Neuere Entwicklungen in der französischen Grammatik und Grammatikforschung [Reprint 2013 ed.] 9783110918441, 9783484540385


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German Pages 146 [152] Year 1994

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Table of contents :
I. Einleitung
II. Theoretische Grundlagen: “synchronie dynamique”, Norm, Varietäten, geschriebene und gesprochene Sprache, code phonique - code graphique, literarisch-fiktive gesprochene Sprache -
Arbeitsaufgaben zu Kapitel II.
III. Beschreibung und Beurteilung weitgehend untersuchter Phänomene
III.1 Negation
III.2. Direkte Frage
III.3. Satzsegmentierung durch Dislokation oder Präsentativa
III.4. Relativpronomina
III.5. Futur simple - futur périphrastique
III.6. Passé simple und passé composé sowie formes surcomposées
III.7. Passiv
Arbeitsaufgaben zu Kapitel III.
IV. Beschreibung und Beurteilung weniger untersuchter Phänomene unter Einbeziehung eigener Beobachtungen
IV.1. Methodisches Vorgehen bei der Auswahl der Texte
IV.2. Subjonctif
IV.3. Accord des Partizip Perfekt
IV.4. De oder des vor pluralischem Adjektiv
IV.5. On - nous
IV.6. Ça und cela
Arbeitsaufgaben zu Kapitel IV.
V. Zusammenfassung der Ergebnisse: übergreifende Aspekte - typologische Zuordnungen -
Arbeitsaufgaben zu Kapitel V.
Bibliographie
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Neuere Entwicklungen in der französischen Grammatik und Grammatikforschung [Reprint 2013 ed.]
 9783110918441, 9783484540385

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Romanistische Arbeitshefte

38

Herausgegeben von Gustav Ineichen und Bernd Kielhöfer

Gudrun Krassin

Neuere Entwicklungen in der französischen Grammatik und Grammatikforschung

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Krassin, Gudrun: Neuere Entwicklungen in der französischen Grammatik und Grammatikforschung / Gudrun Krassin. - Tübingen : Niemeyer 1994 (Romanistische Arbeitshefte ; 38) NE: GT ISBN 3-484-54038-9

ISSN 0344-676-x

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Hugo Nadele, Nehren

Inhaltsverzeichnis Odfa I.

Einleitung

1

II.

Theoretische Grundlagen: "synchronie dynamique", Norm, Varietäten, geschriebene und gesprochene Sprache, code phonique code graphique, literarisch-fiktive gesprochene Sprache -

3

Arbeitsaufgaben zu Kapitel II.

12

III.

Beschreibung und Beurteilung weitgehend untersuchter Phänomene

13

lll.l

Negation

13

III.2. Direkte Frage

19

III .3. Satzsegmentierung durch Dislokation oder Präsentativa

31

111.4. Relativpronomina

41

111.5. Futur simple - futur périphrastique

48

111.6. Passé simple und passé composé sowie formes surcomposées

58

111.7. Passiv

65

Arbeitsaufgaben zu Kapitel III.

73

IV.

75

Beschreibung und Beurteilung weniger untersuchter Phänomene unter Einbeziehung eigener Beobachtungen

IV. 1. Methodisches Vorgehen bei der Auswahl der Texte

75

IV.2. Subjonctif

79

IV.3. Accord des Partizip Perfekt

92

IV.4. De oder des vor pluralischem Adjektiv

99

IV.5. On - nous

107

IV.6. Ça und cela

118

Arbeitsaufgaben zu Kapitel IV.

125

V.

127

Zusammenfassung der Ergebnisse: übergreifende Aspekte - typologische Zuordnungen -

Arbeitsaufgaben zu Kapitel V.

130

Bibliographie

131

I. Einleitung Ziel des vorliegenden Arbeitsheftes ist eine auf dem neuesten Forschungsstand basierende Zusammenschau möglicher Entwicklungen des modernen Französisch im Bereich der Morphosyntax. Es werden verschiedene Phänomene untersucht, die in der Regel in diesem Zusammenhang bzw. im Rahmen der Diskussion um die großen Unterschiede zwischen geschriebenem und gesprochenem Französisch genannt werden. Innerhalb dieses Bereichs, der nicht nur zum Pflichtteil eines jeden Französisch-Studiums zählt, sondern darüber hinaus beispielsweise auch Relevanz für einen aktualisierten Grammatikunterricht besitzt, existieren zwar zahlreiche Aufsätze zu einzelnen oder auch mehreren Phänomenen, jedoch keine zusammenfassende Monographie aus neuerer Zeit. Da Sprache und damit auch die Grammatik des modernen Französisch unbestreitbar einem stetigen Wandel unterliegt, sind die Fragen hier dahingehend zu stellen, welche Phänomene sich auf welchen Ebenen, mit welcher Intensität, in welchem Zeitrahmen und eventuell auch unter welchen übergreifend-typologischen Aspekten weiterentwickeln. Für die Beschreibung ausgewählt wurden hier 12 der meistdiskutierten Phänomene, die nach der kurzen Darstellung der theoretischen Grundlagen in Kapitel II. - in den Kapiteln III. und IV. behandelt werden. Ziel der Betrachtung ist es zunächst, die jeweilige sprachwissenschaftliche Literatur vor allem der letzten 20 Jahre aufzugreifen und die Diskussion sowie die Untersuchungen zu den einzelnen Phänomenen zusammenzufassen und zu bewerten. Dabei ist davon auszugehen, daß sich in der Betrachtung der Einzelphänomene theoretische Aussagen und praktische Untersuchungen gegenseitig ergänzen müssen. Da dies nicht immer der Fall ist, folgt die Trennung in zwei Kapitel hier dem Kriterium, ob neben theoretischen Aussagen zudem verläßliche praktische Untersuchungen vorliegen (Kap. III.) oder solche Untersuchungen bisher fehlen (Kap. IV.). Neben die Aufarbeitung der sprachwissenschaftlichen Literatur treten also hier in Kap. IV auch eigene Untersuchungen an einem Sprachcorpus; sie ermöglichen es zum einen, zu einer besseren Beurteilung der Theorien bzw. des Entwicklungs- und Forschungsstandes in den untersuchten Bereichen zu gelangen, sollen jedoch zum anderen auch exemplarisch Ansatzpunkte und mögliche Vorgehensweisen für zweifellos notwendige weitere Forschungen aufzeigen. Nach der Behandlung der Einzelphänomene wird schließlich in Kapitel V. der Versuch einer zusammenfassenden Betrachtung der Phänomene bzw. Entwicklungen unter übergreifenden Aspekten unternommen. Doch nicht nur die Grammatik selbst entwickelt sich weiter, sondern auch die Forschung unterliegt einem gewissen Wandel, der sich in unterschiedlichen Ansätzen, verschiedenen Interessensrichtungen etc. manifestiert. So wandte sich nach einer Zeit fast ausschließlicher Beschäftigung mit dem Geschriebenen das Interesse der Forschung beispielsweise in den 60er und 70er Jahren verstärkt der gesprochenen französischen Sprache sowie hier z.T. auch statistischen Untersuchungen an bestimmten Einzelphänomenen zu, um eine starke Entwicklung des Gesprochenen und dessen "Progressivität"

2

gegenüber dem Geschriebenen zu beweisen. Heute neigt man, nicht zuletzt aufgrund zahlreicher hinzugewonnener Erkenntnisse, eher dazu, die jeweilige Eigengesetzlichkeit des Geschriebenen und des Gesprochenen in den Vordergrund zu stellen und vielleicht auch nach Gründen zu suchen, die eine Entwicklung hemmen, bzw. nicht im prognostizierten Maße vorantreiben könnten. Dies schlägt sich natürlich entsprechend in der sprachwissenschaftlichen Sekundärliteratur zu den einzelnen Phänomenen nieder, und die vorliegende Studie versucht, wie bereits im Titel angedeutet, auch diese Entwicklungen in der Forschung zur Darstellung zu bringen. Das Arbeitsheft will all denen, die sich in den Bereich der Entwicklungen in der Grammatik einarbeiten oder die umfangreiche Literatur in Form hunderter Aufsätze nicht selbst lesen wollen, einen Überblick geben. Es will gleichzeitig mit den Aufgabenstellungen und der umfangreichen Bibliographie zu weitergehender selbständiger Arbeit anregen. Im Hinblick auf diese Zielsetzung ist die Bibliographie untergliedert in einen Teil I. mit Standardwerken und Arbeiten, die sich mit mehreren der hier behandelten Phänomene beschäftigen, einen Teil II, untergliedert nach den hier behandelten 12 Einzelphänomenen, und einen Teil III. zu Grammatiken. Diese Zuordnung der Literatur bietet die Möglichkeit, zu bestimmten Fragen und Einzelphänomenen gezielt zu arbeiten; sie bedingt es jedoch gleichzeitig, daß in Kap. III. und IV. zitierte Literatur sich nicht nur in Teil II., sondern auch im I. oder III. Teil der Bibliographie finden kann. Um eine weiterführende praxisorientierte Beschäftigung mit den Einzelphänomenen zu ermöglichen, wird in Teil IV der Bibliographie didaktisch orientierte Literatur angefügt.

II. Theoretische Grundlagen Mit dem Titel des vorliegenden Arbeitsheftes werden gleichzeitig zwei fundamentale Sichtweisen der Sprachwissenschaft, die Synchronie und die Diachronie angesprochen. Dabei zielt der Begriff der Entwicklung auf den Sprachwandel, der hier im Sinne einer bei vielen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft zu beobachtenden Abänderung bestehender Normen verstanden werden soll. Gleichzeitig mit der diachronischen Sicht ist mit der hier intendierten Betrachtung der aktuellen französischen Grammatik auch eine synchronische Betrachtungsweise vorgegeben. Die Gegensätzlichkeit beider Sichtweisen besteht jedoch nur scheinbar; hierzu seien beispielhaft nur Gauger, der eine "Differenzierung nach der Zeit innerhalb des Synchronischen, die Diachronie, also, in der Synchronie" hervorhebt' und Jakobson bzw. Martinet und Walter genannt, die von "synchronie dynamique'2 sprechen. Diachronische und synchronische Sichtweise sind also durchaus nicht unvereinbar,3 sondern müssen sich vielmehr ergänzen. Auch wenn die synchronische Betrachtung nicht nur aus der Sicht der Sprachbenutzer, sondern auch aus untersuchungstechnischen Gründen zunächst Vorrang genießt, so ist doch immer zu beachten, "daß, weil der Wandel wesentlich zur Seinsweise der Sprache gehört, wir uns in Wirklichkeit jeden Augenblick vor im Vollzug begriffenenen Veränderungen befinden."4 Wie zeigen sich Entwicklungen oder Veränderungstendenzen denn nun bei synchronischer Betrachtungsweise? Folgt man hier weiter Coseriu, so werden sie aus kultureller Sicht z.B. "in den sogenannten 'geläufigen Verstößen' gegen die bestehende Norm...; und funktionell gesehen, in der Gegenwart von fakultativen V a rianten und isofunktionellen Verfahren in ein und demselben Sprechmodus" sichtbar.s Können sich einzelne Varianten durchsetzen? Finden die "Verstöße" allgemeine Akzeptanz in der Norm? Bedrohen sie vielleicht sogar das Sprachsystem oder bleiben sie auf bestimmte Sprachebenen beschränkt? Dies sind weitere Fragen, denen nachzugehen wäre. Ein kurzer Blick auf den Begriff der Norm zeigt, daß dieser wenig hilfreich ist in Bezug auf die hier angestrebte Untersuchung morphosyntaktischer Tendenzen des heutigen Französisch. Während der Normbegriff Coserius in Abgrenzung zum System 6 höchstens die Frage erlaubt, ob bereits festgestellte Veränderungen in der Morphosyntax als bisher nicht genutzte oder nebeneinander bestehende Möglichkeiten im Bereich der Norm anzusiedeln sind oder bereits das System betreffen,7 ist die im Unterschied zu verschie1 2 3 4 5 6 7

vgl. Blank (1991: Vorwort von Gauger, S. XI). vgl. hierzu z.B. Walter (1976:38-41) sowie Martinet (1975:8) und v.a. seinen neueren Aufsatz mit eben diesem Titel (1990). vgl. hierzu z.B. auch Coseriu (1974:10/11,19/20 u. 236/7). Coseriu (1974:99). vgl. Coseriu (1974:99). vgl. hierzu z.B. Coseriu (1974:46-48) und auch (21971:67ff.). vgl. hierzu auch Kap. V.

4

denen deskriptiven Normen im Französischen recht rigorose präskriptive Norm als Norm der gehobenen Schriftsprache anzusehen.8 Diese stark an der Sprachtradition orientierte Norm zeigt nicht nur die Tendenz zur Unterdrückung von Veränderungen,9 sondern ist auch viel zu weit von dem hier angestrebten Untersuchungsbereich entfernt, um irgendwie hilfreich sein zu können. In diesem Rahmen sind beispielsweise auch der Arrêté Leygues (1901) und der Arrêté Haby (1976) zu sehen, deren Zugeständnisse sich entweder nicht durchsetzten oder aber nur kleinere Probleme (z.B. je crains qu'il (ne) pleuve) bzw. bereits allgemein durchgesetzte Phänomene (j'avais souhaité qu'il vienne) betreffen.10 Näher kommen würde man dem hier angestrebten Untersuchungsbereich der Allgemeinsprache dagegen beispielsweise mit der "Gebrauchsnorm" Rattundes oder dem von Christmann angesprochenen "durchschnittlichen Sprachgebrauch, denjenigen, den man statistisch als den üblichsten, als eine Art Mittelwert bestimmen kann" und der auch als "normal" oder "bon usagé' zu kennzeichnen wäre." Genau betrachtet ist man damit jedoch nicht über die Bezeichnung einer bestimmten theoretischen Sprachebene hinaus vorgedrungen. Das folgende Schema Stourdzés zeigt die verschiedenen Sprachebenen etwas genauer; es verdeutlicht, welche Varietäten der "bon usage" umfaßt und versucht auch eine Zuordnung der Kategorien parìé/écrit:n LANGUE CLASSIQUE

LANGUE CONTEMPORAINE LANGUE POPULAIRE ^ Langue familière

Langue courante parlée

1

8 9

10 11 12

LANGUE LITTÉRAIRE

BON USAGE Langue soignée

écrite

Ν s

vgl. hierzu z.B. Koch/Oesterreicher (1990:15/6) oder auch Blank (1991: 312/3). Auf diese Tendenz sowie "das Übergewicht der Norm und einer diese Norm absolut setzenden Sprachtradition" im Französischen weist auch Rattunde (1979:63) unter Berufung auf Martinet und Guiraud hin. Einen Überblick über Geschichte und Tradition von Sprachnorm und Sprachnormierung in Frankreich gibt Settekorn (1988:38-124). In den Fällen, in denen hier zu untersuchende Phänomene betroffen sind, wird in Kap. III. bzw. IV. wieder auf die Erlasse Bezug genommen. Rattunde (1979:64) und Christmann (1983:417 u. 418). aus Stourdzé (1969:21). Während Söll/Hausmann (1985:35) hier von "diastratischen" Registern sprechen, würde es sich nach den Ausführungen Prüßmann-Zempers (1990:836) bei diesen Bezeichnungen um "diaphasische" Register handeln, was auch die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung beider Diasysteme voneinander gut verdeutlicht.

5

Davon ausgehend, daß die gesprochene Allgemeinsprache untersucht werden soll, bewegt sich die vorliegende Studie im Bereich der langue courante bis familière, wobei die langue familière nicht nur als potentielle Antriebskraft für Neuerungen einzubeziehen ist,13 sondern auch aufgrund der Tatsache, daß das, was im écrit als familier gilt, im parlé oft als courant zu betrachten ist.14 Nicht nur darin zeigt sich, daß die Übergänge fließend sind und daß diesen begrifflichen Abstraktionen die Problematik anhaftet, wie sie genau inhaltlich zu füllen sind.15 Doch bleibt man zunächst im Rahmen dieser Kategorisierungen, so wird auch deutlich, daß der Untersuchungsbereich der vorliegenden Studie nicht nur gesprochene Sprache umfassen soll, sondern bis in den Bereich der langue courante écrite reicht. Mit der Einbeziehung geschriebener und gesprochener Sprache ist jedoch gleichzeitig den relativ großen Unterschieden zwischen beiden Rechnung zu tragen, die gerade im Französischen, beispielsweise im Vergleich zu anderen romanischen Sprachen wie dem Spanischen oder Italienischen,16 bestehen. Diese Diskrepanz wird beispielsweise von Müller als "dissymétrie" und von Koch/Oesterreicher als "extreme Bipolarität" bezeichnet, bei der man sogar "von einer diglossischen Tendenz sprechen" könne, die nur durch die im Unterschied zur Morphosyntax nicht so weit auseinanderklaffende Lexik gebremst werde.17 Das würde sogar bedeuten, daß gerade im Bereich der hier zu untersuchenden Morphosyntax geschriebenes und gesprochenes Französisch relativ weit voneinander abweichen. Prinzipiell wäre daher eine Betrachtung von Tendenzen getrennt für das G e schriebene und das Gesprochene möglich oder sogar nötig. Andererseits werden traditionell mögliche Sprachentwicklungen meist vom Gesprochenen aus angenommen und untersucht, da dieses in der Regel sprachlichen Neuerungen gegenüber als aufgeschlossener gilt.18 Unter den unzähligen Befürwortern dieser Einstellung seien beispielhaft nur Koch: "Sprachwandel nimmt zu einem großen Teil - nicht ausschließlich - seinen Anfang in der gesprochenen Sprache" und Coseriu: "Der Sprachwandel hat seinen Ursprung im Dialog" zitiert.19 Dabei läßf sich die Untersuchung gesprochener Sprache heute zweifellos nicht mehr als außergewöhnlich, nur niedrige Sprachniveaus betreffend etc., abtun, 13

Coseriu (1974:100) spricht beispielsweise von der "Anfälligkeit" des Sprachwissens u.a. "in den sozialen Gruppen mit geringerer Bildung", und Müller (1985:245) sagt: "le français populaire d'aujourd'hui est une partie de la norme de demain", wobei Müller, wie sich in seinen gesamten Ausführungen immer wieder zeigt, Vieles als "populaire" einstuft, das wir als "familier" einstufen würden. 14 vgl. hierzu z.B. Söll/Hausmann (1985:192). 15 Sowohl Müller (1990:196), als auch Prüßmann-Zemper (1990:836) und Hausmann (1975:33-35) bestätigen die mit diastratischen und diaphasischen Registern auch jeweils intern einhergehenden Abgrenzungsprobleme. 16 vgl. hierzu z.B. Koch/Oesterreicher (1990:236/7). 17 vgl. Müller (1985:86) und Koch/Oesterreicher (1990:140/1 u. 237). 18 Blanche-Benveniste/Jeanjean (1987:29-37) widmen der Frage, ob bzw. in welchem Maße das gesprochene Französisch Veränderungen vorantreibt, ein gesondertes Kapitel, in dem Pro und Contra dargestellt werden. 19 Koch (1986:142) und Coseriu (1974:67).

6

wie es lange Zeit gerade für das stark an der geschriebenen Norm orientierte Französische der Fall war.20 Wissenschaftsgeschichtlich läßt sich die Diskussion um die Untersuchung geschriebener oder gesprochener Sprache aus heutiger Sicht kurz folgendermaßen zusammenfassen: Während die Linguisten dieses Jahrhunderts sich, von wenigen Ausnahmen wie Bally, Bauche oder Frei21 abgesehen, zunächst vor allem mit der der präskriptiven Norm entsprechenden geschriebenen Sprache auseinandersetzten, wendete sich das Interesse seit den 60er und 70er Jahren verstärkt dem Gesprochenen zu. Diese an sich begrüßenswerte Einbeziehung des Gesprochenen beinhaltet jedoch auch mehrere Ansatzpunkte für Kritik. Zum einen ging man davon aus, daß die Situation im Geschriebenen, angelehnt an die Norm, hinreichend bekannt sei; praktische Untersuchungen, die beispielsweise im Bereich der Morphosyntax die Verteilung verschiedener Konstruktionen im Geschriebenen, wie der unterschiedlichen Fragekonstruktionen oder des nous im Verhältnis zu on usw., genau aufzeigen, liegen daher praktisch nicht vor. So beruht der Vergleich zwischen Geschriebenem und Gesprochenem oft auf relativ globalen Einschätzungen des Geschriebenen. Zum anderen ging man für das Gesprochene zum Teil zu einseitig davon aus, daß zukünftige Entwicklungen an Kindersprache ablesbar seien22 oder vom français populaire zum français courant parlé, vom parlé zum écrit linear verlaufen müßten. Dies läßt die Eigengesetzlichkeiten von Kindersprache, français populaire und gesprochener Sprache im allgemeinen zu sehr außer Acht und führte beispielsweise auch zu der Mitte der 70er Jahre sehr vehement geführten Diskussion um archaische Züge des français populaire? Aus heutiger Sicht würde man daher vielleicht eher dazu neigen, geschriebene und gesprochene Sprache, z.B. unter Einbeziehung der o.g. Eigengesetzlichkeiten und konkreter praktischer Untersuchungen, differenzierter zu betrachten und von daher auch mögliche Entwicklungen vorsichtiger zu beurteilen oder gar zu prognostizieren. Ein interessantes Schema, das sowohl die Unterscheidung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache - hier als "Distanz" bzw. "Nähe" bezeichnet - , als auch die diatopische, diastratische und diaphasische Dimension aufnimmt, entwickelten vor einigen Jahren Koch/Oesterreicher.24

20

Blanche-Benveniste/Jeanjean (1987:11-22) geben auch zu dieser eher abwertenden Sichtweise des Gesprochenen zahlreiche bibliographische Belege.

21

vgl. Bally, Ch., Traité de stylistique française, Genf '1909 ("1963), Bauche, H., Le langage populai-

re, Paris '1920 (4195l), Frei, H., La grammaire des fautes, Paris 1929. 22 Vor allem Söll und auch Pfister griffen vor diesem Hintergrund häufiger auf Corpora aus der Kindersprache zurück. 23 Diese Diskussion geben Greive (1984:65-68), Hausmann (1975:43/4) und Koch/Oesterreicher (1990:137 u. 240) knapp und gut wieder; auch Blanche-Benveniste/Jeanjean (1987:29-37) gehen auf diese Diskussion ein. 24 Koch/Oesterreicher (1990:15).

7

universalessentiell

Í {

Nähe i

la

• Distanz

nicht markiert

STATUS einzelspr. kontingent

2 V niedrig«— diaphasisch

> hoch

niedrig«— diastratisch

»hoch

MATISCHE MARKIERUNG

M

markiert

stark*

4 t diatopisch



> schwach

Neben der in einer Varietätenfolge von diatopisch bis diaphasisch markierten gesprochenen Sprache "im weiteren Sinne" wird hier auch eine nicht markierte Ebene gesprochener Sprache "im engeren Sinne angenommen". Diese im Schema mit 1 b gekennzeichnete Ebene würde daher weitgehend dem Untersuchungsbereich dieser Studie entsprechen, der bereits oben im Zusammenhang mit dem Schema Stourdzés zu definieren versucht wurde. Zu dem hier vorliegenden speziellen Fall morphosyntaktischer Untersuchungen des Französischen wird zudem u.a. von Koch/Oesterreicher herausgestellt, daß "das Gros der ursprünglich diaphasisch (oder eventuell sogar diastratisch) niedrig markierten morophosyntaktischen Phänomene (...) seit dem 19. Jahrhundert aus der Diasystematik in die Nähesprache i.e.S. 'abgewandert' ist und nun zum 'gesprochen'-Pol (...) gehört".25 Die in Kap. III. und IV. im folgenden behandelten Einzelphänomene sind daher heute im allgemeinen relativ problemlos der neutralen Ebene der Allgemeinsprache zuzuordnen. Neben der Unterscheidung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache besteht nun gleichzeitig die spätestens seit Söll voll anerkannte Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen phonischer und graphischer Realisierungsebene, die Söll in folgendem Schema verdeutlichte:26

25

Koch/Oesterreicher (1990:148). Auch Blanche-Benveniste/Temple (1989:26) betonen, daß im Unterschied zu Phonologie und Lexik die "syntaxe" - gemeint sind hier Morphologie und Syntax - nicht diasystematisch markiert, sondern allgemein verbreitet sei.

26

Söll/Hausmann (1985:24).

8

parlé

écrit

szpAposibl

snepaposibl

phonique

(1)

(3)

fopaldir

ilnafopaldir

c'est pas possible

ce n'est pas

graphique

possible

(2) faut pas le dire

(4) il ne faut pas le dire

Während die Kritik hieran sich zunächst auf den von Söll als Bezeichnung für alle vier Kategorisierungen gebrauchten Code-Begriff konzentrierte,27 und diesen z.B. für parlé und écrit durch langage ersetzte,28 wurde im folgenden die Aufmerksamkeit berechtigterweise auf die im Schema Sölls nicht berücksichtigte Durchlässigkeit der Trennlinie zwischen parlé und écrit bzw. den fliessenden Übergang zwischen beiden gerichtet.29 Um nun eine genauere Zuordnung sprachlicher Manifestationen zu den Kategorien parlé - écrit sowie phonisch - graphisch zu ermöglichen, entwickelten z.B. Koch/Oesterreicher ein Übersichtsschema, in dem sie Kommunikationsbedingungen bzw. Versprachlichungsstrategien gesprochener bzw. geschriebener Sprache aufzeigen, durch die eine Zuordnung auf der Skala zwischen Nähe und Distanz sowie auch auf der phonisch-graphischen Ebene möglich wird.30

Ν Χ Η E

D I S T A N Z

Konunikationsbedingungen :

Kommunikationsbedingungen:

-

Privatheit Vertrautheit Emotionalität Situations- und Handlungseinbindung - physische Nähe - Dialogizität - Spontaneität usw.

-

Öffentlichkeit Fremdheit keine Emotionalität Situations- und Handlungsentbindung - physische Distanz - Monologizität - Reflektiertheit usw.

Versprachlichungsstrategien:

Verspracht ichung«Strategien:

- Präferenz für nichtsprachliche Kontexte und für Gestik. Mimik usw. - geringer Planungsaufwand - Vorläufigkeit - Aggregation USW .

- Präferenz für sprachliche Kontexte - hoher Planungsaufwand - Endgültigkeit - Integration

27

E i n e Z u s a m m e n f a s s u n g z u d i e s e r Kritik gibt z . B . T a n z m e i s t e r (1985:568/9).

28

vgl. z.B. H a u s m a n n (1975:42) s o w i e T a n z m e i s t e r (1985:569).

29

vgl. z.B. T a n z m e i s t e r (1985:568) s o w i e Koch/Oesterreicher (1990:5/6).

30

vgl. Koch/Oesterreicher (1990:12).

9 Dieses Schema leistet zweifellos bereits sehr viel; es kann jedoch, ebensowenig wie andere in diesem Zusammenhang existierende Schemata,31 die spezielle Problematik erfassen, die bei literarischen Dialogen und Monologen besteht. Da der literarisch-fiktiven gesprochenen Sprache in der Forschung bisher sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde und sie zudem den eigenen praktischen Untersuchungen in Kap. IV. zugrundegelegt werden soll, gehen die folgenden Ausführungen detaillierter auf diese Problematik ein. Während die Seite des parlé oder der "Nähe" im Schema also nur tatsächlich Gesprochenes, wie z.B. Dialoge, Interviews etc., erfaßt, kann die écrit- oder "Distanz"Seite narrative Texte, Zeitungsartikel etc. erfassen, nicht jedoch z.B. dem Gesprochenen nachempfundene Dialoge, wie sie in moderner französischer Literatur zu finden sind. Auch die Unterscheidung zwischen phonischer und graphischer Realisierung ist hier wenig hilfreich; denn fiktive Dialoge sind nicht, wie man zunächst vermuten könnte, in dem zur Nähe-Seite hin sich verengenden Bereich des Graphischen anzusiedeln, da es sich bei ihnen eben nicht einfach um die graphische Wiedergabe von GesprÓchenem handelt, sondern um die Simulation gesprochener Sprache in literarischen oder annähernd literarischen Texten.32 Damit greifen auch die von Koch/Oesterreicher aufgestellten Kriterien nicht mehr richtig, denn es handelt sich hier um fiktive oder fingierte Nähe in der Distanz, um parlé dans l'écrit, eben um gebrochene Realität. Blank drückt dies so aus: "Vielmehr ahmt der Schriftsteller unter den Kommunikationsbedingungen der Distanzsprache die Versprachlichungsstrategien der Nähesprache nach."33 Blank zeigt in diesem Zusammenhang auf, daß keine der vier von Koch aufgestellten Dimensionen der Nähe physisch, sozial, referentiell, elokutionell - , die gemeinsam den sprechsprachlichen Diskurs charakterisieren, problemlos auf Literatur anwendbar ist. "Der Produzent von Literatur kann die physische und die elokutionelle Distanz keinesfalls überwinden, die soziale und referentielle nur in einer Art Fiktion innerhalb des Fiktiven; er hat also immerhin die Möglichkeit, eine «Schein-Nähe» herzustellen."34 Diese Möglichkeit einer Schein-Nähe besteht prinzipiell sowohl für fiktive Dialoge als auch Monologe, bei denen sich der fiktive Sprecher quasi direkt an den Leser wendet und somit u.U. sogar eine größere "Nähe" herstellt als bei Dialogen. Die von Koch/Oesterreicher, wie in obigem Schema, vorgenommene Zuordnung von Monologen zur DistanzSeite mit der Begründung fehlender elokutioneller, physischer, sozialer und referentieller Nähe scheint somit nicht unbedingt haltbar, zumal sie selbst auch im folgenden einschränken, daß beim mündlichen Erzählen mit bestimmten "Verfahren der Vergegenwärti-

31 Zu weiteren hier nicht im Einzelnen zu besprechenden Schemata vgl. z.B. Söll/Hausmann (1985:39-43) oder auch Hausmann (1975:31-34). 32 Auf die besonderen Eigenschaften schriftlich konzipierter Mündlichkeit gehen auch Grosse (1972) und Blank (1991:9ff) ein; vgl. hierzu auch die Einführung zu Kap. IV. weiter unten. 33 Blank (1991:27). 34 Blank (1991:12-14).

10

gung und Verlebendigung" kommunikative Nähe herstellbar ist.35 Es wird daher hier die Auffassung vertreten, daß in fiktiver gesprochener Sprache, vermutlich jedoch ebenso in authentischer gesprochener Sprache, Monologe durchaus nähesprachlich sein können.36 Die generelle Problematik fiktiver gesprochener Sprache wird auch von Tanzmeister recht gut charakterisiert, wenn er fragt: "Was für Rückschlüsse auf die Intuition des Autors als native speaker, auf dessen Sprachbewertungskonzeptionen und Normvorstellungen bezüglich sozio-stilistischer Stratifikation lassen sich aus den Oberflächenäußerungen intuitiv imitierter gesprochener Sprache bei der Wiedergabe, bei der Simulierung von fiktiven Dialogen, Monologen etc. in schriftsprachlicher Form ziehen?"37 In fiktive Dialoge oder Monologe fliessen somit die sprachliche Sozialisation des Autors, seine Norm- und Wertvorstellungen, seine Intentionen, eventuelle Spielereien mit Registern und Niveaus sowie nicht zuletzt die Norm der Schriftsprache mit ein, wenn auch gerade in neuester Zeit die Autoren zum Teil versuchen, sich von dieser Norm zu lösen. Im Hinblick auf die eigenen praktischen Untersuchungen in Kap. IV fiel die Entscheidung hier zugunsten der Erstellung eines eigenen Corpus fiktiver literarischer Dialoge und Monologe und beispielsweise gegen die Verwendung eines oder mehrerer der mittlerweile recht zahlreich vorhandenen Corpora gesprochener Sprache.38 Damit soll hier in besonderem Maße die oben erläuterte "Zwitterstellung" der fiktiven Dialoge, des parlé dans l'écrit, Berücksichtigung finden, das in der Forschung bisher weitgehend vernachlässigt wurde.39 Der Untersuchungsanreiz liegt somit darin, daß bisher kaum U n tersuchungen zu diesem Bereich vorliegen und daß, wie Koch/Oesterreicher es ausdrücken, "die geschriebene Sprache nur mit Verzögerung dem Innovationsdruck nachgebe",40 man könnte hinzufügen, wenn sie ihm überhaupt nachgibt. Andererseits, so stellt Winkelmann für das heutige Französisch fest, "haben Elemente der gesprochenen Sprache längst Eingang in die Schriftsprache gefunden",41 und Antoine spricht schon 1965 von einer "intrusion progressive de la langue parlée, de sa substance et de ses

35 36 37 38

39 40 41

vgl. Koch/Oesterreicher (1990:77). Auch Söll/Hausmann (1985:30-32) ordnen den Monolog primär dem code écrit/graphique zu, obwohl er zunächst mit Abercrombie "als zweiter echter Typ g e sprochener Sprache" bezeichnet wurde. Aus diesem Grunde werden auch bei der eigenen praktischen Untersuchung in Kap IV. monologische Texte und Textteile Berücksichtigung finden. Tanzmeister (1985:567/8). Auflistungen von Corpora für das gesprochene Französisch geben z.B. Blanche-Benveniste/Jeanjean (1987:201-209) sowie Koch/Österreicher (1990:30-35). Auf die großen Schwierigkeiten bei der Corpus-Erstellung und -auswertung gehen Blanche-Benveniste/Jeanjean ebenfalls sehr detailliert ein (1987:93-181), während Söll/Hausmann (1985:53) das Problem bei gesprochener Sprache kurz und treffend so charaktisieren:"Die Schwierigkeit liegt darin, daß beobachtet werden muB, was sich nur unbeobachtet ereignet." Neuerdings scheint sich das Interesse auch etwas mehr diesem Bereich zuzuwenden, wie mehrere in der Reihe Langue Française veröffentlichte Aufsätze zum Thema L'oral dans l'écrit (vgl. Luzzati, D., Hg., 1991) zeigen. Koch/Oesterreicher (1990:240). Winkelmann (1990:348).

11 procédés, dans le français littéraire actuel".42 Gauger schließlich konstatiert: "Die gesprochene Sprache ist für das literarische Sprechen Quell der Erneuerung".43 Dennoch besteht im Französischen, vermutlich mitbeeinflußt durch die bereits oben angesprochene starke präskriptive Norm, offensichtlich immer noch eine Hemmschwelle, gesprochene Sprache möglichst realitätsnah in literarischen Texten wiederzugeben.44 Daher scheint es besonders interessant, Texte dieser Art zu untersuchen; sie stehen in einer durchaus etablierten Tradition, die beispielsweise Céline und den Nouveau Roman sowie Queneau umfaßt.45 Dabei variiert die Wiedergabe der gesprochenen Sprache zwischen den beiden Extremen der traditionellen Schriftnorm einerseits und der phonetischen Graphie andererseits. Während Céline oder auch Queneau in ihrer Zeit und aufgrund ihrer besonderen Stilmittel noch als Außenseiter betrachtet werden müssen, ist die von ihnen angestrebte "Überwindung der konzeptionellen und medialen Bedingungen der Schriftlichkeit"46 nun in neuerer Zeit mehr und mehr auch bei jüngeren Autoren zu beobachten, die versuchen, der bereits oben geschilderten Diskrepanz zwischen geschriebener und gesprochener Sprache Rechnung zu tragen und Dialoge auch wirklich in gesprochener Sprache oder in Annäherung an sie wiederzugeben.47 Gleichzeitig mit dem zunehmenden Eindringen gesprochener Sprache in das Geschriebene ließe sich die Frage stellen, ob nicht, auch angesichts eventueller sprachinterner Bestrebungen zur Abminderung der Bipolarität zwischen Geschriebenem und Gesprochenem, über die Dialoge ein Weg für Neuerungen bzw. Veränderungen im Geschriebenen im allgemeinen geöffnet wird. Diese Frage ist natürlich von vielen Unwägbarkeiten begleitet und kann hier sicher nicht geklärt werden. Vielmehr soll in Kap.IV anhand verschiedener morphosyntaktischer Phänomene, zu denen zudem bisher weniger Untersuchungen existieren, der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich angenommene grammatische Tendenzen oder Neuerungen der heutigen gesprochenen Sprache in Dialogen oder Monologen der geschriebenen Sprache, d.h. literarischer oder annähernd literarischer Texte, wiederfinden. Zuvor werden jedoch in Kapitel III die bisher schon stärker erforschten Phänomene vorgestellt, bei deren Untersuchung vor allem Corpora authentischer, aber zum Teil auch literarisch-fiktiver gesprochener Sprache zugrundelagen.

42 43 44

45

46 47

Antoine (1965:443). Blank (1991: Vorwort von Gauger, S. XII). So sagen beispielsweise auch Blanche-Benveniste/Temple (1989:33): "il semble que le français parlé inquiète les usagers de la langue et qu'ils y voient une source de dangers contre la qualité de leur langue." Zur Geschichte der vorsichtigen Übernahme gesprochener Sprache in literarische Texte vom Surrealismus über den Existentialismus und den Nouveau Roman bis zu Queneau vgl. auch Antoine (1965). Speziell zu Céline und Queneau vgl. die ausgezeichnete Arbeit von Blank (1991). vgl. Blank (1991:315). Die Probleme, die bei der Wiedergabe des fiktiv Gesprochenen im Medium des Graphischen im Einzelnen bestehen sowie die Merkmale gesprochener Sprache, die als Kriterien für die Auswahl der Texte verwendet wurden, werden in Kap. IV. l dargestellt.

12

Arbeitsaufgaben zu Kapitel II. 1.

Suchen Sie anhand von sprachwissenschaftlichen Wörterbüchern und Einführungen in die Sprachwissenschaft Definitionen der Begriffe Morphosyntax bzw. Morphologie und Syntax - inwieweit ergeben sich Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen diesen Bereichen bzw. zu anderen Bereichen der Linguistik?

2.

Vergleichen Sie verschiedene Auffassungen, beispielsweise bei Saussure, Jakobson, Hjelmslev und Coseriu, zum Verhältnis Synchronie - Diachronie.

3.

Definieren und diskutieren Sie den Begriff der Teleologie im Hinblick auf Sprachwandel.

4.

Definieren Sie die Begriffe "langue" - "parole", "System" - "Norm" - "Rede". Wie stellt sich Sprachwandel vor dem Hintergrund der jeweiligen Begriffe dar?

5.

Untersuchen Sie , z.B. ausgehend von Settekorn (1988), Tradition und heutigen Einfluß präskriptiv-normativer Bestrebungen in Frankreich.

6.

Suchen Sie Beispiele aus den Bereichen des Wortschatzes, der Wortbildung und der Morphosyntax, mit denen sich die Unterschiede zwischen geschriebenem und gesprochenem Französisch sowie verschiedenen Sprachniveaus verdeutlichen lassen.

7.

Untersuchen Sie Genus- und Numerusmarkierung beim Adjektiv vor dem Hintergrund der Unterscheidung phonique - graphique.

8.

Untersuchen Sie im Hinblick auf code phonique - code graphique die Markierung von Person, Numerus und Genus bei den Tempora Präsens, Passé simple und Imperfekt z.B. der Verben travailler, rendre, recevoir und dire.

9.

Stellen Sie sich z.B. für die in Aufgabe 7. u. 8. behandelten Bereiche vor, eine Grammatik auf phonischer Basis zu entwickeln - welche Vor- und Nachteile ergeben sich gegenüber der traditionellen Methode?

10. Erstellen Sie - beispielsweise ausgehend von Koch/Oesterreicher (1990: Kap. 4 und 5.3.3.) - eine Liste von universalen und einzelsprachlich-französischen Merkmalen gesprochener Sprache. 11. Erstellen Sie eine Liste der wichtigsten für das gesprochene Französisch vorhandenen Corpora (beispielsweise anhand von Blanche-Benveniste/Jeanjean (1987:201ff.), Söll/— Hausmann (1985:50ff.), Koch/Oesterreicher (1990: 30ff.)); analysieren und vergleichen Sie die verschiedenen Corpora im Hinblick auf Ansatz, Umfang, methodisches Vorgehen etc. 12. Suchen Sie anhand unterschiedlicher Medien und Kontexte Beispiele geschriebener und gesprochener Sprache - wie Telefongespräch, Vortrag, Interview, Privat- oder Geschäftsbrief, Zeitungsartikel etc. - und analysieren Sie diese vor dem Hintergrund unterschiedlicher Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien nach dem Schema Koch/Oesterreichers (s. S. 8). 13. Diskutieren Sie anhand von Textbeispielen moderner französischer oder auch deutscher Autoren Gestaltung und Grenzen von "Schein-Nähe" in literarisch-gesprochener Sprache - ziehen Sie u.U. die Ausführungen Kochs (1986:117f.) und Blanks (1991:12-14) zu den verschiedenen Dimensionen der Nähe als theoretische Grundlagen hinzu.

III. Beschreibung und Beurteilung weitgehend untersuchter Phänomene

l l l . l . Negation Die Negation stellt zweifellos eines der am meisten behandelten Phänomene dar; hierfür lassen sich wohl zwei Hauptgründe anführen. Zunächst repräsentiert der häufige Ausfall von ne in gesprochener Sprache, bzw. seine recht konstante Beibehaltung in geschriebener Sprache - neben passé simple und passé composé - wohl eine der auffälligsten Diskrepanzen zwischen Geschriebenem und Gesprochenem, die zudem durch die sehr hohe Frequenz negierter Sätze besonders augenfällig wird. Es existieren sowohl Untersuchungen zur Negation unter historischer Perspektive,1 mit Blickrichtung auf das Geschriebene,2 als auch auf das im Hinblick auf den ne-Ausfall hier besonders interessierende Gesprochene im heutigen Französisch. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die bekannten Aufsätze von Ashby (1976) und (1981), Barrera-Vidal (1975), Pohl(l969) und (1975) sowie Lüdicke (1982); hinzu kommt die Monographie von Sturm (1981).3 Darüber hinaus beschäftigt sich die Untersuchung von Tanzmeister (1985) speziell mit der Problematik der Negation in den Dialogen französischer Kriminalromane. Die wohl allgemein bekannte historische Entwicklung der Negation soll hier nur kurz skizziert werden: alleiniges ne -> ne + Verstärkungswort (13.-15. Jahrhundert) - > gelegentliches Fehlen von ne in Frage- und Konditionalsätzen (seit der Renaissance) - > Auslassen von ne auch in anderen Konstruktionen (17. Jahrhundert) - > zunehmender Ausfall von ne vor allem ausgehend vom Gesprochenen der unteren Sozialschichten (seit dem 19. Jahrhundert).4

1 2 3

4

Dabei soll hier nur exemplarisch auf die neueren Aufsätze von Price (1985) und Tañase (1985) sowie auf die Arbeit von Roelandt (1975) verwiesen werden. vgl. z.B. Gaatone (1971) und Milner (1979). Die von Blanche-Benveniste/Jeanjean (1987) in ihrer umfangreichen Bibliographie genannten und vom Titel her recht vielversprechenden Arbeiten von Ceru, I., 1976, Etude de la négation en français contemporain (dans la langue parlée et dans deux romans: Du côté de chez Swann, Mort a crédit), Thèse d'Université de Dijon, sous la direction de Dondaine sowie Lorgeoux, J., 1982, Transcription et analyse de corpus de français parlé; inventaire des formes de négation avec ou sans "ne", Mémoire de maîtrise, GARS, Université de Provence waren leider weder in Deutschland noch in Frankreich zugänglich. Zur geschichtlichen Entwicklung vgl. auch Wartburg (1971), Brunot/Bruneau (1961), Nyrop (1930) sowie Sturm (1981) und Pohl (1975). Der letzte Entwicklungsschritt wird insofern etwas relativiert, als Prüßmann-Zemper (1986:91) schon für direkte Rede im Héroard-Text des 17. Jahrhunderts einen ne-Ausfall von 62% feststellt; andererseits kann dieser Text wohl nicht als repräsentativ für die gesamte fiktive oder reale gesprochene Sprache des 17. Jahrhunderts gelten, zumal Prüßmann-Zemper (1986:91-95 u. 84) selbst darauf hinweist, daß sich dieser ne-Ausfall in starkem Maße aus der niedergeschriebenen Kindersprache begründet und daß die Beispiele für den neAusfall in der Tat im 19. Jahrhundert zahlreicher werden.

14

Der Gebrauch des alleinigen ne, z.B. nach einzelnen Verben (Je n'ose accepter votre invitation) oder in festen Wendungen (Je ne saurais vous dire, si...), sowie der Gebrauch des sogenannten ne-explétif (J'ai peur qu'il ne vienne), die im Gesprochenen keine Rolle mehr spielen, sollen hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden.5 Außer Acht gelassen wird im folgenden auch die Verneinung ohne ne in Sätzen ohne Verb (II est curieux. - Moi pas) sowie in den Fällen, in denen nur ein Element des Satzes verneint wird (J'étais content et pas fatigué).6 Während die Neigung zum Auslassen des ne in der gesprochenen Sprache des heutigen Französisch unbestreitbar ist, gehen die Meinungen darüber, welche Gründe dieser Tendenz zugrundeliegen, wie hoch der Anteil des Ausfalls ist, bzw. welche Faktoren ihn beeinflussen, in der Forschung etwas auseinander. Einen recht guten Überblick über mögliche Gründe für den zunehmenden Ausfall von ne liefert beispielsweise Sturm,7 der Oxytonie (Akzent am Ende eines groupe rythmique), Redundanz und phonetische Reduktion des ne, Sprachökonomie sowie Vielseitigkeit von pas anführt. Ein zahlenmäßiger Überblick von Söll/Hausmann8 über die Ergebnisse der wichtigsten Untersuchungen zu gesprochener Sprache zeigt, daß der statistisch gemittelte Ausfall von ne bei den verschiedenen Untersuchungen zwischen 23,5% und 98% schwankt; von Sprecher zu Sprecher betrachtet schwanken die Ergebnisse sogar bei Pohl zwischen 2,2% und 86,7%, bei Ashby zwischen 0% und 92%.9 Eine tabellarische Übersicht über die verschiedenen Ergebnisse erscheint daher hier wenig sinnvoll; vielmehr gilt es im folgenden der Frage nachzugehen, welche Faktoren begünstigend bzw. behindernd auf den Ausfall von ne wirken und damit auch die unterschiedlichen Ergebnisse erklären helfen. Dabei können und sollen die bereits oben genannten Untersuchungen zum Wegfall des ne in der heutigen gesprochenen Sprache hier nicht im einzelnen mit ihren verschiedenen Corpora und statistischen Einzelauswertungen vorgestellt werden. Vielmehr soll versucht werden, die Arbeiten von Ashby, Barrera-Vidal, Pohl, Lüdicke und Sturm, die in ihren Ergebnissen durchaus größere Übereinstimmungen aufweisen, unter wesentlichen zusammenfassenden Gesichtspunkten zu behandeln, um zu übersichtlichen und handhabbaren Aussagen zum Stand der Negation im heutigen gesprochenen Französisch zu kommen. Grundsätzlich ist bei den Faktoren, die einen Ausfall von ne begünstigen oder behindern, zwischen außersprachlichen und sprachlichen Einflußfaktoren zu unterscheiden. Als außersprachliche Faktoren können das Alter, das Geschlecht, die geographische Herkunft, die sozio-kulturelle Schichtzugehörigkeit sowie die Vertrautheit der Gesprächs-

5 6 7 8 9

vgl. hierzu z.B. Klein/Kleineidam (1983:203/4 u. 206). Holtus (1979:244) gibt einen kurzen Überblick über die Behandlung des ne-explétif in den Spracherlassen von 1901 und 1976 sowie mehreren Grammatiken. vgl. auch hierzu Klein/Kleineidam (1983:202/3). Sturm (1981:18-22). Söll/Hausmann (1985:118). vgl. Pohl (1975:19) und Ashby (1976:135).

15

partner miteinander gelten. Übereinstimmung besteht bei allen Untersuchungen dahingehend, daß das ne umso häufiger fehlt, je jünger die Sprecher sind,10 während sich im Hinblick auf das Geschlecht keine eindeutigen Aussagen ergeben." Die Untersuchungen Pohls legen zudem die Vermutung nahe, daß beim Ausfall des ne ein Stadt-Land-Gefälle besteht und vor allem im Pariser Raum das ne häufiger fehlt.12 Der sozio-kulturelle Faktor wurde vor allem mit Hilfe der Variablen Schulbildung und Beruf zu ermitteln versucht. Die These, daß Dauer der Ausbildung und Sozialprestige des Berufs die Schichtzugehörigkeit bestimmen und dabei Angehörige der unteren Sozialschichten das ne am häufigsten weglassen, wird von den Untersuchungen weitgehend bestätigt.13 Doch kommt den sozio-kulturellen Faktoren offenbar nicht die entscheidende Bedeutung zu, die ihnen - vielleicht unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß Neuerungen sich vom français populaire her ausbreiten müßten - gern zugeschrieben wird. Vielmehr ist offensichtlich der gleichzeitige Einfluß mehrerer Faktoren ausschlaggebend, und es nehmen dabei zumindest das Alter und schließlich auch die Gesprächssituation, der Grad der Vertrautheit im Gespräch - Familiensituation, offizielles Interview, Beginn oder Ende des Gesprächs, Beteiligung zweier oder mehrerer Personen am Gespräch - zusammen mit der Schichtzugehörigkeit des Sprechers entscheidenden Einfluß auf den Wegfall von ne.14 In der Zusammenfassung der außersprachlichen Faktoren kann man sich daher durchaus Sturm anschliessen, der schreibt: "Die Bereitschaft zur Verneinung ohne NE ist umso größer, je mehr die Charakteristika: jüngere Generation, Städter (insbesondere Einwohner von Paris), parlure populaire und familiarité du ton zusammentreffen".15 Zu kritisieren bleibt dagegen die Aussage Sturms, daß die Untersuchung außersprachlicher Faktoren "zu wenig exakten und aussagekräftigen Ergebnissen" führe, die gegenüber den sprachlichen Einflußfaktoren zu vernachlässigen wären.16 Die Bedeutung der außersprachlichen Einflüsse ist nicht zu unterschätzen, auch wenn beispielsweise mit der Untersuchung sozio-kultureller Faktoren oder der Interdependenz verschiedener Einflußfaktoren immer die - gegenüber rein sprachlichen Faktoren - schwierigere Operationalisierbarkeit verbunden bleibt. 10 vgl. dazu Pohl (1969:1347ff.), Pohl (1975:20), Ashby (1981:683), Barrera-Vidal (1975:78), Sturm (1981:100) und Lüdicke (1982:50). 11 vgl. hierzu z.B. Ashby (1976:132) gegenüber Ashby (1981:685) und Sturm (1981:101/2). 12 vgl. Pohl (1975:18/9) und (1969:1349). Die Untersuchungen Ashbys, die sich auf Paris (1976) bzw. Tours (1981) beziehen, ermöglichen keinen Vergleich, da sie sich auf verschiedene Alters- und Sozialgruppen beziehen. 13 vgl. z.B. Ashby (1981:684) und Sturm (1981:102-105). 14 Auf die Bedeutung der Sprechsituation weisen vor allem Ashby (1976:131), Söll/Hausmann (1985:118/9) sowie Greive (1978:40/1) hin. Auch Blanche-Benveniste/Temple (1989:27) betonen noch einmal, daß Thematik und Gesprächssituation für den Ausfall von ne sehr wichtig sind. 15 Sturm (1981:54). 16 vgl. Sturm (1981:106). Hier sei nur noch einmal auf die Ergebnisse von Ashby (1981:683ff.) verwiesen, die je nach Alter, Geschlecht und sozialer Klasse einen Ausfall von ne zwischen 95% und 25% zeigen.

16

In den Grenzbereich zwischen linguistischen und extralinguistischen Faktoren fallen diejenigen Einflüsse, die durch Thematik, individuelle Sprechergewohnheiten oder auch Sprechtempo bedingt sind.17 Wendet man sich nun den sprachlichen Einflußfaktoren zu, so ist wiederum unbestreitbar, daß Zusammenhänge zwischen dem unmittelbaren Kontext und dem Wegfall von ne bestehen. Ganz allgemein gilt, daß die Frequenzhöhe einer Konstruktion offensichtlich den Ausfall von ne begünstigt. So findet sich ne seltener bei ein- oder zweisilbigen Verben, vor allem natürlich être und avoir, als bei drei- und mehrsilbigen Verben.18 Es fehlt besonders häufig in den hochfrequenten Verbindungen, wie c'est pas, gefolgt von je sais pas, il faut pas, j'ai pas und il y a pas.19 Der Einfluß der Frequenz ist ebenfalls spürbar bei der Verbindung von pronominalem Subjekt und ne. Bei dem hochfrequenten je fehlt das ne am häufigsten, an 2. Stelle liegt tu, gefolgt von il(s), elie(s) und on, den Schluß bilden nous und vous.20 Im Gegensatz zu der Neigung, zumindest bei den frequenten Personalpronomina das ne auszulassen, steht das auffällig häufige Auftreten des ne bei einem substantivischen Subjekt und in Relativsätzen, vor allem nach qui? Sturm erklärt dies mit den syntaktischen Grenzen zwischen syntagme nominal und verbal bzw. dem Relativsatz und bei letzterem zudem durch die häufige einleitende Pause.22 Als besonders wichtig erweist sich die weitgehende Beibehaltung des ne zur Vermeidung eines Hiatus (Tu n'as pas).23 Darüber hinaus tritt das ne häufiger auf in Nebensätzen als in Hauptsätzen, bei subjonctif- gegenüber indicatif-Formen sowie bei besonders betonten Verben.24 Schließlich bleibt noch der Einfluß der verschiedenen Negationswörter zu erwähnen. Während bei pas, rien und jamais das ne relativ häufig fehlt, bleibt es bei plus und que, die ja allein auch semantisch keine eindeutige Verneinung ausdrücken, öfter bestehen.25 Bei den hier aufgeführten wichtigsten sprachlichen Einflußfaktoren für den Ausfall oder die Setzung von ne bleibt natürlich, ebenso wie bei den außersprachlichen Faktoren, die Interdependenz der Faktoren in starkem Maße zu berücksichtigen. Trotz der hieraus resultierenden Komplexität sowie der Tatsache, daß es sich schon um ein relativ altes Phänomen handelt, belegen andererseits einfache Ergebnisse, wie der Ausfall des ne vor 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Auf die Bedeutung der Thematik weisen z.B. Ashby (1976:131) und Greive (1978:40) hin. Etwas genauere Untersuchungen liegen nur zum Sprechtempo vor; Sturm (1981:63/4 u.171) zeigt auf, daß der Ausfall von ne mit zunehmender Sprechgeschwindigkeit steigt. vgl. Sturm (1981:57/8, 159/60 U. 177). vgl. Ashby (1981:678) und Sturm (1981:152). Die Ausfallquote liegt bei c'est pas über 90%, bei den übrigen zwischen 76% und 86%. vgl. hierzu Pohl (1975:22), Lüdicke (unveröff. Staatsexamensarbeit), zitiert nach Sturm (1981:55), Sturm (1981:116-132) und Ashby (1976:124). vgl. Ashby (1976:123f.), (1981:681), Lüdicke (1982:49) und Sturm (1981: 107-116). vgl. Sturm (1981:180 u. 169), zur Bedeutung der Pause vgl. auch Ashby (1981:677). Pohl (1969:1354 u.1356), (1975:22), Ashby (1976:128t.) und Sturm (1981: 181-183). vgl. hierzu Sturm (1981:62/3 u. 58/9), Ashby (1981:678) und Lüdicke (1982:54). vgl. Ashby (1976:122) und (1981:678). Lüdicke (unveröff. Staatsexamensarbeit), zitiert nach Sturm (1981:60) und Sturm (1981:160-162).

17 allem bei der jüngeren Generation und bei hochfrequenten Konstruktionen, daß es sich durchaus um eine aktuelle Tendenz handelt. Interessant ist daher auch die Frage danach, inwieweit sich diese Tendenz in Dialogen der heutigen Literatur wiederfindet. Als bisher wohl einzige Untersuchung, die sich explizit die Widerspiegelung des in der gesprochenen Sprache üblichen Ausfalls von ne in der geschriebenen Sprache zum Ziel setzt, beschäftigt sich die Studie von Tanzmeister (1985) mit der Negation in französischen Kriminalromanen. Vorgestellt wird der Ausfall des ne jeweils getrennt nach dialogischen und narrativen Textteilen. Untersuchung zum Ausfall des ne in Kriminalromanen:26

Kriminalromane

dialogisch

narrativ

Auguste Le Breton, Le rouge est mis, 1976

73,03%

10,89%

Jean Vautrin, Typhon-gazoline, 1979

72,64%

57,67%

J.G. Imbar, Cocu and Co, 1979

23,17%

Claude Joste, Le chandelier de Noël, 1967

9,57%

0%

0%

0%

Georges Simenon, La pipe de Maigret, 1976

-

Hinzufügen könnte man hier auch die von Blank ermittelten Ergebnisse für den ne-Ausfall in Célines Voyage au bout de la nuit?7 dial. 68% narr. 20%. Die Ergebnisse zeigen sehr deutlich, daß das Urteil Söll/Hausmanns "Im code écrit wird die Unterdrückung von ne nicht geduldet" und "Es zeigt sich darin der generelle Sachverhalt, daß Züge des code parlé, die in phonischer Gestalt völlig normal und unanstößig sind, in graphischer Form nur schwer akzeptiert werden, wenn sie vom code écrit abweichen"28 so nicht haltbar und zu pauschal ist. Vielmehr hängt das Auslassen des ne zum einen in starkem Maße von dem jeweiligen Autor - seiner Verbundenheit mit der Schriftnorm bzw. seinem Bestreben, gesprochene Sprache möglichst authentisch wiederzugeben - ab. Zum anderen wird auch der große Unterschied zwischen dialogischen und narrativen Textpassagen deutlich. Generell läßt sich festhalten, daß sich der im Gesprochenen übliche Ausfall des ne, wenn auch nicht ganz so häufig, durchaus in den Dialogpassagen geschriebener Texte wiederfindet. Auch bei einer genaueren Analyse der sprachlichen Einflußfaktoren auf den Wegfall von ne in den fiktiven Dialogen gelangt Tanzmeister im wesentlichen zu Ergebnissen, die sich mit den oben dargestellten Resultaten in der gesprochenen Sprache decken. Den

26

nach Tanzmeister (1985: 573).

27

vgl. Blank (1991:157); Blank erwähnt hier im übrigen auch eine Untersuchung von Elias (1981), der für den dialogischen Teil bei Célines Voyage au bout de la nuit nur einen ne-Ausfall von 57% feststellte.

28

Söll/Hausmann (1985:120).

18

Ausfall beeinflussende Faktoren wie "Subjekt, Häufigkeit und Kürze des Verbs, V e r meidung des Hiat" stellt er ebenso fest wie die oben aufgeführte Reihenfolge bei den Personalpronomina oder bei den hochfrequenten Verbindungen. Lediglich bei den Negationswörtern ergibt sich nach dem führenden pas eine etwas andere Reihenfolge. Der negierte Imperativ tritt besonders häufig ohne ne auf.29 Die Frage nach den außersprachlichen Einflußfaktoren, wie z.B. der Schichtzugehörigkeit, mischt sich im Falle fiktiver Dialoge natürlich mit Ausdrucksintentionen und Stilmitteln des Autors, so daß beides praktisch nicht mehr trennbar ist. Tanzmeister stellt sowohl für den ersten als auch für den dritten der oben genannten Kriminalromane fest, daß das ne hauptsächlich von den Ganoven weggelassen wird, obwohl bei Auguste le Breton immerhin auch in 66,67% der von Polizisten gesprochenen verneinten Sätze das ne fehlt. Bei Vautrin ist der Ausfall des ne nicht an der Schichtzugehörigkeit festzumachen. Frauen behalten sowohl bei Auguste le Breton als auch bei Vautrin das ne wesentlich häufiger bei.30 Da nach den Untersuchungen gesprochener Sprache weder Schichtzugehörigkeit noch Geschlecht einen derart markanten Einfluß nehmen, scheint sich hier eine Tendenz einiger Autoren anzudeuten, z.B. die Schichtzugehörigkeit des Sprechers beim Weglassen von ne überzubewerten, bzw. als zusätzliches hervorhebendes Stilmittel für populäre oder vulgäre Sprechweise einzusetzen. Daß das Auslassen des ne in fiktiven Dialogen jedoch nicht generell einer unteren Sprachschicht zuzuordnen ist, zeigen nicht nur die Ergebnisse Tanzmeisters, sondern auch eigene Untersuchungen, bei denen sich bei der Durchsicht zahlreicher Texte im Hinblick auf die Auswahl für die praktische Untersuchung in Kap. IV neben den oben beschriebenen mindestens ebenso häufig auch Texte fanden, in denen das ne in den fiktiven Dialogen unabhängig von solchen Einflußfaktoren relativ durchgängig fehlt. Dies würde auch einer Feststellung Tanzmeisters entsprechen, der schreibt:"Allerdings zeigte sich bei Befragungen von französischen native speakers, daß sie bei verschrifteten Dialogen ... Sätze, in denen die schriftsprachlich geforderte klitische Negationspartikel ne fehlte, einfach als 'oral', als parlémarkiert bezeichneten."31 Im Hinblick auf die in Kap II gewählte Untersuchungsebene gesprochener Allgemeinsprache ergibt sich somit die Notwendigkeit, für die eigenen Untersuchungen nur zur letzten Gruppe gehörende Texte auszuwählen. Unter diesen Voraussetzungen und aufgrund des relativ häufigen Vorkommens negierter Sätze bietet der Ausfall des ne ein hervorragendes Beurteilungskriterium für die Reproduktion gesprochener Sprache und damit für die Auswahl von Texten.32

29

vgl. Tanzmeister (1985:575-579 u. 582). In diesem Zusammenhang sei ein kurzer Exkurs zum français branché erlaubt, das, wie Verdelhan-Bourgade (1990a:67) zeigt, sogar Tendenzen aufweist, beim verneinten Imperativ jegliche Verneinungspartikel wegzulassen. In t'inqiète einen negierten Impératif zu sehen, ist dann zweifellos der Sprachkompetenz des Einzelnen überlassen, und zwar auf folgender Basis: "C'est que la négation absente a laissé sa marque dans la structure..."^.). 30 Tanzmeister (1985:580/1). 31 Tanzmeister (1985:572). 32 vgl. hierzu auch Kap. IV.l.

19

III.2. Direkte Frage Will man die Konstruktion der Frage im heutigen Französisch behandeln, so sind im Vorfeld zunächst einige grundlegende Unterscheidungen anzuführen, um den jeweiligen Untersuchungsbereich genau eingrenzen zu können. So ist zunächst gemäß ihrem Auftreten ohne oder mit Fragewort zu unterscheiden zwischen totalen und partiellen Fragen, wobei erstere in der Literatur auch als Gesamt-, Satz- oder Entscheidungsfragen, letztere als Teil-, Wort-, Ergänzungs- oder Bestimmungsfragen bezeichnet werden. 1 Die alternativen Fragen (Est-il venu samedi ou dimanche?) sollen hier nicht gesondert betrachtet, sondern den totalen Fragen zugerechnet werden.2 Darüber hinaus erweist sich die Unterscheidung zwischen parlé und écrit als sehr bedeutsam im Hinblick auf den G e brauch der jeweils 3 möglichen verschiedenen Fragekonstruktionen: Intonationsfrage, periphrastische Frage und Inversionsfrage. Zur Verdeutlichung der Unterscheidungen und im Hinblick auf eine leichtere Zuordnung der zahlreichen Untersuchungen zur Frage, die bis heute vorliegen, soll das folgende Schema dienen: parlé

écrit

la

lb

2a

2b

Intonation totale Frage

est-ce que Inversion Intonation

partielle Frage

est-ce que Inversion

Die Inversion beinhaltet sowohl die komplexe als auch die einfache Inversion, wobei festzuhalten ist, daß die komplexe Inversion praktisch nur noch in der geschriebenen Sprache anzutreffen ist und in den hier zu besprechenden Untersuchungen in der Regel mit einem Vorkommen unter 1% zu vernachlässigen ist. Die von Klein/Kleineidam als gesonderter Fragetyp angesetzte segmentierte Frage (II partira quand, Luc?f wird als Sonderfall der Intonationsfrage untergeordnet. Der Begriff der Intonationsfrage selbst ist in zweierlei Hinsicht nicht unproblematisch. So stellen Stempel/Fischer beim Versuch der Identifizierung eines spezifischen Intonationsprofils für die totale Intonationsfrage fest, daß die ansteigende Intonation allein kein absolut zuverlässiges Kriterium zur Identifizierung einer Frage ist, indem diese Intona-

1 2 3

vgl. in der Reihenfolge der Nennung Klein/Kleineidam (1983:190), Söll/ Hausmann (1985:138,145), Seelbach (1985:281) und Weydt (1985:313) sowie auch Seelbach (1983:225). Ebenso verfährt beispielsweise Pohl (1965:504). vgl. Klein/Kleineidam (1983:190).

20 tionsform auch in nicht interrogativen Äußerungen vorkommt und umgekehrt die Intonation am Ende der Frage nicht immer ansteigen muß (vgl. z.B. Vous voulez du café, du thé, ou du chocolat?).4 Zum anderen handelt es sich bei dem Hinzutreten eines Fragewortes, d.h. bei den partiellen Fragen, nicht mehr um Intonationsfragen im ursprünglichen Sinne. Der Begriff soll hier dennoch aus Symmetrie- und Übersichtlichkeitsgründen beibehalten werden; er umfaßt Fragekonstruktionen mit der Wortstellung Subjekt - Verb bei voran- oder nachgestelltem Fragewort. Die Untersuchung der verschiedenen Fragekonstruktionen kann nun zum einen quantitativ-statistisch, zum anderen qualitativ-stilistisch bzw. funktional erfolgen. Untersuchungen der 60er und 70er Jahre, wie z.B. Pohl (1965), Terry (1967), Söll (1971), Behnstedt (1973) und Ashby (1977) beschäftigten sich vorwiegend mit der quantitativen Untersuchung, während in den neueren Untersuchungen, wie z.B. Greive (1974), Seelbach (1985), Stempel/Fischer (1985), Weydt (1985), versucht wird, die unterschiedlichen Fragetypen unter dem Aspekt ihrer jeweiligen Funktion zu betrachten. Auffällig ist, daß sich sowohl ältere als auch neuere Untersuchungen praktisch ausschließlich der gesprochenen Sprache zuwenden. Diese stellt zweifellos mit der bekannten Tendenz zur Intonationsfrage den zunächst interessanteren Bereich dar; dennoch wäre es wohl falsch, den Bereich der geschriebenen Frage als bekannt vorauszusetzen, und es wäre sicherlich sehr interessant, konkrete Vergleichszahlen zu den im Gesprochenen festgestellten Werten zu besitzen.Die Untersuchungen zur gesprochenen Sprache beschäftigen sich nun wiederum in erster Linie mit dem oben als l a bezeichneten Bereich der totalen Fragen; dies gilt insbesondere für die funktionalen Untersuchungen. Verständlich wird dieses Vorgehen bei genauerer Betrachtung der partiellen Fragen, die, bedingt durch die zahlreichen verschiedenen Fragewörter und die nicht zuletzt hierdurch mitbeeinflußten verschiedenen Fragekonstruktionen, nicht so klare Aussagen und Ergebnisse zulassen. Doch betrachtet man zunächst die statistischen Analysen zu der Ebene la, so ergibt sich unter Zugrundelegung aller hier vorliegenden Untersuchungen die in der folgenden Tabelle dargestellte Verteilung der drei verschiedenen Fragekonstruktionen. Dabei zeigen die Zahlen - abgesehen von der Rundfunksprache, die sich auch bei der Untersuchung anderer Phänomene des gesprochenen Französisch als recht "konservativ" erwies - sehr deutlich die starke Neigung des gesprochenen Französisch zur Intonationsfrage. Sie ist im Bereich der totalen Fragen als der normale Fragetyp zu betrachten, während sowohl die periphrastische, als auch die Inversionsfrage als markiert bezeichnet werden können.5

4 5

vgl. Stempel/Fischer (1985:240 u. 242). Der Begriff des markierten gegenüber dem unmarkierten Fragetyp wird beispielsweise auch von Koch/Oesterreicher (1990:158) verwendet.

21 Totale Fragen in gesprochener Sprache:

in %

Intonation

est-ce que

Inversion

Pohl (1965:511): parlure bourgeoise

82,2

8,9

8,9

Pohl (1965:511): parlure vulgaire

90,7

4,6

4,6

Pohl (1965:505): parlure bourgeoise belge = M. et Mme Pohl

85,5

14

0,5

Söll (1971:497): Kindersprache

90,9

7,7

1,3

Behnstedt (1973:217): lang. fam. Corpus 1 u. II

94,6

4,8

0,6

Behnstedt (1973:256): Rundfunk

41

39

20

Ashby (1977:49): Pariser Corpus

80

10,8

9,2

Bastian (1986:103)6

70

11

3

Nur zum Teil etwas niedriger liegt der Anteil der Intonationsfragen bei literarischer gesprochener Sprache, bei der jedoch der Anteil der Inversionsfragen leicht ansteigt: Totale Fragen in literarisch-fiktiver gesprochener Sprache: in %

6

7

Intonation

est-ce que Inversion

Terry (1967:815): Boulevardstücke

85,5

3,2

11,2

Söll/Hausmann:Theaterstücke:M.Duras

82,5

4

13,5

(1985:143)

S. Beckett

77,5

5

17,5

Blank (1991:160): Céline, Voyage au bout de la nuit - Dialoge

76,0

2,5

11,57

Blank (1991:285): Queneau, Le Chiendent - Dialoge

78,7

5,3

16

Diese bisher relativ unbekannte Untersuchung stützt sich auf authentische Texte gesprochener Sprache anhand von 4 Corpora - politische Debatte, spontane Diskussion von Linguisten, Interviews, spontane Dialoge mit unsichtbarem Mikro - mit einer Gesamtzahl von 200 Fragen, davon 3/4 totale Fragen. Die 100% werden hier nicht erreicht, da 16% "elliptischer Fragen" gesondert gezählt wurden, (vgl. Bastian (1986:102/3)). Die Quersumme ergibt hier nur 90%, da 10% f-y-Fragen in der Tabelle nicht berücksichtigt werden können.

22

Daß das Verhältnis zwischen Intonations- und Inversionsfrage im Geschriebenen Ebene lb - oder auch im literarischen Récit praktisch umgekehrt ist, wird allgemein angenommen. Es existieren hierzu jedoch, wie bereits oben ausgeführt, so gut wie keine statistischen Untersuchungen. Lediglich die Ergebnisse Pohls, die jedoch im ersten Fall nur schriftliche Äußerungen seiner Eltern, im zweiten einige wenige Briefe umfassen, sowie die Untersuchungen Blanks zu Céline und Queneau lassen bestätigende Hinweise zu. Auch wenn hier der absolute Einsatz der Inversion bei Queneau etwas erstaunt und den Gedanken an ein bewußt eingesetztes Stilmittel nahelegt, bleibt insgesamt festzuhalten, daß im Geschriebenen eindeutig die Inversion dominiert. Totale Fragen in (literarisch ^geschriebener Sprache: in %

Intonation

est ce que

Inversion

Pohl(1965:506):parlure bourgeoise belge = M et Mme Pohl

1

-

99

Pohl(1965:509): Briefe

6,5

1

92,5

Blank (1991:160): Céline, Voyage au bout de la nuit - récit

35

-

65

Blank (1991:285): Queneau, Le Chiendent - récit

100

Wendet man sich nun den statistischen Untersuchungen zu partiellen Fragen in der gesprochenen Sprache zu, so wird sofort deutlich, daß die Ergebnisse weniger klar zugunsten einer bestimmten Fragekonstruktion ausfallen. Viele der obengenannten Untersuchungen gehen auch auf partielle Fragen ein, schlüsseln jedoch häufig die Fragekonstruktionen gemäß verschiedenen Fragewörtern auf, da diese die Wahl der Konstruktion entscheidend mitbeeinflussen können. Hinzu kommt die Schwierigkeit, daß nicht nur im langage populaire, sondern auch im allgemeinen Sprachgebrauch hier weitere Konstruktionen existieren, wie z.B. die desinvertierte Frageform mit c'est que (où c'est qu'il est?),8 die z.B. bei Behnstedt und Söll gesondert aufgeführt und hier im folgenden als segmentierte Form der Intonationsfrage zugeordnet wird,9 oder der Inversions-Typ "Fragewort -

8

Behnstedt (1973:56,222,226,231) rechnet diese Frageform dem langage familier zu, während er hybride und superperiphrastische Formen ebenso wie die Fragetypen mit que dem langage populaire zuordnet (vgl. hierzu auch ib.,p. 33ff.) Als "bäuerlich/ländlich" charakterisiert Behnstedt die sowohl bei totalen, als auch partiellen Fragen auftretende fj-Form, die nach Behnstedts umfangreicher Analyse nicht vom langage populaire auf den langage familier überzugreifen scheint, sondern eher zugunsten der Intonationsfrage verschwindet (vgl. ib., p. 32).

9

Behnstedt und Söll ordnen sie dagegen der est-ce que-Form zu und nehmen damit die morphologische Verwandtschaft als Kriterium, während hier die Wortfolge als ausschlaggebend für die Zuordnung betrachtet wird.

23 Verb - Substantiv" ( O ù va Jean),10 der in den Untersuchungen nicht gesondert a u f g e führt wird. Trotz dieser Schwierigkeiten soll hier, um den direkten Vergleich mit den totalen Fragen zu ermöglichen, eine Übersicht über die prozentuale Gesamtverteilung der v e r schiedenen Fragekonstruktionen gegeben werden. Auf der oben mit 2a bezeichneten Ebene lassen sich demnach aus den Untersuchungen folgende Zahlen ermitteln:

Partielle Fragen in gesprochener Sprache in %

Intonation

e s t - c e que

Inversion

Pohl(l965:51l): parlure bourgeoise

18

46,5

35,5

Pohl(l965:51l): parlure vulgaire

36,2

53,6

10,1

Pohl(l965:508): parlure bourgeoise belge = M et M m e Pohl

4,1

71,4

24,4

Söll (1971:501/2): Kindersprache

54,9

41,5

3,6

Behnstedt(1973:222,226): lang. fam. Corpus 1 u. II

83,8

12,7

3,3

Behnstedt(1973:231): Umfrage lang. fam. 11

51,7

16,5

31,9

Français Fondamental gem. B e h n stedt (1973:234)

40,4

13,9

45,7

Ashby (1977:49): Pariser Corpus

45,9 12

38,8

15,3

Bastian (1986:103)

35

35

15

38

52,1

literarisch-verschriftete gesprochene Sprache: Terry (1967:815): Boulevardstücke

(9,9) 13

10 vgl. hierzu Söll/Hausmann (1985:145), denen zufolge dieser Fragetyp auf einfache Verbformen und Kurzsätze beschränkt ist. 11 Die Formen d) qu'c'est que und e) que wurden hier herausgerechnet. 12 nach den Angaben bei Ashby (1977:48) zu urteilen könnte das vorangestellte Fragewort hier nicht mituntersucht worden sein. 13 Terry meint hier offensichtlich die Frage mit voran- oder nachgestelltem Fragewort, spricht jedoch von "grammatically incorrect interrogative forms".

24

Gegenüber der totalen Frage wird der größere Anteil an periphrastischen und Inversionsfragen auf Kosten der Intonationsfrage recht gut deutlich; nur bei Behnstedt, Corpus I u. II, ist ihr Anteil noch erstaunlich hoch. Auffällig ist auch der besonders hohe Anteil an Inversionsfragen bei Terry, während die verschrifteten Dialoge bei den totalen Fragen ja keine deutliche Abweichung von den Ergebnissen authentischer gesprochener Sprache zeigten.14 Erwähnenswert erscheinen hier im Hinblick auf literarisch-fiktive gesprochene Sprache auch noch die beiden älteren relativ umfangreichen Untersuchungen von Schlyter zu Romandialogen und Fromaigeat zu Theaterstücken, die in die obigen Tabellen nicht aufgenommen wurden, da die Ergebnisse nicht zwischen totalen und partiellen Fragen differenziert sind. Insgesamt zeigt die literarisch-fiktive gesprochene Sprache demnach einen Anteil von ca. 50% Intonations-, 30% Inversions- und 20% periphrastischen Fragen.15 Da bei Behnstedt für die Rundfunksprache Gesamtergebnisse zu den partiellen Fragen fehlen, konnten hier keine Prozentzahlen ermittelt werden. Angegeben wird jedoch bei der Rundfunksprache die Schwankung der Fragekonstruktionen von Sprecher zu Sprecher, die auch noch einmal recht gut verdeutlicht, in welchem Maße die Werte in der obigen Tabelle die Ergebnisse mittein. So ergeben sich beim Gebrauch der partiellen Fragen bei der Intonation Schwankungen zwischen 60,1% und 11,5%, bei der periphrastischen Frage zwischen 7,9% und 1,0% und bei der Inversionsfrage zwischen 87,5% und 35,6%.16 Darüber hinaus unterliegt die Verteilung der Fragetypen starken Schwankungen je nach Fragewort. So stellt Behnstedt beispielsweise verstärkte Inversion bei comment und où fest, letzteres tritt jedoch ebenso wie quand häufig auch mit der periphrastischen Frageform auf. Die normale Wortstellung mit vorangestelltem Fragewort findet sich am häufigsten bei comment und pourquoi, während combien und quand häufiger nachgestellt werden.17 Die Frage, ob bei normaler Wortstellung die Frageform mit voran- oder nachgestelltem Fragewort häufiger ist, hängt zunächst wiederum eng mit den jeweiligen Fragewörtern zusammen. Insgesamt ist sie nach Behnstedt zugunsten des vorangestellten Fragewortes zu beantworten, das im langage populaire jedoch noch wesentlich häufiger auftritt als im langage familier.18 Behnstedt hat hier sehr interessante Befragungen durchgeführt, die

14

15

Der hohe Wert für Inversion und auch periphrastische Frage hängt allerdings zweifellos auch mit dem bereits angesprochenen unklaren ersten Wert zusammen. Die Erklärung Söll/Hausmanns (1985:146) für den hohen Inversionswert, es handle sich um verstärkten Druck des code écrit, ist allerdings unter dem Aspekt abzulehnen, daß sich dieser Druck bei den totalen Fragen ja nicht bemerkbar machte. vgl. Schlyter (1957:109) und Fromaigeat (1938:9/10).

16

vgl. Behnstedt (1973:267).

17

vgl. Behnstedt (1973:57-65) und auch eine entsprechende Übersichtstabelle bei Stammerjohann (1983:98).

18

Während das Verhältnis zwischen voran- und nachgestelltem Fragewort im langage populaire ca. 3:1 beträgt, ergibt sich im langage familier je nach Corpus ein Verhältnis von 1,3 - 1,5 : l - vgl. Behnstedt (1973:214,222,226 u. 231). Bei dem kleinen Pohl-Corpus (1965:508,511) halten sich beide Formen etwa die Waage, während bei Söll (1971:499-501) das vorangestellte Fragewort überwiegt.

25 den Gebrauch des nachgestellten Fragewortes in familiärer Situation auf einer Skala von 0 - 1 mit einem gemittelten Wert von 0,43 als "passable", in förmlicher Situation mit 0,26 als zu vermeiden ausweisen, während die Angaben zum eigenen Gebrauch bei 0,49, zum Gebrauch anderer bei 0,77 lagen;19 er ermittelte ebenfalls, daß das nachgestellte Fragewort von jüngeren Sprechern eher akzeptiert wird.20 Leider fehlen die entsprechenden Vergleichszahlen zur Akzeptanz des vorangestellten Fragewortes und auch neuere Untersuchungen zum nachgestellten Fragewort. Es ist jedoch zu vermuten, daß sich der Gebrauch des nachgestellten Fragewortes in den 20 Jahren seit Erstellung der o.g. Untersuchungen weiter gefestigt und verbreitet hat. So sehen Koch/Oesterreicher hier einen Typ der Frage, "der keine diastratisch/diaphasisch niedrige Markierung mehr trägt, aber nur im gesprochenen Französisch existiert" und Klein/Kleineidam gehen sogar d a r über hinaus, indem sie die Konstruktion mit vorangestelltem Fragewort nur als "gesprochen", mit nachgestelltem Fragewort dagegen als "gesprochen und geschrieben" klassifizieren.21 Seelbach sieht eine "Vorliebe für Intonationsfragen und Fragen mit Nachstellung des Pronomens" in "der Tendenz zur Einfachheit und Ökonomie in der Kommunikationssituation" begründet.22 Die geringsten Veränderungen gegenüber dem A u s sagesatz weist bei den partiellen Fragen die Frage mit nachgestelltem Fragewort auf, die zudem, wie Seelbach detailliert ausführt, nicht von den zahlreichen bei Voranstellung des Pronomens auftretenden Restriktionen betroffen ist.23 Zum Geschriebenen liegen bei den Wortfragen leider keine Untersuchungen vor. Lediglich Pohl verweist hier noch einmal auf das absolute Übergewicht der Inversion.24 Ob dies jedoch auch im heutigen Französisch noch in diesem starken Maße der Fall ist, muß dahingestellt bleiben, obwohl auch Seelbach für die geschriebenen Ergänzungsfragen mit "einfachen" Fragepronomen nur die einfache und komplexe Inversion ansetzt und Koch/Oesterreicher schreiben: "Die Wortfrage mit Inversion, die im geschriebenen Französisch die Normalform ist, existiert im gesprochenen Französisch heute praktisch nicht mehr".25 Während die erste Aussage sich praktisch mit Pohl und Seelbach deckt, jedoch in einer konkreten Untersuchung zu überprüfen wäre, ist die zweite, wie die obige Tabelle gezeigt hat, zweifellos nicht richtig, denn der Anteil an Inversionsfragen im Gesprochenen ist durchaus noch relativ beachtlich. Auch der Anteil an periphrastischen Fragen ist relativ hoch, wenn man ihn vor dem Hintergrund betrachtet, daß die est-ce que-Fragen,

wie im

folgenden noch genauer auszuführen sein wird, nur bei spezieller Ausdrucksintention eingesetzt werden sollen. Die Intonationsfrage setzt sich damit im Unterschied zu den totalen Fragen bei den partiellen Fragen nicht so eindeutig durch.

19 20 21 22 23 24 25

vgl. Behnstedt (1973:79,83,87 u. 90). vgl. ib., S. 79. vgl. Koch/Oesterreicher (1990:160) und Klein/Kleineidam (1983:195). Seelbach (1983:234 u. 233). vgl. Seelbach (I983:226ff.). vgl Pohl (1965:508). Seelbach (1983:248/9) und Koch/Oesterreicher (1990:159).

26 Da das Fragewort offensichtlich bei der Realisierung einer Intonationsfrage als Hindernis empfunden wird, stellt sich die Frage, ob diesem Fragetyp im Bereich der partiellen Fragen immer noch die ihm früher häufig zugeschriebene Tendenz zum etwas niedrigeren Spachniveau anhaftet. Demgegenüber wird und wurde die est-ce que-Frage als niveau-neutral charakterisiert, was ja auch dazu führte, daß sie im Fremdsprachenunterricht fälschlicherweise als der Fragetypus gelehrt wurde. Die Inversionsfrage wird dagegen traditionell dem gepflegteren Sprachniveau zugerechnet. Wie bereits oben mehrfach deutlich wurde, sind bei genauerer Betrachtung der verschiedenen Fragetypen gemäß Satz- oder Wortfragen sowie auf parlé- und écríf-Ebene solche globalen stilistischen Zuordnungen heute zweifellos unhaltbar. So sind es in neuerer Zeit auch nicht mehr Sprachniveau-Charakterisierungen, die die Aufmerksamkeit der linguistischen Forschung auf sich ziehen, sondern es wird vielmehr versucht, über eine Untersuchung der Funktion, die die jeweilige Fragekonstruktion innerhalb des Kontextes innehat, größere Klarheit in die Vielfalt der Konstruktionsmöglichkeiten bei der Frage zu bringen. Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß quantitative Analysen unbefriedigend bleiben müssen, solange sie nicht die Gründe für die unterschiedliche Frequenz der Konstruktionen aufdecken, wobei z.B. die öfter angeführte größere Einfachheit der Bildung von Intonationsfragen als Erklärung offenbar nicht ausreicht. Die auf die kontextuelle Funktion gerichteten Arbeiten konzentrieren sich bisher alle auf die Satzfragen, wobei jedoch z. T. vermutet wird, daß die Ergebnisse auch auf Wortfragen übertragbar wären;26 prinzipiell wäre unter dem Aspekt verschiedener Funktionen zunächst auch die Unterscheidung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache nicht mehr bedeutsam. Als Vorreiter einer Betrachtung der verschiedenen Fragekonstruktionen gemäß ihrem jeweiligen Kontext ist Greive zu betrachten, der die Fragetypen folgendermaßen charakterisiert: "Demnach wäre der Intonationstyp in einen thematischen Zusammenhang integriert, man könnte sagen "subjunktiv", der Inversionstyp thematisch vertiefend, überleitend und weiterführend, das hieße "konjunktiv", die est-ce gue-Frage Zeichen für eine neue (faktische oder gedankliche) Handlungsphase, also "disjunktiv"."27 "Der thematisch rückbezügliche Charakter der Intonationsfrage" nach Greive28 deckt sich somit mit dem "anaphorischen" Charakter, den Weinrich der Intonationsfrage im Unterschied zu der "kataphorischen" est-ce gue-Frage zuweist.29 Es bleibt allerdings bei Greive zu kritisieren, daß er seinen eigenen Ansatz im folgenden verwässert und relativiert, indem er die Unterscheidung zwischen "eigentlichem" und "uneigentlichem" bzw. zwischen "denotativem" und "konnotativem" Gebrauch der verschiedenen Fragetypen einführt. Die textgliedernde Funktion der verschiedenen Fragetypen versucht Greive anhand von zwei Roma-

26

vgl z.B. Seelbach (1985:281).

27

Greive (1974:7).

28

vgl. Greive (1974:21).

29

vgl. Weinrich (I982:742f.).

27

nen zu verifizieren. Es bleibt jedoch die auch schon von Geckeier aufgeworfene Frage bestehen, ob es wirklich die Fragekonstruktionen sind, die thematisch strukturierend wirken, bzw. "was sich inhaltlich bzw. sinngemäß ändern würde, wenn im konkreten Fall eine andere Fragekonstruktion anstelle der im Text gegebenen erscheinen würde,..."30 Die drei o.g. Typen Greives versucht Roishoven (1977) in einer Untersuchung auf der Basis folgender Merkmale zu bestätigen: Länge der Fragesätze, textuelle Kohäsion, semantische Progression, Antworten oder Repliken, Restriktionen bei Satzadverbien. Er findet die kontextuellen Unterschiede für die drei Typen sowohl bei totalen als auch bei partiellen Fragen bestätigt. So zeigt die themeneröffnende est-ce que-Frage beispielsweise 13 Wörter pro Satz und echte Antworten, während sich bei der rückwärtsverweisenden Intonationsfrage nur 7,4 Wörter pro Satz und vor allem Repliken finden.31 Vorwärts- und rückwärtsverweisende Kohäsion bei 8,7 Wörtern pro Satz und der Tendenz zu Repliken weist dagegen nach Roishoven die Inversionsfrage auf; demgegenüber sehen Stempel/Fischer, im Unterschied zu Greive, Weinrich und Roishoven, vorwärts- und rückwärtsverweisende Funktion bei der Intonationsfrage.32 Interessant erscheint die Feststellung Stempel/Fischers, daß nur Intonationsfragen möglich sind in den Fällen, in denen Unverständnis, Ungläubigkeit (Tu es là ?), unsicheres hypothetisches Wissen ( Vous me comprenez, j'espère?), Echofragen ( Tu as triché. - J'ai triche?) oder Fragen, die die Rolle des Antwortenden auf eine Stellungnahme reduzieren (Tu es sûrement content?), zum Ausdruck gebracht werden.33 In allen diesen Fällen besteht die Tendenz, ein "Ja" als Antwort zu erwarten. Weydt sieht in der hohen positiven Antworterwartung, die er, im Unterschied zu der "offenen" Antworterwartung bei estce que und Inversionsfrage, bei der Intonationsfrage ansetzt, ein Charakteristikum dieses Fragetyps im allgemeinen.34 So weit wollen Stempel/Fischer offensichtlich nicht gehen; sie sprechen im Hinblick auf die funktionale Identität der Intonationsfrage von dem "Interesse an einer bestimmten Antwort", die eine Erklärung, Begründung, Rechtfertigung, ein favorisiertes Ja oder Nein sein kann.35 Dem häufigen Auftreten der Intonationsfrage Rechnung tragend, führen Koch/Oesterreicher aus, daß sie zwar früher eine bejahende Antwort voraussetzte, jedoch "im heutigen gesprochenen Französisch ein neuartiges System der Fragefunktion vorliegt, in dem sowohl die unmarkierte als auch die das 'ja' voraussetzende Frage materiell einheitlich durch die Intonation gekennzeichnet werden."36

30

vgl. hierzu die Rezension von H. Geckeier zu Greive in ZfSL 86/2 (1976), S. 151.

31

vgl. Roishoven (1977:467 u. 470). Die Untersuchungen Roishovens sind aus seinem kurzen Bericht heraus nicht im einzelnen nachvollziehbar; fraglich bleibt u.U., ob die drei Charakterisierungen Greives in der Tat mit Hilfe der genannten Merkmale operationalisierbar sind, bzw. wie z.B. textuelle Kohäsion und semantische Progression genau analysiert wurden.

32

vgl. hierzu Roishoven (1977:467, 469 u. 470) sowie Stempel/Fischer (1985:254).

33

vgl Stempel/Fischer (1985:244-8).

34

vgl. Weydt (1985:319 u. 322).

35

vgl. Stempel/Fischer (1985:254).

36

Koch/Oesterreicher (1990:158).

28 Während sich also im Hinblick auf die Intonationsfrage die Meinungen im Wesentlichen um ihre rückwärtsverweisende Funktion sowie die Frage hoher positiver Antworterwartung gruppieren, finden sich zur Funktion der Inversionsfrage nur wenige Äußerungen. Zusammenfassend ist die Inversionsfrage, wie bereits oben erwähnt, nach Greive als "konjunktiv", in einer anderen Veröffentlichung als "rhematisch", nach Roishoven als vorwärts- und rückwärtsverweisend und nach Weydt durch eine offene Antworterwartung gekennzeichnet. 37 Rhematische Funktion und offene Antworterwartung werden jedoch auch der periphrastischen Frage zugeordnet, 38 womit sich die Frage erhebt, wodurch sich est-ce que und Inversionsfrage voneinander unterscheiden. Auch das sehr übersichtliche Schema Weydts, das z.T. die oben besprochenen Charakterisierungen wiedergibt, ist hier wenig hilfreich:39 Stilhöhe

Assertionsfrage est-ce que-Frage Inversionsfrage

niedrig (nur im o f fenen Bereich) indifferent hoch

Fragemarkiertheit

besonderer syntaktischer Aufwand nein

-

positive Antworterwartung hoch

+

Fragemorphem

"offen"

+

P-S-Folge

"offen"

Weydt grenzt hier zwar sehr deutlich die Assertionsfrage 40 von est-ce que- und Inversionsfrage, nicht aber die letzten beiden untereinander ab; die Funktion der Fragemarkiertheit, d.h. "die Frage als Frage herauszustellen", weist er beiden zu,41 lehnt jedoch darüber hinausgehende Funktionszuweisungen bei der periphrastischen Frage ab.42 Diese finden sich jedoch bei anderen Linguisten; so stellte bereits Greive fest, daß mit der est-ce

que-Frage

zentrale Gesprächsstellen markiert werden, und Klein/Kleineidam

charakterisieren sie als "Intensivform".43 Seelbach spricht ihr eine Fokussierungsfunktion zu: "Wir verstehen unter Fokussierung die Zentrierung der Aufmerksamkeit des Sprechers (und

Hörers) auf den (oder einen) dominierenden thematischen Aspekt des G e -

37

vgl hierzu Greive (1974: 7, 27) u. (1984:72), Roishoven (1977:469) u. Weydt (1985:319, 322).

38 39

vgl. Greive (1984:72) und Weydt (1985:319 u. 322). Weydt (1985:322).

40

Er nennt die Intonationsfrage "Assertionsfrage". Weinrich (1882:742) spricht dagegen von der Intonationsfrage als "anaphorischer Assertions-frage", von der est-ce que-Frage als "kataphorischer Assertionsfrage".

41 42

In gleicher Form charakterisiert beispielsweise auch Holtus (1981:105/6) diese beiden Frageformen im Vergleich zur Intonationsfrage. vgl. Weydt (1985:316).

43

vgl. hierzu Greive (1974:6) und Klein/Kleineidam (1983:192).

29 sprächs".44 Dabei übernimmt das est-ce que häufig auch die Funktion der Themenankündigung bei Gesprächsbeginn bzw. des Themenwechsels, auf die bereits Söll hingewiesen hat, oder dient dazu, in höflicher Form Aufforderungen, Anliegen usw. auszudrücken.45 Die Fokussierungsfunktion führt Seelbach darauf zurück, daß es sich bei estce que um die invertierte Präsentativ-Form c'est que handelt,46 die, wie bereits oben im Zusammenhang mit den statistischen Ergebnissen beschrieben, ja im Gesprochenen auch selbst als Frageform auftritt. Auch native speaker empfinden nach Seelbach die est-ce que-Frage - gegenüber der Intonationsfrage - als "intensiver", "höflicher", "größere Entscheidungsmöglichkeiten" eröffnend.47 Vor dem Hintergrund ihres geringen syntaktischen Aufwandes und der Verwendbarkeit auf allen Stilebenen, im Geschriebenen und Gesprochenen einerseits, ihres jedoch relativ geringen Auftretens vor allem in Satzfragen andererseits erscheint es in der Tat notwendig, von einer spezifischen Funktion der est-ce que-Frage auszugehen. Es fehlen jedoch sicher noch weitere Untersuchungen zur Funktion der est-ce que-, aber auch der Intonations- und vor allem der Inversionsfrage. Wichtig wären hier auch die bisher fehlenden getrennten Untersuchungen zur Funktion der Fragetypen bei der Wortfrage. Denn schon die oben gezeigten unterschiedlichen quantitativen Verhältnisse lassen es fraglich erscheinen, inwieweit sich Aussagen zu verschiedenen Funktionen bei der Satzfrage auf die Wortfrage übertragen lassen.48 So müßte man sich beispielsweise fragen, warum bei Wortfragen die der periphrastischen Frage zugeordnete Fokussierung relativ gesehen häufiger auftreten soll als bei Satzfragen; darüber hinaus wäre die oben besprochene unterschiedliche Ja/Nein-Antworterwartung bei den Wortfragen natürlich als Kriterium unbrauchbar. Neben diesen weiteren Untersuchungen zum Gesprochenen müßten natürlich auch die bisher fehlenden quantitativen und auch funktionalen Untersuchungen zur geschriebenen Sprache erfolgen, um schließlich zu einem Gesamtbild des Systems der Fragekonstruktionen im gegenwärtigen Französisch zu gelangen. Für das heutige Französisch, und sei es auch nur das Gesprochene, wie Koch/Oesterreicher, "ein neuartiges System der Fragefunktionen"49 anzusetzen, erscheint daher wohl übereilt, zumal sich hier, selbst wenn Untersuchungen zu allen Bereichen vorlägen, noch die Frage stellen würde, ob es sich nicht eher um Norm- als um Systemveränderungen handelt. Man könnte beispielsweise auch so weit gehen, vor dem Hintergrund der oben diskutierten Funktionen zu untersuchen, ob es nicht einem außersprachlichen Bedürfnis entspricht, im Gesprochenen eher Satzfragen mit hoher positiver Antworterwartung, d.h. Intonationsfragen, zu formulle-

44 45 46 47 48 49

Seelbach (1985:285) sowie auch Seelbach (1983:238-247). vgl. Seelbach (1985: 287, 300/1 u. 308) sowie Söll (1971:498). vgl. Seelbach (1985:295-7). Auf diese Verwandtschaft geht auch bereits Renchon (I967:180ff.) ein. Zu den Präsentativformen vgl.auch das folgende Kapitel in dieser Arbeit. vgl. Seelbach (1985:300). Seelbach (1985:281) stellt beispielsweise die Vermutung an, daß Ergebnisse auch auf Ergänzungsfragen übertragbar wären. vgl. Koch/Oesterreicher (1990:158).

30 ren, schon um den Dialog in Gang zu halten. Für das Geschriebene dagegen könnte das Bedürfnis bestehen, eher "echte", d.h. von der Antwortenwartung her offene und als Frage markierte, d.h. est-ce que- und Inversionsfragen, zu verwenden, obwohl die Intonationsfrage an sich, wie Koch/Oesterreicher betonen, "medial indifferent ist"50 und ebenso gut häufiger im Geschriebenen auftreten könnte. Liegen die Unterschiede also in der jeweiligen medialen Konzeption begründet, so wäre, obwohl Fragesätze natürlich grundsätzlich an einen Dialog gebunden sind, das von Söll mit gewissem Erstaunen konstatierte "Festhalten des code écrit an der Inversionsfrage"51 vielleicht nicht mehr so erstaunlich. Gleichzeitig stellt sich damit dann die Frage, ob man wirklich in dem starken Maße, wie Söll sie vertritt, der These anhängen muß, daß die Entwicklung der Fragekonstruktionen im code parlé wesentlich weiter fortgeschritten und der alte Zustand im code écrit erhalten sei52, zumal sich dies, wie oben deutlich wurde, hauptsächlich an den Satzfragen, wesentlich weniger an den Wortfragen des Gesprochenen festmachen ließe. Andererseits ist es jedoch nach den Ergebnissen mehrerer historischer Untersuchungen unbestreitbar, daß beispielsweise im 15. und auch im 17. Jahrhundert die Intonationsfrage zwar bereits bekannt, jedoch auch im Gesprochenen die Inversionsfrage noch absolut dominierend war, so daß durchaus von einer Sprachentwicklung zugunsten der Intonationsfrage a u s zugehen ist.53 Im Hinblick auf die Auswahl der Texte für die praktische Untersuchung in Kap. IV erscheint, vor dem Hintergrund der oben gezeigten Ergebnisse, die Intonationsfrage sowohl bei totalen als auch partiellen Fragen als ein Indiz, das auf adäquate Wiedergabe gesprochener Sprache in den fiktiven Dialogen schließen läßt und soll daher als A u s wahlkriterium mitverwendet werden. Bei der schwierigen didaktischen Vermittlung der verschiedenen Fragekonstruktionen sollten die mittlerweile vorliegenden Untersuchungsergebnisse wesentlich mehr berücksichtigt und beispielsweise weniger die est-ce que- und mehr die Intonationsfrage, sei es bei S a t z - oder auch bei Wortfragen, in den Vordergrund gestellt werden. Die verschiedenen zahlenmäßigen Verhältnisse und auch Funktionen sollten dabei zumindest angedeutet werden, um einen der Realität entsprechenden Gebrauch zu erlauben. Ein gutes Beispiel hierfür liefert bereits die Grammatik von Klein/Kleineidam, die bisherige F o r schungsergebnisse didaktisch adäquat einbaut.54 Auf die didaktische Vermittlung der Fokussierungsfunktion bei est-ce que-Fragen

50

vgl. Koch/Oesterreicher (1990:158).

51

vgl. Söll/Hausmann (1985:148).

52

vgl. hierzu auch Söll/Hausmann (1985:147).

53

geht beispielsweise auch Seelbach ein.55

Bei den historischen Arbeiten handelt es sich zum einen um Prüßmann-Zemper (1986:120/1), die für die Sprache des Héroard im 17. Jahrhundert eine Verwendung der Intonationsfrage vor allem als Echofrage, ansonsten jedoch die Inversion als normale Frageform feststellte. Z u m anderen b e zieht sich die obige A u s s a g e auf Greive (1984:71), demzufolge in einer Arbeit von Kaiser (1980) zum 15. Jahrhundert 4% und von Finke (1983) zum 17./18. Jahrhundert 1/3 der Satzfragen als Intonationsfragen ausgewiesen wurden.

54

vgl. Klein/Kleineidam (1983:190-195).

55

vgl. Seelbach (1985:310).

31

III.3. Satzsegmentierung durch Dislokation oder Präsentativa Die Satzsegmentierung wird allgemein als eines der typischsten Merkmale gesprochener Sprache betrachtet; die Erklärung hierfür dürfte vor allem darin liegen, daß mit der Segmentierung bestimmte Satzteile hervorgehoben werden, ein Mechanismus, der gerade in der durch Spontaneität, geringen Planungsaufwand und hohe Redundanz gekennzeichneten gesprochenen Sprache zur Klarstellung bestimmter Aussagen dienen kann. Die Segmentierung wird hier als Oberbegriff aufgefaßt, dem sich sowohl die Dislokation, als auch die Präsentativkonstruktionen unterordnen lassen.' Dies erscheint logischer als - wie in der Fachliteratur oft üblich - Segmentierung und Dislokation gleichzusetzen2 und entsprechend die Präsentativa getrennt zu behandeln. Die enge Verbindung zwischen beiden wird deutlich, wenn man sich Sätze ansieht wie: Les soirées d'été, je les aime surtout. Je les aime surtout, les soirées d'été. Ce que j'aime surtout, ce sont les soirées d'été. Ce sont les soirées d'été que j'aime surtout. Gemeinsam ist allen diesen Sätzen, daß sie von der einfachen Wortfolge SVO abweichen, indem ein Element herausgelöst und damit hervorgehoben wird.3 Im Hinblick auf diese Funktion der mise en relief besteht - wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen, auf die noch einzugehen sein wird - in der Literatur relative Einigkeit, von der in terminologischer Hinsicht nicht die Rede sein kann; so wird die Dislokation auch als disjonction, détachement reprise et anticipation, emploi pléonastique, prä- und postponierende Projektion, projection des actants oder redondance actantielle bezeichnet.4 Die unterschiedliche Stellung des dislozierten Elementes zu Beginn oder am Ende des Satzes wird durch die Begriffspaare "links/rechts", "prä-/postponierend" gekennzeichnet, bzw. mit Blickrichtung auf die Funktion des Projektionspronomens durch das Begriffspaar "anaphorisch/kataphorisch". Die Präsentativkonstruktion wird auch als phrase clivée, clivage oder cleft sentence bezeichnet. Genauer differenziert z.B. Kleineidam im Lexikon der Romanistischen Linguistik zwischen dem "Spaltsatz" (phrase clivée) für die Kontruktionen c'est/ce sont5 ...qui/que/dont und dem "Sperrsatz" (phrase pseudo-clivée) für die Konstruktionen ce qui/que/dont... c'est/ce sont;6 ersterem wären

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Auch Calvé (1982/3:780) sieht die "Segmentation" als Oberbegriff, dem er die "Dislocation" unterordnet. vgl. z.B. Söll/Hausmann (I985:l48ff) oder Seelbach (1982:194) und (1985: 294). Lebre-Peytard (1984:106) beschreibt dies so: "...ces constructions reposent sur des opérations similaires: l'extraction d'un élément, son détachement (...)." Diese Termini werden z.B. bei Seelbach (1982:194) sowie Söll/Hausmann (1985:148) genannt. Nach dem Arrêté Haby (1976:1430) ist hier der accord freigestellt, und es ist in der Tat zu beobachten, daß z.B. häufig c'est + Substantiv im Plural gebraucht wird. vgl. Kleineidam (1990:137/8).

32 wohl auch die Präsentativkonstruktionen voilà / voici / il y a ... qui/que, letzterem celui qui ... c'est hinzuzufügen. Unterschiede sind zwischen Dislokation und Präsentativkonstruktion zunächst in zweierlei Hinsicht festzuhalten. Zum einen handelt es sich bei der Dislokation in erster Linie um ein Verfahren der gesprochenen Sprache, während Spalt- und Sperrsätze sich sowohl in geschriebener als auch in gesprochener Sprache finden. Zum anderen haben vor allem Koch/Oesterreicher mehrfach darauf hingewiesen, daß es sich bei der Satzsegmentierung durch Links- oder Rechtsdislokation um ein universales Verfahren handelt.7 Andererseits trägt die Satzsegmentierung im Französischen durchaus sehr charakteristische einzelsprachliche Merkmale, indem beispielsweise das dislozierte Element von ganz wenigen Ausnahmen (Lui (, il) ne sait pas) abgesehen - immer im Satz durch ein Pronomen ersetzt werden muß, anders als z.B. im Deutschen oder auch im Italienischen und Spanischen, die die Personen flexivisch am Verb selbst markieren. Darüber hinaus tritt die Dislokation aufgrund der ansonsten rigiden Wortstellung im Französischen und der, beispielsweise im Vergleich zum Englischen und Deutschen, nicht vorhandenen Möglichkeit, durch alleinige Betonung bestimmmte Elemente hervorzuheben, ausgesprochen häufig auf. Vor dem Hintergrund einer hierbei vorherrschenden Linksdislokation des Subjekts greifen z.B. Koch/Oesterreicher für das gesprochene Französisch die Frage auf, "ob die Grammatikalisierung im Falle der Subjektsaktanten bereits bis zu einer supplementären Subjektkonjugation fortgeschritten ist."8 Auch die vorwiegend mit Untersuchungen zum gesprochenen Französisch beschäftigte Groupe Aixois de Recherches en Syntaxe sieht in der Dislokation "une tendance très forte", wobei Untersuchungen Jeanjeans zufolge in Gesprächen ungefähr 70% der Subjekte disloziert seien und Sätze mit einfachem nominalem Subjekt nur noch 10% ausmachen.9 All dies berechtigt zweifellos die Aufnahme der Dislokation in die Behandlung neuerer Entwicklungen in der französischen Grammatik. Aus theoretischer Sicht liegen zur Dislokation zwei bedeutsame neuere Ansätze vor, auf die hier jedoch nur kurz eingegangen werden kann. Es handelt sich zum einen um den in der Dependenzgrammatik anzusiedelnden Ansatz E. Gülichs, die die Dislokation als Aktantenredundanz auffaßt und ihren verschiedenen Funktionen im Satz entsprechend vier Typen von Aktanten (sujet, complément d'objet direct/indirect) und einen Zirkonstanten unterscheidet, denen sie die jeweiligen ersetzenden Pronomina (z.B. ça, je, tu, on/nous