Metonymie und Grammatik: Kontiguitätsphänomene in der französischen Satzsemantik [Reprint 2011 ed.] 9783110944075, 9783484303850

Proceeding from the revival of linguistic interest in the rhetorical figures metaphor and metonymy and their underlying

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German Pages 217 [220] Year 1998

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Table of contents :
Vorwort
Typographische Konventionen und Abkürzungen
1. Einleitung: Kontiguität, Metonymien, Frames
1.1. Assoziationen als linguistischer Untersuchungsgegenstand
1.2. Sprachtheoretische und semantiktheoretische Voraussetzungen
1.3. Kontexte der Kontiguitätsbeziehungen
1.4. Kontiguitätstypen
1.5. Diachrone Dynamik
1.6. Pragmatische Einflußgrößen: Salienz, noteworthiness, hierarchische Eigenschaftsvererbung
1.7. Grenzen der metonymischen Übertragung: Aktive Zonen und métonymies intégrées
2. Grammatische Prämissen
2.1. Wortsemantik und Satzsemantik
2.2. Ebenen der Satzstruktur und Ebenen der Valenz
2.3. Die informationelle Strukturierung des Satzes
3. Prädikative Strukturen als Kontiguitätenverbünde
3.1. Frames und Argumentstruktur von Verben
3.2. Metonymische Verschiebungen in den Aktanten oder im Prädikat? Zur Theorie von Nunberg (1995)
3.3. Vorprädikative syntagmatische Kontiguitätsrelationen
3.4. Ausblick: Kontiguität, Motivation und Konventionalisierung
4. Verbsemantik I: Lexikalisierte Kontiguitätsphänomene
4.1. Paradigmatische Alternationen: Unterschiedliche Sachverhaltsdarstellungen im selben Frame
4.2. Syntagmatische Alternationen
4.3. Symmetrische Verben
4.4. Inhärente Reziprozität
4.5. Exkurs: avoir und être
4.6. Rollensemantische Beschränkungen kontiguitätsbasierter Referenz
4.7. Die Sonderstellung des direkten Objekts (I)
5. Verbsemantik II: Besetzung von Aktantenrollen
5.1. Reflexivität
5.2. „Appartenance inaliénable“
5.3. Die Sonderstellung des direkten Objekts (II)
6. Morphosyntaktische Beschränkungen
6.1. Subjekte: Kontiguitätsbeziehungen im Verhältnis Topik-Kommentar
6.2. Direkte Objekte
7. Schlußwort
7.1. Rückblick
7.2. Ausblick
8. Literaturverzeichnis
8.1. Quellen, Korpora, Wörterbücher
8.2. Wissenschaftliche Literatur
Anhang: Liste metonymischer Polysemien bei französischen Verben
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Metonymie und Grammatik: Kontiguitätsphänomene in der französischen Satzsemantik [Reprint 2011 ed.]
 9783110944075, 9783484303850

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Linguistische Arbeiten

385

Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Herbert E. Brekle, Gerhard Heibig, Hans Jürgen Heringer, Heinz Vater und Richard Wiese

Richard Waltereit

Metonymie und Grammatik Kontiguitätsphänomene in der französischen Satzsemantik

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998

Für Edith, Patrick, Robert und dem Andenken Georgs

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Waltereit, Richard: Metonymie und Grammatik: Kontiguitätsphänomene in der französischen Satzsemantik / Richard Waltereit. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Linguistische Arbeiten ; 385) ISBN 3-484-30385-9

ISSN 0344-6727

D 188 FB Neuere Fremdsprachliche Philologien © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Buchbinder: Industriebuchbinderei Nadele, Nehren

Inhalt

Vorwort Typographische Konventionen und Abkürzungen 1. Einleitung: Kontiguität, Metonymien, Frames 1.1. Assoziationen als linguistischer Untersuchungsgegenstand 1.1.1. Was ist Kontiguität? 1.1.2. Assoziationen in der Sprachwissenschaft 1.2. Sprachtheoretische und semantiktheoretische Voraussetzungen 1.2.1. Das Fünfeckmodell des sprachlichen Zeichens 1.2.2. Semantisches und konzeptuelles Wissen 1.2.3. Referentielle Unbestimmtheit als Grundlage metonymischer Übertragungen 1.3. Kontexte der Kontiguitätsbeziehungen 1.3.1. Kontiguität im Syntagma (lexikalische Solidarität) 1.3.2. Kontiguität in einer Diskurstradition 1.3.3. Kontiguität in einem Erfahrungszusammenhang (Frame) l .3.4. Unterschiedlich dichte Frames und unterschiedlich dichte Kontiguitäten 1.4. Kontiguitätstypen 1.4.1. Gibt es Kontiguitätstypen? 1.4.2. Teil-Ganzes-Beziehungen 1.4.3. Behälter-Inhalt-Beziehungen 1.5. Diachrone Dynamik 1.6. Pragmatische Einflußgrößen: Salienz, noteworthiness, hierarchische Eigenschaftsvererbung 1.7. Grenzen der metonymi sehen Übertragung: Aktive Zonen und metonymies integrees 2. Grammatische Prämissen 2.1. Wortsemantik und Satzsemantik 2.2. Ebenen der Satzstruktur und Ebenen der Valenz 2.2.1. Ebenen der Satzstruktur 2.2.2. Valenz und Ebenen der Valenz 2.3. Die informationelle Strukturierung des Satzes 2.3.1. Informationsstruktur und referentielle Verschiebungen 2.3.2. Welche informationsstrukturelle Ebene ist einschlägig für referentielle Verschiebungen? 2.3.3. Topikalität und metonymische Flexibilität: Stichproben aus dem Übersetzungsvergleich

IX XI I l l 3 5 5 7 10 13 13 14 16 18 19 19 22 25 26 29 31 35 35 36 36 38 44 45 45 46

VI

2.3.4. 2.3.5.

Zwei Topiks im Satz Exkurs: Thetische und kategorische Sätze

3. Prädikative Strukturen als Kontiguitätenverbünde 3.1. Frames und Argumentstruktur von Verben 3.1.1. Ereignisschemata und semantische Rollen 3.1.2. Kontiguitätsrelationen auf Rollenebene und auf Besetzungsebene 3.2. Metonymische Verschiebungen in den Aktanten oder im Prädikat? Zur Theorie von Nunberg (1995) 3.3. Vorprädikative syntagmatische Kontiguitätsrelationen 3.3.1. Syntagmatische Kontiguität der Partizipanten als ikonisches Interpretationsprinzip 3.3.2. Signifikantenkontiguität ermöglicht komplexere inhaltliche Relationen. 3.4. Ausblick: Kontiguität, Motivation und Konventionalisierung 4. Verbsemantik I: Lexikalisierte Kontiguitätsphänomene 4. l. Paradigmatische Altemationen: Unterschiedliche Sachverhaltsdarstellungen im selben Frame 4.2. Syntagmatische Alternationen 4.2.1. Lokativaltemationen 4.2.2. Bees are swarming in the garden: Behälter-Inhalt-Kippeffekte auf verschiedenen Ebenen 4.2.3. Auto-Konversen 4.2.3.1. Verben des Besitzwechsels 4.2.3.2. Empfindungsverben 4.2.3.3. Zum Gesamtphänomen der Auto-Konversen 4.3. Symmetrische Verben 4.3.1. Zur Motivation und Diachronie symmetrischer Verben 4.3.2. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der lexikalischen Kausativierbarkeit und der Dichotomie unergativer/unakkusativischer intransitiver Verben? 4.4. Inhärente Reziprozität 4.5. Exkurs: avoir und etre 4.5.1. avoir 4.5.2. etre 4.5.3. Der abstrakteste Unterschied zwischen avoir und etre 4.6. Rollensemantische Beschränkungen kontiguitätsbasierter Referenz 4.6. l. Wörtliche vs. metonymische Interpretation: Zur Relevanz der Selektionsbeschränkungen 4.6.2. Die Funktion der Selektionsbeschränkung [+menschlich] 4.7. Die Sonderstellung des direkten Objekts (I) 4.7.1. Evidenzen für den Primat des direkten Objekts

48 51 53 53 53 55 56 58 59 61 62 63 64 66 67 70 75 76 79 83 84 85

88 91 94 96 98 100 101 102 104 105 105

VII 4.7.2.

Die Sonderrolle des direkten Objekts zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik

106

5. Verbsemantik II: Besetzung von Aktantenrollen 5.1. Reflexivität 5.1.1. Vorüberlegung: Worauf referieren Reflexivpronomina? 5.1.2. Drei Typen anaphorischer Reflexivkonstruktionen 5.1.2.1. Direkt-reflexive Reflexivkonstruktionen 5.1.2.2. Teil-Ganzes-Reflexivkonstruktionen 5.1.2.3. -metonymische Reflexivkonstruktionen 5.1.3. Probleme der Reflexivität in der generativen Bindungstheorie 5.1.3.1. *Jean se preoccupe: Argumentstruktur, type mismatch, oder cs-superiorityl 5.1.3.2. Warum können manche Subjekte von Reflexivkonstruktionen nicht metonymisch besetzt werden? 5.1.4. Lexikalische Pseudoreflexivität 5.1.4.1. Direkt-reflexive Konstruktionen 5.1.4.2. Teil-Ganzes-Konstruktionen 5.1.4.3. -metonymische Konstruktionen 5.1.4.4. Lexikalische Pseudoreflexivität und semantische Transitivität 5.1.4.5. Synchron opake Pseudoreflexiva 5.1.5. Grammatische Pseudoreflexivität 5.2. „Appartenance inalienable" 5.2.1. Externer vs. interner Possessor 5.2.2. Impliziter Possessor 5.2.2.1. Impliziter vs. Externer Possessor 5.2.2.2. Lokalitätsbeschränkungen für den Impliziten Possessor 5.3. Die Sonderstellung des direkten Objekts (II)

109 109 111 116 116 117 119 121

6. Morphosyntaktische Beschränkungen 6.1. Subjekte: Kontiguitätsbeziehungen im Verhältnis Topik-Kommentar 6.1.1. Nichtsegmentierte Subjekte 6.1.2. Segmentierte Subjekte: Ausdrucksseitige Trennung zweier Topiktypen. 6.1.3. Reprise mit ellelil 6.1.4. Reprise mit 6.1.4.1. Zur Semantik des klitischen9a 6.1.4.2. 7 in der Reprisekonstruktion 6.1.4.3. Zur Funktion von ceci in der Reprise 6.1.5. Reprise mit c'est 6.1.5.1. Zur morphologischen Analyse von l ce l c' 6.1.5.2. c'est: Marker einer aggregativenTopic-Comment-Struktur

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VIII 6.1.5.3. Doppelsubjektsätze mit c 'est als Gegengewicht zur hohen Subjektprominenz des Französischen 6.2. Direkte Objekte 6.2.1. Pronominale vs. nominale Objekte 6.2.2. Gibt es einen Akkusativ von klitischem

170 172 173 174

7. Schlußwort 7.1. Rückblick 7.2. Ausblick

177 177 177

8. Literaturverzeichnis 8.1. Quellen, Korpora, Wörterbücher 8.2. Wissenschaftliche Literatur

179 179 180

Anhang: Liste metonymischer Polysemien bei französischen Verben

191

Vorwort Nachdem die Metapher sich bereits seit einiger Zeit als sprachliches und kognitives Prinzip in der linguistischen Forschung großer Beliebtheit erfreut, mehren sich nun auch die Stimmen, die der Metonymie als ihrer traditionell vernachlässigten Schwester ein eigenständiges Interesse einräumen. Die Metonymie ist nicht nur eine Form übertragener Referentialisierung, sondern basiert auf einem fundamentalen Strukturprinzip der Sprache, der Kontiguitätsrelation. Es erscheint daher lohnend, auf Kontiguität basierende Prozesse in unterschiedlichen sprachlichen Bereichen zu untersuchen. In dieser Arbeit werden Aspekte der französischen Satzsemantik unter dem Blickwinkel der Kontiguitätsrelation betrachtet. Das zentrale Anliegen ist, im Bereich der Metonymien und anderer Kontiguitätsrelationen syntaktische und semantische Beschränkungen aufzuspüren, wo bislang allenfalls Restriktionen konzeptueller und pragmatischer Art vermutet wurden. Bevor Kontiguitätsphänomene in der Satzsernantik aufgezeigt werden können, müssen in einem ersten Teil der Arbeit theoretische Grundlagen gelegt werden. In Kap. l wird der Begriff der Kontiguität erläutert und semantiktheoretisch situiert. Kap. 2 umreißt die syntaktischen und semantischen Prämissen, die die Arbeit im weiteren voraussetzt. Kap. 3 erläutert, inwiefern der Satz immer schon ein Kontiguitätenverbund ist. Im Hauptteil werden syntaktische und semantische Beschränkungen für Metonymien und andere Kontiguitätsphänomene in der französischen Satzsernantik untersucht. Die Verbvalenz nimmt dabei eine herausgehobene Stellung ein, da das Verb als Träger der Sachverhaltsdarstellung und Rahmen der Leerstellen den Satz virtuell repräsentiert. Kap. 4 und 5 untersuchen Kontiguitätsrelationen in der semantischen Valenz von Verben. Dabei werden getrennt Phänomene betrachtet, die in der Valenz von Verben lexikalisiert sind, insbesondere verbale Polysemiemuster (Kap. 4), und solche, die an bestimmte konkrete Besetzungen dieser Valenzen gebunden sind (Kap. 5). Die Untersuchung bewegt sich dort also im Kernbereich der Semantik insofern, als sie sich mit der Relation von Inhalten sprachlicher Zeichen zueinander befaßt. Kap. 6 verläßt die Ebene des Valenzträgers und betrachtet Kontiguitätsrelationen auf der Ebene der Aktanten, die in die verbalen Leerstellen eingesetzt werden. Es wird die Eignung der einzelnen grammatischen Funktionen (Subjekt, Objekt usw.) und ihrer jeweiligen ausdrucksseitigen Realisierungen für metonymische Übertragungen untersucht. Hier geht es also um ein spezifisches Verhältnis von Inhalt und Ausdruck der sprachlichen Zeichen. Materialgrundlage dieser Arbeit ist einerseits das Französische Verblexikon von Busse/Dubost ( 1983), dem viele Beispiele zur Konstruktionsweise der französischen Verben entnommen sind, und andererseits eine Auswahl von Korpora gesprochener Sprache: Scherer 1984 (S), Eschmann 1984 (Korpora 1-3) (E), und Ludwig 1988 (Korpora l und 2) (L). Busse/Dubost 1983 diente auch als Grundlage für den Anhang, der metonymische Polysemien französischer Verben auflistet.

Ich möchte allen danken, die zum Zustandekommen dieser Arbeit beigetragen haben. Peter Koch danke ich dafür, mich in die Welt der Kontiguitäten eingeführt zu haben. Er hat die Arbeit auf stets sehr anregende Weise betreut und mir jegliche Unterstützung gegeben. Thomas Kotschi verdanke ich wertvolle Hilfen und Anregungen. Andreas Blank und Paul Gevaudan danke ich für unzählige Diskussionen über die hier verhandelten Themen. Ich danke Peter Blumenthal und seinen Mitherausgebern für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Linguistische Arbeiten und dem Max Niemeyer Verlag für die freundliche verlegerische Betreuung. Für Anregungen, Hinweise und Hilfe verschiedener Art danke ich Gabriele Beck-Busse, Ulrich Detges, Martin Haspelmath, Brigitte Jostes, Ildiko Koch, Markus Krist, Brenda Laca, Genevieve Rakei, Hannes Rieser, Hendrikje Scholl, Hiltrud Schweitzer, Maria Selig, Svetlana Vasina und Beatrice Warren. Ganz besonders danke ich Nicoletta. Tübingen, im Februar 1998

Richard Waltereit

Typographische Konventionen und Abkürzungen In dieser Arbeit werden - neben den allgemein üblichen - die folgenden typographischen Kennzeichnungen und Abkürzungen verwendet: kursiv

KAPITÄLCHEN einfache Anführungszeichen (' ') E1,E2, E3 usw. S, DO, IO N, A, V, ADV NP, PP, VP

objektsprachliches Beispiel Etymon einzelsprachliche Bedeutung Markierung von Aktantenfunktionen nach Kotschi (1981) Subjekt, direktes Objekt, indirektes Objekt Nomen, Adjektiv, Verb, Adverb Nominal- (Verbal-, Präpositional-) Phrase

HOCHGESTELLTE Kennzeichnung

am Wortanfang: D R s REF KSB ASD

BD, RH, LAR; H usw. E, S, L

frz. dt. pt. sp. it. gr. rum. arab. (l996+), (l997+) usw.

Designat semantische Rolle Selektionsbeschränkung Referent Konstitutive S achverhaltsbedingungen Art der Sachverhaltsdarstellung stehen für Wörterbücher oder Quellentexte; die Abkürzungen werden in der Bibliographie aufgelöst Korpus gesprochener Sprache (cf. Bibliographie); im Text wird auf Stellen in den Korpora mit Seitenangabe verwiesen, z.B. E19 = Eschmann (1984:19). französisch deutsch portugiesisch spanisch italienisch griechisch rumänisch arabisch Im Druck befindliche Arbeit, die im angegebenen Jahr entstanden ist

1. Einleitung: Kontiguität, Metonymien, Frames

1.1. Assoziationen als linguistischer Untersuchungsgegenstand 1.1.1. Was ist Kontiguität? Ich möchte einige kleine Beobachtungen an den Anfang stellen: (1) (2) (3)

(4)

Die Äußerung „II aime Proust" wird üblicherweise so verstanden, daß Referent von Proust nicht die Person Marcel Proust, sondern seine Werke sind. Seit fast dreißig Jahren werden in der Syntaxforschung Altemationen wie Henry loaded the truck with hay/Henry loaded hay onto the truck diskutiert. In Konstruktionen wie Michel se confesse, Marie se declare hat man es nicht mit verbes pronominaux zu tun, aber auch nicht mit dem Subjekt strikt koreferenten Reflexivpronomina. Vielmehr referiert das Reflexivpronomen anscheinend auf etwas, das mit dem Subjektsreferenten in einem durch die Verbbedeutung eingegrenzten Erfahrungszusammenhang steht (hier z.B. Sünden, Gefühle). Ein auffälliges Charakteristikum des gesprochenen Französisch ist der oft „laxe" Gebrauch von c 'est, wie etwa in „Nous, c'est la deuxieme maison a gauche". Hier werden nicht zwei Ausdrücke gleichsetzend miteinander identifiziert wie in „Paris est la capitale de la France", sondern indirekt einander zugeordnet.

Diese Sachverhalte scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben. In (1) wird eine Metonymie erklärt. (2) - (4) zeigen verschiedene verb- und satzsemantische Phänomene. Anliegen dieser Arbeit ist es nun zu zeigen, daß der Mechanismus der Metonymie auch für die anderen genannten Beispiele paradigmatisch ist und sich auch für eine Vielzahl weiterer satzsemantischer Erscheinungen als relevantes und erklärungsmächtiges Prinzip erweist. Denn die Beziehung zwischen der Bedeutung des Ausdrucks Proust und dem anvisierten Referenten „Prousts Werke" entspricht in einer bestimmten Hinsicht der Beziehung zwischen den durch to load the truck/to load hay exemplifizierten semantischen Rollen (BehälterInhalt); sie entspricht in der gleichen Hinsicht derjenigen zwischen der Bedeutung des Reflexivpronomens se und seinen tatsächlichen Referenten in (3) (Person-ihre Handlungen und ihre Gefühle); das gleiche gilt für das Pronomen nous in (4) (Person-von ihr bewohntes Haus). Man hat es jedesmal mit Beziehungen der Kontiguität zu tun, einem der klassischen Assoziationstypen. Kontiguität ist die Assoziation, die Zeichen und Referenten aufgrund ihrer spezifischen, in Erfahrungskontexten gegebenen Beziehung einander zuordnet.1 „In Erfahrungskontexten gegeben" bedeutet: In einem adäquaten Kontext läßt die Präsenz des einen Relatums auch das andere erwarten. „Zeichen" sind hier Wörter und ggf. höherrangige Einheiten unterhalb der Satzebene. Wenn ein Wort andere erwarten läßt, kann man in zunächst informeller Redeweise sagen, daß Wörter von kontigen, d.h. erwartbaren, anderen Wörtern virtuell umgeben sind. Diese Charakterisierung der Kontiguitätsrelation ist nur eine erste Annäherung, die ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels zu präzisieren versuche. Cf. Schifko (1979), Raible (1981, bes. 4-15).

Assoziationen sind als Verknüpfungstypen in der Sprachforschung schon lange bekannt. Aus der rhetorischen Figurenlehre kennt man Kontiguität als Grundlage der Metonymie und der Synekdoche (cf. z.B. Lausberg 21963:71f, 77-79 und bes. Fontanier 1968:79-97) und Similarität (Ähnlichkeit) als Grundlage der Metapher. Ein Standardbeispiel für Metonymien ist die Äußerung in (1), hier wiederholt als (5): (5)

II aime Proust

Referent von Proust ist nicht der Schriftsteller dieses Namens, sondern seine Werke. Der Eigenname Proust (der Quellausdruck) referiert nicht auf einen Menschen, sondern auf etwas, das mit diesem Menschen in einem spezifischen Erfahrungskontext steht (den Zielreferenten). Dies ist ein Fall von übertragener Referenz. (Natürlich nicht der einzig mögliche; die Metapher ist wohl der bekannteste andere Typ übertragener Referenz.) Die zunächst triviale Beobachtung, daß Metonymien ein Phänomen der Referenz sind, wird sich als maßgeblich für eine nähere Bestimmung ihrer Rolle und ihrer Funktionsweise herausstellen (cf. 1.2.3.). Anschließend an neuere Versuche, Kontiguität und Similarität als durchgängige Prinzipien lexikalischer Organisation zu begreifen,2 setzt sich diese Arbeit zum Ziel, Probleme der französischen Satzsemantik aus der Perspektive von Kontiguitätsrelationen zu interpretieren. Die Grundfrage ist, welche syntaktischen, semantischen, informationsstrukturellen und pragmatischen Gegebenheiten Kontiguitätsphänomene begünstigen oder beschränken. Stellenweise wird auch die umgekehrte Perspektive Beachtung finden, also die Frage, durch welche Kontiguitätsbeziehungen bestimmte sprachlich-strukturelle Gegebenheiten motiviert sind. Der leitende Gedanke dabei ist, daß die Begleiter von Verben, die Aktanten und ggf. Zirkumstanten, aufgrund ihrer Kookkurrenz im Satz einen Verbund von Kontiguitäten bilden, wodurch in vielfältiger und komplexer Form metonymische Verschiebungen ermöglicht werden. Diese grundsätzliche theoretische Option gibt den Blick frei auf eine neue Sicht vielfältiger Phänomene der französischen (und übereinzelsprachlichen) Semantik. Zum einen kann so eine Reihe linguistischer Probleme, für die in der Forschung wenig befriedigende Lösungsversuche vorgeschlagen wurden, einer neuen Erklärung zugeführt werden. Zum anderen erlaubt diese Option, einige bekannte Phänomene in neuartiger Perspektive zu sehen. Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist das Standardfranzösische der Gegenwart. Die Rekonstruktion von kontiguitätsbedingten Motivationen erfordert jedoch häufig einen Rückgriff auf die Sprachgeschichte. Die Argumentation hat daher notwendigerweise eine gewisse diachrone Tiefe. Es wird aber nicht beansprucht, einen eigenständigen Beitrag zur französischen Sprachgeschichte zu erbringen. Als nötige theoretische Fundierung werden in diesem Einleitungskapitel, nach einem kurzen Überblick über die Geschichte der Assoziationsrelationen in der Linguistik (1.1.2.), sprach- und semantiktheoretische Prämissen erläutert (1.2.), mögliche Kontexte der Kontiguitätsbeziehung diskutiert (1.3.) und Kontiguitätstypen erörtert (1.4.). Die diachrone Dimension metonymischer Übertragungen wird in 1.5. vorgestellt. In 1.6. untersuche ich pragmatische Einflußgrößen auf die Zulässigkeit metonymischer Referenz. 1.7. schließlich behandelt

Cf. Koch (1987, 1991), Blank (1997a).

Grenzfälle von kontiguitätsbasierten Referentialisierungen. In Kap. 2 werden die satzsemantischen Prämissen dieser Arbeit erläutert. 1.1.2. Assoziationen in der Sprachwissenschaft Die Begriffe Similarität und Kontiguität gibt es der Sache nach bereits bei Aristoteles (De memoria, 451 b 16-22). Sie haben jedoch in der Geschichte der Sprachreflexion die unterschiedlichsten Deutungen erfahren.3 In den Dienst genommen wurden beide Begriffe besonders von der (englischen) empiristischen Assoziationsphilosophie und -psychologic. Ohne die einschlägigen Arbeiten von Hobbes, Locke und Hume im einzelnen nachzuzeichnen, kann zusammenfassend gesagt werden, daß Similarität und Kontiguität als im Wortsinne mechanische Verknüpfungsoperationen konzipiert waren, welche die auf den Geist einwirkenden Sinneseindrücke intern reorganisieren konnten. In den Arbeiten der Assoziationspsychologen des 18. und 19. Jahrhunderts, u.a. von David Hartley, Joseph Priestley und Thomas Brown, wurden die Assoziationsprinzipien Similarität und Kontiguität noch wesentlich weiter verfeinert und zu „Assoziationsgesetzen" ausgebaut, die auf eine Vorhersagbarkeit der Assoziationen abzielten. Filiationen der Vorstellung, daß das Leben des Geistes ein mechanisches Operieren mit empirischen Eindrücken sei, lassen sich bis in den Behaviourismus des 20. Jahrhunderts hinein verfolgen (cf. Amin 1973 für eine genauere Darstellung). In der Psychologie und Sprachwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts wurden Assoziationen als Bindeglied zwischen der Sprache und sprachunabhängigen mentalen Repräsentationen gesehen; dafür stehe exemplarisch folgendes Zitat von Leonce Roudet (1921:688): Les idees et les mots forment dans la conscience de chaque individu deux systemes distincts quoique solidaires. D'un cote les images de choses et les idees generates qui sont ä 1'etat latent dans la conscience sont unies les unes aux autres par les liens multiples de l'association par contiguüte et de l'association par ressemblance. D'un autre cote les images verbales, dont 1'ensemble constitue la langue, forment aussi un systeme bien lie. [...] Le Systeme des mots et le Systeme des idees sont interdependants; toute image verbale de mot ou de syntagme est associee a une idee, mais la reciproque n'est pas toujours vraie.

Der in der heutigen Sprachwissenschaft wohl bekannteste Text zum Thema 'Similarität und Kontiguität' ist ein Aufsatz Roman Jakobsons von 1956, „Two aspects of language and two types of aphasic disturbances" (Jakobson 21971). Jakobson interpretiert dort die syntagmatische Achse der Sprache als Kontiguitätszusammenhang und die paradigmatische als Similaritätszusammenhang: „The constituents of a context are in a state of contiguity, while in a substitution set signs are linked by various degrees of similarity which fluctuate between the equivalence of synonyms and the common core of antonyms" (Jakobson 21971:75, Hervorhebungen im Original). Damit werden Similarität und Kontiguität zu Strukturprinzipien der Sprache; sie sind keine außersprachlichen Verknüpfungen mehr wie noch in der Assoziationspsychologie. Jedoch verwässert Jakobson seine eigene Position, indem er Kontiguität in vier So legt Amin (1973:19-38) z.B. dar, daß es unzulässig sei, Aristoteles als „Vater" der Assoziationspsychologie zu vereinnahmen, da die betreffende Stelle aus De memoria sich auf das absichtliche Erinnern bezieht, nicht auf das freie Assoziieren.

teilweise unvereinbaren Bedeutungen verwendet (cf. Seto 1996+): Bei Jakobson gibt es die gebräuchlichen Varianten der syntagmatischen und der semantischen Kontiguität (cf. hierzu unten 1.3.1.); darüber hinaus seien die verschiedenen „Blickwinkel", die die Elemente eines Paradigmas (!) verbinden, durch Kontiguität verbunden und schließlich seien Sprecher und Hörer in räumlicher oder zeitlicher Kontiguität zueinander.4 Similarität und Kontiguität sind also in der Sprache so wichtig, weil sie auf einer fundamentalen Ebene das Sprechen organisieren, nicht etwa weil sie als außersprachliche Kategorisierungsprinzipien in die Sprache „hineinragten" Dies ist der entscheidende Schritt, der Jakobson von den assoziationspsychologischen Arbeiten trennt. Diesem Gedanken wird auch hier gefolgt. Nach Jakobsons Arbeit wurde es in der Semantik wieder vergleichsweise still um Similarität und Kontiguität. Lediglich Ullmann (1964:211-227) knüpft bei der Beschreibung des sprachlichen Bedeutungswandels wieder an diese Begriffe an. Bedeutungswandel beruht für Ullmann immer auf einer Similarität oder Kontiguität von Bedeutungen (senses) oder Zeichenausdrücken (names).5 Die strukturelle Semantik wollte Assoziationen als etwas „Außersprachliches" aus der Linguistik möglichst heraushalten (cf. Coseriu 1973:25). Als „eigentlich sprachlich" gilt der strukturellen Semantik nur das funktioneil Relevante, das oppositiv Distinktive im Sinne des Signifikats (cf. unten 1.2.2.). Dies ist eine für ein bestimmtes Erkenntnisziel (nämlich die differentielle Bedeutungsbestimmung) - aber vielleicht nicht unbedingt generell - gerechtfertigte Reduktion des Untersuchungsgegenstandes Sprache.6 In der Mögliche-Welten-Semantik schließlich spielen Assoziationen praktisch keine Rolle. Die Untersuchungen zur Metonymie von Nunberg (1979) (zu dieser Arbeit cf. genauer unten 1.2.3.) gaben den Anstoß zu der von Bierwisch (1983) initiierten Zwei-Ebenen-Semantik, in der metonymische Phänomene als „konzeptuelle Verschiebung" gefaßt werden. Einige weitere Autoren haben sich mit der Metonymie in linguistischer Perspektive befaßt: Schifko (1979) beschreibt die Metonymie als „universales sprachliches Strukturprinzip" in dem Sinne, daß Kontiguitätsrelationen als pragmatisches Wissen um die Zusammengehörigkeit von Sachverhaltsbeteiligten das Verständnis sprachlicher Äußerungen erst ermöglichen, Syntagmatische Kontiguität: „The constituents of a context are in a state of contiguity" (Jakobson 21971:75); semantische Kontiguität: „Metonymical responses to the same stimulus [sc. hut], such as thatch litter, or poverty, combine and contrast the positional similarity with semantic contiguity" (21971:91); Paradigma: „[A] paradigm (in particular a set of grammatical cases such as he - his - him, or of tenses such as he votes - he voted) present the same semantic content from different points of view associated with each other by contiguity" (21971:87); Sprecher-Hörer: „Whether messages are exchanged or communication proceeds unilaterally form the addresser to the addressee, there must be some kind of contiguity between the participants of any speech event to assure the transmission of the message" (21971:76). - Mounin (1985:41) zieht aus dieser Vielzahl von Verwendungen den Schluß: „Le mot contigu'ite ne veut plus rien dire" (Hervorhebung im Original). Zu einer kritischen Würdigung Ullmanns cf. bes. Blank (1997a:34-44). Die Methode des paradigmatischen Kontrastes zur Ermittlung funktioneller Oppositionen bringt es mit sich, daß die syntagmatische Bedeutungsdimension nur unzureichend erfaßt wird (cf. aber die lexikalischen Solidaritäten, hier 1.3.1.) und daß daher die Bedeutungsbeschreibung in der strukturellen Semantik nur einen Aspekt der sprachlichen Bedeutung erfassen kann. Insofern ist die strukturelle Semantik noch reduktionistischer als es ihr eigener Anspruch verlangen würde. Cf. hierzu Raible (1983:11-13).

da die bedeutungstragenden Elemente der Äußerungen als solche noch nicht diese Zusammengehörigkeit ausdrücken. Raible (1981) zeigt in einem wichtigen Aufsatz, daß Assoziationen keineswegs etwas Individualpsychologisch-Unsystematiscb.es sind (wie man zunächst vermuten könnte), sondern das Lexikon in regelhafter und kohärenter Weise strukturieren. Blumenthal (1983) untersucht assoziative Relationen als poetisches Prinzip in Werbesprache und Lyrik. Koch (1987) beschreibt die Omnipräsenz von Similaritäts- und Kontiguitätsrelationen in so unterschiedlichen sprachlichen Bereichen wie Textphorik, Bedeutungswandel und Verbsemantik. Insbesondere im Bereich des lexikalischen und grammatischen Bedeutungswandels (speziell in der Grammatikalisierungsforschung) sind Similarität und Kontiguität in den 1990er Jahren wieder zu Ehren gekommen. Einschlägig sind hier u.a. die Arbeiten von Koch (1991, 1995), Traugott/König (1991:210-212), Hopper/Traugott (1993:77-87) und Blank(1997a).

1.2. Sprachtheoretische und semantiktheoretische Voraussetzungen Wenn in 1.1.1. informell von sprachlichen Zeichen und Bedeutungen gesprochen wurde, so setzte dies ein bestimmtes Verständnis der Beziehung zwischen dem sprachlichem Zeichen und dem von diesem Zeichen Bezeichneten voraus. Diese Voraussetzungen zu benennen ist Aufgabe dieses Abschnitts. Dies wird in knapper Form geschehen, da ich mich im wesentlichen an in der Literatur bekannte und etablierte Konzeptionen anschließen kann. l .2. l. Das Fünfeckmodell des sprachlichen Zeichens Ich will zunächst die folgenden Ebenen des Sprachlichen zu unterscheiden (cf. Coseriu 3 1994:54-63; Coserius historische Ebene ist hier, Koch (1997a) folgend, noch einmal differenziert in historische Einzelsprachen und Diskurstraditionen): a) Ebene des Sprechens im allgemeinen bzw. der Sprechtätigkeit: universelle, historisch invariante und einzelsprachunabhängige Merkmale des Sprechens als menschlicher Tätigkeit, so das Referieren, die Bedeutungshaftigkeit des Sprechens überhaupt usw. bl) Ebene der historischen Einzelsprache: Historisch-kontingente (lexikalische, grammatische, phonologische) Regeln einer bestimmten Einzelsprache bzw. einer ihrer Varietäten. b2) Ebene der Diskurstraditionen: Kontingente, historisch und kulturell bedingte, jedoch einzelsprachunabhängige Regeln von Diskursgarrungen (Gattungen des Schreibens und des Sprechens, z.B.: Roman, Zeitungsartikel, Liebesbrief; Small-talk, Vorlesung, Predigt usw.; cf. Schlieben-Lange 1983:138ff und bes. Koch 1997a). Die Diskurstraditionen schließen den traditionellen Begriff der Gattungen und Textsorten ein, aber auch die entsprechenden Normen mündlicher Diskurse (Gesprächsformen). Somit vollzieht sich jedes Sprechen und Schreiben in Diskurstraditionen. c) Ebene des Diskurses: Dies ist die Anwendungsebene der anderen Ebenen, die selbst keine eigenen Regeln mehr hat. Regeln verschiedener historischer Einzelsprachen sind in

konkreten Diskursen nur äußerst begrenzt mischbar (Code-switching), Regeln unterschiedlicher Diskurstraditionen hingegen können in Diskursen sehr komplex interagieren. Bezüglich des einzelsprachlichen lexikalischen Zeichens bediene ich mich in dieser Arbeit eines Zeichenmodells mit fünf Instanzen, das in Raible (1983) vorgeschlagen wurde und sich in anderen Arbeiten (Koch 1995, Blank 1997a) bereits als fruchtbar erwiesen hat (grafische Darstellung nach Raible 1983:5):7 (6) signatum (signifie) signum (Zeichen)

signans n (signifiantH

nomen ^— (Lautung)

ir> designatum / (Vorstellung)

Bezeichnung

—^ denotatum (Referent)

Zur Veranschaulichung spiele die Dimensionen dieses Modells an einem frz. Beispiel durch, dem Verb ecrire (dabei werde ich die lateinischen Begriffe Raibles durch griffigere und verbreitetere ersetzen): In seinen Okkurrenzen hat dieses Verb eine jeweilige konkrete Lautung (nomen). Es könnte in einer konkreten, individuellen Äußerung z.B. als [ekRiRg] realisiert werden. Dieser konkreten Lautung ist ein Signifiant oder Zeichenausdruck (signans) als abstrakter Systemwert zugeordnet, also /ekRia/. Der Signifie bzw. das SignifikatIZeicheninhalt (signatum) wird konstituiert durch strukturell-semantisch beschreibbare Inhaltsmerkmale, die paradigmatische Oppositionsbeziehungen eingehen, also z.B. hier [Tätigkeit], [Subjekt Agens] usw. Das Signifikat ist die sprachliche Bedeutung eines Zeichens im engeren Sinne, wie es in der strukturellen Semantik gefaßt wurde. Es ist gewissermaßen eine Liste der einzelsprachlich relevanten Merkmale. Insofern ist das Signifikat eine Größe der linguistischen Analyse. Ebenfalls der Inhaltsseite zugeordnet ist das Designat (Designatum). Es handelt sich um die Vorstellung, die die Sprecher einer Sprache dem jeweiligen Zeichen zuordnen. In 1.2.2. wird die Grenze zwischen Zeicheninhalt und Designat genauer definiert. - In seinen konkreten Verwendungen hat das Zeichen schließlich einen konkreten Referenten (denotatum), d.h. im Beispiel einen Vorgang des Schreibens. Designate und Referenten gibt es allerdings nur bei lexikalischen Wörtern, nicht bei Funktionswörtem (cf. Schwarze 2 1977:49).

Cf. zu weiteren Begründungen dieses Zeichenmodells Koch (1995:35f), Blank (1997a:98-102).

In dieser Arbeit wird häufig ein bestimmtes Phänomen semantischer Ambiguität vorkommen, die Polysemie. Das Fünfeckmodell ermöglicht auf recht einfache Weise ihre Repräsentation. Einem Zeichenausdruck sind zwei (oder mehr) Zeicheninhalte (mit entsprechenden Designaten) zugeordnet. Ohne daß hier eine theoretische Klärung des Begriffs der Polysemie unternommen werden kann, möchte ich das Folgende als Voraussetzungen festhalten: Die Bedeutungen müssen in einer synchron nachvollziehbaren und kontextunabhängigen Beziehung zueinander stehen. Die Paraphrasen polysemer Bedeutungen eines Ausdrucks müssen als miteinander „unvereinbare Präzisierungen" (Pinkai 1985:51) interpretiert werden können, also z.B. ecole im Sinne von 'Schulgebäude' vs. ecole im Sinne von 'Lehrinstitution' Die Erfordernis der synchronen Nachvollziehbarkeit leistet die Abgrenzung zur Homonymie, bei der zwei Bedeutungen nicht als semantisch in irgendeiner Form verbundene Präzisierungen eines Ausdrucks paraphrasiert werden können, sondern zwei Signifikate kontingenterweise den gleichen Signifikanten haben. Die Erfordernis der Kontextunabhängigkeit ist darauf zurückzuführen, daß unterschiedliche Interpretationen eines Zeichens nicht immer durch unterschiedliche Systembedeutungen bedingt sein müssen, sondern auch von ihrem jeweiligen Kontext ausgelöst werden können (z.B. unefeuille blanche vs. unefemme blanche).9 Vielen gegenwärtige Theorien der Polysemie bemühen sich, das Phänomen der Ambiguität zu „reduzieren", z.B. indem versucht wird, Polysemie nur auf der konzeptuellen (Designats-) Ebene zuzulassen und die konzeptuellen Bedeutungen auf eine gemeinsame zugrundeliegende semantische (Signifikats-) Repräsentation zurückzuführen (Bierwisch 1983, Pause/Botz/Egg 1995, Schwarze/Schepping 1995). Demgegenüber wird hier, in Anlehnung an neuere Theorien semantischen Wandels, davon ausgegangen, daß für polyseme Strukturen keine zentrale Bedeutungsinstanz postuliert werden muß, von der die verschiedenen Lesarten abgeleitet wären. Denn Bedeutungswandel kann sich nur vollziehen, indem einer Bedeutung eine andere polysemisch nebengeordnet wird (Koch 1991:283, Blank 1993, 1997a:l 19-125; cf. auch genauer unten 1.5.); daher sind „Bedeutungswandel (diachronischer Aspekt) und Polysemie (synchronischer Aspekt) nur zwei Seiten derselben Medaille" (Koch 1995:28). Es ist also - zumindest für die Zwecke der semantischen Theorie - nicht einzusehen, warum eine von zwei Bedeutungen, die auf einem Lexem repräsentiert sind, immer auf die andere zurückführbar sein sollte. Deswegen ist es auch für eine synchrone Theorie der Polysemie nicht grundsätzlich erforderlich oder auch nur wünschenswert, von einer „zentralen" Bedeutung ausgehen zu müssen. l .2.2. Semantisches und konzeptuelles Wissen Besonders wichtig am obengenannten Zeichenmodell ist die Unterscheidung zwischen Zeicheninhalt und Designat; sie muß daher hier etwas näher ausgeführt werden. Sie entspricht der häufig gemachten Unterscheidung zwischen semantischem (sprachlichem) und enzyklopädiAbgrenzungsprobleme zwischen den einzelnen Stufen semantischer Ambiguität werden hier ignoriert. Cf. zum Phänomen der Polysemie genauer z.B. Blank (1997a:406-424), Schwarze (1995:211-213) und dort zitierte Literatur.

8 schem (Welt-) Wissen. Sie hat auch Affinitäten zur Zwei-Ebenen-Semantik, die eine merkmalsemantisch beschreibbare Ebene der Semantischen Form von einer Konzeptuellen Struktur trennt (Bierwisch 1983). Die Vorstellung einer zweifachen Strukturierung der Semantik erscheint auch in der häufig gemachten Unterscheidung von einzelsprachlicher Bedeutung und außereinzelsprachlichem Konzept (cf. z.B. Rastier 1991). Wie aber sind denn nun genau Signifikat (Zeicheninhalt) und Designat voneinander abzugrenzen?9 Raible (1983) konstruiert das Designat als Vorstellung (und damit als Modell) der dargestellten Wirklichkeit und das Signifikat (sprachliche Bedeutung) wiederum als Modell des Designats: [D]ie 'Vorstellung' [ist] ein erstes Modell der zu bezeichnenden Klasse von Sachverhalten/Dingen. Dieses Modell enthält Merkmale der Klasse von Sachverhalten/Objekten, etwa solchen der Hunde. [...] Die 'Bedeutung' ist dann ein zweites Modell, nämlich ein Modell dieses ersten Modells. Im zweiten Modell werden aus der Menge der intersubjektiv übereinstimmenden Merkmale des ersten Modells erneut einige (im Verhältnis zum Original noch weniger) als relevant gesetzt, und zwar im Sinne der sprachlichen Bedeutung. [...] [D]ie Vorstellungen sind, soweit sie sozial sind, über einzelsprachliche Grenzen hinaus verbindlich, die Einzelsprachen wählen dagegen bei ihrer Modellierung (zweites Modell) jeweils verschiedene Bereiche aus den Vorstellungs-Modellen als Elemente für die Bedeutung (zweites Modell) aus. Raible (1983:3), Hervorhebungen im Original

Das Signifikat ist für Raible also dem Designat nachgeordnet, weil nämlich einzelsprachliche Signifikate immer Reduktionen eines übereinzelsprachlichen Designates seien. So kann Raible dann auch semantische Merkmale des Designats als Elemente der Vorstellung von Semen als minimal-distinktiven Zügen des Signifikats abheben (1983:6). Raibles Gedanke erscheint zunächst plausibel, wenn man Konkreta wie frz. poillcheveu vergleicht mit dt. Haar. Die einzelsprachlichen Bedeutungen erscheinen als unterschiedliche Strukturierungen eines vorgängig gegebenen Wirklichkeitsausschnitts. Trotzdem ist der Gedanke problematisch. Denn wie sieht das Verhältnis von Signifikat und Designat aus bei Wörtern wie z.B. parfois, raison, juridique, deconseillert Wie können die Sprecher Vorstellungen (Designate) zu solchen Wörtern (d.h. Abstrakta) erwerben, wenn nicht über die Sprache? Die sprachliche Bedeutung von Abstrakta kann für den Sprecher keine Reduktion der mit ihnen verbundenen Vorstellung sein. Vielmehr ergeben sich die Vorstellungen, soweit sie sozial sind (das ist Raibles Einschränkung!), erst über eine Kenntnis der sprachlichen Bedeutung. Daher kann bei Abstrakta das Signifikat kein Modell des Designats sein, sondern das Designat ist der sprachlichen Bedeutung nachgeordnet. Nun erscheint ein Modell des sprachlichen Zeichens, in dem für Abstrakta und Konkreta die Abhängigkeitsbeziehung von Designat zu Signifikat jeweils unterschiedlich ist, sicherlich als unpraktisch. Ist es also möglich, auch bei Konkreta die Vorstellung der sprachlichen Bedeutung nachordnen? Wenn man wieder das Begriffspaar poillcheveu betrachtet, so besteht kein zwingender Grund, es als unterschiedliche sprachliche Strukturierung bzw. Modellierung eines Designats DHaar anzusehen. Perzeptuelle Gegebenheiten sprechen nicht dafür, Körperhaar und Kopfhaar einer vorgängig gegebenen Kategorie Ich verwende hier Signifikat, Semem, (sprachliche) Bedeutung und Zeicheninhalt einerseits und Konzept und Designat andererseits synonym.

zuzuordnen: das Körperhaar ist oft weniger lang und weniger dicht als das Kopfhaar. Rein visuell, d.h. noch vor jeder sprachlichen Kategorisierung, machen poil und cheveu einen ganz unterschiedlichen Eindruck. Auch erscheint die Auffassung nicht unplausibel, daß Menschen überhaupt nur dadurch, daß es einen eigenen Begriff dafür gibt, das Haar als etwas vom Körper Getrenntes wahrnehmen. Insofern spricht auch bei Konkreta mehr dafür als dagegen, die Vorstellung der sprachlichen Bedeutung nachzuordnen. Gegenstandskategorien werden erst durch die Sprache hervorgebracht.10 Wäre dies anders, so müßte es ein universales konzeptuelles System, eine lingua mentis, geben, auf dem dann die einzelsprachlichen Bedeutungen aufsetzen. Dieses System müßte alle überhaupt nur möglichen Konzepte umfassen, müßte jede nur denkbare begriffliche Entwicklung schon vorweggenommen haben - die Konzeption sprachlicher Bedeutungen als Reduktionen eines vorgängig gegebenen Wissensbestandes wäre anders nicht haltbar. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß dem so ist. Eine alternative Sicht des Verhältnisses zwischen sprachlichem und enzyklopädischem Wissen schlägt Keller (1995, 1996) vor. Keller nennt die sprachliche Ebene die der Bedeutungen (meanings) und die enzyklopädische die der Konzepte (concepts). Bedeutungen sind für ihn - in Anlehnung an Wittgensteins Philosophische Untersuchungen (Wittgenstein 1989) Gebrauchsregeln der Wörter, die in Referenz- und Prädikationsakten gelernt werden (1995:60-70). Diese Bedeutungskonzeption hat den großen Vorteil, daß die Wortbedeutung nichts Geheimnisvolles ist. Man kann die Gebrauchsregeln der Wörter angeben (cf. die Beispiele in Keller 1995:67f zu dt. aber, Pferd, Mähre). Die Bedeutungen brauchen weder - wie in der kognitiven Semantik - als mentale Repräsentationen noch - wie in der strukturellen Semantik - als semantische Merkmalsstrukturen postuliert zu werden." Die Gebrauchsregeln - so ist zu ergänzen - können Regeln sowohl von historischen Einzelsprachen als auch von Diskurstraditionen sein. Konzepte hingegen sind für Keller „sprachliche Werkzeuge des Denkens" (Keller 1996:7). Wenn Sprecher über bestimmte Worte nachdenken, vergegenwärtigen sie sich üblicherweise nicht ihre Gebrauchsregeln, sondern haben bestimmte Vorstellungen dazu. Das sind die Konzepte. Konzepte ermöglichen den Sprechern, Gegenstände (im weitesten Sinne) zu kategorisieren. Konzepte lassen sich als „Labels" für die Komplexität sprachlicher Erinnerungsprozesse begreifen (cf. hier Anm. 10). Das Konzept ermöglicht den Sprechern, sich die in vielfältigen Situationen erlernten Gebrauchsregeln gewissermaßen etikett10

Cf. z.B. Cassirer (1985:126): „Die Sprache tritt nicht in eine Welt der fertigen gegenständlichen Anschauung ein, um hier zu den gegebenen und klar gegeneinander abgegrenzten Einzeldingen nur noch ihre 'Namen' als rein äußerliche und willkürliche Zeichen hinzuzufügen - sondern sie ist selbst ein Mittel der Gegenstandsbildung, ja sie ist im gewissen Sinn das Mittel, das wichtigste und vorzüglichste Instrument für die Gewinnung und den Aufbau einer reinen 'Gegenstandswelt'" (Hervorhebung im Original). Man beachte, daß Cassirer sich damit nicht bloß gegen einen naiven Realismus wendet, sondern auch die Möglichkeit einer noch vorsprachlichen, aber schon kognitiv kategorisierten Weltwahmehmung ablehnt („die Sprache tritt nicht in eine Welt der fertigen gegenständlichen Anschauung ein"). - Auch Gauger (1970) erkennt in seiner Unterscheidung von „Wortvorstellung" und „Dingvorstellung" (1970:65-88) an, daß die Dingvorstellung durch iterierte hinweisende Definitionen konstituiert wird, d.h. daß ein Ding überhaupt nur durch Sprache zum Ding werden kann. Allerdings lassen sich Sememe auch als eine notationelle Variante von Gebrauchsregeln auffassen. Die Merkmalsanalyse der strukturellen Semantik wäre dann einfach eine spezifische Form der Metasprache.

10

artig zu vergegenwärtigen. Die Konzepte sind sprachlich erworben (Keller 1996:6). Keller (l995:93ff; 1996:8) billigt ihnen aber gegenüber der Sprache soviel Autonomie zu, daß ein Konzept C sich nicht auf die Gebrauchsregeln des Wortes C reduzieren lasse. Dies begründet er damit, daß es für manche Wörter sprachliche Gebrauchsregeln gebe, die nicht mit dem Wissen um das Konzept zusammenhingen. So könne man nicht sagen: „Ich habe eine Zunge in meinem Kopf (sondern nur: „im Mund"). Diese Restriktion ergebe sich nicht aus dem Konzept „Kopf, sondern aus den ihm zugeordneten sprachlichen Gebrauchsregeln.12 Ich übernehme hier den Kellerschen Begriff des Konzeptes und gehe insbesondere davon aus, daß sprachlich formulierbare Gebrauchsregeln auch für das Konzept bzw. Designat zentral sind. Nun läßt sich auch das Verhältnis von Signifikat und Designat präzisieren: Signifikat und Designat stehen für unterschiedliche Modi der Metakommunikation über Wortbedeutungen. Die Repräsentation von Signifikaten als semantische Merkmalsstrukturen (wie in der strukturellen Semantik üblich) ist eine der möglichen Arten, Gebrauchsregeln zu formulieren (indem nämlich Lexeme jeweils minimal distinktiv kontrastiert werden). Signifikate (als Auflistungen von minimal distinktiven Zügen) sind die wichtigsten Elemente der Metasprache in der strukturellen Semantik. Sie repräsentieren diejenigen Aspekte der Zeicheninhalte, die sich in paradigmatischen Abgrenzungen ermitteln lassen. Designate stehen wiederum für die Form, in der Sprecher sich üblicherweise die Bedeutung von Wörtern vergegenwärtigen - sie machen sich Vorstellungen dazu. Diese Vorstellungen können typische Verwendungszusammenhänge des Wortes betreffen, Sachwissen evozieren oder auch (vorwiegend bei Konkreta) perzeptuell sein (cf. Gevaudan 1996:18-20). Insoweit diese Vorstellungen intersubjektiv geteilt werden (d.h. nicht nur private Assoziationen sind), gehören sie zu den Inhalten der Wörter. 1.2.3. Referentielle Unbestimmtheit als Grundlage metonymischer Übertragungen Geoffrey D. Nunberg greift in einem wichtigen Aufsatz (Nunberg 1979) eine Beobachtung von Quine (1969) über eine grundsätzliche Unbestimmtheit der Referenz auf. Man kann plausiblerweise davon ausgehen, daß Ostension (Zeigen) die grundlegende und einfachste Form der Referenz ist, von der andere Formen (definite Beschreibungen) abgeleitet sind. Jedoch kann der Hörer auch bei ostensiver Referenz mithilfe eines Demonstrativpronomens nicht sicher sein, daß der dem Zeigefinger gegenüberliegende Gegenstand tatsächlich der intendierte Referent ist. Denn wenn ich z.B. auf ein Buch zeige und „?a me gene beaucoup" sage, gibt es mehrere durchaus plausible Möglichkeiten, dem Ausdruck eine Interpretation zuzuweisen: 12

Hier ist Keller jedoch nicht ganz konsequent: Wenn man behauptet, daß sich ein Konzept C auf die Gebrauchsregeln des Wortes C reduzieren läßt, so schließt das nicht aus, daß es Gebrauchsregeln des Wortes gibt, die für das Konzept keine Rolle spielen. Man behauptet nur, daß das Konzept aus den Gebrauchsregeln abgeleitet wird - was z.B. auch bedeuten kann, daß bestimmte Gebrauchsregeln in der Absicht formuliert werden, ein Konzept zu schaffen (so bei wissenschaftlichen Definitionen). Wenn Konzepte durch Sprache erlernt werden, so heißt das auch, daß das Umgehen mit Konzepten eine spezifische Form des Sprachgebrauchs ist und daher durch sprachförmige Regeln erlernt werden muß.

11 (7a) es kann das Buch als physischer Gegenstand gemeint sein, wenn es z.B. auf meinen Beinen liegt und ein hohes Gewicht hat; (7b) es kann z.B. ein beschädigter Einband sein, auf den ich den Hörer vorwurfsvoll hinweise, wenn er das Buch von mir ausgeliehen hat und nun zurückgeben will; (7c) es kann die Erfahrung der Lektüre sein; (7d) es kann z.B. der Umstand sein, daß der Autor etwa wegen des brisanten politischen Inhalts dieses Buches aus dem Land gewiesen wurde; usw.

(Welche dieser Interpretationen gewählt wird, hängt nach Nunberg vom sprachlichen und situativen Kontext ab. Auf diese im weiteren Sinne kontextuellen Bedingungen werde ich im Laufe der Arbeit ausgiebig eingehen.) Dieses einfache Beispiel zeigt, daß es auf der Ebene des Sprechens im allgemeinen (cf. oben 1.2.1.) eine unhintergehbare Unbestimmtheit auch in der einfachsten Form des Referenzprozesses gibt, die in der Sprechpraxis für eine pragmatisch bedingte Bezeichnungsvielfalt sorgt und den Sprechern einen Interpretationsaufwand aufnötigt, der neben semantischem Wissen stets auch Annahmen und Erwartungen über die Absichten ihres Gegenübers einbezieht. Bei Referenz mittels defmiter Beschreibungen verkompliziert sich die Sachlage noch. Definite Beschreibungen wie le chapeau lä-bas haben einen identifizierenden, ostensiven Teil (lä-bas) und einen attributiven Teil (chapeau), der den Kreis möglicher Referenten auf die Träger bestimmter, hier durch den Inhalt des Nomens spezifizierter Merkmale einengt (cf. Jacob 1992:305 und dort zitierte Literatur). Nun trifft die referentielle Unbestimmtheit sowohl den identifizierenden als auch den attributiven Teil. IntenR PP dierter Referent kann einerseits der Hut selbst sein oder etwas, was mit dem Hut in einem Erfahrungszusammenhang steht, z.B. der aktuelle Träger dieses Hutes; das ist die auf den ostensiven Teil der definiten Deskription bezogene referentielle Unbestimmtheit. Andererseits kann der intendierte Referent etwas sein, was mit dem DHut als semantischem Gehalt in einem inhaltlichen Zusammenhang steht, so z.B. ein Hutband. Definite Beschreibungen sind also in bezug auf die referentielle Unbestimmtheit abgeleitete Formen der ostensiven Referenz. Die Beispiele (7a-d) legen nahe, daß die referentielle Unbestimmtheit grundsätzlich dreierlei Art sein kann (cf. Nunberg 1979:155): der intendierte Referent kann das Objekt des Zeigens selbst sein (7a); er kann ein Teil des Zeigegegenstands sein (7b); und schließlich kann es sich beim intendierten Referenten um einen Umstand handeln, der mit dem Zeigegegenstand in einem Wissens- oder Erfahrungszusammenhang verknüpft ist (7c-d). Mit anderen Worten, der Referenzvorgang erschließt einen Hof von Kontiguitätsbeziehungen um den Zeigegegenstand bzw. den semantischen Gehalt der definiten Beschreibung; der tatsächliche Referent wird dann nach näher zu bestimmenden Prinzipien aus diesem Hof ausgewählt. Nach Nunberg lassen sich viele Erscheinungsweisen semantischer Ambiguität - die als metonymisch basiert zu identifizieren leichtfällt - auf diese Weise erklären:13 13

Nunberg versucht, semantische Mehrdeutigkeit (Homonymie ausgenommen) generell als Korollar der referentiellen Unbestimmtheit zu fassen. Die so bestimmte Mehrdeutigkeit ist für ihn ein pragmatisches Phänomen, dem auf semantischer Seite nur eine einzige Bedeutung entspricht. Damit weist er sich als Monosemiker aus. (Unglücklicherweise nennt er allerdings die Mehrdeutigkeit „polysemy", womit gerade nicht Polysemie im hier vertretenen Sinne gemeint ist!) Seinem Monosemismus kann nicht gefolgt werden, da es einen Unterschied gibt zwischen einer ad-hoc-Metonymie und einer lexikalisierten neuen Bedeutung (cf. hierzu

12 (8a) (8b) (9a) (9b)

The newspaper weighs five pounds. The newspaper fired John. The chicken pecked the ground. We ate chicken in bean sauce. (Beispiele aus Nunberg 1979:148)

Die beiden Verwendungen von newspaper in (8), 'Zeitungsexemplar' und 'Zeitungsverlag', stehen in einem Wissenszusammenhang: Zur DZeitung gehört üblicherweise, daß sie in mehreren Exemplaren vertrieben und daß sie von einem Verlag produziert wird. Ähnliches gilt vom Huhn: das DHuhn als Speise steht in einem signifikanten Erfahrungszusammenhang mit dem DHuhn als Tierart. Es erscheint dabei plausibel, die Verwendungen von newspaper und chicken in den a)-Beispielen als die zugrundeliegenden zu betrachten und die b)-Beispiele als die im Rahmen der referentiellen Unbestimmtheit abgeleiteten, denn der DZeitungsverlag setzt die DZeitung voraus und die Hühnerspeise das Huhn, aber nicht unbedingt umgekehrt (cf. Nunberg 1979:164-171). Neben den Kontiguitätsbeziehungen kann die referentielle Unbestimmtheit auf eine taxonomische Relation zugreifen, und zwar auf die Beziehung von Exemplar zu Gattung (token/type). Man kann auf einen Apfel zeigen und sagen: (10) That is nature's toothbrush (Nunberg 1979:149)

Das Exemplar des Apfels als Zeigegegenstand scheint im Rahmen referentieller Unbestimmtheit auch das Genus Apfel zu erschließen. Es ist noch unklar, ob die referentielle Unbestimmtheit einen originären Zugang zu bestimmten taxonomischen Beziehungen ermöglicht. In l .4.2. wird die Annahme begründet werden, daß taxonomische Beziehungen metaphorisch als Teil-Ganzes-Beziehungen (und damit als Kontiguitätsbeziehungen) gefaßt werden können; so ließe sich vielleicht das Beispiel (10) erklären. (Das scheint in diesem Fall auch deswegen plausibel, weil die Aussage als ganze - „Zahnbürste der Natur" - schon metaphorisch ist.) Mithin erscheinen die für die Sprache relevanten Kontiguitätsbeziehungen als Folgephänomene der referentiellen Unbestimmtheit.14 Kontiguität ist ein konstitutives Prinzip der Sprache, weil es im Referenzprozeß eine unhintergehbare Unbestimmtheit gibt, die Sprecher und Hörer zwingt, die dem Zeigegegenstand benachbarten Objekte stets mitzubedenken. Mit dieser Konzeption wird zum einen klargestellt, daß Kontiguität als sprachliches Prinzip ein genauer unten 1.5.). Trotzdem ist sowohl für die ad-hoc-Metonymie als auch für die lexikalisierte neue Bedeutung die referentielle Unbestimmtheit die entscheidende Initialzündung. Übrigens kann Similarität, der zweite große Assoziationstyp neben der Kontiguität, anscheinend nicht oder nur viel schwieriger als die Kontiguität von referentieller Unbestimmtheit erschlossen werden. Man würde kaum verstanden werden, wenn man z.B. auf ein Schaf zeigen und sagen würde „Je l'ai vu hier" und damit ausdrücken wollte, daß man einen den Gesprächsteilnehmem als leichtgläubig bekannten Menschen gesehen hat. Nunberg (1979:179f) führt als Grund an, daß es bei der Metapher nicht allein auf die effiziente Identifikation eines Referenten ankomme, sondern daß hierbei stets auch weitere, „affektive" Ziele mit im Spiel seien. Diese Begründung kann zumindest für die Fälle metaphorischer Versprachlichung aus „Ausdrucksnot" (im Gegensatz zur „Ausdrucksdrastik", cf. Bühler 21965:344) nicht überzeugen. Ausdrucksnot liegt z.B. dann vor, wenn für einen neuen Gegenstand eine bündige Bezeichnung gefunden werden soll, wie bei engl. mouse 'Bildschirmzeigegerät' (cf. Koch 1994a:218f). Aber auch hier scheint die referentielle Unbestimmtheit gestört. Man wird nur mit Mühe verstanden werden, wenn man auf eine Computermaus zeigt und sagt: „Ich habe eine Falle [sc. für Hausmäuse] aufgestellt".

13 außersprachliches Korrelat hat. Die referentielle Unbestimmtheit ostensiver Referenz kann die dem Zeigegegenstand physisch benachbarten Objekte bzw. physische Teile des Zeigegegenstandes treffen. Andererseits wird deutlich, daß die Kontiguität durch ein ganz spezifisches und in theoretisch sparsamer Weise zu plausibilisierendes Charakteristikum der Sprechtätigkeit (cf. oben 1.2.1.) in die Sprache „hineinkommt" Die referentielle Unbestimmtheit als Quelle der Kontiguitätsbeziehungen ist eine notwendige Begleiterscheinung des Referierens. Die Rolle der Assoziationen als unabhängiger psychischer Mechanismus, der von außen auf die Sprache einwirkt, wird damit stark relativiert.

l .3. Kontexte der Kontiguitätsbeziehungen Kontiguität ist nun bestimmt worden als Erwartung eines Zeichens durch die Präsenz eines anderen Zeichens. In ganz spezifischer und ausgezeichneter Weise werden Kontiguitätsbeziehungen bei referenzfähigen lexikalischen Ausdrücken wirksam, da - wie in 1.2.3. gesehen der Referenzakt über die referentielle Unbestimmtheit ein eigenes Kontiguitätspotential birgt. Das Kontiguitätspotential einer lexikalischen Einheit kann sich aus ganz verschiedenen Kontexten speisen: es kann sich auf den sprachlichen Kontext beziehen (syntagmatische Kontiguität, cf. 1.3.1.), auf eine bestimmte Diskurstradition (cf. 1.3.2.) und schließlich auf einen Erfahrungs- oder Handlungszusammenhang, einen sog. Frame (I.3.3.). 1.3.1. Kontiguität im Syntagma (lexikalische Solidarität) In der Literatur ist verschiedentlich der unmittelbare sprachliche Kontext (die Syntagmatik) als Domäne von Kontiguitätsbeziehungen diskutiert worden (cf. Jakobson 21971:91, Raible 1981:13f, Blumenthal 1983:75-77). Zwei lexikalische Einheiten sind syntagmatisch kontig, wenn eine der beiden nur oder fast nur in unmittelbarer Nachbarschaft der anderen erscheinen kann: aquilin-nez, aboyer-chien usw. Dies sind die „wesenhaften Bedeutungsbeziehungen" (cf. Porzig 1934) bzw. „lexikalische Solidaritäten" (cf. Coseriu 1978). Als anderes Beispiel syntagmatischer Kontiguität nennt Blumenthal (1983:77) das gemeinsame Vorkommen von z.B.jouer \mdfeu im Sprichwort (jouer avec lefeu). Die syntagmatische Kontiguität ist also eine Kontiguität der Zeichen in dem speziellen Sinne, daß sie eine Kontiguität auch der Signifikanten ist. Diese Kontiguität kann die Form einer Vorkommensimplikation spezifischer Lexeme annehmen (wenn das Adjektiv aquilin auftritt, verlangt es als zugeordneten Kopf nez); es kann sich um eine Vorkommensimplikation einer bestimmten paradigmatischen Klasse15 durch ein bestimmtes Lexem handeln: so selegiert dt. fressen (in der Standardsprache) 15

Mit dem Begriff „paradigmatische Klasse" fasse ich Coserius (1978) Begriffe des Wortfeldes und der Klasse zusammen. Wortfelder sind Paradigmen, deren Wörter in bezug auf jeweils ein Merkmal in Opposition zueinander stehen (z.B. ancien - vieux -jeune - nouveau - neufusw.); Klassen hingegen zeichnen sich dadurch aus, daß ihre Elemente ein ganz bestimmtes Merkmal gemeinsam haben, z.B. [+ menschlich]. Coseriu (1978) unterscheidet die lexikalischen Solidaritäten in bezug darauf, ob die Vorkommensimplikation ein Wortfeld betrifft (dann spricht er von Selektion) oder eine Klasse (das heißt bei ihm Affinität). Ich vernach-

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ein beliebiges Subjekt aus der Klasse der Tiere. Des weiteren kann sie (wie beijouer-feu) die Form einer usuellen Kookkurrenz annehmen. Schließlich hat jede lexikalische Einheit ein gewisses syntagmatisches Kontiguitätspotential, einfach dadurch, daß sie Distributionsbeschränkungen unterworfen ist und daher ihr Gebrauch spezifische Funktionsklassen in ihrer syntaktischen Umgebung erwarten läßt. Diese Aufstellung zeigt, daß syntagmatische Implikationen zwischen Lexemen wie bei aquilin-nez, an die Porzig (1934) bei den „wesenhaften Bedeutungsbeziehungen" dachte, nur den Extremfall syntagmatischer Kontiguität ausmachen. Extremfall insofern, als sowohl auf der syntagmatischen als auch auf der paradigmatischen Achse die Auswahlaltemativen auf Null geschrumpft sind. Syntagmatisch verlangt das Adjektiv aquilin - zumindest in attributiver Verwendung - einen unmittelbar adjazenten Kopf. Paradigmatisch ist aus der Klasse der Köpfe attributiver Adjektive, d.h. typischerweise der Klasse der Substantive, nur die Einheit nez wählbar. Betrifft die syntagmatische Kontiguität eine paradigmatische Klasse, so erweitern sich entsprechend die paradigmatischen Auswahlmöglichkeiten; betrifft sie eine usuelle Kookkurrenz wie im Sprichwort, so kann sich der syntagmatische Abstand erweitern. Trotz des prinzipiell kontinualen Übergangs zwischen den Erscheinungsformen syntagmatischer Kontiguität unter den Gesichtspunkten der Erwartbarkeit und der Anzahl der jeweiligen syntagmatischen und paradigmatischen Alternativen gibt es einen qualitativen Sprung zwischen den lexikalischen Solidaritäten und den usuellen Kookkurrenzen. Lexikalische Solidaritäten sind Merkmale einzelsprachlicher Lexika und an konkrete Einzelsprachen gebunden; usuelle Kookkurrenzen basieren auf einem diskursiven, aus der Sprachverwendung gewonnenem Wissen und sind damit prinzipiell von Einzelsprachen unabhängig. Syntagmatische Kontiguität in diesem Sinne betrachte ich genauer im nächsten Abschnitt 1.3.2. Da lexikalische Solidaritäten als einzelsprachliche Eigenheiten von der Sprechtätigkeit und damit von Referenzakten unabhängig sind, werden sie auch nicht von der referentiellen Unbestimmtheit tangiert. l .3.2. Kontiguität in einer Diskurstradition Im vorigen Abschnitt wurde angedeutet, daß die syntagmatische Kontiguität nicht nur auf lexikalischen Strukturen, sondern auch auf diskursivem Wissen beruhen kann. Ganz deutlich wird dies bei den Diskurstraditionen (Gattungen des Schreibens und Sprechens). Beispiele für Diskurstraditionen sind etwa: Entwicklungsroman, Tragödie, Tischrede, Comic. Diskurstraditionen (und, als deren Bestandteile, Diskursregeln) sind, allgemein gesprochen, Instruktionen für den Sprachgebrauch für einen jeweils spezifischen Verwendungszweck. Sie stellen ein Wissen zur Sprachverwendung bereit, das seinerseits stets in einen bestimmten empraktischen Zusammenhang integriert ist (Koch 1997a:50). Dieses Wissen und der ihm zugeordnete empraktische Zusammenhang liefern einen Bezugsrahmen, in dem referentielle Unbestimmtheiten leicht desambiguiert werden können. So ist in der Diskurstradition des Verkaufsgelässige hier den Unterschied zwischen Wortfeld und Klasse. Im übrigen zeigt Gsell (1983), daß die Abgrenzung in der Praxis sehr schwer zu ziehen ist und insofern auch theoretisch nicht unproblematisch ist.

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sprächs der DKäufer kontig zur Ware; darauf kann sich ein Verkäufer beziehen, wenn er z.B. zu seinem Kollegen sagt: „Voilä ta table" und den Kunden meint, der bei ihm einen Tisch kaufen will. Für den Zuhörer klingt dieser Satz sehr seltsam, weil ihm kein Kontext geläufig ist, in dem sich ein Möbelstück in einer konversationell relevanten Kontiguität zu einem Menschen befindet. Für die Verkäufer hingegen dürfte eine solche Äußerung unproblematisch sein, weil es in einer von ihnen gewohnheitsmäßig praktizierten Diskurstradition üblich ist, Waren deren Käufern zuzuordnen. So wird es mit dem Begriff der Diskurstradition möglich zu präzisieren, auf welche Weise kontiguitätsbasierte Referenz im Rahmen referentieller Unbestimmtheit kontextuell desambiguiert wird. Man kann sich darauf berufen, daß es zu den Diskursregeln der Verkaufsgespräche gehört, daß Waren Käufern zuzuordnen sind, und kann so begründen, warum mit table ein bestimmter Mensch gemeint sein dürfte. In einem Verkaufsgespräch kommen typischerweise Ware und Käufer nah beieinander vor; sie sind insofern syntagmatisch kontig. Ähnliche Zuordnungen metonymischer Referenz aufgrund bestimmter Diskursregeln lassen sich leicht finden: Beispielsatz

Kontiguitätsrelation

Relevante Diskursregel

„George Sand est sur l'etagere de gauche."

Autor-Werk

Auf dem Buchdeckel müssen Buchautor und Titel genannt werden.

(Akademische Mitarbeiterin:) „Ich werde verlängert!"

ArbeitnehmerArbeitsverhältnis

Im Text des Arbeitsvertrages müssen der Arbeitnehmer und die Natur des Arbeitsverhältnisses benannt werden.

(Student:) „Ich bin das Referat von nächster Woche!" „Der Küchenchef (= Gericht in der Mensa der FU Berlin, das als „Empfehlung des Küchenchefs" bezeichnet wird) schmeckt heute echt gut!"

Student-Seminarreferat

Der Dozent hat eine Liste, auf der Seminarthemen Referenten zugeordnet sind.

Speise-Essenskategorie einer Mensa

Auf einer Tafel in der Mensa steht: „Der Küchenchef empfiehlt heute: ...[Name des Gerichts]...

Les projets de Bruxelles inquietent les Britanniques (Le Monde 18.1. 1997)

Regierung-Regierungssitz

Viele Zeitungsartikel - in denen solche Metonymien häufig vorkommen - fangen mit der Nennung des Orts an: „Bonn (dpa). Die Bundesregierung...

(Krankenschwester:) „Das ist ein Bein, und Beine kriegen keine Butter!"16

Patient-behandlungsbedürftiges Körperteil

In der Krankenakte, Krankenblatt usw. werden Name und Krankheit des Patienten erwähnt.

„Ich wähle Nr. 2" (den an Platz Wahlkandidat-Listenplatz Auf dem Stimmzettel müssen den einzelnen 2 plazierten Kandidaten für Kandidaten Listenplätze zugeordnet werden. eine Wahl)

Für viele metonymische Übertragungen fällt es leicht, konkrete Texte oder Äußerungen zu finden, in denen Quellausdruck und ein dem Zielreferenten entsprechender Ausdruck benachbart oder nah beieinander stehen. Dies sind oft ganz einfache sprachliche Produkte, wie z.B. Buchdeckel oder Speisekarten. Trotz seiner Einfachheit ist jedoch auch der Buchdeckel be16

Ongmaläußerung einer Krankenschwester, zitiert in einem Artikel über den unfreundlichen Umgang des Krankenhauspersonals mit Patienten, Hamburger Abendblatt 17.2.1995.

16

stimmten kulturspezifischen Regeln unterworfen, die man nur als Gattungszwänge, d.h. Diskursregeln, bezeichnen kann. In der Diskurstradition „Buchdeckel" müssen Autor und Titel in unmittelbarer Nachbarschaft stehen. Diese syntagmatische Kontiguität ermöglicht die Desambiguierung der metonymischen Übertragung. Ähnlich scheint das Beispiel „Ich bin das Referat von nächster Woche" zu funktionieren. Der Student bezieht sich auf eine listenartige Zuordnung von Namen und Referatthemen, die zur Diskurstradition der universitären Lehre gehört. Der Listeneintrag ist intern syntagmatisch gegliedert und bietet daher auch ein Kontiguitätspotential. In diesem Sinne scheint die Auffassung plausibel, daß die für Metonymien relevanten Kontiguitäten häufig Nachbarschaften in der Rede sind und daß das Wissen, das zur Auflösung der metonymischen Referenz benötigt wird, ein Wissen um spezifische Diskursregeln und -traditionen sein kann.17 1.3.3. Kontiguität in einem Erfahrungszusammenhang (Frame) Häufig kann der Kontext, in dem eine referentielle Unbestimmtheit desambiguiert wird, nicht unabhängig (mithilfe einer Diskursregel) definiert werden. So wäre es im Falle vieler indirekter Anaphern (Defmita ohne Vorerwähnung) wohl übertrieben, eine Diskursregel als Grundlage der kontiguitätsbedingten Referenz anzunehmen: (11) Jean entra dans un restaurant. La ports s'ouvrait facilement.

Daß ein DRestaurant und seine DEingangstür kontig sind, ist nicht in einer Diskursregel festgehalten, sondern ist ein Erfahrungswert, der nicht allein aus sprachlichem oder auch nur sprachbezogenem Wissen rührt. In der Künstliche-Intelligenz-Forschung und in der Kognitiven Linguistik ist viel Mühe darauf verwandt worden, mit dem Begriff des Frame ein allgemeines Modell für solche Erfahrungszusammenhänge zu explizieren.18 Für Minsky (1975:215) ist ein Frame eine verzweigte „Datenstruktur" von Wissenselementen, deren Endpunkte (terminale Knoten) Sinneseindrücke aufnehmen können und so gerade aktuelle Probleme lösen bzw. die jeweilige Umwelt betreffende Entscheidungen bearbeiten können. Barsalou (1992) beschreibt Frames als Verknüpfungen von in ihrem Wert variablen Attributen. So bestehe der Frame des „Autos" u.a. aus den Attributen „Motor", „Kraftstoff', „Räder"; diese könnten respektive z.B. die Werte Vierzylinder/Sechszylinder, Benzin/Diesel, Stahl/Leichtmetall annehmen. Ein typisches Beispiel für einen Frame ist z.B. der schon erwähnte „Restaurantbesuch".19 Zu einem Restaurantbesuch gehört ein stereotypes Set von Handlungen, also z.B. Türöffnen, Tisch suchen, evtl. Garderobe abgeben, Speisekarte entgegennehmen usw. Bei der narrativen 17

18

19

Auch Le Guern (1973:23-28) definiert die Metonymie als syntagmatisches Phänomen. Er greift aber zu kurz, wenn er sie stets als Ellipse auffaßt. Für ihn wäre un Picasso eine Ellipse von une toile de Picasso. Dies ist unplausibel, denn gerade bei den „spontanen" Metonymien ist die „Vollform", auf die sich die Ellipse bezieht, kaum nachzuweisen. Cf. Minsky (1975), Fillmore (1976, 1977b), Tannen (1979), Brachman/Schmolze (1985), Barsalou (1992), Croft (1993), Konerding (1993), Koch (1996+, 1997b), Blank (1997b). Cf. Schank/Abelson (1977:42-46).

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Reproduktion solcher standardisierter Szenen zeigen insbesondere die indirekten Anaphern, daß die Erwähnung eines Elements im Frame ein anderes sofort definit abrufbar macht (cf. Tannen 1979:141): (12) Jean entra dans un restaurant. La porte s'ouvrait facilement. Apres s'etre assis ä la seule table libre, il attendit le ga^on. Celui-ci lui apporta aussitot le menu. Jean choisit son plat et regarda les gens autour de lui (etc.).

Sprecher und Hörer haben ein gemeinsames Wissen um die Details des Restaurantbesuchs; sie brauchen sich dieser nicht eigens zu vergewissem, sondern können davon ausgehen, daß die Standardszene des Restaurantbesuchs beiden bekannt ist. Doch ist dieses Wissen wirklich eine riesige „Datenstruktur" mit vorgegebenen Verzweigungen und definierten terminalen Knoten, die den Kontakt zur Umwelt herstellen bzw. selbst wieder Sub-Frames einbetten können? Ist das nicht ein viel zu unflexibles Modell der Orientierung in Situationen? Für die Alltagspraxis scheint es doch nicht maßgeblich, stereotypisierte Handlungen reproduzieren zu können, sondern im Gegenteil, Situationen zu bewältigen, in denen die Handlungsoptionen sich nicht aus vorgegebenen Instruktionen oder auch nur EntscheidungsVerzweigungen ableiten lassen. Wenn das Frame-Konzept für eine Theorie Künstlicher Intelligenz insofern paradigmatisch sein soll, als Problemlösungsstrategien auf dem Abarbeiten von Frames beruhen, dann kann die prinzipielle Unendlichkeit möglicher „Probleme" nur so integriert werden, daß für jedes mögliche Problem eine vorgängige Verknüpfung zwischen Frames oder eine rekursive Einbettung von „Subframes" in „Superframes" (cf. Minsky 1975:212) vorgesehen wird, was natürlich zu einer grenzenlosen Expansion des Frame-Verknüpfungssystems fuhren muß. Diesem Dilemma wird in der Frame-Theorie manchmal dadurch ausgewichen, daß auf den „provisorischen Charakter" der Theorie, die „vielen noch zu leistenden Arbeiten" etc. verwiesen wird (cf. z.B. Minsky 1975:213, Fillmore 1977b:79). Zu denken geben sollte auch, daß die in den Arbeiten von Minsky und Fillmore als nötig erachteten Folgeuntersuchungen heute, zwanzig Jahre später, offenbar immer noch nicht erbracht worden sind und die Theorie immer noch in ihrem anfänglichen provisorischen Stadium steckt.20 Um die ganze Komplexität menschlicher Erfahrungszusammenhänge abbilden zu können, müßte eine Frame-Theorie wohl auf eine verbindliche Kenntnis der Struktur kognitiver Vorgänge zurückgreifen können. Dies ist zur Zeit anscheinend kaum möglich. Daher erscheint es verantwortbar, auf ein detailliertes Modell der internen Strukturierung von Frames zu verzichten und sich mit der intuitiv plausiblen Annahme zu begnügen, daß auch Erfahrungszusammenhänge ein wichtiges Prinzip der Wissensorganisation sind und insofern ein Umfeld liefern können, in dem referentielle Unbestimmtheiten desambiguiert werden können. Frames als Erfahrungszusammenhänge sind Kontiguitätenverbünde (Koch 1993c:269f, 1996+). Das Organisationsprinzip, das die einzelnen Elemente des Frames „zusammenhält", ist die Kontiguität: Im Rahmen des „Restaurantbesuchs" ist der Kellner kontig zum Gast, dieser wiederum zur gewählten Speise, die wiederum kontig zur Speisekarte ist usw. Kontiguitätsbeziehungen sind das Organisationsprinzip der Mikroebene, der Frame ist die Entität der Makroebene.

20

Diese ernüchternde Diagnose stellt auch Konerding (1993:81).

18

l .3.4. Unterschiedlich stabile Frames und unterschiedlich stabile Kontiguitäten Der Frame-Begriff gewinnt erheblich an Erklärungskraft, wenn er dynamisiert wird. Zentral für das hier vertretene Verständnis von „Frame" ist die Grundannahme, daß die Verknüpfung zwischen zwei Elementen eines Frames unterschiedlich stabil (dicht) sein kann. Bestimmte Kontiguitäten sind stabiler als andere, weil die Verknüpfung eher erwartet wird. Ein Frame, der entsprechend aus vorwiegend stabilen Kontiguitätsrelationen konstituiert wird, ist dann insgesamt stabiler als ein anderer Frame, der aus lediglich loseren Verbindungen besteht.21 Ein Beispiel für einen ganz besonders dichten Frame (wahrscheinlich der dichteste überhaupt) ist derjenige der Relationen zwischen Teilen des menschlichen Körpers. Der Kontiguitätenverbund zwischen dem Körper und seinen Teilen ist ganz offensichtlich historisch und kulturell weitgehend invariant.22 Er ist daher wie kein anderer sprachlich nutzbar. In Kap. 5.2. wird gezeigt werden, wie der menschliche Körper wie kein anderer Bereich zum Ausdruck von Relationen des „unveräußerlichen Besitzes"23 geeignet ist. Ein Beispiel: (13a) Son fils, Jean lui lave les pieds. (13b) *Sa voiture, Jean lui lave le toil.

Obwohl die Syntax beider Sätze genau gleich ist und zwischen dem REFSohn und seinen REF Füßen eine prinzipiell ähnliche Teil-Ganzes-Relation besteht wie zwischen dem R£FAuto und seinem REFDach, ist nur (13a) akzeptabel. Man kann nun ohne weitere Begründung stipulieren, daß im ersten Satz eine Relation unveräußerlichen Besitzes vorliegt, im zweiten nicht. Man kann den Kontrast aber auch dadurch erklären, daß die Kontiguitätsrelation zwischen dem Körper und den Füßen eine historisch viel ältere und daher auch erwartbarere, dichtere Kontigui tat ist als die zwischen dem Auto und seinem Dach. In Kap. 5.2. wird sich bestätigen, daß „markierte" Konstruktionen wie die des Pertinenzdativs um so eher möglich sind, je „körpernäher" die beteiligten Relata sind.24 Ein weniger dichter Frame ist z.B. der in (12) erwähnte Restaurantbesuch. Auch dort sind ohne Vorerwähnung bestimmte Elemente definit abrufbar (Speisekarte, Kellner usw.), aber der Wissenszusammenhang, auf dem diese indirekten Anaphern operieren, ist natürlich wesentlich labiler als der um den menschlichen Körper. Die stereotypen Handlungen im Restaurant erfordern ein sehr kultur- und epochenspezifisches Wissen, das auch bei den Sprechern des heutigen Französisch längst nicht so weit verbreitet sein dürfte wie das über den Körper.

21

24

Auch Harweg (1968:192-197) berücksichtigt für seine textlinguistische Untersuchung unterschiedliche Stärkegrade von Kontiguität. Dabei können sich die Bezeichnungen der Körperteile natürlich verändern und die sprachlichen Grenzen zwischen Rumpf/Gliedmaßen usw. können verschoben werden. Cf. Blank (1997a:238-240) für Beispiele aus der romanischen Sprachgeschichte. Man beachte, daß der herkömmliche Ausdruck „unveräußerlicher Besitz" übersetzbar ist als „unauflösbare Kontiguität" und damit eine besonders dichte Kontiguität anzeigt. Die Grenze des Frames „menschlicher Körper" ist jedoch keine anthropologische Konstante, sondern variabel. Denn die sphere personnelle ist je nach Kulturgemeinschaft ganz unterschiedlich gestaltet: Im Sierra Popoluca (Mixe-Zoque, Mexiko) können z.B. auch einer Person zugeordnete Nahrungsmittel als „unveräußerlicher Besitz" kodiert werden, nicht nur Körperteile. Cf. Blake (1984:437).

19

Insofern sind die hier relevanten Kontiguitäten aus der Sicht eines Sprechers bei seinem Hörer längst nicht so erwartbar wie die bei den sehr dichten Frames. Das Extrembeispiel eines labilen Frame könnte z.B. eine bestimmte Stellung in einer Schachpartie sein. Wenn die Spieler darüber sprechen, werden sie dies in aller Regel auch in einer Weise tun, die nur verständlich ist für diejenigen, die die Konfiguration auch einsehen können, d.h. normalerweise nur sie selbst (z.B. „il faut deplacer le pion" - welchen Bauern, und wovon und wohin wegnehmen?). Beim Sprechen nutzen sie also Kontiguitäten aus, die in der jeweiligen Situation vorhanden sind, die aber außerhalb des lokalen Rahmens - nämlich dem ihres jeweiligen Gesprächsstandes - keinerlei Bedeutung haben und auch nur in diesem lokalen Rahmen intersubjektiv verfügbar sind.25 Wenn man davon ausgeht, daß Frames unterschiedlich stabil sein können, so müssen konsequenterweise das untere Extrem der Stabilitätsskala die Elemente der Kommunikationssituation selbst sein.

1.4. Kontiguitätstypen 1.4.1. Gibt es Kontiguitätstypen? Aus dem prinzipiell erlernten Charakter sachlicher Näherelationen resultiert, daß Kontiguitätsrelationen unterschiedliche Formen annehmen können. In der Literatur werden als mögliche Typen von Relationen genannt: Teil-Ganzes, Behälter-Inhalt, Agens-Actio usw.26 Diese Typen erscheinen zwar in den meisten Inventaren von Kontiguitätsrelationen, andererseits scheint in der Forschung keine Einigkeit darüber zu bestehen, welche Relationen überhaupt als Kontiguitätstypen anerkannt werden sollen. Es genügt, die in der Literatur genannten Typologien gegenüberzustellen, um die Problematik (um nicht zu sagen: Beliebigkeit) solcher Auflistungen zu erkennen (in meiner Synopse fungiert als Referenz die sehr differenzierte Typologie von Bonhomme 1987, mit Beispielen von Bonhomme 1987:60-70, außer bei der Synekdoche und der Metonymie passion-object of passion):

25

26

Es scheint eine bestimmte Korrelation zwischen in der jeweiligen Situation genutzten Framedichte und dem Maß kommunikativer Distanz zu existieren, insofern als nämlich die sinnvolle und erfolgreiche Verwendung labiler Frames zur Situationseinbindung von Rede beiträgt und somit zumindest bezüglich dieses Parameters (aber nicht unbedingt insgesamt) die Kommunikationssituation als nähesprachlich markiert (cf. Koch/Oesterreicher 1990:8-10). Cf. z.B. für beispielhafte Auflistungen von Kontiguitätstypen Schifko (1979:241f, 245f), Raible (1981:25), Koch (1991:284), Blank (1997a:251-253). Diese Autoren listen an den genannten Stellen in der von ihnen rezipierten Literatur genannte Kontiguitätstypen auf, ohne damit auf theoretischer Ebene zu beanspruchen, alle denkbaren Typen erfaßt zu haben.

20 (14)

Fontanier 1968 [1830]

Schifko 1979

Le Guern 1973

Bredin 1984

Zeit

time-object in time

Bonhomme 1987 Metonymies situatives: de la concomitance temporelle

-> douze lunes 'zw lf Monate' (Bonhomme 1987:61 ) Nous void dans ce petit rez-de-chau ssoe (L. Aragon) Taillebouctin tailloit boudins (F. Rabelais) avoir) war 'in den Händen halten' Die späteren Bedeutungsvarianten können als Erweiterung einer prototypischen Kembedeutung angesehen werden (cf. Koch 1995:30). Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, daß die Teil-Ganzes-Beziehung eine besonders dichte Kontiguität ist (cf. oben 1.3.4., 1.4.2.).

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daß die Figur überhaupt existiert. Sekundär kann in die Funktion des „Grunds" auch ein Ortsadverbial eintreten, das dann das Objekt von y avoir räumlich situiert - cf. (79a). Ich halte also zusammenfassend fest, daß avoir allgemein eine Kontiguitätsbeziehung zwischen Subjekt und Objekt etabliert; die einzelnen Bedeutungen des Verbs lassen sich daraus inferentiell herleiten.55 Referenzpunkt dieser Kontiguitätsbeziehung ist immer das Subjekt. 4.5.2. etre Es gibt eine linguistische Tradition, etre als Gegenstück zu avoir zu beschreiben,56 wenn nicht sogar diese beiden Verben aufeinander zu reduzieren (Freeze 1992, Hoekstra 1994). Etre l£QR I^QR und avoir belegen den Inhaltsraum, der oben mit den Domänen Existenz, Verfügung, KSB Örtliches Befinden und Befinden charakterisiert wurde. Das französische Verb etre ist insofern noch vielgestaltiger als avoir, als es nämlich für alle diese Inhaltsdomänen stehen kann (cf. oben (77a)-(80)). Wie bei avoir betrachte ich dies nicht als ein Resultat polysemischer Aufspaltung des Verbs, sondern als Kontextvarianten einer einzigen Bedeutung. Diese Bedeutung ist auch bei etre die der Kontiguitätsstiftung in einer Referenzpunktkonstruktion. Der Unterschied zu avoir ist jedoch, daß das Subjekt nicht Referenzpunkt, sondern Target der Kontiguitätsbeziehung ist. An den folgenden Beispielen möchte ich die KontiguitätsVermittlungsfunktion von etre zeigen (die relevanten Stellen sind kursiv gesetzt): KSB

Existenz: (87) Je sais enfin queje suis. (Sartre, Le Sursis, p. 320, cit. RE s.v.) KSB Verfügung: (88) Les Altesses ä quije suis seront informees de tout ce que vous avez fait pour moi (...) (La Bruyere, Lettre ä Bussy, 9 dec. 1691, cit. RE s.v.) "^Örtliches Befinden: (89) (...) nous sommes sur une hauteur et nous serons en butte ä tous les coups. (A. Jarry, Ubu roi, IV, 3. cit. RE s.v.) Befinden: (90) J'entends bien que dans l'esprit du jeune ambitieux cela signifie: «etre l 'equivalent de Proust» ...) (F. Mauriac, Bloc-notes 1952-1957, p. 251, cit. RE s.v.)

55

56

Diese Analyse könnte insofern als Widerspruch zu meinem oben in 1.2.1. ausgesprochenen Bekenntnis zur Polysemie gedeutet werden, als hier eine Vielfalt von semantischen Effekten nicht auf eigenständige Systembedeutungen, sondern auf kontextuell deteminierte Varianten einer einzigen Bedeutung zurückgeführt wird. Auch für den Polysemiker gibt es aber Kontextvarianten (cf. Blank 1997a:413-419). Eine Vielfalt semantischer Effekte als Kontextvarianz zu erklären scheint mir gerade dann von Vorteil, wenn diese Effekte sich kompositional aus der angenommenen Grundbedeutung und der Bedeutung kookkurrenter anderer Elemente herleiten lassen - was bei avoir der Fall zu sein scheint. Man kann dem Monosemismus vorwerfen, diachronisch nicht anschlußfähig zu sein, denn alle historischen Bedeutungsvarianten einer Form müßten ja in der Grundbedeutung schon angelegt sein (Koch 1996+). Die hier skizzierte Analyse von avoir kann einem solchen Vorwurf jedoch antworten, daß der Grundwert von avoir als „Kontiguitätsvermittlung" ja erst in einem bestimmten historischen Stadium erreicht wird und damit auch selbst Ergebnis eines semantischen Wandels ist. Die Bedeutungsvielfalt von avoir stellt sich in dem Moment ein, wo dieses Verb nicht mehr nur auf die KSBVerfügung im Sinne des Besitzes festgelegt ist. Cf. z.B. Lyons (1967), Clark (1978), Freeze (1992), Koch (1993b), Hoekstra (1994).

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Auch etre ist ein Verb, dessen primäre Funktion die der Kontiguitätsvermittlung ist. Es wird eine syntagmatische Relation hergestellt zwischen dem Subjekt und einem weiteren Satzglied, und zwar die einfachst mögliche. Daß es die einfachst mögliche ist, ist leicht dadurch zu plausibilisieren, daß es in vielen Sprachen der Welt gar keine Kopula gibt (vor Adjektivprädikaten z.B. auch in den französisch-basierten Kreolsprachen, cf. Holm 1988:175). Das Subjekt und ein weiteres Satzglied sind dort syntagmatisch unmittelbar adjazent, also kontig zueinander; die Semantik des Kopulasatzes (Markierung von Kontiguität) ist gewissermaßen nur die Übersetzung dieser Ausdrucksstruktur (cf. auch oben 3.2.1.). Welcher Form die Kontiguitätsvermittlung ist, hängt von dem weiteren Satzglied ab; das wird im folgenden veranschaulicht werden. Zunächst zu etre als Vollverb der Existenz (87): Dort gibt es kein weiteres Satzglied, das zum Subjekt kontig sein könnte. Das Subjekt hängt gewissermaßen in der Luft; wenn es nichts gibt, zu dem es als kontig prädiziert wird, bleibt nur übrig, daß es überhaupt existiert. So ist es in seiner Funktion als gesättigtes Prädikat beschreibbar. Die Kombination dieser Funktion mit einem anderen Satzglied ergibt seine spezifischen anderen Funktionen als Verfügungsverb (88) und Verb des örtlichen Befindens (89). Warum hat etre a qn die Bedeutung 'Verfügung'? Dies ist anscheinend leicht kompositional zu erklären. Der E3-Aktant hat eine Benefaktivfunktion und trägt insofern zum semantischen Gesamtgehalt des Prädikats bei, als Verfügung auch eine Begünstigung des Verfügungsberechtigten impliziert. Die Kombination von KSBExistenz und der Benefaktivfunktion des E3-Aktanten ergibt die Verfügungsbedeutung. Es ist also nicht so, daß etre ä qn allein aufgrund einer inhaltlichen Kontiguität von Verfügung und einer anderen Domäne aus dem Bereich von Haben und Sein diese Bedeutung hat, sondern diese Bedeutung ist offensichtlich aus der Grundbedeutung von etre und einem damit kombinierten Element aufgebaut. Die Bedeutung von etre ä qn ist nicht die gleiche wie die von avoir, sondern sie ist auf die Verfügung im Sinne einer besitzmäßigen Dispositionsmacht eingeschränkt: ts CD

VCD

(9la) (91b) (92a) (92b) (93a) (93b)

C'est moi qui ai l'ordinateur. L'ordinateur est ä moi. II a deux freres. ??Deux freres sont ä lui. L'arbre a beaucoup de branches. ??Beaucoup de branches sont l'arbre.

Nur in dem von avoir abgedeckten Bedeutungsteilbereich, in dem dies Verb ein Verb der K ^R Verfügung ist und der insofern auch eine Begünstigung des Verfügungsberechtigten impliziert, sind avoir und etre a zueinander konvers (cf. Koch (1981:267-271; 341 f),57 cf. auch oben 4.2.3.1.). Dies wiederum läßt sich nur so erklären, daß es die Benefaktivfunktion des E3Aktanten von etre a ist, die für die Verfügungsbedeutung dieses Verbs verantwortlich ist. Sie läßt sich daher leichter als syntaktisch und satzsemantisch erzeugte Kontextvariante einer Grundbedeutung von etre beschreiben denn als eigene polysemische Bedeutung dieses

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Koch 1981 nennt die informationsstrukturellen Unterschiede zwischen etre a qn und avoir, die ich hier jedoch nicht berücksichtigt habe.

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Lexems. Wie will man sonst erklären, daß avoir eine Vielzahl von semantischen Nuancen aufweist, die nicht zur Verfügung gehören, etre ä hingegen kein solches Panorama hat? Ist das weitere Satzglied ein Benefaktivargument, so ergibt sich eine KSBVerfügungsBedeutung, wie gezeigt. Ist es ein Ortsadverbial, so ergibt sich die Bedeutung des K Örtlichen Befindens, wie in (79a/b) oder (89). Für die Kompositionalität der Bedeutung spricht, daß sie mit dem Ortsadverbial ein Element enthält, das örtliches Befinden markiert. DÖrtliches Befinden ist also nicht per se semantisch kontig zu DVerfügung oder Existenz. Die Tatsache, daß diese unterschiedlichen Funktionen von demselben Lexem ausgedrückt werden können, deutet nicht etwa auf eine Polysemie des Lexems, sondern läßt sich kompositional herleiten derart, daß die Kombination von bedeutungskonstantem etre und einem weiteren Satzglied ein gewisses semantisch.es Spektrum zuläßt. Auch hier spricht also viel für eine nichtpolysemische Interpretation. So läßt sich auch die letzte hier zu besprechende Funktion von etre beschreiben, die des Befindens - cf. Beispiele (80), (90). Koch (1981:275, 1993b:178f) beschreibt Befinden als eine eigene KSB-Dimension. Detges (1996:132, Anm.) möchte demgegenüber den semantischen Effekt, der etre in Nominal- und Adjektivprädikaten zukommt, der Kopulafunktion unterordnen. Hier ist Detges zu folgen, denn der semantische Effekt des Sich-so-und-soBefindens ist stark abhängig von dem jeweils gewählten Prädikatsadjektiv oder -nomen (und kann daher nur wenig mit etre selbst zu tun haben): (94a) (94b) (94c) (94d)

Michel est malade. Michel est enrage. Michel est tres intelligent. Michel est employe de la Poste.

Die Beispiele (94a/b) drücken Sachverhalte des Befindens aus, weil auch die in ihnen enthaltenen Prädikatsadjektive typischerweise nur vorübergehende Zustände ausdrücken. Die Beispiele (94c/d) hingegen drücken typischerweise dauerhafte Zustände aus und man kann daher nicht sagen, daß sie einer Befinden angehörten in dem Sinne, daß es für sie konstitutiv wäre, systematisch auf ein „Befinden" bezogen zu sein (cf. zur KSBBefinden Koch 1981:264). Der semantische Effekt des „Befindens" hat daher seinen Ausgang nicht in etre als verbalem Semem. Die Paraphrasierbarkeit als ein so-und-so-Befinden z.B. in (94a/b) ergibt sich vielmehr kompositional aus der Semantik des Prädikatsadjektivs und der kontiguitätsmarkierenden Grundbedeutung von etre. 4.5.3. Der abstrakteste Unterschied zwischen avoir und etre Ich gehe hier also davon aus, daß sowohl avoir als auch etre die Funktion haben, Kontiguitäten zwischen zwei Satzgliedern auszudrücken, und daß die Varianten des semantischen Raums von Haben und Sein aus dieser Grundbedeutung abgeleitet werden müssen. Die allgemeine Funktion der Kontiguitätsstiftung ist auch an Verwendungsweisen ersichtlich, die sich keiner der genannten vier Domänen zuordnen lassen:

101 (95) (fr. populaire) Je ne suis pas tres informatique 'Ich kann mit Computern nicht viel anfangen' (96) On a eu des orages pendant le week-end.

Insofern beide Verben die Aufgabe haben, eine Kontiguitätsbeziehung zu markieren, können sie auch den Referenzpunkt-Konstruktionen (cf. Langacker 1993 und oben) zugerechnet werden. Was ist aber der Unterschied zwischen beiden Verben? Der Unterschied scheint die zueinander komplementäre Ausrichtung der Referenzpunkte zu sein. Avoir hat als Referenzpunkt immer das Subjekt (cf. oben 4.5.1.). Bei etre hingegen scheint das Subjekt das Target zu sein. Langacker (1993:9) spricht davon, daß ein Ganzes stets Referenzpunkt für seine Teile ist. Auch Possessionsverhältnisse sind ein Beispiel für Referenzpunktkonstruktionen, wobei der Possessor stets Referenzpunkt und das Possessum Target sei (Langacker 1993:7-11). Da in Possessionskonstruktionen mit etre das Possessum stets Subjekt ist (cf. (78b), (88), (91b)), muß man also davon ausgehen, daß das Subjekt Target ist. Allgemeiner gesprochen: Bei etre ist das Subjekt die Figur und das zweite Satzglied der Grund. Dies zeigt sich ganz plastisch in den Konstruktionen des örtlichen Befindens, cf. (79b), (89): Der Ort ist der Grund, von dem sich die Figur abhebt. Weniger deutlich ist die Figur-Grund-Beziehung in den Kopulakonstruktionen (cf. (94a-d)). Als Trivial- (oder Extrem)-fall der Referenzpunktkonstruktion lassen sich die Existenzkonstruktionen begreifen. Das Subjekt repräsentiert gewissermaßen eine Figur ohne Grund (was nur heißen kann: ein maximal unbestimmter Grund). Von einer solchen Figur ohne Grund (oder: ein Target ohne Referenzpunkt) läßt sich nichts mehr sagen, außer daß es „ist"

4.6. Rollensemantische Beschränkungen kontiguitätsbasierter Referenz Nachdem in den letzten Abschnitten verbale Polysemien untersucht wurden, gehen ich nun auf die Ebene der Leerstellen selbst und prüfe, ob es auf rollensemantischer Ebene formulierbare, d.h. semantische Rollen und Selektionsbeschränkungen betreffende Bedingungen gibt, die kontiguitätsbasierte Referentialisierungen einschränken oder begünstigen. Semantische Rollen und Selektionsbeschränkungen gehören zur lexikalischen Semantik der Verben und sind daher in diesem Kapitel zu behandeln. Eine Anregung findet sich bei Kleiber (l991:131f), der folgende Satzpaare gegenüberstellt: (97a) Je suis dans l'annuaire de telephone (97b) J'ai sept lettres [je = mon nom] (98a) Je suis [gare] dans le deuxieme parking (98b) Je suis [gare] au garage (99a) George Sand est sur l'etagere de gauche (99b) George Sand est par terre / pese 15 kilos (lOOa)Niki Lauda perd de l'huile (l OOb)Niki Lauda [son moteur] tousse

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Während die a-Beispiele jeweils problemlos metonymische Referenz herstellen, ist die gewünschte Lesart bei den b-Beispielen nur schwer zu erzielen. Kleiber stellt die Frage nach dem Grund für diese Diskrepanz als noch zu lösende Aufgabe dar. Auf den ersten Blick gestaltet sich diese Aufgabe schwierig, denn der Kontrast zwischen den jeweiligen a- und b-Beispielen ist in der Tat frappierend. Obwohl jeweils gleiche Kontiguitäten bemüht werden, gibt es einen sehr deutlichen Unterschied in der Akzeptabilität. In (97) wird jeweils die Kontiguität Person-^Jame mit der gleichen metonymischen Versprachlichung genutzt, in (98) die Kontiguität Person- Fahrzeug, in (99) die Beziehung D Autor-DExemplar seines Werkes, in (100) schließlich die Relation DRennfahrer-DMotor. Die semantische Beziehung ist also jedesmal die gleiche. Zunächst fällt auf, daß die b-Sätze nicht generell inakzeptabel sind, im Gegenteil: sie haben eine „wörtliche" Lesart. (97b) kann so verstanden werden, daß der Sprecher sieben Buchstaben besitzt, „in den Händen hält", (98b) so, daß er selbst in der Garage steht, (99b) so, daß die Person George Sand auf dem Boden liegt, (lOOb) so, daß die Person Niki Lauda hustet. Eine wörtliche Lesart ist für die a-Beispiele jedoch nur schwer möglich, denn sie wäre sachlich ungewöhnlich. Man erwartet nicht, daß George Sand in Person auf einem Bücherregal sitzt. Man erwartet auch nicht, daß Niki Lauda in seiner Eigenschaft als Rennfahrer selbst Öl verliert (von einem seiner Mechaniker prädiziert, wäre ein solcher Satz aber völlig unauffällig). Im Sinne des allgemeinen pragmatischen Kooperationsprinzips (Grice 1975) weicht der Hörer, wenn eine wörtliche Interpretation der Wortbedeutungen unbefriedigend ist, auf eine übertragene Referentialisierung aus. Metonymische Interpretationen können also aus pragmatischen Gründen vorgezogen werden (cf. oben Kap. l .6.). 4.6. l. Wörtliche vs. metonymische Interpretation: Zur Relevanz der Selektionsbeschränkungen Natürlich gibt es auch valenzielle Gründe für die Beschränkung bzw. Begünstigung von Metonymien. Wichtig sind insbesondere die Selektionsbeschränkungen. Widersprechen sich Selektionsbeschränkungen einer Leerstelle und Intension des eingesetzten Aktanten, so kann der „Interpretationskonflikt" nur über eine übertragene Referentialisierung gelöst werden: (101) L Omelette aux champignons estpartie sans payer.

O&partir für sein Subjekt die Intension Speise nicht zuläßt, kann der Satz nur in einer übertragenen Interpretation sinnvoll sein. Im gegebenen Situationszusammenhang bietet sich ein metonymisches Ausweichen an auf den Gast, der das Omelett bestellt hat (cf. zum Prozeß des „Ausweichens" auch Berg 1978:127-129). Metonymische Interpretationen können somit Verletzungen von Selektionsbeschränkungen „ausgleichen" (cf. auch oben 2.1.). Die metonymische Interpretation wird gewählt, wenn eine Kontiguitätsrelation herstellbar ist zwischen einem möglichen Referenten, der sowohl intensional der Selektionsbeschränkung genügt als auch der vom Verb vorgegebenen Rolle entspricht, und dem Referenten des tatsächlich eingesetzten Aktanten. Im Falle einer Similaritätsrelation wird die metaphorische Interpretation vorgezogen. Der Hörer muß also, um die korrekte Referenz leisten zu können, eine

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Inferenz vollziehen: Der Referent muß einerseits den rollensemantischen Vorgaben der Leerstelle entsprechen und andererseits kontig oder ähnlich sein zur tatsächlichen Besetzung der Leerstelle (die den rollensemantischen Vorgaben nicht entspricht). Im Falle von (101) muß der Hörer also einen Referenten suchen, der einerseits den Vorgaben für das Subjekt von partir entspricht, d.h. agentiv ist und (im Zusammenwirken mit dem Adverbial sans payer) als [+ menschlich] spezifiziert werden muß, und andererseits in assoziativer Verbindung steht zur NP l Omelette ata champignons. Dafür bietet sich der betreffende Gast an, der diese Speise bestellt hat. Es wird eine Kontiguitätsverbindung aktiviert. Die Verletzung von Selektionsbeschränkungen ermöglicht also metonymische Interpretationen. Das entspricht dem grundsätzlichen Nachrang metonymischer gegenüber wörtlichen Lesarten (cf. oben 2.l.).58 Das Prinzip des Nachrangs metonymischer Interpretationen vermag Beschränkungen für Metonymien besser zu erklären als die von Kleiber (1992) bemühten Erklärungen. Kleiber (1992:122) diskutiert, warum in Beispielen wie Alain Prost vrombit / hoquete / tousse nur schwer metonymische Lesarten der Art 'Der Motor von A.P.s Rennwagen summt/stößt auf/hustet' zu erzielen sind. Kleiber geht grundsätzlich davon aus, daß metonymische Interpretationen daran gebunden sind, daß eine unmittelbare pragmatische Relevanz die beiden Relata (hier: Motor und Fahrer) in einer Teil-Ganzes-Relation erscheinen lassen kann. In Beispielen wie Alain Prost tousse sei eine solche Relation nicht herstellbar (trotz unbestreitbarer pragmatischer Relevanz), weil die hier ins Spiel gebrachte auditive Wahrnehmung generell die für die Teil-Ganzes-Beziehung erforderliche globale Wahrnehmung erschwere: „A la difference de la vision, qui favorise au contraire une apprehension globale, la perception par l'ou'ie, c'est-ä-dire le fait de se fixer sur le bruit seulement, amene ä apprehender la voiture isolement" (1992:122). Mag die Intuition bezüglich der auditiven Wahrnehmung auch ihre Plausibilität haben, so kann eine solche Erklärung doch nicht befriedigen, denn zum einen lassen sich leicht Gegenbeispiele finden (warum kann man zum Beispiel sagen y' 'entends Alain Prost, wenn man den Motor seines Wagens hört), zum anderen handelt es sich hier überhaupt nicht um eine spezifisch linguistische Erklärung, sondern um Commonsense-Erwägungen bezüglich der „außersprachlichen Realität" Viel einfacher und linguistisch genauer lassen sich die genannten Phänomene erklären, wenn man auf die Rollensemantik der beteiligten Prädikate abhebt. Dann zeigt sich schnell, daß die metonymische Lesart von Alain Proust tousse usw. aus dem einfachen Grunde schwer zugänglich ist, daß die Selektionsbeschränkungen von tousser auch mit einer wörtlichen Lesart eines menschlichen Subjekts bestens verträglich sind. Am Beispiel vrombir (das sich von seinen Selektionsbeschränkugen her nur mit Insekten als Subjekt verträgt) kann man auch ersehen, daß in manchen Fällen sogar metaphorische Interpretationen (Alain Prost selbst macht ein Summgeräusch) den metonymischen vorgezogen werden können. n

58

Jedoch gilt nicht immer umgekehrt, daß metonymische Interpretationen an die Verletzung von Selektionsbeschränkungen gebunden sind. In den oben genannten b-Beispielen verletzt die metonymische Interpretation keine Selektionsbeschränkungen. Das Prinzip des grundsätzlichen Nachrangs wird bei diesen Beispielen dadurch außer Kraft gesetzt, daß die wörtliche Lesart pragmatisch unwahrscheinlich wäre (cf. oben l .6. zu pragmatischen Bedingungen der Metonymie).

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4.6.2. Die Funktion der Selektionsbeschränkung [+ menschlich] Nach der Klärung des formalen Mechanismus der metonymischen Interpretationen möchte ich mich nun der substantiellen Frage zuwenden, ob es etwa bestimmte Selektionsbeschränkungen oder Rollen gibt, die metonymische Lesarten in besonderem Maße erleichtern bzw. erschweren. Als Annäherung an dieses Problem kann festgehalten werden, daß die Selektionsbeschränkung [+ menschlich] offenbar besonders für metonymische Übertragungen geeignet ist. Zum Vergleich: (102a)LOmelette aux champignons est partie sans payer. (102b)*J'ai jete le client de la table 17. [= das Omelett, das er nicht gegessen hat]

Die Übertragung von der Speise auf den Gast funktioniert problemlos, die vom Gast auf die Speise nicht. Unterschiede in der pragmatischen Salienz (die für Übertragungen erforderlich ist, cf. Kap. 1.6.) lassen sich hier kaum begründen: Warum sollte ein Gast nicht genauso salient für die von ihm georderte Speise sein wie eine Speise für den Gast, der sie bestellt hat? Man muß daher davon ausgehen, daß nicht pragmatische, sondern semantische Merkmale für die Asymmetrie in (102) verantwortlich sind. Diese semantischen Merkmale sind hier die Selektionsbeschränkungen; die Selektionsbeschränkung [+ menschlich] scheint metonymische Referentialisierungen zu erleichtem bzw. ihre Abwesenheit behindert die Übertragung. Satz (102a) zeigt, daß es dabei um die Selektionsbeschränkung in der konkreten Verwendung des Verbs geht, die dort nämlich erst durch Kombination mit dem Adverbial sans payer als [+ menschlich] spezifiziert wird. Weitere Beispiele: (103a)L'ulcere veut boire im the froid. (103b)*M. Seguy [son ulcere] s'est retreci. (104a)Ich bin das Referat von nächster Woche. (104b)??Frau Meyer [ihr Referat] dauerte zu lange. (105a)La table 17 veut payer. (105b)*Le client a la fenetre [la table oü il s'est assis] s'est mouille.

Die Beispiele zeigen eine typische Asymmetrie metonymischer Beziehungen: Die Übertragung von einem salienten Merkmal auf die Person ist möglich, aber nicht umgekehrt. Ihr semantisches Korrelat findet diese Asymmetrie in der Bevorzugung der Selektionsbeschränkung [+ menschlich] für übertragene Referentialisierungen.60 Entscheidend ist hierbei tatsächlich die Selektionsbeschränkung [+ menschlich] und nicht etwa die Tatsache, daß auf einen Menschen referiert wird. Wäre allein letzteres maßgeblich, so müßte die metonymische Übertragung auf einen menschlichen Referenten auch dann gelingen, wenn die beteiligte Leerstelle nicht die Selektionsbeschränkung [+ menschlich] aufwiese, sondern lediglich weniger spezifische semantische Eingangsbedingungen, die das 60

Offenbar sind Ausdrücke wie aimer Stendhal, relire Goethe usw. Gegenbeispiele gegen die genannte These. Hier wird von der Person auf ein salientes Merkmal (das Werk) übertragen. Jedoch sind solche Metonymien als Übertragungstypen usualisiert (cf. oben 1.5.), d.h. ihr Gebrauch erfordert bereits, daß die betreffende Person als „bekannter Autor" o.a. kategorisiert wird.

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Merkmal [+ menschlich] unter anderen ermöglichen, z.B. die Selektionsbeschränkung [+konkret]: (106a)Latable 17veutpayer. (106b)*La table 17 [le client qui s'y est assis] est tombee par terre.

Während das Prädikat vouloir payer ein menschliches Subjekt erfordert, setzt etre par terre ein menschliches Subjekt nicht voraus, ermöglicht es aber. Dieses Prädikat läßt nicht die metonymische Übertragung zu, die vouloir payer ermöglicht. Für diesen Kontrast kann der Unterschied der Selektionsbeschränkungen verantwortlich gemacht werden. Die Relevanz der Selektionsbeschränkung [+ menschlich] läßt sich mithilfe des geschilderten Inferenzprozesses begründen. Die Aufgabe des Hörers, einen Referenten zu finden, der sowohl zu den rollensemantischen Vorgaben der Leerstelle paßt als auch kontig zur tatsächlichen Besetzung dieser Leerstelle ist, ist natürlich um so einfacher zu lösen, je spezifischer die rollensemantischen Vorgaben sind. Insofern ist leicht nachzuvollziehen, daß im Fall (106) die spezifischere Selektionsbeschränkung [+ menschlich] metonymische Übertragungen eher zu erlauben scheint als die allgemeinere Selektionsbeschränkung [+ konkret]. Man stößt hier wieder auf das bereits bekannte Phänomen, daß metonymische Übertragungen an „enge" Selektionsbeschränkungen gebunden sind.60 Im Bereich der Selektionsbeschränkungen können also Präferenzen der übertragenen Referentialisierung ausgemacht werden. Für die semantischen Rollen konnten solche Präferenzen im Französischen noch nicht systematisch festgestellt werden (cf. aber zu informationsstrukturellen Präferenzen, die auch die Rollensemantik berühren, oben 2.3.3. und zu spezifischen n Einschränkungen für den Agens unten 4.7.2.). Auch die Präferenzen im Bereich der Selektionsbeschränkungen sind keinesfalls als „harte Constraints" aufzufassen, sondern als Versuch einer ersten Systematisierung in einem unübersichtlichen Gebiet. Selbstverständlich gibt es übertragene Referentialisierungen auch dort, wo nicht die Selektionsbeschränkung [+ menschlich] involviert ist. Und genauso selbstverständlich mag metonymische Interpretation auch dort eingeschränkt sein, wo sie über die Selektionsbeschränkung [+ menschlich] vermittelt ist.

4.7. Die Sonderstellung des direkten Objekts (I) 4.7. l. Evidenzen für den Primat des direkten Objekts In diesem Kapitel wurden verschiedene Muster verbaler Polysemie untersucht; dabei wurde festgestellt, daß Kontiguitätstypen in der Verbvalenz ein weit verbreitetes Phänomen zu sein scheinen. Es ist aber nicht regellos: Es können gewisse Ausdruckspräferenzen der Aktantenpositionen ausgemacht werden, die von Kontiguitätsbeziehungen betroffen sind. Es ergibt sich folgende Hierarchie der Aktantenpositionen: 60 Cf. oben 3.1.1.; auch unten 5.1.2.3.

106 (107) DO>S>andere

Diese Abfolge ist zu lesen als: Kontiguitätsbasierte Polysemien betreffen zunächst das direkte Objekt (falls es ein solches gibt), sonst das Subjekt, erst danach andere Aktantenrepräsentationsformen. Fast ausschließlich ist das direkte Objekt von kontiguitätsbasierten Polysemien betroffen bei den kontigen semantischen Rollen (guerir un malade/guerir une maladie). Der holistische Effekt bei Lokativalternationen (4.2.) tritt regelmäßig nur im direkten Objekt auf. Auch die swarm-Alternation und die lexikalischen Kausativierungen respektieren die Hierarchie. Denn diese Alternationstypen haben als einzige gemeinsame Aktantenfunktion das Subjekt, das Objekt fallt also aus. Inhärent-(subjekt-) reziproke Verben (4.4.) sind nicht per se polysemisch und fallen daher nicht in den Geltungsbereich der Hierarchie. Aber auch sie respektieren sie in dem Sinne, daß sie die jeweilige Kontiguitätsrelation der Referenten in Einklang mit der Hierarchie sprachlich repräsentieren: die objektreziproken Verben ohnehin; und die subjektreziproken auch, denn sie haben im Französischen nie ein direktes Objekt, die Kontiguitätsrelation betrifft dann, der Hierarchie (107) gemäß, die Subjektsreferenten. Der dritte Punkt der Hierarchie, die „anderen" Satzglieder, wird so selten erreicht, daß er nicht genauer spezifiziert werden kann. Im Französischen ist das einzige mir bekannte Beispiel für eine metonymische Polysemie, die nicht El oder E2 betrifft, das Verb heriter de (? R qn/qc. Das Präpositionalobjekt kann sowohl den Erblasser als auch die Erbsache ausdrükken: U a heute de monperelil a herite d'une maison. Motiviert ist diese Polysemie durch eine Kontiguität von DErblasser und DErbsache.61 Die einzige hier erörterte Ausnahme von dieser Hierarchie sind die Auto-Konversen des Typs lauer. Dort bleibt das direkte Objekt über die einzelnen Lesarten hinweg gleichbedeutend, und die Kontiguitätsassoziation betrifft das Subjekt, obwohl ein direktes Objekt vorhanden ist. 4.7.2. Die Sonderrolle des direkten Objekts zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik Neben den genannten induktiven Indizien läßt sich die Sonderrolle des direkten Objekts auch theoretisch begründen. Sie ist das Resultat eines Zusammenspiels syntaktischer und rollensemantischer Bedingungen. Die grundsätzliche Überlegung ist dabei folgende: Einerseits müßte das Subjekt am metonymiefreundlichsten sein, denn eine syntaktische Funktion ist um so geeigneter für metonymische Übertragungen, je weniger sie auf eine bestimmte semantische Rolle festgelegt ist, und in dieser Hinsicht kommt dem Subjekt im Französischen (vor dem direkten Objekt) die Vorrangstellung zu. Andererseits ist die semantische Rolle RAgens ausgesprochen metonymieabgeneigt, weil an sie der Handlungscharakter des ganzen Sachverhalts 61

Wenn man den Untersuchungsbereich neben einfachen Verben auch auf komplexe Prädikate, z.B. Funktionsverbgefüge ausweitet, lassen sich auch andere ähnliche metonymische Polysemien der Rollen eines Präpositionalobjektes finden. So bei etre ä l'abri de N 'geschützt sein vor N / geschützt sein von N': Aucun jour de l'annee n 'est ä l'abri du gel vs. la maison tout entiere est a l'abri d'un pin (Hinweis von Thomas Kotschi).

107

geknüpft ist; und da ein Agens im französischen Aktivsatz immer im Subjekt ausgedrückt wird, ist am Ende nicht das Subjekt, sondern das direkte Objekt am metonymiefreundlichsten. Man muß sich zunächst als Hintergrundfolie die (aus der Typologie stammende) Hierarchie der Aktanten vergegenwärtigen:62 (108) S > DO > IO > PräpO > andere

Diese Hierarchie faßt eine Vielzahl semantischer und morphosyntaktischer Parameter zusammen. Sie ist von links nach rechts zu lesen im Sinne von u.a.: ansteigender Rhematizität, ansteigender Wahrscheinlichkeit adnominaler Markierung, ansteigender semantischer Transparenz der jeweiligen Form. Für die Metonymieneigung einer syntaktischen Form ist der letzte Parameter, die semantische Transparenz, entscheidend. Semantisch transparenten Aktantenfunktionen kann man gewissermaßen auf den ersten Blick ansehen, welche semantische Rolle sie einnehmen. So ist z.B. eine mit dans markierte Phrase, eben wegen dieser Präposition, weitgehend unabhängig von ihrer syntagmatischen Umgebung sofort als Lokalergänzung erkennbar. Opake Formen sind semantisch nur in einem wesentlich geringeren Maße durchsichtig, da sie eine Vielzahl von Rollen repräsentieren können. Zu ihrer adäquaten Interpretation muß maßgeblich der lexikalische Gehalt des konkret verwendeten Prädikats berücksichtigt werden. In diesem Sinne ist das Subjekt die opakste Aktantenfunktion. Sie kann ein Maximum an semantischen Rollen aufnehmen. Dicht gefolgt wird das Subjekt vom direkten Objekt. Die einzige funktionale Einschränkung für das direkte Objekt ist, daß es keinen Agens repräsentieren kann (cf. Givon 1984:169). Die semantische Opazität ermöglicht umgekehrt eine gewisse rollensemantische Freiheit bei gleichbleibender Ausdrucksseite. Damit wird Ambiguität, und folglich auch kontiguitätsbedingte Polysemie, überhaupt erst möglich. Zusammengefaßt: je weiter links in der Hierarchie (108) ein Aktant steht, desto variabler ist er in seiner Rollensemantik und damit auch in seiner „Metonymiefreundlichkeit" Somit müßte also das Subjekt der metonymiegeneigteste Aktant sein. Die in diesem Kapitel zusammengetragenen Daten belegen jedoch, daß der Primat nicht dem Subjekt, sondern dem direkten Objekt zukommt. Um dies nachzuvollziehen, kann man nun eine genuin semantische Argumentationslinie entwickeln, die mit der syntaktischen Hierarchie (108) interferiert. Der „Vorrang des direkten Objekts vor dem Subjekt" betrifft ja nur transitive Prädikate, denn nur in transitiven Prädikaten gibt es ein direktes Objekt. Direkte Objekte transitiver Prädikate sowie Subjekte intransitiver (unakkusativischer) Prädikate haben typischerweise die semantische Rolle eines Themas. Diese Rollenbezeichnung ist nun sehr abstrakt, viel abstrakter als z.B. die Rollenbezeichnungen RAgens oder RBenefaktiv. Schon Fillmore (1968:24) war dieser Unterschied zwischen dem "^Thema und den anderen Rollen bewußt und er bezeichnete seinen (dem "^Thema entsprechenden) „Objektiv" als „the semantically most neutral case" Um das ^hema eines konkreten Verbs angemessen zu beschreiben, muß in viel stärkerem Maße auf den semantischen Gehalt des jeweiligen Verbs eingegangen R R werden als um z.B. den Agens oder das Instrument eines konkreten Verbes zu beschreiben. 62

Cf. zur Begründung dieser Hierarchie z.B. Koch (1981:93-95), Sasse 1982, Givon (1984:135-185).

108

So konnte oben in 4.1. die Subjektrolle von risquer als „handelnde Person" charakterisiert werden; dies umschreibt allgemein die Rolle RAgens und könnte analog vom Subjekt jedes beliebigen Handlungsverbs gesagt werden. Die alternierenden direkten Objekte von risquer mußten jedoch wesentlich feinkörniger und verbspezifischer als RGefährliches bzw. Rbedrohtes Gut charakterisiert werden (beide alternierenden Rollen könnten jedoch auch problemlos allgemein als ^Thema apostrophiert werden). Der semantische Gehalt eines RThemas ist beträchtlich verbabhängiger als derjenige anderer Rollen. Umgekehrt formuliert: Die Abstraktheit der Rolle "^Thema erlaubt, je nach Verbbedeutung, eine unterschiedliche konkrete semantische Ausgestaltung. Dies wiederum bedeutet, daß durch Bedeutungswandel des Verbs (und daraus resultierender Polysemie) diejenige syntaktische Position, die das ^hema trägt (direktes Objekt bzw. Subjekt), viel leichter semantisch umakzentuiert werden kann als die syntaktischen Positionen, die eine andere Rolle tragen. Mit dieser Überlegung kann verständlich gemacht werden, warum nicht das Subjekt als opakste syntaktische Funktion, sondern das direkte Objekt im stärksten Maße metonymische Polysemien auf sich zieht. Ich möchte nun noch auf ein mögliches Gegenargument gegen meine These vom Vorrang des direkten Objekts bzw. der Rolle "^Thema für metonymische Polysemien zu sprechen H R kommen. Oft können Agentes als semantische Rollen durch Instrumente ersetzt werden: Jean ouvre la porte l la de ouvre la porte; Jean a perce le goudron de la route l le marteaupiqueur a perce le goudron. Diese Alternation muß man wohl als metonymisch bezeichnen (sie nutzt eine pragmatische Kontiguität von DAgens und Instrument im allgemeinen Frame der Handlung), und sie betrifft im Aktivsatz stets das Subjekt transitiver Prädikate. Ist dies nun ein Gegenbeispiel zu meiner These vom Vorrang des direkten Objekts in metonymischen Polysemien? Nein, denn die Alternation Agens-Instrument produziert keine verbale Polysemie.63 Sie scheint bei jedem Handlungsverb möglich zu sein, wenn nur die jeweilige Handlung ein Instrument vorsieht bzw. erlaubt. Die Alternation ist also nicht das Produkt eines Bedeutungswandels als historischem, individuelle Verben erfassenden Prozeß. Sie nutzt vielmehr allgemeine Merkmale des Frames „Handlung" aus und ist insofern von dem spezifischen Frame eines einzelnen Handlungsverbes unabhängig.

63

Hierauf hat mich Ulrich Detges aufmerksam gemacht.

5. Verbsemantik II: Besetzung von Aktantenrollen Nachdem im vorigen Kapitel metonymische Polysemiemuster untersucht wurden, betrachte ich im folgenden Beschränkungen für Kontiguitätsphänomene, die an bestimmte Besetzungen verbaler Leerstellen gebunden sind und insofern auf der Besetzungsebene der Verbvalenz (im Sinne der in 3.1.2. eingeführten Unterscheidung) zu verorten sind. Die zu beantwortende Frage ist: Lassen sich Beschränkungen für kontiguitätsbasierte Referentialisierungen finden, die sich für semantisch bestimmte Typen von Aktanten (Pronomina, bestimmte Nominalklassen etc.) formulieren lassen? Ich erörtere dabei zunächst die Reflexivpronomina, die als Pronomina Typen von Aktanten sind und ein ausgezeichnetes Anschauungsgebiet für Kontiguitätsphänomene liefern (5.1.). Sodann betrachte ich die sog. Pertinenzkonstruktionen, bei denen abhängig von bestimmten semantischen Merkmalen der beteiligten Aktanten - eine Kontiguität der Relata eine abweichende Markierung der Possessionsbeziehung ermöglicht (5.2.). Die Untersuchungen dieser auf den ersten Blick nicht zusammenhängenden Bereiche bestätigen die bereits im vorigen Kapitel begründete Sonderrolle des direkten Objekts (5.3.).

5.1. Reflexivität Reflexivpronomina und reflexive Verben (verbes pronominaux) bieten ein ausgezeichnetes Anschauungsgebiet für kontiguitätsbedingte syntaktische und semantische Phänomene. Daß Reflexivpronomina eine metonymische Interpretation erfahren können, ist verschiedentlich bemerkt worden (Zribi-Hertz 1978, Melis 1985:102-104,1990:69-75). Dabei wird an Beispiele der folgenden Art gedacht: (1) (2)

Michel se confesse au eure. (Zribi-Hertz 1978:124) Michel se repete. (Melis 1985:103)

Hier hat man es mit einer übertragenen Lesart zu tun: Das direkte Objekt in beiden Beispielen, das Reflexivpronomen se, müßte eigentlich koreferent mit dem jeweiligen Subjekt interpretiert werden. Das Subjekt ist hier [+ menschlich], das koreferente direkte Objekt müßte demnach auch [+ menschlich] sein. Dieses Merkmal konfligiert mit den Selektionsbeschränkungen der beiden Verben. Ohne die Selektionsbeschränkungen für die jeweiligen direkten Objekte genau zu beschreiben, kann auf jeden Fall festgehalten werden, daß sie Aktanten mit dem Merkmal [+ menschlich] ausschließen. Also müßte man erwarten, daß die Äußerungen unakzeptabel sind; sie sind es aber nicht. Dies kann nur so erklärt werden, daß das Reflexivpronomen in (1) und (2) nicht mit dem jeweiligen Subjekt koreferent ist, sondern daß es übertragen interpretiert werden muß. Die Übertragung ist metonymisch: Das Reflexivpronomen referiert in beiden Fällen auf etwas mit dem Subjekt Kontiges, also in (1) etwa ses peches, sesfaits und in (2) ses paroles, son discours o.a. An diesen Beispielen ist zu sehen, daß die metonymischen Reflexiva eine Kontiguität auf der Ebene der Besetzung von Leerstellen (im Sinne der in 3.1.2. eingeführten Trennung von

110

Metonymien auf Rollenebene und Metonymien auf Besetzungsebene) voraussetzen. Offen bleibt bei diesen Beispielen zunächst, inwieweit Metonymien bei Reflexivpronomina überhaupt etwas Besonderes, d.h etwas über metonymische Phänomene bei nichtreflexiven Besetzungen der entsprechenden Leerstelle Hinausgehendes sind. Jedoch sind nicht alle metonymischen Verwendungen von Reflexivpronomina Phänomene der Besetzungsebene; es gibt sie, wie gezeigt werden wird, auch auf Rollenebene im Sinne einer lexikalisierten Verwendung (cf. 5.1.4.). Es muß zunächst ein Kriterium erarbeitet werden, welches es erlaubt, die metonymischen Verwendungsweisen von Reflexivpronomina auf Besetzungsebene von denen der Rollenebene zu trennen. Dies kann am einfachsten anhand traditioneller Klassifikationen von Reflexivpronomina geschehen. Ich betrachte zunächst ausschließlich Reflexivausdrücke, die als direktes Objekt fungieren. Die Einteilung von Verwendungsweisen der französischen Reflexiva richtet sich auch in modernen Studien weitgehend immer noch nach der Klassifikation des Abbe Dangeau aus dem 18. Jahrhundert (cf. Albrecht 1993:267). Dangeau unterscheidet vier Typen: (3a) (3b) (3c) (3d)

„Identiques": = „echte Reflexiva": Michel se lave. „Reciproques": Michel et Catherine s 'aiment beaucoup. „Neutrisez": s 'evanoir, se douter, se mourir, se casser „Passivez": La vengeance est un plat qui se mange froid.

Die Verwendungsweisen (3a) und (3b) lassen sich als „echt-reflexiv" bzw. „reziprok" bezeichnen, weil das Reflexivum anaphorisch verwendet wird. Die Sätze (3a/b) unterscheiden sich von gewöhnlichen transitiven Sätzen zunächst nur dadurch, daß Subjekt und direktes Objekt koreferent sind. Anders ist die Situation bei (3c) und (3d). Bei (3c) ist das Reflexivpronomen insofern schon Teil des Verbs geworden, als es zur Bedeutung des Lexems dazugehört. Das Verb kann entweder gar nicht ohne Reflexivpronomen verwendet werden (s'evanouir) oder die Bedeutung ist dann stark von derjenigen der reflexiven Verwendung abweichend (se casser 'verschwinden'). Bei (3d) wiederum liegt die Besonderheit nicht in der Lexik, sondern in der Grammatik: se fungiert als grammatischer Diathesenmarker. Das Patiens-Argument von manger, welches in der Aktiv-Diathese als direktes Objekt kodiert würde, ist hier Subjekt. Die Verwendung unter (3d) repräsentiert eine dritte Diathese des Französischen (neben Aktiv und Passiv), nämlich das Medium. Sie darf nicht mit der grammatischen Kategorie „Passiv" verwechselt werden - das ist schon daran ersichtlich, daß dem Beispielsatz kein complement d'agent hinzugefügt werden könnte: *C'est un plat qui se mange froid par les hommes. Neuere Theorien des Reflexivums schließen sich weitgehend dieser Einteilung an. Ruwet (1972) unterscheidet drei Verwendungstypen von se. Seine Kategorisierung unterscheidet sich prinzipiell von der des Abbe Dangeau nur dadurch, daß er die „echt reflexiven" und die reziproken Verwendungen zu einem Typ zusammenfaßt. An diese Kategorisierung lehnt sich auch Melis (1985) an. Auch Oesterreicher (1992b) bringt mit der Unterscheidung von „echter Reflexivität" (3a/b), „lexikalischer Pseudoreflexivität" (3c) und „grammatischer Pseudoreflexivität" (3d) gegenüber der traditionellen Einteilung nur eine (allerdings praktische) terminologische Neuerung. Seine Termini werden hier übernommen.

Ill

Reflexiva sind als pronominale Ausdrücke Phänomene der Besetzungsebene verbaler Leerstellen, in Form der „lexikalischen Pseudoreflexivität" können sie aber auch lexikalisiert werden (und liefern damit auch Kontiguitätsphänomene der lexikalisierten Ebene). Im Sinne einer einheitlichen Behandlung des Phänomenbereichs wird jedoch das ganze Spektrum in diesem Kapitel behandelt. In einer Vorüberlegung beschäftige ich mich mit der Frage, was die kanonische Referenz von Reflexivpronomina ist (5.1.1.). Im darauffolgenden Abschnitt 5.1.2. werden drei semantische Subtypen der direkten, anaphorischen, „echten" Reflexivität vorgestellt. In 5.1.3. prüfe ich bestimmte Restriktionen der Reflexivierung, die besonders in der generativen Grammatik diskutiert wurden. Die in 5.1.2. erarbeitete Typologie der Reflexivkonstruktionen wird sich insbesondere für die Untersuchung der diachronen Lexikalisierung reflexiver Verben (5.1.4.) als vorteilhaft erweisen. Dann streife ich, weiterhin in diachroner Perspektive, den Bereich der grammatischen Pseudoreflexivität (5.1.5.). 5.1.1. Vorüberlegung: Worauf referieren Reflexivpronomina? Es scheint selbstverständlich zu sein, daß Reflexivpronomina koreferent mit ihrem Antezedens sind. Dies wird sowohl in der generativen als auch in der funktionalen Literatur als Prämisse jeder Beschäftigung mit Reflexivpronomina angenommen.1 Koreferenz ist natürlich nicht auf Reflexivausdrücke beschränkt, sondern gehört zur Funktion aller phorischen Pronomina.2 Nun ist die Koreferenz von Antezedens und Reflexivausdruck in den Standardbeispielen auch offenbar unproblematisch: (4) (5)

Mary stabbed herself. (Kemmer 1993:42) Michel se lave.

Ganz offensichtlich referieren hier Antezedens und Reflexivpronomen auf die jeweils selbe Entität. Allerdings wurden schon oben Beispiele für nicht-koreferenten Gebrauch von Reflexivpronomina erwähnt: 1l) (2)

Michel se confesse au eure. Michel se repete.

Daß hier von Koreferenz zu sprechen problematisch ist, konnte schon anhand der Verletzung von Selektionsbeschränkungen gezeigt werden. Weitere Evidenz dafür, daß das Reflexivpronomen nicht immer koreferent mit seinem Antezedens ist, liefert der Ersetzungstest. Das metonymisch referierende Reflexivpronomen kann nicht mit anderen Pronomina kommutieren: (l')

*Michel te confesse au eure.

Cf. Chomsky (1981:161); Faltz (1985:34): ,,[T]he essence of a reflexive is coreference"; Kemmer (1993:43f): „The most important of the three aspects [der Reflexivität, R.W.] is the referential aspect, which involves the notion of coreference. [...] Coreference [.,.] means that two participants in a single event frame designate the same entitiy in the described situation". Cf. z.B. Reinhard (1991:535).

112

Die zwei Befunde (einerseits Verletzung der Selektionsbeschränkungen des Verbs und andererseits Nichtkommutierbarkeit eines metonymisch referierenden Reflexivpronomens) liefern Argumente in unterschiedlicher Stärke: Der erste Befund zeigt, daß Reflexivpronomina metonymisch interpretiert werden können und daß insofern die Referenten von Antezedens und Reflexivausdruck nicht immer identisch sein müssen. Dies ist aber noch kein schlagender Beleg dagegen, daß Koreferenz die Basis von Reflexivität sei. Denn übertragene Lesarten (wie Metaphern und Metonymien) sind natürlich bei allen referierenden Ausdrücken möglich. Der zweite Befund aber zeigt, daß es mit der metonymischen Interpretierbarkeit von Reflexivpronomina etwas Besonderes auf sich haben muß, was ihren Status als „koreferent" in Frage stellt. Denn wenn sich ein metonymisch zu interpretierendes Reflexivpronomen nicht durch einen anderen metonymisch zu interpretierenden Ausdruck (in ( ) das Personalpronomen le) ersetzen läßt, dann ist belegt, daß die „Metonymiefähigkeit" von Reflexivpronomina über die anderer referierender Ausdrücke hinausgeht. Dies wiederum läßt sich nur so deuten, daß das Verhältnis zwischen Reflexivpronomen und Antezedens nicht erschöpfend als eine Koreferenzbeziehung charakterisiert werden kann.3 Vielmehr scheinen die Beispiele darauf hinzuweisen, daß die Referenten beider Ausdrücke entweder tatsächlich identisch sind (koreferent) oder daß sie in einem Kontiguitätsverhältnis stehen. Der Funktionsbereich von Reflexivpronomina geht also über die reine Koreferenz hinaus.4 Die traditionelle Voraussetzung, daß Reflexivpronomina und ihre Antezedenten koreferent seien, ist nicht falsch, muß aber erweitert werden. Der Terminus „Koreferenz" drückt schon in seinem Namen aus, daß er auf die außersprachliche, referentielle Ebene zielt. D.h.: will man beurteilen, ob Antezedens und Reflexivausdruck koreferent sind, darf man sich nicht von der pronominalen Kodierung irreführen lassen, die eine referentielle Identität suggeriert. Für Koreferenz ist aber entscheidend, daß Antezedens und Reflexivausdruck nicht nur formal koindiziert sind, sondern daß sie auch auf der Partizipanten-Ebene den gleichen Designaten entsprechen. Dafür wäre es nötig, daß der konzeptuelle Ausgangspunkt und der konzeptuelle Zielpunkt des dargestellten Vorganges identisch sind. Dies ist bei Reflexivkonstruktionen nur recht selten der Fall. Neben den erwähnten E-Kontiguitätsbeziehungen (Michel se confesse au eure), wo auf referentieller Ebene die beiden Partizipanten nicht in Deckung zu bringen sind (zum Begriff E-Kontiguität cf. oben 1.4.2.), sind für Reflexivkonstruktionen Teil-Ganzes-Beziehungen der Partizipanten sehr typisch: Nunberg (1995:122f) schlägt vor, daß bei den metonymischen Reflexivkonstruktionen wie in Ringo squeezed himself into a narrow space nicht das Reflexivpronomen metonymisch verschoben sei, sondern das Prädikat (cf. zu dieser Theorie ausführlich oben 3.2.). Diese Annahme läßt aber keinen Raum zur Erklärung der offensichtlichen Metonymiefreundlichkeit des Reflexivpronomens. Wenn die metonymische Verschiebung im Prädikat stattfinden soll und nicht auf einem Aktanten, so ist schwer zu begründen, warum die Verschiebbarkeit offenbar für Typen von Aktanten sensitiv ist. Die hier getroffenen Aussagen beziehen sich ausschließlich auf die klitischen Reflexiva des Französischen. Für die „starken" Formen (lui-meme etc.) müssen andere Referenzregeln angenommen werden. Z.B. scheinen metonymische Reflexivkonstruktionen mit starken Reflexiva generell nicht möglich zu sein: *i/, sy 'est gare lui-

113 (6) (7)

Jean se peigne toujours avant de sortir de chez lui. Marie s'est mouchee et eile a continue son discours ensuite.

Geniusene (1987:312) hat diesen Typ Partitiv-Reflexiva genannt. Sie sind besonders häufig zu finden bei Konstruktionen, die eine Einwirkung auf den eigenen Körper kodieren, z.B. bei Verben der Körperpflege. Natürlich sind auch hier auf der syntaktischen Oberfläche und der Argumentebene die beteiligten Entitäten koindiziert. Auf der Partizipantenebene, auf der Ebene der Vorstellung, auf die die Konstruktion referiert, ist dies hingegen nicht der Fall: In (6) ist der Ausgangspunkt des dargestellten Vorgangs die Person Jean, der Zielpunkt hingegen seine DHaare; in (7) ist der Ausgangspunkt die Person Marie, der Zielpunkt ihre °Nase. Man hat es also mit Teil-Ganzes-Beziehungen zu tun, die nur ein Sonderfall von Kontiguitätsbeziehungen sind (wenn auch Teil-Ganzes-Beziehungen eine besonders ausgezeichnete, prominente Kontiguitätsrelation darstellen, und diese Prominenz auch sprachliche Folgen hat). Im folgenden werden Teil-Ganzes-Beziehungen und (andere) metonymische Relationen bei Reflexiva getrennt behandelt. Es mag zunächst erstaunlich sein, daß der Metonymie, die traditionell als „uneigentliches Sprechen"5 kategorisiert wird und damit der Ebene des Sprechens6 zugerechnet wird, hier zumindest in diesem Einzelfall - ein systemlinguistischer Ort in einer Einzelsprache zugewiesen wird. Ein kleiner Blick in Typologie und Sprachgeschichte macht aber deutlich, daß die kontiguitätsbasierte Interpretation von reflexiven Ausdrücken nicht ungewöhnlich ist: Der Sprachvergleich zeigt, daß Reflexivpronomina fast immer aus lexikalischen Ausdrükken für DKopf, DSeele, DKörper u.a. (d.h. Körperteile) grammatikalisiert werden (cf. Schladt 1997+, Faltz 1985:31-34).7 Schladt 1997+ zeigt auch, daß es dabei starke Tendenzen zu arealen (d.h. geographischen und nicht genetischen) Clusterbildungen gibt. Solche Lexeme zeichnen sich durch eine Kontiguität auf Designatsebene zu DPerson, „DIch" aus. Ein baskisches Beispiel: (8)

aitak

bere

bunia

hil

du

Vater-ERG POSS.3SG Kopf-NOM.DEF töten PERF.3SG

'Der Vater tötete sich'

Als Reflexivausdruck fungiert das Wort burn 'Kopf Jedoch kann es hier unmöglich im lexikalischen Sinne für 'Kopf stehen - man kann nicht 'seinen Kopf töten' Ein Grammatikalisierungsprozeß ist also eingetreten. Jedoch ist auch die ursprüngliche Bedeutung 'Kopf immer noch lexikalisch verfügbar: (9)

5 6

bere buruan txapela ipifti du POSS.3SG Kopf-LOC.DEF Mütze-NOM setzen PERF.3SG 'Er setzte seine Mütze auf den Kopf

Cf. Lausberg (21963:77-79), Berg 1978. Im Sinne der drei Ebenen des Sprachlichen von Coseriu (Ebene des Sprechens im allgemeinen, Ebene der historischen Einzelsprache, Ebene des Diskurses). Cf. oben 1.2.1. Allerdings ist unbekannt, aus welchem lexikalischem Element idg. *se- (als Wurzel der Reflexivausdrücke in den heutigen indogermanischen Sprachen) entstanden ist.

114 Der Grammatikalisierungsprozeß, der aus dem Lexem bum 'Kopf ein Funktionswort mit reflexiver Bedeutung macht, ist also kontiguitätsbasiert. Ähnlich wird in Kreolsprachen, auch unterschiedlicher lexikalischer Basis, Reflexivität kodiert. In vielen Kreolsprachen ist der reflexiv fungierende Ausdruck ein Wort für 'Körper' oder 'Haut': ko ou im Haitianischen Kreol, su kurpa im Papiamentu, in englisch-basierten Kreolsprachen yu (s)kin (Beispiele nach Stein 1984:101).8 Die unterschiedliche lexikalische Basis dieser Sprachen deutet darauf hin, daß sie polygenetisch die reflexiven Bedeutungen entwickelt haben, daß Reflexivität also universal etwas mit Kontiguität zu tun hat. Darüber hinaus findet sich die reflexive Verwendung von Ausdrücken für den Kopf oder andere Körperteile auch in Sprachen, die bereits ein vollständig grammatikalisiertes Reflexivpronomen haben, so z.B. auch in normfernen Varietäten des Französischen: amener sä fraise quelque part, poser son cul sur un tabouret, balader sä carcasse (Beispiele von Zribi-Hertz 1978:118).' Reflexivität (als onomasiologische Kategorie) scheint ihre Quelle also oft in einer metonymischen Referentialisierung zu haben. Deswegen kann es (nun in semasiologischer Perspektive) auch nicht erstaunen, wenn grammatikalisierte Reflexivausdrücke ein größeres „Metonymiepotential" als lexikalische Ausdrücke haben. Koreferenz mag zwar den prototypischen Gebrauch von Reflexivausdrücken ausmachen, sie ist aber nur der Kern eines insgesamt größeren Funktionsbereiches. Man sieht hier wieder, daß Identität (als Koreferenz) ein Grenzfall von Kontiguität sein kann (cf. oben 1.4.2.). Es muß noch geklärt werden, welcher Art das Kontiguitätsverhältnis zwischen Reflexivpronomen und Antezedens ist (natürlich nur in den Fällen, wo sie nicht im strengen Sinne koreferent sind). Die semantische Relation zwischen Antezedens (Subjekt) und Reflexivpronomen (direktem Objekt) ist keineswegs eine beliebige Kontiguitätsrelation. Sie ist vielmehr, wie zu erwarten, durch die Semantik des regierenden Verbes vorgegeben. Trivial ist dieses Problem bei den Verben der Einwirkung auf den eigenen Körper (se peigner, se moucher, se raser, se gratter). Die Kontiguität ist dort natürlich eine Teil-Ganzes-Beziehung. Weniger leicht zu lösen ist dieses Problem bei den -metonymischen Beziehungen: Potentielle Referenten des direkten Objekts sind durch seine Selektionsbeschränkungen, also durch die Verbsemantik, vorgegeben. Da der Referent des direkten Objektes aber bei metonymischer Besetzung dieser Leerstelle durch ein Reflexivpronomen sprachlich nicht explizit gemacht wird, müssen die Selektionsbeschränkungen für das direkte Objekt hinreichend eng sein, um ihn im Zusammenspiel mit der jeweiligen Besetzung der Subjektstelle und der Semantik des Verbkopfs „erschließen" zu können. Der Satz Michel se confesse au eure

muß so verstanden werden, daß Michel seine Missetaten, seine Sünden dem Pfarrer beichtet. Diese Interpretation wird durch zwei Beschränkungen erzwungen. Zunächst verlangen die 8

9

Schladt (1997+) zeigt, daß die Kreolsprachen bei der Wahl des Reflexivmarkers sich an ihr Zielareal (d.h. ihre afrikanische, amerikanische usw... Umgebung) anpassen. Zu denken ist hier auch an die meronomische Personenmarkierung im Altfranzösischen durch cars, char, chief usw. Cf. Tobler (1902:30-36).

115

Selektionsbeschränkungen des Verbs confesser, daß das direkte Objekt eine verbotene Handlung repräsentieren muß. Weiterhin erfordert die metonymische Besetzung der Leerstelle, daß zwischen dem Referenten des Subjekts und dem Referenten des direkten Objekts eine Possessivrelation bestehen muß. Zwischen 'Michel' und 'seinen Taten' besteht offensichtlich eine solche Possessivrelation. Satz (1) könnte nicht so interpretiert werden, daß Michel etwa die Missetaten eines anderen beichte - dann wäre die Bedingung der Possessivrelation verletzt. Die Possessivrelation ist hier natürlich nicht eine Besitzrelation im Sinne von 'Verfügungsgewalt über eine Sache', sondern eine viel allgemeinere Verbindung, die sich wieder als Kontiguität charakterisieren läßt: Es besteht eine Kontiguität zwischen Michel und seinen eigenen beichtwürdigen Handlungen, aber nicht zwischen ihm und den verbotenen Handlungen einer anderen Person.10 - Analog zu diesem Beispiel ist das Reflexivpronomen in folgenden Beispielen zu lesen: (10) Marie se reboutonne (Kontiguität T"erson-Dangezogenes Kleidungsstück) (11) Michel s'etemise ä Marseille (Zribi-Hertz 1978:124) (Kontiguität DPerson-DAufenthaltszeitraum)

Alle betrachteten Verben (reboutonner, confesser und eterniser) weisen relativ enge Selektionsbeschränkungen für das direkte Objekt auf. Das direkte Objekt ist intensional recht deutlich profiliert. Verben hingegen, die eine sehr große Klasse von Referenten im direkten Objekt zulassen, wie faire, mettre usw., können diese Leerstelle schwerlich mit einem Emetonymisch zu interpretierenden Reflexivpronomen besetzen: (12) »Michel se fait." (13) *Marie se met.

Die Kontiguität, die sich zwischen dem tatsächlichen Referenten des Subjekts und dem (durch rollensemantische Spezifikationen vorgegebenen) potentiellen Referenten des direkten Objekts etabliert, steht dem Reflexivpronomen zur Verfugung, um über die Koreferenz mit dem Antezedenten hinaus einen weiteren Funktionsbereich abzudecken. Die Spannung zwischen Besetzung der Subjektsstelle und den verbsemantischen Spezifikationen für die Rolle des direkten Objekts ermöglicht die Metonymie. Die nicht-koreferenten Verwendungen von Reflexivpronomina sind kein vernachlässigbares Randphänomen. Sie sind vielmehr zentral für das Verständnis der Polysemie von „echt" reflexiv und lexikalisch-pseudoreflexiven Verben (cf. 5.1.4.).

10

Diese Relation liegt auch sehr vielen Verwendungsformen des Possessivpronomens zugrunde, die nicht als 'Besitz' charakterisiert werden können: mes parents, mon universite, man patron, notre proprietaire usw. Langacker (1993) konzipiert Possessivrelationen als Teilmenge eines viel allgemeineren Typs der referencepoint constructions (cf. oben 4.5.). - Possessivrelationen sind stets Kontiguitätsrelationen, aber nicht alle Kontiguitätsrelationen sind Possessivrelationen. Die genauen semantischen Beschränkungen, die Possessivrelationen von Kontiguitätsrelationen abgrenzen, können hier nicht erörtert werden. Es gibt zwar die phraseologische Wendung se faire 'es schaffen' Sie ist aber kein Gegenbeispiel, da ihre Bedeutung phraseologisch fixiert ist und nicht aus einer Interaktion von Selektionsbeschränkungen und Kontiguitätsrelation kompositional konstruiert werden muß.

116 5. l .2. Drei Typen anaphorischer Reflexivkonstruktionen Es wurden bereits drei Typen von Reflexivkonstruktionen nach dem Verhältnis von Subjekt und Reflexivausdruck auf Partizipantenebene unterschieden: a) solche, deren beide Partizipanten identisch sind; b) diejenigen, deren beide Partizipanten in einem Teil-Ganzes-Verhältnis stehen; und schließlich c) diejenigen, deren Partizipanten in einem E-Kontiguitätsverhältnis stehen. Diese drei Typen sollen nun etwas näher veranschaulicht werden. Graphisch lassen sie sich folgendermaßen darstellen:

(14)

Typ l direkt-reflexiv (koreferent)

Typ 2 Teil-Ganzes

Typ 3 E-metonymisch

Die graue und die weiße Fläche symbolisieren jeweils die involvierten Partizipanten (die sich beim Typ l decken).Nun zu den einzelnen Typen: 5.1.2.1. Direkt-reflexive Reflexivkonstruktionen Bei direkt-reflexiven Reflexivkonstruktionen sind die beiden Partizipanten in völliger Dekkung. Dies ist die Situation, die gemeinhin als typisch für Reflexivkonstruktionen im allgemeinen bezeichnet wird (cf. Kemmer 1993:43f, Chomsky 1981:161): (15) C'est quelqu'un qui aime se punir lui-meme. (16) Je n'aimerais pas me regarder ä la tele. (17) Un ensemble se contient en tant que sous-ensemble.

Wie bei allen Reflexivkonstruktionen werden Subjekt und direktes Objekt semantisch äquivalent kodiert; es kommt hinzu, daß auch die Partizipanten als deckungsgleich konzeptualisiert werden. Auch auf Designatsebene läßt sich also kein Unterschied zwischen den Partizipanten feststellen: in (15) wird sowohl beim Subjekt als auch beim direkten Objekt die ganze Person verstanden, ebenfalls in (16). In (17) wird die Identität der beiden Partizipanten sogar explizit formuliert. Die Verben, die in solchen Reflexivkonstruktionen beteiligt sind, scheinen oft semantisch hochgradig transitive Sachverhaltsdarstellungen zu kodieren: Ein belebter Agens wirkt punktuell auf ein affiziertes Objekt ein (Ausnahme: (17)). Die Transitivität ist aber insofern reduziert, als die Selektionsbeschränkungen für das direkte Objekt nicht spezifischer sein dürfen als für das Subjekt: wenn das Verb eine rückbezügliche Einwirkung auf den Urheber des Vorgangs selbst kodieren können soll, muß es von seinen Selektionsbeschränkungen her zulassen, daß die gleichen Argumente, die in Subjektsposition treten können, auch in die Position des direkten Objekts treten können (cf. Ruwet 1972:107). Die Menge der möglichen Subjekte ist eine Teilmenge der möglichen direkten Objekte. Das heißt, daß im Gegensatz zu den proto-

117

typisch transitiven Konstellationen, wo ein nicht-belebtes Patiens affiziert wird, auch das Patiens i.a. menschlich sein muß. 5.1.2.2. Teil-Ganzes-Reflexivkonstruktionen Bei einigen Verben gibt es ein Teil-Ganzes-Verhältnis von konzeptualisiertem SubjektsPartizipanten und konzeptualisiertem Objekts-Partizipanten in der reflexiven Verwendung: (18) (19) (20) (21)

Exceptionnellement, Jean s'est peigne aujourd'hui. II se rase tous les jours. Elle s'est mouchee et eile a continue son discours ensuite. Get enfant se gratte trop.

Trotz des Teil-Ganzes-Verhältnis der beiden Partizipanten sind die Aktanten und Argumente formal koindiziert. Konzeptuell ist jedoch der Zielpunkt des Vorgangs ein Teil des Ausgangspunktes. Charakteristisch für diesen Typ von Reflexivkonstruktionen sind Verben der Einwirkung auf den eigenen Körper, also Verben der Körperpflege und verwandte Sachverhalte. Der menschliche Körper ist nun ein ganz besonders dichter Frame - er ist historisch und kulturell weitgehend invariant (cf. Kap. 1.4.2.). Die Kontiguität der Körperteile zueinander einerseits und zum Konzept der ganzen Person andererseits ist also besonders ausgeprägt und kann sich im Lauf der Sprachgeschichte hervorragend in der Lexik und Grammatik einer Sprache niederschlagen. Ein Beispiel hierfür sind die Konstruktionen des „unveräußerlichen Besitzes", genannt auch „externe Possessoren" (König/Haspelmath 1994+): (22a) (22b) (23 a) (23b)

Les enfants, le medecin leur a radiographie l'estomac. (cf. Vergnaud/Zubizarreta 1992:598) Les enfants, le medecin a radiographie leur estomac. *La voiture, il lui a lave le toit. La voiture, il a lave son toit.

Bei einer Person-Körperteil-Besitzbeziehung kann der Possessor auch als Dativargument kodiert werden (22a). Die Possessor-NP braucht also nicht, wie bei Possessionsbeziehungen sonst üblich, als Dependens des Possessums kodiert zu werden, sondern kann syntaktisch „außerhalb" des Possessums stehen (daher der Name „externer Possessor").12 Bei einer anderen Besitzbeziehung (Auto-Autodach) ist diese abweichende Kodierung dagegen nicht möglich (23a). Natürlich sind beide Relationstypen Kontiguitätsbeziehungen; aber die Kontiguität Person-Körperteil ist die stabilere. Sie kann sich daher sprachgeschichtlich besser sedimentieren. Die Kontiguität von Person zu Körperteil scheint universal zu den stabilsten zu gehören; andere Kontiguitätstypen stehen in ihrem Stabilitätsgrad zwischen den beiden erwähnten Typen. Dabei ist zu denken z.B. an die Beziehung der Person zu ihren Kleidungsstücken, zur Wohnung etc. Solche Beziehungen können in einigen Sprachen genau wie die Person-

12

In vielen romanischen Sprachen und auch im Deutschen wird der externe Possessor als Dativ-Argument kodiert (freier Dativ, dativus ethicus, Pertinenzdativ usw.). Sprachvergleichend ist der nichtvalenzgeforderte Dativ aber nicht die einzige Kodierungsmöglichkeit für externe Possessoren. Siehe hierzu ausführlich König/Haspelmath 1994+.

118

Körperteil-Kontiguität mit externem Possessor kodiert werden (cf. König/Haspelmath 1994+:6f). Charakteristisch für die Prominenz der Teil-Ganzes-Kontiguität bei Reflexivkonstruktionen ist nun, daß das von dem jeweiligen Vorgang betroffene direkte Objekt als unveräußerlicher Besitz, d.h. im Französischen mit einem Dativargument als externem Possessor, repräsentiert werden kann: (24) (25) (26) (27)

Exceptionnellement, Jean s'est peigne les cheveux aujourd'hui. II se rase tous les jours la moustache. Elle s'est mouche le nez. Get enfant se gratte trop les bras.

Das Reflexivpronomen der pars-totum-Konstmktion ist also mit einem als unveräußerlicher Besitz repräsentierbarem lexikalischen Ausdruck (für diejenige Pars, die in (18)-(21) metonymisch suggeriert wurde) kommutierbar. Hier fungiert das Reflexivpronomen dann als indirektes Objekt. Entscheidend in der jetzigen Diskussion ist jedoch nicht, daß in (24)-(27) überhaupt eine Reflexivkonstruktion vorhanden ist, sondern daß der Possessor des direkten Objektes nicht- wie gewöhnlich- attributiv realisiert werden muß, sondern auch extern kodiert werden kann. Im betrachteten Fall erfolgt diese Kodierung als freier Dativ. Die Kodierbarkeit als externer Possessor bestätigt ein besonders ausgeprägtes Kontiguitätsverhältnis zwischen Possessor und Possessum, d.h. der Teil-Ganzes-Beziehung in Form der Relation von Person zu Körperteil. Es wurden bisher zwei Typen von Reflexivkonstruktionen vorgestellt, die direkt-reflexive und die Teil-Ganzes-Beziehung. Nun läßt sich überlegen, ob nicht der erste Typ als ein Spezialfall des zweiten ausgewiesen werden kann. Man kann argumentieren, gerade auch mit Blick auf die Figur (14), daß das „Teil" (die B-Fläche) der Teil-Ganzes-Konstruktion ja verschieden groß sein kann und im Extremfall genauso groß ist wie das Ganze bzw. es ganz ausfüllt. Insofern läßt sich die direkt-reflexive Konstruktion deduktiv als Spezialfall der parstotum-Konstruktion herleiten. Damit wäre ein Beispiel dafür erbracht, daß Identität ein Grenzfall nicht nur der Similarität, sondern auch der Kontiguität ist, nämlich genau dann, wenn ein Teil ein Ganzes vollständig ausfüllt (cf. Kap. 1.4.2.). Problematisch an dieser - prinzipiell erwünschten - Reduktion von Funktionstypen ist allerdings, daß genau das Charakteristikum, welches als typisch für die pars-totumReflexivkonstruktionen ausgewiesen werden konnte, nämlich die Kodierbarkeit des direkten Objekts als unveräußerlicher Besitz, für die direkt-reflexiven Konstruktionen nicht mehr gilt: (28) (29)

*C'est quelqu'un qui s'aime punir la propre personne. *Je n'aimerais pas me regarder la propre image ä la tele.

Wenn die direkt-reflexive Konstruktion in der Tat ein Extremfall der pars-totum-Konstruktion sein sollte, so müßte die direkt-reflexive Konstruktion auch das gleiche syntaktischsemantische Verhalten wie der pars-totum-Typ aufweisen. Dies ist nicht der Fall. Ein weiterer Einwand gegen die Gleichsetzung der beiden Funktionstypen ist, daß zwischen einem Ganzem und sich selbst schwerlich eine Kontiguitätsassoziation hergestellt werden kann - was in der hier interessierenden Perspektive erforderlich wäre (siehe Kap. l .4.2.).

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Eine mögliche Lösung des Problems ist, die direkt-reflexive Konstruktion als „asymptotischen" Grenzfall der pars-totum-Konstruktion aufzufassen. In diesem Sinne ist die direkt-reflexive Konstruktion weiterhin ein Grenzfall der pars-totum-Konstruktion; ein Grenzfall, dem sich zwar infinitesimal angenähert werden kann, der aber nicht ganz erreicht werden darf. Ist er nämlich erreicht, so gelten die Charakteristika der pars-totum-Konstruktion nicht mehr. Sieht man jedoch diesem Problem ab, so kann als generelles Charakteristikum von Reflexivkonstruktionen gelten, daß sie über der Oberfläche Subjekt-Objekt eine Totum-parsRelation einrichten. Hierauf komme ich in 5.1.3.2. zurück. 5.1.2.3.

-metonymische Reflexivkonstruktionen

Beim dritten Funktionstyp von Reflexivkonstruktion besteht ein -metonymisches Verhältnis zwischen Subjekt und direktem Objekt. Mit „ -metonymisch" ist ein Kontiguitätsverhältnis gemeint, das kein Teil-Ganzes-Verhältnis ist (cf. l .4.2.). Dieser Funktionstyp hat also mit dem zweiten die Kontiguitätsbeziehung zwischen Subjekt und Objekt gemein. Daß er hier nicht mit dem pars-totum-Typ gemeinsam behandelt wird, liegt an seinem prinzipiell unterschiedlichen syntaktischen Verhalten. Zunächst einige Beispiele: (30) (31) (32) (33) (34) (35) (36)

C'est a partir du regard des autres que nous nous assumons comme nous. (Sartre, cf. PR s.v.) Je ne me suis pas raconte dans ce roman. (Chardonne, cf. PR s.v. „raconter") Marie s'est choisie sur le tard. Heureusement il commence ä se confesser. Voici des annees que Jean se cherche en vain. Jean se vit tres mal en tant qu'homme. Montherlant a fini par se reussir.

Dies sind transitive Verben, deren reflexive Verwendung jeweils nicht lexikalisiert ist.13 Subjekt und direktes Objekt der Reflexivkonstruktion sind nicht nur nicht strikt koreferent, sondern es gibt überhaupt keine referentielle Deckung mehr zwischen den beiden Partizipanten. Waren bei der pars-totum-Konstruktion die beiden Partizipanten wenigstens noch in partieller Deckung, so sind sie es jetzt gar nicht mehr. Das direkte Objekt referiert hier nicht auf einen Teil des Subjektspartizipanten, sondern auf etwas, was mit dem Subjektspartizipanten zwar in enger Kontiguität steht, aber doch als etwas von ihm Getrenntes wahrnehmbar ist: in (30) z.B. 'Existenz', in (31) 'Leben', in (32) 'Lebensweg', in (33) 'Sünden', 'Verbrechen', 'Missetaten' usw. Wichtig ist, daß das Objektargument nicht phraseologisch fixiert ist wie z.B. in dt. sie hat sich gemacht, sondern daß es sich allein aus der Rollensemantik der Objektstelle ergibt. Der metonymische Charakter der Konstruktion zeigt sich daran, daß zu ihrem Verständnis eine Kontiguitätsassoziation bemüht werden muß. Entsprechend müssen die SeAls Kriterium für diese Einschätzung dient die lexikographische Erfassung im PR. Dieses Wörterbuch ist für das Problem der Lexikalisierung von Reflexivkonstruktionen durchaus sensibilisiert und unterscheidet reflexive Verwendungen transitiver Verben, lexikalisierte reflexive Subtypen transitiver Verben und schließlich lexikalisierte reflexive Sememe, die den jeweiligen transitiven Schwesterlesarten in der hierarchischen Erfassung von Bedeutungen gleichgestellt sind.

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lektionsbeschränkungen für das direkte Objekt hinreichend eng sein, damit die assoziative Verbindung zwischen virtueller Besetzung des direkten Objekts und aktueller Besetzung des Subjekts vollzogen werden kann (cf. 5.1.1.). Charakteristisch für den -metonymischen Funktionstyp ist seine semantische Vagheit. Die Interpretation des Reflexivpronomens ist nicht auf einen bestimmten Referenten festgelegt, sondern kann aus dem ganzen Spektrum dessen wählen, was sich im Zusammenspiel von virtueller Besetzung der Objektstelle und dem aktuellen Subjektpartizipanten ergibt. Es stellt sich ein charakteristisches „Flimmern" verschiedener Interpretationsmöglichkeiten ein. Die Vagheit muß kein Nachteil sein; sie kann auch kommunikativ sehr effektiv sein, wenn z.B. der Referent nicht explizit genannt, sondern nur suggeriert werden soll. Nicht zu unterschätzen ist auch der Ökonomieeffekt, den die Kürze des klitischen Reflexivpronomens im Vergleich zu einem lexikalischen Ausdruck ermöglicht. Bei der pars-totum-Reflexivkonstruktion sowie der E-metonymisehen Konstruktion sind Subjekts- und Objektspartizipant nicht strikt koreferent, sondern in einem KontiguitätsVerhältnis. Warum werden sie hier dann beide als getrennte Funktionstypen betrachtet? An unterschiedlichem Verhalten sowohl in der Diachronie als auch in der Synchronie läßt sich leicht zeigen, daß die Trennung nötig ist. Zunächst zur Synchronie (zur Diachronie in 5.1.4.): Daß der metonymische Funktionstyp eine völlig andere Charakteristik aufweist als der pars-totum-Typ, läßt sich daran zeigen, daß die Kodierung des Objektspartizipanten als „unveräußerlicher Besitz" bei der metonymischen Konstruktion nicht möglich ist:14 (30') (31') (32') (33') (34') (35') (36')

*Nous nous assumons la vie. *Je ne me suis pas raconte la vie dans ce roman. *Marie s'est choisi la vie sur le tard. *Heureusement, il commence ä se confesser les crimes. *Voici des annees que Jean se cherche en vain la voie. *Jean se vit tres mal la condition en tant qu'homme. *Montherlant a fmi par se reussir le suicide.

Obwohl die Syntax in diesen Beispielen der Externer-Possessor-Konstruktion des pars-totumFunktionstyps analog ist, sind die Äußerungen jeweils ungrammatisch. Dies scheint erklärbar: Als unveräußerlicher Besitz sind nur solche Partizipanten kodierbar, die in einem hochgradigen Kontiguitätsverhältnis zu ihrem jeweiligen Possessor stehen (cf. oben 5.1.2.2.). Dies ist typischerweise nur der Fall bei einem Kembereich von Kontiguitätsverhältnissen, nämlich der Relation des menschlichen Körpers zu seinen Körperteilen. Diese Relation wird versprachlicht bei den Reflexivkonstruktionen der Einwirkung auf den eigenen Körper, aber nicht bei den metonymischen Konstruktionen. Insofern ist es nicht sehr erstaunlich, daß die Emetonymisehen Konstruktionen, da sie eine schwächere Kontiguität kodieren, auch nicht die Externer-Possessor-Konstruktion erlauben. Der wichtige Unterschied in bezug auf die Zulässigkeit der Extemer-PossessorKonstruktion rechtfertigt es, den E-metonymi sehen Typ als eigenen Funktionstyp zu behan14

Die jeweils intendierte (unakzeptable) Lesart ist natürlich jeweils die des externen Possessor-Dativs. Wird das Dativpronomen als Benefaktiv gelesen, so mögen in einigen Fällen die Äußerungen akzeptabel sein.

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dein. Trotz des schwächeren Kontiguitätsverhältnisses der -metonymischen Konstruktion ist dort nach wie vor eine Kontiguitätsrelation auf Designatsebene zwischen Subjekts- und Objektspartizipant vorhanden. Das unterschiedliche Verhalten der pars-totum- und der Emetonymischen Konstruktion ermöglichen daher, verschiedene Kontiguitätsgrade an unterschiedlicher sprachlicher Repräsentation aufzuzeigen. 5.1.3. Probleme der Reflexivität in der generativen Bindungstheorie Die in der gegenwärtigen Sprachwissenschaft sicherlich einflußreichste Theorie der Reflexivkonstruktionen ist Noam Chomskys (1981) Bindungstheorie. Sie ist ein zentrales „Modul" im Prinzipien- und Parametermodell, auch als „Government & Binding"-Theorie bekannt. Ich diskutiere in diesem Abschnitt einige Probleme der Reflexivität, die im generativen Rahmen als Probleme der Bindungstheorie formuliert wurden und für die ich hier alternative Lösungen vorschlage. Die Bindungstheorie besteht aus drei Prinzipien (cf. z.B. Chomsky 1980, Fanselow/Felix 1990:11,111): Prinzip A: Eine Anapher (=Reflexiv- oder Reziprokpronomen) muß in ihrer Bindungsdomäne gebunden werden, d.h. von einem koreferenten Ausdruck c-kommandiert15 werden. Prinzip B: Andere Pronomina müssen in ihrer Bindungsdomäne frei sein, d.h. sie dürfen nicht von einem koreferenten Ausdruck c-kommandiert werden. Prinzip C: Nichtpronominale referierende Ausdrücke („R-expressions") müssen immer frei sein.

Wie genau die Bindungsdomäne zu definieren ist, ist in der generativen Syntax umstritten, ist hier aber irrelevant. Wichtig an Chomskys Ansatz ist, daß die Koreferenzbeschränkungen der Bindungstheorie konfigurational formuliert werden. D.h. sie werden ausschließlich über konstituentielle Hierarchiebeziehungen gesteuert, sie sind nicht lexikalisch determiniert. 5.1.3.1. *Jean se preoccupe: Argumentstruktur, type mismatch, oder cs-superiority? Problematisch für die Bindungstheorie sind Sätze wie die folgenden: (37a) *Jean se preocuppe. [im Sinne von: sein Zustand o.a. macht ihn selbst besorgt] (37b) *Jean se semble intelligent. c-Kommando ist ein zentraler Begriff c-kommandiert eine Konstituente dominiert, auch dominiert wird, ohne An folgender Konstellation kann man A

struktureller Relationen in der generativen Syntax. Eine Konstituente genau dann, wenn von derjenigen Konstituente, die unmittelbar daß von selbst dominiert wird. Cf. Fanselow / Felix (1990:1, 97). den Begriff veranschaulichen:

/\C / \E F/ \ G D B

B c-kommandiert C, F und G, weil diese letzteren Konstituenten von A dominiert werden, derjenigen Konstituente, die B unmittelbar dominiert. Umgekehrt werden B, D und E von C c-kommandiert. Dagegen ckommandiert D nur E, und F nur G. A c-kommandiert überhaupt keine andere Konstituente.

122 (38) ?They concern/perturb each other/themselves. (Grimshaw 1990:158) [Ringo Starr besucht das Wachsfigurenkabinett „Mme. Tussaud's" in London und sieht seine eigene Wachsfigur:] (39a) ?Ringo [der Mensch] stumbled and fell on himself [die Statue]. (39b) *Ringo [die Figur] toppled over and fell on himself [den Menschen], (Jackendoff 1992:4-5)

(37a/b) und (38) zeigen, daß - offenbar übereinzelsprachlich - einige sog. „Psych"-Verben keine Reflexivierung zulassen. Es sind dies Verben mit einem Stimulus-(Empfmdungsinhalt)-Subjekt und RExperiencer-Objekt. In (39a/b) geht es um Sätze, bei denen die BezieRFP RPP hung zwischen einer Person und deren physischer Repräsentation (Statue) ausgedrückt werden soll. Dies ist mit einer Reflexivkonstruktion (noch) möglich, wenn das Antezedens auf die REFPerson referiert (39a), nicht jedoch, wenn das Antezedens auf die physische Repräsentation zugreift (39b). Diese Daten sind mit der Bindungstheorie offenbar nicht zu erklären. Denn in all diesen Sätzen c-kommandiert jeweils ein Subjekt ein koreferentes direktes Objekt (37a/b), (38) bzw. Präpositionalobjekt (39a/b) (wenn man, wie im GB-Rahmen üblich, davon ausgeht, daß das Subjekt unmitttelbar von einer Konstituente dominiert wird, die auch die ganze Verbalphrase dominiert).16 Die Sätze (37a/b)-(38) entsprechen der normalen Konstellation direkter Reflexivkonstruktionen. Die Prinzipien der Bindungstheorie bieten daher keine Möglichkeit, die schlechte Akzeptabilität bzw. Nichtakzeptabilität der Äußerungen (37)-(39b) zu erklären. Konfigurationale Bedingungen sind nicht verletzt. Die Erklärung muß daher anderweitig gesucht werden. Im generativen Rahmen haben sich in jüngerer Zeit zwei Autoren mit diesem Problem auseinandergesetzt, Grimshaw (1990) und Jackendoff (1992). Ihre Ansätze werden hier zunächst referiert. Grimshaw (1990) diskutiert das in (37) und (38) illustrierte Phänomen am Italienischen. Dort gibt es eine vergleichbare Beschränkung: *Gianni si preoccupa. Sie stellt fest, daß ein solches Reflexivierungsverbot nur bei Verben mit RStimulus im Subjekt und RExperiencer im direkten Objekt auftritt (1990:152), in generativer Terminologie: das Verb hat kein Dstrukturelles Subjekt. Zur Erklärung des Reflexivierungsverbots wird nun auf eine in der generativen Syntax verbreitete Argumentation zurückgegriffen, nach der die romanischen reflexiven Klitika keine Aktanten seien, sondern „argumentabsorbierende" Morpheme, deren Funktion lediglich darin bestehe, die Valenz des Verbs um l zu reduzieren.17 Diese Funktion hätten sie namentlich auch dann, wenn es sich um „echte" Reflexiva handle. Grimshaw (1990:154) schlägt nun entgegen ihrer früheren Annahme in Grimshaw (1982) vor, daß das Reflexivpronomen nicht die Objektstelle abbinde, sondern die Subjektstelle. Die Valenzreduktion bestünde also darin, die Subjektstelle, die Position des sog. externen Arguments, zu p

16

17

Diese Konstituente war in der Standardtheorie S (der ganze Satz), in GB ist es IP (Inflection Phrase, die maximale Projektion des Verbflexionselements INFL), im Mininalist Program (Chomsky 1993) wird der schon in einigen Vorarbeiten (bes. Pollock 1989) formulierte Vorschlag sanktioniert, INFL in weitere SubPhrasen aufzuteilen (Tempusphrase, Subjektkongruenzphrase, Objektkongruenzphrase bzw. teilweise sogar noch Aspektphrase, Modusphrase usw.). In GB ist das Subjekt der Specifier, d.h. die unmittelbare linke Tochterkonstituente von IP Der Satz Jean dort würde vereinfacht so repräsentiert: [,P Jean [,. [, 3SG-PRÄS] [VP dormir ]]]. Cf. Grimshaw (1982), Wehrli (1986).

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unterdrücken; die Position des Oberflächensubjekts sei dann Resultat eines Bewegungsprozesses. Nach Grimshaw können Verben wie preoccuper nicht reflexiviert werden, weil die Reflexivierung ein Argument abbindet, das gar nicht existiert (1990:154): das Verb hat kein externes Argument (D-strukturelles Subjekt), die Reflexivierung als Abbinden einer solchen Leerstelle muß daher scheitern. Dieser Ansatz bietet eine Erklärung für das Reflexivierungsverbot im Romanischen; die augenscheinlich ähnlich gelagerten Fälle im Englischen nach dem Muster they worried each other lassen sich so aber nicht erklären, da für Grimshaw nur im Romanischen Reflexivierung mit Argumentabsorption einhergeht (warum eigentlich nicht im Englischen, möchte man fragen). Hier greift Grimshaw (1990:160) zu einer semantischen Erklärung: Das Subjekt von Verben wie worry, frighten, preoccuper usw. sei nicht ein Individuum, sondern Eigenschaften oder Merkmale von Individuen (z.B. ihre Gesundheit o.a.). Wenn solche Verben Subjektbesetzungen mit dem Merkmal [+ menschlich] haben, so sei dies stets Resultat einer „Typenverschiebung" (type shift) von Eigenschaften zu deren Trägern; Koreferenz zwischen einem typenverschobenen Subjekt und einem reflexiven oder reziproken Objekt sei nicht möglich, deshalb seien Sätze wie they worried each other blockiert. Die Verletzung der Bindungsregeln basiere auf einem type mismatch zwischen Antezedens und Anapher. Eine ähnliche Erklärung wie die letzte gibt Jackendoff (1992) für die „Mme.-Tussaud's"Beispiele. Er schlägt vor, die Bindungstheorie generell nicht mehr syntaktisch zu formulieren, sondern in einer Theorie der konzeptuellen Struktur (cf. Jackendoff 1990 für Details). Die konzeptuelle Struktur ist einerseits modular an die Syntax angeschlossen und andererseits an die allgemeinen (sprachunabhängigen) Funktionen der Kognition (z.B. Verarbeitung von Wahrnehmungen). In der konzeptuellen Struktur gibt es ein „höher" und „tiefer" (cssuperiority); „tiefer" bedeutet, daß der jeweilige Term in mehr Prädikate eingebettet ist. In RT^F _^ diesem Sinne wäre Ringos Wachsfigur als Referent für die NP Ringo in der konzeptuellen Struktur tiefer (cs-inferior) als REFRingo für die selbe NP (Jackendoff 1992), weil die Verschiebung von der Person auf ihre physische Repräsentation (hier die Wachsfigur) als ein weiteres Prädikat zu analysieren wäre. Prinzip A der Bindungstheorie wäre demnach so umzuformulieren, daß der Binder einer gebundenen Variable (d.h. u.a. Reflexiv- und Reziprokpronomina) in der konzeptuellen Struktur nicht tiefer als die Variable selbst angesiedelt werden dürfe. In diese Theorie paßt es nun, daß Ringo zwar über seine Figur stolpern kann, aber nicht die Figur über ihn selbst (39): im letzteren Fall wäre die gebundene Variable, d.h. hier das auf Ringo selbst referierende Pronomen, in der konzeptuellen Struktur höher angesiedelt, weil nicht mehr in ein weiteres Prädikat eingebettet.18 Nach Jackendoffs (1992:26f.) Ansicht lassen sich die von Grimshaw genannten Beispiele ebenfalls mit dieser Analyse erklären: Der „typeshift" wäre als weiteres auf dem Subjektspronomen operierendes konzeptuelles Prädikat zu

18

Ein anderer Erklärungsansatz erwächst aus der Theorie Ekkehard Königs über emphatische Reflexiva. Nach König (1995) ist eine Bedeutung emphatischer Reflexiva, Zentralität in Ereignisrahmen (Frames) zu signalisieren: Bei dem Unfall kam der Beifahrer mit dem Schrecken davon. Der {Fahrer selbst/ ^Beifahrer selbst} wurde schwer verletzt. In diesem Sinne müßte man DRingo als zentraler als seine DWachsfigur analysieren und könnte so die Ungrammatikalität von (39b) herleiten.

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betrachten, womit das Subjekt als Binder in der konzeptuellen Struktur - unerlaubterweise tiefer als das direkte Objekt angesiedelt wäre. Ich möchte im folgenden auf problematische Aspekte der Erklärungen von Grimshaw und Jackendoff aufmerksam machen und eine Alternative vorschlagen. Zunächst ist in Grimshaws Theorie verwirrend, daß für ein offensichtlich analoges Phänomen in verschiedenen Sprachen - Reflexivierungsverbot bei einer bestimmten übereinzelsprachlich definierten Verbklasse - zwei völlig unterschiedliche Erklärungen geboten werden. Ich möchte diese nun etwas genauer betrachten: Grimshaws Analyse basiert auf der Beobachtung, daß Verben mit einer bestimmten Argumentstruktur (it. preoccupare usw.) keine Reflexivierung erlauben und nutzt diesen Befund im Sinne eines hinreichenden Grundes für die Erklärung des Reflexivierungsverbots. Es läßt sich aber leicht zeigen, daß diese Argumentstruktur noch kein hinreichender Grund für die Blockierung der Reflexivität ist. Zunächst ist bei kontrastiver Lesart bzw. emphatischem Reflexivausdruck Reflexivität auch zumindest bei einigen der von Grimshaw erwähnten Verben möglich (cf. auch Belletti/Rizzi 1988:297 für ähnliche Daten des Italienischen): (40a) ?Je me choque. (40b) C'est moi qui me choque. (40c) Je me choque moi-meme.

Darüber hinaus, und das scheint mir der gravierendste Einwand gegen Grimshaw (weil auch als immanente Kritik verstehbar), gibt es „Psych"-Verben, die eine Reflexivierung erlauben, und zwar mit dem -Reflexivpronomen, z.B. plaire (auch it. piacere usw.): (4l) plaire: L'essentiel, entre Madame de Charriere et Constant, ce sont deux esprits qui s'affrontent, se plaisent, se denouent. (Henriot, Portraits defemmes, cit. RE s.v. „fusion")

Grimshaws Theorie bietet keine Handhabe herzuleiten, warum das indirekte Objekt mit einem Reflexiv- (oder Reziprok-)pronomen besetzt werden darf, das direkte Objekt hingegen nicht. Das gleiche gilt für Jackendoffs Argumentation: Wie man an plaire sehen kann, ist die „Typenverschiebung" bzw. die „Einbettung eines weiteren Prädikats" an bestimmte syntaktische Bedingungen geknüpft (indirektes vs. direktes Objekt), insofern kann sie nicht allein mit ausdrucks-unabhängigen Eigenschaften der Konzeptuellen Struktur erklärt werden. Des weiteren muß grundsätzlich gegen die Argumentabsorptionsanalyse eingewendet werden, daß sie keine Möglichkeit bietet, zwischen den „echten" Verwendungen des Reflexivpronomens, der lexikalischen und der grammatischen Pseudoreflexivität zu unterscheiden. Echte Reflexivität unterscheidet sich von beiden Typen der Pseudoreflexivität dadurch, daß in ihr das Klitikon einen vom Subjekt unterscheidbaren Referenten hat.19 Dieser Unterschied ist nicht mehr sichtbar, wenn man die Funktion des Klitikons auch bei der echten Reflexivität nur als Valenzreduktionsaffix ansieht, weil das Klitikon dann keine referentielle Potenz mehr haben kann. Zusammenfassend ist gegen Grimshaws Argumentabsorptionsanalyse zu sagen, daß die erwähnte Argumentstruktur keineswegs einen hinreichenden Grund für das Reflexivierungs-

„Unterscheidbar" im Sinne der in 5. l. l. dargelegten referentiellen Analyse von Reflexivpronomina.

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verbot darstellt und daß, zweitens, Argumentabsorption als Rolle des Reflexivklitikons die Vielfalt von Reflexivkonstruktionen im Romanischen unzulässig verkürzt. Der Befund, daß die Reflexivierung bei bestimmten Verben ohne Agensrolle unmöglich ist, hat natürlich unbeachtet seiner problematischen theoretischen Interpretation weiterhin materielle Gültigkeit; er muß jedoch in eine konzeptuell befriedigendere Erklärung übertragen werden. Nun zum „type-shift" und der „cs-superiority": Wenngleich Jackendoffs Erklärungsansatz in eine elaborierte Theorie integriert ist, können beide Analysen hier als Varianten betrachtet werden, denn im Kem heben beide auf die referentielle Verschiebung ab, ohne diese jedoch inhaltlich näher zu charakterisieren. In Grimshaws Ansatz wird der „type-shift" als eine adhoc-Beschränkung eingeführt: warum sollten gerade diese Psych-Verben solchermaßen beschränkt sein? Und: warum spielen die gleichen Verschiebungsphänomene bei den romanischen Verben der gleichen Verbklasse in Grimshaws Argumentation keine Rolle? Bei all diesen Phänomenen geht es anscheinend um eine systematische Blockierung von Metonymien. Die Verschiebung („type shift") von einer Person zu ihren Eigenschaften ist offensichtlich kontiguitätsbasiert; die Verschiebung von 'physische Darstellung einer Person' zu 'Name dieser Person' ist ebenfalls metonymisch (der Name einer Person ist ein relevanter Teilaspekt auch ihrer figürlichen Darstellung). Es scheint also einen Verbtyp zu geben, der eine metonymische Besetzung des Subjekts bei reflexivem Objekt verbietet. Die Subsumtion solcher Phänomene unter metonymische Prozesse scheint mir treffender als eine Kategorisierung als Typenverschiebung (Grimshaw) oder cs-superiority (Jackendoff), weil sie die Art der Verschiebung inhaltlich charakterisiert; das leisten die Bezeichnungen von Grimshaw und Jackendoff nämlich nicht. Bei Jackendoffs formal-semantischer Repräsentation muß man sich die Art der Verschiebung, die mit dem „Prädikat" PHYSICAL REPRESENTATION ( ) (cf. Jackendoff 1992:16) ausgedrückt wird, gewissermaßen zwischen den Klammern dazudenken. 5. l .3.2. Warum können manche Subjekte von Reflexivkonstruktionen nicht metonymisch besetzt werden? Es stellt sich also die Frage, warum die Subjekte bestimmter Verben nicht metonymisch besetzt werden können, wenn das direkte Objekt ein Reflexivpronomen ist. Die einschlägige Verbklasse sind transitive Verben mit RStimulus-Subjekt und RExperiencer-direktem Objekt. Diese Verben sind „markiert" insofern, als sie der typologischen Rollen-Kodierungshierarchie (cf. z.B. Givon 1984:137-145; hier oben 4.7.1.) zuwiderlaufen: der Experiencer wird nicht als Subjekt kodiert, obwohl ihm das von seinem Platz in der Rollenhierarchie (AGT > EXP > PAT) her „zustünde" Ein Variationsparameter ist dabei offensichtlich die (morphologische und phonetische) Stärke des Reflexivausdrucks.20 Je stärker die reflexive Form ist, desto eher kann das Subjekt auch in der kritischen Verbklasse metonymisch besetzt werden: (42a) *Gianni si preoccupa. (42b) ?Gianni si preoccupa a se stesso. (Belletti/Rizzi 1988:297)

20

Zur Klassifizierung von Reflexivmorphemen nach „Stärke" und „Schwäche" cf. Kemmer 1993.

126 (43a) ?Je me choque. (43b) Je me choque moi-meme. (43c) C'est moi qui me choque.

Die klitischen Reflexivpronomina des Französischen und Italienischen erlauben die metonymischen Übertragungen am wenigsten; die emphatischen Reflexivausdrücke se stesso bzw. lui-meme sowie die kontrastive mise en relief sind in dieser Hinsicht bedeutend besser.21 Als erste Annäherung kann festgehalten werden: Die Akzeptabilität der metonymischen Interpretation steigt mit der Stärke der Reflexivausdrücke, die mit zunehmender Stärke die Aufmerksamkeit des Hörers auf sich fokussieren. Das bedeutet auch, daß die Rollen- und Aktantenkonfiguration mit Stimulus-Subjekt und Experiencer-Objekt nicht per se ungrammatisch ist und daß daher die auf die Bindungstheorie rekurrierende Argumentation von Grimshaw nicht richtig sein kann (und die Überlegung Jackendoffs erst recht nicht, da dieser mit konzeptuellen Strukturen operiert, die vom sprachlichen Ausdruck prinzipiell unabhängig sind und daher auch für die „Stärke" des Reflexivpronomens nicht sensitiv sein dürften). Darüber hinaus paßt insbesondere der Kontrast in (39) (kontiguitätsbasierte Referenz des reflexiven [Präpositionalobjekts ist möglich - des Subjekts aber nicht) zum in 5.1.1. diskutierten Befund, daß das Reflexivpronomen ein größeres Metonymiepotential als andere referierende Ausdrücke hat. Auch die in den Beispielen (37)-(38) ersichtliche Abneigung der Subjektsposition gegen Metonymien weist eine Analogie auf zu der in 4.7. erörterten These, daß für metonymische Polysemiemuster die Präferenz „direktes Objekt vor Subjekt" gilt: in (37) und (38) soll das Subjekt metonymisch referieren, obwohl ein direktes Objekt vorhanden ist. Es wurde schon festgestellt, daß das Verb preoccuper einer Verbklasse angehört, die insofern markiert ist, als bei ihr die Zuordnung von Argumenten zu Aktanten der üblicherweise geltenden Hierarchie zuwiderläuft. Das allein kann natürlich noch nicht die Unmöglichkeit von *je me preoccupe erklären, denn es gibt andere Verben derselben Verbklasse, mit denen die analoge Konstruktion möglich ist (plaire).22 Wichtig ist allerdings, daß bei plaire der Experiencer als indirektes Objekt kodiert wird, d.h. in einer Aktantenrepräsentationsform, die in ihrem typischen semantischen Profil der Experiencer/Benefaktiv-Rolle entspricht (cf. Jacob 1991). Der Unterschied zu plaire wirft nämlich Licht auf ein anderes Charakteristikum des preoccuper^yps: Repräsentiert DO-Reflexivierung im allgemeinen eine Totum-parsBeziehung zwischen Subjekt und direktem Objekt (cf. oben 5.I.2.2.),23 so wird diese Beziehung beim *je me preoccupe-Typ umgedreht: Man kann die Eigenschaften einer Person D

21

n

Die französische und die italienische Konstruktion mit emphatischem Reflexivausdruck unterscheiden sich hier darin, daß der it. emphatische Reflexivausdruck a se stesso auf das Objekt referiert, das frz. moi-meme hingegen auf das Subjekt. Das Semem se preoccuper de qc spielt in der hier vertretenen Argumentation natürlich keine Rolle. Die Totum-pars-Beziehung wird sogar ikonisch reproduziert durch ausdrucksseitige Kürze des klitischen Reflexivpronomens vs. (im allgemeinen) relative Länge des Subjektsausdrucks (Anregung von Peter Koch). Diese Beobachtung hat insofern auch explanativen Charakter, als, wie erwähnt, die aus der Torum-ParsBeziehung zwischen Subjekt und Reflexivausdruck erwachsenden Beschränkungen mit zunehmender Länge des Reflexivausdrucks (z.B. beim emphatischen Reflexivum lui-meme etc.) schwächer werden.

127

(Gesundheit o.a.) als Pars von ihr selbst bezeichnen. Diese Pars wird nun bei preoccuper usw. in Subjektsposition dem Totum des Sprechers als Experiencer gegenübergestellt: (44)

l

B

je me mouche

( *je me preoccupe

In der Typologie der Reflexivkonstruktionen in 5.1.2. wurde dargelegt, daß die Beziehung zwischen Antezedens und Reflexivklitikon entweder eine Identitätsbeziehung, eine Totumpars-Beziehung oder eine -metonymische Beziehung ist; niemals jedoch ist diese Relation eine Pars-totum-Beziehung mit der Pars als Subjekt. Der preoccuper-Typus bestätigt diese Typologie noch: Er entspricht keinem der drei Typen. Bei ihm ist das Subjekt eine Pars, der das Reflexivelement als Totum gegenübersteht. Seine Ungrammatikalität wird daher von der Reflexivtypologie vorhergesagt. Der *je me preoccupe-Typus ist blockiert, weil er den Referenzvorschriften für Reflexivkonstruktionen widerspricht. Die Probleme des *je me preoccupe-Typus entstehen erst dadurch, daß die Relation von Argumenten (Semantik) zu Aktanten (Syntax) bei diesen Verben im erwähnten Sinne markiert ist. Die Valenz von preoccuper läßt sich etwa folgendermaßen darstellen: (45) preoccuper 'Sorgen bereiten' +them

+rhem

Phänomen [+ Gegenstand von Sorgen]

Experiencer [+ menschlich]

S

DO

Bei einer reflexiven Besetzung dieses Verbs muß das Reflexivpronomen als DO mit dem Experiencer besetzt werden. Der Experiencer versprachlicht die „ganze Person" Der Subjektsaktant als menschlicher Antezedens des Experiencer-Reflexivpronomens muß metonymisch interpretiert werden, da die Selektionsbeschränkungen für das Subjekt eine [+ menschlich] Besetzung eigentlich nicht zulassen. Die metonymische Interpretation bringt es mit sich, daß mit dem menschlichen Subjekt nicht die ganze Person gemeint ist, sondern nur eine durch die Selektionsbeschränkungen spezifizierte Pars: etwas an jemandem, das Gegenstand von Sorgen sein kann (sein Wohlbefinden, seine Finanzen etc.).24 Es stehen sich also bei reflexiver Besetzung dieses Verbs eine Pars als S und ein Totum als DO gegenüber; diese Kombination wio

24

Angesichts von Referenten wie „seine Finanzen" für das Subjekt der Konstruktion könnte man die Relation zwischen S und DO nicht nur als Pars-totum-Beziehung, sondern auch als kontig im nicht-meronomischen Sinne ( -metonymisch) auffassen. Für die hier vertretene Argumentation ist dies jedoch sekundär, da auch ein -metonymisches Subjekt nichts an der Asymmetrie zwischen S und DO ändert, bei der der DOReferent als Totum der Bezugspunkt ist.

128

derspricht den Referenzregeln für Reflexivkonstruktionen und kann daher nicht grammatisch sein. Zwar war Grimshaw mit dem „type-shift"-Ansatz auf der richtigen Spur; so isoliert, wie sie das Phänomen betrachtet, mußte es allerdings bei einer unbefriedigenden ad-hocErklärung bleiben. Betrachtet man jedoch, wie in 5.1. vorgeschlagen, die Beziehung zwischen den Partizipanten der Reflexivkonstruktion genauer, so kristallisieren sich ganz bestimmte Typen heraus; auf der Grundlage dieser Typologie läßt sich begründen, warum *je me preoccupe blockiert ist. Unerheblich für die hier vorgeschlagene Erklärung ist, daß mit starken Reflexiva auch preoccuper-Verben reflexiviert werden können (je me choque moi-meme).25 Denn für solche Formen beansprucht die in 5.1. vorgeschlagene Typologie der klitischen Reflexiva keine Gültigkeit (cf. oben Anm. 4), insofern können gerade noch akzeptable Beispiele des Typs je me choque moi-meme ihr auch nicht widersprechen. 5. l .4. Lexikalische Pseudoreflexivität Bis jetzt habe ich produktiv reflexive Reflexivkonstruktionen betrachtet, d.h. deren Reflexivpronomen auf einen konzeptualisierten Partizipanten verweist. Nun ist es aber eine Eigentümlichkeit der romanischen reflexiven Verben, daß das Reflexivpronomen seine referentielle Autonomie verlieren kann und daß die reflexive Verwendung als eigenes Semem lexikalisiert werden kann (cf. Hatcher 1942). Die lexikalisierten reflexiven Verben haben nur einen Partizipanten (Geniusene 1987:44-47). Den Unterschied von produktiver und lexikalisierter Verwendung kann man sich an folgenden Beispielen klarmachen: (46) En tant que medecin, tu peux te guerir toi-meme. (47a) II ne se deplace qu'en avion. (47b) II ne voyage qu'en avion.

In (46) verweist der Reflexivausdruck auf einen eigenen konzeptualisierten Partizipanten, der allerdings mit dem Subjektspartizipanten token-identisch ist. In (47a) ist der Reflexivausdruck semantisch weitgehend funktionslos, d.h. er verweist nicht auf einen Partizipanten. Dies läßt sich daran sehen, daß der Satz praktisch äquivalent auch mit einem intransitiven Verb (welches unstrittigerweise nur einen Partizipanten kodiert) wiedergegeben werden kann (cf. Kotschi 1974:51). Mit „lexikalischer Pseudoreflexivität" wird hier der Begriff übernommen, den Gestenreicher (1992b) für die Verwendungen des Reflexivpronomens nach Beispiel (47a) (cf. oben

25

Allerdings ist auch mit der starken Reflexivform die Äußerung je me preoccupe moi-meme kaum möglich. Dieser Umstand zeigt, daß es auch innerhalb der Verbklasse mit RStimulus-Subjekt und RExperiencerObjekt Unterschiede im Verhalten der einzelnen Verben gibt. Man beachte z.B. den folgenden Kontrast: *je me preoccupe - ?je me choque -je m 'etonne.

129

(3c)) verwendet:26 „Bei der lexikalischen Pseudoreflexivität ist se gewissermaßen Bestandteil einer Lexie, genauer: Teil eines komplexen Lexems" (1992b:246). Lexikalisch pseudoreflexive Verben zeichnen sich dadurch aus, daß die Bedeutung der Reflexivkonstruktion sich nicht allein aus der Syntax der Fügung ergibt, sondern (zumindest partiell) idiosynkratisch festgelegt ist. Beispiele aus dem Französischen sind s 'evanouir, se rendre, se cultiver etc. Die beiden letzten Beispiele zeigen, daß Oesterreichers Definition in zwei Richtungen präzisiert werden kann: Zunächst ist ein Verb auch schon dann lexikalisch-pseudoreflexiv, wenn das Reflexivpronomen nicht Bestandteil des ganzen Lexems ist, sondern nur einer Lesart eines polysemen Lexems, wie bei se taire, se rendre, se cultiver: (48a) (48b) (49a) (49b) (50a) (50b)

On nous a tu le secret. Pendant eclipse du soleil, les oiseaux se turent. L Operation lui a rendu la vue. II s'est rendu ä la police. Qui meprise la raison cultive la demagogic. II se cultive dans sä bibliotheque. (alle Beispiele aus BD, ss.vv. „taire", „rendre", „cultiver")

Hierdurch ergeben sich natürlich Abgrenzungsprobleme: wann stellt eine Reflexivkonstruktion eine bloß reflexive Besetzung eines transitiven Semems dar, wann ein eigenständiges Semem? Auf dieses Problem komme ich noch zurück. Zweitens kann die semantische Verschiebung, die ein lexikalisch pseudoreflexives Semem von seiner nichtreflexiven Schwesterlesart unterscheidet (cf. Oesterreicher 1992b:246), nicht nur den Verbkopf betreffen (wie bei rendrelse rendre), sondern auch die DO-Leerstelle, d.h. bei der reflexiven Variante das Reflexivpronomen selbst, wie bei culliverlse cultiver. Die beiden Paare rendrelse rendre und cultiver/se cultiver unterscheiden sich nämlich in folgendem Punkt: Der Bedeutungsunterschied zwischen rendre und se rendre ist im Verbkopf anzusiedeln. Se rendre heißt nicht 'sich zurückgeben', sondern 'sich begeben' Hier könnte eine meI^OQ fcf QR ·· tonymische Verschiebung von Verfügung zu Ortlichem Befinden am Werke gewesen sein. Dieser Unterschied kann im leerstellenunabhängigen Bereich beschrieben werden. Gleichwohl ist das Reflexivpronomen bei se rendre semantisch nicht völlig funktionslos, sondern die Bedeutung impliziert durchaus eine gewisse Rückbezüglichkeit. - Anders ist hingegen der Unterschied zwischen cultiver und se cultiver gelagert: Hier läßt sich der Unterschied auf der Leerstellenebene beschreiben. Das DO von cultiver ist relativ selektionsunbeschränkt (cultiver le pays, la terre, une amitie, ses relations usw.). Wäre die reflexive Variante kein eigenes Semem, so müßte die Fügung se cultiver also verschiedenste zur eigenen Person kontige Referenten bezeichnen können (Gesundheit, Aussehen, Kleidung usw.). Nun bedeutet se cultiver aber lexikalisch-idiosynkratisch 'sich bilden', auch paraphrasierbar als 'seine Bildung pflegen' Aus dem großen Bereich der von den Selektionsbeschränkungen für das DO von 26

Oesterreichers Aufsatz bezieht sich zwar aufs Spanische, für die hier relevante Unterscheidung spielt dies jedoch keine Rolle. In seinem Vortrag „Zur Typisierung von Reflexivkonstruktionen: Die französischen verbes pronominaux im romanischen Kontext" (18. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft, Freiburg, 29.2.1996) hat er das gleiche Begriffsraster auch für das Französische verwendet.

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cultiver her möglichen Argumente wählt die reflexive Variante also nur eine kleine Klasse aus. Mit anderen Worten: Die reflexive Variante verengt die Selektionsbeschränkungen für das direkte Objekt, und zwar in stärkerem Maße, als die reflexive Besetzung der Leerstelle dies ohnehin mit sich brächte. Die Semantik des Verbkopfs hingegen bleibt hier unberührt. Die lexikalische Pseudoreflexivität ist hier also - im Gegensatz zum Paar rendrelse rendre als geänderte Bedeutung einer Leerstelle, nicht des Verbkopfs, zu beschreiben. Diese zwei Formen lexikalischer Pseudoreflexivität wurden nach dem Verhältnis definiert, das sie jeweils zu ihrer nichtreflexiven Schwesterlesart haben, d.h. sie unterhalten eine polysemische Beziehung zur Objektleerstelle oder zum Verbkopf der Schwesterlesart. Nach dieser Definition ergibt sich automatisch ein dritter Grundtyp: ihm gehören diejenigen lexikalischpseudoreflexiven Verben an, die keine nichtreflexive Schwesterlesart haben. Beispiele sind s'evanouir, s'effriter, s'evaporer, se refugier. Auf diesen Typ gehe ich abschließend in 5.1.4.5. ein. Im folgenden konzentriere ich mich auf den Polysemietyp cultiverlse cultiver, weil dort die Polysemie den leerstellenbezogenen Bereich der Verbbedeutung betrifft. Er ist im übrigen auch der anscheinend häufigste Typ. Nun kann man fragen, inwieweit die Varianten, die hier als Vertreter lexikalischer Pseudoreflexivität dargestellt wurden, überhaupt gegenüber den nichtreflexiven Varianten als eigene Sememe gelten können. Mit anderen Worten: woher hat man die Gewißheit, daß die reflexive Variante nicht einfach eine direkt-reflexive Verwendung eines transitiven Verbs ist, wo die Besetzung des direkten Objekts lediglich durch die Selektionsbeschränkungen des Verbs metonymisch oder meronomisch verschoben ist? Letzteres wäre z.B. der Standpunkt von Busse (1974). Für ihn sind die betreffenden Varianten „nichts anderes als Typen von kontextuellen Bedeutungen, also Redebedeutungen, dieser Konstruktion" (1974:175). Dieses Argument verfangt nur bedingt. Zwar gibt es sicherlich metonymische Verwendungen von Reflexivpronomina, die gegenüber der transitiven Variante kein neues Semem darstellen. Dies ist der Fall bei Beispielen wie Michel s'accepts (Melis 1990:73). S'accepter ist kein neues Semem gegenüber accepter, weil die verschiedenen Bezeichnungsmöglichkeiten des Reflexivpronomens hier genau dem Bereich entsprechen, der von den Selektionsbeschränkungen für das direkte Objekt im Zusammenspiel mit der Kontiguität zur Besetzung der Subjektstelle eröffnet wird: son destin, sä personnalite usw. Andere reflexive Varianten hingegen, wie se cultiver, sind eindeutig eigenständige Sememe, weil das Reflexivpronomen hier nur auf einen Ausschnitt dessen, was die transitive Verwendung des Reflexivpronomens eröffnen würde, referieren kann (s.o.). Diesem intuitiv einleuchtenden Unterschied entsprechen auch die lexikographischen Behandlungen der Reflexivkonstruktionen in französischen Wörterbüchern (z.B. PR, RE). Lexikalische Pseudoreflexivität ist eine kontingente Eigenschaft bestimmter verbaler Sememe (cf. Kotschi 1974:50f). Eine sprachwissenschaftliche Analyse, die über eine bloße Beschreibung der lexikalischen Pseudoreflexivität und damit über ihre Kontingenz hinausgehen will, muß auf die Sprachgeschichte zurückgreifen. Es erscheint daher lohnend, diachrone Szenarien der Genese lexikalischer Pseudoreflexivität zu entwerfen. Solche Szenarien sollten auf folgende Fragen zumindest Antworten vorschlagen:

131 Gibt es semantische Bereiche, die die Lexikalisierung pseudoreflexiver Sememe begünstigen? Wodurch wird die semantische Verschiebung hervorgerufen, die pseudoreflexive Sememe gegenüber ihren nichtreflexiven Schwesterlesarten kennzeichnet?

Daß Kontiguitätsprinzipien auch bei der Lexikalisierung pseudoreflexiver Verben relevant sind, läßt sich daran zeigen, daß die gleiche Klassifikation, die in 5.1.2. für die synchronische Betrachtung von Reflexivkonstruktionen vorgeschlagen wurde, auch in der Diachronie dieser Konstruktionen von heuristischem Wert ist. In der synchronischen Betrachtung reflexiver Besetzungen transitiver Sememe wurden drei Typen unterschieden, der direkt-reflexive, der pars-totum- und der metonymische Typ. Für die Lexikalisierung reflexiver Verben ist nun der Grundgedanke, daß in einem gestaltbasierten Kippeffekt die Konstellation Verbkopf + reflexives direktes Objekt, d.h. zwei Inhaltseinheiten, als ein Gesamtkomplex reanalysiert wird. Der vom reflexiven direkten Objekt repräsentierte Partizipant ist nicht mehr präsent; die Gesamtbedeutung der Sachverhaltsdarstellung bleibt aber näherungsweise erhalten und wird jetzt aber von nur noch einem konzeptualisierten Partizipanten, dem Subjekt, prädiziert. Die Entwicklung läßt sich an folgendem Schema (mit zwei Beispielen, se lever und se rendre) veranschaulichen: (5l) Direkt-reflexiv

se lever

Teil-Ganzes

E-metonymisch

se rendre

Während die produktiv-reflexiven Konstruktionen zwei Partizipanten (A und B) konzeptualisieren, weisen die lexikalisch-pseudoreflexiven Sememe nur einen Partizipanten (A') auf. Wie im folgenden gezeigt wird, läßt sich die semantische Entwicklung der lexikalisierten Konstruktionen daran ablesen, daß die Gesamtbedeutung, die in der produktiven Variante von Verbkopf und direktem Objekt aktualisiert wurde, bei der lexikalisierten Variante, nach einem gestaltartigen „Umkippen", ohne eigenen semantischen Beitrag des direkten Objekts realisiert wird. Dies versucht die Abbildung (51) zu erfassen. Ich betrachte nun wieder die drei Typen reflexiver Konstruktionen getrennt. Dabei gibt es zwei typische semantische Kanäle der Lexikalisierung reflexiver Verben, die in der Grafik (51) durch die beiden Beispiele se lever und se rendre veranschaulicht wurden. Die von der korefererenten Reflexivität ausgehende Lexikalisierung ist eine unakkusativiscbe Lexikalisierung, die von der metonymischen ausgehende hingegen eine unergative.

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5.1.4.1. Direkt-reflexive Konstruktionen Bei den produktiv direkt-reflexiven Konstruktionen sind Subjekt und direktes Objekt koreferent. Es werden aber beide als eigenständige Partizipanten konzeptualisiert. In der Bildsprache von Figur (51): Die A- und die B-Fläche liegen aufeinander. Nun liegt es nahe, diese Konstellation nicht mehr als zwei getrennte Figuren wahrzunehmen, sondern nur noch als eine einzige - genau dies ist mit der Figur unter dem Pfeil symbolisiert. Auf die natürliche Sprache übertragen, bedeutet dies, daß die im Verblexem vorstrukturierte Satzbedeutung nunmehr von nur noch einem Partizipanten prädiziert wird, und hier insbesondere: daß das Verb dekausativiert (rezessiviert) wird. Diese Entwicklung läßt sich am Bedeutungswandel einiger französischer Verbkonstruktionen nachvollziehen: (52) persuader qn de faire qc 'jmd überzeugen, etw zu tun' (1546) > se persuader de faire qc 'glauben, etwas tun zu können' (1655) (53) se tromper de 'sich über etw lustig machen' (1388) > tromper 'täuschen' (1420) > se tromper 'sich irren' (1553)27

In seiner früheren Bedeutung muß persuader, anaphorisch-reflexiv verwendet, 'sich selbst überzeugen' bedeutet haben. Es gab also in der anaphorisch-reflexiven Variante zwei - koreferente - Partizipanten, von denen einer als agentives Subjekt kodiert war, der andere semantisch als Adressat. In der späteren lexikalisch-pseudoreflexiven Bedeutung 'glauben, etw tun zu können' hingegen gibt es nur noch einen Partizipanten, der als Experiencer kodiert ist. Die lexikalisch-pseudoreflexive Variante versprachlicht nur noch den Endpunkt der von der produktiv-reflexiven Variante geleisteten Sachverhaltsdarstellung: Wer überzeugt wurde, etwas zu tun, glaubt - als Ergebnis dieser Überzeugungstätigkeit -, es tun zu können. Die alte Bedeutung bleibt also nicht ganz gleich, sondern es findet eine auf Prozeß-Ergebnis-Kontiguität basierende Verschiebung statt. Den gleichen Typ von semantischem Wandel findet man bei se tromper. Relevant ist der Schritt von der Bedeutung 'täuschen' zu 'sich irren' Vor dem Schritt zu 'sich irren' bedeutete se tromper 'sich selbst täuschen', d.h. involvierte zwei als koreferent konzeptualisierte Partizipanten. Diese Bedeutung ist auch heute noch nicht ganz verlorengegangen.28 Lexikalisiert ist heute aber die Bedeutung 'sich irren', d.h. eine Verbbedeutung, die nur einen ExperiencerPartizipanten versprachlicht. Zwischen den Bedeutungen 'sich selbst täuschen' und 'sich irren' besteht nun genau die gleiche Relation wie zwischen 'sich selbst überzeugen, etw tun zu können' und 'glauben, etw tun zu können': die einer Vorgang-Ergebnis-Kontiguität - wer sich selbst täuscht, sitzt einem Irrtum auf. Die Lexikalisierung direkt-reflexiver Konstruktionen scheint also einem bestimmten Muster zu entsprechen: Die zwei koreferenten Partizipanten des transitiven Semems fallen zu einem zusammen, der den Vorgang aber nicht mehr als transitive Handlung durchführt, sondern sein Ergebnis wahrnimmt bzw. mit dem selbst der Vorgang durchgeführt wird. Es han27 28

Beispiele und Erstbelegdaten nach RH ss.vv. „persuader" und „tromper" Vgl. folgenden Beleg: N'essayezpas de me tromper. N'essayezpas de vous tromper vous-meme (Duhamel, Suzanne, p. 253, cit. TLF s.v. „tromper")

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delt sich um eine diachrone Dekausativierung. Der Kausator-Partizipant fallt weg. Der Wandel von se tromper bewirkt, daß nicht mehr der aktive Vorgang samt seinem Ergebnis versprachlicht wird, sondern nur noch das Ergebnis. Gleiches gilt für se persuader und se reveiller. Ähnlich kann man den Unterschied zwischen z.B. lever qc und se lever verstehen: Auch hier wird der Kausator des Vorgangs ausgeblendet. Se lever versprachlicht den Vorgang des Aufstehens so, als ob daran kein Kausator beteiligt wäre. Der Kippeffekt bewirkt, daß in einer n Sachverhaltsdarstellung, in der ein Agens an sich selbst etwas tut, die konzeptuelle Trennung o D R R von Agens und Patiens aufgegeben wird. Agens und Patiens fallen zusammen. Entscheidend dafür ist eine Kontiguität dieser beiden Rollen auf der Subjektstelle von transitivem und lexikalisch-pseudoreflexivem Semem. Entsprechend dem in Kap. 4 angewandten Verfahren läßt sich die resultierende Polysemie folgendermaßen darstellen:

Andere Verben, die den gleichen diachronen Prozeß durchlaufen haben, sind z.B. se dresser, s'asseoir und s'appuyer- Verben mit einer typisch medialen, d.h. eine Subjektbetroffenheit involvierenden, Situationstypik (cf. Kemmer 1993:238). Dieser Lexikalisierungskanal ist vergleichbar mit der diachronen Dekausativierung (Intransitivierung) transitiver Verben: (55) vlat. bassiare 'absenken' > frz. baisser 'sinken/senken'

So wie dieser Kanal semantischen Wandels, der die RKausator-Argumentstelle (Subjekt) „abschneidet" und ein unakkusativisches intransitives Verb zurückläßt (cf. oben 4.3.), operiert auch die diachrone Lexikalisierung koreferenter Reflexivkonstruktionen.29 Der RKausator verschwindet. Das resultierende Semem ist mit einem unakkusativischen intransitiven Verb vergleichbar. Dies gilt sowohl semantisch als auch syntaktisch: Ein Merkmal der unakkusativischen intransitiven Verben ist, daß sie (im Gegensatz zu den unergativen) die Extrapositionskonstruktion erlauben: (cf. oben 4.3.2.): (56a) II est arrive plusieurs personnes. (56b) ?* II a couru plusieurs personnes. (Zribi-Hertz 1987:28)

29

Wahrscheinlich ist dies auch der Grund dafür, daß die diachrone Dekausativierung (cf. (55)) hin zu intransitiven Verben so selten ist (verglichen mit dem gerade in der französischen Sprachgeschichte abundanten Prozeß der diachronen Kausativierung, cf. oben 4.3.): die Aufgabe wird von den Reflexivkonstruktionen übernommen. Den semantischen Wandel bei vlat. bassiare läßt sich dann damit, daß in der betreffenden vulgärlateinischen Epoche das ie-Grammem einfach noch nicht so weit klitisiert war, daß es lexikalische Pseudoreflexiva erzeugen konnte. Das Verfahren der reflexiven Dekausativierung stand damals noch nicht zur Verfügung.

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Nun gibt es einige lexikalisierte reflexive (d.h. formal transitive) Verben, die auch die Extraposition erlauben: (57a) II s'est denonce trois mille hommes ce mois-ci. (57b) II s'est offen une femme pour mener le combat. (57c) II s'est presente beaucoup d'hommes pour cet emploi. (Grimshaw 1982: 113)

Se denoncer, s Offrir und se presenter müssen daher auch als unakkusativisch eingestuft werden. Dieser Befund zeigt, daß bestimmte formal transitive Konstruktionen (das Reflexivpronomen nimmt dort nach wie vor eine Akkusativstelle ein) als semantisch parallel zu einem bestimmten Typ von Intransitiva ausgewiesen werden können. Zwar erlauben nicht alle lexikalischen Pseudoreflexiva, die aus koreferenten Konstruktionen hervorgegangen sind, die Extrapositionskonstruktion: *// s 'est leve deux hommes. Jedoch scheint eine umgekehrte Korrelation zu gelten: diejenigen lexikalischen Pseudoreflexiva, die die Extrapositionskonstruktion erlauben, sind aus streng koreferenten Konstruktionen hervorgegangen. Für die von Grimshaw genannten Verben se denoncer, s Offrir und se presenter läßt sich dies bestätigen. Es handelt sich dabei jeweils um Verben, die in ihrer transitiven Variante in der Objektsposition menschliche Partizipanten zulassen und deren anaphorische Reflexivkonstruktion daher als streng koreferent klassifiziert werden muß. Der Lexikalisierungskanal der streng koreferenten Konstruktionen ergibt also eine unakkusativische Lesart. Unakkusativische Intransitiva sind semantisch (im Sinne von Hopper/Thompson 1980) schwach transitiv. Die resultierenden Verben kodieren mediale Situationen (cf. Kemmer 1993:53-74), d.h. Situationen, die eine Subjektsbetroffenheit ausdrücken. Für den Ausdruck solcher Situationen haben die romanischen lexikalischen Pseudoreflexiva das lateinische synthetische Passiv abgelöst (cf. hierzu auch unten 5.1.4.3.). 5.1.4.2.

Teil-Ganzes-Konstruktionen

Pars-totum-Reflexivkonstruktionen konzeptualisieren zwei Partizipanten, die in einem TeilGanzes-Verhältnis stehen. Es handelt sich dabei im allgemeinen um Verben der Einwirkung auf den eigenen Körper: segratter, se raser, se moucher, sepeigner usw. In Figur (51) ist für diesen Typ keine gestaltbasierte Reanalysemöglichkeit vorgesehen. In der Tat kann man sich sowohl bezüglich der symbolischen Repräsentation in der Figur (51) als auch in der Verbbedeutungsstruktur selbst schwer vorstellen, wie hier durch einen Kippeffekt die Situation mit nur noch einem Partizipanten reanalyisert werden könnte. Die Konzeptualisierung mit zwei Partizipanten scheint keinerlei kognitives „Hindernis" anzutreffen, dem durch ein „Umkippen" der Kodierungsstruktur ausgewichen werden könnte. Somit sind pseudoreflexive Sememe, die diachron an den produktiven Gebrauch von pars-totum-Reflexivkonstruktionen angeschlossen werden könnten, im Französischen (und anderen romanischen Sprachen) kaum anzutreffen.30 30

Ein Beispiel ist möglicherweise s 'habiller 'sich [in einer bestimmten Weise] kleiden'. Dieses Beispiel widerlegt aber nicht die hier vertretene These, da diese Bedeutung von 5 'habiller nicht ein bestimmtes Verhältnis der Partizipanten zueinander (Teil-Ganzes) lexikalisiert hat, sondern den dargestellten Vorgang als Gewohnheit.

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Der Grund dafür ist offenbar, daß am eigenen Körper ausgeführte Handlungen immer auch von anderen vorgenommen werden können.31 Bei Verben der Körperpflege ist stets eine gewisse Unterscheidbarkeit der Partizipanten (cf. Kemmer 1993:67-70) gewährleistet. Die „Objektivierbarkeit" der Einwirkung auf den eigenen Körper verhindert, daß der Urheber der Einwirkung, das Subjekt, bei der Lexikalisierung ausgeblendet werden kann; diese Ausblendung ist bei den vollständig koreferenten Konstruktionen hingegen geradezu typisch. Bei den Teil-Ganzes-Konstruktionen können Subjekt und reflexives DO nicht „zusammenfallen" 5.1.4.3.

-metonymische Konstruktionen

Bei produktiven -metonymischen Reflexivkonstruktionen sind die beiden konzeptualisierten Partizipanten in einem Kontiguitätsverhältnis, welches kein Teil-Ganzes-Verhältnis ist. In synchronischer Sicht hat sich dieser Teiltyp als besonders produktiv erwiesen. Die diachrone Lexikalisierung dieses Typs verfährt nach einem der streng koreferenten Konstruktion genau symmetrischen Muster. Das resultierende Verb hat jedoch nicht eine unakkusativische, sondern eine unergative Semantik. Das bedeutet, daß nicht der Subjektspartizipant diachron ausgeblendet wird, sondern der Objektspartizipant. Dies heißt auch, daß man es bei diesem Verbtyp nicht mehr mit den typisch medialen Situationen zu tun hat, sondern daß ein ganz neuer semantischer Bereich eröffnet wird. Der genaue semantische Prozeß kann nun an einigen Verben verdeutlicht werden. Ich wähle die Sememe32 se taire 'schweigen', se rendre 'aufgeben' und s 'exercer 'sich bilden': (58) taire 'verschweigen' (l 160) > se taire 'schweigen' (1230) (59) rendre '[Waffen usw.] abgeben' > se rendre 'aufgeben' (60) exercer '[Tätigkeit] ausüben' (l 121/34) > s 'exercer 'sich bilden/trainieren' (13./14. Jh.)

Wenn das transitive Verb taire im späten 12. Jahrhundert reflexiv gebraucht wurde, so muß dies ein metonymisch-reflexiver Gebrauch gewesen sein mit ungefähr der Bedeutung 'etwas von sich verschweigen' Ist das Semem se taire als pseudoreflexiv lexikalisiert, so verweist das Reflexivpronomen auch nicht mehr metonymisch auf etwas dem Subjekt Kontiges. Entscheidend ist nun aber, daß die Extension des pseudoreflexiven Semems annähernd die gleiche ist wie die des metonymisch besetzten produktiv-reflexiven Semems: wer etwas verschweigt, schweigt auch, und wer schweigt, der verschweigt auch (im weitesten Sinne) etwas. Um die Extension des Komplexes Verbkopf + direktes Objekt zu erhalten, muß die metonymische Verschiebung nach Verlust der Funktionalität des direkten Objekts auf den Verbkopf „verlagert" werden. Ganz deutlich ist dieser Verschiebungseffekt bei se rendre sichtbar: 31

Diese Beobachtung verdanke ich Paul Gevaudan. - Bezüglich der Objektivierbarkeit von Einwirkungen auf den eigenen Körper muß jedoch unterschieden werden zwischen Handlungen, die das Subjekt an sich selbst gewissermaßen äußerlich appliziert (rasieren, waschen, kämmen usw.), und solchen, die nur durch das zentrale Nervensystem gesteuert werden, z.B. sich rekeln (s'etirer) (Martin Haspelmath, persönliche Mitteilung). Diese letzteren Handlungen kann das Subjekt nämlich nur an sich selbst ausführen, ich kann nicht .Jemanden rekeln" Sie sind daher auch nicht objektivierbar. In meiner Klassifikation müssen solche Verben den streng koreferenten Konstruktionen zugeordnet werden. Es ist hier die Rede von bestimmten Sememen, d.h. gerade nicht von ganzen Lexemen. Andere Sememe der gleichen Verben werden hier nicht bzw. nicht exhaustiv berücksichtigt.

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Rendre in transitiver Verwendung hieß zunächst 'weggeben, abgeben' und wurde besonders in militärischen Kontexten verwendet.33 In produktiver reflexiver Verwendung mußte das Reflexivpronomen also auf 'die eigenen Waffen' u.a. referieren. Der transitive Vorgang des 'Abgebens' mit- hier- unbestimmtem Objekt wurde dann in einem metonymischen Kippeffekt als intransitiver Vorgang des 'Aufgebens' reanalysiert. Auf diesem Wege ist der Referent des Reflexivpronomens „verlorengegangen"; die Extension der Fügung bleibt aber die gleiche.34 Um die Äquivalenz der Extension dieses Ausdrucks zu gewährleisten, muß der metonymische Effekt vom Reflexivpronomen auf den Verbkopf „abgedrängt" werden. Diese Verschiebung ist verantwortlich für die charakteristische semantische „Verzerrung", die lexikalisch-pseudoreflexive Sememe so häufig von ihren nichtreflexiven Schwesterlesarten unterscheidet. Exercer hieß zunächst in einem recht allgemeinen Sinne '[eine Disziplin] ausüben, praktizieren' In der produktiv-reflexiven Verwendung s'exercer mußte das Relativpronomen also metonymisch auf 'die eigene Gesundheit', 'den eigenen Geist' u.a. referieren.35 Die lexikalisierte reflexive Variante ist pseudoreflexiv, aber noch stärker transitiv als z.B. se lever oder se presenter. Das Verb vermittelt nach wie vor den Gedanken eines „Übergangs auf einen Objektspartizipanten"; jedoch bleibt dieser Partizipant unbestimmt. In bezug auf diese Unbestimmtheit des zweiten Partizipanten haben Verben wie s 'exercer, se rendre oder se taire eine gewisse Ähnlichkeit mit den absoluten Verwendungen transitiver Verben.36 Während die Lexikalisierungen streng koreferenter und partitiver Reflexivkonstruktionen der Domäne typisch medialer Situationstypen angehören, eröffnet der metonymische Typus einen ganz neuen semantischen Bereich. Die hier einschlägigen Verben sind nicht der Medialität zuzurechnen, sondern einem in der Transitivitätsskala viel höherstehenden Bereich. Ähnlich wie die in diesem Abschnitt behandelten Verben verhalten sich z.B. s'executer, se retracter, s'exprimer, se prononcer, se declarer. Dies sind Sememe, die semantisch den absoluten Verwendungen transitiver Verben ähneln.37 33 34

35 36

Cf. RH s.v. „rendre" Erst in einem weiteren metonymischen Schritt kommt die heute dominante Bedeutung 'sich begeben' zustande (wer in einem militärischen Sinne 'aufgibt', muß sich zu seinem Feind 'begeben'). Angaben zur Bedeutungsentwicklung nach RH s. v. „exercer" So ist das dt. Pendant von 5 'exercer ein intransitives Verb: trainieren. Verben der Einwirkung auf den eigenen Körper (im weitesten Sinne, d.h. Bewegungsverben, Verben der Körperpflege, der Veränderung der Körperhaltung usw.) befinden sich in einer prekären semantischen Zone, die onomasiologisch generell durch eine geringe Unterscheidbarkeit von Partizipanten gekennzeichnet ist (cf. Kemmer 1993:66-70). Wieweit die Grammatik einer Sprache die Beteiligung des Patiens-Partizipanten „elaboriert", hängt u.a. davon ab, ob ein produktives Genus verbi „Medium" vorhanden ist. Ist ein solches Genus verbi vorhanden (z.B. im Altgriechischen, aber nicht im Französischen), dann braucht der zweite Partizipant nicht versprachlicht zu werden. Ist das Genus verbi Medium aber nicht vorhanden, so wird der °Körper häufig versprachlicht. Die Sprache wählt dann eine randständig-transitive Versprachlichungsform. In den baltischen und slawischen Sprachen kann das Reflexivpronomen den absoluten Gebrauch transitiver Verben markieren, cf. lit. Suo kandüojasi 'der Hund beißt' (Geniuäene 1987:84; 249-251). Ausdrucksseitig ist dies Verfahren also den französischen (und romanischen) Verhältnissen ganz ähnlich. Ganz im Gegensatz zum Romanischen handelt es sich hierbei aber offenbar um ein grammatisches Verfahren, das frei an transitiven Verben applizieren kann, während das scheinbar ähnliche Phänomen im Französischen ein lexi-

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Schematisch stellt sich die Polysemie von transitivem und pseudoreflexivem Semem so dar:

Die polysemische Verbindung beider Lesarten besteht in einer Kontiguität von (durch die Selektionsbeschränkungen vorgegebenen) potentiellem transitiven direkten Objekt und reflexivem direkten Objekt. Der Referent des reflexiven direkten Objekts wird durch Kontiguität zum Subjekt näher spezifiziert. 5. l .4.4. Lexikalische Pseudoreflexivität und semantische Transitivität Ich möchte nun noch einmal rückblickend das Panorama der lexikalisierten reflexiven Verben in den Blick fassen. Es zeichnet sich eine Graduierung semantischer Transitivität ab: von den auf streng-koreferenten Konstruktionen basierenden über die partitiven bis hin zu den auf metonymischen Konstruktionen basierenden lexikalischen Pseudoreflexiva werden die resultierenden Verben immer transitiver. Die Partizipanten werden in immer stärkerem Maße unterscheidbar. Sind die auf streng koreferenten Konstruktionen basierenden Pseudoreflexiva wie se lever, se reveiller Verben mit einer typisch medialen Semantik, deren Entsprechungen im Deutschen z.B. häufig mit Intransitiva ausgedrückt werden (aufstehen, außvachen), so sieht es bei den partitiven Konstruktionen schon anders aus. Hier sind die beiden Partizipanten noch in gewissem Maße unterscheidbar. Im Deutschen werden die einschlägigen Verben der Körperpflege auch reflexiviert (sich waschen, sich rasieren), im Englischen hingegen, wo das Reflexivpronomen noch wesentlich „stärker" ist als im Deutschen, werden auch hier noch Intransitiva gewählt (to wash, to shave). Die auf metonymischen Konstruktionen basierenden lexikalischen Pseudoreflexiva schließlich entsprechen dem absoluten Gebrauch transitiver Verben, d.h. involvieren einen zweiten Partizipanten, der jedoch unbestimmt gelassen wird: (62) Graduierung semantischer Transitivität koreferent -transitiv

partitiv

E-metonymisch +transitiv

Diese Graduierung semantischer Transitivität ist nicht allzu überraschend, wenn man das Verhältnis der Partizipanten zueinander auf der produktiven Stufe betrachtet: von der korefekalisches Verfahren ist. Im Baltischen und Slawischen ist das Reflexivpronomen schon so weit grammatikalisiert, daß es den absoluten Gebrauch transitiver Verben markieren kann. Im Romanischen hingegen hat das Reflexivpronomen den Weg eines „WortbildungsmoTphems" gewählt, das vom semantischen Effekt her aber genauso funktioniert.

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renten bis hin zur metonymischen Konstruktion wird der Objektspartizipant immer weiter „entäußert" - vom Ganzen über ein Teil bis hin zu einem äußerlichen, mit dem Subjekt in Kontiguität stehenden Partizipanten. Wichtig im Zusammenhang mit der Transitivitätsgraduierung ist jedoch, daß die zugrundeliegenden nicht-reflexiven Verben die entsprechende Graduierung nicht aufweisen. Lever qc oder reveiller qn ist nicht weniger transitiv als z.B. declarer qc oder exprimer qc (es scheint so, daß bei den zugrundeliegenden Verben die Transitivitätsgraduierung sogar umgekehrt verläuft!). Das Transitivitätsgefälle der lexikalisierten transitiven Verben ist also ein genuin diachron bedingter Effekt; verantwortlich dafür ist nicht der Transitivitätsgrad der zugrundeliegenden Verben, sondern das referentielle Verhältnis der Partizipanten zueinander in der reflexiven Besetzung des transitiven Verbs.38 Die diachronen Umstrukturierungen reflexiver Konstruktionen qua Kippeffekte dürfen nun nicht in dem Sinne mißverstanden werden, daß das hier vorgestellte Modell quasi beliebige diachrone Sprünge zulasse. Die diachronen Umstrukturierungen einzelner Verben sind vielmehr stets im Zusammenhang zu sehen mit diachronen „Großtrends" des jeweiligen Sprachsystems. Im Französischen und auch im Romanischen allgemein ist dieser Großtrend die allmähliche Übernahme von diathetisch medialen Kodierungsaufgaben durch lexikalisierte reflexive Verben, die darin die synthetischen Passivformen des Lateinischen ablösen.39 Die reflexiven Konstruktionen sind aufgrund der typologischen „Vorgabe" gewissermaßen dafür prädestiniert, reanalysiert zu werden. Die typologische Aufgabenverschiebung ist historisch und logisch primär gegenüber der Kontiguitätsassoziation, die bei einem konkreten Verb die Reanalyse anstößt. Nun kann eine Ausdrucksverschiebung im Bereich verbaler Bedeutung natürlich nicht als übergreifende Operation alle Verben der Sprache auf einmal erfassen, sondern sie muß bei jedem Verb einzeln motiviert werden. Trotz der Globalität des seGrammatikalisierungsprozesses hat jedes reflexive Verb seine individuelle Geschichte. Die für die lexikalische Pseudoreflexivität maßgebliche Motivierung leistet die Kontiguitätsassoziation.40 38

39 40

Da die Graduierung semantischer Transitivität hier koinzidiert mit der Opposition unakkusativisch/unergativ, wäre auch der binäre Charakter dieser Opposition zu überprüfen. Möglicherweise läßt sich auch der Gegensatz von unakkusativischen vs. unergativen Verben besser skalar fassen. Ein Anhaltspunkt dafür ist, daß auf die vermeintlichen morphosyntaktischen Merkmale dieser Polarität (cf. oben 4.3.2.) nicht immer Verlaß ist (einige Unakkusativa haben das Hilfsverb etre, andere nicht), so daß das Merkmal [± unergativ] einem Verb manchmal nur intuitiv zugeschrieben werden kann. Da sehr viele grammatische Bereiche skalare Beschreibungen zulassen (cf. bes. typologische Arbeiten wie Hopper/Thompson 1980, Hopper/Traugott 1993), wäre eine kontinuale Auflösung dieser Polarität nicht allzu verwunderlich. Vgl. zu dieser Entwicklung Hatcher (1942), Kemmer (1993). Eine lohnende Fragestellung, die hier aber nicht vertieft werden kann, ist, inwieweit die einzelnen Lexikalisierungstypen sich historisch implizieren. Sehr wahrscheinlich ist die Lexikalisierung des metonymischen Konstruktionstypus erst später zugänglich als die des koreferenten und partitiven. Dies läßt sich zum einen historisch belegen, zum anderen theoretisch plausibilisieren. Während nämlich Körperbewegungen (koreferenter Typ) vereinzelt schon im Latein reflexiv ausgedrückt wurden (se declinare, se vertere, cf. Kemmer 1993:153), sind die partitiv-reflexiven Verben erst im frühen Altfranzösisch belegt (Kemmer 1993:153-162). Zu den metonymisch-reflexiven Verben läßt sich nach den Angaben von Hatcher (1942:154-160) sagen, daß ihre Domäne im Neufranzösischen ganz erheblich ausgeweitet wurde, auch

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5.1.4.5. Synchron opake Pseudoreflexiva In den letzten Abschnitten wurden pseudoreflexive Verben im Hinblick auf die semantische Relation systematisiert, die sie zu ihrer transitiven Schwesterlesart unterhalten. Wie in der Einleitung zu 5.1.4. erwähnt, sind eine Reihe pseudoreflexiver Verben synchron insofern opak, als sie keine transitive Schwesterlesart haben, z.B. se refugier, se souvenir, s 'efforcer. Wegen dieser Opazität kann man sie nicht ohne weiteres einer der drei in 5.1.4.1. - 5.1.4.3. behandelten Subtypen lexikalischer Pseudoreflexivität zuordnen. Auch sie verschließen sich jedoch nicht der Analyse. Es gibt hier grundsätzlich zwei Möglichkeiten: a) Das opake Reflexivverb hatte in seiner individuellen Geschichte früher eine jetzt verlorengegangene transitive Schwesterlesart. Dies ist der Fall z.B. von se refugier., das im 16. und 17. Jh. transitiv im Sinne von 'etw. in Sicherheit bringen' verwendet wurde (cf. RH s.v.). Diese Lesart ging danach jedoch verloren. Ähnlich wurde s 'abstenir ab dem 16. Jh. transitiv im Sinne von 'zurückhalten' (abstenir son courage) verwendet. Die transitiven Lesarten dieser Verben geben se refugier und s'abstenir die semantische Charakteristik metonymischreflexiver Verben. Die Existenz solcher Verben beeinträchtigt nicht die Gültigkeit der hier vorgelegten Systematik lexikalischer Pseudoreflexiva. Denn es gehört zum Konzept der Polysemie, daß die einzelnen Sememe eines polysemen Lexems eigenständige semantische Einheiten bilden (cf. 1.2.1.); daher können sie unabhängig voneinander diachron entstehen und verlorengehen. Insofern muß auch ein lexikalisches Pseudoreflexivum, dessen transitive Lesart verlorenging, diachronisch entweder dem direkt-reflexiven oder dem metonymisch-reflexiven Typus zuordenbar sein. Bei der Zuordnungsentscheidung kann einem die Bedeutung der früheren transitiven Schwesterlesart als Muster helfen, aber die semantischen Merkmale des Pseudoreflexivums selbst können auch schon genügen. So haben se refugier und s 'abstenir die unergative Charakteristik der metonymisch-reflexiven Verben. b) Das Verb ist von seinem Eintritt in die französische Sprachgeschichte an immer pseudoreflexiv gewesen. Dies gilt z.B. für 'efforcer, se repentir, s 'evertuer. Einige dieser Verben sind Erbwörter lateinischer Intransitiva und vom Altfranzösischen an pseudoreflexiv dokumentiert (vlat. repoenitere > se repentir), andere sind später entlehnt worden (lat. arrogare > s'arroger, 15. Jh., cf. RH s.v.). Sie kommen zu ihrem Reflexivpronomen vermutlich durch Analogie zu den anderen Pseudoreflexiva, die eine ähnliche mediale semantische Typik ha-

wenn sie dem Afrz. nicht völlig fremd waren. Hatcher nennt insbesondere Verben der „Selbstbeschränkung" (se moderer, se maitriser) und Verben der verbalen Äußerung (se prononcer, se contredire), die ich zu den metonymisch motivierten Kontraktionen rechnen würde. - Theoretisch ist diese Entwicklung damit zu plausibilisieren, daß die Lexikalisierung einer metonymisch motivierten Reflexivkonstruktion ein bereits sehr „abgeschwächtes" Reflexivpronomen voraussetzt; das Reflexivpronomen muß in einem Zustand sein, der im Baltischen und Slawischen zur Funktion eines absoluten Intransitivierers geführt hat (cf. GeniuSene 1987:249-251, auch hier Anm. 37) und dort mit grammatischen Mitteln den gleichen Effekt wie die Lexikalisierungen im Romanischen erzielt. Diesen Zustand errreicht das Reflexivpronomen erst nach den partitiven Funktionen des Reflexivums (cf. Geniusene 1987:347). GeniuSene stellt eine historische Implikationshierarchie vor, die der historischen Abfolge der hier vorgestellten Funktionen entspricht (wenn man die metonymisch basierten Lexikalisierungen funktional der Grammatikalisierung des Reflexivpronomens zu einem „absoluten Inrransitivierer" gleichsetzen will).

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ben. Das Reflexivpronomen signalisierte zunehmend eine mediale lexikalische Semantik und konnte daher auch bei Neologismen entsprechend eingesetzt werden. 5.1.5. Grammatische Pseudoreflexivität Wie am Anfang von Kap. 5.1. erwähnt, gibt es neben der produktiven Reflexivität, der Reziprozität und der lexikalisierten Reflexivität noch einen weiteren Anwendungsbereich der Reflexivkonstruktion, der traditionell unter „passivez" (Dangeau 1711-14), neuerdings auch unter „grammatischer Pseudoreflexivität" (Oesterreicher 1992b) gefaßt wird. In neueren Ansätzen werden üblicherweise innerhalb dieses Typs zwei Kategorien unterschieden (cf. Melis 1990:85f, Wehrli 1986:266, Zribi-Hertz 1987:24): 1. Reflexivpassiv (se moyen, modio-passif, pronominaux passifs usw.): (63a) (63b) (63c) (63d)

La vengeance est un plat qui se mange froid. Cela ne se dit pas. Cette chaise se plie (Melis 1990:91). La Tour Eiffel se voit de loin (Melis 1990:90)

2. Ergativ-reflexive Konstruktionen (pronominaux subjectifs, neutres, intransitifs usw.):41 (64a) Son caractere s'aigrit (64b) La branche s'est cassee (64c) Le metal s'est rouille

Das übliche Unterscheidungskriterium für beide Typen ist, daß das Reflexivpassiv einen belebten Agens zwar nicht nennt, aber impliziert, während die ergativ-reflexive Konstruktion einen Agens gerade nicht impliziert (Melis 1990:86). Ein weiteres wichtiges Unterscheidungskriterium ist, daß das Reflexivpassiv produktiv auf alle transitiven Verben anwendbar ist, während die ergativ-reflexive Konstruktion auf einige Verben scheinbar idiosynkratisch beschränkt ist (Wehrli 1986:266). Die Produktivität des reflexiv-passivischen Typs hat dazu geführt, ihn als - neben Aktiv und Passiv - dritte Diathese (im Sinne eines grammatikalisierten Projektionsverfahrens semantischer Rollen eines Verbs auf morphosyntaktische Ausdruckskategorien, cf. Dik 3 1981:69-126, Oesterreicher 1992b:242) des Französischen bzw. der romanischen Sprachen allgemein zu charakterisieren (Albrecht 1993:267, Oesterreicher 1991:361-367, Oesterreicher 1992b:24742 und darin genannte Referenzen). Im Gegensatz dazu scheint die ergativ-reflexive Konstruktion meist als lexikalisch beschränkte Konstruktion zu gelten (cf. Stefanini 1962:115, Wehrli 1986:266). Zribi-Hertz (1987) zeigt jedoch, daß auch die ergative Pseudoreflexivität ein produktives, in einem genau abgrenzbaren verbsemantischen Bereich frei verfügbares (und damit, so zu ergänzen, ein diathetisches) Phänomen ist. Die ergative Pseudoreflexivität ist nach Zribi-Hertz auf telische Verben beschränkt. Auf den ersten Blick bieten sich auch die Phänomene grammatischer Pseudoreflexivität für eine assoziationsorientierte diachronische Analyse an. Man könnte argumentieren, daß die 4

'

42

Die Beispiele sind hier Zribi-Hertz (1987) entnommen. Allerdings schließt Oesterreicher in diese Diathese auch den ergativ-reflexiven Typ ein.

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Grammatikalisienmgsprozesse, die in die Reflexivkonstruktionen der heutigen romanischen Synchronie gemündet sind, sich diachron durch bestimmte Assoziationen motivieren lassen. Es müßte dann einen assoziativen Übergang von der direkt-reflexiven Verwendung zur grammatisch-pseudoreflexiven Verwendung geben. In dieser Richtung ist in der Tat auch in der traditionellen Literatur vorgegangen worden: Reichenkron (1933:18) und Wistrand (1942:62ff) sprechen von der „Personifizierung", die es ermöglicht, daß auch ein Sachsubjekt in eine Reflexivkonstruktion eingehen kann. Mit dem hier verwendeten Instrumentarium läßt sich die vage Rede von der „Personifizierung" etwas präziser fassen: Als „Übergangspunkt" wären dann etwa Beispiele wie Myrina quae Sebastopolim se vocat (Plinius, cit. Oesterreicher 1992a:403) denkbar. Dieser Satz ist einerseits im Sinne der direkt-reflexiven Konstruktion mit metonymisch interpretiertem Agenssubjekt interpretierbar (Kontiguität DOrt-DBewohner): die Stadt, d.h. ihre Bewohner, nennt sich Sebastopol;43 andererseits ist er, bei wörtlich interpretiertem Subjekt, im Sinne der grammatisch-pseudoreflexiven Konstruktion lesbar: d.h. die Stadt wird Sebastopol genannt.44 Eine solches Szenario ist nicht unattraktiv. Im Lichte neuerer typologischer Erkenntnisse muß es jedoch mit Skepsis betrachtet werden. Die traditionellen und auch die eben ausgeführte Erklärung für die Entstehung des Reflexivpassivs gehen nämlich von der Voraussetzung aus, daß es nach der Art eines Kippeffektes einen direkten Übergang zwischen der direktreflexiven, transitiven Konstruktion zur grammatisch-pseudoreflexiven Konstruktion gegeben haben müsse. Haspelmath (1990) und Kemmer (1993:205) machen jedoch im Rahmen typologischer Untersuchungen zur Genese von Passivmorphologie plausibel, daß der Übergang zwischen direkt-reflexiver, transitiver Konstruktion und Reflexivpassiv nicht unvermittelt geschieht, sondern über ein Zwischenstadium der Medialität oder ,,Antikausativität" verläuft. Medialität ist eine diathesenartige Kategorie, sie „denotes a spontaneous process without an implied agent, while the basic verb denotes a transitive action" (Haspelmath 1990:33): (65a) Paul s'ennuie. (65b) Cette ville se delabre. (65c) pt. Os moveis continuam a empoeirar-se. 'Die Möbel verstauben immer weiter.'

Medialität nimmt semantisch insofern eine Mittelposition zwischen transitiver (direkter) Reflexivität und Reflexivpassiv ein, als sie mit der direkten Reflexivität und dem Reflexivpassiv die „Selbstbetroffenheit" des Subjekts teilt. Jedoch ist weder das Subjekt agentiv (Abgrenzung zur direkten Reflexivität)45 noch impliziert die Handlung überhaupt einen Agens (Abgrenzung zum Reflexivpassiv). Da der Urheber des Sachverhalts unspezifiziert bleibt, gibt es auch keine „natürlichen" Selektionsbeschränkungen (agentive Subjekte sind prototypi43

44

45

Diese Überlegung zeigt, daß der traditionelle Begriff der „Personifizierung" nicht nur metaphorisch, sondern auch metonymisch aufgelöst werden kann (cf. oben 2.3.3. über die „grammatische Metapher"). In diesem Sinne auch schon Niederstenbruch (1927:21): „Die andere Quelle für das Medium ist das Reflexivum bei Kollektiven, die man einmal als selbsthandelnd auffassen kann, wenn man die handelnden Einzelpersonen dabei im Auge hat; fasst man sie aber als Abstrakta, d.h. Sachen, so hat das Reflexivum natürlich passiven Sinn." Insofern ist (65a) ambig: es kann sowohl direkt-reflexiv (Paul betreibt sein Langweilen aktiv) interpretiert werden als auch antikausativ (Paul empfindet Langeweile).

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scherweise menschlich, cf. Oesterreicher 1992b:252) mehr für das Subjekt, und diese diathetische Form wird somit frei für nicht-transitive Verben. Andersherum ausgedrückt: Die Aufgabe der Selektionsbeschränkung [+ menschlich] für das Subjekt der direkt-reflexiven Konstruktion erfordert die mediale Konzeptualisierung des Sachverhalts. Von direkter Reflexivität zu Medialität führt also kein punktueller Kippeffekt, sondern eine Verschiebung auf der Ebene semantischer Merkmale. Eine Veränderung gleicher Art führt von der Medialität zum Reflexivpassiv: Die Medialität, d.h. die grammatisch explizite Abwesenheit eines Agens, wird dann als durch einen unbestimmten Kausator verursacht versprachlicht und wird so zum Reflexivpassiv, wie es im heutigen Zustand der romanischen Sprachen vorhanden ist: z.B. une teile lettre s'ecrit facilement. Haspelmath (1990:35f) kann an einer Vielzahl von Sprachen belegen, daß Medialität tatsächlich eine Zwischenstufe zwischen direkter und Passivreflexivität ist, weil Verbmorpheme, die sowohl direkte Reflexivität als auch Passivreflexivität (wie romanisch se) ausdrücken, fast immer auch Medialität ausdrücken können. Wichtig an der Zwischenstufe Medialität ist, daß sie eine Form grammatischer Bedeutung ist, die mit anderen lexikalischen Bedeutungen kombinierbar ist als die direkte und die Passivreflexivität. Mediale Formen treten bei schwach transitiven Verben, meist Bewegungsverben, auf. Die direkte Reflexivität und die Passivreflexivität hingegen involvieren zwei Partizipanten und erfordern daher typischerweise stark transitive Verben. Auf dem Weg von direkter zu Passivreflexivität wandert das se-Morphem gewissermaßen vom stark transitiven in den schwach transitiven Bereich und zurück: (66) Diachrone Wanderung des ie-Morpherns + transitiv

- transitiv Aktiv

Medium

Passiv

Die Hypothese Haspelmaths bestätigt sich in der romanischen Sprachgeschichte. Jedenfalls entsprechen viele Beispiele, die Reichenkron (1933:17f) in seiner sprachhistorischen Untersuchung dieser Formen anführt, genau dem skizzierten Typ der schwach transitiven Verbbedeutung. Reichenkron freilich fällt an diesen Verben nur auf, daß sie ein nicht-menschliches Subjekt haben, er spricht daher von „Personifizierung" Er nennt u.a die folgenden lat. Sätze: (67a) (67b) (67c) (67d) (67e)

Nam neque se septentriones quoquam in caelo commovent. (Plautus) Neque se luna qpoquam mutat. (Plautus) Nam si huic occasion! tempus sese supterduxit. (Plautus) Ita mihi ad malum malae res plurumae se adglutinant. (Plautus) Ea mihi reliquae fidei regno vobisque Qurites Se fortunatim feliciter ac bene vortat. (Ennius) etc.

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Während einige Beispiele (67c, d) als metaphorische Verletzung der Selektionsbeschränkungen für das Subjekt (und damit als direkt-reflexiver Typ) gelten können, sind andere (67a, b, e) medial zu interpretieren; bezeichnenderweise handelt es sich dabei um schwach transitive Verben (commovere, mutare, vertere [vortere]).46 Belege für das Reflexivpassiv hingegen scheinen in lateinischer Zeit noch nicht aufzutreten (cf. Reichenkron 1933:62-64). Aber schon in den ältesten volkssprachlichen Stufen der romanischen Sprachen war die se-Konstruktion als Mediumgrammeni grammatikalisiert (cf. Kemmer 1993:153-162, Stefanini 1962:583). Entsprechend dieser Analyse kann man davon ausgehen, daß die ergative Pseudoreflexivität älter ist als die reflexivpassivische, da die ergative Pseudoreflexivität dem medialen Typ entspricht.

5.2. „Appartenance inalienable" In der romanischen und allgemeinen Sprachwissenschaft gibt es mittlerweile eine umfangreiche Literatur zum Thema der Pertinenzkonstruktionen, Externen Possessoren bzw. „unveräußerlichem Besitz".47 Es geht dabei um die Markierungsmöglichkeiten der Possessionsbeziehung. Allen Arbeiten liegt die Beobachtung zugrunde, daß bestimmte Verbdependentien als definit markiert werden können ohne explizite Etablierung der betreffenden NP in der Diskurswelt:48 (68a) II a lave la main de son fils. (68b) II lui a lave la main.

Während in (68a) der „Besitzer" der Hand adnominal ausgedrückt wird, ist er in (68b) durch eine Dativergänzung repräsentiert. In (68b) ist das Possessum, la main, definit markiert ohne Vorerwähnung. Ihr Besitzer", der Possessor, ist nicht im gleichen Syntagma wie das Possessum repräsentiert; man hat es hier mit einem sog. externen Possessor zu tun (König/Haspelmath 1994+:!). Das Vorkommen des externen Possessors (EP) ist offensichtlich an bestimmte semantische Bedingungen geknüpft. So ist bei dem folgenden Besitzverhältnis keine analoge Konstruktion möglich: (69a) II a lave le toit de sä voiture. (69b) *Sa voiture, il lui a lave le toit.

In bestimmten Fällen braucht überhaupt kein Possessor angegeben zu werden (impliziter Possessor, König/Haspelmath 1994+): 46

47 48

Reichenkron führt noch eine Zahl späterer vulgärlateinischer Beispiele auf (1933:29-31), die alle schwach transitiven Situationstypen entsprechen (Entstehen, Erreichen eines bestimmten Zustandes (gesund, sauber, trocken usw.), Dsich abtrennen, lochen, Dsich verbrennen usw.) Cf. z.B. Spanoghe 1995, Jacob 1993, Junker/Martineau 1987, Kanon 1988 und darin genannte Referenzen. Dieses Phänomen betrifft nicht nur die Ergänzugen finiter Verben, sondern findet sich auch in anderen Konstniktionstypen: Elle avait laisse ses lunettes sur le lit, branches ecartees; une jeune fille auxyeux bleus; cf. Hanon (1988:164), Kanon (1994).

144 (70a) Marie a ouvert les yeux. (70b) Marie a ouvert ses yeux. (71) Marie a ouvert {sa / *la} porte.

Ohne nähere kontextuelle Bestimmung bedeutet (70a), daß Marie ihre eigenen Augen geöffnet hat, während in (71) eine solche nähere Bestimmung erforderlich ist, um la porte zu desambiguieren. Dies ist der sog. implizite Possessor. Während zwar in der Literatur Einigkeit darüber herrscht, daß bestimmte semantische Bedingungen für die Möglichkeit vs. Unmöglichkeit der entsprechenden Konstruktionen verantwortlich sind, hat man kaum jemals versucht, diese Bedingungen zu benennen. Fillmore (1968:61) spricht lediglich von einer „inherently relational" Beziehung, genau wie Kliffer (1984:180). Kliffer (ibid.) erkennt aber an, daß die Relationen sich von Sprache zu Sprache unterscheiden können. Vergnaud/Zubizarreta (1992:569) meinen, daß stets eine Teil-GanzesBeziehung im Spiel sei. Seiler 1973 versucht immerhin, die „Relationalität" genauer zu bestimmten. Er argumentiert, daß bestimmte Nomina, zu deren prototypischen Vertretern er Verwandtschaftsbezeichnungen und Körperteilbezeichnungen zählt, nur relational, in bezug auf eine ihnen zugeordnete Entität, verstanden werden können.49 „Vater" kann nur jemandes Vater sein, eine Hand kann nur jemandes Hand sein. Zwar erscheint sicherlich „Relationalität" als ein glücklicherer Begriff als „unveräußerlicher Besitz" Der Begriff ist jedoch noch zu ungenau, ^iand ist genauso relational auf einen Menschen bezogen wie Dach relational auf ein DAuto, °Haus o.a. bezogen ist. Warum ist dann (68b) möglich, (69b) aber nicht? Die Etikettierung als „relational" löst diese Frage noch nicht, wenngleich sie der Antwort näherkommt: Aus der hier eingenommenen Perspektive ist offensichtlich, daß es sich jeweils um Kontiguitätsrelationen handeln muß: die Kontiguität vom menschlichen Körper zu seinen Körperteilen, die Kontiguität der Person zu Kleidung, Haus usw.. Konstruktionen mit EP liefern in hohem Maße Evidenz dafür, daß diese Kontiguität einen außerordentlich dichten Frame (cf. 1.3.4., 1.4.2.) abbildet. Die Verbindung zwischen DPerson und DKörperteil in (68) ist offenbar so eng, daß die Fakultativität einer expliziten Possessionsbeziehung schon in die Grammatik eingegangen ist: Enge Kontiguitätsbeziehungen, die eine sehr hohe Token- Frequenz aufweisen (wie bei Person-Körperteil-Beziehungen zu erwarten), haben gewissermaßen eine gute Chance, sich diachron in der Grammatik zu sedimentieren. Der dynamische Frame-Begriff erscheint als vielversprechend auf dem Weg zu einer Lösung des Problems der konzeptuellen Basis externer Possessoren. Körperteilbezeichnungen sind in einen sehr dichten Frame, den des menschlichen Körpers, eingebunden. Verwandtschaftsbezeichnungen sind ebenfalls in einen sehr dichten Frame integriert, den der familiären Beziehungen. Der Frame ist das mehrstellige Gefüge, in dem sie erst als „relational" erscheinen können. Nicht jeder Frame ist hinreichend dicht, eine derartige Relationalität hervorzuru49

Seiler (1973:235): „Dieses Kapitel zusammenfassend kann man sagen, daß den relationellen Nomina jeweils eine Beziehung zwischen zwei oder mehr referentiellen NPs inhäriert. Es ist dies das Phänomen, welches mit dem vorwissenschaftlichen, weil nie wirklich definierten, Terminus 'inalienable Possession' angesprochen ist. Und insofern relationale Nomina einen semantischen Bereich der Lebenssphäre des Menschen konstituieren, ist 'inalienable Possession' genau für diesen Bereich charakteristisch."

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fen; so zeigt das Beispiel (69b), daß die Beziehung Dach-Auto nicht dicht genug für die EPKonstruktion ist. Die Beziehung zwischen Possessor und Possessum ist nicht immer eine Teil-GanzesBeziehung, wie sie dem Begriff der „Inalienabilität" zugrundeliegt und wie in einigen Publikationen behauptet bzw. vorausgesetzt wurde (cf. Hanon 1988, Kleiber 1991:120, Vergnaud/Zubizarreta 1992:596). Zwar scheinen meronomische Beziehungen den semantischen Kern dieses Phänomenbereichs auszumachen, es kommen jedoch auch andere semantische Relationen vor, die es unumgänglich machen, nur von einem weiteren Begriff (der Kontiguität nämlich) zu sprechen: (72a) II a le vin triste (Hanon 1988:169) (72b) J'ai la gächette sensible (ibid.)

Die Qualifikation als Kontiguitätsbeziehung genügt natürlich auch noch nicht zur näheren Charakterisierung der EP-Konstruktionen. Es kommt vielmehr darauf an, die Typen von Kontiguitätsrelationen zu ermitteln, die die EP-Konstruktion erlauben. Interessant ist hier die Arbeit von König/Haspelmath 1994+. König/Haspelmath untersuchen die Kodierungsmöglichkeiten des EP in den Sprachen Europas; dabei erscheint weniger die dabei sich zeigende Formenvielfalt interessant als vielmehr die onomasiologischen Skalen, die die Autoren zur Veranschaulichung der unterschiedlichen inhaltlichen Bereiche der EP-Konstruktionen in den europäischen Sprachen bereitstellen. Diese Skalen sollen nun auf das Französische angewandt werden. Im folgenden gehe ich also der Frage nach, welche Kontiguitätsbeziehungen die EPKonstruktion im Französischen erlauben. 5.2.1. Externer vs. interner Possessor An den Beispielen (68)7(69) wurde gezeigt, daß bestimmte semantische Relationen (DKörperD Hand) die EP-Konstruktion erlauben, andere (DAuto-DAutodach) nicht; sie verlangen eine adnominale Interner-Possessor-Konstruktion (Possessivpronomen oder *. Genitiv-Attribut). Beide semantischen Relationen sind Kontiguitätsbeziehungen, allerdings ist die zwischen Körper und DHand natürlich viel enger als die zwischen DAuto und DAutodach. Nun löst aber eine bestimmte semantische Konstellation einen ihr zugeordneten Kodierungstyp nicht gewissermaßen automatisch aus. Sondern auch in dem semantischen Bereich, für den der EP zur Verfügung steht, kann der Interne Possessor gewählt werden, meist mit einem kleinen Bedeutungsunterschied: (73a) Les flies m'ont fouille les poches. (73b) Les flies ont fouille mes poches. (cf. Gerard Diffloth, zit. bei Kliffer 1984:200)

(73a) setzt voraus, daß der Sprecher bei der Durchsuchung das Kleidungsstück am Körper trägt - nicht so (73b). (73b) konzeptualisiert die Beziehung zwischen der Person und ihren Taschen als alienabel. Diese semantischen Nuancen können hier jedoch nicht näher untersucht

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werden; entscheidend ist in dieser Arbeit die konzeptuelle Grenze, Jenseits" derer der Externe Possessor ausgeschlossen ist.50 König/Haspelmath (1994+:35-39) formulieren typologische Implikationshierarchien, die so zu verstehen sind, daß wenn eine Sprache eine EP-Konstruktion mit einer bestimmten Klasse auf der Skala zuläßt, sie sie dann auch für alle von ihr „implizierten" Klassen zuläßt. Für die Wahl zwischen Internem und Externem Possessor sind zwei Skalen maßgeblich, eine für semantische Eigenschaften des Possessors und eine andere für semantische Eigenschaften des Possessums (einen gewissen Einfluß hat dabei auch die Verbbedeutung, die ich hier jedoch nicht näher betrachte, cf. König/Haspelmath 1994+:34f). Für den Possessor schlagen König/Haspelmath (1994+:35) folgende Implikationshierarchie vor: (74)

l .11. Pers. > 3. Pers. Pron. > Eigenname > menschl. Appellativum > nicht-menschlich

Diese Skala gilt nicht nur für Externe Possessoren, sondern gilt ähnlich auch für andere typologische Hierarchien, z.B. der sog. differentiellen Objektmarkierung (cf. Bossong 1982). Sie heißt auch Salienz-, Empathie- oder Belebtheitshierarchie (cf. Croft 1990:112). Die Skala spiegelt eine anthropozentrische Weltsicht wider, in der der Mensch als Handlungssubjekt und seine unmittelbaren Interaktionspartner im Mittelpunkt stehen und Unbeteiligte bzw. nichtmenschliche Entitäten eine Randposition einnehmen. Für das Possessum schlagen König/Haspelmath nur eine wesentlich gröbere Skala vor: (75) Körperteil > anderes (König/Haspelmath 1994+:38)

Auf der Possessor-Skala ist die wichtigste „Sollbruchstelle" [± menschlich]. Dies gilt auch für das Französische:

die Unterscheidung

(76a) II a lave les cheveux ä l'enfant. (76b) II a lave la fourrure {du / *au} chien.

Nicht-menschliche Possessoren können nicht extern kodiert werden. Eine weitere wichtige Grenze ist die zwischen pronominalen und nominalen Aktanten. Pronominale Aktanten eignen sich besser zum externen Possessor als nominale (cf. König/Haspelmath 1994+:36): (77a) ?Le medecin a radiographie l'estomac aux enfants. (77b) Le medecin leur a radiographie l'estomac.

In Anne-Marie Spanoghes (1995) Untersuchung über externe Possessoren sind von 60 (in Romanen gefundenen) französischen externen Possessoren nur 4 nominal: Nous serrons la main a nos amis usw. (cf. Spanoghe 1995:99). Bei diesen Beispielen handelt es sich in zwei Fällen um Eigennamen, bei den beiden anderen um Possessiv-NPs («05 amis, votre roi). Daß es sich in beiden Fällen um Possessiv-NPs handelt und keinmal eine NP mit bestimmtem oder gar unbestimmtem Artikel dabei ist, legt nahe, daß innerhalb der Klasse der Appellativa noch einmal nach Determinationstypen unterschieden werden muß. Mithilfe einer etwas feinrastrigeren Skala von Objektkategorien zeigt Lazard (1984:283), daß indefinite NPs als weniger 50

Für eine Diskussion der Konkurrenz zwischen externem und internem Possessor cf. Spanoghe (1995:98119).

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salient als definite NPs einzustufen sind, so daß also die indefinite NP weiter rechts auf der Skala steht (so auch Croft 1990:112). Possessiv-NPs wiederum sind eine Teilklasse der definiten NPs. Da ich hier nur menschliche Appellativa betrachte, handelt es sich bei den [+menschlichen] Possessiv-NPs vorwiegend um Verwandtschaftsbezeichnungen und vergleichbare Relationen (z.B. nos amis). Mit einem Possessivpronomen versehene Personenbezeichnungen drücken anscheinend eine gewisse habituelle Beziehung des Sprechers zu der jeweiligen Person aus. Dies ist offensichtlich z.B. bei Verwandtschaftsbeziehungen. Viele Sprecher reden auch von „mon coiffeur", „notre boulanger" usw., wenn sie zu den so bezeichneten Personen eine habituelle Beziehung unterhalten, d.h. regelmäßig zu diesem Friseur, diesem Bäcker gehen. Im Sinne des Anthropozentrismus der Salienzhierarchie (74) sind solche Beziehungen zentraler (und damit salienter) als Rollen, die der Sprecher nicht mit einem Possessivpronomen bezeichnen kann. Man sagt nämlich nicht „mon boulanger" von einem Bäkker, bei dem man z.B. nur einmal auf der Durchreise Brot gekauft hat. Die Klasse der menschlichen Appellativa kann daher anscheinend wie folgt unterteilt werden: (78) Possessiv-NP > definite NP > indefinite NP Zur Veranschaulichung: (79a) Le medecin a radiographie l'estomac ä mon enfant. (79b) ?Le medecin a radiographie l'estomac ä l'enfant. (79c) ?Le medecin a radiographie l'estomac ä un enfant.

Für das Französische können die beiden Skalen (74) und (78) anscheinend so zusammengefaßt werden:

(80) Als externer Possessor kodierbar Nicht als externer Possessor kodierbar Pronominale Aktanten, Eigennamen, Possessiv- andere NPs NPs, jeweils [+ menschlich]

Damit komme ich nun zum Possessum. König/Haspelmath (1994+:38) schlagen hier eine einfache Skala vor, in der nur nach Körperteil und Nicht-Körperteil unterschieden wird. In diesem Merkmal unterscheiden sich z.B. deutsche und französische EP-Konstruktionen (cf. König/Haspelmath 1994+:38f): (81 a) (81b) (81c) (81d)

Je lui ai casse le bras. Ich habe ihm den Arm gebrochen. ?Je lui ai casse le velo. [Fahrrad nicht-vorerwähnt] Ich habe ihm das Fahrrad kaputtgemacht.

König/Haspelmath (1994+:39) beschreiben den Unterschied zwischen beiden Sprachen so, daß im Französischen das Possessum ein Körperteil sein müsse, daß es im Deutschen hingegen genüge, daß es in einem gegebenen Frame einzigartig sei. So erklären sie die Akzeptabilität von (81d) gegenüber der Inakzeptabilität von z.B. *Ich habe ihm das Gummiband zerrissen. Dieser letzte Satz ist nur möglich, wenn das Gummiband aufgrund von Vorerwähntheit definit ist, nicht aufgrund von Defmitheit in einem Frame. Richtig an dieser Argumentation ist das Abheben auf Frames als konzeptueller Basis der EP-Konstruktion, wohl falsch hingegen

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das Insistieren auf der „Einzigartigkeit" Denn schon für ein von König/Haspelmath (1994+:39) selbst genanntes Beispiel ist sie problematisch: Ich habe ihm das Fenster zerbrochen. Dieser Satz ist auch dann akzeptabel, wenn der „Geschädigte" mehr als ein Fenster besitzt und wenn nicht aus dem engeren Situationskontext hervorgeht, welches Fenster gemeint ist. Gleiches gilt a fortiori für (81b). In bestimmten Frames scheint Frame-Defmitheit auch dann möglich, wenn die betreffende Entität mehr als einmal vorkommt. Andererseits ist ein 'Körperteil' auch nur ein extremes Beispiel von Framezugehörigkeit. Dies bestätigt wieder einmal, daß Frames nach „Dichte" bzw. Stabilität geordnet werden können. Die Einzelsprachen unterscheiden sich darin, ab welcher Dichte ein dem Frame zugehöriges Element als Possessum der EP-Konstruktion versprachlicht werden kann. Die einfache Skala „Körperteil > anderes" kann daher erweitert werden, etwa wie folgt: (82) Körperteil > andere Frame-Definitheit > anderes

Im Französischen ist die EP-Konstruktion wohl nur für ein Körperteil als Possessum möglich. Es müßte noch genauer durch Vergleich vieler Sprachen untersucht werden, wie der Skalenbereich „andere Frame-Definitheit" feinrastriger aufgeteilt werden kann. 5.2.2. Impliziter Possessor 5.2.2.l. Impliziter vs. Externer Possessor Während bei der EP-Konstruktion der Possessor nicht adnominal im selben Syntagma wie das Possessum ausgedrückt wird, sondern in einem anderen Syntagma des Satzes, bleibt er bei der impliziten Possessorkonstruktion sogar gänzlich unausgedrückt: (83a) II leve le bras. (83b) Les enfants ont claque les doigts. (König/Haspelmath 1994+:40)

Im Französischen ist diese Konstruktion nur bei unmittelbaren Körperbewegungen möglich, nicht bei anderen Handlungen (cf. König/Haspelmath 1994+:42):51 (84) *I1 lave le visage.

Sie ist somit nur in wesentlich eingeschränkteren Bereichen verwendbar als die EPKonstruktion. Die EP-Konstruktion wäre in Konstellationen, wie sie in (84) realisiert sind, möglich: il se lave le visage. Die stärkere Beschränkung des impliziten Possessors erscheint motiviert: Unmittelbare Körperbewegungen haben im Frame des menschlichen Körpers gewissermaßen die zentralste Stellung. Routinehandlungen, die über unmittelbare Körperbewegungen hinausgehen, aber trotzdem Körperteile betreffen (z.B. Waschen), können oft mit der EP-Konstruktion kodiert werden, aber nicht mit dem impliziten Possessor - sie sind gewissermaßen schon zu weit entfernt vom Körper als Handlungszentrum.

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In anderen Sprachen ist sie bei anderen Routinehandlungen möglich: norwegisch De vasket ansiktet 'Sie wuschen sich das Gesicht' (wörtl.: sie wuschen das Gesicht). Cf. VergnauoVZubizarreta (1992:622).

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Interessanterweise scheint nun stets dort, wo der implizite Possessor möglich ist, der externe Possessor nicht möglich zu sein: (85a) "Les enfants se sont claque les doigts.52 (85b) *I1 se leve le bras.53

Die „markierten" Ausdrucksverfahren EP und impliziter Possessor sind somit nicht einfach der inhaltlichen Größe Kontiguität unterschiedslos zugeordnet, sondern unterliegen einer klaren Funktionstrennung. Sie sind in komplementärer Distribution: Der implizite Possessor ist einem Kernbereich des Frame „menschlicher Körper" zugeordnet, der externe Possessor hingegen den peripheren Bereichen dieses Frame: (86)

5.2.2.2. Lokalitätsbeschränkungen für den impliziten Possessor Bei den bis jetzt betrachteten Fällen war das Possessum ein direktes Objekt und der Possessor im Subjekt. Zwischen Subjekt und Possessum existiert also eine Art Bindungsverhältnis im generativen Sinne. Wie König/Haspelmath ausführen, können implizite Possessoren auch in anderen grammatischen Funktionen als dem Subjekt auftreten: (87) Pierre a embrasse ses enfants sur la joue. (König/Haspelmath 1994+:45) (88) Je lui regardais dans les yeux.

Entgegen häufig geäußerten Annahmen (König/Haspelmath 1994+:46, Vergnaud/Zubizarreta 1992:620) ist die Kontrollbeziehung zwischen einem Possessum und einem impliziten Possessor sogar über Satzgrenzen hinweg möglich, wie Spanoghe (1995:91f) an literarischen Beispielen belegt: (89) Je pense: il a l'habitude, c'est ce qu'il fait dans la vie, I'amour, seulement 93. Les mains sont expertes, merveilleuses, parfaites. (M. Duras, L 'amant, cit. Spanoghe 1995:92)

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Dieser Satz wäre bei reziproker Interpretation akzeptabel ('sie schlagen sich gegenseitig auf die Finger'). Diese Äußerung könnte akzeptabel sein, wenn der Dativ-Aktant als Interessedativ gelesen wird und nicht als Possessordativ.

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Die semantische Relation zwischen der Person und dem Körperteil ist in diesem Satz aber nicht mehr ganz die gleiche wie bei den impliziten Possessoren des Typs (87)/(88). Es wird ein bestimmter stilistischer Effekt erzielt: Die Hände werden als getrennt von der Person wahrgenommen, was sich auch in dem anthropomorphisierenden Adjektiv expert ausdrückt. Es wird so getan, als ob die Hände alienabel wären. Für diesen semantischen Effekt scheint die Satzgrenze verantwortlich zu sein. Ich rede daher bei Relationen wie in (89) nicht mehr von impliziten Possessoren. Man hat es hier vielmehr mit sog. indirekten Anaphern zu tun.54 Indirekte Anaphern sind definite NPs, die weder vorerwähnt oder als Individuen bekannt sind noch explizit mit einer anderen NP relationiert werden. Die Zuordnung zum Antezedens geschieht nur implizit. Diese nur implizite Zuordnung haben sie mit dem impliziten Possessor gemeinsam. Sie unterscheiden sich jedoch vom impliziten Possessor darin, daß ihr Antezedens nicht im gleichen Satz (in der gleichen Proposition) steht wie sie selbst. Nun ist bemerkenswert, daß diejenigen inhaltlichen Beziehungen, die einen impliziten (oder auch nur externen) Possessor erlauben, indirekte Anaphern über Satzgrenzen hinweg sehr häufig blokkieren oder zumindest erschweren: (90) On etait arrive dans un village. L'eglise etait situee sur une hauteur. (91) Elle s'est lavee. {Ses / ??les} mains etaient sales.

Während die auf der Kontiguität DDorf-DKirche basierende indirekte Anapher in (90) völlig problemlos ist, ist der gleiche indirekt-anaphorische Bezug in (91) nur sehr viel schwieriger möglich, obwohl die Kontiguität DHand-DPerson viel dichter ist als die zwischen DDorf und D Kirche. Man gewinnt daher den Eindruck, daß es außerhalb der Sphäre des impliziten Possessors und derjenigen des Externen Possessors (cf. (86)) noch eine dritte Kontiguitätssphäre gibt, die noch „lockereren" Relationen vorbehalten ist und die dann transphrastisch mit indirekten Anaphern ausgedrückt wird. Der Kontrast in (90)/(91) verdeutlicht, daß es einen Unterschied ausmacht, ob die implizit zugeordnete Bezugs-NP im selben Satz (genauer: in derselben Proposition) steht oder nicht. Steht die Bezugs-NP in der selben Proposition, so ist die Relation zwischen den beiden eine sehr enge Kontiguität (Körperbewegungen); steht die Bezugs-NP hingegen in einer vorhergehenden Proposition, so ist es eine eher lockere Kontiguität. Die schlechte Akzeptabilität von (91) wird hier als Problem der indirekten Anaphern betrachtet, nicht als Problem der Lokalitätsbeschränkungen für implizite Possessoren. Im folgenden versuche ich nun, für implizite Possessoren die folgende Lokalitätsregel zu begründen: (92) Lokalitätsprinzip für implizite Possessoren Implizite Possessoren müssen in einer weniger obliquen Aktantenfunktion stehen als die zugeordneten Possessa. Ansteigende Obliquität ergibt sich in der Hierarchie S > DO > IO > PräpO.55

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Zu den indirekten Anaphern in textlinguistischer und semantischer Perspektive cf. z.B. Kleiber 1993 und die Beiträge in Verbum 13 (1990), besonders Charolles 1990. Indirekte Anaphern sind ein Phänomen kontiguitätsbasierter Referenz; sie können allerdings hier nicht näher betrachtet werden, da es sich um transphrastische Beziehungen handelt. Zur Begründung dieser Hierarchie cf. z.B. Koch (1981:93-95), Sasse 1982, Givon (1984:135-185).

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Das bedeutet: Implizite Possessoren im Subjekt können Possessa im direkten Objekt kontrollieren, aber nicht umgekehrt: (93a) (= (83a): II leve le bras. (93b) (= (83b): Les enfants ont claque les doigts. (94) *Les pieds me trainent.

In Einklang mit Prinzip (92) können implizite Possessoren im Objekt Possessa in obliqueren Funktionen (Präpositionalphrasen) kontrollieren (cf. (87), (88)). Da die Hierarchie ansteigender Obliquität in der unmarkierten Wortstellung des Französischen auch der linearen Abfolge der Satzglieder entspricht, könnte man annehmen, daß für das Lokalitätsprinzip nicht die hierarchische Beziehung der Aktantenfunktionen, sondern einfach ein Verbot „kataphorischer" Bezüge maßgeblich sei. Wie folgende Beispiele zeigen, ist die bloße lineare Abfolge jedoch nicht entscheidend: (95) Le bras, il l'a leve. (96) *Moi, les pieds me trainent.

Bei Prinzip (92) handelt es sich also um ein genuin depenziell-hierarchisches Prinzip. Die Potenz dieses Prinzips ist aber insofern etwas eingeschränkt, als seine semantischen Eingangsbedingungen (Darstellung von Körperbewegungen) es einem bereits schwermachen, überhaupt Beispiele zu finden, die das Prinzip bei Erhalt der semantischen Restriktionen syntaktisch verletzen könnten. Die meisten Verben der Körperbewegung respektieren dieses Prinzip nämlich schon auf der lexikalisch-valenziellen Ebene: Die jeweilige Person ist im Subjekt kodiert, das betroffene Körperteil im Objekt.

5.3. Die Sonderstellung des direkten Objekts (II) In Kap. 4.7. wurde erläutert, daß Kontiguitätsrelationen zwischen Leerstellen polysemischer Lesarten nicht regellos verteilt sind, sondern daß das direkte Objekt stark bevorzugt wird. Eine ähnliche Präferenz läßt sich nun auch bei besetzungsgebundenen Kontiguitätsrelationen feststellen; die Sonderstellung des direkten Objekts wird auch hier bestätigt: Reflexivkonstruktionen, die oben (5.1.1.) als kontiguitäts- (und nicht als koreferenz-) bedingt ausgewiesen wurden, erfordern ein direktes Objekt; die Reflexiva in Funktion eines indirekten Objekts sind längst nicht so stark von Kontiguitätsphänomenen betroffen. Kap. 5.1.3. zeigte, daß in Reflexivkonstruktionen das direkte Objekt metonymisch besetzt werden kann, das Subjekt hingegen nicht. Aufgrund dieser Asymmetrie ließ sich die Ungrammatikalität von Sätzen wie Jean se preoccupe (auf der Grundlage der transitiven Lesart von preoccuper) herleiten. Ebenfalls konnte motiviert werden, warum in den Beispielen von Jackendoff (1992) (Ringofell over himself) mit dem Subjekt nur die Person Ringo Starr selbst gemeint sein kann (und nicht sein Abbild). Auch im Bereich der Inalienabilia (Kap. 5.2.) lassen sich Präferenzen für das direkte Objekt (für den kontiguitätsgesteuerten Ausdruck des Possessums) ausmachen. Dies gilt zunächst schon im quantitativen Sinne: Spanoghe (1995:207) zeigt, daß sowohl im Französi-

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sehen, Spanischen als auch Portugiesischen das direkte Objekt sich von allen Satzfunktionen am besten für den Ausdruck inalienabler Possessa zu eignen scheint: Im direkten Objekt ist der prozentuale Anteil inalienabler Possessa mit einfachem Artikel (statt mit Personalpronomen) am höchsten. Eine Betrachtung der EP-Konstruktion kann diese statistische Einsicht theoretisch abstützen. Im Französischen wird der externe Possessor in einem Dativ kodiert. Das Possessum kann also im Subjekt oder im direkten Objekt kodiert werden, wobei die Ausdrucksmöglichkeiten im Subjekt erheblich eingeschränkt sind (cf. Hatcher 1944:156f). Das direkte Objekt ist nun für die Repräsentation des Possessums insofern von Vorteil, als die EP-Konstruktion generell erfordert, daß der Possessor von der Verbhandlung „betroffen" ist (cf. König/Haspelmath 1994+:8). Denn die Rolle eines RBetroffenen wird bei einer Sachverhaltsdarstellung mit mehreren Partizipanten i.a. im direkten Objekt ausgedrückt (cf. oben die Argumentation in 4.7.2.). Auch für die EP-Konstruktionen läßt sich also eine strukturelle Präferenz der metonymisch referierenden Ausdrücke für das direkte Objekt ausmachen. Ähnliches gilt für den impliziten Possessor. Mit dem impliziten Possessor können im Französischen nur unmittelbare Körperbewegungen ausgedrückt werden. Es ist naheliegend, daß die betroffenen Körperteile mit dem direkten Objekt ausgedrückt werden, insoweit die betreffende Bewegung als transitiv konzeptualisiert wird (lever le bras, ouvrir lesyeux).56 Läßt sich nun über das bloß deskriptive Verdeutlichen der Sonderstellung des direkten Objekts hinaus eine konzeptuelle Begründung dafür finden? Ganz allgemein ist dies vielleicht wie folgt möglich: Kontiguitätsbasierte Referenz vollzieht sich stets in einem Frame. Ein Frame muß durch Nennung eines ihm zugehörigen Elementes aktiviert werden. Ist dieser Schritt getan, kann in einem zweiten Schritt eine kontiguitätsbasierte Referenz gelingen (z.B. durch Nennung eines Possessums). Das per Kontiguität eingeführte Element ist also im allgemeinen das zweite in einer gegebenen Sequenz.57 Für den Ausdruck dieses zweiten Elementes bietet sich nun das direkte Objekt als struktureller Zweitkasus des Französischen an. Das direkte Objekt ist grammatisches Korrelat des „primary landmark" (cf. Langacker 1987:231). Es erscheint möglich, daß aus diesem Grund das direkte Objekt in besetzungsseitigen Kontiguitäten vorgezogen wird. Das ist ein spezifisch syntaktischer Grund für die Sonderstellung des direkten Objekts.58

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Hiervon zu unterscheiden sind die „Usurpationen" des Possessums durch den Possessor, z.B. Sylvie est belle des yeux, Jean grinfa des dents usw. Diese Konstruktionen setzen die gleiche semantische Relation voraus wie der implizite Possessor, funktionieren aber auf Oberflächenebene völlig anders: Der Possessor besetzt die Leerstelle des Possessums und „vertreibt" es auf einen Zirkumstanten. Cf. hierzu König/Haspelmath (1994+:28-31). Ich verwende hier den allgemeinen Begriff „Sequenz", um eine Festlegung auf grammatische Größen wie Satz, Syntagma o.a. zu vermeiden. Ich will nicht verschweigen, daß es auch ein Argument gegen die Sonderrolle des direkten Objekts gibt, und zwar die stärkere Metonymieneigung des Themas bzw. Topiks (cf. oben 2.3.3.). Da Thema und Topik typischerweise Subjekte sind, gibt es somit ein informationsstrukturelles Gegengewicht gegen die argumentstrukturell begriindbare Sonderrolle des direkten Objekts bzw. internen Arguments.

6. Morphosyntaktische Beschränkungen Nach der Untersuchung semantischer Restriktionen für Kontiguitätsrelationen in den letzten beiden Kapiteln wende ich mich nun Beschränkungen zu, die mit der morphosyntaktischen Realisierung grammatischer Relationen zu tun haben. Damit wird in der Dependenzrelation von Prädikat zu Aktant gewissermaßen „abwärts" zum Bereich der Aktantenfunktionsmarkierung geschritten. Die Leitfrage ist dabei, ob verschiedene Repräsentationsformen gleicher grammatischer Relationen (d.h. verschiedene Formen der Aktantenfünktionsmarkierung) sich in der Zulässigkeit kontiguitätsbasierter Referenz unterscheiden. In 6.1. werden Subjekte und in 6.2. direkte Objekte betrachtet. Die Beschränkungen, um die es hier geht, sind (morpho)syntaktisch in dem Sinne, daß sie vom syntagmatischen Ausdruck der als solchen rein inhaltlichen Relationen zwischen Regenten und Dependentien abhängen.

6.1. Subjekte: Kontiguitätsbeziehungen im Verhältnis Topik-Kommentar Wie in 2.3.4. ausgeführt, kann das Verhältnis Topik-Kommentar in kategorischen Sätzen eine Kontiguitätsbeziehung darstellen: Der Kommentar muß sich auf etwas im Topik Etabliertes beziehen. Geht man nun, wie Cadiot (1988a), davon aus, daß der Kommentar selbst eine Prädikation ist (und nicht nur eine Prädikation ohne Topik), so sind also (zumindest dem Grunde nach) zwei „thematische" Elemente zu unterscheiden: das etablierte Topik und das Thema der sich auf dieses Topik beziehenden Prädikation. In kategorischen Sätzen des Typs // aime Marie gibt es nur ein Prädikationstopik, weil das Pronomen darauf hindeutet, daß der Redegegenstand (der Referent von if) bereits gegeben ist. In segmentierten Sätzen (Jean il aime Marie) werden die beiden theoretischen Größen auch sprachlich auseinandergehalten: Jean etabliertes Topik; il - Prädikationstopik. Cadiot (1988a:10) spricht hier treffend von einem decumulfonctionnel. Die Beziehung zwischen etabliertem Topik und Prädikationstopik ist eine Kontiguitätsrelation. Im Fall von Jean il aime Marie ist diese Beziehung eine semantische Identitätsbeziehung. Das scheint der „normale" Fall zu sein. Dies ist wieder ein Beispiel dafür, daß TokenIdentität als Grenzfall von Kontiguität aufgefaßt werden kann (cf. oben 1.4.2.). In anderen Fällen gestaltet sich die Beziehung offenbar metonymisch: (1) (2)

Cet ami, 9'a pas dure longtemps (Kontiguität rreund- Beziehung) L'Autriche ?a vous a plu (Kontiguität DOrt-DAufenthalt)

In all diesen Beispielen wird die Beziehung des Subjekts zu seinem Antezedenten, d.h. diejenige zwischen Prädikationstopik und etabliertem Topik, metonymisch ausgeformt. Im folgenden prüfe ich nun, in welchem Maße unterschiedliche Ausdrucksformen für das (nominale) Subjekt Kontiguitätsbeziehungen zwischen seinem semantischem Inhalt und seinem Referenten zulassen. Der Grundgedanke ist dabei, daß sich Ausdrucksformen für Subjekte nach dem Grad ihrer syntagmatischen Bindung an das Prädikat skalieren lassen und daß abnehmende

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Metonymiefreundlichkeit mit steigender syntagmatischer Bindung korreliert. Mit syntagmatischer Bindung meine ich die aus der Grammatikalisierungsforschung bekannten Größen „syntagmatische Kohäsion" und „Gebundenheit" (bondedness), d.h. „the degree to which [a sign] depends on, or attaches to, [...] other signs" bzw. „the possibility of shifting [the sign] around in its construction" (Lehmann 1985:306). Dabei wird sich folgende Hierarchie abnehmender Metonymiefreundlichkeit ergeben:1 1. 2. 3. 4.

Reprise mit c 'est (l 'enfer c 'est les autres) Reprise mit a (cet ami 'a pas dure) Nichtsegmentiertes Subjekt (George Sand est sur l 'etagere de gauche) Genussensitv segmentiertes Subjekt (Balzac il est en promotion)

Den höchsten Bindungsgrad erreichen mit elle/il segmentierte nominale Subjekte, den schwächsten diejenigen Subjekte, die mit c' wiederaufgenommen werden. Es mag überraschen, daß die segmentierten Subjekte keine benachbarten Plätze in der Rangfolge einnehmen - man würde intuitiv erwarten, daß die elle/il-Repnse der pa-Reprise ähnlicher ist als den nichtsegmentierten Subjekten. In diesem Kapitel soll jedoch gezeigt werden, daß die Ausdrucksform der e//e//7-Segmentierung für referentielle Übertragungen eher schlecht geeignet ist und daß die Segmentierung mit besonders metonymiefreundlich ist. Die Darstellung der einzelnen Ausdruckstypen folgt hier nicht der Reihenfolge der Hierarchie. Denn es erscheint zweckmäßig, zunächst die Metonymieflexibilität des nichtsegmentierten Subjekts als der intuitiv unmarkierten Form zu untersuchen. Diese dient dann als Folie für die anderen Ausdrucksverfahren. 6. l. l. Nichtsegmentierte Subjekte Nichtsegmentierte lexikalische Subjekte (Typ Jean aime Marie) vereinigen etabliertes und Prädikationstopik auf einem Ausdruck, dem grammatischen Subjekt. Ich betrachte dies als die unmarkierte Form des substantivischen Subjekts, die für die Beurteilung der Metonymieneigung anderer Subjekt-Ausdrucksformen als Bezugspunkt dienen soll. Das nichtsegmentierte Subjekt ermöglicht metonymische Referentialisierungen, aber nur mit solchen Kontiguitätsbeziehungen, die unabhängig von der Äußerung bestehen: (3) (4) (5)

George Sand est sur l'etagere de gauche La Maison Blanche ne s'est pas encore exprimee lä-dessus Le jambon beurre est parti sans payer

Die Beziehungen DAutor-DWerk (3) und DRegierung-DRegierungssitz (4) sind „stabile", d.h. etablierte Kontiguitätsbeziehungen. Die Übertragung ist ein gängiger Metonymietypus. Sie muß daher nicht durch sprachliche Mittel als solche markiert werden. Hier greift Kleibers Es geht hier um die Ausarbeitung einer bereits bei Fauconnier (1984:184n.) formulierten Intuition: „En fran^ais, la presence plus ou moins obligatoire de ce parait liee au degre d'ouverture du connecteur: plus il est ouvert et moins le ce est indispensable" Fauconnier veranschaulicht dies u.a. am Beispielpaar nous sommes la premiere maison sur la droite vs. *je suis la tarte ä i'oignon (aber: moi, c 'est la tarte a l'oignon). Der Gedanke, daß die Stabilität metonymischer Übertragungen als Auswahlfaktor für bestimmte Anapherntypen relevant ist, findet sich auch bei Cadiot (1988b).

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(1991; 1992) Konzept der „metonymie integree" (cf. oben 1.7.): Es findet keine eigentliche referentielle Übertragung im Sinne eines „ein Ausdruck steht für einen anderen" mehr statt, sondern saliente Teilaspekte charakterisieren ein Ganzes („certaines caracteristiques de certaines parties peuvent caracteriser le tout", Kleiber 1991:127). Im Gegensatz dazu sind Ausdrücke des Typs (5) offensichtliche Übertragungen. Ein bestimmter Ausdruck referiert auf einen anderen. Relevant ist hier sicherlich auch ein Ökonomieaspekt: Statt „le client qui a commando le sandwich jambon-beurre" ist es einfacher und im gegebenen Kontext (Restaurationsbetrieb) ausreichend, eine saliente Kontiguität auszunutzen und nur „le jambon beurre" zu sagen. Wie Kleiber (1992) überzeugend darlegt, läßt sich der Unterschied zwischen den integrierten Metonymien und den referentiellen Metonymien klar am unterschiedlichen Anaphorisierungsverhalten aufzeigen. Während (3) und (4) anaphorischen Zugriff auf das Denotat des Antezedens erlauben (George Sand est sur l 'etagere de gauche. Tu verras qu 'eile ecrit divinement und La Maison Blanche ne s 'est pas encore exprimee lä-dessus. Lesjournalistes qui se Irouvent pres d'elle deviennent impatients}, gilt das für (5) nicht: Le jambon beurre est parti sans payer. *Il etait immangeable. Jedoch gilt auch für Übertragungen des Typs (5), daß sie „stabil" sind in dem Sinne, daß sie in einer bestimmten Diskurstradition etabliert sind. Anscheinend gehört es zur Diskurstradition der Kommunikation in Dienstleistungsberufen, daß auf die Leistungsempfänger mittels eines relevanten Aspekts der Dienstleistung selbst referiert werden kann. Vergleichbare Beispiele finden sich leicht: (6) (7)

(Krankenhaus, cf. Hamburger Abendblatt 17. 2. 1995) Das ist ein Bein, und Beine kriegen keine Butter. (Hotel, Ml 14) Quand on lui parlait du 53, il regardait le tableau de clefs en se grattant la tete. Vous ne savez pas si le 53 etait rentre? Maigret, obstine, avait etc jusqu'a rechercher les deux voisins du 53. Quant au 51, un Beige qui n'avait fait que traverser la France, il fut impossible de retrouver sä trace.

Übertragungen dieses Typs finden sich rekurrent in Diskursen der Angehörigen von Dienstleistungsberufen. Für Außenstehende wirken sie auffällig - so auffällig, daß gerade Beispiele wie (5) gem als typische Beispiele von nicht allgemein usualisierten Metonymien überhaupt zitiert werden (cf. Fauconnier 1984:19, Kleiber 1991, 1992), für die Beteiligten des Diskurses handelt es sich aber um ein völlig unauffälliges, gewissermaßen „geräuschloses" Referenzverfahren. Ich gehe davon aus, daß die Übertragung REFDienstleistungsempfänger-REFrelevanter Aspekt dieser Dienstleistung als Kontiguitätstyp in dieser Diskurstradition usualisiert ist (cf. oben 1.3.2.). Jedoch ist der Übertragungstyp offenbar noch auf diese Diskurstraditionen beschränkt, so daß er (noch?) nicht den historischen Einzelsprachen Französisch (oder Deutsch, Englisch ...) allgemein zur Verfügung steht. D.h. auch die Übertragungen des Typs ^unde-^estellte Speise usw. sind in bestimmten Frames als Vertreter stabiler Kontiguitäten zu betrachten. Sie können deshalb als nichtsegmentiertes Subjekt ausgedrückt werden. Nichtsegmentierte Subjekte können offenbar nur Kontiguitäten versprachlichen, die unabhängig von dem grundsätzlichen Kontiguitätsver-

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hältnis zwischen etabliertem und Prädikationstopik bestehen. Die relevante Kontiguität ist die einer Diskursregel (cf. oben 1.3.2.), nicht die von Topik und Kommentar. 6.1.2. Segmentierte Subjekte: Ausdrucksseitige Trennung zweier Topiktypen Mit elle/il bzw. wiederaufgenommene Subjekte trennen etabliertes und Prädikationstopik auch ausdrucksseitig: (8a) Les cours ils auront dejä commence (L21) (8b) L'Autriche 93 vous a plu hein (E32)

Diese Konfiguration ermöglicht es, Kontiguitäten zu repräsentieren, die durch das Verhältnis von etabliertem und Prädikationstopik erst hergestellt werden. In der Forschung ist viel auf die semantischen Unterschiede zwischen der Reprise mit elle/il und derjenigen mit abgehoben worden.2 Bevor die Unterschiede der beiden Konstruktionstypen erörtert werden, möchte ich jedoch auf gemeinsame Merkmale aufmerksam machen. In Waltereit (1996) wird anhand einer Korpusuntersuchung dargelegt, daß beide Formen der Reprise im Französischen sich diskurspragmatisch insofern ähneln, als sie im allgemeinen auf nicht unmittelbar vorerwähnte oder deiktisch zugängliche, dem Hörer jedoch bekannte Referenten zugreifen. Die Referenten der wiederaufnehmenden Pronomina (nicht der segmentierten Satzglieder) befinden sich in einem „mittelbaren Referenzumfeld" Das kann bedeuten, daß sie a) entweder Unika sind (einzige Vertreter ihrer Extensionsklasse: le soleil usw.), oder b) aus dem Diskurs bzw. der Situation inferiert werden können. Die Referenten sind normalerweise weder unmittelbar vorerwähnt noch deiktisch zugänglich. Bei der Segmentierungskonstruktion sind nun drei Elemente zu unterscheiden, nämlich ein (sprachliches oder nichtsprachliches) Kontextelement als Auslöser (oder: „trigger") der Segmentierung, die segmentierte NP selbst, die zum Auslöser eine referentielle Beziehung etabliert, und das wiederaufnehmende Pronomen. Der Auslöser ist ein Element des Kontextes, das die Brücke zur segmentierten NP schlägt. Der Trigger stellt konversationell die Verbindung her, mit deren Hilfe die segmentierte NP kontextuell anschlußfahig wird. In diesem Sinne ist der Referent der segmentierten NP nur „mittelbar" zugänglich: (8a) [Gespräch über Urlaubsfotos, die Kamera ist nicht vorerwähnt] Ah dites votre appareil il est sensationnel [E27] (8b) Get ami