Mittelhochdeutsch: Eine Einführung in das Studium der deutschen Sprachgeschichte [Reprint 2015 ed.] 9783111634111, 9783484250239


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German Pages 134 [136] Year 1976

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INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
ABKÜRZUNGEN UND SYMBOLE
0. Einleitung
1. Sprachgeschichte, Sprachveränderung und Sprachvariation: Einige Beobachtungen und Beschreibungsmöglichkeiten
2. Sprachliches Verstehen mittelhochdeutscher Texte: Schwierigkeiten und Möglichkeiten ihrer Überwindung
3. Die historische Dimension der Sprachvariation und die Sprachübertragung
4. Tendenzen der Sprachveränderung in grammatischen Subsystemen des Verbs
5. Sprachveränderung und Kulturgeschichte
Literatur
Register
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Mittelhochdeutsch: Eine Einführung in das Studium der deutschen Sprachgeschichte [Reprint 2015 ed.]
 9783111634111, 9783484250239

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Germanistische Arbeitshefte

19

Herausgegeben von Otmar Werner und Franz Hundsnurscher

Otfrid Ehrismann/Hans

Ramge

Mittelhochdeutsch Eine Einführung in das Studium der deutschen Sprachgeschichte

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1976

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Ehrismann, Otfrid Mittelhochdeutsch : e. Einf. in d. Studium d. dt. Sprachgeschichte / Otfrid Ehrismann ; Hans Ramge. - 1. Aufl. - Tübingen : Niemeyer, 1976. (Germanistische Arbeitshefte ; 19) ISBN 3-484-25023-2 NE: Ramge , Hans:

ISBN 3-484-25023-2 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1976 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort Abkürzungen und Symbole 0

Einleitung

1

Sprachgeschichte, Sprachveränderung und Sprachvariation: Einige Beobachtungen und Beschrei±)ungsmöglichkeiten 1.1 Sprachgeschichte und Sprachveränderung 1.1.1 Einige Beobachtungen von Sprachveränderungen im gegenwärtigen Deutsch 1.1.2 'Diachronie' als Kategorie der Sprachtheorie 1.1.3 Das Phonemsystem der deutschen Sprache der Gegenwart 1.2 Sprachveränderung und Sprachvariation 1.2.1 Homogenität und Variation 1.2.2 Soziale Variation 1.2.3 Dialektale Variation 1.2.4 Situative Variation 1.3 Sprachgeschichte und Sprachvariation

2

3

4

Sprachliches Verstehen mittelhochdeutscher Texte: Schwierigkeiten und Möglichkeiten ihrer Überwindung 2.1 Ein Textauszug aus dem ARMEN HEINRICH . . . . · 2.2 Die Arbeit mit dem Wörterbuch 2.3 Die Arbeit mit historischen Grammatiken (am Beispiel des Umlauts) 2.4 Normalisiertes Mittelhochdeutsch und normalisierter Text . . . Die historische Dimension der Sprachvariation und die Sprachübertragung 3.1 Vokalische Veränderungen vom Mhd. zum Nhd. und ihre Bedeutung für die heutige Sprachvariation 3.1.1 Vokalische Veränderungen von der mhd. zur nhd. Standardsprache 3.1.2 Dialektale Sprachvariation und die nhd. Diphthongierung als Sprachbewegung 3.2 Die hochdeutsche Lautverschiebung und das Problem des Entstehungsortes 3.3 Dialektale Variation und die Entstehung der Einheitssprache . . 3.4 Sprachwandel durch Spracherwerbsprozesse 3.4.1 Das Generationen-Modell 3.4.2 'Simplifizierung' und 'Analogie' Tendenzen der Sprachveränderung in grarmatisehen Subsystemen des Verbs 4.1 Zur sprachgeschichtlichen Entwicklung der Tempora 4.1.1 Tempusgebrauch und Zeitreferenz 4.1.2 Zur sprachgeschichtlichen Entwicklung des einfachen Futurs . . 4.1.3 Tempora in dialektaler Variation

VII VIII 1 4 4 4

5

8

10

10 12 13 16 17 20 20 2 1 24 2

8

32 32 32 35 40 44 48

48

51 55 55 55 57

VI 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 5

Veränderungstendenzen im Konjugationssystem des Verbs Veränderungen in den Präsens- und Präteritumformen von nehmen · Synthetischer und analytischer Sprachbau Die Zerstörung des Ablaut-Systems Die Subklassifizierung der Verben im Nhd. Zur Auflösung von Subklassen starker Verben vom Mhd. zum Nhd. . Zur Differenzierung von Subklassen starker Verben bis zum Mhd.·

60 60 64 68 68 70 74

Sprachveränderung und Kulturgeschichte 5.1 Text als Sozialisationsfaktor 5.2 Von der Reichsideologie zum Ritterbild 5.3 Ein Beispiel für falsches Handeln 5.4 Semantisches Feld 'Mann' 5.5 Ritterliche Eigenschaften 5.6 Sprachveränderung und Sozialprestige 5.7 Exkurse 5.7.1 minne / liebe

80 80 83 87 89 93 100 106 106

5.7.2

vTouwe / wip

112

5.7.3

Anredeformen (Du, Ihr, Sie)

117

Literatur

124

Register

127

VORWORT

Das Arbeitsheft ist als Arbeitsunterlage für Einführungsveranstaltungen und Proseminare gedacht, die in das Studium der historischen Sprachwissenschaft, insbesondere das Mittelhochdeutsche im Rahmen der Geschichte der deutschen Sprache einführen. Wir versuchen, den traditionellen 'Lernstoff' so aufzubereiten und zu vermitteln, daß dessen Relevanz für sprach- und kulturgeschichtliche Zusanjnenhänge einerseits, sprach- und kcrnmunikationstheoretische Fragestellungen andererseits ansatzweise deutlich wird. Dabei verzichten wir bewußt auf explizitformalisierende Darstellungsverfahren, um für die 'Einführung' nicht zusätzliche Lernhenrmisse aufzubauen. Denn wir setzen wohl einige linguistische Grundkenntnisse voraus, gehen aber nicht von der Annahme aus, daß alle Benutzer bereits ein linguistisches Grundstudium hinter sich haben. Das Arbeitsheft ist trotz zahlreicher Kürzungen erheblich umfangreicher geworden als ursprünglich vorgesehen war. Wir bezweifeln, daß man in einem Semester alle Kapitel gleich intensiv durcharbeiten kann. Dies schien uns aber kein Nachteil, weil die einzelnen Kapitel zwar in einem Darstellungszusanmenhang, nicht aber in einem notwendigen Argumentationszusamnenhang zueinander stehen. Deshalb können, entsprechend den spezifischen Interessen des Seminars (und seiner institutionellen Erfordernisse, die an den Hochschulen verschieden sind), durchaus Schwerpunkte in der Auswahl der Kapitel gelegt werden. Die Kapitel 1 und 2 sind als Grundlage gedacht, an die sich entweder die Kapitel 3 und 4 mit Betonung der phorologisch-norphologischen Sprachveränderungen oder Kapitel 5 mit Betonung der semantisch-pragmatischen Veränderungen anschließen können. Anders als sonst in den "Germanistischen Arbeitsheften" üblich, verzichten wir darauf, den Übungen Lösungen beizugeben. Die Übungen dienen nicht vorrangig zur Wiederholung, sondern dati Arbeitsprozeß im Seminar. Ihr Zweck wäre verfehlt, wenn das, was mithilfe des Seminarleiters erarbeitet und erörtert werden soll hier bietet sich die fföglichkeit an, die Übungen in Kleingruppen während des Seminars zu 'lösen' - schon vorgegeben würde. Wir rechnen auch damit, daß der Seminarleiter korrigierend, interpretierend und - vor allem - ergänzend, vielleicht auch relativierend eingreift. Wir haben geneinsam Konzepte des vorliegenden Arbeitshefts erarbeitet, an der Universität Gießen erprobt und dabei förderliche Kritik von Studenten erhalten. Für die kritische Durchsicht des Manuskriptentwurfs bzw. Teilern davon und für Anregungen danken wir Herbert Backes, Heinrich Beck, Hans Eggers, Wolfgang Haubrichs und Otmar Werner. Fritz Vahle danken wir für seine Hilfe bei den Korrekturen. Gießen/Saarbrücken, März 1976

O.E.

ABKÜRZUNGEN

[ ] / / < >

UND

SYMBOLE

phonetische Transkription phonemische Transkription nach Kontext: 1) Graphem

=

2) semantisches Merkmal Längezeichen Akzent, Hauptton erschlossene, angencrmene Form fraglich, ob akzeptabel 'wird zu' 'entstanden aus' Paraphrase, Übertragung (wenn nicht nach Kontext 'entspricht' metaphorischer Sprachgebrauch)

Präs. Prät. Sg.

Präsens Präteritum Singular

PI. TG vs. Z.

Plural generative Transformationsgranniatik versus Zeile

ahd./and.

althochdeutsch/altniederdeutsch

engl. germ.

englisch germanisch

lat. nihd. /mnd. nhd.

lateinisch mittelhochdeutsch/mittelnieder deutsch neuhochdeutsch

Dt.Wb. GA. Kl. Lexer

Deutsches Wörterbuch der Brüder Gr irmi (s. LiteraturGermanistische Arbeitshefte Verzeichnis) Kleiner Lexer (siehe Literaturverzeichnis)

bzw. : Λ

? > < 1

'

Hinweis: Literaturangaben finden sich am Ende des Heftes (allgemeine und grundlegende Werke), am Ende der einzelnen Kapitel (grundlegende Werke für diese Kapitel) und in den Anmerkungen (nur für bestimmte Textstellen wichtige Arbeiten.)

o

EINLEITUNG

Wir glauben davon ausgehen zu können, daß die Einstellung gegenüber einem sprachgeschichtlichen Grundkurs oft zianlich gleichgültig, eher negativ ist. Viele halten ihn für ' nutzlos ' und 1 antiquiert '. Ihre Abwehr ist zu einem großen Teil nicht privat, sondern durch allgemeine Tendenzen des Schulbetriebs und der Unterrichtsplanung anerzogen. Noch inmer gilt der Deutschunterricht in erster Linie als Literaturunterricht. Das hängt mit seiner traditionellen Aufgabe, geistige Werte zu vermitteln, zusanmen. Die Reserve gegenüber der Beschäftigimg mit Sprache wird von einer Reserve gegenüber der Beschäftigung mit geschichtlichen Texten gestärkt, damit im weiteren gegenüber vergangenen Sprachepochen. Wir begreifen die Produktion von Texten, wie jedes sprachliche Handeln, vorrangig als soziales Handeln. Literatur- und Sprachwissenschaft könnten also als Sozialwissenschaften aufgebaut und als Einheit gesehen werden. Die Sprache ist ein soziales System und damit dem Wandel unterworfen: "Der Ursprung der Sprache leitet sich aus der Gesellschaftlichkeit des Menschen ab. Die Fortdauer und der Wandel der Sprachen beruhen auf konkreten Sozialstrukturen und auf der Dynamik des Verhältnisses von Individuum, Gruppen, Institutionen und Gesamtgesellschaft. Schon das Entstehen der Sprache setzt, zusätzlich zu den biophysiologischen Voraussetzungen des Sprechens, eine gewisse Regelmäßigkeit und Typisierbarkeit des menschlichen Verhaltens voraus, die sich prinzipiell in der Wechselseitigkeit unmittelbarer sozialer Beziehungen aufbauen und sich konkret in Formen der Familienbildung, der Kooperation und der Arbeitsteilung ausdrücken. Die Fortdauer der Sprache hängt von der Einbettung der Sozialisierungsvorgänge in konkrete historische Institutionen ab. Diese bestimmen ihrerseits die Handlungsmuster in sozialen Gruppen und die Lebensformen des Individuums und somit mittelbar den historischen Wandel der Sprache." 1

Aus der 'Gesellschaftlichkeit1 der Sprache leiten sich drei Faktoren des 1 Sprachwandels ' ab, zu denen als vierter systeminterne Bewegungen kamen: (1) Ream·. Sprache aktualisiert sich im Raum, die Mitglieder der Sprachgemeinschaften handeln in geographischen Räumen. Sie leben an verschiedenen Stellen und treten in Verkehrsbeziehungen zueinander. (2) Zeit·. Sprache aktualisiert sich in der Zeit. Zur Sprachgemeinschaft kaimen ständig neue Mitglieder hinzu, die integriert werden und denen sich die Gemeinschaft assimiliert (neue Generationen, Vertriebene, Flüchtlinge u.a.). 1

Thomas Luckmann (1969): Soziologie der Sprache, in: René König (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Bd. 2, Stuttgart, 1050-1101, 1050.

2 (3) Sozialsystem·. Sprache aktualisiert sich unter gesellschaftlichen Bedingungen. In den sprachlichen Handlungen aktualisieren, stabilisieren und verändern sich die Gebrauchsnormen der Sprache entsprechend den sozialen Tatsachen der Gesellschaft bzw. ihrer sozialen Gruppen. (4) Spraahstruktur: Da sich Sprache in konkreten sprachlichen Handlungen vollzieht, müssen wir psychische (auch kognitive) und neurophysiologische Bedingungen bei den Sprechern und Hörern in der kamtunikativen Situation mit einbeziehen. Sie verändern hauptsächlich die Ausdrucksseite der Sprache. Man nennt solche Veränderungen sprachiitmanente Zwänge, Systemzwang (was nicht so mißverstanden werden soll, als ob das abstrakte System selbst Veränderungen bewirken würde). Man muß versuchen, die "Ursachen des Wandels in kcmnunikativen Vorgängen aufzudecken, in denen sich ja Sprache, Kultur und Sozialstruktur gemeinsam, fortwährend und konkret aktualisieren."

2

Aus dieser Forderung ist die Ethnographie der Kommunikation entstanden (John J. Gumperz, Dell Hymes u.a.). Sie sieht, und wir folgen ihr darin, die konkreten Wurzeln des Wandels in "Sprechakten als Bestandteilen kulturell sinnerfüllter und institutionell vordefinierter kommunikativer Gesamtsituationen."

Wir vollen das Wirken dieser vier Faktoren zeigen. Zugleich soll dabei erfahrbar werden, welche räumliche und zeitliche 'Weite' sie brauchen, um sich voll zu entfalten (sonst könnten wir auch die Sprache der Gegenwart zun Untersuchungsgegenstand machen). Sprachliche Neuerungen bewegen sich kontinuierlich oder diskontinuierlich im Raum, und es kann Jahrhunderte dauern, bis sie sich in allen (oder den meisten) sozialen Gruppen durchgesetzt haben oder von ihnen verworfen worden sind. Sinnvoll ist es, die Sprache einer relativ abgeschlossenen und homogenen sozialen Gruppe als Fixpunkt zu nehmen, die einen Prestigewert hatte, also von anderen sozialen Gruppen überrennten wurde. In der Literatursprache der Ritterkultur von ca. 1150-1220 besitzen wir eine solche Sprache: Hier wurde, so läßt sich in einem ersten Zugriff formulieren, das Erziehungsprograirm einer Elite (Ritter) entwickelt, das die nachfolgenden Kulturträger imitierten. Diese Sprache ist außerdem genügend erforscht, um an ihr in sprachgeschichtliche Methoden und Arbeitsweisen einführen zu können. Für die Beschreibung der Dialekte und damit der 4

Vorstufen des Nhd. bietet sie sich am ehesten an. Wenn wir van phonologischen (Teil-) System ausgehen und wenn die phonologischen und morphologischen Beschreibungsteile in unserer Darstellung überwiegen, dann spiegeln wir die Wissenschaftsgeschichte wider. Das nicht ohne Grund, zumal 2 3 4

Ebd., 1064. Ebd., 1068. Peter Wiesinger (1970): Phonetisch-phonologische Untersuchungen zur Vokalentwicklung in den deutschen Dialekten. 2 Bde. (= Studia Linguistica Germanica 2), Berlin, I. Einleitung.

3 gerade das phonologische System "relativ überschaubar und autonan zu behandeln"5 ist. Wir begreifen es als einen Modellfall, an dem wir eine Reihe von wichtigen Einsichten in die Prinzipien des Sprachwandels und in seine Rekonstruierbarkeit erarbeiten können. Wir nehmen als Fixpurikt die Sprache "um 1200", das Mhd. Im Gesamtablauf des Deutschen nimrrt es folgende Stellung ein (wir bedienen uns im allgemeinen der Begriffe von Hugo Moser6) : Epoche Unterglie- Unterglie- Epochen- Untergliederung der Untergliederung der derung d. derung d. beBezeichnung Bezeichnung Epoche (1) Epoche (2) zeichnung (2) (1) vor ca. 2. Jtv.Chr. 750 1. Jty.Chr. 1.-5.Jh. η.Chr. 5.Jh.-ca. 750 ca.750- ca.750Anf. 1170 16.Jh.

vorgermanische Zeit Vorgeschichte frühgermanische Zeit germanische Stammessprachen vordeutsche Zeit ca.7501050 ca.10501170

ca.11701250 ca.1250Anf. 16.Jh.

ca.12501300 14. Jh. 15. Jh./ Anf.16.Jh.

nach 16.-18. Anf. Jh. 16.Jh.

19. Jh. 20. Jh.

5 6

16. Jh. 17. Jh.

18. Jh. -ca.1870 ca.18701900

Altdeut- Frühdeutsch sche (Ahd., And.) Zeit

Älteres Frühdeutsch Jüngeres Frühdeutsch

Hochmittelalterliches Deutsch (Mhd., Mnd.(überregionale Dichterspräche Spätmittelalterli- landschaftliche ches Deutsch (Spät- Hochsprachen, mhd., Spätmnd.) Sondersprachen mnd.,ostmitteldeutsche Schreibsprache oberdeutsche Schreibspr.,Humanistenspr. Frühneuhochdeutsch ostmitteldeutsche, oberdeutsche,schweizerdeutsche Schriftsprache einheitl.Schri ftspr. Jüngeres Neudeutsch Weg zur Standardspr. Weg zur Normierung der Standardsprache Deutsch der Gegenwart

Neudeut- Älteres Neudeutsch sche Zeit

Otmar Werner (1974): Sektion I, in: Walter Müller-Seidel (Hrsg.): Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972, München, 93-96, 94. Moser (41972).

1

SPRACHGESCHICHTE/

SPRACHVERÄNDERUNG UND

EINIGE BEOBACHTUNGEN

UND

SPRACHVARIATION:

BESCHREIBUNGSMÖGLICHKEITEN

1.1

Sprachgeschichte und Sprachveränderung

1.1.1

Einige Beobachtungen von Sprachveränderungen im gegenwärtigen Deutsch

Sprache verändert sich ständig. Unterstellen wir einmal, daß dieser Satz richtig ist, so leiten sich daraus mindestens folgende Fragen ab: - Welcher Begriff von 'Sprache' liegt der Aussage zugrunde? - Was ändert sich an der 'Sprache'? - Wie ändert sie sich? - Warum ändert sie sich? - Welcher Begriff von 'Veränderung' liegt der Aussage zugrunde? In einem ersten unsystematischen Versuch können wir uns einige Veränderungstendenzen des heutigen Deutsch vor Augen führen: Übung (1) Versuchen Sie, aufgrund Ihres Sprachgefühls folgende Fragen zu entscheiden und ansatzweise entsprechend den oben formulierten Fragen zu diskutieren: - Es gibt im heutigen Deutsch die Bären und die Beeren, die Ähre und die Ehre, die Eltern und die Älteren. Stellen Sie beim Sprechen dieser Wortpaare in verschiedenen Kontexten lautliche Unterschiede fest? - Heißt es heute mit dem Schwerte oder mit dem Schwert? - Heißt es heute des Kindes oder des Kinds7 - Heißt es heute die Stirne oder die Stirn? - Heißt es heute wegen des Regens oder wegen dem Regen? - Heißt es heute Er erinnerte sich des Briefes/Briefs, Er erinnerte sich an den Brief oder Er erinnerte den Brief? - Man kann in gesprochener Sprache nicht selten weil-Sätze folgenden Typs hören: Er kommt später, weil er muß noch was erledigen. - Die Du-Anrede unter Studenten ist heute allgemein üblich; bis in die Mitte der sechziger Jahre war aber die Sie-Anrede gebräuchlich (vgl. 5.7.3). - Bis 1969 war im politischen uod öffentlichen Sprachgebrauch der Bundesrepublik häufig die Rede von einem Trend (zugunsten der SPD); heute wird oft von der Tendenzwende gesprochen. - Namentlich im SPIEGEL ist seit einigen Jahren gelegentlich die Rede davon, daß jemand etwas voller Häme gesagt oder getan habe. - Warum kommt uns der Satz Behufs eines Gin-Fizzes sprintete Kunibert flugs an die Theke und orderte denselben seltsam vor? - Wie beurteilen Sie Ausdrücke wie in Erfahrung bringen vs. erfahren, der Veränderung unterliegen vs. (sich) verändern, in Auftrag geben vs. beauftragen, zur Vollendung kommen vs. vollenden?

5 Die Diskussion der empirisch belegbaren Beobachtungen in Übung (1) verdeutlicht zunächst, daß sich Veränderungen in allen Ebenen der Grairmatik und des Sprachgebrauchs nachweisen lassen. In den meisten Fällen läßt sich nicht eindeutig sagen, was 'richtig' und was 'falsch' ist, es sei denn, man orientiert sich an normativen Sprachbeschreibungen wie z.B. dem DUDEN. Unabhängig von diesem Kriterium kann man aber meistens beurteilen, ob diese oder jene Sprachform einer gehobenen oder einer umgangssprachlichen Sprechweise zuzuordnen ist, ob sie als veraltet oder modisch-modern empfunden wird, ob sich ihr Gebrauch auf bestinmte soziale Gruppen beschränkt oder nicht, ob sie nur in bestürmten situativen Kontexten verwendet wird oder nicht. Derartige Differenzierungen scheinen die Grundlage für Sprachveränderungen zu bilden. Wenn man Sprachgeschichte betreiben will, bedeutet das zu einem guten Teil: sich mit den sprachlichen Veränderungen in der geschichtlichen Entwicklung einer Sprache (oder allgemeiner: von Sprachen) zu befassen. Deshalb sollen die Differenzierungen, die Sprachveränderungen ermöglichen oder bedingen, und die wichtigsten sprachwissenschaftlichen Beschreibungsansätze dazu in Kapitel 1 kurz dargestellt werden. 1.1.2

'Diachronie' als Kategorie der Sprachtheorie

Wenn davon ausgegangen werden kann, daß Sprechern des heutigen Deutsch die Äußerung Er erinnerte sich des Briefes im Vergleich zu Er erinnerte sich an den Brief ungewöhnlicher vorkamt, ebenso wie ihnen mit dem Schwerte, des Kindes, er frug ungewöhnlicher erscheint, so zeigt das, daß sie eine Fähigkeit erworben haben zu beurteilen, was 'üblich' und was 'nicht-so-üblich' ist. Dies ändert nichts daran, daß beide syntaktischen Könstruktionsweisen der Beispielsätze im heutigen Deutsch möglich sind. Es sind mögliche und zulässige Sätze des heutigen Deutsch. Dies gilt auch dann, wenn viele Sprecher und Sprechergruppen die genitivische Konstruktion des ersten Satzes selbst nie verwenden würden, ja selbst, wenn sie sie nicht mehr verstehen würden. Auf dieser Stufe sehen wir von den individuell ausgeprägten Fähigkeiten von Sprechern zur Erzeugung von Sätzen ab, von ihrer Sprachkompetenz, und ordnen die Fähigkeit zur Erzeugung und Beurteilung der beiden Sätze einem 'idealen Sprecher-Hörer' zu.1 Dieser ideale Sprecher-Hörer würde vermutlich zwei Urteile über den Satz Er erinnerte sich des Briefes abgeben, um zu erklären, warun ër ihm 'ungewöhnlicher1 vorkamt: (1) Der Satz ist in seiner syntaktischen Konstruktion altertümlich/veraltet. (2) Der Satz ist aufgrund seiner syntaktischen Konstruktion der Stilebene der gewählten, vornehmen, gespreizten Sprache zuzuordnen und kann deshalb nur in bestirrmten Sprechsituationen verwendet werden. 1

Noam Chomsky (dt. 1969): Aspekte der Syntax-Theorie Frankfurt.

(= Suhrkamp Theorie 2),

Grundlage der Beurteilung ist in beiden Fällen die Genitiv-Konstruktion. Nun werden in der Tat in der gesprochenen Sprache alle genitivischen Konstruktionen seit langem inner seltener verwendet. Manche Genitiv-Konstruktionen können überhaupt nur in der gehobenen Standardsprache vor und fehlen etwa den verschiedenen deutschen Dialekten völlig, wie z.B. der Hut meines Vaters vs. meinem Vater sein Hut. Der 'ideale Sprecher-Hörer' kctrmt deshalb zu seinen Urteilen aufgrund seiner Erfahrung und seines Itagangs mit Sprache: (1') Genitiv-Konstruktionen sind heute weniger gebräuchlich als'früher' (wobei 'früher' zeitlich unspezifiziert bleibt). (2') Genitiv-Konstruktionen gehören der 'gehobenen Sprache' an (wobei die Grenze zwischen 'gehoben' und 'nicht-gehoben1 unspezifiziert bleibt). Wenn diese Beurteilung richtig ist, folgt aus (1 '), daß der Beispielsatz zu einem 'früheren' Zeitpunkt in der Geschichte der deutschen Sprache nicht als ungewöhnlich beurteilt worden wäre, sondern ebenso wie mit dem Schwerte, des Kindes, er frug als normal. Von der sprachwissenschaftlichen Methodologie her bedeutet es nun aber einen wesentlichen Unterschied, ob man - um beim Beispiel zu bleiben die Möglichkeiten für Genitiv-Konstruktionen zu einem bestinmten Zeitpunkt in der Geschichte einer Sprache untersucht und dabei z.B. prüft, wie sich der Genitiv zu anderen Kasus und Rektionen verhält, oder ob man die geschichtliche Entwicklung der grairmatischen Einheit 'Genitiv' untersucht. Im ersten Fall bewegen wir uns auf der Ebene des zeitlichen Nebeneinanders sprachlicher Erscheinungen oder der Synchronie ; im zweiten Fall auf der Ebene des zeitlichen Nacheinanders oder der Diaohronie. Ferdinand de Saussure hat diesen Unterschied so veranschaulicht:

_

D

Dabei bezeichnet AB die Achse der Gleichzeitigkeit, CD die Achse der Aufeinanderfolge. Aufgrund dieser Gliederung nach zwei Gesichtspunkten ('Dichotanie') ergibt sich, daß sprachhistorische Veränderungen in der Achse CD untersucht werden, und zwar als Übergänge von einem Zustand auf der ibene der Synchronie (Achse AB) zu einan anderen Zustand:

7 Insofern werden in der 'Diachronie' die Veränderungen synchroner Strukturen untersucht. Dadurch unterscheidet sich der strutturale Ansatz von der im 19. Jh. begründeten traditionellen Sprachwissenschaft, der Philologie, deren Untersuchungsinteresse sich hauptsächlich auf die Untersuchung einzelner sprachlicher Erscheinungen und ihrer historischen Veränderungen beschränkte. Die für den Strukturalismus wesentliche dichotcmische Unterscheidung in langue (Sprache, Sprachsystem) und parole (Sprechen), wiederaufgenomnen im generativ·transformationeilen Konzept von Kompetenz und Performanz, ermöglichte eine weitere Festlegung: Sprachliche Veränderungen sind Veränderungen im Bereich der langue bzw. der Kompetenz. Eben deshalb ist die Untersuchung sprachlicher Veränderungen für die Sprachtheorie von Belang: "Die Tatsache, daß Grammatiken keine Modelle der Performanz sind, bedeutet wahrscheinlich, daß die Antwort auf die Frage, ob sie korrekte Modelle der Kompetenz sind, so lange nicht durch zur Zeit vorliegende Experimentiermethoden erlangt werden kann, ehe nicht der Beitrag der Kompetenz von den Tatsachen über die Performanz geschieden werden kann. Was wir eigentlich benötigen ist ein Fenster zur Form der linguistischen Kompetenz, das von Performanzfaktoren, über die wir kaum etwas wissen, nicht beschlagen ist. Im sprachlichen Wandel haben wir genau so ein Fenster.

Mit dieser Aussage wird natürlich nicht behauptet, daß sich sprachliche Veränderungen ohne den Einfluß von Performanzfaktoren, ohne die Sprachverwendung konkreter Sprecher-Hörer vollziehe. Es wird behauptet, daß sich im Sprachwandel Prinzipien des Auf- und Umbaus menschlicher Sprachkcmpetenz spiegeln. Dabei scheint allerdings doch die zentrale Frage zu sein, wie sich der Übergang von Veränderungen auf der Ebene des Sprechens, der Sprachverwendung, der Performanz zur Ebene der Sprache, des Sprachsystens, der Kompetenz darstellt. Greifen wir dazu roch einmal auf das Beispiel von den Genitiv-Konstruktionen zurück. Richtig ist sicherlich, daß heute in gesprochener Sprache der Genitiv selten gebraucht wird. Statt dessen werden andere syntaktische Konstruktionen verwendet (Ebene der parole). Richtig ist sicherlich auch, daß die deutsche Sprache der Gegenwart die JVBglichkeit für Genitiv-Konstruktionen bietet: der Genitiv gehört zu den geltenden Normen des heutigen Deutsch, gleichgültig, ob er in aktueller Rede angewendet wird oder nicht. Eine grundlegende Änderung des Sprachsystems würde sich erst dann vollziehen, wenn der Genitiv von den Sprechern des Deutschen als Akweichung von der Norm betrachtet würde. Denn dann bestünde das grammatische Teilsystem der Kasus des Deutschen (tfcminativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ) nur noch aus drei Kasus. Wenn die Kasus eines sprachlichen Systems dadurch definiert sind, daß sie strukturell in Opposition zueinander stehen (vgl. 1.1.3), 2

Paul Kiparsky (dt. 1974): Linguistische Universalien und Sprachwandel, Dinser (Hrsg.), 215-264, 220.

in:

8 würde sich das System der Oppositionen auf der Ebene der langue grundlegend ändern. Es erscheint deshalb für die Untersuchung von Sprachveränderungsprozessen sinnvoll, zwischen langue und parole eine Ebene der Norm (Eugenio Coseriu) anzusetzen. 1.1.3 Das Phonemsystem der deutschen Sprache der Gegenwart Da in den folgenden Kapiteln häufig die Rede von sprachlichen Veränderungen im Bereich der Laute und Formen sein wird, sollen hier die wichtigsten Grundbegriffe der strukturalen Sprachwissenschaft noch einmal ganz knapp eingeführt werden und das Phonemsystem der deutschen Sprache der Gegenwart als Arbeitsunterlage bereitgestellt werden.3 Die kleinsten segmentierbaren Einheiten, aus denen sprachliche Zeichen bestehen, heißen Phoneme ; in Minimalpaaren wirken sie bedeutungsunterscheidend, z.B. /na:se/ vs. /Trasse/. Die unbegrenzte Menge der in einer Sprache möglichen und zulässigen Realisationen eines Phonems stellen die Phone dar. So ist es (im Deutschen) phonemisah belanglos, ob man das Phonem /r/ phonetisch mit der Zungenspitze ('gerolltes1 [r]) oder im Rachenraum bildet. Als kleinste bedeutungstragende Einheit ist das Morphem definiert. Man unterscheidet lexikalische und grammatisahe Morpheme. Das sprachliche Zeichen /kinder/ z.B. besteht aus dan lexikalischen Morphem oder Grundmorphem /kind/ und dem grarmatischen Element /er/, das den Plural anzeigt. Da es im Deutschen eine ganze Reihe von Möglichkeiten gibt, die Bedeutung 'Plural' anzuzeigen (z.B. /e/, /en/, /s/, /Umlaut/) , stellt /er/ kein eigenes Morphea dar, sondern eines der Allomorphe des Plural-Morphems. Grairmatische Morpheme, die gratinati sehe Flexionen bezeichnen, heißen auch Flexeme, für ihre Alloflexe verwenden wir die Bezeichnung Flexiv. 'Kleinste Einheiten' auf den verschiedenen Ebenen der Granmatik werden durch zuerst versuchsweises, dann kontrolliertes Herauslösen einzelner Elanente aus dam sprachlichen Köntinuum herausgefunden (Segmentieren). Indem die so gefundenen Einheiten zu anderen in eine systemtatische Beziehung gesetzt werden, werden sie klassifiziert. Ein sprachliches Element ist dann durch seine Stelle im System bestimnt, durch seine unterscheidenden Gegensätze (Oppositionen) zu anderen sprachlichen Elementen. So kaimt man im Bereich der Phoneme zu distinktiven Merkmalen. Nehmen wir drei Minimalpaare wie: (1) /gus/ vs. /kus/ (2) /gus/ vs. /bus/ (3) /ba:se/ vs. /va:se/. 3

Für Weiteres verweisen wir auf die gängigen Einführungen (siehe Literaturverzeichnis) ; ggf. kann auch ein linguistisches Wörterbuch benutzt werden, z.B.: Theodor Lewandowski (1973/4): Linguistisches Wörterbuch. 3 Bde. (= UTB 200/1, 300), Heidelberg.

9 /g/ unterscheidet sich von /k/ (1) nur dadurch, daß es stimmhaft gesprochen wird, während /k/ stimmlos ist. Gegenüber /b/ (2) unterscheidet sich /g/ dadurch, daß es im hinteren Gaumenraum gebildet wird (velar oder guttural), während /b/ mit den Lippen (labial) gebildet wird. Gegenüber /v/ (3) schließlich unterscheidet sich /b/ dadurch, daß es mit einem kleinen Knall (explosiv) erzeugt wird, während bei /v/ der Luftstran kontinuierlich zwischen Lippen und Zähnen durchsträrrt (frikativ). /b/ ist demnach als Phonem dadurch definiert und von allen anderen Konsonanten unterschieden, daß es die distinktiven Merkmale 'explosiv', 'labial' und 'stimmhaft' aufweist. Wenn man nach diesem Verfahren alle Phoneme des heutigen Deutsch untersucht und nach Artikulationsort und -weise klassifiziert, kennt man (annähernd) zu folgenden Vokal- und Konsonantensystemen: Vokale4 Variabilität Quantität Zungenhöhe

kurz

Zungenstellung vorn Mitte Rundung unge- gerundet rundet

hoch

i

$

konstant

ü

e

u

3

ö

tief

o

a

hoch

lang

hinten

X

i:

Ü:

e:

5:

tief

ä:

a:

ai

oi

variabel

u: o:

au

Konsonanter¡5 ArtikulationsArtikula^^—^^ ort tionsart

labial

alveolar (dental)

Explosive (Verschlußlaute

stl. sth.

Ρ b

t d

Spiranten, Frikative (Reibelaute)

stl. sth.

f V

s ζ

Affrikaten Nasale Liquide

4 5

velar (guttural)

k g ν S

X

(h)

:P (= [pf]) c (= [ts]) C (= [ti ] ) η

m r

vibrierend stl. = stimmlos

palatal

ri 1 lateral

sth. = stimmhaft

Nach Wolfgang Herrlitz (1970): Historische Phonologie des Deutschen (= GA 3), In Anlehnung an Otmar Werner ( 2 1973), 74. /Tübingen, 105.

10 Übung (2) Arbeiten Sie zur Wiederholung bzw. Vertiefung die zu 1.1.3 gehörigen einschlägigen Abschnitte in einem linguistischen Einführungsbuch durch, z.B. Tübinger Autorengruppe ( 2 1971), Bünting (1971), Werner ( 2 1973) (siehe Literaturhinweise am Ende des Kapitels).

1.2

Sprachveränderung und Sprachvariation

1.2.1

Homogenität und Variation

Wenn die 'Sprache' ein synchron funktionierendes 'System' darstellt, wie der letzte Abschnitt nahelegt: Warum k a m t es dann überhaupt zu sprachlichen Veränderungen? Daß man sich zu einer solchen Fragestellung genötigt sieht, zeigt zunächst einmal, daß mit der Darstellung solcher Systeme eine bestinmte Gefahr verbunden ist; die Gefahr nämlich, daß 'Sprache' abstrahiert wird, losgelöst von den konkreten Bedingungen menschlicher Sprechtätigkeit. Diese Bedingungen gilt es ansatzweise zu untersuchen, ehe man zu einer zureichenden Beschreibung von Sprachveränderungsprozessen gelangen kann. Denn daß es Sprachveränderungen gibt, ist jedermann aufgrund seines Alltagswissens unmittelbar einsichtig oder einsichtig zu machen. Die Problematik einer methodologisch begründeten abstrahierenden Idealisierung wird besonders deutlich in Noam Chcmskys bekannter Definition des idealen Sprecher-Hörers : "Der Gegenstand einer linguistischen Theorie ist in erster Linie ein idealer Sprecher-Hörer, der in einer völlig homogenen Sprachgemeinschaft lebt, seine Sprache ausgezeichnet kennt und bei der Anwendung seiner Sprachkenntnis in der aktuellen Rede von solchen grammatisch irrelevanten Bedingungen wie - begrenztes Gedächtnis - Zerstreutheit und Verwirrung - Verschiebung in der Aufmerksamkeit und im Interesse - Fehler (zufällige oder typische) nicht affiziert wird."®

Bei einem solchen Sprecher-Hörer kann es keine sprachlichen Veränderungen geben: er ist prinzipiell a-historisch definiert. In Wirklichkeit lebt kein Sprecher "in einer völlig haiogenen Sprachgemeinschaft". Bereits die vorbereitenden Überlegungen in Übung (1) zeigten, daß es in einer Sprachgemeinschaft sehr spezififische Differenzierungen gibt. Eine mögliche Lösung des Problems besteht darin, daß man eine 'niedrigere Idealisierungsstufe' annimmt (Siegfried Kanngießer), d.h. daß man Sprechergruppen innerhalb einer Sprachgemeinschaft herausfindet, deren Gruppensprache als in sich hcirogen angenenmen wird, deren Sprache sich aber gegenüber anderen Sprechergruppen unterscheidet. 6

Chomsky

(dt. 1969) (s. Anm. 1), 13.

11 Wir wollen uns in den folgenden Abschnitten mit den beiden wichtigsten Gesichtspunkten befassen, aufgrund derer Sprechergruppen festzustellen und voneinander abzugrenzen sind: der sozialen Differenzierung und der geographischen Differenzierung. Mit dem (angedeuteten) Verfahren der 'Ent-Idealisierung' wird die ffcmogenitäts-Annahms für den 'idealen Sprecher-Hörer' hinfällig. Es bleibt aber auch danach noch die grundsätzliche Schwierigkeit, daß die Sprecher-Hörer als monologische Sprecher definiert sind, d.h. daß ihre Spracherzeugung als unabhängig von möglichen Hörern begriffen wird. Dabei bleibt der Gesichtspunkt der Intentionalität menschlichen Sprechens außer Betracht, d.h. die Tatsache, daß Sprecher und Hörer die Erwartungen und die Perspektive des jeweils anderen in ihran Sprechen berücksichtigen (dialogisches Modell). Was eine konkrete sprachliche Äußerung 'bedeutet', wird hier erst durch wechselseitige Verstehensprozesse hergestellt. 'Sprechen' ist damit nicht das durch Performanzfaktoren verzerrte Abbild der ' Sprache ', sondern ein dynamischer Prozeß ständiger Neuerschaffung von Sprachlichem. Die Veränderbarkeit von 'Sprache' ist sortit kein Problem des Übergangs von einem statischen Zustand zu einem anderen, sondern liegt in der ständigen Neuerschaffung der 'Sprache' in menschlicher Sprechtätigkeit begründet. Andererseits aber gilt: Verständigung unter Sprechern einer Sprache ist nur deshalb möglich, weil sprachliche Zeichen in Ausdruck und Inhalt ebenso wie Verbindungsregeln für sprachliche Zeichen konventionell gelten, d.h. in sozialen Handlungen regelhaft verwendet werden müssen. Intersubjektiv gelingende Verständigung schließt private Regeln aus, es gibt keine "Privatsprache" (Ludwig Wittgenstein) . In konkreten Verständigungssituationen sind jedoch mehr oder weniger geringfügige Abweichungen von den geltenden sprachlichen Konventionen möglich, solange dadurch der Verständigungsprozeß nicht ernsthaft beeinträchtigt wird. Es ist noch eine offene Frage, wieweit die Toleranz gegenüber konventionell abweichendem Handeln geht,7

d.h. ab wann Abweichungen von Konventionen von Seiten

der Hörer mit Sanktionen belegt werden. Konventionen gelten, weil sie von den Sprechern einer Sprache im Verlaufe ihres Spracherwerbs verinner licht, worden sind. In ihnen spiegeln sich aber auch die historischen Erfahrungen einer Gesellschaft; sie enthalten Interpretationsregeln, mithilfe derer eine Sprachgemeinschaft Wahrnehmungen und Erfahrungen interpretiert. 7 8

g

Vgl. Dieter Wunderlich (1974): Grundlagen der Linguistik (= ro ro ro Studium 17), Reinbek b. Hamburg, 18-25. Weiterführend: Peter Berger/Thomas Luckmann 1972): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt. - Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg. 1973) : Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. 2 Bde. (= ro ro ro Studium 54/5), Reinbek b. Hamburg.

12 Als eine Konsequenz dieses Ansatzes ergibt sich für die durch soziale und geographische Differenzierung angencnmenen Sprechergruppen, daß für die Mitglieder einer Gruppe im wesentlichen die gleichen sprachlichen Konventionen gelten und daß gegenüber anderen Gruppen teilweise andere Konventionen gelten (Problem der Konventionstoleranz). Trotzdem ist gewöhnlich eine Verständigung zwischen Sprechern verschiedener Gruppen möglich, zunächst weil alle Sprecher über eine wenn auch verschieden ausgeprägte - Kompetenz für die deutsche Standardsprache (oder: Einheitssprache) der Gegenwart verfügen. 1.2.2

Soziale Variation

Die sozialen Gruppen in einer Gesellschaft werden soziologisch in der Regel nach sozioökonomisehen Kriterien wie Beruf, Schulabschluß, Einkcrtmen, Kinderzahl usw. definiert. So kommt man zu 'Gruppen' oder 'Schichten' oder 'Klassen' wie: Ober-, Mittel-, Unterschicht. Die zentrale Hypothese der Soziolinguistik, daß es Entsprechungen (Korrelationen) zwischen Sprache und sprachlichem Handeln einerseits und sozialer Gruppenzugehörigkeit andererseits gebe, führt zur Annahme von Kodes oder Soziolekten, vrobei für unseren Zusanmenhang dahingestellt bleiben mag, inwieweit Soziolékte Korrpetenz- oder Performanzunterschiede widerspiegeln und inwieweit hier möglicherweise wiederum zu sehr idealisiert wird. Für das Verständnis von Sprachveränderungsprozessen sind dabei zwei Aspekte von besonderem Belang: - An Elemente der Gruppensprache sind soziale Werte gebunden. - Sprachveränderungen gehen teilweise auf Prestigenormen zurück. Beides läßt sich an Beispielen aus den bahnbrechenden Untersuchungen von William Labov aufzeigen. (1) Die Verwendung mancher sprachlicher Formen und Sprechhandlungsstrategien wird von den Gruppenmitgliedern als gruppenspezifisch atpfunden und dient deshalb der Erhaltung der Gruppensolidarität: Ihre Verwendung ist mit sozialen Werten verbunden. W.Labov hat einen phonetischen Wandel auf Marthas Vineyard, einer Insel an der amerikanischen Ostküste, untersucht: Die Verengung ('Zentralisierung') der Diphthonge [ao] zu [au] in Wörtern wie house, about, now usw. und [ai] zu [al]. Bei einer früheren Untersuchung im Jahre 1933 fanden sich nur ganz geringe Spuren einer Zentralisierung. 1961, als Labov seine Untersuchung durchführte, zeigte sich, daß die älteren Einwohner nur selten die Diphthonge zentriert aussprachen, während die jüngeren eindeutig die zentrierte Aussprache bevorzugten. Es zeigte sich, daß die soziale Gruppe, die den Wandel trug, die Nachkommen der ursprünglichen Siedler waren, meist Fischer und Zimmerleute. Bei der Bewertung des Wandels kommt Labov zu dem Ergebnis: "Es wurde geschlossen, daß ein sozialer Wert mehr oder weniger willkürlich mit der Zentralisierung von (ay) und (aw) assoziiert worden war: In dem Maße, in dem ein Individuum den Status eines eingeborenen Vineyarders beanspruchen und

13 aufrechtzuerhalten glauben konnte, nahm es zunehmend zentralisierte Formen von ( ay) und (aw) an. Söhne, die versucht hatten, ihren Lebensunterhalt auf dem Festland zu verdienen und die später wieder auf die Insel zurückgekehrt waren, entwickelten sogar noch ein höheres Maß an Zentralisierung als ihre Väter. Aber wenn ein Vineyarder seinen Anspruch aufgab, auf der Insel zu leben und dort seinen Lebensunterhalt zu verdienen, dann gab er auch die Zentralisierung auf und kehrte zu den nicht zentralisierten Standardformen zurück."9 (2) Die Untersuchung dieser Sprachveränderung macht deutlich, daß sich ein Sprecher gewissermaßen dadurch auszeichnet und von Nicht-Gruppenmitgliedern abgrenzt, daß er die zentralisierten Diphthonge verwendet. Insofern hängen diese Formen mit dem Iirage und dam Prestige des Sprechers zusammen. Insgesamt kennen aber auch den Soziolekten selbst Prestigewerte zu: So werden etwa die Soziolekte der Mittel· und Oberschicht in der Regel höher bewertet als die Soziolekte der unteren sozialen Gruppen; gesellschaftlich abgesichert durch normativ arbeitende Institutionen wie den DUDEN, institutionell vermittelt durch Schule und Massenmedien. Diese Tatsache hat u.a. zur Folge, daß soziale Aufsteiger aus niedriger eingeschätzten sozialen Gruppen ihre sprachlichen Konventionen aufgeben und sich die Prestigeformen ihrer neuen Gruppe anzueignen bemüht sind (vgl. 5.6). Einen solchen Fall hat Labov an der Aussprache des /r/ in New York City untersucht. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die /r/-Aussprache des Standard-Amerikanischen in New York City von den Sprechern der gehobenen Mittelschicht übernommen und dort damit zur Prestigenorm. Beim Sprechen in verschiedenen Sprechsituationen zeigte sich, daß bei formalem Sprechen (Lesen, Lesen von Wortlisten) die untere Mittelschicht das /r/ statistisch signifikant überkorrekter ('hyperkorrekter') aussprach als die anderen sozialen Gruppen. Darin zeigt sich das Bestreben dieser sozialen Gruppe, sich die Normen der Prestigesprache anzueignen; Ausdruck eines sozialen Aufwärtsstrebens dieser Gruppe. Übung (3) Versuchen Sie, aus Ihrer Kenntnis von Gruppensprachen (auch regional begrenzt) Beispiele für soziale Variation im heutigen Deutsch zu finden und entsprechend den skizzierten Gesichtspunkten zu analysieren! 1.2.3

Dialektale Variation

Zweifellos sprechen ein Hamburger Hafenarbeiter und ein niederbayerischer Landwirt 'deutsch', auch wenn sie sich mit Sicherheit nicht verstehen würden, wenn jeder seine Mundart spricht. Die Mundarten oder Dialekte sind landschaftlich

(an Siedlungsräume) gebunden.

Auch hier stellt sich die Frage nach dem Idealisierungsniveau: Zumindest jede Siedlung, jedes Dorf unterscheidet sich in seinem Dialekt vcm Nachbardorf, wie

9

Labov ( d t . 1 9 7 4 ) ,

157.

geringfügig auch inner. Obwohl also die Dialektgrenzen 'fließend' sind, lassen sich Grenzen ausmachen, in denen (1) zahlreiche und (2) besonders auffällige Veränderungen feststellbar sind. Aufgrund dieser aipirischen Tatsache legt man Dialektgeb-Lete fest. Sie werden herkönmlich durch Lautgrenzen definiert, weil phonetische Merlatale die einzelnen Dialekte am eindeutigsten unterscheiden. Es folgt eine Karte der deutschen Dialekte der Gegenwart10, auf die wir in den folgenden Kapiteln häufiger zurückkamen.

10 Aus Ammoη (1973), 31.

15 Übung

(4)

- S t e l l e n Sie anhand der klein gedruckten Worteinträge fest, nach welchen phonetischen Erscheinungen die Grenzen der Dialektgebiete gezogen sind! - Welche Idealisierungsstufen werden durch die verschieden dick eingezeichneten Linien angedeutet? - Welchem Dialektgebiet gehört Ihr Heimatdialekt an? Stellen Sie aus Ihrer Dialektkenntnis weitere Dialektunterschiede zu den an Ihren Heimatdialekt angrenzenden Dialektgebieten fest! - Nach welchen Gesichtspunkten sind die Namen für die einzelnen Dialektgebiete im großen und ganzen gebildet? Auch die dialektale Variation unterliegt sprachlichen Veränderungen. In mittelhessischen Gebieten z.B., in denen noch vor wenigen Jahrzehnten die Bezeichnung Sonnabend Samstag.

üblich war, heißt es heute, wie im gesamten süddeutschen Sprachraum Beim Ausbreiten neuer Formen ist es oft so, d a ß sie zuerst von größeren

Städten aufgenommen werden und dann von da aus auf die ländliche Umgebung ausstrahlen. Wie diese Ausgleichsprozesse funktionieren und wie sie mit sozialer Variation zusammenhängen, sei an einem kleinen Beispiel erläutert: In Erp, einem 40 km südwestlich von Köln gelegenen Dorf, heißt die Dialektform von (ich) habe (isch) han. Eine Pilot-Studie von Klaus Mattheier zeigte, daß es neben Dialektsprechern und - in diesem Punkt - Einheitssprachesprechern eine dritte Sprechergruppe gibt, die Dialekt bzw. Standardspracheform je nach Sprechsituation verwendet, d.h. umschaltet: die 'Switcher 1 . Setzt man diese Sprechergruppen zu ihrer Berufsgruppenzugehörigkeit in Beziehung, insbesondere ob sie berufsbedingt nach größeren Orten pendeln, so ergibt sich derzeit folgendes Bild: Nichtpendler Landwirtsch. Handel Gewerbe Dialektsprecher EinheitsspracheSprecher

27,3 O

Pendler IndustrieAngestellte arbeiter Beamte

9,0

36,4

27,3

11,1

44,4

44,4

Switcher

22,2

27,8

27,8

22,2

Pilotgruppe insges.

18,4

18,4

34,2

28,9

Die Tabelle wird so interpretiert: "In einer Ortsgesellschaft, wie der untersuchten, wird der sprachliche Wandlungsprozeß normalerweise durch pendelnde Ortsbewohner eingeleitet, die in den Verwaltungen der umliegenden Urbanen Zentren beschäftigt sind. [...] Die Gruppe der pendelnden Angestellten hat in Erp die Phase des 'Switchens' schon hinter sich und spricht normalerweise in allen Situationen Einheitssprache. Die zweite Gruppe, die in diesen Prozeß eintritt, ist die der mobileren bzw. qualifizierteren Industriearbeiter. Auch diese sind in Erp schon einheitssprachlich orientiert. Unser Untersuchungsort befindet sich offensichtlich zur Zeit in einer Phase, in der zum ersten Male auch Ortsansässige sich in ihrem Sprachgebrauch der jeweiligen Situation anpassen. Hier leiten diejenigen Kreise, die in Handel und Gewerbe beschäftigt sind, den Prozeß ein. Auf die bäuerliche Bevölkerung beginnt diese Entwicklung erst allmählich Einfluß zu gewinnen, wobei die Jüngeren vorangehen."11 11

Klaus Mattheier (1975): Diglossie und Sprachwandel, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 39, 358-371, 369ff.

16 Übung (4a) Versuchen Sie aufgrund der Beispiele in 1.2.2 und 1.2.3 den (möglichen) Zusammenhang zwischen soziolektaler und dialektaler Variation zu formulieren! 1.2.4

Situative Variation

Die Switcher-Gruppe in der Erp-Studie war dadurch definiert, daß sie in der Sprechsituation "freies Gespräch unter Freunden" vorwiegend die Dialektform verwendete, während sie in der Sprechsituation "Interviewgespräch mit Fremden" die standardsprachliche Form bevorzugte. Sprecher vermögen also (in aller Regel) ihr Sprechen aufgrund der situationalen und situativen Bedingungen zu variieren: Sie verfügen über eine Sprechvariantenkompetenz. Im variierenden Sprechen in verschiedenen konkreten Sprechsituationen spiegeln sich sehr deutlich die Bewertungen und Einschätzungen von Soziolekten und Dialekten, spiegelt sich sehr deutlich die Fähigkeit, die Erwartungen und die Perspektive des Anderen im Interaktionsprozeß zu berücksichtigen. Insofern die Sprechvariantenkanpetenz allen konpetenten Sprechern einer Sprache zukamt, ist sie eine Bedingung für soziolektale und dialektale Variation. Sprachveränderungen vermögen sich dann im Sprechen eines Individuums zu vollziehen, indem z.B. etwas, was anfänglich Variante für bestirrmte Sprechsituationen ist, im Laufe der Zeit in allen Sprechsituationen verwendet wird. Das in der folgenden Übung wiedergegebene Beispiel zeigt vor allem, daß diese Variantenkcrnpetenz auf allen Ebenen sprachlichen Handelns funktioniert. Übung (5) Eine Sprecherin aus Salzböden (Kr. Gießen) gab in einem Interview wieder, was sie sagen würde, wenn jemand ihre Hofeinfahrt durch ein parkendes Auto versperrte A: Zu einem Einheimischen: "Ach, Ludwich . ich tat gern aus-em hop rausfoarn! . sei doch so gout, un foar dei auto emo fort!" Β: Zu einem Fremden: "Sein-Se doch so nett, un fahrn-Se Ihr auto ma-η bißchen weg! . ich möcht gern aus-em hof rausfahrn!" C: Zu einem Einheimischen nach mehrmaligem Vorkommen: "Also wäßte, langsam stinkt mer-sch! . jeden tach firschte dei auto do hi:! ich kann nie rausfoarn . mensch, foar dein karre woannerscht hi:!" D: Zu einem Fremden nach mehrmaligem Vorkommen: "Wisse-Se, das wird mir langsam e bißche zu viel, wenn-Se Ihr auto da jeden tach hinstelle! . ich kann nie rausfahrn, fahrn-Se-s gefällichst woannerst hin ! " - Untersuchen Sie die Äußerungen daraufhin, welche Sprechvarianten die Sprecherin verwendet. Analysieren Sie die situative Variation unter dem Gesichtspunkt soziolektaler und dialektaler Variation! (Die Sprecherin gehört zur sozialen Gruppe der unteren Mittelschicht.) 12

Wir danken Fritz Vahle(Saarbrücken)für die freundliche Überlassung des Textes.

17 1.3

Sprachgeschichte und Sprachvariation

Aus der knappen Darstellung soziolektaler und dialektaler Variation ergibt sich die Frage, ob es einen systematischen Zusanmenhang zwischen diesen beiden Differenzierungskriterien gibt. So könnte man vermuten, daß - stark vereinfacht - die Sprache der Mittelschicht identisch ist mit der Standardsprache, die Sprache der Unterschicht identisch mit Dialekten. Qnpirische Untersuchungen, zuletzt die von Ulrich Aimon (1972f.), bestätigen in der Tat einen solchen Zusanmenhang. Nur kann man gerade wegen der dialektalen Differenzierung des deutschen Sprachgebietes keine generelle Hypothese aufstellen. Es gibt Gebiete, in denen auch die Sprache der unteren sozialen Gruppen der Standardsprache zumindest stark angenähert ist, z.B. im Ruhrgebiet. Es gibt umgekehrt Gebiete, in denen auch die Sprache der Mittelschicht stark dialektal geprägt ist, z.B. in südwestdeutschen Sprachgebieten ("Honoratioren-Schwäbisch"). Warum dies so ist, läßt sich nur historisch aus der sozialen Entwicklung in diesen Gebieten begreifen, z.B. durch die im 18. Jh. einsetzende Industrialisierung des Ruhrgebietes und dem damit verbundenen Bevölkerungszustrcm aus vielen Teilen des Reichsgebietes. Ninrrrt man also die Standard- oder Einheitssprache als Zielsprache innerhalb der soziolektalen Differenzierung, weil sie mit den höchsten Prestigewerten verbunden ist, so ist die Variationsbreite auf der Skala Standardsprache-Dialekt landschaftlich sehr unterschiedlich. Die einzelnen Dialekte des deutschen Sprachgebietes stehen in einer unter schiedlich engen Beziehung zur Einheitssprache: Die niederdeutschen Mundarten sind weiter von der Standardsprache entfernt als z.B. mitteldeutsche Mundarten. Auch diese Differenzierungen können nur von der historischen Entwicklung der deutschen Sprache her verstanden werden. Zusanmengenaimen bedeutet dies, daß die Untersuchung der Geschichte der deutschen Sprache dazu beiträgt, die Variationen im gegenwärtigen Deutsch als historisch geworden zu verstehen. Zugleich gibt uns das Konzept der 'Sprachvariatian' Beschreibungsiöglichkeiten für sprachhistorische Prozesse an die Hand. Die empirische Beobachtung von Sprachveränderungen auf der Basis der Sprachvariation erlaubt u.U. eine hinreichende Rekonstruktion historischer Sprachveränderungen auch damn, wenn wir sie vregen des zeitlichen Abstands nicht direkt beobachten können und auch wenn ihre Widerspiegelung in schriftlichen Zeugnissen sich wegen der Quellenüberlieferung nur verdunkelt darstellt. Andererseits nuß einschränkend darauf hingewiesen werden, daß die Sprachvariation kein Erklärungsparadigma für die Ursachen von Sprachveränderungen sein kann. Denn in allen Fällen, die wir in den vorangegangenen Abschnitten vorgestellt ha-

18

ben, varen die neuen und die alten Formen ja bereits vorhanden. Aufgezeigt werden können also nur Verschiebungen und Veränderungen im Geltungsbereich der betreffenden Formen in den verschiedenen Variationsdimensionen. Itttnerhin werden dadurch jedoch (im Laufe der Zeit) erhebliche Veränderungen in den Soziolekten und den Dialekten bewirkt, im besonderen auch in der Standardsprache. Für das allmähliche Festwerden von Sprachveränderungen kennt wohl vor allem der situativen Variation eine besondere Bedeutung zu. Sprachveränderung, auch in der geschichtlichen Entwicklung, auf der Basis der Sprachvariation, ist zunächst, so können wir vermuten, eine Veränderung im Spraohgebrauch, bedingt durch die allgemeinen Regeln sozialer Interaktion und gesellschaftlichen Verkehrs. Ein Umriß, wie die heutige soziolektale und dialektale Variation sich historisch entwickelt hat und wie diese Entwicklung beschrieben werden kann, soll in Kapitel 3 gegeben werden. Dazu bedarf es aber zunächst einer Einführung, wie man sich in ältere Sprachzustände des Deutschen einarbeiten kann (Kap. 2). Literaturhinweise Zu 1.1.1: Die die deutsche Sprache des 20. Jh. betreffenden Abschnitte in den Sprachgeschichten, die im Literaturverzeichnis genannt werden.

Zu 1.1.2: Coseriu

(dt. 1974), de Saussure (dt. 1967).

Zu 1.1.3: Einführungen in strukturale, z.T. auch generative Begriffe und Verfahren geben z.B. : Manfred Bierwisch (1966): Strukturalismus. Geschichte, Probleme und Methoden, in: Kursbuch 5, 77-152. Karl-Dieter Bünting (1971 u.ö.): Einführung in die Linguistik, Frankfurt. Hans Glinz (1970 u.ö.): Linguistische Grundbegriffe und Methodenüberblick, Bad Homburg. Tübinger Autorengruppe (21971) : Linguistik I (= GA 5), Tübingen. André Martinet (dt. 1963) : Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft (= Urban Bücher 69), Stuttgart. Otmar Werner ( 2 1973): Einführung in die strukturelle Beschreibung des Deutschen (= GA 1), Tübingen.

Zu 1.2.1: Siegfried Kanngießer (1972): Aspekte der synchronen und diachronen Linguistik, Wolfgang Klein (1974): Variation in der Sprache, Kronberg. /Tübingen. Jürgen Habermas (21971): Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt.

Zu 1.2.2 - 1.2.4: Ulrich Ammon (^1973): Dialekt, soziale Ungleichheit und Schule, Weinheim. Ulrich Ammon (1973): Dialekt und Einheitssprache in ihrer sozialen Verflechtung, Weinheim. Ulrich Ammon (1973): Probleme der Soziolinguistik (= GA 15), Tübingen. Norbert Dittmar (1973): Soziolinguistik, Frankfurt.

19 William Labov (dt. 1971): Das Studium der Sprache im sozialen Kontext, in: Wolfgang Klein/Dieter Wunderlich (Hrsg.): Aspekte der Soziolinguistik, Frankfurt, 111-194. ders. (dt. 1974): Über den Mechanismus des Sprachwandels, in: Dinser (Hrsg.), 145-177; auch in: Cherubim (Hrsg. 1975), 305-334. Heinrich Löffler (1974): Probleme der Dialektologie. Eine Einführung, Darmstadt . Gotthard Lerchner (1974): Zu gesellschaftstheoretischen Implikationen der Sprachgeschichtsforschung, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Halle) 94, 141-156.

2

SPRACHLICHES VERSTEHEN MITTELHOCHDEUTSCHER SCHWIERIGKEITEN UND MÖGLICHKEITEN

2.1

IHRER

TEXTE:

ÜBERWINDUNG

Ein Textauszug aus dem ARMEN HEINRICH

Un uns die Schwierigkeiten beim sprachlichen Verstehen mhd. Texte zu veranschaulichen und Möglichkeiten ihrer Überwindung bewußt zu machen, geben wir zunächst einen kleinen Textausschnitt aus dem AHMEN HEINRICH Hartmanns von Aue, der verhältnismäßig leicht zu verstehen ist: 1 "an hern Heinrich wart wol schin: der in dem hoehsten werde lebet ûf dirre erde, derst der versmähte vor gote. 5 er viel von sinem geböte ab sîner besten werdekeit in ein smaehelichez leit: in ergreif diu miselsuht. dò man die swaeren gotes zuht 10 gesach an sinem Übe, manne unde wibe wart er dó widerzaeme. nú sehet, wie genaeme er ê der Werlte waere, 15 und wart nû als unmaere, daz in niemen gerne ane sach: als ouch Jôbe geschach, dem edeln und dem riehen, der ouch vil jaemerllchen 20 dem miste wart ze teile^ mitten in sineip heile. " Übung (6) (a) Versuchen Sie, den Text mehrfach laut zu lesen! Über welche Ausspracheschwierigkeiten stolpern Sie? Klären Sie (im Seminar) Ausspracheeigentümlichkeiten des Mhd., besonders: - Länge und Kürze von Vokalen, - Aussprache der mit wiedergegebenen Laute, - Aussprache der mit und wiedergegebenen Laute, - Aussprache der Diphthonge. 1

Hartmann von Aue. DER ARME HEINRICH. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Hrsg. u. übers, v. Helmut de Boor (= Fischer Bücherei 6138), Frankfurt 1972, Z. 112-132. - Im Text sind und als Ligaturen gedruckt: und . Wir können das hier vernachlässigen.

21 (b) Versuchen Sie nun, den Inhalt des Textes so genau wie möglich wiederzugeben! Notieren Sie sich die Stellen, wo Sie meinen, den Sinn nicht herauszufinden, und stellen Sie fest, woran das jeweils liegen könnte: - ob Sie ein Wort nicht verstehen, weil Sie es mit keinem Ihnen bekannten Wort irgendwie verbinden können (z.B. miselsuht), - ob Sie nicht beurteilen können, inwieweit Sie das 'Richtige' getroffen haben, weil Sie eine Vermutung über einen möglichen Zusammenhang aufstellen mußten (z.B. sínem libe, manne unde wibe) , - ob etwas an der sprachlichen Form ist, womit Sie nicht zurecht kommen (z.B. gesach), - ob Sie eine ganze (sprachliche) Konstruktion, eine ganze Textpassage nicht verstehen, weil Sie daraus keinen sinnvollen Inhalt ableiten können. Eine eingehende Beschäftigung mit Übung (6) führt (vermutlich) zu dem Ergebnis, daß rran zwar einerseits eine ganze Menge von den sprachlichen Formen des Textes versteht oder jedenfalls zu verstehen glaubt, daß man aber andererseits an einer Reihe von Formen, Ausdrücken und Konstruktionen gänzlich scheitert. Wir stehen also vor einer ähnlichen Situation, wie wenn wir einen badischen Landnann in unverfälschtem alemannischen Dialekt sprechen hören, ohne selber Sprecher oder Kenner dieses Dialektes zu sein: Wir können uns zwar vieles zusaitmenreimen, wir können uns auch sprachlich mit ihm verständigen, indem wir versuchen, die 'Ausfälle' so gut es geht aus dam Zusammenhang zu rekonstruieren, über diese Fähigkeit zur Rekonstruktion verfügt jeder kompetente Sprecher des Deutschen. Wir wollen methodisch von der Fähigkeit zur Rekonstruktion ausgehen und in den folgenden Abschnitten plausibel machen, daß mit ihr als Grundlage unter Heranziehung von wissenschaftlichen Hilfsmitteln eine Fähigkeit zur kontrollierten Rekonstruktion mittelalterlicher Texte entwickelt werden kann. Die wichtigsten Hilfsmittel sind Wörterbücher und Grarrmatiken. 2.2

Die Arbeit mit dem Wörterbuch

Für den Anfang reicht der sog. "Kl. Lexer" aus: Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, Stuttgart, das aus dem großen dreibändigen "Mittelhochdeutschen Handwörterbuch" (1872-1878) ohne die Belegstellen zusammengestellt ist; dieser "Große Lexer" war seinerseits aufgrund des nach etymologischen Gesichtspunkten gliedernden mhd. Wörterbuchs von Benecke-Müller-Zarncke hergestellt worden. Für das Ahd. ist am besten benutzbar das "Althochdeutsche Wörterbuch" von Rudolf Schützeichel. Übung (7) Schlagen Sie im "Kl. Lexer" alle Wörter des Textes nach, die Sie nicht verstanden haben! Nehmen wir an, Sie schlagen u.a. folgende Wörter des Textes nach: sahîn (Ζ. 1), dirre (Ζ. 3), viel (Ζ. 5), miselsuht (Ζ. 8), riche {η) (Ζ. 18). Welche Möglichkeiten ergeben sich, von unserer Fähigkeit zur Rekonstruktion produktiv Gebrauch zu machen und sie auszuweiten?

22 (1) schin. Im "Kl. Lexer" finden sich u.a. folgende Einträge: schîn adj. hell, strahlend, leuchtend; sichtbar, augenscheinlich, offenbar (schin w., wesen sich zeigen, bekannt w., sch. machen, tuon zu erkennen geben, zeigen, beweisen). schin stm. strahl, glänz, helligkeit [. . . ] " Übung (8) Orientieren . Sie sich im Abkürzungsverzeichnis des "Kl. Lexer", was die Abkürzungen bei den Einträgen bedeuten!

Wir müssen also zuerst herausfinden, ob das Wort im Text als Mjektiv oder als Natten verwendet wird. Angencmrien, der Anfang der Z. 1 lasse sich ohne Schwierigkeiten als 'an (dem) Herrn Heinrich ward (= wurde) ' verstehen; darai entscheidet die Fähigkeit zur Rekonstruktion, daß aufgrund der Satzkonstruktion ein Adjektiv folgen muß. Von den Bedeutungsangaben sind nur die einigermaßen synonymen "sichtbar, augenscheinlich, offenbar" einzusetzen. Die in Klammern stehende Angabe macht darüber hinaus deutlich, daß schîn werden eine feste Verbindung mit der Bedeutung ist

1

sich zeigen, bekannt werden', wie sich auch heute ohne weiteres

aus der angegebenen Bedeutung des Adjektivs semantisch ableiten läßt. Für sehîn kann die Textbedeutung also durch ein ständiges Rückkoppeln zwischen (heutiger) Sprecherkcmpetenz und Lexikoneinträgen gefunden werden. (2) dirre. Fehlanzeige.

Hier hilft das Wörterbuch nicht weiter; wenn man es aufgrund des Zusammenhangs nicht vermutet, muß man lernen, daß dirre mhd. eine durchaus nicht seltene Nebenform des Demonstrativproncmens diser 'dieser, jener' ist. In solchen Fällen ist es mitunter hilfreich, im Wortregister einer mhd. Graitmatik nachzuschlagen: dirre ist z.B. im Register von Paul/MDser/Schröbler mit Hinweis auf einen Paragraphen verzeichnet. (3) viel. Fehlanzeige.

Zwar versagt auch hier das Wörterbuch; wir können jedoch unsere Sprecherkaipetenz mit Aussicht auf Erfolg einsetzen: Rekonstruieren wir naiv 'Er .. von seinem Gebot', dann ist zu erwarten, daß viel eine Verbform ist. Stören wir uns (versuchsweise) nicht an der -Schreibung (vgl. 2.4), dann werden wir viel mit nhd. fiel und damit mit fallen in Verbindung bringen, vallen ist nun aber im "Kl. Lexer" mit einer ganzen Reihe von Bedeutungsangaben registriert. (4) miselsuht.

"Kl. Lexer": stf. aussatz

Hier wird ein mhd. Lexem mit einem nhd. Lexen gleichgesetzt. Unsere Sprecherkcmpetenz hätte uns in diesem Fall wenig geholfen, es sei denn, daß der Bestandteil -suht mit nhd. Sucht in Verbindung gebracht worden wäre. Die Textbedeutung von

23 miselsuht

wird durch Nachschlagen im Wörterbach festgestellt. Das mhd. Wbrt ist

heute völlig untergegangen. Hinweis: Ein Blick in ein etymologisches Wörterbuch wie das von Friedrich Kluge/Walther Mitzka vermittelt weitere Informationen über Herkunft, 'ursprüngliche Bedeutung' und Bedeutungsentwicklung von Wörtern. Hier finden Sie unter dem Stichwort "Miselsucht", daß das mhd. Wort im 15. Jh. durch Aussatz verdrängt worden ist. (5) riche (η).

Aufgrund des Kontextes können wir feststellen, daß es sich bei rîahen um den Dativ eines Nörtens handeln muß, Teil der Apposition zu Jôbe ' Hiob/Job '. Zwar steht ein Eintrag *rtahe stm. im "Kl. Lexer" nicht verzeichnet, wohl aber eine Reihe anderer Formen dieses Lexems. Arbeitet man die angegebenen Bedeutungen durch, sieht man, daß das Adjektiv vtah stärker die Bedeutung 'mächtig, vornehm' hat als die nhd. Entsprechung reich (= 'reich an Kapital'), so daß hier die Übertragung mit 'dem Mächtigen, Vornehmen1 am Platze wäre (vgl. 5.5) . Im Falle rtche führt uns die Sprecherkcmpetenz also eher in die Irre: Wir sind auf die Angaben im Vförterbuch angewiesen, um die angemessene Übertragung zu finden. Die Korrektur nützt uns allerdings im konkreten Fall nichts: Aufgrund des referentiellen Zusammenhangs ist hier wohl tatsächlich 'der Reiche 1 gemeint. Hiob ist (in einer alttestamentarisch-agrarischen Gesellschaft) wirklich 'reich', weil er über viel Vieh, Grund und Boden verfügt. Diese Anmerkung soll darauf hinweisen, daß das 'Verstehen' mhd. Texte mittels Sprecherkompetenz und Wörterbuch überlagert ist von der jeweils kontextuell und referentiell bestimmten Verwendungsweise in konkreten Textstellen. Übung (9) Schlagen Sie man (Z. 11) im "Großen Lexer" nach und vergleichen Sie es mit den Einträgen im "Kl. Lexer". Ziehen Sie vergleichend den Artikel "Mann" in dem noch von den Brüdern Grimm begründeten "Deutschen Wörterbuch" heran! (Vgl. 5.3)

Zusanmenfasseñd kann man über das Verhältnis von Rekonstruktion mittels Sprecherkanpetenz und Rekonstruktion mittels Wörterbüchern festhalten: Ohne ungefähres Textvorverständnis aufgrund unserer Sprecherkompetenz ist die Benutzung von Vförterbüchern sehr erschwert. Als kompetente Sprecher des heutigen Deutsch können wir in der Regel zumindest die Wortklasse feststellen, zu der das fragliche Wbrt gehört. Hier machen wir von unserer grairmatischen Regelkcmpetenz Gebrauch, die oft auch Rekonstruktionen von Typ viel erlaubt (vgl. jedoch Kap. 4). Unser Vorverständnis der Semantik mhd. Lexeme wird kontrolliert durch die Angaben im Vförterbuch, bedarf aber der Einbeziehung des kontextuellen und referentiellen Zusammenhangs, in dem die Textstelle steht (Typ sohtn, rtch). Die Bedeutung zahlreicher mhd. Wörter kann nur mithilfe des Wörterbuchs festgestellt werden (Typ miselsuht).

24

Wissenschaftliches Arbeiten mit mhd. Texten heißt also nicht, daß man sich alles und jedes erst aus dem Wörterbuch zusammenklauben sollte, sondern daß man von seinen naiven Vorverständnis aufgrund der Fähigkeit zur Rekonstruktion so weit wie möglich Gebrauch macht und dann das Wörterbuch zur Kontrolle und Ergänzung heranzieht. Durch diese Wechselbeziehung wird die sprachliche Kompetenz des Benutzers erweitert, soweit er sich Eintragungen oder Teile davon 'merkt'. 2.3

Die Arbeit mit historischen Grairmatiken (am Beispiel des Umlauts)

Das für die Arbeit mit dem Wörterbuch Gesagte gilt im Prinzip auch für den Umgang mit historischen Grammatiken. Es gibt eine ganze Reihe mhd. und ahd. Grammatiken, die sich hauptsächlich durch die Menge der dargebotenen sprachhistorischen Fakten voneinander unterscheiden. Wir arbeiten hier und in den folgenden Kapiteln mit der "Mittelhochdeutschen Grammatik" von Hermann Paul/Hugo Moser/Ingeborg Schröbler ( 2 1 1975) (abgekürzt zitiert als "Paul/Moser/Schröbler") und der "Althochdeutschen Grammatik" von Wilhelm Braune/Hans Eggers (131975) (abgekürzt zitiert als "Braune/Eggers"); denn wir halten es für notwendig, in den Umgang mit Grammatiken einzuführen, die mehr als Kompendienwissen anbieten.

Um Gebrauch und Revision unserer granmatischen Regelkonpetenz für ältere Sprachzustände bewußt zu machen, greifen wir wieder auf den Ausgangstext zurück; hier finden sich die beiden Textformen der versmâhte (Ζ. 4) ein smaehelîches leit

(Ζ. 7) .

Von unserer Intuition, daß die beiden Formen irgendwie zusammengehören, müssen wir sogar Gebrauch itachen, wenn wir die Bedeutung von der versmähte finden wollen, denn im "Kl. Lexer" findet sich dieses Wart nicht, wchl aber u.a. "versmaehe, adj. -smahe adv." und versmähen, versman als Verb 'verächtlich oder geringfügig erscheinen' scwie "smaehe, niedrig, verächtlich, schmählich, [...]" und das im gleichen Eintrag aufgeführte smaeheltoh. der versmâhte hat also wohl als lautliche Entsprechung im Nhd. der Verschmähte, mhd. jedoch eher die Bedeutung 'der verächtlich oder geringfügig Erscheinende '. Einen Zusanmenhang zwischen den /a:/ und den /ä:/-Formen rekonstruieren wir deshalb besonders leicht, weil wir den /a:/-/ä:/-Wechsel auch in unserer Sprache als Varianz -im Grundmorphem kennen; ebenso ähnliche Wechsel·, vgl. nhd. Hand Sache Tod Hund Huhn Haus

Hände, aushändigen; aber: handlich sächlich / sachlich tödlich, töten hündisch Hühner Häuser, häuslich, aber: hausen

25 Übung (10) Beschreiben Sie den Wechsel als phonologische Varianz mithilfe des Vokalschemas auf S. 9 !

In der historischen Sprachwissenschaft bezeichnet man traditionell die Varianz der Merkmale / im gleichen Grundmorphem als Umlaut. Im Nhd. gibt es keine Regel, die angibt, unter welchen Bedingungen ein Vokal umgelautet wird, unter welchen nicht. Das können Sie selbst leicht in der folgenden Übung überprüfen: Übung (11) (a) Nennen Sie ein Objekt /vuk/. Nehmen Sie ein zweites Objekt der gleichen Art hinzu. Dann haben Sie zwei /v /. (b) Das Objekt hat die Eigenschaft /pa:m/. Es ist also /p ig/. (c) Das Objekt sei mehr /taus/ als ein anderes. Es ist also /t...ser/ als dieses.

Dan entspricht die Beobachtung, daß Neubildungen im Nhd. in der Regel nicht mehr umgelautet werden, vgl. Mode - modisch, aber: Hund - hündisch, Gott - göttlich.

Daß wir heute einerseits keine Regeln für den Umlaut haben, daß wir aber andererseits die Erscheinung des Lftnlauts im heutigen Deutsch haben, deutet darauf hin, daß 'Umlauten' früher einmal nach Regeln erfolgte. Diese Regeln kann man aber nicht herausfinden, wenn man sich auf die Untersuchung der mhd. Sprache beschränkt. Hier stehen oft umgelautete und nichturagelautete Formen bei gleicher lautlicher Umgebung nebeneinander, z.B. mhd. versmaehen - versmähen smaehe (Adj . ) - smàhe (Adv.) ha^ellch - heQelîch 'häßlich' ( = [ss]) So gibt es bei mhd. smaehe - smâhe scheinbar keinen plausiblen Grund, warum das Adjektiv thilaut aufweist, während das Adverb nicht umgelautet wird, denn beide Wörter enden auf /-e/. Nicht so im Ahd. : Hier lautet das Adjektiv smShi_ 'klein, niedrig', während das zugehörige Adverb smaho_ lautet. In der làt ist die Art des in der Polgesilbe auftretenden Vokals entscheidend für das Eintreten des Umlauts. Die wichtigsten Fakten und Theorien über den Umlaut wie über jede wichtige sprachhistorische Erscheinung findet man in den historischen Grammatiken zusammengestellt. Solange man mit Aufbau und Inhalt historischer Grammatiken noch nicht sonderlich vertraut ist, sind sie am leichtesten zu benutzen, wenn man zunächst in den Registern nachschlägt. Paul/Moser/Schröbler haben ein Sachregister und ein Wortregister sowie ein Register zur Syntax; Braune/Eggers hat nur ein Wortregister. Kennt man bereits die Bezeichnung für die betreffende sprachliche Erscheinung, so genügt ein Blick ins Sachregister, um auf die einschlägigen

26 Paragraphen verwiesen zu werden, die man dann ggf. nacheinander durchgehen muß. Aber auch über das Wortregister kommt man oft an die betreffende sprachliche Erscheinung heran. So verweist z.B. der Eintrag smàhen, smaehen bei Paul/Moser/Schröbler auf "18 A.3 (Uml.)", d.h. '§ 18, Anmerkung 3 (Umlaut)'. Wir geben den Anfang des § 18 bei Paul/Maser/Schröbler wieder, um daran zu erörtern, was man historischen Grammatiken entnehmen kann: "§ 18. Bei dem Vergleich von hd. Kraft mit kräftig, Hof mit höfisch, Fuchs mit Füchsin, Haus mit häuslich ergeben sich Hinweise, daß der Umlaut von dem i der folgenden Silbe abhängt. Der Umlaut ist bereits im Ahd. eingetreten. Sein Wesen besteht darin, daß, wenn ein i (i) oder j in schwachbetonter Folgesilbe stand, eine partielle Assimilation (teilweise Angleichung) des Vokals der vorhergehenden betonten Silbe eintrat (Palatalisierung). Wir unterscheiden zwischen dem Primärumlaut von a > e und dem späteren Sekundärumlaut von a > ä; dazu tritt o > ö, u > ü, â > ae, o > oe, ü > iu [= [iir]], ou > öu (eu), uo > üe. Der Primärumlaut des a zu e ist schon im Ahd. des 8. Jhs. vorhanden, während die übrigen sich, wenigstens in der Schreibung, noch nicht zeigen; nur der Umlaut des û erscheint bei Notker (um lOOO) als iu. In der Aussprache aber wird der Umlaut wohl durchgängig bis ins Ahd. zurückreichen, wenn auch der Unterschied von den nicht umgelauteten Vokalen anfangs nicht so bedeutend gewesen sein wird, wie später. Vgl. ahd. N.P1. gesti > mhd. geste zu ahd./mhd. gast; ahd. krefti > mhd. krefte zu ahd./mhd. kraft. - Über die Bedingungen, unter denen der Sekundärumlaut von a > ä erscheint, s. unten. - Manche sprechen von a-, o-, e-Umlaut für Brechung (§§ 14, 19). Das i ist in den meisten Fällen schon mhd. nicht mehr erhalten, sondern zu e geschwächt: gast - geste < ahd. gesti 'Gäste'." Übung (12) (a) Vergleichen Sie die Aussage des ersten Satzes mit unserer nhd. Wortliste S. 24! (b) 'Palatale' sind Laute, die am vorderen Teil des Gaumens, dem sog. 'harten Gaumen' gebildet werden (vgl. Konsonantenschema S. 9). Vollziehen Sie die sprechphysiologische Erscheinung der 'Palatalisierung' nach, indem Sie die Wörter Kuchen und Kirche mehrfach nacheinander aussprechen und dabei an sich beobachten, wie sich der Artikulationsort des [k] ändert! Warum kann man bei der Palatalisierung nicht-vorderer Vokale beim Umlaut von einer 'partiellen Assimilation' sprechen? Was wird mit dieser Beschreibung über das "Wesen" des Umlauts erklärt, was nicht? (c) Die sprachhistorische Veränderung des Umlauts vollzog sich in (mindestens) zwei Etappen: 'Primärumlaut' und 'Sekundärumlaut'. Stellen Sie anhand der weiteren Darstellung im § 18 Paul/Moser/Schröbler (S. 42) fest, welche dazwischen stehenden Konsonanten bzw. Konsonantengruppen in der ersten Etappe den Umlaut verhinderten. Begründen Sie diese Hemmung sprechphysiologisch: Wo werden die betreffenden Konsonanten im Mund artikuliert? (d) Vergleichen Sie die phonologischen Bedingungen, unter denen der Primärumlaut auftritt, mit denen für das Auftreten des Sekundärumlauts (ebd. S. 42). Inwieweit kann man hier von einem 'Verallgemeinerungsprozeß' reden? (e) Der Primärumlaut umfaßt den Wandel /a/ > /e/, jedenfalls wird nur er in der Schreibung gekennzeichnet. Welche Probleme ergeben sich für die theoretische Rekonstruktion der Geschichte des Umlauts, wenn ahd. Quellen (und oft auch noch mhd. Quellen) den Umlaut graphisch nicht kennzeichnen? Arbeiten Sie dazu S. 41 bei Paul/Moser/Schröbler durch und vergleichen Sie mit der Darstellung bei Braune/Eggers § 51!

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Eine wichtige Folge der Sprachveränderung Umlaut ist, daß das Phoneminventar der deutschen Sprache dadurch um eine ganze Reihe neuer Vokale erweitert worden ist. Als Phoneme konnten sie aber erst gewertet werden, nachdem der Palatalisierungseffekt auf der Ebene des Sprechens verloren gegangen war; d.h. nachdem nicht mehr automatisch der Vokal weiter vorn gesprochen wurde, wenn /i/, /i:/ oder /j/ in der Folgesilbe auftraten. Solange das der Fall war, waren die weiter vorn gesprochenen Phone Allophone der bestehenden Phoneme. Insofern könnt der Tatsache, daß im Übergang van Ahd. zum Mhd. die Endsilben einer eigenen Sprachveränderung unterlagen - nämlich einer Abschwächung der 'vollen' Vokale (vgl. 4.2.1) - eine besondere Funktion zu: Die phonologische Umgebung regelte nicht mehr die Allophonik; die vorderen Allophone wurden 'selbständig' und zu Phonemen auf der Ebene des Systems. Die Beschäftigung mit den in historischen Grammatiken enthaltenen Informationen erlaubt, allgemein folgendes festzuhalten: (1) Der Umlaut ist eine Sprachveränderung im Deutschen, die mehrere Jahrhunderte brauchte, bis sie ihren endgültigen Geltungsumfang erreicht hatte. Sie ist als sprachhistorischer Prozeß beschreibbar, in dem einerseits neue Phoneme etabliert wurden, andererseits eine inner stärker werdende Verallgemeinerung der phonologischen Bedingungen sich vollzog, unter denen umgelautet wurde. In irihd. Zeit erreichte dieser Prozeß seinen Höhepunkt. Von daher erklärt sich, warum der Umlaut im Nhd. nicht mehr 'produktiv' ist: Abschwächung und Verlust der vollen Endsilbenvokale beraubten den Umlaut seiner phonologischen Basis; die ersatzweise beim Sekundärumlaut herangezogenen phonologischen Umgebungen waren auf Dauer nicht stark genug, um umgelautete Formen zu produzieren. (2) Unter etwas veränderter Perspektive bedeutet dies aber auch: Bis weit ins Mhd. hinein war 'Umlauten' eine produktive Regel, d.h. der Komplex des Umlautfähigen war als Kcmplex von Erzeugungsregeln in der Kompetenz der Sprecher-Hörer verankert. Ableitungen und Neubildungen wurden - im Gegensatz zu heute - mithilfe der Umlautregeln gebildet, sofern die Voraussetzungen erfüllt waren. Insofern war (vrohl) auch der semant i sehe Zusarrmenhang zwischen umgelauteten und nichtumgelauteten Formen für die Sprecher intuitiv enger als heute. Z.B. werden heute Sprecher das Adjektiv sachlich eher mit Sache in Verbindung bringen als sächlich. Hätte es diese Adjektive bereits im Mhd. gegeben, wäre es wohl umgekehrt gewesen. Wie wichtig der Zusammenhang auf der Ausdrucksseite für den semantischen Zusammenheilt von Vfortfamilien ist, zeigen Fälle wie nhd. Haß - häßlich. Mhd. hageltch, he~szeltch 'haßvoll, feindselig; hassenswert, verhaßt; häßlich' hat sein weites, mit hai verbundenes Bedeutungsspektrum eingebüßt, weil nhd. Haß und häßlich heute in zwei verschiedenen semantischen Feldern angesiedelt sind. Ein sol-

28 ches Auseinanderbewegen einst semantisch zusammengehöriger Formen kann man gelegentlich seit dan frühen Mhd. beobachten (vgl. Kluge/Mitzka 186, 675), z.B.: Adj. Adv.

ahd. skòni skôno

mhd. schoene schöne

nhd. schön schon

Adj . Adv.

fasti fasto

feste faste

fest fast

(zu schön vgl. Kapitel 5.5). Die kurze Darstellung des Umlauts als eines sprachhistorischen Prozesses macht deutlich, daß wir zur Rekonstruktion gramnati scher Erscheinungen in mhd. Texten durchaus von unserer Sprecherkcnpetenz produktiven Gebrauch machen können, daß wir darüber hinaus auch Kenntnisse über Fakten und Mechanismen historischer Sprachveränderungen erwerben müssen, wenn wir zu einem genaueren Verständnis sprachgeschichtlicher Zustände und Entwicklungen karmen wollen. Doch sollten diese (notwendigen) Kenntnisse nicht als bloßer Lernstoff betrachtet werden, sondern in ihrem funktionalen Wert für sprachtheoretische Einsichten und ggf. als Voraussetzungen für das zureichende Verständnis mittelalterlicher Texte beschränkt werden. Exkurs: Historische Grammatiken sind hilfreich, wenn es darum geht, sich über eine Sprachveränderung zu informieren oder Schwierigkeiten mit einer konkreten sprachlichen Form zu lösen. Sie müssen notwendig versagen, sobald z.B. eine Sprachveränderung wie der Umlaut in größeren sprachtheoretischen und sprachhistorischen Zusammenhängen diskutiert werden soll, wenn die (in der Regel nicht sehr umstrittenen) Daten und Fakten von einem bestinmten wissenschaftstheoretischen Ansatz aus analysiert werden. Für die Arbeit mit solchen Darstellungen können wir keine allgemeingültigen 'Rezepte' anbieten, weil sie ganz verschiedenartige Kenntnisse voraussetzen. Es soll an dieser Stelle jedoch wenigstens darauf hingewiesen werden, daß für eine weitergehende Beschäftigung mit der Sprachgeschichte des Deutschen ein Einarbeiten in diese Literatur unumgänglich ist. Soweit Grundkenntnisse der strukturalen und generativ-transformationellen Verfahren vorhanden sind, bietet sich als möglicher Einstieg für die Arbeit mit sprachhistorischer und sprachtheoretischer Literatur die Lektüre folgender Arbeiten an (möglichst in der angegebenen Reihenfolge): - Herrlitz (1970): 51-58. - die Aufsätze von Jean Fourquet, W.F. Twaddell, Herbert Penzl und James W. Marchand, in: Hugo Steger (Hrsg. 197Ö), 518-585. - King (dt. 1971), 118-129. 2.4

Nonralisiertes Mittelhochdeutsch und normalisierter Text

Bei der Erörterung des Umlauts wurde bemerkt, daß die mittelalterlichen Schreiber oft den Umlaut nicht graphisch kennzeichneten, obwohl wir Grund zu der Annahme haben, daß die Formen in der gesprochenen Sprache der Zeit umgelautet waren. Diese Schwierigkeit besteht sehr oft und kann als Problem formuliert werden:

29

Vielehen Lautwert hatten die Schriftzeichen mittelalterlicher Schreiber? Dabei ist zu berücksichtigen, daß es in dieser Zeit natürlich keine geregelte Rechtschreibung gab: Jeder Schreiber schrieb so, wie er es gelernt hatte und wie er es für richtig hielt. Die Formulierung "wie er es gelernt hatte" deutet allerdings bereits darauf hin, daß es durchaus Schreibkonventionen gab, vermittelt durch Schreibschulen (Klöster, Kanzleien) und Schreibtraditionen dieser Institutionen. Zwischen diesen Schreibtraditionen bestanden jedoch erhebliche Unterschiede. Die Schreibweise in dem Textauszug aus dem AEMEN HEINRICH täuscht: Sie spiegelt eine Einheitlichkeit in der Überlieferung der Handschriften vor, die in Wirklichkeit nicht bestand. Diese Einheitlichkeit ist wissenschaftsgeschichtlich bedingt: Sie wurde von dan bedeutenden Germanisten Karl Lachmann (1793-1851) maßgeblich herbeigeführt; man nennt das so gestaltete Mhd. 'normalisiert' (vgl. Paul/ftoser/Schröbler § 6). Es wird in der Regel den wissenschaftlichen (kritischen) Ausgaben mhd. literarischer Texte zugrunde gelegt, soweit sie nicht eine buchstabengetreue Wiedergabe der Handschriften anstreben oder neueren Editionsprinzipien folgen. Wir wollen im folgenden ansatzweise nachvollziehen, wie es zu einem 'normalisierten Text' kcrnnt, so wie ihn der von Helmut de Boor herausgegebene Text des ARMEN HEINRICH darstellt. Hartmanns von Aue ARMER HEINRICH ist in zwei Fassungen (A und B) vollständig überliefert, wobei Β in zwei weitgehend identischen Handschriften (Ba und Bb) existiert. Die Ausgabe de Boors folgt der Fassung A, deren Handschrift 1870 in Straßburg verbrannt ist. Sie ist aber bereits 1784 von Christoph Heinrich Myller im Druck veröffentlicht worden. Dort lautet der betreffende Textauszug: ' 1 "An hern heinrich [?heimich] wart wol schin. der in dem hoehesten werde. Lebete uf dirre erden. Der ist der versmehete vor gotte. 5 Er viel von sime gebotte. Abe sinre besten werdikeit. In ein versmeheliches leit. In ergreif die miselsuht. Do man die swere gottes zu ht. IO Gesach an sinem libe. Man unde wibe. Wart er do wider zeme. Nu sehent wie gar geneme. Er e der weite wère. 15 Unn wart nu alse unmere. Das in nieman gerne ansach. Als ouch iobe geschach. Dem edeln unde dem riehen. Der ouch vil iemerlichen. 20 Dem miste wart ze teile. Mitteln in sime heile." 2

Ulrich Müller (Hrsg. 1971): Hartmann von Aue. DER ARME HEINRICH. Abbildungen und Materialien zur gesamten handschriftlichen Überlieferung (= Litterae 3), Göppingen. Dort Text von Myller Z. 110-130.

30 Übung (13) (a) Vergleichen Sie sorgfältig Zeile für Zeile von Myllers Text mit dem Textauszug in 2.1 und kennzeichnen Sie jede Abweichung! (b) Welche Beobachtungen zur Kennzeichnung gen und Kürzen machen Sie!

bzw. Nichtkennzeichnung von Län-

(c) Welche Abweichungen bei der Kennzeichnung und Verwendung des Umlauts fallen Ihnen auf? Beschreiben Sie sie mithilfe der in 2.3 vermittelten Informationen ! (d) Schlagen Sie zu sehent (Z. 13) Paul/Moser/Schröbler § 155 Anm. 3 nach! Welchen Schluß über die Herkunft des Handschriftenschreibers kann man daraus (versuchsweise) ziehen? Warum kann man daraus nur mit größtem Vorbehalt einen Schluß auf die Herkunft des Verfassers ziehen? (e) Warum hat de Boor wohl erden (Z. 3) in erde abgeändert? Erklären Sie eine Reihe weiterer Abänderungen, indem sie davon ausgehen, daß in einem normalisierten Text des ARMEN HEINRICH im Versmaß ein regelmäßiger Wechsel von Hebung und Senkung angestrebt wird. (f) weiterführende Übung: Vergleichen Sie die beiden Texte mit einem weiteren normalisierten Text, dem von Ludwig Wolff ( 1 9 7 2 ) (= Altdeutsche Textbibliothek 3), Tübingen, einschließlich der dortigen Lesarten S. XXI. Man sieht: Am Wortlaut ändert der moderne Bearbeiter so gut wie nichts (außer Z. 13), wohl aber eine ganze Menge an der graphanischen Wiedergabe durch Vereinheitlichung, sehr oft in Hinblick auf Erfordernisse eines regelmäßigen Versmaßes. In der Handschrift Ba (wohl axis dem 1. Drittel des 14. Jhs.) die im Original erhalten ist, lautet die betreffende Textstelle:3 1 "Daz wirt an dem h\ren heinriche schin Do er in siner hosten werde lebete vf dirre erde Do begreif in die misselsvcht 5 Do man des waren gotes zvcht Sach an sinem übe Manne vñ wibe wart er wider zeme warta wie geneme 10 Er e der werlde were Er wart ir aise vnmere Daz man in vil vngerne sach als ovch yobe geschach Dem edelen vñ dem riehen 15 Der also iemerliehen In sinem besten heile Dem miste wart zv teile." Übung (14) (a) Vergleichen Sie den Wortlaut des Textes mit dem in Fassung A. Begründen Sie anhand dieses Vergleichs, warum man die Fassung A für die bessere hält! (b) Inwieweit entspricht Ba stärker den Schreibkonventionen des normalisierten Mhd. als A, inwieweit nicht? (c) Das Graphem wird in Ba für [u], [u:] und [f]-Laute verwendet. Wie kann man rekonstruieren, welcher Laut jeweils durch repräsentiert wird? 3

Ebd., Faksimile Ba, Bl. 249v.

31 (d) Welche Schreibungen in Ba bestätigen, daß im normalisierten Mhd. oft Allophone des /x/-Phonems repräsentiert? Hinweis: zu warta

(Z. 9), s. S. 121.

Zusammenfassend können wir festhalten, daß gerade die Vielfältigkeit der Schreibweisen Hinweise darauf gibt, wie in mittelalterlicher Zeit gesprochen wurde, wenn auch manches weiterhin nicht 'beweisbar' ist, weil es eben keine direkte Entsprechung zwischen Laut- und Schriftzeichen gibt. Oft spiegeln sich in den Handschriften auch dialektale Eigentümlichkeiten, die in normalisierten Texten ausgemerzt, die aber für die Untersuchung z.B. mhd. Sprachvariation sehr wichtig sind (vgl. 3.3). Rekonstruktionen mittelalterlicher Texte spiegeln die Divergenz von Forschungsinteressen wider, die traditionell die Alt-Germanistik von ihren Anfängen (um 1800) an bestimmen: (1) Soweit es um literarische und literaturgeschichtliche Interessen geht, braucht nan einen zuverlässigen Text, der - die Schwierigkeiten der Textüberlieferung einbeziehend - literarische Analysen ermöglicht. Hier ist die Wiedergabe in normalisiertem Mhd. sinnvoll und angebracht. (2) Soweit es um sprachwissenschaftliche und sprachhistorische Interessen geht, muß man dagegen auf die sprachlichen Formen der Quellen zurückgreifen; man benötigt eine getreue Wiedergabe der Texte mit allen Schreibformen und 'Fehlern'. Literaturhinweise Saran/Nagel (1967). Horst Sitta (1972): Linguistische Methoden im altgermanistischen Unterricht, in: Wirkendes Wort 22, 40-57. Sebastiano Timpanaro (21971): Die Entstehung der Lachmannschen Methode, Hamburg. Gutes Anschauungsmaterial bieten die leicht zugänglichen Faksimilies mittelalterlicher Handschriften in der von Franz Hundsnurscher und Ulrich Müller herausgegebenen Reihe 'Litterae' (Göppingen, Alfred Kümmerle).

3

DIE HISTORISCHE DIMENSION DER SPRACHVARIATION UND DIE SPRACHÜBERTRAGUNG

In den beiden ersten Kapiteln sollten die wichtigsten Grundlagen vermittelt werden, die eine systematischere Beschäftigung mit Fragen der historischen Sprachentwicklung, insbesondere der Geschichte der deutschen Sprache, erlauben. In Kapitel 3 soll gezeigt werden, wie die heutige Sprachvariation im Deutschen Produkt historischer Sprachveränderungen ist. Dazu bedarf es weiterführender Vorstellungen darüber, wie es überhaupt zu Sprachveränderungen in einer sprachlich inhomogenen Sprachgemeinschaft kommt. 3.1

Vokalische Veränderungen von Mhd. zum Nhd. und ihre Bedeutung für die heutige Sprachvariation

3.1.1 Vokalische Veränderungen von der mhd. zur nhd. Standardsprache Soweit wir van Standard des normalisierten Mhd. ausgehen, dessen problematischen Status wir für den Augenblick ausgeklanmert lassen, können wir einige vokalische Veränderungen beobachten, wenn wir mit den heilte entsprechenden Ausdrücken vergleichen. Übung (15) In Übung (6) (a) wurde bereits die Aussprache mhd. Vokale geklärt. Stellen Sie nun anhand des Textauszugs fest, wie die nhd. vokalischen Entsprechungen lauten der - mhd. langen Vokale, - mhd. kurzen Vokale, - mhd. Diphthonge. Welche regelhaften Entsprechungen können Sie feststellen? Welches wären dann die Ausnahmen von den 'regelmäßigen' Veränderungen? Beginnen wir mit den nhd. Diphthongen. Ein Blick auf das Vokalschema (S. 9) zeigt, daß es im Mhd. die heutigen Diphthonge nicht gab, dafür mehr und andere. In unserem Text sind allerdings nur drei enthalten: /ie/ > /i:/ /ei/ > /ai/ /ou/ > /au/

(Z. 5, 16) (Ζ. 6, 7,' 20, 21; 'Ausnahme': 8) (Z. 17, 19)

Als Unterschied stellen wir fest, daß mhd. /ie/ zu einem nhd. Monophthong wird, während nhd. /ei/ und /ou/ auch im Nhd. Diphthonge bleiben. Zieht mein andere mhd. Vßrter heran, wie z.B.:

33 mhd. liebe, brief, Ziegel bruoder, bluot, suochen güete, müede, küele heiz, arebeit, breit koufen, roup, tougen fröude, söugen ( = /öü/) ergibt sich zunächst, daß es im Mhd. offensichtlich zwei Diphthongreihen gab, deren distinktives Merkmal darin besteht, daß die Reihe /ie, uo, üe/ höher liegt, als die Reihe /ei, ou, öü/. Das Merkmal , das im Nhd. die Diphthonge von den konstanten Vokalen unterscheidet, muß für das Mhd. differenziert werden; Ζ u η g e η s t e 1 1 u η g hinten vorn Mitte variabel

hoch tief

ie ei

üe öü

uo ou

Übung (16) Zeigen Sie unter Zuhilfenahme des Vokalschemas, daß die mhd. tiefen Diphthonge in ihren einzelnen Bestandteilen im Nhd. weiter gesenkt worden sind!

Man nennt diesen Sprachveränderungsprozeß Senkung der Diphthonge, was insofern ungenau ist, als ja nur eine Reihe der mhd. Diphthonge davon betroffen ist. Die Reihe der mhd. Diphthonge mit dem Merkmal verändert sich zu nhd. langen Monophthongen /i:, u:, ü:/. Legt man die Vokalschemata zugrunde, so kann man die Veränderungsregel so notieren: mhd. Vokal variabel hoch

nhd. Vokal konstant lang hoch

und zeigt damit an, daß die Veränderung eine Veränderung der phonologischen Merkmale darstellt. Man nennt diesen Sprachveränderungsprozeß herkänmlich nhd. Monophthongievimg. Bei den mhd. Monophthongen zeigt unser Text, daß lange, konstante Vokale in den nhd. Entsprechungen oft als Diphthonge erscheinen. Nehmen wir noch mhd. Wörter hinzu wie mhd. hûs, zûn, tûsent tiuvel, friunì, hiute ( - /ü:/) dann ergibt sich ebenfalls eine Veränderungsregel: mhd. Vokal konstant lang hoch

nhd. Vokal variabel lang

34

Man nennt die Veränderung von mhd. /i:, ü:, u:/ > nhd. /ai, oi, au/ herkctrmlich nhd. Diphthongierung. Unser Text enthält nun aber eine Reihe scheinbarer 'Ausnahmen' von dieser Regel: smaeheltchez (Z. 7), diu (Z. 8), nû (Z. 13, 15), jaemerliehen (Z. 19). In der Tat vollzogen oft gerade kurze und häufig verwendete Wörter die Veränderungsregel nicht mit; mhd. dû gehört dazu. Aber auch, wenn der lange Vokal an unbetonter Stelle des Wortes steht wie im Ableitungsmorphem /-lîch/ konnte die Diphthongierung unterbleiben. Silben in unbetonter Stellung unterliegen oft anderen Veränderungen als die betonten. Es sei in diesem Zusanmenhang nur auf den Ausfall des unbetonten /e/ in Endstellung (Apokopierung) (z.B. genaeme Z. 13) und zwischen Konsonanten (Synkopierung) (z.B. lebet Z. 3, sehet Z. 13) hingewiesen, weil uns diese Erscheinung noch in anderen Zusammenhängen beschäftigen wird (vgl. Kapitel 4). Die kurzen konstanten Monophthonge bleiben im Nhd. teils kurz, teils werden sie ; sie werden gedehnt. Da es anhand der Textformen nicht ohne weiteres möglich ist, das Kriterium für Dehnung bzw. Nicht-Dehnung herauszufinden, ordnen wir einige Formen des Textes nach ihren Normalformen: Α

Β

herr beste got Werlte mist

leben diser sehen edel

(> dirre)

In der Spalte Β folgt nach dem kurzen Vokal des Grundnnrphans eine Silbengrenze, bei den Wörtern der Spalte A nicht. Damit die Veränderung der 'Dehnung' also stattfinden kann, müssen Bedingungen in der phonologischen Umgebung des Phonems erfüllt sein:

/

mhd.

nhd.

Vokal

Vokal

kurz

>

lang

/ „.,, / -Silbengrenze /

Ein mhd. kurzer Vokal wird nhd. lang, wenn er am Ende einer betonten Silbe steht ('offen'). Deshalb nennt man diese Veränderung Dehnung in offener Silbe. Mitunter verhindert der folgende Konsonant trotz offener Silbe d^e Dehnung, so öfter /m/: mhd. genomen > nhd. genommen. Damit haben wir die wichtigsten Veränderungen im Vokalismus von Mhd. zum Nhd. kennengelernt. Übung

(17)

(a) Welche Veränderungen haben Einfluß auf das Phoneminventar des Nhd. gehabt, welche nicht?

35 (b) Formulieren Sie eine Konsequenz der Veränderungen anhand folgenden Beispiels : mhd. wide - nhd. Weide 'Weidenbaum1 mhd. weide = nhd. Weide 'Viehweide' Werden in Ihrem Dialekt die beiden Weide gleich ausgesprochen? 3.1.2 Dialektale Sprachvariation und die nhd. Diphthongierung als Sprachbewegung Bei der Beschreibung der vokalischen Veränderungen in 3.1.1 sind wir von einem mhd. und nhd. Sprachstandard ausgegangen. Wie aber stellen sich diese Veränderungen aus der Perspektive heutiger Mundartsprecher dar? Dazu nur ein paar Beispiele: Ein bayerischer Dialektsprecher imißte feststellen, daß die MDrophthongierungsregel für ihn nicht gilt; er sagt z.B. griiez-di, liaber bruader!. Er ist da in der gleichen Lage wie ein Alemanne (griiezi, lieber brueder!), der darüber hinaus leugnen niißte, daß es jemals so etwas wie eine Diphttongierung gegeben habe: mi:n hu:s, mi:n hü: sii. In dieser Hinsicht würde er ganz mit e iman Hamburger übereinstirtmen (mi:n le:ven lü:t!), der allerdings darauf verweisen imißte, daß an der Monophthongierungsregel doch wähl etwas sein müsse, denn /ie/ werde ja zu /e:/ (le:ven). Ein Oberhesse hätte auch seine Schwierigkeiten mit der Diphthongierungsund Monophthongierungsregel: (1) Die mhd. Monophthonge werden zwar diphthongiert (moi haus), aber das /ü:/ in dieser Reihe wurde hier, wie auch in anderen mitteldeutschen Sprachgebieten, zu /au/: mhd. niuwe 'neu' > nau (vgl. 'Bad Nauheim'), mhd. iuwer 'euer'> auer,mhd. fiuie 'Feuer1 > fauer, wenn bestimmte Konsonanten folgten (zum wAusfall Paul/Moser/Schröbler §77). (2) Die mhd. tiefen Diphthonge werden nicht gesenkt, sondern monophthongiert: mhd. eimer > a:mer, mhd. koufen > ka:fe, mhd. fröude > frä:t, bzw. fra : t (vgl. Übung (17)(b)). (3) Im Oberhessischen, ebenso in einigen anderen kleinen Sprachgebieten des Mitteldeutschen,.werden die mhd. hohen Diphthonge nicht monophthongiert, sondern 'gestürzt', d.h. die beiden vokalischen Bestandteile des Diphthongs werden in umgekehrter Reihenfolge zu einem neuen Diphthong verschmolzen: mhd. vier > faiei, mhd. guot > gout, bzw. gaut, mhd. füeze 'Füße' > fois. Es ist in den Ortsmundarten unterschiedlich, ob diese 'gestürzten Diphthonge' zugleich gesenkt erscheinen oder nicht. Übung (18) Stellen Sie für Ihren Heimatdialekt fest, wie sich die vokalischen Veränderungen vom Mhd. zum Nhd. auswirkten! Die vokalischen Veränderungen von Mhd. zum Nhd. sehen also ganz anders aus, wenn wir die heutige dialektale Sprachvariation zugrunde legen. Dieser EntIdealisierung für das gegenwärtige Deutsch muß aber auch eine Ent-Idealisierung

36

für deis mittelalterliche Deutsch entsprechen; denn es ist nicht plausibel anzunehmen, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt habe überall der mhd. Standard bestanden, der sich erst danach dialektal (und soziolektal) differenziert habe. Das heißt: Van Faktum der Sprachvariation können wir auch für die mittelalterlichen Sprachzustände ausgehen. Das läßt sich u.a. damit begründen, daß die Sprachveränderungen im Vokalisnus sich nicht alle zur gleichen Zeit und im gesamten deutschen Sprachgebiet durchgesetzt haben. Wie sich historische Sprachveränderungen in Raum und Zeit ausbreiten und damit zur Sprachvariation beitragen, wollen wir am Beispiel der Geschichte der nhd. Diphttiongierung etwas genauer untersuchen. Dazu müssen wir feststellen, wo und wann die betreffende Sprachveränderung eingetreten ist und wie sie sich ausgebreitet hat. Exkurs: Für die Feststellung dieser empirischen Fakten sind wir auf die Quellen angewiesen. Das sind für Mittelalter und frühe Neuzeit in erster Linie Urkunden verschiedener Art. In den Urkunden werden meist Rechtsverhältnisse geregelt; bis in die Mitte des 13. Jh. werden Urkunden fast immer in lateinischer Sprache verfaßt. (Die erste Kaiserurkunde in deutscher Sprache ist der 'Mainzer Landfriede' Friedrichs II. aus dem Jahre 1235.) Die Urkunden wurden von Schreibern geschrieben, die an verschiedenen Schreiborten in bestimmten Schreibschulen ausgebildet worden waren (vgl. 2.4). Da damit dennoch keine allzu große Vereinheitlichung erreicht wurde, erscheinen die Sprachformen des betreffenden Sprachgebiets, wenn auch vielfach gebrochen, in der Sprache seiner Urkunden ('Urkundensprache'). Man kann im allgemeinen davon ausgehen, daß eine Urkunde die sprachlichen Verhältnisse des Ausstellungsortes umso 'echter' widerspiegelt, je lokaler beschränkt das geregelte Rechtsverhältnis ist (z.B. Kaufverträge u.a.). Die Aussagekraft der Urkundensprache wird weiterhin dadurch eingeschränkt, daß die erhaltenen Urkunden sich nicht zeitlich und räumlich gleichmäßig verteilen: Was erhalten ist, ist sehr von den Zufällen der Oberlieferung abhängig. Eine Untersuchung der historischen Quellen für den Wandel von mhd. /u:/ > nhd. /au/ erlaubt es, kartographisch im groben die zeitliche und räunliche Verbreitung am Beispiel von nhd. hüs > nhd. haus festzulegen, wobei die Pfeile die Verbreitungsrichtung andeuten.1 Übung (19) (a) Beschreiben Sie die Entwicklung der zeitlich-räumlichen Verbreitung von nhd. hausi Begründen Sie von daher, warum die Grammatiken eines Freiburger und eines Hamburger Dialektsprechers in diesem Punkt gleich sind. (b) Welchen Einschränkungen unterliegen die Angaben über Zeiten und Räume entsprechend dem oben Gesagten? (c) Südlich der niederdeutsch/hochdeutschen Sprachgrenze (dicke Linie) gibt es nach Ausweis der Karte Gebiete mit dialektal hu:s. Stellen Sie anhand der

1

Die folgende Karte aus Agricola u.a. (Hrsgg. 1969), 215.

37 Entwicklung der neuhochdeutschen Diphthongierung nach der schriftlichen Überlieferung

obigen Karte fest, wodurch die Sprachgrenze niederdeutsch/hochdeutsch definiert ist. Was besagt das Ergebnis für die Kompetenz von Sprechern in diesen Gebieten in bezug auf ihre Zugehörigkeit zum niederdeutschen bzw. hochdeutschen Sprachraum? (d) Wirtschaftliche Machtzentren lagen im 14./I5. Jahrhundert in Franken (Nürnberg!), am Mittelrhein und an der oberen Elbe (Obersachsen). Welche Hypothese könnte man aufgrund dieser Tatsachen aufstellen, um die Hauptverbreitungsrichtungen der nhd. Diphthongierung zu begründen? Als wichtigstes Ergebnis ist festzuhalten, daß die heutige dialektale Variation bezüglich di^thongierter/nichtdijiithoi^ierter Formen Ergebnis eines Jahrhunderte dauernden Verbreitungsprozesses der Sprachveränderung ist, Ergebnis einer

Spvaehbewegung. Die historisch zeitliche Sprachveränderung erscheint geronnen in der räumlichen Verteilung. ls Konsequenz dieses Zusammenhangs ergibt sich, daß ungekehrt aus der heutidialektalen Variation Rückschlüsse auf historische Sprachbewegungen möglich

38 sind. Ehe wir auf diesen Gesichtspunkt eingehen, soll aber anhand einer kleinen Einzeluntersuchung gezeigt werden, wie sich die großzügigen Pfeile der hu:s/hausKarte in ihrem Aussagewert differenzieren, wenn man ins Detail geht. Als Beispiel diene die Einführung der Diphthongierung in Rheinhessen. Die Karte besagt, daß die Diphthongierung - aus dem Neckarraum kommend - im 15. Jh. den Mainzer Raum erreichte. Tatsächlich haben wohl im Zusammenhang mit der Erwählung des sächsischen Prinzen Albrecht zum Mainzer Erzbischof (1482) dessen Berater aus Sachsen die Diphthonge 'mitgebracht' und damit die Mainzer Kanzlei beeinflußt. Während sich die Diphthonge in Mainz im letzten Jahrzehnt des 15. Jh. durchsetzten, haben sie in dem 50 km südlicher gelegenen Worms erst ab 1505 das Übergewicht. Die kleineren Ortschaften um Worms nehmen die neuen Diphthonge wohl im Verlaufe der beiden nächsten Jahrzehnte an. Problematisch ist allerdings der Schluß von den geschriebenen Quellen auf die gesprochene Sprache der Zeit; denn die Schreibweise der Quellen ist stark von der Gewohnheit der Schreiber abhängig. So hat z.B. das Wormser Synodale von 1496 die Diphthongierung völlig durchgeführt, ein Kopist von 1508 hält dagegen (mit zwei Ausnahmen) an den alten Längen fest. Eine Auswahl von Orts- und Flurnamenformen aus der Zeit um 1500 zeigt im Landkreis Worms u.a. folgende Formen 1485 im sewgrunde 'Talgrund, in dem Säue gehalten werden' 1490 im swgrund 1490-1525 in dem sauwloch 1508 hinder der claußen 1508 uff der heffen kauten 'Grube (Kaute, mhd. kûte), in der Erde für Hafen (= Töpfe) gegraben wurde' 1510 Rynewege 'Rheinweg' 1518 schutzendich 'Schützendeich' 1522 hinder den husen 'hinter den Häusern' 1523 by dem heylegen kreuz 1523 uff dem wydentale 1535 Hulderstruch 'Holderstrauch' 1499 Newhausen, Nuhusen 'Neuhausen' 1509 Newhusen, Nuhusen Übung (20) (a) Wie stellt sich im Beispiel die Einführung und Verbreitung der nhd. Diphthongierung in Rheinhessen im Unterschied zur Interpretation der hu:s/hausKarte dar? (vgl. auch 1.2.3). (b) Warum kann man aus den Belegen keine Schlüsse ziehen, wie die Namen in dieser Zeit von ihren Benutzern ausgesprochen wurden? Alternative Hypothesen sind: Konservative Schreiber bewahren die 'alten' Formen gegen die wirklich gesprochenen Diphthonge. Oder: Die 'neuen' Diphthonge waren Bestandteil des Soziolekts der herrschenden Schichten und wurden von angepaßten Schreibern gegen die tatsächliche Aussprache geschrieben? Halten wir zusammenfassend fest, daß 'Sprachbewegungen' durch Sprachübertragung von einem Zentrum zu einem anderen gelangen und sich von dort aus dais Umland erobern, so gewinnt die Hypothse an Wahrscheinlichkeit, daß auch historische Sprachbewegungen zunächst von den oberen sozialen Schichten getragen werden, 2

Aus: Hans Ramge (1967): Die Siedlungs- und Flurnamen des Stadt- und Landkreises Worms, Darmstadt, 380f.

39

daß zunächst eine Diskrepanz zwischen den Soziolekten besteht. Das wird in unserm Fall dadurch bestätigt, daß in Rheinhessen dialektal die Diphthongierung /ü:/ > /au/ z.B. in Namen mit irihd. niuwe (> *Nauhausen) in den Quellen erscheinen müßte. Das ist tatsächlich, wenngleich verhältnismäßig selten der Fall, obwohl viele Flurnamen z.B. mit *Nau ieri) - dialektal mit Sicherheit seit dem 16. Jh. so gesprochen wurden. Welche Ergebnisse aus der heutigen Verteilung der /oi/ vs. /au/-Formen (< itihd. /ü:/) gewonnen werden können, soll mithilfe der folgenden Karte geklärt werden:

3

Aus: Friedrich Maurer (1929): Sprachschranken, Sprachräume und Sprachbewegungen im Hessischen, in: Hessische Blätter für Volkskunde 28, 90.

40 Das Karteribild zeigt ein zusanmenhängendes Gebiet mit /au/-Formen, das sich von Oberhessen aus in der Lahngegend zun Rhein hin fortsetzt und dadurch mit einem weiter südlich gelegenen linksrheinischen /au/-Gebiet, das bis in die Pfalz reicht, verbunden ist. Das Gebiet der "eu/ei"-Formen (=/oi, ai/) liegt darin wie ein stunpfer Keil eingebettet. In diesem Gebiet liegen einige kleine Gebiete ('Inseln'), in denen /auer/ gesprochen wird. Der Befund legt die Vermutung nahe, daß auch das heutige /oi/-Gebiet früher einmal Teil des umfassenden /au/-Gebiets war, daß die kleinen Sprachinseln Überbleibsel ('Relikte') der früher allgemein geltenden Form darstellen. Von den sprachhistorischen Veränderungen her gesehen, bedeutet das, daß bei mhd. iuwer zuerst die Diphthongierung zu /au/ erfolgt sein muß. Erst zeitlich danach kann in diesem Gebiet auer durch euer/eier ersetzt worden sein, denn eine Sprachveränderung

; !

' /au/

> /oi/ ist nicht bekannt.

Fragen wir nach den Gründen für die Ersetzung, so gibt uns das Kartenbild wieder einen Hinweis: Die keilartige Form des 'eure'-Gebiets deutet darauf hin, daß die Sprachbewegung von Süden her - van Neckarraum - gekarmen ist und sich gewissermaßen immer weiter nach Norden vorgearbeitet hat. Auch hier dürfte sich die Verbreitung nach dem Stadt-Unland-Prinzip vollzogen haben. Bei zwei konkurrierenden Formen wie euer und auer gewinnt mit Wahrscheinlichkeit diejenige an Boden, die der Standardsprache entspricht oder ihr nahekcmrrt; das hängt mit den in Kapitel 1 skizzierten Prestigewerten sprachlicher Formen zusanmen. So spielen auch hier soziolektale Variationen in die Entwicklung der dialektalen Variation hinein. Wenn diese Rekonstruktion der sprachhistorischen Entwicklung aufgrund der dialektalen Verbreitung richtig ist, kennt noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu, der für Verbreitung von sprachlichen Veränderungen wichtig ist. Die von Süden kommende Ersetzung des auer durch euer folgt dem wichtigsten Verkehrs- und Handelsweg dieses Raums, den Rheinstraßen. Sprachbewegungen sind sehr oft an solche Verkehrswege gebunden: Die Übertragung erfolgt durch kemnunikative Kontakte; durch Handelsreisen, durch Güteraustausch. Wodurch Sprachbewegungen ihre Grenzen finden, soll im nächsten Abschnitt in einem anderen Zusammenhang gezeigt werden. 3.2

Die hochdeutsche Lautverschiebung und das Probien des Entstehungsortes

Die im vorangegangenen Abschnitt erörterte Verbreitung der nhd. Diphthongierung vollzog sich in einer Zeit, aus der zahlreiche schriftliche Quellen überliefert sind. Methodisch erlaubt deshalb die kritische Auswertung der CXiellen in Ver-

41

bindung mit dialektgeographischen Befunden (3.1.2) und allganeinen Erkenntnissen über die Mechanismen der Sprachausbreitung (1.2) eine ziemlich genaue Rekonstruktion der historischen Sprachbewegung. Wie ist es aber, wenn Auftreten und Ausbreitung einer Sprachveränderung in einer Zeit sich vollziehen, aus der wir (fast) keinerlei schriftliche Überlieferung besitzen? Das ist bei der hochdeutschen Lautverschiebung (auch 'Zweite Lautverschiebung' 4

und 'hochdeutsche Konsonantenverschiebung' genannt ) der Fall. Es ist umstritten, wann sich diese Sprachveränderung vollzog: Die Datierungen schwanken zwischen dem 1. und dem 8. Jh. Sicher ist nur, daß sie auch in ihrer Ausbreitung schon abgeschlossen war, als seit dem 8. Jh. die schriftliche Überlieferung in breiterem Umfang einsetzte. Damit eröffnet sich ein weites Feld für Theorien und Spekulationen über Ursprung und Verbreitung der hochdeutschen Lautverschiebung. Wir wollen, an die Überlegungen in 3.1.2 anknüpfend, die wichtigsten Positionen kurz skizzieren, um zu zeigen, welche Bedeutung sprachtheoretische Annahmen für die Rekonstruktion sprachhistorischer Prozesse haben. Uhi die Fakten zu erarbeiten, greifen wir auf die Dialektkarte S. 14 zurück: Übung

(21)

Auf der Karte finden Sie die Grenzen der Dialekte definiert durch die Lautformen der Wörter ich, machen, dorf, das, apfel, pfund. Tragen Sie in die folgende Tabelle die entsprechenden Dialektformen ein: ich

machen

dorf

das

apfel

pfund

oberdeutsch rheinfränkisch mo seifränkisch ripuarisch niederdeutsch Beschreiben Sie anhand dieser Tabelle das Verhältnis der Phoneme /p/-/pf/, /k/-/x/ (= ), /t/-/s/ zueinander in ihrer sprachgeographischen Verteilung!

In dieser dialektalen Variation spiegelt sich der Hauptteil der hochdeutschen I^utverSchiebung, auf den wir uns im folgenden im wesentlichen beschränken. Bei dieser Sprachveränderung werden die vor-ahd. (germanischen) stimnlosen Explosive /p/, /t/, A / 'verschoben', und zwar (1) im Anlaut, nach Konsonanten und bei germanischen Doppelexplosiven (/pp/, /tt/, /kk/) zu den Affrikaten /pf/, /ts/, /kx/ und (2) in den übrigen Wörtstellungen zu den stimmlosen Spiranten /f(f)/, /s (s) /, /x(x) /, also:

[

+Explosivl +stimmlosJ

[ Affrikata] ffj-, Κ -, Verdoppelung

[+Spirans j [+stimmlos J / sonst Auf die 1. Lautverschiebung kann hier nicht eingegangen werden; dazu Paul/ Moser/Schröbler § 53, Braune/Eggers §§ 78-82.

42

Ein Vergleich mit demrihd.Kbnsonantenschema zeigt (S. 9), daß es sich um einen systematischen Wandel handelt. Dem heutigen Standarddeutsch fehlt allerdings eine Affrikata, die aufgrund der Sprachveränderung zu erwarten wäre: /kx/. Diese Affrikata gibt es jedoch heute noch in alemannisch-schweizerischen und tiroler Dialektgebieten, z.B. /kxint/ 'Kind'. Wenn wir diesen letzten Hinweis zusairmenneimen mit den Ergebnissen, die Sie in Übung (21) gewannen haben, kantien wir zu der besahreibenden Feststellung, daß die hochdeutsche Lautverschiebung nur im südwestlichen Teil des deutschen Sprachgebiets voll gilt und daß sie nach Norden zu inmer weniger vollständig durchgeführt ist. Da das niederdeutsche Sprachgebiet davon überhaupt nicht berührt worden ist, gilt die hochdeutsche Lautverschiebung als Kriterium für die Trennung zwischen 'hochdeutsch' (im geographischen, nicht soziologischen Vtortsinnel) und 'niederdeutsch' (vgl. den Namen der Sprachveränderung). Zu untersuchen ist nun, (1) wie es zu gerade dieser dialektalen Variation gekommen ist, (2) welche Schlüsse aus dem dialektalen Befund für den Entstehungsraun der hochdeutschen Lautverschiebung gezogen werden können. (1) Die erste Frage ist verhältnisnäßig einfach und schlüssig zu klären. Die Grenzen zwischen 'rheinfränkisch' und 1 itoseliränkisch ' einerseits und zwischen 'noselfrärikisch' und ' ripuarisch1 andererseits decken sich über weite Strecken weitgehend mit den Grenzen bzw. Einflußgebieten der ehemaligen Erzbistümer Mainz, Trier und Köln. Eingehende Untersuchungen von Sprachbewegungen und Dialektgebieten in den Rheinlanden5 haben gezeigt, daß diese kirchlichen Grenzen, die in Mittelalter und Neuzeit ja zugleich auch territoriale Grenzen darstellten, oft zugleich auch die Grenzen für die Ausbreitung sprachlicher Veränderungen bedeuteten. Hinzu könnt, daß z.B. die Sprachgrenze zwischen 'rheinfränkisch' und ' noselfränkisch' westlich des Rheins durch den früher verkehrsarmen und siedlungsmäßig wenig erschlossenen Hunsrück führt. Insofern stellen auch Gebirge gewissermaßen 'natürliche' Grenzen für die Ausbreitung von Veränderungen dar, weil sie die sprachlichen Kontakte der Bewohner an den Gebirgsrändern behindern. Der Prozeß der Differenzierung durch territoriale Grenzen ist mindestens bis ins 19. Jh. wirksam geblieben. So gibt es z.B. eine scharf ausgeprägte Sprachgrenze, vor allem in der Intonationsstruktur, zwischen den Bewohnern von Worms und dem wenige Kilometer südlich davon gelegenen Dorf Bobenheim. Der Grund dafür liegt zweifellos darin, daß Worms seit 1815 zum Großherzogtum Hessen-Darmstadt gehörte und deshalb nach Darmstadt und Mainz hin orientiert

5

Dazu grundlegend: Josef Müller/Hermann Aubin/Theodor Frings (1926): Kultur-· Strömungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden, Bonn.

43 war, während Bobenheim seit dieser Zeit zu Bayern (Pfalz) gehörte, entsprechend vor allem nach Ludwigshafen hin ausgerichtet war (Industrie, Pendler) und von dorther Merkmale des Nordbadischen übernahm.

Die in 3.1.2 gewonnene Einsicht, daß Verkehrswege die 'Träger' sprachlicher Ausbreitungsprozesse waren, ist nun also zu ergänzen durch die Feststellung, daß territoriale und geographisohe Grenzen die Ausbreitung sprachlicher Veränderungen behinderten und oft den Ausbreitungsprozeß zum Erliegen brachten. (2) Die Frage nach der räumlichen Herkunft der hochdeutschen Lautverschiebung kann natürlich nicht direkt aus dem dialektalen Befund abgeleitet werden. Wenn es aber plausibel ist, daß in ihm ein historischer Verbreitungsprozeß 'geronnen' erscheint, lassen sich aus der Staffelung vermutlich Rückschlüsse auf den Entstehungsort ziehen. Aus der Staffelung kann aber nicht zwingend auf einen Entstehungsort geschlossen werden. Damit sind drei Haupttheorien möglich: / > /d/, nachweislich sich von Sü9 den nach Norden ausgebreitet hat. Bei der Darstellung der vokalischen Veränderungen vom Mhd. zum Nhd. und der hochdeutschen Lautverschiebung haben wir uns bewußt auf Fragen und Forschungsprobleme der Ausbreitung sprachlicher Veränderungen in Raum und Zeit beschränkt und Aussagen über mögliche Ursachen dieser Veränderungen vermieden. Einige Bedingungen für sprachlichen Wandel sollen in 3.4 und 3.5 erörtert und in Kapitel 4 eingebracht werden. Die Darstellung des Verhältnisses von historischer Sprachbewegung und dialektaler Variation bliebe aber unvollständig, würden nicht einige Aspekte davon angeführt, wie es sozusagen trotzdem zu einer deutschen Einheitssprache gekommen ist (3.3).

3.3

Dialektale Variation und die Entstehung der Standardsprache

Wie war es möglich, daß es trotz der Vielfältigkeit der dialektalen Variation zu einer deutschen Standard- oder Einheitssprache kam? Greifen wir noch einmal

7

8 9

Hier so benannt nach dem Scheinriesen Turtur, der immer größer wird, je weiter er weggeht. Aus dem Buch von Michael Ende: Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer . Zuletzt Lerchner (1971). Vennemann (1972) (s.Anm. 6), 253.

45

auf das Beispiel der Ausbreitung der nhd. Diphthongierung in Rheinhessen zurück (3.1.2): Die Kanzlisten des Mainzer Erzbischofs brachten die neuen Diphthonge aus ihrer sächsischen Kanzlei mit. Wer von den einheimischen Mächtigen auf sich hielt, mußte sich anpassen (Prestigewert). Darüber hinaus lag es aber auch im Interesse der sozial führenden Schichten, sich diese Veränderung anzueignen, die sich bereits überregional durchgesetzt hatte: sie gewährleistete eine besser funktionierende Kcmnunikation mit den süddeutschen Macht- und Handelszentren. Je weiter die Kcrrnunikationsnetze der gesellschaftlich Führenden gespannt waren, m

so stärker war das Interesse an einer überregionalen Sprache.

Von daher erklärt es sich, daß es bereits in ahd. und itihd. Zeit Ansätze zur Herstellung einer überregionalen Verkehrssprache gab, wenn sie auch auf Dauer gescheitert sind. Es ist umstritten, ob und inwieweit eine 'karolingische Höfsprache' unter Karl dem Großen Geltung erlangen konnte; Bestrebungen dazu gab es zweifellos. In mhd. Zeit strebte namentlich das Rittertum, das sich trotz starker sozioökoronischer Unterschiede als politisch und kulturell führende homogene soziale Schicht begriff, zu einer überregionalen Standessprache (Kap. 5) Mhd. Dichter bemühten sich, ihre dialektalen Besonderheiten auszulassen, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg. Immerhin ist es z.B. unmöglich, die Heimat Walthers von der Vogelweide aufgrund der Sprache seiner Gedichte auszumachen.

Seit dem 13. Jh. verliert das Rittertim seine führende Stellung; die Geld- und Kapitalwirtschaft läßt das städtische Bürgertun erstarken. In den Jahrhunderten zwischen ca. 1350 und dem 16. Jh., die man unter sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten auch als die Periode des Fruhneuhoahdeutsahen bezeichnet, werden die entscheidenden Grundlagen für die Herausbildung des heutigen Standarddeutsch gelegt. Träger der Vereinheitlichung sind jetzt die Kanzleien und ihre Urkundensprache (Kanzleisprache). Mit dem Obergang der Kaisermacht auf die Luxemburger (in Böhmen) »and später die Habsburger war die kaiserliche Kanzlei zwar im süddeutschen Sprachraun beheimatet und von daher sprachlich beeinflußt. Da ihre Urkunden aber auf eine möglichst große Allgemeinverständlichkeit angewiesen waren, neigte sie dazu, auch mitteldeutsche Sprachelemente zu integrieren. Soweit Interessen bestanden, sich im ganzen deutschen Sprachgebiet verständlich zu machen, war das Mitteldeutsche besonders geeignet, eine MittlerrOlle zu spielen. Vor allem im östlichen Mitteldeutschland, dem Land an Elbe und Saale, war durch die Verbindung von Altsiedelland und durch Kolonisation von neuerschlossenem Siedelland eine Sprachmischung in der Bevölkerung entstanden, in der sich mitteldeutsche und oberdeutsche Sprachformen verbanden. Diese Sprache wurde als eine der sprachlichen Grundlagen in der Kanzlei der dort herrschenden mächtigen Vfettiner verwendet.

46 Die Diphthongierungskarte zeigt, daß die Diphthongierung seit dem 14./15. Jh. in ostmitteldeutschen Urkunden erscheint. Für die Monophthongierung ist nachzuweisen, daß sie im 11. Jh. ihren Ursprung im mitteldeutschen Sprachraum hatte und sich von dort aus nach Süden ausbreitete (für Einzelheiten vgl. Paul/Moser/Schröbler §§ 7, 21). So ist z.B. in Regensburger Urkunden des 13. Jh. die Monophthongierung durchgeführt, obwohl sie in der bayerischen Mundart keine Grundlage hatte. Die Monophthongierung als Sprachbewegung verläuft also zeitlich verschieden und in entgegengesetzter Richtung wie die Diphthongierung. Wenn man verschiedene wichtige Variationen auf einer Karte kombiniert und prüft, in welchem Raum sie alle zusammen gelten, ergibt sich das folgende Bild.10

Riehk-Hochr ^irachhchet

in daubcha» gprachybfet-

Übung (22) (a) Warum sind gerade die Dialektformen von ich, haus, wachsen, gehn, euch aufgenommen? Warum ist ich aufgenommen? (vgl. Karte der Mundarten). Warum ist kein Beispiel mit Monophthongierung aufgenommen? (b) Warum würde der Mainzer Raum im 16. Jh. nicht zu den Gebieten zählen, in denen heute Standardsprachliches gegolten hat? 10 Aus Frings ( 3 1957), 132.

47 (c) Begründen Sie, warum das Kartenbild fragwürdig ist!

Die sächsische Kanzleisprache hat zwar die in der Karte wiedergegebenen Sprachformen aufgeronnen, sie v®r damit ^W^T* nicht identisch mit don sächsischen Dialekt selbst, weil sie eine überregionale Geltung anstrebte und erreichte. Ihren maßgeblichen Einfluß erlangte sie durch die Reformation Luthers, durch seine Bibelübersetzung, durch Flugschriften usw. Durch die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern wurde es möglich, Bücher und Schriften als Massenmedien zu entwickeln. Das geschäftliche Interesse der Drucker, das starke Leserinteresse der Zeit führten dazu, Schriften: in möglichst vielen Sprachgebieten zu verbreiten. Auch die Drucker waren deshalb um sprachliche Anpassung und Ausgleich bemüht.

Luther selbst gab an, "nach der sächsischen Canzeley" zu schreiben, "welcher nachfolgen alle Fürsten und Könige in Deutschland; alle Reichsstädte, Fürsten-Höfe schreiben nach der sächsischen und unsers Fürsten Canzeley, darum ists auch die gemeinste deutsche Sprache. Kaiser Maximilian und Kur[fürst] Friedrich, H[erzog] zu Sachsen [etc.] haben im römischen Reich die deutschen Sprachen also in eine gewisse Sprache gezogen.1,1 *

Der Einfluß seiner Bibelübersetzungen und seiner Schriften erweiterte den Geltungsbereich dieser Sprache nicht nur in räumlicher Hinsicht, sondern vor alian in bezug auf die erfaßten Bevölkerungsgruppen. Fortan galt das 'Lutherdeutsch' jedenfalls in evangelischen Gebieten - als vorbildliche Sprache. Sie trug besonders dazu bei, daß sich im norddeutschen Raum neben dem niederdeutschen 'Platt' eine gewissermaßen als Fremdsprache akzeptierte deutsche Hochsprache ausbilden konnte. Daß Luther sehr wohl zwischen 'Gemeinsprache' und seiner dialektal geprägten 'Privatsprache' zu unterscheiden wttßte, zeigt sich z.B. darin, daß er in der Bibelübersetzung als Verkleinerungsform stets das oberdeutsche Suffix -lein verwendete, während er in Privatbriefen an seine Familie das mitteldeutsche -chen benutzte.

Zusanmen mit dçr Karte S. 46 spiegelt die Herausbildung der deutschen Standardsprache im 15./16. Oh. noch einmal die Komplexität im Verhältnis von Dialekt (und dialektaler Variation) und Soziolekt (und soziolektaler Variation). Historisch wird die Beziehung zwischen Dialekten und dem Soziolekt der Standardsprache vermittelt durch die Urkunden- und Kanzleisprache. Diese nahm gebrochen die gesprochene Sprache ihrer Landschaft auf, entwickelt aber auch ihre eigenen Regeln, die durch die Interessen der herrschenden sozialen Gruppen definiert sind. Indem gerade die (sächsische) Kanzleisprache zur wesentlichen Grundlage

11 Martin Luthers Werke, Weimarer Ausgabe, Tischreden Bd. 1, 524/42ff.

48 der heutigen Standardsprache wurde, stellte diese als Soziolekt einen merkwürdigen Zwitter dar zwischen dialektal gesprochener Sprache und den in Schreibstubenatmosphäre künstlich gewordenen Schreibergevrohnheiten. Als nhd.

sprache

Schrift-

geilt sie als Norm des 'guten' Deutsch, an der sich auch die gesprochene

Sprache der oberen sozialen Gruppen orientierte. Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht im 19. Jh., die mit der Industrialisierung einsetzende soziale Mobilität weiter Bevölkerungsschichten, der Einfluß der Massenmedien, zu denen im 20. Jh. Rundfunk und Fernsehen kamen, bewirkten die weitere Festigung der Einheitssprache als Prestigenorm; einer Norm, die zu vermitteln erklärtes Ziel und Gegenstand des Deutschunterrichts wurde. Übung (23) Diskutieren Sie die umstrittenen Äußerungen zur "Hochsprache" in den hessischen "Rahmenrichtlinien Sekundarstufe I Deutsch" unter Einbeziehung sprachhistorischer Gesichtspunkte ! "In den bisherigen Lehrplänen und in den Sprachbüchern ist "Hochsprache" von Mundarten und anderen Formen von Regionalsprachen unterschieden und wertend von Umgangs-, Gassen- und anderen Formen negativ eingeschätzter Sprachen abgesetzt worden. Dieser Begriff von "Hochsprache" enthielt einerseits die Vorstellung von einer Sprache, die überregionale Kommunikation sichern sollte, andererseits die Vorstellung von einer besonders normgerechten, reinen Ausprägung der deutschen Sprache. Daß die Schule besondere Aufgaben zur Sicherung überregionaler Kommunikation zu erfüllen habe, konnte bis zur Verbreitung der Massenkommunikationsmittel als notwendige Aufgabe begriffen werden. Diese Aufgabe stellt sich heute der Schule nicht oder nur in einem sehr abgeschwächten Sinn [ .. . ] Die Kommunikationssituation der gegenwärtigen Gesellschaft wird - soweit dies für den Deutschunterricht unmittelbar bedeutsam ist - duroh folgende Merkmale charakterisiert : - Schichtenspezifische Sprachverwendungen markieren Kommunikationsgrenzen innerhalb dieser Gesellschaft. - "Hochsprachliche" Sprachverwendung ist eine, wenn auch sicher nicht die wichtigste Voraussetzung für den Zugang zu den als erstrebenswert angesehenen Positionen in dieser Gesellschaft. - Die Interpretationsmuster für die Deutung öffentlicher und privater Erfahrungen, die durch die Sprache der Massenkommunikationsmittel nahegelegt, bestätigt oder auch initiiert werden, verdecken weithin die realen Kommunikationsgrenzen und verhindern die Einsicht in deren Ursachen. Folglich kann die Aufgabe der Schule, die sprachliche Kommunikationsfähigkeit der Schüler zu differenzieren und sie zum "richtigen Sprachverhalten" anzuleiten, nicht als Einübung in die "Hochsprache" verstanden werden."12 3.4

Sprachwandel durch Spracherwerbsprozesse

3.4.1

Das Generationen-Modell

In 3.1 bis 3.3 haben wir zu erarbeiten versucht, wie die Ausbreitung sprachlicher Neuerungen in Raum und Zeit dialektale und soziolektale Variationen der 12 Rahmenrichtlinien Sekundarstufe I Deutsch (1972), o.O. [Wiesbaden], 6f.

49

deutschen Sprache erzeugt und verändert. Das Auftreten einer Neuerung an einem bestimrtten Ort zu einer bestinmten Zeit bedeutet, daß einzelne Sprecher, Sprechergruppen oder alle Sprecher dieses Orts die neue Form als Spraohvariante ihrer sprachlichen Kompetenz hinzufügen. Es muß also für diese Sprecher zumindest eine gewisse Zeit lang ein Nebeneinander konkurrierender Formen geben, die dann z.B. situativ variierend (vgl. 1.2.4) verwendet werden. Dauerhaft kann die Neuerung erst werden, wenn sie fest als Bestandteil im grammatischen Regelsystem der Sprecher verankert ist, wenn sie im Verlaufe der Sprachentwicklung des Kindes erworben worden ist. Das schließt, wie wir gesehen haben, das Weiterbestehen der 'alten' Form aufgrund der Sprachvariation nicht aus. Die Sprachübertragung von einer Generation auf die andere bewirkt demnach zunächst, daß eine Neuerung oder Innovation in der älteren Generation zu etwas 'Normalem' in der jüngeren Generation wird. Dabei sei dahingestellt, ob die sprachliche Neuerung von anderswo übernommen oder in der älteren Generation selbst entwickelt worden ist. Der zweite Gesichtspunkt bei der Sprachübertragung von einer Generation auf die andere ist der, daß man prüfen muß, inwieweit nicht vielleicht die Kinder selbst durch den Spracherwerbsprozeß das sprachliche Regelsystem verändern, d.h. selbst Neuerungen verursachen. In 3.2 ist darüber hinaus am Beispiel der hochdeutschen Lautverschiebung deutlich geworden, wie abhängig die Einschätzung empirischer Beobachtungen vcm jeweiligen sprachtheoretischen Ansatz ist. Um den möglichen Einfluß des Spracherwerbs auf historische Sprachveränderungen zu verdeutlichen, wollen wir hier das von Vertretern der TG angebotene Modell für sprachlichen Wandel kurz vorstellen und an einem Beispiel diskutieren. Das sprachliche Regelsystem, aufgrund dessen Sprecher einer Sprache Sätze generieren, muß von jedem Kind in den ersten Lebensjahren neu erworben werden. Nach Auffassung Chcmskys und der TG ist das Kind deshalb zum Spracherwerb befähigt, weil es über eine (angeborene) Spracherwerbs-Vorrichtung (in der Abbildung S. 50 1SEV' abgekürzt) verfügt. Mit dessen Hilfe konstruiert es auf der Grundlage der sprachlichen Äußerungen, die es in seiner sozialen Eingebung hört, eine generative Grammatik, die im Verlaufe der Sprachentwicklung ständigen Revisionen unterliegt. Das Kind reproduziert also nicht einfach die Sprache seiner Umgebung (etwa durch Imitation), sondern konstruiert seine eigenen Grarrmatiken. Am Ende des Spracherwerbsprozesses wird sie sich zwar sehr stark derjenigen seiner sozialen Ungebung angepaßt haben, aber sie ist nicht unbedingt damit identisch. Denn eines der wichtigsten Merkmale des SEV besteht in der Tendenz, eine opt-Lrrale Grammatik zu konstruieren, d.h. auf die effizienteste und einfachste Weise die wahrgenommenen sprachlichen Daten in geordneten Regeln des Erzeu-

50 gungssystems abzubilden. Beim Spracherwerb besteht damit die Tendenz, die vorgegebene Grammatik zu vereinfachen, zu simplifizieren. Wenn das so ist, "können wir sagen, linguistischer Wandel ist Wandel der Kompetenz nicht Wandel der Performanz; es ist ein Wandel der Grammatik, nicht ein ursprünglicher Wandel in der Ausgabe [= output] der G r a m m a t i k . " ^

Sprachlicher Wandel vollzieht sich durch Innovation (hauptsächlich durch die Erwachsenen) und Optimierung der Granmatik (hauptsächlich durch den Spracherwerb der Kinder). Die folgende Graphik in ein Generationen-Modell ein:

13 King (dt. 1971), 107. 14 Ebd., 108.

14

bindet diese behaupteten Prinzipien

51

Die Annahme, daß Sprachwandel durch Sprachübertragung von einer Generation auf die andere erfolge, wird schon von Vertretern der traditionellen historischen Sprachwissenschaft wie Hermann Paxil vertreten: "Man wird also sagen können, daß die Hauptveranlassung zum Lautwandel in der Übertragung der Laute auf neue Individuen liegt. Für diesen Vorgang ist also der Ausdruck Wandel, wenn man sich an das wirklich Tatsächliche hält, gar nicht zutreffend, es ist vielmehr eine abweichende Neuerzeugung."

Für Hermann Paxil sind die beiden Hauptprinzipien für Lautwandel die Veränderung durch Lautgesetze und durch Analogie. Die nhd. Diphthongierung z.B. wäre ein solches Lautgesetz: Sie muß in allen Vförtern auftreten, die die lautlichen Voraussetzungen erfüllen: Lautgesetze gelten ausnahmslos. Wenn die Veränderimg nicht eingetreten ist (z.B. nihd. dû, -Itch) müssen angebbare aridere Gründe dafür maßgeblich sein, die die gesetzmäßige Entwicklung durchkreuzten. 3.4.2

1

Simplifizierung' und 'Analogie'

Die Rolle der Simplifizierung beim Spracherwerb für historische Sprachveränderungen und das Prinzip der Analogie sollen anhand eines von Robert King diskutierten Falles16 näher untersucht werden. Dazu müssen wir noch eirmal auf eine der in 3.1 besprochenen Veränderungen vom Mhd. zum Nhd. zurückgreifen: die Dehnung kurzer Vokale in offenen Silben. Nach dieser Regel müßten im Nhd. nebeneinander stehen: */tak/ vs. /ta:ge/, /ta:ges/, /ta:gen/

Der Vokal im Ncminativ und Akkusativ Sg. wurde eil so nicht ' lautgesetzlich1, sondern 'in Analogie' zu den übrigen Formen gelängt. Gehen wir davon aus, daß beim Eintreten der Dehnungsregel die zugrundeliegende phonologische Repräsentation /tag/ war, so handelte es sich bei der Dehnung um eine Innovation im sprachlichen Regelsystem der kompetenten Sprecher: Sie fügten mit der Dehnung ihrer Grammtik eine Regel hinzu. Ihre Kinder hörten entsprechend kurze und lange Vokale im gleichen Lexem, je nach der phonologischen Umgebung. Sie muß ten die Dehnungsregel sozusagen selbst aufgrund der gehörten sprachlichen Daten entdecken. Dies ist durch ein Prinzip in der Sprachentwicklung möglich und zugleich erschwert, nämlich durch die Tendenz zur Genera Iis iemeng. Wenn das Kind eine Anzahl Formen eines grammatischen Teilsystems durch Lernen gespeichert hat (und auch grammatisch 'richtig' produziert hat), entwirft es versuchsweise eine Regel als Erzeugungsregel für diese Formen und wendet sie

15 Paul ( 8 1970), 63. 16 King (dt. 1971), 63ff. und llOff.

52 versuchsweise auf alle ihm bekannten Fälle des Teilsystems an. So machen z.B. fast alle Kinder eine Phase durch, in der sie die Erzeugungsregeln für die Formen des schwachen Verbs (kochen, kochte, gekocht) auch auf standardsprachlich starke und unregelmäßige Verben anwenden (gesingt, gegeht, gebringt). Werden diese Ubergeneralisierungen nicht im Verlaufe der weiteren sprachlichen Entwicklung modifiziert (z.B. durch Korrekturen), bleiben sie Bestandteil des grammatischen Regelsystems.

Man kann wohl davon ausgehen, da Β sich diese Ubergeneralisierung in bezug auf die Dehnungsregel vollzog. Sind alle Formen gelängt, entfällt in der darauf folgenden Generation die Dehnungsregel, weil diese Kinder von Anfang an nur lange 17 Formen hören, also phonologisch /ta:g/ aufnehmen. Man kann dies als einen Fall von granmatischer Simplifizierung bezeichnen; die 'Analogie' wäre dann ein Spezialfall der Sinplifizierung aufgrund der Fähigkeit zur Generalisierving beim Kind. In Repräsentationen wie /tag/, /lob/, /weg/, /grab/, /laden/ komplizieren sich die Verhältnisse allerdings. Übung (24) (a) Vergleichen Sie Ihre Aussprache der Explosive in folgenden Wortpaaren: das Rad - der Rat, die Räder - die Räte, der Dieb - die Diebe, der Tag - die Tage, der Schlag - schlagen, Gras - Gräser (in der gemäßigten Hochlautung des Standarddeutschen). (b) Formulieren Sie aus diesen Beobachtungen eine für das heutige Standarddeutsch geltende Regel !

Das Stiitmloswerden stimmhafter Konsonanten im Auslaut heißt traditionell Auslautverhiürtung. Es ist nicht etwa aus sprechphysiologischen Gründen notwendig, vgl. dt. [hant] vs. engl, [hend] und z.B. engl, job und seine Aussprache im Deutschen. Die Auslautverhärtung hat es auch im Deutschen nicht irtmer gegeben: Sie stellt eine Sprachveränderung vcm Ahd. zun Mhd. hin dar. Im Mhd. wird der phonemische Unterschied in der Regel auch graphemisch bezeichnet, auf jeden Fall im 'normalisierten Mhd.' (vgl. 2.3), z.B. irihd. daz kint - des kindes, daz grap - graben, der tao - des tages. Auch die Auslautverhärtung als historische Sprachveränderung geht (im Rahmen der TG) auf eine Regelhinzufügung zurück, also wchl auf eine Innovation erwachsener Sprecher. Die Graitmatik für die Kinder dieser Generation wurde dadurch komplizierter, denn sie hatten keine Möglichkeit aufgrund der gehörten sprachlichen Daten, ihre Grammatik in diesem Punkt in Irgendeiner Weise zu optimieren oder zu sirplifizieren, es sei denn, sie hätten die Auslaut-Regel wieder aufgegeben. Da dies nicht der Fall war, wurde die Auslautverhärtung regulärer Bestandteil des granmatischen Regelsystems in den folgenden Generationen bis heute. Für den Zusammenhang zwischen 'Auslautverhärtung' und 'Dehnung kurzer Vokale in betonter offener Silbe' behauptet nun Robert King einen interessanten Fall von Sinplifizierung: 17 anders King, der anzunehmen scheint, daß noch in der heutigen phonologischen Repräsentation kurzer Vokal anzusetzen ist.

53 Unter diachronem Aspekt li'egt die Dehnungsregel später als die Verhärtungsregel, so daß sich historisch die Genese des Regelkomplexes wie folgt darstellt: /lob/ /lobes/ /tag/ /tages/ (1) Auslautverhärtung (2) Vokallängung >

/lop/ /lop/

/lobes/ /lo:bes/ /lo:bes/

/tak/ /tak/

/tages/ /ta:ges/ /ta:ges/

Wenn man - wie King - annimmt, daß die Regeln auch im Erzeugungsprozeß in dieser Reihenfolge angewendet wurden, ergab sich in der Generation, in der die Kinder die Dehnungsregel simplifizierend generalisierten, eine Umordnung der Regeln. Denn für die Reihenfolge der Regelanwendung gilt es als psycholinguistisches Prinzip, daß zuerst die Regeln mit dem größeren Geltungsbereich, dann die mit dem kleineren angewendet werden. Die generalisierte Längung hat den größeren Bereich, denn sie gilt für alle Formen des Lexems, während die Auslautverhärtungsregel nur für wenige Formen gilt. Deshalb rekonstruieren die sprechenlernenden Kinder die Grammatik optimal, wenn sie zuerst die Längungs-, dann die Verhärtungsregel anwenden. Übung (25) Stellen Sie die neue Regelabfolge entsprechend dem oben angeführten Schema dar!

Durch die Regelixrordnung haben die Kinder das grammatische Regelsystem simplifiziert. Das Prinzip der Analogie ist in dieser Sicht ein Spezialfall des Prinzips der Simplifizierung. Entscheidend ist aber u.E. die Tatsache, daß Analogie als Prinzip des Sprachwandels in Verbindung steht mit der Fähigkeit des Kindes zu generalisieren, bzw. zu übergeneralisieren. Dies ist eine kreative Fähigkeit, über die auch der kompetente Sprecher einer Sprache verfügt. Man braucht deshalb nicht auf das Konzept der 'Analogie' für die Beschreibung historischen Sprachwandels zu verzichten. Bei einer kritischen Einschätzung des Generationen-Modells im Rahmen der IG nuß zunächst einmal darauf hingewiesen werden, daß solche Annahmen wie die Kings über die Simplifizierung durch Regelunordnung nur aus dem theoretischen Apparat der TG heraus legitimiert und auch innerhalb der TG nicht unvmstritten sind. Wichtiger aber scheint der Hinweis, daß das Generationen-Modell selbst, auf das sich auch andere sprachwissenschaftliche Richtungen berufen, fragwürdige und unrealistische Inplikationen enthält. Es stellt vor allem Sprachveränderungen so dar, als werde eine Generation 1 von der Generation 2 abgelöst: Sprachwandel wird individualistisch auf das Eltern-Kind-Verhältnis projiziert. Kinder erwerben ihre Sprache aber in einem sozialen Umfeld, in dem es dialektal und soziolektal variierΘ-tìe Sprach- und Sprechvarianten gibt (Eltern, Geschwister, Spielgefährten, Schule usw.). Das aber bedeutet, daß Sprachveränderungen auch in der Grannatik des einzelnen Kindes nicht gebunden sind an einen Sprung innerhalb der Familie, sondern an die Sprach- und Sprechgemeinschaft, zu der es gehört. Mit der Entwicklung seiner Fähigkeiten zum sprachlichen Handeln

54

(unter Berücksichtigung des Redegegenstandes, der Situation, vor allem des Interaktionspartners) erweitert und variiert es auch sein grammatisches Regelsystem, gebunden an die sozialen Vierte seiner sozialen Gruppe und deren gesellschaftlichem Zusammenhang. Das heißt: Das Generationen-Modell ist zu modifizieren durch die in Kapitel 1 und 3 angesprochenen Aspekte sprachlicher Variation. Literaturhinweise Zu 3.1.2: Für das Verhältnis Sprachgeschichte-Sprachgeographie immer noch grundlegend und auch für Anfänger gut verständlich ist: Kurt Wagner (1927): Deutsche Sprachlandschaften, Marburg. Mittelalterliche deutschsprachige Urkundentexte sind gesammelt in: Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahre 1300, begründet von Friedrich Wilhelm, fortgeführt von Richard Newald, hrsg. von Helmut de Boor und Diether Haacke, Bd. I-III, Lahr 1932-1957. Eine AuswahlSammlung: Bruno Boesch (Hrsg. 1957): Deutsche Urkunden des 13. Jahrhunderts, Bern. Zur nhd. Diphthongierung: Kaj Lindgren (1961): Die Ausbreitung der nhd. Diphthongierung bis 1500. (Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Ser. Β, Bd. 123/2), Helsinki. Zur hochdeutschen Lautverschiebung: Gotthard Lerchner (1971): Zur II. Lautverschiebung im Rheinisch-Westmitteldeutschen, Halle. Zu 3.3: Karl Bischoff (1967): Sprache und Geschichte an der mittleren Elbe und unteren Saale, Köln/Graz. Theodor Frings (31957). Ludwig Erich Schmitt (1966): Untersuchungen zu Entstehung und Struktur der 'nhd. Schriftsprache'. I. Bd.: Sprachgeschichte des Thüring.-Obersächsischen im Spätmittelalter. Die Geschäftssprache von 1300-1500, Köln/Graz. M.M. Guchmann (dt. 1964): Der Weg zur deutschen Nationalsprache, Berlin. Johannes Erben (1955): Die sprachgeschichtliche Stellung Luthers, in: PBB (Halle) 76, 166-179. Werner Besch (1967): Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jahrhundert. Studien zur Erforschung der spätmittelhochdeutschen Schreibdialekte und zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache (= Bibliotheca Germanica 11), München. Zu 3.4: Thomas Bever/D. Langendoen (1972): The interaction of speech perception and grammatical structure in the evolution of language, in: Stockwell/Macaulay (Hrsgg.), 32-95. Hans Ramge (1975): Zum Verhältnis von historischem Sprachwandel und der Sprachentwicklung des Kindes, in: Günter Bellmann/Günter Eifler/ Wolfgang Kleiber (Hrsgg.): Festschrift für Karl Bischoff, Köln, 190-216. Uriel Weinreich/William Labov/Marvin Herzog (1968): Empirical foundations for a theory of language change, in: Lehmann/Malkiel (Hrsgg.), 95-188. Otto Jespersen (dt. 1925): Die Sprache. Ihre Natur, Entwicklung und Entstehung, Heidelberg.

4

TENDENZEN DER SPRACHVERÄNDERUNG IN GRAMMATISCHEN SUBSYSTEMEN DES VERBS

In Kapitel 4 schließen wir an die in Kapitel 2 begründete Perspektive an: durch die Arbeit mit historischen Grammatiken unter Berücksichtigung der grammatischen Regelkompetenz des kompetenten Sprechers des heutigen Deutsch dessen Verständnis für historische Sprachveränderungen zu erweitern. Es soll gezeigt werden, wie durch das Auftreten von Sprachveränderungen grammatische Subsysteme in ihrem Funktionieren betroffen werden und welche Konsequenzen das hat. Dabei beschränken wir uns exemplarisch auf einige grammatische Subsysteme des Verbs. 4.1

Zur sprachgeschichtlichen Entwicklung der Tempora

4.1.1

Tenpusgehrauch und Zeitreferenz

Wir knüpfen an zwei Beobachtungen zum Tenpusgebrauch in unserem Beispieltext (2.1) an: "dó man die swaeren gotes zuht gesach an sinem libe, manne unde wibe wart er dt5 widerzaeme. nú sehet, wie genaeme er è der werIte waere, ..." Aus dem Kontext können wir mithilfe unserer Fähigkeit zur grairmatischen Rekonstruktion unschwer erkennen, daß gesach mit 'sah' übertragen werden kann. Unklar bleibt dabei ge-. Schlagen wir versuchsweise im "Kl. Lexer" nach: "[...] vor subst. adj. adv. und verben mit dem begriffe des Zusammenfassens, abschliessens, der dauer und Vergangenheit; es kann vor alle formen des Zeitworts treten, um die handlung abzuschliessen oder zu verstärken, oft nur mit unübersetzbar leiser modifizierung des begriffs [...]" ge- modifiziert also senantisch das damit verbundene Lexem. Bei Ncmen drückt gegewöhnlich einen Sanmelbegriff aus, vgl. z.B. noch heute: Berg - Gebirge - die Berge, Horn - Gehörn - die Hörner. In Verbindung mit Verben bewirkte ge- im Mhd. eine 'Abtönung' des Zeitaspekts, den rran im Nhd. nicht immer präzise wiedergeben kann. So könnte man zutreffend ins Nhd. übertragen: 'Als (sobald) itan die schwere Züchtigung Gottes an seinem Leibe (= an ihm) sah / gesehen hatte, wurde er Männern und Frauen widerwärtig .

56

Im zweiten Fall steht der Aspekt im Vordergrund, daß der Wahrnehmangsprozeß abgeschlossen sein mußte, bevor man daraus eine (Verhaltens-) Konsequenz zog. Deshalb signalisiert ge- + Verb im Präteritum oft die Abgeschlossenheit des Vorgangs, die wir heute mit dem Plusquamperfekt ausdrücken (vgl. Paul/Moser/Sehröbler § 302c), ist aber nicht allein darauf beschränkt. Auch bei waere (= 3.Sg.Prät.Konj.) macht es die Formulierung des zeitlichen Gegensatzes im Kontext (ê - nû) heute standardsprachlich notwendig, den ersten Teil des Satzes im Plusquamperfekt wiederzugeben: 'nun seht, wie angenehm er früher der Welt (= den Leuten) gewesen war, ...' (vgl. Paul/Moser/Schröbler § 368). Aufgrund dieser vorläufigen Beobachtungen können wir vermuten, daß die Tanpcara und ihr Gebrauch im mittelalterlichen Deutsch zumindest teilweise anders organisiert waren als im heutigen. Im heutigen Standarddeutsch haben wir ein ausgebildetes Tempussystem für alle Personen, Numeri, Msdi, genera verbi, das aus sechs Haupt-Tempora besteht: Präsens - Präteritum - Perfekt - Plusquamperfekt - Futur I - Futur II. Im Ahd. gab es nur zwei Haupt-Tempora: "Das Praesens vertritt in der Regel auch das Futurum, für das keine eigene Form vorhanden ist. Das Präteritum ist allgemeines Tempus der Vergangenheit." (Braune/Eggers § 301.2)

Zwar gibt es ansatzweise seit dem 9. Jh. für alle mit Hilfsverben zusammengesetzten Tempora versuchsweise Umschreibungen, doch werden nur die Formen des Perfekts häufig und regelmäßig verwendet, z.B. freon ist gigangan 'er ist fortgegangen' . Übung (26) (a) Warum sind die folgenden Sätze im heutigen Deutsch abweichend? *Nachdem ich gegessen hatte, gehe ich ins Bett. *Nachdem ich gegessen habe, ging ich ins Bett. (b) Welche Bedeutung hat der Ich-Hier-Jetzt-Standpunkt des Sprechers für die Verwendung von Tempora? Welche Tempora des heutigen Deutsch beziehen sich auf welche Zeitvorstellungen (Zeitreferenz)? (c) Wenn es im Ahd. zunächst nur die Opposition Präsens mit der Zeitreferenz 'Gegenwart/Zukunft' und Präteritum mit der Zeitreferenz 'Vergangenheit' gab: Weiche neue Opposition wurde dann durch die Etablierung des Perfekts hergestellt? Stellen Sie die Beziehung zur Semantik der Vorsilbe ge- her ! (d) Die ahd. Verfasser beschäftigten sich weitgehend mit Übersetzungen aus dem Lateinischen. Vor welchen Schwierigkeiten standen sie, wenn sie lateinische Tempora angemessen wiedergeben voliten?

57

4.1.2 Zur sprachgeschichtlichen Entwicklung des einfachen Futurs Man kann aus der Tatsache, daß es im Ahd. keine sprachliche Bezeichnung für 'Zukünftiges' gab, zweifellos nicht schließen, daß etwa die kompetenten Sprecher dieser Zeit keine Zeitvorstellung dafür hatten. (Auch in der Gegenwartssprache kann 'Zukunft' sprachlich durch Präsens ausgedrückt werden: ich fahre (demnächst, morgen, ...) nach X.) Will itan, aus welchen Gründen auch inmer, 'Zukünftiges' auch in der Tenpusform sprachlich umschreiben, so bieten sich dafür zunächst solche sprachlichen Zeichen an, deren Senantik die Verbindlichkeit der Aussage über den 'gegenwärtigen' Zustand modifiziert. Die Modalität von Ist-Zuständen wird u.a. durch Modalverben bezeichnet: er geht vs. er will, kann, soll, muß, darf, möchte gehen

Dabei ist in jedem Falle impliziert, daß er noch nicht gegangen ist, modifiziert jeweils durch den Grad der Selbst- bzw. Fremdbestimrrung und durch den Grad der Intensität der Verbindlichkeit.1 Insofern ist es nicht verwunderlich, daß die historische Entwicklung der sprachlichen Bezeichnung für 'Zukünftiges' - also das Futur - ihren Ausgang von Umschreibungen mit Modalverben nahm. Modalverben standen auch in ahd. Zeit zur Verfügung. Von ihnen werden ahd. scuZan 'sollen' und (seltener) ahd. wellen 'wollen' ausgewählt. (Vgl. die heutige Futurbildung im Englischen!). Diese Modalverben bekennen dadurch eine doppelte Funktion: Einerseits sind sie reine 'Hilfsverben', indem sie Teil der Markierung des Futurs sind; andererseits haben sie ihre eigene Satantik (in Opposition zu anderen Modalverben). An einem Beispiel ins Nhd. übertragen: *ich soll gehen - (1) 'ich werde gehen' (2) 'ich bin aufgrund von χ verpflichtet zu gehen'

Aus dieser Ambivalenz erklärt sich, daß auch bei der Verwendung im Mhd. im Einzelfall oft schwer zu entscheiden ist, ob das Verb als Hilfsverb oder als Modalverb zu verstehen ist, z.B. "ihr suit sprechen willekomen: der iu maere bringet, daz bin ich."2

= 'ihr sollt ...'

"want si sihet iueh gerne durch die swester min, vroun Kriemhilden; ir suit ir willekomen s i n . =

1 2 3

'ihr werdet ...'

Zur historischen Semantik der Modalverben: Fritz (1974), 68ff. Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hrsg. v. Karl Lachmann, 13. Ausg. v. Hugo Kuhn, Berlin 1965, 56/14f. DAS NIBELUNGENLIED. Nach der Ausg. v. Karl Bartsch hrsg. v. Helmut de Boor, Wiesbaden 1 8 1965, 1452.

58 Im Mhd. wird das einfache Futur mit den Verben sol, wil, muoz, werden umschrieben. (Zu /ë/ s. S. 61) Die aus der Modalsemantik herrührende Ambivalenz spiegelt sich z.B. in Strophe 506 des NIBELUNGENLIEDS: (Kurz vor der Ankunft der Nibelungen auf Brünhilts Burg Isenstein sagt Siefrid:) "Er sprach: 'ir guoten ritter, daz wil ich iu sagen; ir suit vil richiu kleider dà ze hove tragen, want uns dà sehen müezen vil minneclichiu wip. dar umbe suit ir zieren mit guoter waete den Up. "4 Übung (27) (a) Übertragen Sie die Strophe ins heutige Deutsch! (b) Zeigen Sie die modale/futurische Funktion von wil und müezen auf! Warum ist suit im Kontext eindeutig modal? Wie schwierig es zu beurteilen ist, ob beim Verb modale oder futurische Funktion vorherrscht, zeigt sich auch in abweichenden Übertragungen dieser Strophe ins Nhd. Während Ingeborg Schröbler die Stelle nur zitiert, ohne sich eindeutig festzulegen (Paul/Moser/Schröbler § 299b), gibt Helmut de Boor in seiner Ausgabe des NIBELUNGENLIEDS als Übertragungshilfe zu Z. 3: "sehen müezen, 'weil wir uns zeigen müssen, auftreten müssen'." Demgegenüber überträgt Helmut Brackert: "Ihr sollt am Hofe kostbare Kleider tragen, denn liebliche Damen werden uns dort betrachten."3 Auch mit Übersetzungen mittelalterlicher Texte muß man lernen, vorsichtig-kritisch umzugehen Die Verben zur Umschreibung des einfachen Futurs werden teilweise anscheinend austauschbar; jedenfalls variieren die Handschriften mitunter: "iah sol / ich wil iu sagen mêr waz iu min lieber herre her enboten hàt" (NIBELUNGENLIED 1198,2, s. Paul/Moser/Schröbler § 299a) Die Bindung an die Modalsemantik einerseits, die Austauschbarkeit als FuturMarkierer andererseits scheinen zu bewirken, daß sich im Übergang von Mhd. zun Nhd. inner stärker werden als Umschreibung durchzusetzen beginnt. Das in der Semantik von mhd./nhd. werden enthaltene Merkmal begünstigt diese Entwicklung: Auch präsentische Formen referieren nie auf einen bestimmten Punkt in der 'Gegenwart', z.B. -Loh werde müde, er wird Metzger. Die Dauer im 'Gegenwärtigen' drückt sich auch im Partizip Präsens aus: suchend. Es ist deshalb vrohl kein Zufall, daß im Mhd. werden sehr viel häufiger mit dati Partizip Präsens verbunden ist als mit dem Infinitiv: 7 "jâ wirt ir dienende vil manic waetlîcher mein" . 4 5 6 7

Ausgabe wie Anm. 3. DAS NIBELUNGENLIED. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Hrsg., übers, u.m.e. Anhang versehen v. Helmut Brackert (= Fischer Bücherei 6038/9), Frankfurt, 506. Vgl. Otfrid Ehrismann (Hrsg. 1973) : DAS NIBELUNGENLIED. Abbildungen, Transkriptionen und Materialien zur gesamten handschriftlichen Überlieferung der I. und der XXX. Aventiure (= Litterae 23), Göppingen, 26ft. NIBELUNGENLIED Ausgabe wie Anm. 3, 1210.

59

Es ist umstritten, ab die heute übliche Konstruktion werden + Infinitiv für das einfache Futur sich aus der nihd. Konstruktion werden + Partizip Präsens entwickelt hat oder nicht

( Paul/Moser/Schrcbler § 299 Aim. 6). Jedenfalls

zeigt die kurze Darstellung der historischen Entwicklung des einfachen Futurs, daß dessen Genese nicht nur an zeitreferentielle Probleme gebunden war, sondern auch durch die semantisch vorgegebenen Strukturen der zur Bildung verwendeten sprachlichen Zeichen bedingt ist. 4.1.3 Tempora in dialektaler Variation Wenn ein Süddeutscher etwas 'Vergangenes' erzählen oder berichten will, so verwendet er in der Regel das Perfekt; ein Norddeutscher dagegen das Präteritum. Wir wollen mit dieser pauschalen Feststellung arbeiten, obgleich die Verhältnisse in Wirklichkeit komplizierter sind. Es ergibt sich dann die Frage, wieso es zur Bevorzugung eines Erzähl-Tenpus kommt. Der historische Ausgangspunkt für die dialektale Variation in der Verwendung von Präteritum und Perfekt beruht (vermutlich) auf einer scheinbar belanglosen Sprachveränderung, der Apokopierung, d.h. dan Ausfall des unbetonten /e/ in Endstellung (vgl. 3.1) in den süddeutschen Dialekten des 15. Jh. Dadurch ergab sich in den Formen des schwachen Verbs folgende Veränderung: mhd.

+Dehnung

-¡-Apokope

1.Sg.Präs. 3.Sg.Präs.

/ix sage/ /er saget/

/ix sarge/ /er sa:get/

/'ix sa:k/ /er sa:kt/

l.Sg.Prät. 3.Sg.Prät.

/ix sagete/ /er sagete/

/ix sa:g(e)te/ /er sa:g(e)te/

/ix sa:kt/ /er sa:kt/

Übung (28) (a) Welche Konsequenz ergab sich aus der Apokopierung für die Verwendung der Tempora? (b) Im Mhd. wurde die Phonemfolge/-age-/oft zusammengezogen ('kontrahiert') zu /-ei-/ (Genaueres bei Paul/Moser/Schröbler §§ 69-72). Zeigen Sie, daß diese Erscheinung keinen Einfluß auf die obige Konsequenz hat!

Die durch die Apokopierung entstandenen gleichlautenden (homonymen) Formen mußten nicht notwendig zum Perfekt als Erzähl-Tenpus führen, auch das Präsens wäre möglich gewesen . 8 Als Folge der Variation kamt es in Grenzgebieten, in denen nördliche Präteritum-Formen und südliche Perfekt-Formen aufeinander stoßen, zu Mischformen

8

Otto Ludwig (1967): Präsens und süddeutscher Präteritumschwund, in: Neuphilologische Mitteilungen 67, 118-130.

60

(Kontamina tionen ). So gibt es im Frankfurter Umland Äußerungen wie wir waren 9 nach Frankfurt gefahren , wobei waren das Präteritum, (waren) gefahren das Perfekt signalisiert. Das mutmaßliche Entstehen der dialektalen Variation zeigt, welchen Einfluß geringfügige Sprachveränderungen auf das Funktionieren granmatischer Subsysteme haben können. 4.2

Veränderungstendenzen im Kbnjugationssystem des Verbs

4.2.1

Veränderungen in den Präsens- und Präteritumformen von nehmen

Bereits in den vorangegangen Kapiteln maßten wir gelegentlich auf das Ahd. zurückgreifen, um sprachhistorische Erscheinungen des Mhd. und Nhd. beschreiben zu können. Um sprachhistorische Veränderungstendenzen Im Konjugationssystem des Verbs herauszufinden, stellen wir deshalb im folgenden jeweils die nhd., mhd. und ahd. Formen nebeneinander und wählen exemplarisch als Beispiel nhd. nehmen, mhd. nëmen, ahd. nëman. Im Indikativ des Präsens lauten die Formen: Präsens Indikativ Sg.

PI.

nhd.

mhd.

ahd.

1.

nehme nimmst nimmt

nime nimest nimet

nimu nimis (t) nimit

1.

nehmen nehmt nehmen

nëmen nëmet nëment

nëmamês nèmet nëmant

2. 3. 2. 3.

Übung (29) (a) Vergleichen Sie die Konjugationsendungen (die Flexi ve) der nhd. und mhd. Formen miteinander ! Welche Veränderungen können Sie mit den Ihnen bekannten Veränderungsregeln beschreiben? Beschreiben Sie die Veränderungen in den Vokalen des Grundmorphems mithilfe der Dehnungsregel (s. 3.1) und des Prinzips der Analogie (s. 3.4). (b) Vergleichen Sie entsprechend die mhd. mit den ahd. Flexiven! Was fällt Ihnen auf? (c) Was wurde durch die Distribution (Verteilung) der Vokale im Grundmorphem im Ahd. und Mhd. zugleich angezeigt? (d) Betrachten wir nun die Kombination von Vokaldistribution im Grundmorphem und Flexiven für die Konjugation des Präsens Indikativ. Wieso war es redundant, wenn im Ahd. die Verteilung von /i/ und /e/ den Numerus (= Singular/ Plural) anzeigte? Wodurch waren im Ahd. Person und Numerus eindeutig gekennzeichnet? (e) Warum ist im Mhd. die Vokaldistribution im Grundmorphem nicht mehr kommunikativ redundant? 9

Dieter Möhn (1963) : Die Industrielandschaft - ein neues Forschungsgebiet der Sprachwissenschaft, in: Jahrbuch des Marburger Universitätsbundes 2, 303-343.

61 Als erstes Ergebnis können wir festhalten, daß im Ahd. das grammatische Subsystem der Konjugation im Indikativ des Präsens im wesentlichen auf der Grundlage der Flexive funktionierte. Da hier jedes Flexiv eindeutig Numerus und Person kennzeichnete, gewährleistete die Distribution der Flexive als Menge von Oppositionen das Funktionieren des grammatischen Subsystems. Diese Basis wurde Im Ubergang zum Mhd. zerstört durch die lautliche 'Abschwäch\mg' der 'vollklingenden' Vokale /u/, /i/, /a/ zu /e/: die sog. Endsilbenabschwächung (oder der Ends ί Ibenverfa 11 ) ; hinzu kamen konsonantische Veränderungen in den Flexemen. über Ursachen und weitere Folgen der Endsilbenabschwächung s. 4.2.2. Die Opposition /i/ vs. /e/ im Grundmorphem für den Numerus im Ahd. ist Ergebnis vorangegangener Sprachveränderungen. Die zwei Pünktchen über dem /ë/ in den Formen von nëmen deuten an, daß der laut offen gesprochen wurde (wie z.B. nhd. gesta). Er stand als Phonem neben dem durch den Primärumlaut (s. 2.3) entstandenen geschlossenen /e/. /ë/ ist teilweise aus dem Germanischen übernommen worden, z.T. aber auch aus germ, /i/ entstanden, und zwar dann, wenn in der Folgesilbe ein /a/ vorkam (/a/-Umlaut). Es gibt eine ganze Reihe derartiger Veränderungen vom Germ, zum Ahd., die man zusammenfassend gewöhnlich als 'Brechung' bezeichnet (genaueres bei Paul/Moser/Schröbler § 19, Braune/Eggers § 52). Ahd. nëman enthält das 'alte' germ, /ë/. Dieses wurde bereits im Germanischen zu /i/ 'gebrochen', wenn /i, i:, j/ in der Folgesilbe stand. Von daher erklären sich die ahd. Formen der 2. und 3. Sg. In ahd. Zeit erfolgte auch eine entsprechende 'Brechung' vor /u/ der Folgesilbe, was zu der ahd. Form der 1. Sg. führte. Hier handelt es sich also nicht um einen über die Analogie vollzogenen Ausgleichsprozeß wie bei der 1. Sg. im Nhd., sondern um das Ergebnis einer regelhaften Sprachveränderung. Betrachten wir nun, wie sich die Sprachveränderungen auf die Opposition im Modus Indikativ vs. Konjunktiv ausgewirkt haben, indan wir die Formen des Präsens Konjunktiv heranziehen: Präsens Konjunktiv

mhd.

ahd.

Sg. 1. 2. 3.

nehme nehmest nehme

nhd.

nëme n'émest nëme

nëme nëmês (t) nëme

PI. 1. 2. 3..

nehmen nehmet nehmen

nëmen nëmet nëmen

nëmêm nëmêt nëmên

Übung (30) Wie wirkt sich die Endsilbenabschwächung in der Entwicklung der Formen des Präsens Konjunktiv aus? Welche Formen des Indikativ und Konjunktiv Präsens sind mhd. und nhd. zusammengefallen? Was bedeutet das für die Funktionsfähigkeit der Opposition Indikativ vs. Konjunktiv? Die dritte Opposition, die sich in den Konjugationsformen des Verbs widerspiegelt, ist die zwischen Präsens und Präteritum (vgl. 4.1.3). Hier lauten die entsprechenden îtirmen im Indikativ und Konjunktiv:

62 Präteritum Indikativ Sg.

1. 2. 3.

PI.

1. 2. 3.

nhd.

mhd.

ahd.

nahm nahmst nahm

nam naeme nam

nam nâmi nam

nahmen nahmt nahmen

nâmen nâmet nâmen

nâmum nâmut nâmun

nähme nähmst nähme

naeme naemest naeme

nâmi nâmîs(t nâmi

nähmen nähmt nähmen

naemen naemet naemen

nâmîn nâmit nâmîn

Präteritum Konjunktiv Sg.

1. 2. 3.

PI.

1. 2. 3.

Übung (31) (a) Stellen Sie fest, wie sich die Veränderungsregeln 'Endsilbenabschwächung', 'Dehnung in offener Silbe' und 1 Umlaut1 in der Entwicklung der Präteritalformen des Verbs ausgewirkt haben! (b) Wie erklären Sie die Formen des Sg. Prät. Indikativ? (c) Wodurch war im Ahd. die Opposition zwischen Prät. Indikativ und Konjunktiv im wesentlichen gewährleistet? Wodurch ist sie im Nhd. gegeben? (d) Wodurch ist die Opposition zwischen Präs. Indikativ und Prät. Indikativ im Nhd. gegeben, wodurch im Mhd. und im Ahd.? Welche Funktionsveränderung kommt damit den Flexiven im Wandel vom Ahd. bis zum Nhd. zu?

Als zweites Ergebnis können wir aufgrund dieser Beobachtungen festhalten, daß durch den Einf luß von allgemein eintretenden regelmäßigen Sprachveränderungen zwar die zuvor geltenden Oppositionen zerstört werden, daß dies aber nicht zu einem 'Zusartmenbruch' des grammatischen Subsystems führt. Vielmehr wird es - unter Einbeziehung der verändernden Regeln - neu aufgebaut. Andere morphologische Elemente übernehmen die gleichen oder ähnliche indizierenden Funktionen, die den ursprünglichen Funktionsträgem wegen der Sprachveränderungsprozesse verlorengegangen sind. So wurde im Ahd. die Opposition Indikativ vs. Konjunktiv Prät. hauptsächlich dadurch hergestellt, daß das Flexiv das Element /i:/ (/i/) enthielt, so wie für den Konjunktiv des Präs. /e:/ im Flexiv charakteristisch war. Dadurch bereits waren die Konjunktivformen des Prät. einigermaßen eindeutig gegenüber dem Indikativ Prät. einerseits und gegenüber dem Konjunktiv Präs. andererseits definiert. (Es muß einschränkend hinzugefügt werden, daß dieses System von Oppositionen schon im Ahd. nicht mehr unumschränkt gilt; es läßt sich aber rekonstruieren, daß es in sprachgeschichtlichen Vorstufen des Ahd. galt; vgl. 4.2.2).

63

Durch die Veränderungen in den Flexiven ging diese Unterscheidungsmöglichkeit verloren. Sie taucht aber im Nhd. neu auf, indori nun die Distribution der Vokale im Grundmorphem, die Vokalvar-Lanz, die gleichen Oppositionen definiert. Bei fast gleichen Flexiven indiziert nun /ä:/ den Konjunktiv Prät. gegenüber dem /a:/ des Indikativ Prät. einerseits und gegenüber dem /e:/ des Konjunktiv Präs. andererseits. Das Mhd. nimmt in dieser Hinsicht eine Zwischenstellung ein: Einerseits funktioniert das alte System nicht mehr, andererseits ist die Konstruktion des neuen noch nicht voll durchgeführt. Weiterführende Übung (32): Die Endsilbenabschwächung ist auch die hauptsächliche Ursache dafür, daß das System der Deklination der Substantive vom Ahd. zum Mhd. zerfiel. Sie können sich die wichtigsten Merkmale der Nomen-Deklination erarbeiten, indem Sie analog zu den in den Übungen (29) bis (31) entwickelten Fragestellungen die in mhd. Grammatiken gebotenen Hauptdaten durcharbeiten, z.B. Paul/Moser/Schröbler §§ 118-133a.

Derartige Beobachtungen legen die Vermutung nahe, als seien Zerstörung funktionierender granmatischer Subsystems und ihr Neuaufbau kausal aufeinander bezogen. Konkret: Weil die Endsilben abgeschwächt wurden, hat die Vokalvarianz im Grundmorphem deren unterscheidende Funktion Übernamen. Eine solche Sprachbetrachtung wäre mechanistisch; sie nimnt 'Sprache' und 'Sprachwandel' als zuständliche Objekte und läßt dabei den Aspekt der dynamischen ständigen Neuerschaffung von 'Sprachlichem' außer Betracht (vgl. 1.1.2). Wenn 'Sprache' und 'Sprachwandel' inner an die Verwendung durch konkrete Sprecher gebunden sind, kann man historisch beobachtete Sprachveränderungen in grammatischen Subsystemen höchstens daraufhin befragen, was sie bewirken, wie sie (kommunikativ) funktionieren, auf welchen Endzustand sie möglicherweise hinzielen (f-Lnalistisohe Erklärung) . Der konventionell verwendete 'System'-Begriff selbst impliziert schon ein solches Erklärungsparadigma. Es gehört zu den kybernetischen Grundprinzipien, daß Systeme zugleich die Tendenz haben, sich zu verändern und in einem Gleichgewichtszustand (Hcnßostase) zu erhellten.10 'Sprache' ist aber sicher kein System in diesem Sinne; sie enthält systemähnliche Charakteristika ('Systemoid', Hans Glinz) wie z.B. in den hier zur Debatte stehenden grairmatischen Teilsystemen. Insofern das finalistische Erklärungsprinzip auf diesati System-Begriff gründet, kann es deshalb bestenfalls zu plausiblen Hypothesen über den Gang sprachhistorischer Entwicklungen führen.

IO Eine Darstellung des kybernetischen System-Begriffs und seiner kommunikationstheoretischen Implikationen z.B. bei Paul Watzilawick/Janet Beavin/Don Jackson (dt. 41974): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Stuttgart, Bern, Wien.

64 Betrachtet man dagegen - mit Eugenio Coseriu11 - sprachliche 'Systeme' als Systeme funktioneller Oppositionen, erlaubt die von ihm postulierte Ebene der 'Norm' als dem in einer Sprachgemeinschaft konventionell Geltenden eine weniger von der Sprachwirklichkeit abstrahierende Untersuchung des Sprachwandels. Das sei an einem Beispiel aus der Konjugation des Verbs abschließend kurz erläutert. Der Wandel von mhd. iah nime > nhd. iah nehme hat das 'Sprach'-System selbst in keiner Weise berührt. Vielmehr bot dieses System die Form iah nehme als sprachliche Realisierungsmöglichkeit für die 1.Sg.Präs.Indikativ an; daß diese und nicht eine andere ergriffen wurde, lag in der Wahlfreiheit der Sprecher/Hörer. Möglich gewesen wären z.B. auch *ioh nirnne oder *iah nähme. Die Realisierung der zweiten Möglichkeit war einigermaßen unwahrscheinlich, weil vcm kompetenten Sprecher angencttmen werden kann, daß ihm die syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen kopräsent sind. Inden im Laufe der Veränderungen, wie wir gesehen haben, das /a:/ der Vokalvarianz funktioneller Indikator für das Präteritum von nehmen wurde, konnte damit schwerlich eine Präsensform gebildet werden. Warum die Sprecher nicht, in Übereinstimmung mit den Sprachveränderungsregeln und entsprechend zu der 2. und 3.Sg.Präs., *ich nimme zur geltenden Norm machten, ist zunächst überraschend, weil damit ja eine Opposition /i/-/e:/. vs. /a:/ für Präs. vs. Prät. (Indikativ) hergestellt wäre und zugleich eine Opposition /i/ vs. /e:/ für den Numerus im Präs. Indikativ. Eine eindeutige 'Erklärung' ist wohl auch nicht möglich. Unter finalistischem Gesichtspunkt könnte man in Betracht ziehen, daß die Vokalvarianz im Grundmorphem auf /e:/ für das Präsens zutendiert. Die 2. und 3.Sg. wären dann derzeit Ausnahmen, von denen zu erwarten ist, daß sie irgendwann durch Analogie an die übrigen Präsensformen angeglichen werden (*du nehmst, *er nehmt) ; ein Ausgleichsprozeß, wie ihn z.B. das Englische längst vorgenommen hat. Ob dies jemals geschieht, liegt aber wieder in der Wahlfreiheit der Sprecher, denen das 'System' beide Möglichkeiten offen läßt. 4.2.2 Synthetischer und analytischer Sprachbau Eine generelle Tendenz in der geschichtlichen Entwicklung der deutschen Sprache 12

wollen wir an einem Beispiel etwas genauer untersuchen.

In 4.2.1 haben wir ge-

sehen, daß noch in ahd. Zeit die Kennzeichnung der Person und des Numerus im

11 Coseriu (dt. 1974), besonders 152ff. 12 Die Darstellung dieses Abschnitts verdankt Anregungen einem bisher unveröffentlichten Aufsatz von Wolfgang Haubrichs 'Vom Tempo des Sprachwandels 1 .

65 wesentlichen durch das Flexiv eindeutig gewährleistet war. Insofern galt in dieser Zeit, wenn auch schon eingeschränkt, ein gleiches Prinzip wie auch z.B. im Lateinischen: Die für die finiten Formen des Verbs charakteristischen grammatischen Kategorien Person, Numerus, Modus, Tarpus, genera verbi (= Aktiv und Passiv) erscheinen 'synthetisch' in einer morphologischen Struktur des Verbs. Im Nhd. hingegen sind Person und Numerus hauptsächlich durch die Personalpronomen markiert (vgl. ahd. nimu vs. nhd. iah nehme), der Konjunktiv wird häufig durch Umschreibungen ausgedrückt (vgl. ahd. namì_ vs. nhd. ich nähme, aber zumindest umgangssprachlich üblich: iah würde nehmen); den 'synthetischen' Tempora sind 'zusanmengesetzte' zur Seite getreten (Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und II, wobei das Perfekt umgangssprachlich in weiten Teilen des deutschen Sprachgebiets als Erzähl-Tempus verwendet wird; vgl. 4.1.3); von den genera verbi besteht das Passiv inner aus zusammengesetzten Formen. Im Prinzip besteht also die Tendenz, zur Kennzeichnung der einzelnen grarrmatischen Kategorien besondere sprachliche Zeichen als Markierer zu verwenden. Man nennt diese Konstruktionsprinzipien auch 'synthetischen' und 'analytischen ' Sprachbau. Nimmt nan die sprachhistorische Entwicklung des Konjugationssystems exemplarisch für die geschichtliche Entwicklung der deutschen Sprache, so kann man die Hypothese aufstellen, daß sie sich als Ubergang van synthetischen zum analytischen Sprachbau beschreiben läßt. Übung (33) (a) Inwiefern impliziert die Hypothese das finalistische Erklärungsprinzip? (b) Diskutieren Sie an konkreten Beispielen die Verwendung des Konjunktivs im heutigen Deutsch unter dem Gesichtspunkt dialektaler und soziolektaler Variation !

Es ist klar, daß die ahd. Möglichkeit der Person-Kennzeichnung durch ein Flexiv durch die Sprachveränderung der Endsilbenabschwächung verlorenging. Diese ihrerseits ist bedingt durch die vor-ahd. Veränderung der Akzentverlagerung. Im Indoeuropäischen war der Wörtakzent 'frei1, d.h. er richtete sich nach der morphologischen Struktur, was sich z.B. noch in lateinischen Akzentverhältnissen spiegelt: lat. Róma 'Rem', Românus 'der Römer', Romanôrum 'der Römer (= Gen.Pl.)', Romccnorûmque 'und der Röner'. Dieser 'freie' Akzent wurde in den germanischen Sprachen 'fest', indem der Hauptton fest auf das Grundmorphem verlagert wurde (vgl. 4.3). Die Endsilbenabschwächung von Ahd. zum Mhd. wäre als Ursache für den Übergang von synthetischen zu analytischen Formen behauptbar, wenn sich nachweisen ließe, daß durch sie notwendig naie sprachliche Funktionsträger eingeführt werden mußten. Von den zur Beurteilung der Frage benötigten Daten sind zwei von größerem Belang:

66 (1) Grammatische Formen der deiktisch-indizierenden Proformen (d.h. im wesentlichen Personalpronomen und Denonstrativproncmen) gab es schon in vor-ahd. Zeit. Sie wurden aber nur verwendet, wenn auf den Referenten besonders ausdrücklich abgehoben werden sollte, so daß ihnen ein restringierendes Merkmal