Der völkerrechtliche Minderheitenschutz: Historische und neuere Entwicklungen [1 ed.] 9783428499250, 9783428099252

Einleitend betrachtet die Autorin die Bezeichnungen, die im Minderheitenschutz für die zu schützenden Gruppen verwendet

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German Pages 410 Year 2001

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Der völkerrechtliche Minderheitenschutz: Historische und neuere Entwicklungen [1 ed.]
 9783428499250, 9783428099252

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SARAH PRITCHARD

Der völkerrechtliche Minderheitenschutz

Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von Thomas Oppermann in Gemeinschaft mit Heinz-Dieter Assmann, Burkhard HeB Kristian Kühl, Hans v. Mangoldt Wernhard Möschel, Martin Nettesheim Wolfgang Graf Vitzthum sämtlich in Tübingen

Band 55

Der völkerrechtliche Minderheitenschutz Historische und neuere Entwicklungen

Von Sarah Pritchard

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Pritchard, Sarah: Der völkerrechtliche Minderheitenschutz : historische und neuere Entwicklungen I von Sarah Pritchard. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht; Bd. 55) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-09925-7

D21 Alle Rechte vorbehalten

© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7654 ISBN 3-428-09925-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

e

Vorwort Das vorliegende Werk wurde im Wintersemester 1994 von der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen als Dissertation angenommen. Das Werk wurde von Herrn Professor Dr. Hans von Mangoldt angeregt und betreut. Ihm danke ich herzlichst für die stets verständnisvolle Förderung und die Erstellung des Erstgutachtens. Dank gebührt weiterhin Herrn Professor Dr. Wolfgang Graf Vitzthum, der das Zweitgutachten erstellt hat. Für ihre Freundschaft und Unterstützung während der Bearbeitung der Dissertation danke ich meinen Eltern und Geschwistern, den Familien Flügge, Schniewindt und Zöller, Frau Kläre RiedeI, Uxua Ojer, Eugenio Hernandez-Breton, Zhang Xi, Ute Hermoneit, Thomas Buck, Elisabetta Cattanei, Rob Rayner, William Spruill und Justice Michael McHugh des High Court of Australia. Herrn Prof. Dr. Dr. Thomas Oppermann danke ich für die Aufnahme meiner Dissertation in die "Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht". Die Dissertation wurde durch Stipendien des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Friedrich-Naumann-Stiftung finanziell unterstützt. Die Drucklegung wurde mit einer großzügigen Zuwendung des Auswärtigen Amtes ermöglicht. Ich widme diese Arbeit der Erinnerung an Billie Bruce. Sydney, im Januar 2001

Sarah Pritchard

Inhaltsverzeichnis A. Einrührung ........................................................................

21

I. Ziel und Vorgehensweise der Arbeit...........................................

21

11. Historische Zusammenhänge und Ansatzpunkte ...............................

22

1. Individual- und kollektivrechtliche Betrachtungsweisen....................

22

2. Ein Wiederaufleben des Interesses an Minderheitenfragen ..................

24

III. Die Bedeutung des Themas ...................................................

26

1. Die geopolitische Bedeutung: Die Seltenheit ethnischer Homogenität ......

26

2. Die rechtsphilosophische Bedeutung: Der Wandel des Souveränitätsbegriffs

28

B. Derllli.tion der BegrifI'e ........................................................ :...

32

I. Die Aufnahme des Begriffs ,,Minderheiten" in das Völkerrecht ................

32

11. Nation/Nationalität...........................................................

33

111. Volk ..........................................................................

36

IV. Nationale Minderheit .........................................................

37

V. Ethnische Minderheit .........................................................

40

VI. Volksgruppe ..................................................................

41

VII. Abgrenzung Volksgruppe/Minderheit.........................................

43

VIII. Indigene V61ker ...............................................................

45

IX. Ziel und Zweck des Minderheitenschutzes ....................................

49

C. Die historische Entwicklung des völkerrechOichen Minderheitenschutzes . . . . . . .

51

I. Der Minderheitenschutz bis zum Ende des Ersten Weltkrieges.................

51

1. Der Schutz der religiösen Minderheiten bis zum Wiener Kongreß ..........

51

8

Inhaltsverzeichnis 2. Der Schutz religiöser, ethnischer und sprachlicher Minderheiten vom Wiener Kongreß bis zum Ersten Weltkrieg .....................................

55

a) Religiöser Minderheitenschutz ..........................................

55

b) Ethnischer I nationaler Minderheitenschutz ..............................

58

c) Sprachlicher Minderheitenschutz........................................

61

3. Bewertung .................................................................

61

a) Der Minderheitenschutz in der Praxis ...................................

61

b) Der Minderheitenschutz in der damaligen Lehre ........................

62

aa) Die Individualrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

bb) Das Nationalitäts- und das Selbstbestimmungsprinzip ..............

64

cc) Das Interventionsprinzip ...........................................

66

c) Ergebnis................................................................

67

11. Der Minderheitenschutz während des Ersten Weltkrieges. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

ID. Der Minderheitenschutz zur Zeit des Völkerbundes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

1. Das Selbstbestimmungsprinzip auf der Versailler Friedenskonferenz. . . . . . . .

69

2. Bemühungen um die Aufnahme einer Minderheitenschutzbestimmung in die Völkerbundsatzung .....................................................

72

3. Die Minderheitenschutzregelungen ...................... . . . . . . . . . .. . . . . ... .

73

a) Auf der Friedenskonferenz vereinbarte Minderheitenschutzverträge .....

75

b) Minderheitenschutzbestimmungen in den Friedensverträgen ............

75

c) Vor dem Völkerbund abgegebene Erklärungen ..........................

76

d) Bilaterale Verträge ......................................................

77

4. Zum Inhalt der Minderheitenschutzregelungen .............................

79

a) Die allgemeinen Bestimmungen des polnischen Minderheitenschutzvertrages ...................................................................

79

b) Die Sonderbestimmungen ...............................................

82

aa) Schutz der Minderheitenreligionen .................................

82

bb) Gewährung der Autonomie.........................................

83

5. Das Minderheitenschutzverfahren ..........................................

85

a) Die internationale Garantie .............................................

85

b) Das Petitionsverfahren ..................................................

85

c) Das Minderheitenschutzverfahren für Oberschlesien ....................

87

6. Minderheitenbehandlung nach 1930 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

Inhaltsverzeichnis

9

7. Bewertung .................................................................

89

a) Der Minderheitenschutz in der Praxis ...................................

89

b) Der Minderheitenschutz im damaligen Völkerrecht......................

91

aal Zu den Rechtsquellen ..............................................

91

bb) Allgemeines zur Rechtsprechung des StIGH ........................ (I) Zweck der Regelungen.........................................

92 92

(2) Definitionsfragen ..............................................

94

cc) Die Individualrechte................................................ (I) Die Freiheitsrechte ............................................. (2) Die Rechtsgleichheit ........................................... (3) Staatsangehörigkeitsfragen . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Sonderrechte der Minderheitenangehörigen ....................

96 96 97 99 99

(5) Die Frage der Volkerrechtssubjektivität ........................ 100 dd) Autonomie und der Selbstbestimmungsgrundsatz ................... (I) Das Verhältnis Autonomie I Selbstbestimmungsgrundsatz ...... (2) Der Selbstbestimmungsgrundsatz und das Volkerrecht . . . . . . . . .. (a) Das Älandgutachten ....................................... (b) Die Lehrmeinung.......................................... (3) Ergebnis ................. ,.....................................

101 101 102 102 105 106

ee) Das Interventionsverbot ............................................ 106 c) Ergebnis: Minderheitenschutz als Bestandteil des allgemeinen Volkerrechts ................................................................... 107

D. Die Entwicklung eines Minderheitenschutzes in den Vereinten Nationen ........ 11 0 I. Der Minderlteitenschutz zur Zeit des Zweiten Weltkrieges ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Minderheitenbehandlung 1938 - 1945 ...................................... 11 0

2. Das Aufkommen des allgemeinen Menschenrechtsschutzes ................ 111 3. Die Idee des Minderlteitenschutzes "in Ungnade" .......................... 112 11. Die Nachkriegszeit............................................................ 113 1. Neue faktische Verhältnisse................................................ 113

2. Die Vorherrschaft des Menschenrechtsschutzes ............................. 113 3. Der Stand des Minderlteitenschutzes ....................................... 114 III. Die ersten nach dem Krieg abgeschlossenen Verträge ......................... l1S 1. Die Charta der Vereinten Nationen ......................................... 118

a) Die Charta und die Menschenrechte .......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

10

Inhaltsverzeichnis b) Die Charta und das Interventionsverbot ................................. 121 c) Ergebnis ......................................................... . ...... 124 2. Die Friedensverträge....................................................... 125 3. Andere nach dem Krieg geschlossene Minderheitenschutzbestimmungen ... 127 IV. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ............................... 129 1. Bemühungen um die Aufnahme einer Minderheitenschutzbestimmung ..... 129 2. Zur Rechtsbedeutung der Allgemeinen Erklärung .......................... 132 3. Zum Inhalt der Allgemeinen Erklärung..................................... 135 V. Definitionsbemühungen in den Vereinten Nationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 137

VI. Die Menschenrechtspakte ..................................................... 139 1. Zur Entstehung der Pakte .................................................. 139 2. Zur Einheit der Paktrechte ................................................. 140 3. Zum Inhalt der Pakte....................................................... 144 a) Gemeinsame Bestimmungen........... ................................. 144 b) Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ....................................................................... 145 c) Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte... ....... 146 d) Das Fakultativprotokoll ................................................. 147

E. Neuere Entwicklungen zum MInderheitenschutz im Rahmen der Vereinten Nationen....................................... .................................... 148 I. Allgemeines zum UN-Minderheitenschutzkonzept ............................ 148 11. Minderheitenseminare ........................................................ 149 1. Das Ljubljana-Seminar 1965 ............................................... 149 2. Das Ohrid-Seminar 1974 ................................................... 150 III. Studienarbeiten und Vorschläge............................................... 150 1. Capotorti-Bericht 1979 ..................................................... 150 2. Gros Espiell-Bericht 1980 .................................................. 154 3. Cristescu-Bericht 1981 ..................................................... 154 4. Deschenes-Vorschlag 1985 ................................................. 155 5. Die Pal1ey lEide-Initiative 1989-1993 ..................................... 157

Inhaltsverzeichnis

11

IV. Die UN-Deklaration zum Minderheitenschutz 1978-1992 .................... 163 V. Ergebnis...................................................................... 171

F. Die Verpflichtungen von Artikel 27 IPbpR ....................................... 173 I. Zur Entstehung von Artikel 27 IPbpR ......................................... 173 1. Arbeit in der Unterkommission ............................................. 173

2. Arbeit in der Kommission .................................................. 174 3. Artikel 25 in der Generalversammlung ..................................... 176 11. Der in Artikel 27 verankerte Minderheitenbegriff ............................. 178 I. Zusammenfassung der Definitionsbemühungen in der UN .................. 179 2. Die Möglichkeit einer allgemein anerkannten Definition ................... 179 3. Elemente des Minderheitenbegriffs in Artikel 27 ........................... 181 a) Objektive Elemente..................................................... 181 aa) Kennzeichnende Merkmale ......................................... 181 bb) Stabilität ........................................................... 181 (1) Die Bedeutung der Siedlungsweise ............................. 182 (2) Einwanderer ................................................... 184 cc) Die erforderliche Größe ............................................ 185 dd) Die herrschende Stellung ........................................... 186 (1) Die Qualifikation der unterdrückten Mehrheit beziehungsweise herrschenden Minderheit....................................... 186 (2) Das relevante Gebiet ........................................... 187 ee) Zur Erforderlichkeit der Staatsangehörigkeit........................ 188 ff) Zur Erforderlichkeit der Loyalität .................................. 191

b) Subjektives Element.................................................... 192 aa) BewuBtsein der Eigenart und Wille zur Erhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 192 bb) Das sich ergänzende Verhältnis der Elemente....................... 193 cc) Die Situation von Zwangsminderheiten ............................. 195 4. Die von Artikel 27 geschützten Minderheiten .............................. 196 a) Die in Artikel 27 ausdrücklich genannten Minderheiten ................. 196 aa) Ethnische Minderheiten ............................................ 196 bb) Religiöse Minderheiten ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 cc) Sprachliche Minderheiten.......................................... 199

12

Inhaltsverzeichnis b) Abgrenzung zu anderen im Zusammenhang mit dem Minderheitenschutz verwendeten Begriffen .................................................. 199 aa) Allgemeines ........................................................ 199 bb) Indigene Völker .................................................... (1) Die ablehnende Haltung indigener Völker...................... (2) Die grundsätzliche Anwendbarkeit von Artikel 27 .............. (3) Die besonderen Bedürfnisse indigener Völker .................. (4) Die Rechtsprechung des Menschenrechtsausschusses ...........

200 200 201 202 204

c) Die Feststellung einer von Artikel 27 geschützten Minderheit........... 206 5. Ergebnis................................................................... 209 III. Die in Artikel 27 verankerten Rechte ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 209 1. Individual- oder Kollektivrechte ........................................... 209

a) Abgrenzung der Begriffe................................................ 210 b) Historischer Exkurs ..................................................... 210 c) Eine Auslegung von Artikel 27

211

aa) Die Entstehungsgeschichte ......................................... 211 bb) Der Wortlaut ....................................................... 212 cc) Der systematische Zusammenhang ................................. 212 dd) Der Telos... .... .. ......... ....... . ..... .. .. ...... .. . ..... .. . ....... 212 ee) Effet Utile ........ ............ ...... .. ...... .. . ... ... ... ....... . .... 213 ff) Die Praxis des Menschenrechtsausschusses ......................... 213

gg) Die Lehrmeinung................................................... 215 hh) Eine dynamische Auslegung........................................ 218 (1) Die dynamische Interpretationsmethode ........................ 218 (2) Die zunehmende Bedeutung der Kollektivrechte ............... 218 ii) Schlußbetrachtungen ............................................... 222 (1) Der sich ergänzende Charakter vom individuellen und kollekti-

ven Minderheitenschutz ........................................ 222 (2) Die Frage der Rechtssubjektivität von Minderheiten.. . . . . . . . . .. 223 (3) Ergebnis ....................................................... 226 2. Abwehr- oder Leistungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 226 a) Abgrenzung der Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 226 b) Mittelbare Gewährung von positiven Rechten........................... 226

Inhaltsverzeichnis c) Unmittelbare Gewährung von positiven Rechten

13 227

d) Die Praxis .............................................................. 230 e) Ergebnis ................................................................ 235 3. Die einzelnen gewährten Rechte ........................................... 236 a) Die Pflege des eigenen kulturel1en Lebens .............................. 236 aa) Systematische Auslegung .......................................... 236 bb) Die Entstehungsgeschichte......................................... 238 cc) Der Telos... ... . .. ... . .. ........ .... .. .. .... .. .... ...... .. ... ..... .. 239 dd) Die Staaten praxis und die Praxis internationaler Organisationen .... 240 (1) Al1gemeine Kulturpolitik ...................................... 240 (2) Das kulturel1e Eigentum und Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 242 (3) Neue Texte zum Minderheitenschutz........................... 242 (4) Die Pal1ey lEide-Initiative ..................................... 243 (5) Die Praxis des UN-Menschenrechtsausschusses ................ 246 (a) Politische Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 247 (b) Indigene Politik ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 251 (6) Die Praxis der Interamerikanischen Menschenrechtskommission ............................................................ 253 ee) Die Lehrmeinung. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 254 ff) Ergebnis ........................................................... 256

b) Der Gebrauch der eigenen Sprache...................................... 257 c) Das Bekenntnis zu einer Religion und die Ausübung der eigenen Religion .................................................................... 259 4. Zulässige Einschränkungen ................................................ 260 IV. Artikel 27 und das V61kergewohnheitsrecht ................................... 261

G. Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts in den Vereinten Nationen ...... 265

I. Das Aufkommen des Selbstbestimmungsrechts in der Zeit zwischen den Kriegen ........................................................................... 265 11. Entwicklungen in den Vereinten Nationen. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. 266 I. Die Charta und der Selbstbestimmungsgrundsatz ........................... 266 a) Der rechtliche Charakter des Selbstbestimmungsgrundsatzes ............ 267 b) Träger des Selbstbestimmungsgrundsatzes .............................. 269

14

Inhaltsverzeichnis 2. Die Belgische These

271

3. Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an ~Ioniale Länder und Völker: Res.l514(XV) von 1960 ....................................... 273 4. Res. 1541(XV) von 1960 ................................................... 274 5. Die Entkolonialisierungspraxis der Vereinten Nationen ..................... 276 a) Die allgemeine Entkolonialisierungspraxis .............................. 276 b) Eine Ausdehnung des kolonialen Tatbestandes.......................... 278 6. Die Erklärung völkerrechtlicher Prinzipien über freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen Staaten: Res.2625(XXV) von 1970 279 7. Artikel I der Menschenrechtspakte ......................................... 282 a) Zur Aufnahme eines Selbstbestimmungsartikels in die Menschenrechtspakte und dessen Rechtscharakter ....................................... 282 b) Zur Entstehung von Artikel 1 ........................................... 284 aa) Arbeit in der Kommission .......................................... 284 bb) Arbeit in der Generalversammlung ................................. 286 c) Artikel 1 und innerstaatliche Völker..................................... 288 d) Artikel 1 und der Menschenrechtsausschuß ............................. 290 e) Das Berichterstattungsverfahren des Menschenrechtsausschusses ........ 291 aa) Die innere Selbstbestimmung: Zwei Denkweisen ................... 291 bb) Eine Synthese der Denkweisen: "Participatory Democracy" ........ 295 cc) Autonomie/Selbstregierung ........................................ 296 dd) Demokratie ........................................................ 297

H. Entwicklungen zum Schutz von indigenen Völkern in den Vereinten Nationen .. 300 I. Der Martinez Cobo-Bericht 1986.............................................. 300 ß. Working Group on Indigenous Populations 1982 .............................. 302 1. Die Arbeitsmethoden der Arbeitsgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 303

2. Definitionsfragen in der Arbeitsgruppe ..................................... 303 3. Die normsetzenden Aktivitäten der Arbeitsgruppe .......................... 305 III. Neue Treffen über indigene Völker............................................ 312 1. Das Genf-Seminar 1989 .................................................... 312

2. Das Nuuk-Expertentreffen 1991 ............................................ 313

Inhaltsverzeichnis

15

I. Die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts f"ur den Minderheitenschutz bzw. den Schutz indigener Völker ...................................................... 315 I. Die internationale Rechtsprechung............................................ 315

11. Die Träger des Selbstbestimmungsrechts.. ... . .. ..... . .... .. ...... .. ...... .. .. 316 1. Minderheiten als Träger des Selbstbestimmungsrechts...................... 316 a) Die Praxis der Vereinten Nationen ...................................... 316 b) Die Lehrmeinung zum Volksbegriff ..................................... 318 c) Die Lehrmeinung zu Minderheiten als Träger des Selbstbestimmungsrechts................................................................... 321 d) Ergebnis ................................................................ 324 2. Indigene Völker als Träger des Selbstbestimmungsrechts ................... 325 a) Ein angeborenes Selbstbestimmungsrecht: Das Argument der geschichtlichen Souveränität ..................................................... 325 aa) Die Lehre des 18. und 19. Jahrhunderts............................. 326 bb) Die Staatenpraxis des 18. und 19. Jahrhunderts ..................... 327 cc) Die Rechtsprechung des 20. Jahrhunderts........................... 329 dd) Bedeutung fUr den heutigen Status der indigenen Völker............ 331 ee) Bedeutung der Entkolonialisierung fUr indigene Völker ............. 333 b) Ein Selbstbestimmungsrecht indigener Völker: Die gegenwärtige Staatenpraxis ................................................................ 335 III. Der Inhalt des Selbstbestimmungsrechts. . . .. . . .. ... . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . .. 342 1. Äußere Aspekte des Selbstbestimmungsrechts ............ . . . . . . . . . . . . . . . . .. 344 a) "Unechte" Sezession. . . . . . . . .. . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 344 b) Sezession ............................................................... 345 aa) Die internationale Praxis ........................................... 345 bb) Die Lehrmeinung................................................... 349 c) Andere äußere Formen der Selbstbestimmung: Die Frage der Rechtssubjektivität ................................................................ 352 2. Innere Aspekte des Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 354 a) Die internationale Praxis ................................................ 355 b) Die Lehrmeinung ....................................................... 358 c) Einige Bemerkungen zur Autonomie.................................... 360

16

Inhaltsverzeichnis

J. Schlußbetrachtungen

362

I. Zum Rechtscharakter des Selbstbestimmungsgrundsatzes ..................... 362

ß. Das Selbstbestimmungsrecht der V6lker und der völkerrechtliche Minderheitenschutz ..................................................................... 363 III. Ergebnis: Inhalt und Umfang des Minderheitenschutzes ....................... 364

Literaturverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 367

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 400

Abkürzungsverzeichnis ABI. AEdMR

Amtsblatt (der Europäischen Gemeinschaften) Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

AFDI

Annuaire fran~ais de droit international

AfMRK AJIL ALR

Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker American Journal of International Law Australian Law Reports

AMRK AmULR ArizJICL AVR BGBI. BosColl1WLJ BuffLR BYIL CanBR CanHRYB

Amerikanische Menschenrechtskonvention American University Law Review Arizona Journal of International and Comparative Law Archiv des Völkerrechts Bundesgesetzblatt Boston College Third World Law Journal Buffalo Law Review British Yearbook of International Law

CanYIL CdD CoEDoc. ColJTL CornJIL CTS DGVR DukeU EA ECOSOC EG EmorylLR EP EPIL EPZ ESCOR EU EuCHR EuGH 2 Prilchard

Canadian Bar Review Canadian Human Rights Yearbook Canadian Yearbook of International Law Les Cahiers de Droit Council of Europe Document Colorado Journal of Transnational Law Cornell Journal of International Law Consolidated Treaty Series Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht Duke Law Journal Europa Archiv Economic and Social Council [Wirtschafts- und Sozialrat] Europäische Gemeinschaften Emory International Law Review Europäisches Parlament Encyc10pedia of Public International Law Europäische Politische Zusarnrnenarbeit Official Records of the Economic and Sodal Coundl Europäische Union European Convention on Human Rights Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften

18

EuGRZ EuMRGH EuMRK EuZÖR FP GAOR GeoWashJILEcon GG GV GVBI. GYlL HarvHRJ HarvlU HowU HRU HRQ IACHR ICJ (The Review) ICJRep. ICLQ IGH UGroupR ILC ILM ILO ILR ILR InJIL InU IPbpR IPwskR IRuD IsYBHR ItYIL JAL JIntlAffairs JIR JÖR KSZE LeidJIL

AbkUrzungsverzeichnis Europäische Grundrechte Zeitschrift Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Europäische Zeitschrift für öffentliches Recht Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte Official Records of the General Assembly George Washington Journal of International Law and Economics Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Generalversammlung Gesetz- und Verordnungsblatt German Yearbook of International Law Harvard Human Rights Journal Harvard International Law Journal Howard Law Journal Human Rights Law Journal Human Rights Quarterly Inter-American Commission on Human Rights International Commission of Jurists (The Review) International Court of Justice Reports International and Comparative Law Quarterly Internationaler Gerichtshof International Journal of Group Rights International Law Commission International Legal Materials International Labour Organization International Labour Review International Law Reports Indian Journal of International Law Indiana Law Journal Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Internationaler Pakt über wirtschaftliche. soziale und kulturelle Rechte Internationales Recht und Diplomatie Israel Yearbook on Human Rights Italian Yearbook of International Law Journal of African Law Journal of International Affairs Jahrbuch für internationales Recht Jahrbuch für öffentliches Recht Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Leiden Journal of International Law

Abkürzungsverzeichnis LNTS L.o.N. MRA NGO NILR NJ(DDR) NordJIL NordTIR NQHR NRG NYLSJHR OAS OAU OklaCity ULR OreLR PCU PolYIL ProcASIL RdC

ROH RGDIP RHDI RIAA RutLR S.d.N. SoCalLR SR StlGH TexJIL UN UNCED UNCIO UNDoc. UNESCO UNO UNTS US VaJIL VandJTL

VB VN VRÜ 2'

League of Nations Treaty Series League of Nations Menschenrechtsausschuß Non-Governmental Organization Netherlands International Law Review Neue Justiz Nordie Journal of International Law Nordisk lldsskrift for International Ret Netherlands Quarterlyon Human Rights Nouveau recueil g15n15ral des trait15s New York Law School Journal of Human Rights Organisation of American States Organisation of African Unity Oklahoma City University Law Review Oregon Law Review Permanent Court of International Justice Polish Yearbook of International Law Proceedings of the American Society of International Law Recueil des cours de I' Academie de Droit international de la Haye Revue des droits de l'homme Revue g15n15rale de droit international public Revue hell15nique de droit international Reports of International Arbitral Awards Rutgers Law Review Societ15 des Nations Southern California Law Review Surnrnary Records Ständiger Internationaler Gerichtshof Texas Journal of International Law United Nations United Nations Conference on Environment and Development United Nations Conference on International Organization United Nations Document United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations Organization United Nations Treaty Series United States Reports Virginia Journal of International Law Vanderbilt Journal of Transnational Law Völkerbund Vereinte Nationen Verfassung und Recht im Übersee

19

20 WGIP Wisconsin IU WVRK ZaöRV ZfP

ZVR

Abkürzungsverzeichnis Working Group on Indigenous Populations Wisconsin International Law Journal Wiener Konvention über das Recht der Verträge Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Politik Zeitschrift flir Völkerrecht

A. Einführung I. Ziel und Vorgehensweise der Arbeit Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den Inhalt und den Umfang des völkerrechtlich gewährten Minderheitenschutzes aufzuzeigen. Bei einer Darstellung des geltenden Minderheitenschutzrechts sind vor allem vier Kernfragen zu untersuchen: • die rechtliche Definition einer Minderheit, einschließlich der Frage ihrer Völkerrechtssubjektivität; • der Rechtscharakter des Minderheitenschutzes; • der individual- oder kollektivrechtliche Ansatz des Minderheitenschutzes; • und schließlich der grundSätzliche Gehalt des Minderheitenschutzrechts, eingeschlossen die Frage, inwiefern es über einen (negativen wirkenden) Freiheitsund Diskriminierungsschutz hinaus um die Verbürgung staatlicher Leistung (status positivus) geht. Die systematische Aufzeichnung des Minderheitenschutzrechts wird dadurch erschwert, daß die verschiedenen völkerrechtlich als schutzwürdig geltenden, durch bestimmte ethnische, sprachliche oder religiöse Merkmale gekennzeichneten Personengruppen nicht immer klar voneinander abzugrenzen sind. Hier ergibt sich vor allem die Frage der Abgrenzung: Minderheit und Volk, Minderheit und indigenes Volk. Insofern sie Bedeutung für den gegenwärtigen Minderheitenschutz haben, werden eine Jahrhunderte dauernde Praxis völkerrechtlichen Minderheitenschutzes sowie Entwicklungen im Rahmen der UN zum Schutz aller dieser Personengruppen geschildert. Es werden folgende Arbeitsbegriffe verwendet: • als Minderheiten sind völkerrechtlich als schutzwürdig geltende, durch bestimmte ethnische, sprachliche oder religiöse Merkmale gekennzeichnete Personengruppen zu verstehen; • als Völker sind die Personengruppen bezeichnet, die ein Gemeinschaftsbewußtsein, sowie einen starken territorialen Bezug und andere objektive Merkmale aufweisen; und • als indigene Völker sind nichtherrschende Personengruppen zu verstehen, die historische Kontinuität mit präkoloniaIen Gesellschaften aufweisen, sowie eine starke Bindung an ihre Stammesterritorien.

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A. Einführung

In der Völkerrechtsentwicklung wurden in erster Linie Völker als Träger des Selbstbestimmungsrechts anerkannt und die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts in der unabhängigen Staatlichkeit gesehen (die sogenannte externe Selbstbestimmung). Zusätzlich zur externen Selbstbestimmung sind auch innere Facetten des Selbstbestimmungsrechts anerkannt worden. Bei der inneren Selbstbestimmung handelt es sich um Verwirklichungsformen. die die Einheit und die territoriale Integrität des bisher gemeinsamen Staates bewahren und gleichzeitig den Bedürfnissen innerstaatlicher Bevölkerungsgruppen auf die Erhaltung eines gewissen Eigenlebens nachkommen; in erster Linie handelt es sich um die Gewährung der Autonomie. Aufgrund der in der Nachkriegszeit herrschenden Ansicht. der allgemeine Schutz der Menschenrechte hätte den Minderheitenschutz ersetzt. wird die Eingrenzung der Arbeit weiter erschwert. Die Vereinten Nationen verfügen über kein einheitliches Vertragswerk zum Minderheitenschutz. sondern über ein aus verschiedenen Maßnahmen. lose zusammengesetztes Minderheitenschutzsystem. In einem einzigen Vertragsartikel haben die UN-Mitgliedstaaten sich auf eine Schutzbestimmung zugunsten ethnischer. religiöser und sprachlicher Minderheiten einigen können (Art. 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte). Der restliche Schutz ist in verschiedenen Instrumenten enthalten. deren persönlicher Geltungsbereich breiter als Art. 27 angelegt sind und über den Umfang des speziellen Schutzes in Art. 27 hinausreicht. Artikel 27 steht hier zwar im Mittelpunkt. Bestimmungen zum Schutz vor Völkermord. zur Verhütung der Diskriminierung und zur Gewährleistung des Genusses der allgemeinen Menschenrechte und Grundfreiheiten sind aber auch zu berücksichtigen. Obwohl diese anderen Komplexe in erster Linie für die Sicherung der physischen Existenz von Minderheiten beziehungsweise für die diskriminierungsfreie Wahrnahme der Menschenrechte durch alle Individuen von Bedeutung sind I. ergänzen sie den in Art. 27 gewährten Schutz. Der von ihnen fixierte. "flankierende" Schutz kommt auch Minderheiten zugute; eine scharfe dogmatische Trennung ist nicht möglich.

n. Historische Zusammenhänge und Ansatzpunkte I. Individual- und kollektivrecbtllcbe Betracbtungsweisen

In der Gestaltung des völkerrechtlichen Schutzes minoritärer Gruppen in ethnisch. religiös oder sprachlich anders beherrschten Staaten haben zwei grundsätzliche Betrachtungsweisen eine Rolle gespielt. I Vgl. T. Ansbach/W. Heinlze, Selbstbestimmung und Verbot der Diskriminierung im Völkerrecht. Berlin(Ost) 1987. 26f.; F. Ermocora, Der Minderheitenschutz in der Arbeit der Vereinten Nationen. Wien/Stuttgart 1964. S. 101; ders., Der Minderheitenschutz im Rahmen der Vereinten Nationen. Wien 1988. S. 80.89; Wolff, 1990. S. 7.

11. Historische Zusammenhänge und Ansatzpunkte

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Nach einer individualrechtlichen Betrachtungsweise wird die Minderheit als Summe einzelner, durch Gesinnung und Lebensumstände verbundener Menschen betrachtet. 2 In erster Linie sind die einzelnen Angehörigen der Minderheit zu schützen, die Gruppe eventuell gleichsam mitgeschützt. Nach dieser Betrachtungsweise wird der Minderheitenschutz als Konkretisierung des Schutzes der allgemeinen Menschenrechte verstanden. Verboten wird die Diskriminierung individueller Minderheitenangehörigen im Genuß ihrer Freiheitsrechte und ihrer aktiven staatsbürgerlichen Rechte sowie in positiven staatlichen Leistungen zur Gewährung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte. Über diese Nichtdiskriminierung hinaus ist einzelnen Angehörigen eine gewisse Sonderbehandlung zu gewährleisten, eventuell durch Möglichkeiten für den Gebrauch ihrer Sprache und den Unterricht in ihrer Sprache, sowie durch Maßnahmen, um ihre kulturelle Identität pflegen zu können. Nach einer kollektivrechtlichen Betrachtungsweise wird die Minderheit als eine überwiegend durch objektive Merkmale bestimmte, überindividuelle Einheit verstanden. Die Gruppe in ihrer Gesamtheit wird in den Vordergrund gerückt. Ziel des Minderheitenschutzes ist es, Minderheiten ein Eigenleben zu gewähren, unter Umständen durch den Schutz ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten, die Anerkennung ihres Siedlungsraums und die Zuerkennung bestimmter politischer Kompetenzen. Die Beziehungslinien zwischen dem kollektivrechtlich aufgefassten Minderheitenschutz einerseits und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und dem in statu nascendi Regime zum Schutz indigener Völker anderseits treten besonders deutlich hervor.

In der völkerrechtlichen Behandlung andersartiger Gemeinschaften sind beide Auffassungen zu finden. 3 In den zwischen dem Wiener Kongreß und dem Ersten Weltkrieg abgeschlossenen Minderheitenschutzverträgen wurde nicht nur die Glaubensfreiheit individueller Angehöriger religiöser Minderheiten gewährleistet, sondern häufig auch die politische Autonomie nationaler Minderheiten. Das Minderheitenschutzsystem nach dem Ersten Weltkrieg war von der individualistischen Auffassung geprägt, obwohl einige nationale Minderheiten mit einem gewissen Maße an Autonomie ausgestattet wurden. In der deutschsprachigen Literatur der dreißiger Jahre wurde die Idee der Minderheit als eine durch Abstammung geprägte organische Gemeinschaft wieder geltend gemacht.4 Nach dem Zweiten G. Dahm, V6lkerrecht, Bd. 1, Stuttgart 1958, S. 395. Dahm, Bd. I, 1958, S. 395 f. 4 Dahm, Bd. 1, 1958, S. 396. Diese Betrachtungsweise wurde auch im nationalsozialistischen Schrifttum vertreten; z. B. H. Keller. Das Recht der V6lker, Berlin 1938, S. 122ff.; G. Wall. Neue Grundlagen des Volksgruppenrechts, ZVR, Bd. 23, 1939, S. 130ff.; T. Veiter. Nationale Autonomie, Wien/Leipzig 1938, S. 43ff.; G. Wall. V61kerrechtsordnung und 2

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Nationalsozialismus, München 1942, S. 105ff.; allgemein zum Thema nationalsozialistischer V61kerrechtslehre E. Bristler. Die V61kerrechtslehre des Nationalsozialismus, Zürich 1938; D. Vagts, International Law in the Third Reich, AJIL, Bd. 84, 1990, S. 661 ff.; R. Wolfrum, Nationalsozialismus und V6lkerrecht, in F. Säcker (Hrsg.), Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus, Baden-Baden 1992, S. 89ff.

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A. Einführung

Weltkrieg wurde der Minderheitenschutz zunächst in den Bereich des Schutzes der allgemeinen Menschenrechte eingebettet. Man war größtenteils der Auffassung, daß der Minderheitenschutz als eigenständiges Völkerrechtsgebiet keine Zukunft habe. Gleichzeitig wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker zum völkerrechtlichen Grundsatz erhoben. Dies führte in erster Linie zur Befreiung europäischer Kolonien in Asien und Afrika von der kolonialen Herrschaft.

2. Ein Wiederaufteben des Interesses an Minderheitenfragen

Angesichts einer bemerkenswerten Renaissance des Strebens nationaler beziehungsweise ethnischer Gruppen nach der Erhaltung ihrer Eigenart ist die Frage des internationalen Minderheitenschutzes in den letzten Jahrzehnten wieder stärker in das Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit getreten. Zu erwähnen sind die teils national, teils nur kulturell orientierten Selbstbestimmungsbewegungen in mehreren westeuropäischen Staaten (unter anderem Basken, Bretonen, Elsässer, Flamen, Friesen, Katalanen, Korsen, katholische Nordiren, Walliser, Schotten, Südtiroler), im Nahen Osten (unter anderem Armenier, Kurden, Palästinenser), in Asien (unter anderem Bengalis, Nagas, Sikhs, Tamilen) und in Afrika (unter anderem Ibos, Saharaouis, Wahutus). Diese Bewegungen haben sowohl in "neuen" (zum Beispiel Indien, Nigeria, Papua-Neuguinea, Sri Lanka) als auch in "älteren" Staaten (zum Beispiel Frankreich, Kanada, Nicaragua, Spanien) zu gewaltsamen politischen Konfrontationen geführt. Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaftsordnung sind in der ehemaligen UdSSR ethnische Konflikte mit verheerenden Folgen ausgebrochen (unter anderem Abchasien, Krim, NagornoKarabach, Südossetien). Auch in Ost- und Südosteuropa sind komplexe Nationalitätenprobleme wieder aufgeflackert. S Unterstützt wird diese Bewegung durch den in völkerrechtlicher, politischer und sozialer Hinsicht nicht völlig unverwandten Aufbruch indigener Völker. Indianer in Süd- und Nordamerika, Inuit in Nordamerika, Skandinavien und Rußland, Samis in Skandinavien und Aborigines in Australien wehren sich gegen die Assimilation und fordern eine völkerrechtliche Anerkennung ihrer Eigenständigkeit und überwiegend kollektiver Rechte. 6 In den sich entwickelnden Normen zum Schutz indigener Völker sind indigene Perspektive nicht zu übersehen? S M. Hatschikjan, Osteuropa: Ein nationalistischer Hexenkessel?, Außenpolitik III, 1991, S. 211 ff. Allgemeines hierzu G. Brunner, Nationalstaaten und Minderheiten im östlichen Teil Europas, in D. Blumenwitzl H. von Mangoldt (Hrsg.), Fortentwicklung des Minderheitenschutzes und der Volksgruppenrechte in Europa, Verlag Wiss. und Politik 1992, S. 11 ff.; ferner M. Watson, Conc1usion: The 1970s, 1980s and Beyond, in ders. (Hrsg.), Contemporary Minority Nationalism, London/New York 1990, S. 195ff., 213; E. Gellner, Nations and Nationalism, Oxford 1983, S. 47; ders., Culture, Identity and Politics, Cambridge 1987, S.15f. 6 J. Delbrück, Diskriminierung, in R. Wolfrum (Hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen, München 1991, S. 85ff.

11. Historische Zusammenhänge und Ansatzpunkte

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In der neueren Literatur wird inzwischen der Gedanke, den Minderheitenschutz durch den allgemeinen Menschenrechtsschutz überflüssig zu machen, als eine Fehlkalkulation betrachtet. 8 Neuere Entwicklungen deuten auf eine Abkehr von einer individualrechtlichen Betrachtungsweise hin. 9 Der neue Trend, so Lerner, "is based on the transition from a paternalistic or protective approach to a more general notion of rights inherent to the condition of some specific and well-defined groupS."lO In der neueren Praxis ist zunehmend zu sehen, daß Beziehungen zwischen Mehrheits- und Minderheitsbevölkerungsgruppen nicht nur auf Sprachunterricht, Zeitungen und gleichberechtigter politischer Teilnahme auf der gesamtstaatlichen Ebene basieren müssen. l1 In dieser Praxis werden auch Kollektivrechte zur Sicherung einer institutionellen Identität zuerkannt. Bei größeren Gruppen in geschlossenen Siedlungsgebieten werden föderale Strukturen und territoriale Autonomie erwogen. Bei kleineren oder zerstreuten Minderheiten wird eine weitreichende kulturelle Autonomie befürwortet. 12 Eine der dogmatischen Grundfragen dieser Arbeit ist, ob es sich beim gegenwärtigen völkerrechtlichen Minderheitenschutz um Individual- oder Kollektivrechte handelt. 7 C. Tennant/M. Turpel, A Case Study of Indigenous Peoples: Genocide, Ethnocide and Self-Determination, NordJIL, Bd. 59,1990, S. 87ff., 92. 8 Y. Dinstein, Collective Human Rights of Peoples and Minorities, ICLQ, Bd. 25, 1975, S. 102 ff., 117; K. Doehring, Allgemeine Staatslehre: Eine systematische Darstellung, Heidelberg 1991, S. 128, 227; R. Hauser. International.Protection of Minorities and the Right of Self-Determination, IsYBHR, Bd. 1, 1971, S. 92ff., 10lf.; O. Kimminich, Rechtsprobleme der polyethnischen Staatsorganisation, Mainz/München 1985, S. 67f.; ders., Ansätze für ein europäisches Volksgruppenrecht, AVR, Bd. 28, 1990, S. 1 ff., 6; ders., Volksgruppenrecht und Recht auf die Heimat, Ostrecht, Bd. 1, 1991, S. 27ff.,31. 9 H-J. Heintze, V6lkerrecht und Indigenous Peoples, ZaöRV, Bd. 50, 1990, S. 42 ff., 70. In der deutschsprachigen Literatur wird das Wiederaufleben des Interesses an der Minderheitenproblematik von einer Hinwendung zum Volksgruppenrecht begleitet. Siehe Ld.S. Blumenwitz/von Mangoldt (Hrsg.), 1992; Kimminich, Ansätze, 1990, S. 1 ff.; ders., Volksgruppenrecht, 1991, S. 27ff.; T. Veiter. System eines internationalen Volksgruppenrechts, Wien/Stuttgart 1970-72, 3.Bde; ders., Nationalitätenkonflikt und Volksgruppenrecht im ausgehenden Jahrhundert, München 1977,2. Bde; ders., Die Entwicklung des Volksgruppenrechts 19471987, München 1987; F. Wittman/S. Graf Bethlen (Hrsg.), Volksgruppenrecht: Ein Beitrag zur Friedenssicherung, München I Wien 1980. 10 N. Lerner. The Evolution of Minority Rights in International Law, in C. Brölmann/ R. Lefeber/M. Zieck (Hrsg.), Peoples and Minorities in International Law, Dordrecht/Bostonl London 1993, S. 77ff., 81. 11 H. Hannum, Autonomy, Sovereignty and Self-Determination: The Accomodation of Conflicting Rights, Philadelphia 1990, S. 73; S. Oeter. Selbstbestimmungsrecht im Wandel: Überlegungen zur Debatte um Selbstbestimmung, Sezessionsrecht und "vorzeitige Anerkennung", ZaöRV, Bd. 52,1992, S. 741 ff., 762. 12 T. Modeen, The International Protection of National Minorities in Europe, Abo 1969, S. 145; ferner F. Esterbauer/G. Heraud/ P. Pernthaler (Hrsg.), Föderalismus als Mittel permanenter Konfliktregelung, Wien 1977; G. Heraud, Fooeralisme et groupes ethniques, in T. Veiter (Hrsg.), System eines internationalen Volksgruppenrechts, Bd. 1, Wien/Stuttgart 1970, S. 61 ff.; Kimminich, Rechtsprobleme, 1985, S. 189ff.; R. Stavenhagen. Problems and Prospects of Multi-Ethnic States, United Nations University, Tokyo 1986, S. 22.

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A. Einführung

UI. Die Bedeutung des Themas 1. Die geopolitische Bedeutung: Die Seltenheit ethnischer Homogenität

Den geltenden völkerrechtlichen Minderheitenschutz klärend darzustellen, hat zunächst geopolitische Bedeutung. Es ist allmählich klar geworden, daß monoethnische Staatsformen an der Realität der tatsächlich vorhandenen Polyethnizität in einer Vielzahl von Staaten vorbeigehen. 13 In der überwiegenden Mehrzahl von Staaten unterscheiden sich Bevölkerungsgruppen durch ethnische, religiöse und sprachliche Merkmale unterschiedlichen Ausmaßes. 14 In der Regel sind die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen von Mehrheitsbevölkerungen in der Gestalt des Staates verkörpert. 15 Es entstehen komplexe Konflikte, die oft internationale Komponenten enthalten. 16 In den letzten Jahren sind Spannungen in bisher unbekannter Häufigkeit und Intensität aufgetreten. 17 Man spricht von einem globalen Problem des ethnischen Konflikts. IB Asbjorn Eide, Sonderberichterstatter der UN-Unterkommission zur Verhinderung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheiten verwies 1991 auf ein zunehmendes Gefühl der Dringlichkeit, was das Problem von Minderheiten betrifft. 19 Minderheitenexperten, die im 13 Kimminich, Rechtsprobleme, 1985, S. 183; ferner auch F. Ennacora, Nationalitätenkonflikt und Volksgruppenrecht, Bd. 2, 1978, S. 188f. In der sozialwissenschaftlichen Literatur fing man an, nicht die staatszerstörende Sprengkraft des Minderheitenschutzes in den Vordergrund zu stellen, sondern die integrierenden und disintegrierenden Kräfte bei unterschiedlich gestalteten polyethnischen Staaten zu untersuchen: Kimminich, Rechtsprobleme, 1985, S. 132f.; ferner W. Bell/W. Freeman. Ethnicity and Nation-Building, Beverley Hills/London 1974; N. GlazerlD. Moynihan (Hrsg.), Ethnicity: Theory and Experience, Cambridge 1975; S. RokkanlD. Urwin, Economy, Territory, Identity, London 1983; J. Rothschild, Ethnopolitics: A Conceptual Framework, New York 1981; A. SaidlL Simmons, Ethnicity in an International Context, New Brunswick 1976; J. Stack. Ethnic Identity in a Transnational World, Westport/London 1981; A. SuhrkelL Gamer Noble (Hrsg.), Ethnic Conflict in International Relations, New York 1977. 14 Man verweist auf circa 5000 ethnische bzw. nationale Gruppierungen in der Welt: Stavenhagen, 1986, S. 5. Allgemeines hierzu T. Gurrl J. Scarritt, Minorities at Risk: AGIobai Survey, HRQ, Bd. 11, 1989, S. 375 ff.; Minority Rights Group, World Directory of Minorities, Harlow 1989; R. Stavenhagen, World Guide to Ethnic Minorities and Indigenous Peoples, United Nations University lEI Colegio de Mexiko 1988. 15 Gurr und Scarritt verweisen auf 261 ..gefährdete" Minderheiten in mehr als dreiviertel der größeren Staaten der Welt: GurrlScarritt, 1989, S. 392f. 16 Hannum. 1990, S. 4. 17 Hierzu u. a. K. Rupesinghe (Hrsg.), Ethnic Conflict and Human Rights, United Nations University, Tokyo/Oslo 1988; Stavenhagen. 1990, S. 74ff. 18 Veiter, Nationalitätenkonflikt, 1977, S. 9Off.; ders., Neueste Entwicklungen auf dem Gebiet des internationalen Volksgruppenrechts und des Schutzes ethnischer Minderheiten, in M. NowaklSteurerlJ. Tretter (Hrsg.), Fortschritt im Bewußtsein der Grund- und Menschenrechte: Festschrift für Felix Ermacora, Kehll Straßburgl Arlington 1988, S. 415 ff., 417; Wo{ff, 1990, S. 2. 19 Preliminary report submitted by Mr. Asbjorn Eide: Possible ways and means offaciltiating the peaceful and constructive solution of problems involving minorities, UN Doc. EI CN.41 Sub.2/199 I 143.

III. Die Bedeutung des Themas

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Februar 1993 bei der UN in Genf tagten, wiesen auf die ernsthaft destabilisierenden Auswirkungen des gegenwärtigen ethno-nationalistischen Wiederauflebens hin und meinten, die Erforderlichkeit eines Schutzes von Minderheitenrechten sei offensichtlicher als jemals zuvor. 20 Ein Ziel dieser Arbeit ist es, einen Beitrag zur Klärung des Inhalts und des Umfangs des geltenden Minderheitenschutzes zu leisten. Ein weiteres Ziel der Arbeit liegt darin, die Beziehungslinien zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der V6lker, dem Minderheitenschutzrecht und dem völkerrechtlichen Schutz indigener V6lker darzustellen. Der Selbstbestimmungsbegriff gehört zum Vokabular sowohl von Minderheiten als auch von indigenen Völkern 21 , die ihren Willen bekundet haben, über ihre Angelegenheiten selbst zu entscheiden.22 Befürworter eines vorsichtigen Umgangs mit dem Selbstbestimmungsbegriff warnen vor seiner enormen politischen Sprengkraft.23 Es ist aber auch fraglich, ob Bestrebungen nicht-staatstragender V6lker auf ein gewisses Eigenleben mit Gewalt aus dem Weg zu räumen sind. 24 In der jüngsten Diskussion um die rechtsdogmatischen Konturen des Selbstbestimmungsrechts wird ein nuancierteres Verständnis der Selbstbestimmung gefordert. Diese kann, je nach Kontext, unterschiedliche Formen annehmen, aber letztendlich werden diesen Gruppierungen Einrichtungen ermöglicht, damit sie ihre Existenz und Entwicklung nach ihren eigenen Vorstellungen sichern können. 25 In der neueren Praxis sind Ansätze 20 Rights 01 Persons Belonging to National or Ethnic, Religious and Linguistic Minorities: Note by the Secretary·General, UN Doc. E/CN.4/1993/85, § 9. 21 R. Stavenhagen, The Ethnic Question: Conflicts, Development and Human Rights, United Nations University, Tokyo 1990, S. 68ff.; P. Thomberry, Self-Determination, Minorities, Human Rights: A Review ofInternational Instruments, ICLQ, Bd. 38,1989, S. 867ff.; ders., International Law and the Rights of Minorities, Oxford 1991, S. 14. 22 I.d.S. E. Stingl, Volksgruppenrecht als Grundlage einer dauerhaften Friedensordnung, in H. RiedeilT. Veiter (Hrsg.), Federalisme, Regionalisme et Droits des Groupes Ethniques en Europe: Hommage aGuy Heraud, Wien 1989, S. 426ff., 427. 23 M. Nowak, The Evolution of Minority Rights in International Law, in Brölmannl LeleberlZieck (Hrsg.), 1993, S. 103 ff., 117 f.; auch P. Coulmas, Das Problem des Selbstbestimmungsrechts: Mikronationalismen, Anarchie und innere Schwächen der Staaten, BA, Bd. 48, 1993, S. 85 ff.; R. Higgins, Postmodern Tribalism and The Right to Secession: Comments, in BrölmannlLeleberlZieck (Hrsg.), 1993, S. 29ff., 35. 24 E. Bornträger. Grenzen und Selbstbestimmungsrecht: Gedanken zur Finalität von Grenzziehungen, ZfP, Bd. 39, 1992, S. 48ff., 69. Ferner auch United Nations Educational, Scientijic and Cultural Organization, International Meeting of Experts on further study of the concept of the rights of peoples, UNESCO Doc. SHS-89/ CONF.602/7 (1989), § 22. 25 J. Anaya, The Capacity of International Law to Advance Ethnic or Nationality Rights Claims, HRQ, Bd. 13, 1991, S. 403 ff., 409; ders., A Contemporary Definition of the International Norm of Self-Determination, Transnational Law and Contemporary Problems, Bd. 3, 1993, S. 131 ff., 161; ferner R. Barsh, Indigenous Peoples and the Right to Self-Determination in International Law, in B. Hocking (Hrsg.), International Law and Aboriginal Human Rights, Sydney 1988, S. 68ff., 71 ff.; G. Bennett, Aboriginal Rights in International Law, Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland, 1978, S. 51; H. Berman, Are Indigenous Populations entitled to International Juridical Personality?, ProcASIL, Bd. 79,

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A. Einführung

zu sehen, die versuchen, den Selbstbestimmungsgrundsatz in Rechtsformen zu konkretisieren, die zugleich den Autonomiebedürfnissen von Minderheiten und dem Interesse der Staatengemeinschaft an einer stabilen, dauerhaften und funktionsfähigen internationalen Ordnung Rechnung tragen. 26

2. Die rechtsphilosopbische Bedeutung: Der Wandel des Souveränitätsbegriffs

Eine Bestandsaufnahme zum geltenden Minderheitenschutzrecht hat auch rechtsphilosophische Bedeutung als Äußerung des Wandels, den Souveränitätsvorstellungen im gegenwärtigen Völkerrecht durchmachen. Die Epoche des klassischen Völkerrechts, in der die in ihrer Souveränität weitgehend unbegrenzten Staaten untereinander verkehrten, geht zu Ende. 27 Die Völkerrechtswissenschaft und auch die Praxis haben erkannt, daß es vordringlich darauf ankommt, die Rechte von Individuen und zunehmend auch von Gruppen zu entfalten und wirksam zu schützen. 28 Mit dem Abbau von in den Grundstrukturen des Völkerrechts liegenden Souveränitätsvorstellungen ist die ernsthafte Herausbildung eines Schutzes von nichtstaatlich organisierten Gruppen wie Völkern und Minderheiten, wenigstens in Bezug auf begrenzte Rechte, machbar geworden. 29 Seit den durch die Weltkriege bedingten Veränderungen ist die positivistische Ausrichtung des Völkerrechts des 19. Jahrhunderts von einer Orientierung verdrängt worden, in der Visionen einer friedlicheren Welt über bedeutsamen norma.tiven Einfluß verfügen?O Das freie Kriegsführungsrecht des klassischen Völker1985, S. 190 ff., 204; J. Clinebell/J. Thompson, Sovereignty and Self-Detennination: The Rights of Native Americans under International Law, BuffLR, Bd. 27, 1978, S. 669ff., 713 f.; G. Morris, International Law and Politics: Toward a Right to Self-Determination for Indigenous Peoples, in M. Jaimes (Hrsg.), The State of Native America: Genocide, Colonization and Resistance, Boston 1992, S. 55ff.; Oeter; 1992, S. 762; Stavenhagen, 1986, S. 19ff.; D. Thürer; Das Selbstbestimmungsrecht der Völker mit einem Exkurs zur Jurafrage, Bern 1976, S. 204f. 26 D. Francke/R. Hofmann. Nationale Minderheiten: Ein Thema für das Grundgesetz, EuGRZ, 1992, S. 401 ff. 27 W Friedmann, Tbe Changing Structure of International Law, New York 1964, S. 32. 28 Kimminich, Rechtsprobleme, 1985, S. 13; ders., Ansätze, 1990, S. 1; ders., Volksgruppenrecht, 1991, S. 29. Auch E. Menzel, Das Völkerrecht und die politisch-sozialen Grundstrukturen der modemen Welt, in G. Picht/Co Eisenbart (Hrsg.), Frieden und Völkerrecht, Stuttgart 1973, S. 401 ff., 41Of.; ferner R. Lillich, Sovereignty and Humanity: Can They Converge, in A. Grahl-Madsen/ J. Toman (Hrsg.), The Spirit of Uppsala, Berlin I New York 1984, S. 406ff., 413 f. 29 Kimminich, Volksgruppenr~ht, 1991, S. 29. 30 J. Anaya, The Rights of Indigenous Peoples and International Law in International and Contemporary Perspective, 1989 Harvard Indian Law Symposium, 1990, S. 191 ff., 211 f.; ders., Indigenous Rights Norms in Contemporary International Law, ArizJICL, Bd. 8, 1992, S. 1 ff., 3.

III. Die Bedeutung des Themas

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rechts hat sich in das Kriegs- und Gewaltverbot umgestaltee 1 und die Friedenssicherung hat sich zu einer internationalen Verantwortung entwickelt. 32 Eine dramatische Durchbrechung klassischer Souveränitätsauffassungen kam in der UN-Praxis hinsichtlich der Befreiung von Völkern vom Kolonialismus zum Ausdruck. Diese Praxis erkannte nichtstaatlich organisierte Personengruppen als Völkerrechtssubjekte an und führte zu tiefgreifenden Veränderungen in den Machtstrukturen und den Wert- und Zielvorstellungen des internationalen Systems. 33 Das Völkerrecht wird nicht mehr als reduzierbar auf den in Verträgen und in Gewohnheit manifestierten Willen von Staaten verstanden, sondern als ein dynamischer, sich ständig entwickelnder Prozeß der Entscheidungsfindung. Für diesen Prozeß wird eine alternative Autoritätsbasis in universellen Wertvorstellungen gesucht. 34 Innerhalb dieser Wandlungen haben Friedensvisionen zu einem mit dem Konzept der Menschenrechte identifizierten Diskurs geführt. Dieser Diskurs versucht, internationale Maßstäbe nicht durch die Beschreibung staatlichen Verhaltens zu ermitteln, sondern durch die präskriptive Artikulation der Erwartungen und der Werte der menschlichen Bestandteile der internationalen Gemeinschaft. 35 Hiermit taucht gewissermaßen der naturrechtliche Rahmen der prä-positivistischen Ära wieder auf: Der Staat wird nicht als Herr, sondern vielmehr als Instrument des Menschen konzipiert. 36 Ein bedeutsames Beispiel dieser Entwicklungen bietet die O. Kimminich, Völkerrecht im Wandel, Paderborn 1977, S. 4ff. G. DahmlJ. Delbrückl R. WoljTum, Völkerrecht, Berlin I New York 1989, 2. Aufl., Bd.I/l, S. 13. 33 DahmlDelbrücklWolfrum, 2. Aufl., Bd. I, S. 10. 34 Die "Policy-Approach"-Gelehrten suchen die Autorität des Völkerrechts in einer deduzierbaren, universellen und normativen Philosophie der Menschenwürde. Die New Haven Schule, z. B., versuchte eine "world public order of human dignity" zu entwickeln: M. McDougal/H. Lasswell1M. Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, JLEduc, Bd. 19, 1967, S. 253 ff., dies., Theories about International Law: Prologue to a Configurative Jurisprudence, VaJIL, Bd. 8, 1968, S. 188 ff.; F. 1ipson, The LasswellMcDougal Enterprise: Toward a World Public Order of Human Dignity, VaJIL, Bd. 14, 1974, S. 535 ff.; M. ReismanlB. Weston (Hrsg.), Toward World Order: Essays in Honour of Myres S. McDougal, New York 1976. In dieser Tradition Ire. ehen, An Introduction to Contemporary International Law: A Policy Oriented Perspective, 1989; R. Higgins, Poliey Considerations and the International Judicial Process, ICLQ, Bd. 17, 1968, S. 58 ff., 62f.; dies., General Course on Publie International Law, RdC, 1991 V, S. 9ff., 24ff. Bei Falk drängt eine Philosophie der Solidarität und "global citizenship" durch: R. Falle. Contending Approaches to World Order, in R. FalklS. KimlS. Mendlowitz (Hrsg.), Toward a Just World Order, Bd. I, Boulder 1982, S. 146ff., 176; ders., Revitalizing International Law, Ames 1989, S. 81. Für eine Kritik der Poliey-Sehule aus der Perspektive der Critical Legal Studies-Bewegung: N. Purvis, Critical Legal Studies in Public International Law, HarvILJ, Bd. 32,1991, S. 81 ff. 35 Anaya, 1992, S. 3. 36 Siehe H. Lauterpacht, International Law and Human Rights, London 1950, S. 112. Auch J. Delbrück, International Proteetion of Human Rights and State Sovereignty, InLJ, Bd. 57, 1981-82, S. 567ff.; A. Bleckmann, Zur Entwicklung des modernen Souveränitätsdenkens, Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 35, 1985, B 43, S. 3 ff., 11; R. Williams, 31

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A. Einführung

Behandlung der Angelegenheiten indigener Völker in internationalen Gremien. 37 Die sich herausbildenden Normen stellen Herausforderungen an traditionelle Souveränitätsvorstellungen dar. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Encounters on the Frontiers of International Law: Redefining the Tenns of Indigenous Peoples, Survival in the World, DukeU, 1990, S. 660ff., 665, 704. 37 Unter dem Einfluß der spanischen Spätscholastiker Francisco de Vitoria (um 14801546) und Francisco Suarez (1548-1617) entstand mit dem Beginn der Neuzeit das Bild einer auf dem Naturrecht beruhenden, der ganzen Menschheit umspannenden Rechtsgemeinschaft: F. Suarez. Tractatus de Legibus ac de Deo Legislatore, Liber n, Caput 19, 19 (1612); deutsche Ausgabe J. de Vries (Hrsg.), Francisco Suarez: Ausgewählte Texte zum Völkerrecht, Bd. 4, Tübingen 1965, S. 28ff.; F. de Vitoria, Relectiones: De Indis et de Jure Belli (1532); deutsche Ausgabe W. Schätzel (Hrsg.), Die Klassiker des Völkerrechts, Bd. 2, Tübingen 1952, S. 1 ff. Hierzu A. Dempf, Christliche Staatsphilosophie in Spanien, Salzburg 1937, S. 46f.; ferner J. Brierly, Suarez's Vision of a World Community, in ders., Tbe Basis of Obligation in International Law, Oxford 1958, S. 358 ff.; B. Hamilton, Political Tbought in Sixteenth Century Spain: A Study of the Political Ideas of Vitoria, De Soto, Suarez and Molina, Oxford 1963, S. 109; J. Parry, Tbe Spanish Tbeory of Empire in the Sixteenth Century, Cambridge 1940, S. 21. Auch die indigenen Völker überseeischer Gebiete waren für Vitoria und Suarez rechtsfähige Glieder der Völkergemeinschaft. Bei Vitoria wurde dieser Gedanke besonders deutlich: Weder kaiserliche noch päpstliche Autorität konnte spanische Herrschaft über die Indianer rechtfertigen. Die Indianer befanden sich in der Ausübung aller wesentlichen Naturrechte, und die bloße Entdeckung ihrer Territorien reichte nicht aus, Souveränitäts- und Besitzansprüche an die Spanier zu übertragen. Allerdings schützte Vitorias Verteidigung der Rechte der Indianer sie keineswegs vor der europäischen Expansion. Um die spanische Conquista zu rechtfertigen, stützte er sich auf ein allen Völkern zustehendes Naturrecht des freien Verkehrs, des Handels, der Verkündigung des Evangeliums und im Falle der gewaltsam Hinderung an der Ausübung dieser Rechte, der Verteidigung in einem bellum iustum: Relectiones de Indis Sectio 3, 6, De titulus legitimis, quibus barbari potuerint venire in dicionem Hispanorum, S. 98ff. Hierzu Dempf, 1937, S. 49f.; D. Dörr, Die "Wilden" und das Völkerrecht, VRÜ, Bd. 24,1991, S. 372ff., 374; J. Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht: Die Auseinandersetzungen um den Status des überseeischen Gebiets vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984, S. 212ff.; W. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 174f., 214f.; J. Soder, Die Idee der Völkergemeinschaft: Francisco de Vitoria und die philosophischen Grundlagen des Völkerrechts, Frankfurt a.M. 1955, S. 51, 131 ff.; ders., Francisco Suarez und das Völkerrecht, Frankfurt a.M. 1973, S. 65ff., 310ff.; R. Williams, Tbe American Indian in Western Legal Tbought, New York/Oxford 1990, S. 97ff. Ferner Anaya, 1990, S. 193ff.; M. Lindley, Tbe Acquisition and Government of Backward Territory in International Law, London 1926, S. 12; G. Morris, In Support of the Right of Self-Deterrnination for Indigenous Peoples under International Law, GYIL, Bd. 29, 1986, S. 274ff., 284ff.; ders., 1992, S. 56ff., 58f. Vitoria erwähnte einen weiteren TItel, den manche für rechtlich hielten: Wenn die Indianer nicht fähig wären, einen eigenen Staat zu bilden und zu verwalten "up to the standard required by human and civil claims", dann könnte Spanien ihre Verwaltung evtl. übernehmen ,just as if the natives were infants." (S. 160f.). Hiermit wurden die theoretischen Grundlagen für den Treuhandschaftsbegriff der Kolonisierung gelegt. Hierzu Bennett, 1978, S. 7f.; J. Falkowski, Indian Law: Race Law: A Five-Hundred Year History, New York/Westport/London 1992, S. 130; L Hanke, Aristotle and the American Indians: A Study in Race Prejudice in the Modem World, Bloomington 1959, S. 47; D. Sanders, Tbe Re-Emergence of Indigenous Questions in International Law, CanHRYB, 1983, S. I ff., 4 f.; Williams, Tbe American Indian, 1990, S. 103 ff. Auch der dominikanische Missionar Las Casas betrachtete die indigenen Nationen in der westlichen Hemisphäre als die rechtlichen Souveränen ihrer Territorien. Die Europäer hätten kein Recht, gerechten Krieg

III. Die Bedeutung des Themas

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unsoziale, zwischenstaatliche Gesellschaft von der Idee einer internationalen "civil society" unter Druck gesetzt. 38 Die Verfassung der internationalen Gemeinschaft ist nicht endgültig festgesetzt, sondern strukturell dynamisch und fähig, den Bedürfnissen und Bestrebungen der unterschiedlichsten Teilnehmer nachzukommen und in neue Gebiete hinein zu fließen. Die Herausbildung des Selbstbestimmungsrechts, des Minderheitenschutzrechts und eines völkerrechtlichen Schutzes indigener Völker zeigt, daß das Völkerrecht ein Recht nicht nur von in ihrer Souveränität unantastbaren Staaten ist.

gegen sie zu führen, und die Eroberung der Region sei "unlawful, tyrannical and unjust" gewesen. Las Casas forderte eine friedliche, auf das Prinzip der Freiwilligkeit gegründete Mission unter freien Indianern. Erst mit der Bekehrung ginge die Herrschaft und die Souveränitätsrechte auf die Spanier über." Hierzu Fisch, 1984, S. 232; auch Falkowski, 1992, S. 27 ff.; Morris, 1992, S. 62; Sanders, 1983, S. 4f. 38 P. AUott, International Law and International Revolution: Reconceiving the World, The Josephine Onoh Memorial Lecture, 21. February 1989, Hull University Press 1989, S. 18f.; ders., Eunomia: New Order for a New World, Oxford 1990, S. 3ff. Auch R. Falle, To What Extent are International Law and International Lawyers Ideologically ,,Neutral"?, in A. Cassesse / J. Weiler (Hrsg.), Change and Stability in International Law-Making, Berlin / New York 1988, S. 137 ff., 139; ders., The Rights of Peoples, 1988, S. 27 f.

B. Definition der Begriffe In der Völkerrechtspraxis und Völkerrechtsliteratur werden im Zusammenhang mit dem Minderheitenschutz verschiedene Bezeichnungen der zu schützenden Gruppen verwendet. Auf internationaler Ebene wird der Ausdruck ,,Minderheit" im Zusammenhang mit den Adjektiven "ethnisch", ,,religiös" und "sprachlich" am häufigsten verwendet. Im europäischen, vor allem im deutschsprachigen Raum, wird der Begriff "Volksgruppe" oft gebraucht. Bei Fragen des Schutzes von Minderheiten und indigenen Völkern sowie der Selbstbestimmung finden die Begriffe ,.Nation" und "Volk" häufig Verwendung, ersterer sowohl als Substantiv als auch als Adjektiv. Bevor der historischen Entwicklung des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes nachgegangen wird, sind einige Bemerkungen zum Begriffswirrwarr zu machen. Es wird nicht versucht, juristisch präzise Definitionen herauszuarbeiten, sondern lediglich die Konturen der terminologischen Grundprobleme darzustellen. Im Zusammenhang mit der Auslegung der bisher einzigen unmittelbar mit dem Minderheitenschutz befaßten multilateralen Vertragsbestimmung, Art. 27 IPbpR, wird jedoch ein Rechtsbegriff herausgearbeitet. Schließlich sind einige Bemerkungen zum Verhältnis vom Minderheitenschutz und Diskriminierungsverbot notwendig.

I. Die Aufnahme des Begriffs "Minderheiten" in das Völkerrecht Der Ausdruck ,,Minderheit" wird aus dem lateinischen "minor", das heißt kleiner oder geringer, abgeleitet l , ist also arithmetischer Herkunft. 2 Als Folge des demokratischen Mehrheitsprinzips wurde er in den parlamentarischen Demokratien vor allem in den USA verwendet. 3 In diesem Zusammenhang wurden Schutzmaßnahmen ersonnen, um zahlenmäßig unterlegene politische Minderheiten vor der Unterdrückung durch die politische Mehrheit zu schützen. Der Ausdruck ,,Minderheit" wurde in die deutsche Sprache auch im Zusammenhang mit der HerI R. Oxenknecht, Der Schutz ethnischer, religiöser und sprachlicher Minderheiten in Artikel 27 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vorn 16. Dezember 1966, Frankfurt a.M. 1988, S. 89; J. Wolf!, Möglichkeiten und Grenzen des Schutzes ethnischer Gemeinschaften durch das Y61kerrecht, Diss., Karl-Marx Universität, Leipzig 1990, S.I2f. 2 W. Winkler, Statistik und Minderheitenschutz, 2. Aufl., Leipzig/Wien 1926, S. 26. 3 M. Boehm, Das eigenständige Volk, Göttingen 1932, NeuaufI. Darmstadt 1965, S. 121; R. Michaelsen, Der Europäische Nationalitäten-Kongreß 1925-1928: Aufbau, Krise und Konsolidierung, Frankfurt a.M. 1984, S. 24 f.

11. Nation I Nationalität

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ausbildung bürgerlichen Demokratiestrebens aufgenommen. Wesentlich für die Minderheit war, daß sie aufgrund gewisser charakteristischer Merkmale in einem bestimmten Verhältnis zur Mehrheit stand.4 In Europa wurde ein Schutz von Angehörigen religiöser Gruppen und Nationalitäten lange vor dem Ersten Weltkrieg praktiziert. Die zu schützenden Personengruppen wurden zunächst nicht als Minderheiten bezeichnet, sondern man verwendete ihre Eigennamen. s Mit den vom Ersten Weltkrieg veranlaßten Gebietsänderungen in Mittel- und üsteuropa wurde, so Arendt, die Minderheit zur permanenten Institution, zum permanenten modus vivendi zwischen V6lkern auf dem selben Staatsgebiet. 6 Versuche, eine Schutzklausel zugunsten nationaler Minderheiten in die V6lkerbundsatzung aufzunehmen, scheiterten. Die Minderheitenschutzverträge und die Minderheitenschutzbestimmungen der Friedensverträge befaßten sich mit dem Schutz der "minorites de race, de religion ou de langue."7 Mit der Schaffung des V6lkerbundes wurde aber auch der ,,nationalen Minderheit" ein Platz in der Terminologie des V6lkerrechts gesichert. Große Versuche, diese neuen Begriffe zu definieren, gab es nicht. 8 Auf bisherige Definitionsversuche und einzelne Definitionselemente ist bei der Darstellung des Minderheitenschutzes in der Zwischenkriegszeit und unter Art. 27 IPbpR näher einzugehen. Hier sei lediglich die oft-zitierte Minderheitendefinition von Capotorti, dem Sonderberichterstatter der UN-Unterkommission zur Verhinderung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheiten, aus dem Jahre 1979 angeführt:

,.A group numerically inferior to the rest of the population of aState, in a non-dominant position, whose members - being nationals of the State - possess ethnic, religious or linguistic characteristics differing from those of the rest of the population and show, if only implicitly, a sense of solidarity, directed towards preserving their culture, traditions, religion or language. ,,9

D. Nation/Nationalität Im Zusammenhang mit der nationalen Konsolidierung in Europa wurde vom ,,Erwachen der Nationen" und vom ,,Nationalitätsprinzip" gesprochen. Bei ,,NaWolf!, 1990, S. 13; s.a. Oxenknecht, 1988, S. 89f. E. Pircher, Der vertragliche Schutz ethnischer, sprachlicher und religiöser Minderheiten im Völkerrecht, Bern 1979, S. 29; Wolf!, 1990, S. 79. 6 H. Arendt, Elemente und Ursprünge Totaler Herrschaft, Frankfurt a.M. 1955, S. 443. 7 I.d.S. auch I. Bokatola, L'Organisation des Nations Unies et la Protection des Minorites, Brüssel 1992, S. 13. Zur Entfernung des "ominösen" Wortes "national" von den Minderheitenverträgen: Arendt, 1955, S. 435; C. Macartney, National States and National Minorities, New York 1968, S. 4. 8 T. Veiter, Commentary on the Concept of ,.National Minorities", ROH, Bd. 7, 1974, S. 273 ff., 274 f. 9 United Nations, Study on the Rights of Persons belonging to Ethnic, Religious and Linguistic Minorities (Capotorti-Bericht), New York 1979, § 568. 4

S

3 Pritchard

B. Definition der Begriffe

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tion" wird ein subjektiver von einem objektiven Begriff unterschieden. Der subjektive Begriff wurde in der historischen Entwicklung zu einer auf den Staat beziehungsweise auf das politische Gruppenbewußtsein bezogenen Kategorie. Die Definition von Bluntschli aus dem Jahre 1866 lautete: ,Jede Nation ist berufen und berechtigt, einen Stat zu bilden". 10 Bei Karl Renner hieß es: ,,Nation ist kein naturwissenschaftlicher, kein ethnologischer, kein soziologischer, sondern ein politischer Begriff... n Laut Cobban: "The nation is a community that is, or wishes to be, a state,,!2 Besonderer Ausdruck für das subjektive Nationsverständnis ist der Nationalstaatsgedanke. Im 19. Jahrhundert wurde dieser Gedanke zum überragenden staatsbildenden Prinzip. Der Nationalstaat sei nichts anderes als die politisch unabhängig gewordene Nation: In ihm herrsche eine Nation, allen anderen seien Wirkungsmöglichkeiten vorenthaiten. In Ausdrücken wie "nationale Befreiungsbewegung", "nationale Konsolidierung", ,,nationale Interessen" und ,,National stolz" kommt dieses Nationsverständnis zum Ausdruck. Es wird als subjektiv bezeichnet, weil die nationale Zugehörigkeit nicht Folge der Geburt sondern individueller Wahl sei. 13 Die klassische Formulierung des subjektiven Nationsverständnisses stammt von Renan: "Une nation est une grande solidarite ... Elle suppose un passe; elle se resurne, pourtant, dans le present, par une fait tangible: le consentement, le desir clairement exprime de continuer la vie commune. L'existence d'une nation est ... une plebiscite de tous les jours ...... 14 Dem in erster Linie westeuropäischen subjektiven Nationsbegriff steht der von der deutschen Romantik entwickelte Nationsbegriff Mittel- und Südosteuropas gegenüber. Dieser versteht die Nation als eine Gemeinschaft von Menschen, die sich aufgrund gemeinsamer kultureller Äußerungen wie Sprache, Charakter, Religion und Sitten bestimmen läßt. 1S Die Nation sei ein überindividuelles Ganzes l6 und mittels objektiver Merkmale festzustellen. 17 Laut Cobban: "The individual did not determine his nation; rather, the nation determined the individual ... 18 Für die Befürworter dieses Nationsverständnisses stellte das Nationalstaatsprinzip eine Verkennung des Wesens der Nation dar. Die Nation sei eine aus langem geistigen 10

J. Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, 5. Aufl., Stuttgart 1875, S. 107.

K. Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich, 2. Aufl., Leipzig/Wien 1918, S. 7. 12 A. Cobban, The Nation State and National Self-Determination, London/Glasgow 1969, S. 108; E. Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780: Programme, Myth, Reality, Cambridge 1990, S. 18ff.; Veiter, Commentary, 1974, S. 287. 13 I. Claude, National Minorities: An International Problem, Cambridge Mass. 1955, S. 2; Macartney, 1968, S. 13 f.; Michaelsen, 1984, S. 20; M. Shaw, TItle to Territory in Africa, Oxford 1986, S. 59; Thürer, 1976, S. 22. 14 E. Renan, Qu'est-ce qu'une nation?,