beiden Befragungen eine leichte Verschiebung des STERN zur politisch publizistischen Mitte vollzogen hat. Die Befunde zeigen, dass der STERN hinsichtlich seines Charakters als Organ der Populärpresse, seiner charakteristischen Themenauswahl, seiner Reichweite, der Struktur seiner Leserschaft, seiner Multiplikatorennähe und der Einschätzung seiner redaktionellen Linie im politischen Rechts-Links-Spektrum breite Kreise von Laienadressaten anspricht. So erhält er den Status eines Leitmediums, d. h., eines Mediums, „dem gesellschaftlich eine Art Leitfunktion zukommt, dem Einfluss auf die Gesellschaft und auf andere Medien beigemessen wird".61 Solch ein Leitmedium ist für öffentliche Diskurse und die zugehörigen Diskurswortschätze von großer Bedeutung, weil einem großen Publikum Themen und populäre Nominationen vorgegeben werden.

9.2.2

Die Diskurszugehörigkeit Computerbezug

von STERN-Artikeln mit

Die Zugehörigkeit von STERN-Artikeln zum Computerdiskurs ergibt sich durch ihre thematische Ausrichtung auf die Computertechnologie und ihre gesellschaftlichen Folgen bzw. die Fokussierung auf spezifische Aspekte oder Anwendungen der Computertechnologie. Die Verankerung der Artikel im Diskurs lässt sich ebenso wie die der parlamentarischen Textsorten durch eine vierstufige Markierung des Thematisierungsgrades indizieren: • Die Computertechnologie ist Hauptthema eines STERN-Artikels. • Die Computertechnologie ist Nebenthema eines STERN-Artikels. • Ein einzelner Aspekt aus der Computertechnologie ist Hauptthema eines STERN-Artikels. • Ein einzelner Aspekt aus der Computertechnologie ist Nebenthema eines STERN-Artikels. Der STERN hat den öffentlichen Computerdiskurs seit 1968 durch regelmäßige und zunehmende Berichterstattung über die Computertechnologie deutlich mitgeprägt und ist mit seinen Bewertungen ein Gradmesser für die soziale Akzeptanz der Technologie. Auch für die Akzeptanz des Blattes selbst ist es ausgesprochen wichtig gewesen, die neue Technologie früh zu erkennen und publizistisch zu begleiten, denn es gilt der Leitsatz, dass populäre Printmedien immer dann über beson61

W i l k e ( 1 9 9 9 / b : 302).

209 ders hohes Marktpotential verfugen, wenn sie „eine neue technische Entwicklung (z. B. Hifi-Geräte, Computer) begleiten und mit ihrer Ausbreitung in die Gesellschaft wachsen". 62 Das Medium, die Technologie und die sprachliche Einkleidung im Rahmen der Berichterstattung über die Computertechnologie sind eng miteinander verwoben. So ist es das Medium selbst, das einen Teil des Diskurses vorantreibt und die sprachlichen und lexikalischen Standards bei der Bezeichnung der Technologie und ihrer Übersetzung in die Gemeinsprache setzt oder verstärkt. Diese Interdependenz von Computerdiskurs und Massenmedium zeigt sich auch auf einer für die Diskurszugehörigkeit zentralen Ebene, der Themenauswahl und -frequenz, sehr deutlich. Während zu Beginn der Ausbreitung der Computertechnologie in das öffentliche und gemeinsprachliche Bewusstsein nur vereinzelt Artikel zu spezifischen Aspekten der Technologie erschienen sind, wuchs die Zahl der Artikel bis in die achtziger Jahre so stark an, dass der Diskurs im Heft gebündelt präsentiert und damit zusätzlich als besonders interessierendes Sonderthema hervorgehoben wurde. Während Computerthemen bis dahin jeweils anderen Rubriken zugeordnet worden waren (z. B. STERN-Wissen, STERN-Wohnen, Markt oder Diese Woche), wurde später ein großer Teil der Berichterstattung zur Computertechnologie im ComputerJournal als neuer Schwerpunkt präsentiert. Diese Rubrikbildung im STERN signalisiert, dass die thematische Progression des Computerdiskurses inzwischen so stark fortgeschritten war, dass eine noch stärkere unspezifische Ausdehnung ohne Rubrik im fachlich nicht festgelegten STERN zulasten anderer Themen gehen und die Themenbalance des Heftes stören würde. Dies zeigt auch, wie sehr das gesellschaftliche Interesse an der Computertechnologie inzwischen gewachsen war, sicherlich auch gestützt durch den Umstand, dass die Verbreitung der Technologie seit dem Ende der siebziger Jahre in eine „Publikumsphase" 63 eingetreten ist, deren Kennzeichen war, dass „das allgemeine Publikum die Möglichkeit des unmittelbaren Zugangs zur Anwendung der Computertechnologie erhält". 64 Der publizistische Reflex auf diese Expansion der Computerthematik war das Entstehen einer Computer-Fachpresse für ein fachnahes Laienpublikum. Der Diskurs ging, soweit er in Printmedien geführt wurde, nun aus dem breiten, unspezifischen Feld des general-interest auch in die Fokussierung eines special-interest über. Da dieser Markt der Computerpresse das diskursive Umfeld der STERN-Berichterstattung bildet, sei ein kurzes Schlaglicht auf diesen stark expandierenden special-interest-Bereich geworfen. Weil der Markt der Computerzeitschriften „zu den wachstumsstärksten der Branche" 65 gehört, lässt sich seine Entwick62 63 64 65

Vogel (1998: 237) Wichter (1991: 42). Wichter (1991: 42). Koschnick (1995: 325).

210 lung auch als Indikator für die Zunahme eines gemeinsprachlichen Computerdiskurses auffassen. Während die IVW (Informationsgesellschafit der Verbreitung von Werbeträgern) für das Jahr 1975 ein Potenzial an Computerzeitschriften von insgesamt nur 24.000 Exemplaren feststellte, waren es zehn Jahre später (1985) bereits 750.000, und im Jahre 1993 erzielten Computerzeitschriften eine Gesamtauflage von rund 2,5 Millionen Exemplaren.66 Im Jahre 1990 ließ sich der Markt der Computerzeitschriften in sechs Segmente aufteilen, die zum Teil unterschiedliche Wissens- und Wortschatzniveaus repräsentierten: • Homecomputertitel und Zeitschriften für den privaten Computer-Anwender (z. B. 64'er, PC Praxis), • allgemeine Mikrocomputertitel (z. B. CHIP), • Magazine für den professionellen Anwender (z. B. c't, PC Welt), • Zeitschriften für Datenverarbeitungsprofis (z. B. Computer Woche), • Hefte für spezielle EDV-Anwendungsgebiete (z. B. CAD-CAM), • Titel für Lehre und Forschung (z. B. INFORMATIK SPEKTRUM, LOG IN):67

Bis zum Jahr 1994, in dem die seit 1986 geplante erste Leseranalyse der Computerpresse, die LAC '94, erschien, waren auf dem Markt der reinen Computerzeitschriften insgesamt die folgenden 48 Titel erschienen.68 D I E C O M P U T E R P R E S S E I M J A H R 1994

19 zentrale Titel (in LAC '94 einzeln ausgewertet)

UNIXOPEN,

LANLINE,

COMPUTERWOCHE,

PC-

PRAXIS, D O S INTERNATIONAL, HIGHSCREEN HIGHLIGHTS, WINDOWS

KONKRET, P C

WELT,

MAC

WELT, COMPUTER ZEITUNG, P C MAGAZIN, INSIDE MULTIMEDIA, C'T, IX, CHIP, BUSINESS COMPUTING, W I N , P C PROFESSIONELL, P C DIREKT

29 weitere Titel (in L A C ' 9 4 zusätzlich erhoben, aber nicht einzeln ausgewertet)

AMIGA MAGAZIN, CAD USER, DATACOM, INSIDE O S / 2 , MIDRANGE MAGAZIN, ONLINE, PCGO!, PC REVIEW,

WINDOWS

MAGAZIN,

PC-SHOPPING,

A S M , CLIPBOARD, DECKBLATT, MAC EASY,

NT

MAGAZIN, PABLO, P C NETZE, P C WINDOWS, 6 4 'ER, SCREEN MULTIMEDIA, C A D - C A M

REPORT,

COMPUTER PERSÖNLICH, D S W R , M A C U P , N & C , PAGE, P C PLAYER, POWER PLAY, PASSWORD

66 67

68

Vgl. Koschnick (1995: 324-326). Vgl. W&V (1990: 45). Weitere Übersichten zur Entwicklung des Marktes der Computerpresse bieten Meier (1997), Martini (1995), W &V (1991: 5 2 - 6 4 ) und Schulte (1987). Herrmann (1995: 60).

211 Die Vielfalt des teilweise ebenfalls fachextern ausgerichteten special-interestMarktes der Computerzeitschriften im Jahr 1994 zeigt, wie sehr der gemeinsprachliche Diskurs bis dahin expandiert ist, dessen laiennahe Wissens- und Wortschatzniveaus durch die STERN-Artikel mit Computerbezug im generalinterest-Bereich repräsentiert werden.69 Die Zugehörigkeit der Korpustexte aus dem STERN zum Computerdiskurs ist über die thematische Bindung der Berichterstattung an die Technologie gewährleistet, und der Diskursausschnitt, der durch die Texte repräsentiert wird, findet sein Profil, aber auch seine Grenzen in der redaktionellen Auswahl und der Frequenz von Computerthemen. Die Texte spiegeln die Entwicklung des Diskurses, soweit er im STERN, also einem weit verbreiteten Medium der Populärpresse, geführt worden ist. Der öffentliche Spezialdiskurs, der in der Computer-Fachpresse stattgefunden hat, ist hier nicht einbezogen, da er andere, ggf. nicht so stark laienorientierte Wissens- und Sprachniveaus repräsentiert, deren Spektrum in einer eigenen diachronen Analyse untersucht werden muss.

9.2.3

Die Vertikalitätsadäquatheit: spezifische Zielgruppen

Wissensaufbereitung für

Die besondere Eignung des STERN für eine vertikale Untersuchung von Wortschätzen ergibt sich in erster Linie aus seiner spezifischen Orientierung an bestimmten vertikalen Niveaus. In der Eigendarstellung des Verlages wird diese Ausrichtung betont: Der STERN ist ein politisches Magazin, aber mit unterhaltendem Anspruch. Er ist kritisch und offen nach allen Richtungen, politisch-ideologisch ungebunden und stets engagiert. [...] Der STERN bezieht Position und gibt dem Leser Orientierung. Darüber hinaus bietet er unmittelbar nutzbare und umsetzbare Empfehlungen. [...] Hinzu tritt die optische Faszination des STERN. Woche für Woche zeigt er Bilder, die - im Gegensatz zu manch schnellaufendem Fernsehbild - beim Betrachter haften bleiben. (GuJ 2000)

Hier werden klassische Merkmale populärer Presse zu Qualitätsmerkmalen stilisiert: Allgemeinverständlichkeit und Unterhaltungsanspruch sind verbunden mit der Zusage, Orientierung zu geben und in der Medienkonkurrenz die Eindrücklichkeit der Information zu garantieren. 69

Vgl. dazu auch Vogel, der das aktuelle publizistische Segment „Computer und Technik" im Jahre 1997/98 beleuchtet und für die computerbezogenen special-interest-Titel die Gruppen Computer allgemein, Computerspiele-Titel und Elektronik-Titel ansetzt. Aktuell müssen sicher noch die Internet-Titel als weitere Gruppe mit reicher Subdifferenzierang hinzugenommen werden.

212 Diese Ausrichtung auf ein breites Laienpublikum bedeutet für den Computerdiskurs im STERN, dass die informatischen Sachverhalte für die Leserschaft aufbereitet werden müssen. Damit stellen sich die grundlegenden Fragen der sprachlichen und wissensmäßigen Arbeitsteilung und der Experten-LaienKommunikation hier in besonderer Weise. Wenn technologische Inhalte wie die Computertechnologie oder einzelne ihrer Aspekte für eine breite Leserschaft eines Populärmediums aufbereitet werden, wird das Massenmedium zum Vermittler zwischen den fachlichen und den außerfachlichen Wissensund Sprachniveaus. Dabei treten neben die ohnehin vorhandenen wissensmäßigen Dissonanzen in der Experten-Laien-Kommunikation spezifisch massenmediale Inkompatibilitäten, die den Transfervorgang behindern können, so die Dissonanz: • zwischen technologischen Ereignissen und dem Berichterstattungszeitpunkt • zwischen den Erwartungen von Journalisten und Wissenschaftlern • zwischen wissenschaftlichem Wissen und alltagsnahem Laienwissen. Die Dissonanz zwischen technologischen Ereignissen und dem Zeitpunkt der Berichterstattung ergibt sich aus dem Interessenfokus der Leserschaft. Ein Medium, das das generelle Ziel verfolgt, „kaleidoskopische Umweltwahrnehmungen wiederzugeben",70 diese kritisch zu begleiten und politisch zu bewerten, ist nicht frei in der Wahl des Thematisierungszeitpunktes. Es kann die technologischen Sachverhalte meist nur zu einem Zeitpunkt breiter thematisieren, zu dem eine Technologie im Alltag der Leserschaft in ausreichendem Maße sichtbar wird. Folglich wird die Computertechnologie in Populärmedien erst dann breiter dargestellt, wenn das soziale und politische Interesse weiter ausgeprägt ist, also der gesellschaftliche Informationsbedarf spürbar wird. Nicht die fachliche Entwicklung also, sondern Phasen der Vermarktung und die Verbreitung von technologischen Produkten diktieren den massenmedialen Diskurs, sieht man einmal von der Berichterstattung über informatische Grundlagenentwicklungen ab. Das führt dazu, dass die technologisch-fachliche Wirklichkeit und die massenmediale Wirklichkeit auseinander fallen.71 Die Lesererwartung als diskurssteuernder Faktor zeigt, dass der massenmediale Computerdiskurs anderen Gesetzen gehorcht als die fachinterne Informatikkommunikation. Überdies ist der massenmediale Computerdiskurs für die meisten Laien von größerer Bedeutung als die engere Fachdiskussion, weil sie das Technologiewissen, das ihnen auf diesem Wege zugänglich wird, zur Bewertung des gesellschaftlichen und individuellen Nutzens und des Risikopotenzials der Computertechnologie heranziehen. Dabei ist aber Skepsis geboten, wie Kepplinger betont: 70 71

Vogel (1998: 117). Vgl. dazu Peters (1996).

213 Die Orientierung über Technikfolgen anhand der Presseberichterstattung gleicht [...] einem Blindflug anhand eines künstlichen und völlig willkürlichen Horizonts. (Kepplinger 1989: 138)

Auch die Bewertung einer Technologie durch Laien folgt anderen Maßstäben als die von Experten. So steht z. B. der technologische Informationsbedarf von Laien nicht in einem proportionalen Verhältnis zur Risikohöhe. Laienrezipienten von Populärmedien setzen auch hier andere Schwerpunkte als Fachexperten. So ist für Laien etwa der Grad der Besorgtheit gegenüber technologischen Risikoquellen eher geprägt durch die Einschätzung der persönlichen Kontrollierbarkeit einer Technologie oder den persönlichen Nutzen einer Technologie, und außerdem gewichten Laien bei der Bewertung einer Technologie negative Informationen häufig stärker als positive72. Die Dissonanzen zwischen unterschiedlichen Erwartungen von Journalisten und Wissenschaftlern wiederum haben ihre Gründe nicht nur in der Ausbildung von Journalisten, dem Fehlen von Wissenschaftsjournalisten und der mangelnden Ausstattung vieler Redaktionen, sondern auch in elementaren Unterschieden beim Zugang zu technologischen Sachverhalten.73 Die folgende Zusammenstellung gibt einen idealtypischen Eindruck von der Unterschiedlichkeit der Kommunikationskulturen von Wissenschaftlern und Journalisten als Mittlern technologischer Bildung.

72 73

Vgl. Peters (1996: 64). Zur Rolle des Wissenschaftsjournalismus beim Wissenstransfer vgl. Göpfert/RussMohl (1996), Göpfert (1997) und Liebert (1999).

214 Orientierungsrahmen und Kommunikationskulturen von Wissenschaftlern und Journalisten Wissenschaftler Journalisten Ziele Information und Information und Orientierungshilfe Orientierungshilfe Kritik und Kontrolle Positives Image von Wissenschaft und Technik Aufklärung, Erziehung Unterhaltung, Auflage Inhalte Wissenschaftliches Wissen Wissenschaftliches Wissen, Anwendungs- und Alltagsbezug, Risiken von Wissenschaft und Technik Nutzen der Forschung soziale, persönliche und politische Kontexte der Forschung Fokus auf Genauigkeit Fokus auf Nachrichtenwert Form sachliche Darstellung, ggf. Sensationalisierung abstrakte Formulierung bildhafte Sprache, Anschaulichkeit Beispiele, Emotionalisierung Interaktions- Wissenschaftliche Journalistische Rollendefinition Rollendefinition muster Wissenschaftler als verant- Wissenschaftler als Quelle und Objekt der wortlicher Autor Berichterstattung Beziehung Dozent-Student-Beziehung unabhängige Rezipienten zum Publikum Eckpunkte Regularität Abnormität, Neuigkeit der Objektivität Einzelfall, Sensation Kommunika- Distanz Nähe, Betroffenheit tionskultur Prinzipien Personifizierung Langfristigkeit Kurzfristigkeit Erkenntniswert Nutzwert Suche nach Wahrheit Alltagsbezug Vorläufigkeit Eindeutigkeit Wahrscheinlichkeit Sicherheit Methodik Kritisches Hinterfragen Zusammenstellung nach Peters (1996: 72) und Göpfert (1997)

215 Dissonanzen zwischen wissenschaftlichem Wissen und alltagsnahem Laienwissen, auf das eine populär mediale Wissenschafts- und Technologieberichterstattung ausgerichtet sein muss, sind die Folge sprachlicher und kognitiver Unterschiede. Die technologische Wirklichkeit von Laien gründet nicht in Fachwissen, sondern ist häufig Ergebnis einer Mischung eigener Anschauung und Erfahrung im Produktbereich, etwa des eigenen oder beruflich genutzten PCs, und massenmedialer Information. Letztere geht zurück auf einen journalistischen Filterprozess, für den gilt: „Expertenwissen wird hoch verdünnt".74 Auf den Laienniveaus ist das Korrelat des Technologiewissens häufig eben nicht die fachliche Wirklichkeit, sondern die massenmedial konstruierte Wirklichkeit, die keineswegs der fachlichen Wirklichkeit entsprechen muss, wie Liebert (2002) detailliert aufgezeigt hat. Die Wissenskluft zwischen Fachexperten und den Adressaten eines Populärmediums wird von Journalisten häufig mit Hilfe von Metaphern zu überbrücken versucht.75 Dieses Anbinden der technologischen Sachverhalte an die nichtfachliche Alltagswelt ist die wichtigste sprachliche Veranschaulichungsstrategie. Die Funktionsweise von Metaphern wird von der kognitiven Metapherntheorie nach Lakoff/Johnson folgendermaßen definiert: Das Wesen der Metapher besteht darin, daß wir durch sie eine Sache oder einen Vorgang in Begriffen einer anderen Sache bzw. eines anderen Vorganges verstehen und erfahren. (Lakoff/Johnson 1998: 13, im Original kursiv)

Solche metaphorischen Sprachzeichen in der Gemeinsprache addieren sich, wenn sie häufig verwendet werden, zu komplexeren Einheiten, so genannten tropischen Modellen. Eine Überprüfung dieser kommunikativen Praxis in FAZ und SPIEGEL hat ergeben, dass besonders die folgenden metaphorischen Modelle in diesen populären Printmedien verwendet werden: • Die Computertechnologie ist ein paralleles Universum. • Ein Computer ist ein Mensch. • Das Internet ist ein belebter Raum. • Das Internet ist etwas Geknüpftes. • Das Internet ist eine Autobahn. • Das Internet ist ein Druckerzeugnis. • Ein elektronischer Speicher ist ein Aufbewahrungsort. • Ein Computervirus ist ein Krankheitserreger. (Vgl. Busch 2000 a) Mit der Etablierung dieser tropischen Modelle erweisen sich Tropen im Computerdiskurs einmal mehr als eine der wichtigsten kognitiven und kommunikativen Voraussetzungen für die Kommunikation über technische Innovation und die elektronischen Medien. Aber auch der bewusste Einsatz von Meta74 75

Peters (1996: 64). Vgl. Busch (2000/a, b, c) und Biere/Liebert (1997). Zur Wissenskluft-Forschung vgl. Bonfadelli (1994).

216 phern ist kein Königsweg. Dies zeigen z. B. Versuche, ihren Einsatz im Softwaredesign zu reglementieren. Dort werden Sprach- und Bildschirmmetaphern gezielt als Benutzermetaphern eingesetzt. Damit dabei keine unerwünschten Effekte erzielt werden, stellen Maaß/Oberquelle (1992) strenge Regeln für den Metapherngebrauch auf. Sie fordern: •





Metaphern dürfen keine Systemtransparenz vortäuschen - stattdessen sollten sie den Benutzern helfen, ihr Verständnis und ihre Beherrschung des Systems zu verbessern, Metaphern sollten nicht die Unterschiede zwischen Menschen und Computern verschleiern, indem sie zu viele menschliche Fähigkeiten auf den Computer projizieren [...], Metaphern sollten keine unzulässig beschränkten Modelle vom Menschen befördern, indem sie Menschen mit Maschinen vergleichen. (Maaß/Oberquelle 1992: 250)

Dagegen sieht der Informatiker Carsten Busch den Metapherneinsatz nicht grundsätzlich kritisch und empfiehlt, nicht zwischen guten und bösen Metaphern zu unterscheiden, sondern alle Metaphern bewusst zu verwenden.76 Die geforderte Sensibilität ist nun, egal ob mit oder ohne explizites Regelwerk, im massenmedialen Transfer unentbehrlich, weil Tropik im Wissenstransfer nicht nur veranschaulichen, sondern auch verhüllende und mystifizierende Wirkung haben kann, wie Liebert verdeutlicht: Metaphern sind nicht per se gut für die Verständlichkeit eines Vermittlungstextes. Es gibt verständliche, erhellende und unverständliche, mystifizierende Metaphern. (Liebert 1999: 189)

Mit der beschriebenen Spezifik bietet der STERN ein Textsortengefuge, das die nichtfachlichen Niveaus des öffentlichen Computerdiskurses ausgezeichnet repräsentiert und die Möglichkeit bietet, die Transfermechanismen, einschließlich der tropischen Veranschaulichungsstrategien, zu untersuchen. Die Analyse der Rolle der Visualisierungen und der Bildberichterstattung muss allerdings einer weiteren Detailuntersuchung vorbehalten bleiben und kann im Zusammenhang dieser Wortschatzuntersuchung nicht geleistet werden.

9.2.4

Die Diachronieadäquatheit: Populärmedium

der STERN als langlebiges

Die Diachronieadäquatheit der inkorporierten STERN-Texte ergibt sich aus der Langlebigkeit der Textsorte. Der STERN erscheint seit 1948 mit vergleichsweise hoher Reichweite, das zeigt die Langfristanalyse der Reichwie76

Busch, C. ( 1 9 9 8 : 2 0 2 - 2 0 3 ) .

217 tenentwicklung für den Zeitraum von 1954 bis 1998.77 In der ersten Leseranalyse, der LA'54 der Arbeitsgemeinschaft Leseranalyse, wurde für den STERN im Jahre 1954 incl. Lesemappen-Leser eine Reichweite pro Heft von 22% der damaligen Bevölkerung ermittelt, das entsprach 8,45 Millionen Lesern pro Nummer (ohne Lesemappen-Leser 9 %).78 Im Jahre 1971 wurde noch jede STERN-Ausgabe von 7 Lesern gelesen, im Jahr 1982 dagegen nur noch von 5 Lesern. Die Zahl der Leser pro Heft hat also kontinuierlich abgenommen, und in den siebziger Jahren musste auch der STERN, wie alle populären Printmedien, langfristige Auflagenverluste hinnehmen, die durch die zunehmende Verbreitung und Bedeutung des Mediums Fernsehen verursacht wurden.79 Solche diachronen Veränderungen im medialen Spektrum durch das Aufkommen jeweils neuer Medien beeinflussen zwar den Quellenwert von Text- und Mediensorten, die in ein diachrones Diskurskorpus integriert werden. Aber aufgrund der heutigen Situation des Medienmarktes lässt sich rückblickend feststellen, dass die Einschränkungen des Quellenwertes durch Veränderungen im medialen Spektrum sich in Grenzen halten. Besonders die Prognose, die audiovisuellen und multimedialen Medien würden die Printmedien vollends verdrängen, hat sich nicht bewahrheitet.80 Dennoch ist der Medienmarkt heute durch einen überaus scharfen intermediären Wettbewerb zwischen Printmedien, Radio und Fernsehen und einen nicht weniger scharfen intramediären Wettbewerb zwischen verschiedenen Printmedien gekennzeichnet, allerdings ohne dass es zur vollständigen Verdrängung einzelner Mediengattungen gekommen wäre.81 Der STERN ist in dieser Konkurrenz vergleichsweise günstig positioniert und hat seinen Quellenwert für Diskursuntersuchungen auch in der veränderten Mediensituation behalten, das zeigt der Blick auf die Langfristentwicklung seiner Reichweite. Medium

STERN SPIEGEL

77 78 79 80

81

1954 1998 LA'54 A WA '98, (Ost & West) Reichweite Reichweite Reichweite Reichweite in % absolut in % absolut 22% 8.450.000 11,4% 7.290.000 10% 3.820.000 9,1 % 5.780.000 Quelle: Schulz (1999: 419)

Vgl. Schulz (1999: 419) und Galanis (1989: 93-96). Vgl. Schulz (1999: 419). Vgl. Boes(1997: 64). Derartige Befürchtungen haben indes die meisten medialen Veränderungen begleitet: „Solche Prognosen wurden schon im Vorfeld der Einführung des Radios geäußert, später dann des Fernsehens und erneut vor dem Start des Privatfernsehens" (Schulz 1999: 423). Vgl. Schulz (1999: 423).

218 Damit lässt sich sagen, dass die STERN-Artikel mit Computerbezug eine diachronieadäquate Quelle für eine diskurslinguistische Untersuchung darstellen, insbesondere weil sie aus einem der langlebigsten Populärmedien der Bundesrepublik stammen und weil sie eine gemeinsprachliche Ebene in der diachronen Entwicklung des Computerdiskurses im general interest-Bereich der Presselandschaft repräsentieren. Diese Quelle ist im gesamten Zeitverlauf durch eine hohe mediale Reichweite gekennzeichnet. So lässt sich begründet davon ausgehen, dass die inkorporierten Texte auch einen relevanten Teil der diachronen Entwicklung des Computerdiskurses widerspiegeln und so einen jeweils zeittypischen Zugriff auf den Wortschatzbestand einer Diskursphase und damit eine Längsschnittanalyse der Diskursprogression, der Diskursvertikalität und der Diskurspersuasion ermöglichen.

10

Die gemeinsprachliche Verarbeitung der Computertechnologie

Die Computertechnologie ist heute omnipräsent; und auch das Sprechen über den Computer, der Computerdiskurs, durchzieht nahezu alle Lebensbereiche. Der Computerdiskurs hat vielfaltige fachinterne und fachexterne Formen, er wirkt zugleich auf andere Diskurse ein und verändert sie. Daher ist die Sprachund Wissensvertikalität beim Computerdiskurs besonders auffallend. Was in den informatischen Fächern entwickelt wird, muss für Technologielaien aufbereitet werden denn sie sind Käufer und Benutzer, und sie entscheiden über die Akzeptanz und den Absatz der Geräte und Programme. Ihren kommunikativen Bedürfnissen entsprechend haben sich bei der Versprachlichung der Computertechnologie in der Gemeinsprache Wortschatzniveaus herausgebildet, die inhaltlich und zeitlich der Technologieentwicklung nachfolgen. Im Computerdiskurs sind Technologiegeschichte und Diskursgeschichte in klarer Reihenfolge aufeinander verwiesen: Diskurs- und Sprachgeschichte folgen der Sachgeschichte. Der öffentlich gemeinsprachliche Computerdiskurs in Deutschland ist in zweierlei Hinsicht ein verspäteter Diskurs: Er setzt sowohl gegenüber der Technologieentwicklung als auch gegenüber dem öffentlichen Diskurs in den USA verzögert ein. Entscheidende Erfindungen in der Computertechnologie sind vor, nach und während des zweiten Weltkriegs in den USA gemacht worden. Die parallelen Entwicklungen Konrad Zuses wurden nicht weiter verfolgt und haben kein vergleichbares Echo gefunden. Der Computerdiskurs beginnt in gemeinsprachlichen Medien der USA sehr früh. Artikel mit Bezug zur Datenverarbeitung finden sich im amerikanischen Nachrichtenmagazin TIME bereits seit 1935.1 In der Ausgabe vom 18. März 1935 wird erstmals eine (mechanische) Datenverarbeitungsanlage benannt, die als differential analyser bezeichnet wird, und im Jahre 1950 widmet die TIME der Generation der Röhrenrechner unter der Überschrift: Mark III. „Can man build a superman?" eine Titelgeschichte. Im Nachkriegsdeutschland liegen die ersten Thematisierungen im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL zwar verhältnismäßig früh (1949), setzen aber verglichen mit der frühen Technologieentwicklung seit 1934 mit zeitlicher Verzögerung ein. Die Technologie muss unter den Bedingungen der Nachkriegszeit in Westdeutschland erst einen gewissen Anwendungs- und 1

Eine Analyse dieser ersten Erwähnungen in der TIME hat Steinke (1991) in seiner Staatsarbeit vorgenommen.

220 Verbreitungsstand erreicht haben, bevor sie aus den beteiligten Fächern in ein öffentlich allgemeines Bewusstsein treten kann. Hier datieren zwar die ersten, stark anthropomorphisierenden Thematisierungen der Computertechnologie vom Juli 1949 und 19502, aber selbst diese frühen gemeinsprachlichen Beschäftigungen mit der Computertechnologie setzen erst rund 15 Jahre nach den ersten Relaisrechnern und 5 Jahre nach der Vorstellung des ENIAC, des ersten Röhrenrechners, ein. Im gemeinsprachlichen Computerdiskurs tauchen schon zu Anfang vielfaltige Technologiestereotype auf, wie etwa das vom Raum füllenden Elektronengehirn oder Maschinengehirn. Sein Vorkommen im fachexternen, öffentlichen Diskurs ist seit 1950 belegt3. Die sprachlich diskursive Verarbeitung der Computertechnologie seit dem ersten Eintritt in den Computerdiskurs erfolgt in größeren Zeiträumen als die Einzelschritte der Technologieentwicklung, und zentrale Details der technologischen Entwicklung werden im Rahmen überdachender Technologiephasen öffentlich versprachlicht. Damit die Bezüge zwischen Technologie-, Wortschatz- und Diskursgeschichte sichtbar werden, muss zunächst eine (notwendigerweise idealtypische) Phasierung von Technologieentwicklung und Diskursentwicklung vorgenommen werden. Überdies muss ein Schlaglicht auf die Technologieentwicklung geworfen werden, um ansatzweise einen Überblick über den technologiegeschichtlichen Hintergrund des Diskurses bereitzustellen. Erst vor dem Hintergrund der Technologie- und Leitbildentwicklung kann die Untersuchung der Themen-, Wortschatz- und Vertikalitätsentwicklung des öffentlichen Computerdiskurses von seinem Beginn in den 1960er Jahren bis ins Jahr 1998 durchgeführt werden. Dazu werden dann Parlaments- und Pressekorpus entlang der Phasen der Technologiegeschichte analysiert.

10.1

Phasen des Computerdiskurses und die Entwicklung der Computertechnologie

Die Entwicklung der Computertechnologie ist so komplex und facettenreich, dass sie hier nicht detailliert dargestellt werden kann. Zu diesem Gebiet liegt eine Vielzahl technikgeschichtlicher Untersuchungen vor, die die Entwicklung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten4. Hier sollen jeweils nur 2 3 4

Vgl.Wichter (1991: 8). Vgl. Wichter (1991:9) Zur Technologiegeschichte vgl. die Überblicksdarstellungen von Horn/Kerner/Forbrig (2001: 433-342), Friedewald (1999), Ceruzzi (1998), HNF (1997), Campbell-

221 einige wenige Stationen ansatzweise skizziert werden, damit sowohl die Konturen der technologischen Entwicklung als Basis für die Diskursentwicklung sichtbar werden als auch die Abhängigkeit einzelner Technologiephasen von charakteristischen Leitideen. Diese Forschungsleitbilder waren fur zentrale Entwicklungen ausschlaggebend und haben die Entwicklung der Computer- und PC-Technologie schon in den frühen Phasen der fachinternen und facherübergreifenden Grundlagenforschung geprägt, lange bevor die Informatik sich als eigene Disziplin herausgebildet hat. Ein solches Leitbild bietet einen mentalen Orientierungsrahmen für Forschungs- und Entwicklungsprozesse und lässt sich als handlungsleitendes und diskurswirksames mentales Expertenmodell auffassen. 5 Leitbilder sind jene Vorstellungen über gegebene und herstellbare technische Möglichkeiten, die sich zu vorausdeutenden Technikentwürfen verdichten und als wahrnehmungs-, denk-, entscheidungs- und handlungsleitende Orientierungsrahmen fur individuelle und kollektive Akteure in Netzwerken der Technikgenese und Technikimplementation wirken. (Barben/Dierkes/Marz 1993: 6)

Prominente und richtungsweisende Forschungsleitbilder, die in der Entwicklung der Computertechnologie eine prägende Rolle gespielt haben und als mentale Modelle die Gestalt der technologischen Artefakte geprägt haben, sind die Folgenden: • Der Computer als Rechenautomat • Der Computer als Werkzeug • Der Computer als Intelligenzverstärker • Der Computer als (interaktiver) Partner des Menschen • Der Computer als Träger einer künstlichen Intelligenz • Der Computer als Medium 6 . Die Orientierungs- und Bündelungsfunktionen, die die Entwicklungsleitbilder im Expertendiskurs haben, finden ihr Pendant in den Technologiestereo-

5

6

Kelly/Aspray (1996), Zemanek (1991) und Vorndran (1986). Zur Entwicklungslinie des Colossus und der Rolle Alan Turings vgl. Strathern (1998) und Shurkin (1996). Besonders Friedewald (1999) und Campbell-Kelly/Aspray (1996) fokussieren stärker auf die Entwicklung des Personal Computers als Massenprodukt. Zuse (1999) beschreibt die Geschichte der Programmiersprachen und Horn/Kerner/ Forbrig (2001: 2 7 8 - 2 8 2 ) geben einen Überblick über die Geschichte, Generationenklassifizierung, Syntax und Semantik von Programmiersprachen. Zur Rolle von Leitbildern in der Technikgestaltung vgl. Marz (1993), Barben/Dierkes/Marz (1993). Die Möglichkeiten der Operationalisierung von Leitbildern und ihre Untersuchung im Sinne einer Leitbildanalyse fuhrt Kuckartz (1999: 2 1 5 - 2 2 7 ) vor. Die Rolle von Leitbildern in der Geschichte der Computertechnologie beleuchtet Hellige (1994), und ihre Wirkungen in der Entwicklung der Mensch-Maschine-Schnittstelle und in der Software-Ergonomie erhellt Maaß (1994). Vgl. Friedewald (1999).

222 typen im fachexternen Diskurs. Pointierter: Was fiir den Experten das Leitbild ist für den Laien das Stereotyp. Eine idealtypische Phasierung der Entwicklung der Computertechnologie wird mithilfe der Generationenmetapher möglich. In einer solchen Periodisierung nach Computer- und Prozessorgeneration wird die Entwicklung der Computertechnologie in Hardwaregenerationen differenziert, wobei jede Generation durch die verwendete Schaltkreistechnologie charakterisiert und phasiert werden kann.7 Die Phasen durchdringen und überlappen einander, weil die Grenzen der Technologiegenerationen fließend sind, da die technologische Entwicklung nicht in eindimensionaler Abfolge verläuft. Die Phasierung nach der Hardware bietet sich hier an, weil auch die frühen Computergenerationen, die vor der massenhaften Verbreitung des Personal Computers (seit 1981) die Technologiestandards bestimmt haben (Relaisrechner, Röhrenrechner und frühe Mainframes), einbezogen werden müssen. Dies ist insbesondere erforderlich, weil die raumfullenden Rechenautomaten für den fachexternen Diskurs lange Zeit Stereotypspender waren, auch als die technologische Entwicklung längst über diese Modelle hinweg gegangen war. Auch verfugten sie zu einem großen Teil noch nicht über Software, wie wir sie heute gewohnt sind; vielmehr wurde der Programmablauf durch feste Verdrahtung, Lochkarten und -streifen oder Programmsteuerungen gewährleistet, die auf Programmtafeln gesteckt wurden. Deshalb scheidet auch eine Phasierung nach Software- oder Betriebssystemgenerationen aus. Der öffentliche und fachexterne Computerdiskurs verläuft zwar vor diesem Hintergrund der Technologiegeschichte, er gehorcht allerdings anderen Abfolgeregeln. Zwar wird die Computertechnologie recht früh im öffentlichen Diskurs thematisiert, aber ein weiteres Ausgreifen von Computerthemen und Computerwortschatz in die Gemeinsprache findet erst später statt. Wichter (1991) hat daher (mit Bindung an die Technologieentwicklung) drei idealtypische Hauptphasen der Computerwortschatz-Ausbreitung in die Gemeinsprache angesetzt, die sich auch als Hintergrund für die Phasierung sowohl des parlamentarischen als auch des Pressediskurses als hilfreich erweisen: • eine Anfangsphase (von den vierziger Jahren bis zum Ende der sechziger Jahre),

7

Vgl. Horn/Kerner/Forbrig (2001: 3 8 - 4 1 ) , Horn/Kerner (1995: 22), die Überblicksdarstellungen bei http://www.informatik.uni-siegen.de/~inf/Skript/section2b.html (Version vom 03. 03.01) und http://www.if.fh-landshut.de/fbi/geschichte.html (Version vom 03. 03.01) sowie Vorndran (1986) mit anderen Angaben zur Rechengeschwindigkeit. Vgl. auch die Periodisierungen bei Ceruzzi (1998) und Zemanek (1991: 101-116). Horn/Kerner/Forbrig (2001: 38) betonen, dass man solche Generationenklassifizierungen ebenfalls nach Bauelementen, Schaltungstechnologien, Funktionsgruppen, Betriebssystemen oder Programmiersprachen vornehmen kann.

223 • •

eine Öffnungsphase (vom Ende der sechziger Jahre bis zum Ende der siebziger Jahre), eine Publikumsphase (vom Ende der siebziger Jahre an) (Vgl. Wichter 1991).

Aus heutiger Sicht hat sich der Computerdiskurs stürmisch weiterentwickelt und fuhrt nun über diese Periodisierung hinaus. Für die heutige Situation gilt, dass Computerdiskurs und Computertechnologie überall und jederzeit anzutreffen sind. Das umfassendste Leitbild für diese Omnipräsenzphase ist das von der Informationsgesellschaft. Diese Phase beginnt spätestens mit der Etablierung des World Wide Web8. Die Omnipräsenzphase beinhaltet die Zeit der Etablierung einer Gesellschaft, „in der die Gewinnung, Speicherung, Verarbeitung, Vermittlung, Verbreitung und Nutzung von Information und Wissen zentrale Bedeutung erlangt haben, wirtschaftlich einen wesentlichen und stetig wachsenden Anteil des Sozialprodukts bilden und in ihren soziokulturellen Auswirkungen die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen nachhaltig verändern."9 Sie ist von der massenhaften Verbreitung der Computertechnologie und ihrer weltweiten Vernetzung und vom Zusammenwachsen der Medien geprägt. Zentral für diese Phase sind: • Digitale Informations- und Wissensverarbeitung'. Die digitale Verarbeitung von Information und Wissen ist grundlegender Ordnungsfaktor der Gesellschaft und ein weiterer Produktions- und Wirtschaftsfaktor. • Totalität des Einflusses der Computertechnologie: Der Computer als universale Maschine macht die digitale Verarbeitung von Wissen erst möglich. Die Computertechnologie ist in allen Lebensbereichen anzutreffen. • Weltweite Vernetzung durch Inter- und Intranet Die Kommunikationskulturen werden durch weltweite Vernetzung globalisiert; räumliche Entfernungen spielen für die Kommunikation keine Rolle mehr. • Multimedia-Vielfalt'. Der Computer ist zum Multimedium geworden, das auf alle menschlichen Perzeptionskanäle (Audio, Video, Tastsinn) ausgerichtet und vielfach mit anderen Medien (Fernsehen, Telekommunikation) verschmolzen ist. • Zusammenwachsen der Medien und Kommunikationskanäle: Neue Medien durchziehen alte Medien, und die Infrastruktur für die optimale Nutzung des Computers als universaler Kommunikationsmaschine wird nunmehr nach Anwendungsbedürfnissen systematisch ausgestaltet. „Datenübertragungstechniken und -netze im Bereich Telekommunikation wie ISDN, Mobilfunk, Satellitenübertragung, Breitbandkommunikation werden gezielt ausgebaut und schaffen die Basis für das Zusammenwachsen 8 9

Zur Geschichte des World Wide Web vgl. http://www.w3.org/WWW/. Brockhaus (1999: Artikel Informationsgesellschaft).

224 bisher eigenständiger Wirtschaftszweige (Medien- und Unterhaltungsindustrie, elektronische und Computerindustrie) und Geräte (z. B. Fernseher und PC) und ermöglichen auch Interaktivität" (Brockhaus 1999, Artikel Informationsgesellschaft). So lassen sich als Heuristik für die nachfolgenden Analysen vier Phasen des öffentlichen und fachexternen Computerdiskurses im Sinne einer allgemeinen Periodisierung ansetzen: Allgemeine Diskursperiodisierung Anfangsphase 1940-1969 Öffnungsphase 1970-1979 Publikumsphase 1981-1994 Omnipräsenzphase seit 1995 Die Periodisierung des Computerdiskurses nach Wichter nimmt starken Bezug auf die Technologieentwicklung; dies ist auch unerlässlich, weil die Technologieentwicklung die Voraussetzung für die Führung von Diskursen bildet. Somit bildet diese Periodisierung ein stabiles Hintergrundraster, eine Art diskursives Zeitlineal, an dem Abweichungen im Verlauf des Computerdiskurses in Printmedium und Parlament kontrastiert werden können. Zwar lässt sich in beiden Fällen ebenfalls die Periodisierung in vier Großphasen erkennen, aber bei den hier untersuchten Diskursen sind die ausschlaggebenden Kriterien für das Einsetzen des Computerdiskurses oder eine seiner Phasen diskursiver oder sozialer und nicht primär technologischer Natur. Das bedeutet, dass zu zeigen sein wird, ob und wo im Parlaments- oder Pressediskurs die einzelnen Phasen zu je unterschiedlichen Zeitpunkten beginnen und in eine weitere Phase übergehen. Aber trotz der Abweichungen bildet die Technologiegeschichte den Horizont, vor dem der öffentliche Computerdiskurs erst möglich wird. Deshalb müssen die Diskursphasen in Beziehung zur Technologieentwicklung gesetzt werden. Damit sichtbar wird, welche Abschnitte der Technologieentwicklung im Rahmen welcher Diskursphase kommunikativ verarbeitet worden sind, wird in der folgenden Übersicht (im Vorgriff auf die weiter unten folgenden Analyseergebnisse) die Parallelität von Diskursphasen und korrespondierenden Technologiephasen skizziert.

225 Diskurs- und Technologieentwicklung 10 Diskursphase

Zeitraum 1934—1940

Charakteristische Merkmale •

RELAISRECHNER

• 1940-1955 1. Generation



RÖHRENRECHNER (N ON

7 m

1950-1965 2. Generation TRANSISTOREN

VO OV



U

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P. W A 00 c TA C


theorieKulturkrisenDiskurs< und >Aussage