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German Pages 230 [231] Year 1993
Volkswirtschaftliche Schriften Heft 432
Neuere Entwicklungen in der Theorie dynamischer Systeme und ihre Bedeutung für die Agrarökonomie Von
Wolfgang Lentz
Duncker & Humblot · Berlin
WOLFGANG
LENTZ
Neuere Entwicklungen in der Theorie dynamischer Systeme und ihre Bedeutung für die Agrarökonomie
Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann t
Heft 432
Neuere Entwicklungen in der Theorie dynamischer Systeme und ihre Bedeutung für die Agrarökonomie
Von
Wolfgang Lentz
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Lentz, Wolfgang: Neuere Entwicklungen in der Theorie dynamischer Systeme und ihre Bedeutung für die Agrarökonomie / von Wolfgang Lentz. Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Volkswirtschaftliche Schriften ; H. 432) Zugl.: München, Techn. Univ., Habil.-Schr., 1993 ISBN 3-428-07910-8 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0505-9372 ISBN 3-428-07910-8
Inhalt
Einleitung
7
1. Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen 1.1 1.2
Erkenntnisgewinnung und Wissensrepräsentation Die 'klassische Mechanik' als wissenschaftliche Leitidee
2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
11 11 23 32
2.1
Komplexität
33
2.2
System und Umwelt
35
2.3
Komplexität durch Vielheit
39
2.4
Komplexität durch Dynamik
44
2.5
Komplexität durch Nichtlinearität
52
2.6
Zusammenfassung
61
3. Neuere Entwicklungen in der Theorie dynamischer Systeme
63
3.1
Darstellung und Analyse dynamischer Systeme
63
3.2
3.1.1 Formale Darstellung dynamischer Systeme 3.1.2 Ziele der Analyse formaler dynamischer Systeme Eigenschaften linearer dynamischer Systeme
63 66 70
3.2.1 Lineare Differentialgleichungen erster Ordnung
71
3.2.2 Lineare Differentialgleichungen zweiter Ordnung
76
3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6
84 85 91 95
3.3
Systeme linearer Differentialgleichungen höherer Ordnung Zeitverzögerungen Lineare Differenzengleichungen Zusammenfassung
Eigenschaften nichtlinearer Systeme 3.3.1 Lokale Stabilitätsanalyse nichtlinearer Systeme 3.3.2 Grenzzyklen
96 96 99
3.3.3 Bifurkation 3.3.4 Chaos 3.3.4.1 Chaos in diskreten Systemen
104 113 114
3.3.4.2 Chaos in kontinuierlichen Systemen 3.3.5 Selbstorganisation
120 124
Inhalt
6 3.4
Numerische Verfahren zum Nachweis von Chaos
131
3.5
Zusammenfassung
136
4. Nichtlineare Systeme in der Ökonomie 4.1
137
Eindimensionale Modelle
139
4.1.1 Nachfragemodelle
139
4.1.2 Preisanpassungsmodelle
143
4.2
Zweidimensionale Modelle
155
4.3
Dreidimensionale Modelle
165
4.4
Multiple stabile Gleichgewichte
174
4.5
Mögliche Anwendungen in der Agrarökonomie
183
4.5.1 Ein Marktmodell mit beschränkten Produktions- und Investitionsmöglichkeiten sowie diskreten Zeitverzögerungen
184
4.5.2 Verhaltensänderungen des Modells bei Verwendung multipler exponentieller Verzögerungen 4.6
194
4.5.3 Schlußfolgerungen aus den Simulationsergebnissen
198
Empirische Untersuchungen zur Relevanz nichtlinearer Systeme
199
5. Modell und Realität - eine erneute Betrachtung
202
5.1
Die Relevanz nichtlinearer formaler Abbildungen für die Ökonomie . . . 202
5.2
Die Grenzen formaler Abbildung
207
5.3
Resümee
211
6. Zusammenfassung
215
Literaturverzeichnis
220
Einleitung Die Ökonomik versteht sich als Realwissenschaft und hat als solche die Aufgabe, Theorien zu entwickeln, die es erlauben, die Vielfalt ökonomischer Phänomene in eine Ordnung zu bringen, um das Allgemeingültige, das Wiederkehrende und das sich Verändernde in der sonst verwirrenden Fülle zu erkennen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, muß das Wesentliche vom Unwesentlichen getrennt, müssen Verknüpfungen und Abhängigkeiten zwischen ökonomischen Phänomenen gesucht, Heterogenitäten zwischen Elementen aufgezeigt und homogene Elemente zu Gruppen aggregiert werden. Dieses Ordnen erfordert im allgemeinen schon eine Idee, ein konzeptformendes Vorverständnis bzw. Arbeitshypothesen bezüglich der zugrundeliegenden Strukturen und Prozesse, die durch weitere Beobachtungen oder gezielte Experimente bestätigt oder widerlegt werden. Ein solches konzeptionelles Vorverständnis beinhaltet aber auch immer Gefahren: Zum einen führt es zu einer selektiven Wahrnehmung und damit zu einer möglicherweise unbewußten Ausgrenzung relevanter Aspekte der Realität, zum anderen verleitet es zu einer bewußten Ausgrenzung real beobachtbarer Phänomene, wenn diese nicht mit der Leitidee in Einklang stehen. Wie noch zu zeigen sein wird, ist die Ökonomik wie auch andere Wissenschaftsdisziplinen in einigen Teilbereichen stark von der Leitidee der klassischen Mechanik geprägt, deren Grundkonzept in ihren Ursprüngen auf René Descartes zurückführbar ist. Cramer (1989, S.26) schreibt dazu: "Einer der geistigen Väter der modernen Naturwissenschaft, René Descartes, hat in seiner berühmten Abhandlung über die Methode zum richtigen Vernunftgebrauch folgende, noch heute gültige Anweisung zum forschenden Handeln gegeben: »Wenn ein Problem zu komplex ist, als daß du es auf einmal lösen kannst, so zerlege es in so viele Unterprobleme, die dann entsprechend so klein sind, daß du jedes dieser Unterprobleme für sich lösen kannst.«". Und weiter schreibt Cramer: "Die kartesische Methode geht stillschweigend von der Annahme aus, daß man nach Lösung sämtlicher Einzelprobleme das System wieder zusammensetzen kann, so daß man aus der Summe der gelösten Einzelfragen dann eine Gesamtantwort erhält. Hier liegt nun aber der entscheidende Punkt: Für einfache Systeme, wie sie die Physiker der klassischen Physik (einschließlich Newton) behandelten, trifft das zu. Oder richtiger gesagt: Um die Methode anwenden zu können, hat man damals nur solche
8
Einleitung
Systeme behandelt, die wieder zusammensetzbar sind. Das ist bei lebenden Systemen jedoch nicht der Fall. Dort ist immer das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Beim Zerlegen geht unwiederbringlich etwas verloren - eben das Leben. Man kann manche entscheidenden Schritte grundsätzlich nicht zurückgehen oder, mit einem Fachausdruck, solche Systeme sind irreversibel, also nicht umkehrbar" (Cramer 1989, S.27 f.). Der Versuch, die Methoden und Vorstellungen der klassischen Mechanik auf andere Wissenschaftsbereiche zu übertragen, ist nicht verwunderlich, betrachtet man zum einen nur die unvergleichlichen Erfolge, die damit in der Astronomie und Mechanik erzielt wurden, und zum anderen die Tatsache, daß im wesentlichen nur lineare mathematische Gleichungssysteme einer analytischen Behandlung zugänglich sind. Letzteres deutet auf das Problem hin, daß die explizite Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse eng verbunden ist mit den Ausdrucksmöglichkeiten der dazu verwendeten Sprache. Die Adäquanz der Methoden der klassischen Mechanik für die ökonomische Forschung wurde immer wieder in Frage gestellt. Ebenso wie in der Natur scheint das Ganze mehr zu sein als die Summe seiner Teile und das "ökonomische Leben" durch ein analytisches Vorgehen nicht erfaßt zu werden. Lineare deterministische Systeme lassen keinen Raum für das Entstehen von Neuem und die Existenz eines ständigen Strukturwandels. Eine Wirtschaftstheorie, die auf mechanistischen Prinzipien beruht, kann darum kaum zu zufriedenstellenden analytischen Erklärungen zeitlicher ökonomischer Abläufe gelangen, da diese wesentlich durch Neuerungen und Strukturwandel geprägt werden. Somit ist es nicht verwunderlich, daß in der Ökonomik schon immer nach neuen Leitideen für die Forschung gesucht wurde, was durch verschiedene Forschungsrichtungen wie Evolutionsökonomik, Systemtheorie (Systems Economics) oder Institutionenökonomik dokumentiert wird. Die verschiedenen Facetten der ökonomischen Realität lassen sich bis jetzt nur zum Teil und nur mit partiell gültigen Theorien erklären. Vor diesem Hintergrund fordert eine Reihe von Wissenschaftlern wie z.B. Johnson (1986, S.24) geradezu eine Vielfalt von wissenschaftlichen Methoden, da ihrer Meinung nach nur so die vielfältigen Aspekte der wirtschaftlichen und sozialen Welt eingefangen werden können. Wie schon in dem Zitat von Cramer deutlich wurde, ist die Anwendung der Prinzipien der klassischen Mechanik in vielen Wissenschaftsbereichen mit Problemen verbunden und läßt offensichtlich ein zu enges "Weltbild" entstehen. Dies hat in den Naturwissenschaften zur Beschäftigung mit nichtlinearen dynamischen Systemen geführt, die für die weitere Entwicklung dieser Disziplinen von großer Wichtigkeit zu sein scheinen, da diese ein viel größeres Spektrum an dynamischen Verhaltensweisen aufweisen. Einige der daraus resultierenden Ergebnisse werden in jüngster Zeit unter dem Begriffspaar "Ordnung und Chaos" in vielen Wissenschaftsdisziplinen diskutiert und in
Einleitung
unmittelbare Nachbarschaft zu den Begriffen Komplexität, Selbstorganisation oder Kreativität gerückt (Gassmann 1991, S.369). Ausgehend von der Mathematik und Physik wurde schon Anfang der sechziger Jahre mit Erstaunen festgestellt, daß nichtlineare deterministische Systemgleichungen qualitative Änderungen in ihrem zeitlichen Verhalten aufweisen können, was zu komplexen und teilweise nicht prognostizierbaren Ergebnissen führt und den scheinbar widersprüchlichen Begriff "deterministisches Chaos" entstehen ließ. Während der Begriff "Ordnung" in der Umgangssprache eher positiv gesehen wird, weil er in unmittelbaren Zusammenhang mit Struktur, Klarheit, Determiniertheit und Vertrauen gestellt wird, weist der Begriff "Chaos" eine mehr negative Bedeutung auf und wird oft in die Nachbarschaft von Wirrwarr, Zerstörung und Angst gerückt. Auf der anderen Seite hat der Begriff "Chaos" auch seine positive Seite, wenn man damit Kreativität, Überraschung und Kurzweil verknüpft, wohingegen die negative Seite von "Ordnung" mit Sterilität, Verkrustung und Langeweile assoziiert werden kann. Für die Ökonomik stellt sich die Frage, ob die neueren Entwicklungen in der Theorie nichtlinearer Systeme für die Beschreibung oder gar Erklärung des zeitlichen Verhaltens sozialer uod ökonomischer Systeme Relevanz haben. Betrachtet man das reale Geschehen in der Wirtschaft, dann ist dieses in fast allen Bereichen durch ein zeitlich fluktuierendes und teilweise diskontinuierliches Verhalten gekennzeichnet. Die Gründe hierfür werden sowohl innerhalb der Ökonomie in Form von Innovationen als auch außerhalb des ökonomischen Systems in Form exogener Schocks gesucht. Nichtlineare dynamische Systeme stellen möglicherweise einen Weg dar, ein besseres Verständnis der ökonomischen Zusammenhänge und des daraus resultierenden Systemverhaltens zu erlangen. Die Modellierung von plausiblen Annahmen und die Ableitung der darin enthaltenen Implikationen durch mathematische Analysen oder Modellsimulationen läßt uns möglicherweise zu einem anderen Vorverständnis über Ursache-Wirkungs-Beziehungen kommen und könnte so helfen, die Phänomene der realen Welt besser zu verstehen. In diesem Sinne ist die vorliegende Arbeit als ein Versuch zu sehen, neue Entwicklungen in der Theorie dynamischer Systeme aufzugreifen, einfache ökonomische Modelle zu konstruieren und daraus resultierende potentielle Verhaltensmuster aufzuzeigen. Es geht in dieser Arbeit nicht darum, reale ökonomische Systeme in ihrer ganzen Vielfalt zu analysieren, sondern Ziel ist es vielmehr, durch Konstruktion einfacher "Modellökonomien" die vielfältigen potentiellen Verhaltensformen nichtlinearer ökonomischer Systeme darzustellen. Weiterhin ist der Frage nachzugehen, welche Eigenschaften ökonomischer Systeme mit einer derart erweiterten formalen Sprache adäquat abzubilden sind und welche Eigenschaften sich weiterhin der formalen Beschreibung verschließen.
10
Einleitung
Der Inhalt der vorliegenden Arbeit stellt sich im Überblick so dar: Zunächst werden im ersten Kapitel einige wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen gemacht. Hierzu wird die Diskussion der konzeptionellen Leitidee noch einmal aufgegriffen und der enge Zusammenhang zwischen Erkenntnisprozeß und den Möglichkeiten der Wissensrepräsentation aufgezeigt. Dabei wird sich zeigen, daß wissenschaftliche Erkenntnis und Wissensrepräsentation eine enge Wechselbeziehung aufweisen. Das ist gleichzeitig die Überleitung zum zweiten Punkt dieses Kapitels, in dem anhand der Literatur zunächst die Dominanz des "mechanistischen Weltbildes" aufgezeigt, gleichzeitig aber auch auf die im Laufe der Zeit zunehmende Kritik an diesem Weltbild eingegangen wird. Gerade die immer wieder geäußerte Kritik macht deutlich, welche Aspekte der Ökonomie durch dieses Leitbild ausgeschlossen werden und in welche Richtung nach möglichen Erweiterungen des Leitbildes zu suchen ist. Das zweite Kapitel ist geprägt von dem Versuch, die charakteristischen Eigenschaften ökonomischer Systeme qualitativ und weitgehend verbal zu beschreiben. Ziel ist es dabei, ein möglichst umfassendes Bild von Strukturen und Prozessen in der Ökonomie zu skizzieren. Gleichzeitig soll damit gezeigt werden, welche Bedingungen an eine formale Sprache zu stellen sind, mit der die Ökonomie als Modell rekonstruiert werden kann. Die Darstellung ist insoweit einseitig, als daß die marktwirtschaftliche Ökonomie aus systemtheoretischer Sicht beschrieben wird und damit von einem bestimmten Vorverständnis geprägt ist. Es ist zu hoffen, daß trotzdem keine wesentlichen Aspekte und Facetten durch diese Sichtweise von vornherein ausgeschlossen werden. I m dritten Kapitel werden Begriffe, Eigenschaften und Darstellungsformen formaler dynamischer Systeme erörtert. Das Kapitel beginnt mit einer Diskussion linearer Systeme und der Darstellung ihres sehr beschränkten Spektrums an dynamischen Verhaltensmustern. Aufbauend auf diesen Kenntnissen werden im zweiten Teil des Kapitels nichtlineare dynamische Systeme eingeführt und beispielhaft ihr potentielles Zeitverhalten demonstriert. Daran anschließend wird im vierten Kapitel ein Überblick über die Anwendung nichtlinearer Systeme auf ökonomische Fragestellungen gegeben. Die Sammlung einfacher ökonomischer Modelle zeigt, daß sich durch die Einführung von nichtlinearen funktionalen Zusammenhängen ein viel breiteres Spektrum an dynamischen Verhaltensweisen offenbart. Den Abschluß bildet eine kritische Würdigung der neuen Ansätze aus dem Bereich der Theorie nichtlinearer Systeme. Durch eine Gegenüberstellung mit den im zweiten Kapitel gemachten Ausführungen soll der Versuch unternommen werden, zu klären, in welchen Bereichen die neuen Ansätze eine Verbesserung der wissenschaftlichen Beschreibung, Erklärung und Prognose erwarten lassen; es soll aber auch auf die Grenzen dieser neuen Methoden hingewiesen und vor allem vor einer Überinterpretation gewarnt werden.
1. Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen M i t dem ersten Teil dieser wissenschaftstheoretischen Vorbemerkungen wird zum einen der eigene wissenschaftliche Standpunkt dargelegt und zum anderen eine Begründung für den weiteren Aufbau der vorliegenden Arbeit gegeben. I m zweiten Teil werden die Folgen aus dem im ersten Teil allgemein skizzierten Forschungsprozeß für die Ökonomik aufgezeigt und das Problem der Wechselbeziehung zwischen Erkenntnisgewinnung und Wissensrepräsentation stärker herausgearbeitet.
1.1 Erkenntnisgewinnung und Wissensrepräsentation Die Wirtschaftswissenschaften werden im allgemeinen als eine empirische Wissenschaft angesehen, deren Forschungsobjekt die Ökonomie als ein Teil der "realen Welt" ist. Ziel jeder wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung ist es, Invarianzen in realen Phänomenen zu erkennen und zu beschreiben, nach Erklärungsmustern für reale Phänomene zu suchen und schließlich auf den gewonnenen Erkenntnissen aufbauend Prognosen zu erstellen. Erkenntnisziel und Objekt der ökonomischen Forschung weisen auf den ersten Blick große Ähnlichkeiten mit denen der Naturwissenschaften auf. Beide Fachdisziplinen versuchen, möglichst allgemeingültige Aussagensysteme bzw. Theorien über das jeweilige Erkenntnisobjekt aufzustellen. Trotzdem scheint es Unterschiede in der Methodik der Forschung zu geben. Die jeweils zur Anwendung kommende Methodik ist dabei sowohl vom Erkenntnisobjekt selbst als auch von den Erkenntnissubjekten, sprich Wissenschaftlern, abhängig. Da die Ökonomik von Wissenschaftlern geprägt wurde, deren wissenschaftlicher Hintergrund von den Rechtswissenschaften über die Ingenieurwissenschaften und Naturwissenschaften bis zu den Formalwissenschaften reicht, ist ein Methodenpluralismus, bedingt durch die Forschungssubjekte, nicht verwunderlich, ja muß wohl sogar erwartet werden (vgl. Weimann 1989, S.233; Tietzel 1982, S.308). Im folgenden sollen jedoch zunächst unabhängig davon allgemeinere Grundlagen der Erkenntnisgewinnung im Vordergrund stehen. In allen Wissenschaftsdisziplinen scheinen die Begriffe Sprache, Theorie, Modelle und Abstraktion eine wesentliche Rolle im Rahmen des Forschungs-
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1. Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen
prozesses zu spielen. Um wissenschaftliche Ergebnisse zu dokumentieren und zu diskutieren, bedarf es zunächst einer Sprache, in der die Ergebnisse als Theorien oder Modelle formuliert und repräsentiert werden. Da Theorien aber möglichst allgemeingültig sein sollen und Modelle immer nur ein Abbild der Realität sein können, benötigen wir für deren Erstellung die Abstraktion. Die Wechselbeziehungen zwischen diesen Begriffen innerhalb des Forschungsprozesses soll Gegenstand der folgenden Diskussion sein. So wie die Wissenschaft versucht jeder von uns in seinem Alltag Ordnungsprinzipien in der ihn umgebenden Welt zu finden, welche es ihm dann erleichtern, die Komplexität zu beherrschen und zielgerichtete Handlungen auszuführen. Dieses Wissen ist zunächst implizit und subjektiv, daß heißt nur "in unserem Kopf" vorhanden. Durch ständig neue Erfahrungen im Umgang mit der Umwelt ist dieses Wissen auch einem mehr oder weniger starken ständigen Wandel ausgesetzt. Das Erkennen ist dabei ein aktiver Prozeß, wie im folgenden Zitat von Janich zum Ausdruck kommt, das sich zwar auf die Naturerkenntnis bezieht, wohl aber auch für andere Erfahrungsbereiche Geltung hat: "Naturerkenntnis ist ein Machen von Erfahrung, das nun, handlungstheoretisch verstanden, als Erfolg oder Mißerfolg der Handlungen des Naturforschers erscheint. Damit gewinnt aber der Naturforscher, der sich selbst für seine Handlungen Zwecke setzt und an deren Erreichen oder Verfehlen seine Erfahrungen sammelt, eine aktive und konstruktive Rolle - im Unterschied zur passiven und rezeptiven Rolle des bloßen Naturbeobachters, dem sich (vermeintliche) Naturgesetze via Naturphänomenen aufdrängen" (Janich 1992, S.17). Aufgabe der Wissenschaftler ist es zudem, nicht nur implizite Erfahrungen zu machen, sondern dieses Wissen auch explizit darzustellen, denn nur so läßt sich der Anspruch erfüllen, daß wissenschaftliche Erkenntnisse für andere Personen nachvollziehbar sein sollen. Dieser Anspruch wird auch von Janich erhoben, wenn er wiederum in bezug auf die Naturwissenschaften schreibt: "Der Naturwissenschaftler als Handwerker und Techniker wäre aber noch kein Naturwissenschaftler und brächte außer dem Erwerb individueller Fertigkeiten im Umgang mit der Natur keine Erkenntnis hervor, wenn er seinen Handlungserfolg durch die rechte Mittelwahl nicht auch sprachlich wiedergeben könnte. Die Sprache, terminologisch und logisch zu Theorien geordnet, ist ein Mittel zur Kommunikation von Wissen. Sie dient der Lehre und dem Lernen erreichten Wissens, damit der Traditions- und Fortschrittsbildung der Naturerkenntnis. Außerdem dient sie dem Forscher zur Selbsterinnerung, zur Ordnung verfügbaren und zur Planung gesuchten Wissens. Auch hier zeigt sich schon auf den ersten Blick eine weitreichende Folge des kulturalistischen Verständnisses von Naturerkenntnis: Sprache dient nicht zur Beschreibung von etwas natürlich Vorhandenem, indem es dieses auf eine nicht zu klärende Weise abbildet, sondern sie dient zur Kommunikation zwischen Sprechern
1.1 Erkenntnisgewinnung und Wissensrepräsentation
13
und Hörern, zur Weitergabe von Aufforderungen, Fragen und Behauptungen und zum absichtsvoll durchgeführten, damit Gelingen und Mißlingen ausgesetzten Einteilen der Gegenstände der Welt. Da diese Welt aber nicht nur aus dem natürlichen Vorhandenen, sondern gerade für den Naturforscher - man denke an die modernen Laborwissenschaften - in weit größerem Maße aus technischem Gerät besteht, dient Sprache der Konstruktion der Gegenstände, über die gesprochen wird" (Janich 1992, S.17ff.). Das Zitat stellt zum einen die Bedeutung der Sprache im Erkenntnisprozeß zum Zweck der Kommunikation heraus, zum anderen weist es aber auch darauf hin, daß die Wirklichkeit von uns konstruiert wird, eine Einstellung, die wir auch bei anderen Autoren wie Stachowiak (1983), Watzlawick (1991), Schwegler (1992, S.31 f.) oder Hejl (1992, S.269) finden. Der Begriff Sprache sollte in diesem Zusammenhang jedoch nicht auf die "Umgangssprache" beschränkt werden, sondern alle Möglichkeiten der Kommunikation zwischen den Menschen einschließen. Hierzu gehören neben der gesprochenen Sprache unter anderem auch Skizzen, Zeichnungen, physische Modelle und formale Sprachen. Welche enge Verbindung zwischen Sprache und Erkenntnis besteht, zeigen unter anderem Entwicklungen in der Physik und Mathematik. Ungelöste Probleme der Physik gaben sowohl Anlaß für neue Forschungen in der Mathematik als auch umgekehrt. Verwiesen sei hierzu z.B. auf die Infinitesimalrechnung und die klassische Mechanik. Stachowiak (1983, S.123) berücksichtigt diese verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten durch die Unterscheidung von vier verschiedenen semantischen Stufen zur Darstellung von Wissen. Die erste Stufe ist durch interne semantische Modelle geprägt. Hierzu gehören zum einen Perzeptionsmodelle, mit denen wir unsere Außenwelt wahrnehmen, und zum anderen kogitative Modelle, die weiter unterteilt sind in Kombinationsmodelle, in denen gespeicherte und bedarfsweise abgerufene Perzeptionsmodelle zu Abbildern lediglich vorgestellter, insbesondere antizipierter künftiger Wirklichkeiten kombiniert werden, und innere Derivationsmodelle, die schließende, folgernde, ableitende Operationen "am Material der Erfahrung" darstellen. Modelle der zweiten semantischen Stufe sind z.B. sprech-sprachliche Gebilde, die Modelle der ersten Stufe zu Originalen haben. Auf der dritten semantischen Stufe lassen sich schrift-sprachliche Repräsentationen von Modellen der zweiten Stufe einordnen. Eine künstliche Wissenschafts-Sprache ist auf der vierten semantischen Stufe einzuordnen, und programmierte Computermodelle könnten die fünfte Stufe bilden. Stachowiak weist darauf hin, daß schon Wittgenstein eine "semantische Modelltheorie" entworfen hat, die hier kurz wiedergegeben werden soll: "Wittgenstein sieht in "der" Sprache eine Funktion der "Wirklichkeit" (1.2 "Die Welt zerfällt in Tatsachen"; 2.1 Wir machen uns Bilder der Tatsachen";
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1. Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen
2.12 "Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit"; 3. "Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke"; 3.1 "Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus"; 4.01 " ... Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken"; 5.6 "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt"): Die Wirklichkeitsstruktur wird durch die Sprachstruktur modelliert. Ein wahres Tatsachen-Bild gewinnen wir aus dem Aufbau eines zur Tatsache homomorphen "internen Modells" (der 1. semantischen Stufe) und dieses Tatsachenbild wieder ist Original eines narrativen, insbesondere deklarativen Satzmodells (der 2. oder einer höheren semantischen Stufe)" (Stachowiak 1983, S.125). Alle drei Autoren (Janich, Stachowiak und Wittgenstein) stellen die Bedeutung der Sprache als Kommunikations- und Repräsentationsmittel von Wissen heraus, wobei mit Sprache alle nur denkbaren Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen, die der Kommunikation dienen, gemeint sind. Das Vorhandensein verschiedener Ausdrucksformen oder Repräsentationsmöglichkeiten zeigt, daß es keine universelle Sprache gibt, mit der alle Gedanken gleichermaßen gut darstellbar sind. Erfahrungen aus verschiedenen Lebensbereichen verlangen nach unterschiedlichen Ausdrucksformen. Die Musik oder die Malerei sind ebenso eine Sprache wie etwa technische Zeichnungen oder die Mathematik. Alle genannten "Sprachen" dienen der interpersonellen Kommunikation, wobei allerdings die Semantik individuell verschieden sein kann. Daß die Darstellungsmöglichkeiten sehr unterschiedlich sind, wird einem immer wieder dann bewußt, wenn ein Sachverhalt von einer Sprache in die andere überführt werden soll. Eine in der Umgangssprache formulierte ökonomische Aussage läßt sich zum Beispiel nicht ohne Probleme in mathematische Gleichungen übersetzen. Besonders auffällig wurde diese Tatsache im Bereich der "Künstlichen Intelligenz", als man versuchte, "das Alltags wissen" (common sense) in Form von EDV-Programmen abzubilden. Da die Sprachen ein vom Menschen durch Interaktion geschaffenes Regelsystem sind, unterliegen sie auch einem stetigen Wandel. Die Begriffe einer Sprache werden vom einzelnen Individuum mit seiner eigenen Erfahrungswelt in Zusammenhang gebracht. Daß insbesondere die Umgangssprache ein evolutionäres System darstellt, zeigt die Tatsache, daß sich immer wieder neue Wörter entwickeln, die zuerst mit Hilfe schon eingeführter Begriffe erläutert werden. Auf diesem Weg verknüpft man bereits Bekanntes mit dem Neuen und verändert schrittweise eine Sprache. Ist der neue Begriff hinreichend bekannt, verzichtet man zusehends auf die Erklärung. Es entstehen aber nicht nur neue Begriffe, sondern es kann sich auch die Bedeutung alter Begriffe durch die sich wandelnde Umwelt und damit durch die veränderten Erfahrungen des Menschen verschieben. Dieses Vorgehen ist nicht auf die Umgangssprache beschränkt, auch in der wissenschaftlichen Diskussion werden neue Erkenntnisse immer im Verhältnis zu allgemein bekannten
1.1 Erkenntnisgewinnung und Wissensrepräsentation
15
Erkenntnissen gesehen. Auch werden immer wieder Analogien zwischen schon bekannten und neuen Theorien hergestellt, wie die entwickelten Vorstellungen über den Atomaufbau und die Analogien zum Planetensystem zeigen. Auch die von Heisenberg (1986, S.181) wiedergegebene Diskussion zwischen ihm und Bohr vermittelt einen Eindruck davon, welche Rolle die Sprache und der Rückgriff auf bekannte wissenschaftliche Vorstellungen auch in der Physik spielen. Schwegler kommt schließlich zu der Aussage: "Wenn wir nicht in gemeinsamem Handeln unsere Sprache normiert haben, wissen wir nicht, wovon wir reden. Was sich nicht in der geeichten Wissenschaftssprache darstellen läßt, gehört nicht zur Wissenschafts weit" (Schwegler 1992, S.31 f.). Welche Bedeutung diese Feststellung für die ökonomische Forschung hat, wird deutlich an einer Aussage von Dopfer zur Entwicklung einer zukünftigen Evolutionsökonomik: "Theorie ist auch Sprache, mit der Wissenschaftler Wirklichkeit repräsentieren und kommunizieren. Die Evolutionsökonomik leidet derzeit an einem Sprachdefizit, weil sie einerseits neue Wirklichkeitsausschnitte in das analytische Blickfeld rückt und neue Interpretationen bekannter ökonomischer Phänomene versucht, und andererseits, weil viele Begriffe, welche die Evolutionsökonomik zur sprachlichen Repräsentation und Kommunikation benötigt, von der konventionellen Ökonomie bereits besetzt und mit anderen Inhalten gefüllt sind" (Dopfer 1990, S.40). Zusammenfassend wird die Bedeutung der Sprache für den Erkenntnisprozeß in einem Zitat von Janich (1992, S.18) deutlich: "Wo Philosophen gerne von "Gegenstandskonstitution" sprechen, handelt es sich bei Bemühungen um Naturerkenntnis um eine handfeste Lösung des altehrwürdigen erkenntnistheoretischen Problems, wie Sprache, Theorie und Mathematik auf die Wirklichkeit passen können: Die Sprache wird zusammen mit der durch den Menschen selbst hergestellten Wirklichkeit gleichsam miterfunden. Die Sprache ist kein Naturgegenstand, sondern selbst ein Kulturprodukt und folgt in ihrer Entstehung einer prototypischen Zivilisationsleistung der Handwerker: Der Meister lehrt den Lehrling zugleich das Machen und das (fachspezifische) Reden." Nachdem die Bedeutung der Sprache innerhalb des Erkenntnisprozesses und bei der expliziten Darstellung von Wissen erörtert wurde, sollen nun die Begriffe Theorien und Modelle Gegenstand der weiteren Diskussion werden. Da zwischen beiden Begriffen eine enge Beziehung besteht, erscheint es sinnvoll, beide Begriffe gemeinsam zu behandeln. Unter Theorien versteht man möglichst allgemeingültige und in sich widerspruchsfreie Aussagen, die einen möglichst großen Geltungsbereich haben. I m Gegensatz zu den Naturwissenschaften tut sich die Ökonomik schwer, solche allgemeingültigen Aussagesysteme zu identifizieren. Wird in den Naturwissenschaften gefordert, daß Theorien zeit- und raumunabhängig sein
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1. Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen
müssen, können von Ökonomen und Sozialwissenschaftlern im günstigsten Fall Aussagensysteme aufgestellt werden, die auf bestimmte Epochen und Kulturkreise beschränkt sind (vgl. Brandes 1985, S.l 18). Gerade die Forderung nach Allgemeingültigkeit macht es aber schwer, einen Zusammenhang zwischen einem singulären empirischen Phänomen und einer Theorie herzustellen. Dieses wird auch von Witt (1980, S.19ff.) am Beispiel des sogenannten "Gesetzes von Angebot und Nachfrage" diskutiert, welches in der allgemeinen Form lautet: "Für alle Güter χ gilt: wenn die Marktüberschußnachfrage nach dem Gut χ positiv (negativ) ist, dann steigt (sinkt) der Preis von x". Bezüglich der empirischen Bewährung dieser sehr allgemeinen Aussage sollten keine allzu großen Erwartungen gehegt werden, da es nicht unwahrscheinlich ist, daß in einer empirischen Beobachtung zwar eine Änderung der Überschußnachfrage zu beobachten ist, aber dennoch keine Preisänderung festgestellt wird. Auch die Agrarökonomie kennt Ausnahmen wie zum Beispiel die inverse Angebotsreaktion. Allgemeine Wenn-DannAussagen, wie das obige Gesetz von Angebot und Nachfrage, sind also für sich alleine häufig nicht ausreichend, um ein reales, oft komplexes Phänomen zu erklären. Meist müssen weitere Bedingungen der jeweils aktuellen Situation erfaßt werden, was im allgemeinen nur möglich ist, indem man ein Modell des realen Phänomens erstellt, dessen Kern durch eine Reihe allgemein akzeptierter Gesetze oder Hypothesen repräsentiert wird. In einem solchen Fall sind die Theorien also Bestandteil von Modellen (vgl. auch Köhler 1975, Sp. 2708 f.). Müller und Ströbele sehen dagegen Modelle als Teile von Theorien, denen die folgenden Aufgaben zufallen: "Bereitstellung von "Werkzeugen" für das Denken; Analyse von Ansatzpunkten für politische steuernde Eingriffe; Bereitstellung von formalen Strukturen, die für ökonometrische Analysen geeignet sind, z.B. für Parameterschätzungen; Aufdeckung möglicher Inkonsistenzen aber auch neuer Hypothesen" (Müller und Ströbele 1985, S.17) Diese wenigen Ausführungen deuten schon an, daß Modellen eine Vielzahl von Funktionen zukommt. Wenn man den Modellbegriff in einer sehr weiten Bedeutung nimmt, ist das Modelldenken so alt wie die Menschheit. Der Aufsatz von Müller (1983) gibt hierzu einen umfassenden Überblick, und die Aufzählung von Harbordt (1974, S.66) zeigt noch einmal, wie mannigfaltig die Zwecke von Modellen auch in den Sozialwissenschaften sein können: "Beschreibung eines Systems; Gewinnung vertiefender Einsichten in Verhalten und Struktur des Systems; Ordnung und Zusammenhänge von empirischen und theoretischen Kenntnissen über einen Gegenstand; Explikation von Theorien und Untersuchungen ihrer Implikationen; Rekonstruktion eines Systemverhaltens, um es zu erklären oder zu prognostizieren; Entscheidungshilfe bei der Steuerung, Umgestaltung und Entwicklung von Systemen; Wissensvermittlung und Ausbildung". Generell läßt sich aber feststellen, daß
1.1 Erkenntnisgewinnung und Wissensrepräsentation
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mit dem Erstellen von Modellen zwei verschiedene Absichten verfolgt werden: Zum einen können Modelle als Abbild eines Originals und zum anderen als Vorbild für ein Original dienen. Werden Modelle zum Zwecke der Erkenntnisgewinnung eher eine Abbildfunktion einnehmen, so erfüllen sie in den Ingenieurwissenschaften bei der Konstruktion eher eine Vorbildfunktion. Die folgenden Ausführungen werden sich primär mit der Abbildungsfunktion von Modellen beschäftigen. Wie schon in den bisherigen Ausführungen angeklungen ist, sind Modelle in jeder Wissenschaft ein unerläßliches Werkzeug des Erkenntnisfortschritts. Sie sind zwar immer Modelle von etwas, das heißt sie sind mehr oder weniger anschauliche oder abstrakte, einfache oder komplizierte Abbildungen, Repräsentationen natürlicher oder künstlicher Originale, aber sie erfassen im allgemeinen nicht alle Originalattribute, sondern stets nur solche, die für die Modellbildner und/oder Modellverwender relevant sind. Damit stellt jedes Modell auch immer eine Abstraktion von seinem Original dar. Zudem weist Pittioni (1983, S.173) darauf hin, daß Modelle " ... nicht bloß Modelle von etwas (sind), sondern auch Modelle für jemanden, zu einer bestimmten Zeit und vor allem zur Verfolgung bestimmter Ziele und Zwecke." Mit der Modellbildung ist also eine Vereinfachung eines komplexeren Systems verbunden, was auf zweierlei Weise geschehen kann: Entweder greifen wir nur ein Teilsystem heraus, oder aber wir fassen bestimmte Elemente und Relationen zusammen, vermindern ihre Anzahl (vgl. Müller 1983, S.59). Auch hier treffen wir auf die Tatsache, daß die Formulierung eines Modells wiederum einer Sprache bedarf. Blicken wir in diesem Zusammenhang noch einmal auf die semantischen Stufen von Stachowiak zurück, dann wird deutlich, daß auf jeder Stufe ein neues Modell der vorhergehenden Stufe in einer anderen "Sprache" entsteht und daß die Übergänge zwischen den einzelnen Stufen zumeist von mehr oder weniger starken Abstraktionen begleitet sind. Die Abb. 1.1 veranschaulicht die Vorgehensweise, wobei die sich nach unten verjüngenden Linien andeuten sollen, daß immer stärker abstrahiert wird. Bei der Modellbildung müssen nicht alle Stufen durchlaufen werden, denkbar ist auch, daß ein Modell zum Beispiel gleich in einer formalen Darstellung repräsentiert wird. Bisher wurde lediglich davon gesprochen, daß Modelle durch Abstraktion entstehen, ohne der Frage nachzugehen, nach welchen Kriterien entschieden wird, was wesentliche und unwesentliche Bestandteile der Realität sind. Hier kommen nun wieder die heuristischen Leitideen, die Arbeitshypothesen und unsere impliziten Modelle ins Spiel, da sie eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung unserer Umwelt spielen. Theorien und Hypothesen sowie ein Vorverständnis von Begriffen und Beschreibungsmöglichkeiten bewahren uns davor, daß die Empirie nicht zu einem puren Datensammeln wird, was dem 2 Lentz
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1. Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen
Abb. 1.1: Prozeß der Abstraktion
Menschen im allgemeinen aufgrund der Masse an beobachtbaren Daten und seiner beschränkten Informationsverarbeitung auch gar nicht möglich ist. Gleichzeitig heißt das aber auch, daß unsere Beobachtungen von Vor-Urteilen geprägt sind. Jede empirische wissenschaftliche Arbeit baut also auf bereits bekannten oder vermuteten Hypothesen und Theorien auf, wodurch ein konzeptionelles Vorverständnis zur Selektion der wesentlichen Daten und Zusammenhänge geschaffen wird. Dieses Vorverständnis ist individuell ausgeprägt, zum einen beeinflußt von der "herrschenden Lehre" bzw. dem Corpus bewährter Theorien einer Fachdisziplin (Tietzel 1982, S.317) und zum anderen vom individuellen Wissensstand und den individuellen Erfahrungen des jeweiligen Wissenschaftlers (vgl. Witt 1980, S.37). Damit betrachten wir die Welt von einem individuellen Standpunkt aus bzw. durch eine individuelle Brille, wobei einmal bewährte und allgemein anerkannte Erklärungsmuster möglichst beibehalten werden. Aber nicht nur heuristische Leitvorstellungen prägen die Abstraktion, sondern auch die Beschreibungsmöglichkeiten einer Sprache zur Repräsentation des Wissens. Obwohl im Erkenntnisprozeß zunächst die Bedeutung
1.1 Erkenntnisgewinnung und Wissensrepräsentation
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einzelner Elemente und Beziehungen des realen Phänomens erkannt werden, werden diese aufgrund der Unzulänglichkeit der verwendeten Darstellungstechnik bzw. Sprache oder zur Vermeidung analytischer Schwierigkeiten bei der weiteren Analyse des Modells gelegentlich fallengelassen. Erinnert sei darum noch einmal an den Satz: "Die Grenze meiner Sprache bedeutet die Grenze meiner Welt" (L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 5.6). Schnabl (1985, S.453) weist in diesem Zusammenhang auch auf den Methodenstreit zwischen der Historischen und der Theoretischen Schule um die Jahrhundertwende hin, in dem an die Adresse der Neoklassiker der Vorwurf erhoben wurde, man wähle für die Modelle genau jene Prämissen, die man brauche, um ihre "Lösbarkeit" zu sichern. Diese Abhängigkeit zwischen der Abbildung realer Phänomene und der zur Wissensrepräsentation verwendeten Sprache ist Gegenstand einer weiteren Diskussion im nächsten Kapitel, wo es um die Dominanz der "klassischen Mechanik" in der ökonomischen Theorie geht. Wirkt schon die Abstraktion selektiv und führt zu einer Konzentration auf wenige Aspekte der realen Phänomene, stellt die Idealisierung einen noch stärkeren Eingriff dar, indem nämlich bewußt Abweichungen von den relevanten empirischen Sachverhalten hingenommen werden. Immer dann, wenn reale Phänomene trotz Abstraktion von unwesentlichen Aspekten noch eine hohe Komplexität aufweisen, die eine weitergehende Analyse vielleicht nahezu unmöglich macht, wird häufig von der Idealisierung Gebrauch gemacht. "Zweck der idealisierten Erklärung ist also die Vereinfachung des Erklärungsarguments, der Versuch, den verfügbaren und handhabbaren Wissensstand zu Erklärungen heranzuziehen (...) in der Hoffnung und Erwartung, daß die Abweichungen der idealisierten von einer adäquaten Erklärung nicht zu groß ist" (Tietzel 1986, S.317). Beispiele für Idealisierungen sind in der Ökonomik z.B. die Annahme vollkommener Märkte, in denen alle Teilnehmer vollständig informiert sind und unabhängig voneinander Entscheidungen treffen. Aber auch die Naturwissenschaften kennen diese Idealisierung, wenn wir an Begriffe wie "ideale Gase", "vollkommenes Vakuum", "ideales Pendel" oder "Reibungsfreiheit" denken (vgl. Meyer 1980, S.100 f.). Der Abstraktion und Idealisierung von Theorien steht in den Realwissenschaften die empirische Bewährung oder Prüfung gegenüber, wobei Theorien prinzipiell zwei verschiedenen Prüfungen unterzogen werden können. Die erste bezieht sich auf die logische Konsistenz der einzelnen Aussagen, die eine Theorie bilden. Diese interne Prüfung ist auch die einzig maßgebliche für Theorien in den Formalwissenschaften; es dürfen keine Widersprüche innerhalb eines Aussagensystems auftreten. Natürlich gilt dieses auch für Theorien in den Realwissenschaften, und dieser erste Test kann praktisch "am Schreibtisch" erfolgen. Die zweite in den Realwissenschaften geforderte Prüfung besteht im Vergleich der von ihr behaupteten mit den tatsächlich vorgefun2*
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1. Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen
denen empirischen Sachverhalten, die nur eingeschränkt für idealisierte Theorien gelten kann, da in einem solchen Fall "der Erklärende weiß, daß diese Bedingungen von keinem Gegenstand des Universums erfüllt werden, also immer falsch sind" (Tietzel 1986, S.317; Raffée 1974, S.22). Hinsichtlich der empirischen Prüfung von Theorien gehört das Experiment sicher zu den bevorzugten Prüfungsmöglichkeiten "und hat damit als eine kritische Strategie unter anderen zu gelten" (Tietzel 1982, S.296). Wird in den Naturwissenschaften häufig danach gestrebt, den Abstraktionen und Idealisierungen einer Theorie durch einen entsprechenden Versuchsaufbau möglichst nahe zu kommen und damit die Theorie unter "Laborbedingungen" an empirischen Resultaten zu testen, ist dieser Weg den Ökonomen in vielen Fällen versperrt (vgl. Tietzel 1982). Kennzeichnend für ein Experiment sind nach Tietzel (1982, S.297) die Möglichkeit des aktiven Eingreifens, also der Manipulation von Geschehensabläufen, und die Kontrolle gewisser abhängiger und unabhängiger Variablen sowie der Umwelt des Experiments. Die Manipulation im Experiment besteht in der Variation bestimmter unabhängiger Variablen, die Kontrolle in der Messung dieser Variation, ihres Einflusses auf vermutete abhängige Variablen und in gewissen Vorkehrungen, die es ermöglichen sollen, Änderungen der abhängigen Variablen den Variationen der unabhängigen Variablen zuzurechnen. Das strenge Experiment als kritische empirische Prüfung ist ein Kennzeichen vor allem der klassischen Physik, an der sich viele Wissenschaften methodisch orientiert haben. Der Erfolg einer experimentellen Prüfung hängt aber nicht nur von den Möglichkeiten zur Schaffung von "Laboratoriumsbedingungen" ab, sondern auch von der Art der Hypothese. Die "quantitative Totalhypothese" erfaßt explizit alle unabhängigen Variablen, die eine abhängige Variable beeinflussen, und gibt den jeweiligen Zusammenhang durch metrische Skalierung an. Demgegenüber steht die "qualitative Partialhypothese", die die Wirkung einer oder einiger (jedenfalls nicht aller) unabhängiger Variablen auf eine abhängige Variable in nominaler Skalierung darstellt (vgl. Grossekettler 1977, S.9). Weist die erste Art von Hypothese noch einen hohen Grad der Prüfbarkeit auf, ist die Interpretation der Ergebnisse von experimentellen Überprüfungen qualitativer Partialhypothesen recht mühevoll. "Qualitative Partialhypothesen" dürften aber die Regel bei der Erklärung ökonomischer Phänomene sein, da diese in der Mehrzahl der Fälle das Ergebnis komplexer und offener Systeme sind. Aber auch Naturwissenschaften wie die Biologie oder nahestehende Disziplinen wie die Pflanzenbau- oder Tierwissenschaften haben sich mit offenen komplexen Systemen auseinanderzusetzen. Für die Suche nach den Ursachen von empirischen Phänomenen, die das Resultat komplexer und womöglich nichtlinearer Strukturen sind, ist die klassische Forschungs-
1.1 Erkenntnisgewinnung und Wissensrepräsentation
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strategie weniger gut geeignet. Das reale Objekt läßt sich aufgrund mannigfaltiger Verknüpfungen nicht in seine Einzelteile zerlegen und isoliert analysieren. Das empirische Phänomen resultiert zudem aus dem ganzen System, was mehr ist als die Summe seiner Teile, nämlich Resultat einer Vielzahl von Wechselwirkungen. Jantsch (1992, S.331) spricht in diesem Zusammenhang davon, daß sich in einem System eine makroskopische Ordnung manifestiert, die sich nicht direkt aus den im System ablaufenden mikroskopischen Wechselwirkungen und Prozessen herleiten läßt. Weiterhin haben komplexe nichtlineare Systeme ein größeres Spektrum an Verhaltensmöglichkeiten, wie noch zu zeigen sein wird. Durch die bloße Beobachtung eines komplexen Systems wird aber nur ein kleiner Ausschnitt des Systemverhaltens sichtbar, quasi nur die Reaktionsoberfläche für einen engen Variationsbereich der Umweltkonstellationen. Auf die darunter liegende Struktur muß aus diesen wenigen Beobachtungen geschlossen werden, was nahezu unmöglich ist, da das Systemverhalten meist durch eine Reihe von Modell-Systemen mit unterschiedlicher struktureller Ausprägung generierbar ist. M i t einer vagen Vorstellung von der Struktur des Systems lassen sich aber allenfalls Prognosen erstellen, wie sich das reale System bei ähnlichen Umweltkonstellationen verhält, nicht aber bei stark veränderten. Diese Problematik ist den Ökonomen und vor allem Ökonometrikern wohl bekannt. So sind Prognosen eigentlich nur dann zulässig, wenn man von einer Umwelt ausgehen kann, die sich in der Zukunft ähnlich verhält wie in der Vergangenheit. Bei politisch bedingten Änderungen, seien es sprunghafte Energiepreiserhöhungen wie vor einem Jahrzehnt oder noch extremere politische Umbrüche wie in der jüngsten Vergangenheit, spricht man von Strukturbrüchen in den Zeitreihen, die keine gesicherten Prognosen mehr zulassen. In der Realität läßt sich aber trotzdem feststellen, daß eine Reihe der betroffenen Unternehmen oder Sektoren sich auch an die schockartig veränderten Rahmenbedingungen anpassen können, und diese Anpassung muß letztendlich das Resultat des gesamten betrachteten ökonomischen Systems sein. Damit kann nur ein Teil der Realität in den Prognosemodellen abgebildet sein. Bei der Beschreibung komplexer Realitätsausschnitte bleibt der Wissenschaft also meist nur die Verknüpfung verschiedener Annahmen, Hypothesen und Quasitheorien zu Modellen, deren Implikationen mit den empirischen Beobachtungen zu vergleichen sind. Je mehr Annahmen und Hypothesen aber in ein Modell einfließen, um so schwieriger wird es, die Ursachen für die Abweichungen zwischen Modell und Realität zu ermitteln. Es muß noch nicht einmal sein, daß das Modell mit den geringsten Abweichungen auch der Wahrheit am nächsten kommt. Vielmehr lassen sich eine Menge verschiedener Modelle konstruieren, die für sich genommen alle plausible, aber
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1. Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen
unterschiedliche Annahmen enthalten und die empirischen Beobachtungen damit auf unterschiedliche Art und Weise erklären (vgl. Brandes 1985, S.63; Witt 1980, S.24). Als Beispiel sei nur auf die unterschiedlichen Ansätze von Autoregressionsmodellen und ökonometrisch geschätzten Strukturmodellen hingewiesen. Die Ursache für dieses Problem liegt in der Tatsache begründet, daß das Verhältnis zwischen Verhalten und Struktur nicht eindeutig ist. Ein bestimmtes Verhalten kann häufig durch eine ganze Klasse von unterschiedlichen Strukturen erzeugt werden (vgl. Harbordt 1974, S.49). Wenn man aber aus dem Verhalten nicht auf die Struktur schließen kann, dann sind auch Modellextrapolationen nur beschränkt aussagefähig, da man nicht weiß, wie sich das reale System bei diesen noch nicht beobachteten Datenkonstellationen verhält. Die Schwierigkeiten, die durch den nicht eindeutigen Zusammenhang zwischen beobachtbarem Verhalten und zugrundeliegender Struktur entstehen, verdeutlicht ein Beispiel von von Hayek: "Wie wenig jedoch die Statistik selbst in solchen Fällen zur Erklärung komplexer Phänomene beisteuern kann, wird deutlich, wenn wir uns vorstellen, Computer wären natürliche Gegenstände, die wir in genügend großer Zahl vorfänden und deren Verhalten wir voraussagen wollten. Es ist klar, daß wir hierbei erst Erfolg hätten, wenn wir das in die Computer eingebaute mathematische Wissen besäßen, d.h. wenn wir die ihre Struktur determinierende Theorie kennen würden. Keine Menge statistischer Informationen über die Korrelation zwischen input und output würde uns unserem Ziel näher bringen. Die Anstrengungen, die gegenwärtig in großem Umfang zur Aufdeckung jener viel komplexeren Strukturen gemacht werden, die wir Organismen nennen, sind jedoch vielfach von der gleichen Art. Der Glaube, es müsse auf diese Weise möglich sein, durch Beobachtung Regelmäßigkeiten in den Beziehungen zwischen input und output zu entdecken, ohne im Besitz einer angemessenen Theorie zu sein, scheint hier noch zweckloser und naiver, als er es im Beispiel der Computer wäre" (von Hayek 1972, S.20).
Der Zweck des Entwurfs von Modellen mit gesetzmäßigen Verknüpfungen und ihren Bedingungen ist damit, gewissermaßen zu beschreiben, "wie es sein könnte" (Witt 1980, S.25). Die Implikationen dieser Modelle werden im allgemeinen vor einem aufwendigen empirischen Test auf Plausibilität bzw. logische Konsistenz geprüft und mit alternativen Modellentwürfen verglichen. Insbesondere dann, wenn der Komplexitätsgrad von Erklärungsansätzen so hoch ist, daß die logischen Implikationen der gemachten Annahmen nur noch schwer zu überschauen sind, bieten sich mit Modellanalysen Möglichkeiten zu einem quasi erweiterten Gedankenexperiment, dessen Aufgabe es ist,. Vorstellungen darüber zu entwickeln, welche Faktoren in gesetzmäßiger Weise zusammenwirken und Phänomene wie das zu erklärende hervorbringen könnten. Mit den vorangegangenen Ausführungen wurde versucht zu zeigen, daß der Erkenntnisprozeß einer Reihe von Restriktionen unterliegt. Die zum wissenschaftlichen Erfahrungsaustausch benötigte "Sprache" stellt zumeist eine Beschränkung der Ausdrucksmöglichkeiten dar, die Beobachtungen realer Phänomene sind geprägt durch Vor-Urteile und selektive Wahrnehmung, die wiederum durch heuristische Leitvorstellungen und Ideen hervorgerufen
1.2 Die 'klassische Mechanik' als wissenschaftliche Leitidee
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werden, und die Forschungsobjekte der Ökonomik sind zudem meist komplexer Natur, so daß monokausale Erklärungsansätze nicht ausreichen, komplexe Ansätze aber meist nicht empirisch validierbar sind und damit "begründete" Spekulationen bleiben. I m Vorwort eines Sammelbandes faßt Stachowiak (1983) eine Reihe von Aufsätzen zum Modelldenken wie folgt zusammen: "Sie (die Aufsätze, W.L.) sind miteinander durch eine pragmatische Sichtweise verknüpft: Es wird nie außer acht gelassen, daß Modelle an ihre Erschaffer und Verwender, an Zeitspannen ihres Aufbaues und ihrer Originalrepräsentation sowie an Verwendungszwecke gebunden sind. Als Erkenntnisgebilde repräsentieren Modelle dabei stets "konstruierte Wirklichkeit". Dies wird am deutlichsten, wenn sie auf künftig Wirkliches, noch Herzustellendes, entworfen werden. Aber auch die uns unmittelbar oder aus der erlebten Vergangenheit "gegebenen" intelligiblen sowie ebenso die der unmittelbaren äußeren Anschauung zugänglichen "Entitäten" werden, indem wir sie immer nur modellbildend zu erfassen vermögen, wesentlich zu Konstrukten. Es ist die Frage, ob wir je aus dieser Modell weit entlassen, sie je transzendieren können."
1.2 Die 'klassische Mechanik' als wissenschaftliche Leitidee Die Entwicklung der klassischen Mechanik ist eng verknüpft mit den Namen Johannes Kepler (1571-1639), Galileo Galilei (1564-1642), René Descartes (1596-1642), Isaac Newton (1643-1727) und Pierre Laplace (17491827). Um den großen Einfluß der klassischen Mechanik sowohl auf die Wissenschaft als auch auf das allgemeine Leben zu verstehen, scheint ein kurzer historischer Abriß an dieser Stelle angebracht. I m Jahre 1543 veröffentlichte Kopernikus seine Theorie von einem heliozentrischen Planetensystem, wodurch der Mensch seine Überzeugung verliert, von Gott in den Mittelpunkt der Welt gestellt zu sein (Stachowiak 1983, S.93). Doch erst Kepler gelingt es zu Beginn des 17. Jahrhunderts, eine Theorie zu entwickeln, die eine vollständige Berechnung der Planetenbahnen ermöglicht. Wollte Kepler durch sein Forschen noch die Harmonie der von Gott geschaffenen Welt erkennen, begründete Galilei eine neue und erfolgreiche Einstellung des forschenden Menschen zur Natur. Ihm wird vor allem das experimentelle Vorgehen zugeschrieben, bei dem Probleme isoliert, Experimente geplant, Versuchsergebnisse verallgemeinert und Einzelerkenntnisse zu größeren Einheiten vereinigt werden (Stachowiak 1983, S.94). Dadurch gelang es ihm, die ersten Grundlagen für die Mechanik zu legen. "Er unterschied deutlich zwischen Geschwindigkeit und Beschleunigung und stellte die Behauptung auf, daß sich Objekte im freien Fall mit einer konstanten Beschleunigung bewegen, die unabhängig von ihrem Gewicht ist, wobei
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1. Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen
der zurückgelegte Weg dem Quadrat der Fallzeit proportional ist" (Chalmers 1989, S.74). Diese neue Naturwissenschaft führte zu einem schweren Konflikt zwischen Galilei und der römischen Kirche, die in Sorge war, daß die neue Naturwissenschaft zu einem Instrument der Gottlosigkeit werden könne (Harbeck et al. 1973, S.132). Descartes hat dieses Vorgehen verfeinert und in seiner Abhandlung über die Methode zum richtigen Vernunftgebrauch folgende, noch heute im allgemeinen befolgte Anweisung zum forschenden Handeln gegeben: "Wenn ein Problem zu komplex ist, als daß du es auf einmal lösen kannst, so zerlege es in so viele Unterprobleme, die dann entsprechend so klein sind, daß du jedes dieser Unterprobleme für sich lösen kannst" (zit. in Cramer 1989, S.26).
Newton nutzte die Werke von Galilei, Kepler und anderen, um eine umfassende Mechanik zu entwickeln, wie er sie in seiner Philosophiae naturalis principia mathematica 1687 veröffentlichte. Er entdeckte ein Konzept der Kraft als eine Ursache von Beschleunigung, ein lineares Trägheitsgesetz, nach dem Körper sich in geradförmigen und gleichförmigen Bewegungen fortbewegen, und die Gravitationstheorie (Chalmers 1989, S.76). Damit konnten Keplers Gesetz der Planetenbewegung und Gallileis Gesetz des freien Falls erklärt werden. Aber noch wichtiger war wohl, daß mit Newtons System sowohl die Planetenbewegungen als auch die Bewegung irdischer Körper gemeinsam erklärt werden konnten. Ihren Höhepunkt im wissenschaftlichen Bereich fand die klassische Mechanik in der Astronomie, als 1843 die Königliche Akademie der Wissenschaften von Göttingen einen Preis für eine befriedigende Theorie der Bewegung des Uranus ausschrieb. Dieser Planet war zwar schon 1781 entdeckt worden, die Beobachtungen seiner Umlaufbahn stimmten aber nicht mit der aus den Gravitationskräften berechneten Bahn überein, und so vermutete man, daß ein weiterer Planet vorhanden sein mußte, der den Uranus in seinen Bewegungen beeinflußt. Joseph Leverrier berechnete daraufhin die Position dieses 'anonymen Planeten', und John G. Galle konnte 1846 am Berliner Observatorium erstmals den Planeten Neptun mit einem Grad Abweichung von der berechneten Position beobachten (Rapoport 1980, S.21). Diese Erfolge der klassischen Mechanik machen den Optimismus verständlich, der hinsichtlich der Berechenbarkeit der Welt in allen Bereichen der Wissenschaft gehegt wurde, was besonders deutlich in dem oft angeführten Zitat von Laplace zum Ausdruck kommt: "Der momentane Zustand des 'Systems' Natur ist offensichtlich eine Folge dessen, was er im vorherigen Moment war, und wenn wir uns eine Intelligenz vorstellen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt alle Beziehungen zwischen den Teilen des Universums verarbeiten kann, so könnte sie Orte, Bewegungen und allgemeine Beziehungen zwischen all diesen Teilen für alle Zeitpunkte in Vergangenheit und Zukunft vorhersagen.
1.2 Die 'klassische Mechanik' als wissenschaftliche Leitidee
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Die Astrophysik, der Teil unseres Wissens, der dem menschlichen Geist zur größten Ehre gereicht, gibt uns eine wenn auch unvollständige Vorstellung, wie diese Intelligenz beschaffen sein müßte. Die Einfachheit der Gesetze, nach denen sich die Himmelskörper bewegen, und die Beziehung zwischen ihren Massen und Abständen erlauben der Analysis, ihren Bewegungen bis zu einem gewissen Punkt zu folgen; und um nun den Zustand dieses Systems großer Massen für zukünftige oder vergangene Jahrhunderte zu bestimmen, genügt es dem Mathematiker, daß ihre Orte und Geschwindigkeiten zu einem Zeitpunkt durch Beobachtung gegeben sind: Die Menschheit verdankt diese Möglichkeit den leistungsfähigen Instrumenten, die sie benutzt, und den wenigen Beziehungen, die man zur Berechnung braucht. Aber unser Unwissen um die verschiedenen Ursachen, die beim Werden eines Ereignisses zusammenwirken, sowie ihre Komplexität zusammen mit der Unvollkommenheit der Analyse verhindern, daß wir die gleiche Sicherheit bei den meisten anderen Problemen haben. Es gibt also Dinge, die unbestimmt sind, die mehr oder weniger wahrscheinlich sind, und wir versuchen die Unmöglichkeit, sie zu bestimmen, dadurch zu kompensieren, daß wir die verschiedenen Grade der Wahrscheinlichkeiten bestimmen. Es ist also so, daß wir einer Schwäche des menschlichen Geistes eine der schönsten und genialsten mathematischen Theorien verdanken, die Wissenschaft von Zufall und Wahrscheinlichkeit" (Laplace 1776, zit. in Spektrum der Wissenschaft, Chaos und Fraktale, 1989, S.10)
Die Prinzipien der klassischen Mechanik fanden aufgrund ihres großen Erfolges, aber auch wegen ihrer Anschaulichkeit, Eingang in die verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen. So schrieb Thomson 1847 eine Abhandlung "Über die mechanische Darstellung der elektrischen, magnetischen und galvanischen Kräfte" und bei William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs standen hydraulische Vorstellungen Pate (Müller 1983, S.41). Die Verbreitung eines "mechanistischen Weltbildes" ist vor allem aber wohl durch die technische Nutzung der "klassischen Mechanik" zu erklären. Über neu gegründete Schulen "... vollzog sich der Einzug der Wissenschaft in die Gesellschaft und ihre Anerkennung als führende geistige Macht. Nicht zuletzt die in diesem Zusammenhang zu sehende wissenschaftliche Konstruktion und Verbreitung von Schiffschronometern sowie optischen Instrumenten in eins mit der erfolgreichen Lösung der Hauptprobleme der Mechanik und Astronomie wurde zur technischen Grundbedingung der industriellen Revolution. Ihre volle Gewalt erhielt diese letztere jedoch erst durch die Einführung der verbesserten Dampfmaschine, der ersten auf wissenschaftlichen Grundlagen aufgebauten Maschine.... ... Auf dem Hintergrund einer von der Wirtschaft usurpierten Technik wurde die Wissenschaft indes zur Weltmacht, die Welt zur "Wissenschaftswelt". Die "christlichen Virtuosen" des 17. Jahrhunderts hatten ausgespielt. Aus Gelehrten wurden Forscher, aus Entdeckern Erfinder, aus der Wissenschaft ein Geschäft und aus dem göttlichen Heilsplan ein rationaler Zukunftsplan" (Müller 1983, S.37). "Auf der Welle der Erfolge dieses Denkens entwickelte sich der Materialismus des 19. Jahrhunderts. Alles Geschehen in der Welt ist den mechanischen Gesetzen unterworfen, auch das seelisch-geistige ist nur eine Verfeinerung des materiellen (Mechanistisches Weltbild). Für die Materialisten ist die Willensfreiheit nicht mehr gegeben, sie ist eine Selbsttäuschung. Alles Geschehen in der Natur und im Menschen ist wie der Ablauf einer großen Maschine ("L'homme, la machine"), die eine bestimmte Bewegung ausführt, wenn sie einmal aufgezogen worden ist" (Harbeck 1973, S.134).
In einer solchen wissenschaftlichen Atmosphäre ist es nicht verwunderlich, daß die ersten Gedanken der "klassischen Mechanik" schon im 17. Jahrhundert Eingang in die Ökonomik fanden. Spiegel schreibt dazu:
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1. Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen "The connection between the use of quantitative methods in economics and the philosophical tendencies of the time is a more complicated matter. Many great thinkers of the age were great mathematicians. In the seventeenth century Newton and Leibniz discovered differential calculus and Descartes fathered analytical geometry with its system of coordinates and curves that stand for equations and whose intersection indicates the common "solution" of the latter. Another two hundred years, however, were to pass before techniques such as these came to find a place in economics, long after they had proved their value in natural science. What the economic thought of the seventeenth century absorbed was not so much technical mathematics as the mechanistic philosophy of the great thinkers of the time, and, connected therewith, the concept that many if not all things lend themselves to measurement" (Spiegel 1983, S.121).
I m 18. Jahrhundert übertrugen die Physiokraten mit Quesnay und Turgot naturwissenschaftliches Denken auf ökonomische Fragestellungen. Auch hier sei noch einmal Spiegel angeführt, der schreibt: "That such borrowings from physics were more than an occasional turn of thought and that Turgot took mechanical analogies seriously may be demonstrated by a passage from his Eulogy on Gournay, where he speaks of "the unique and simple laws, founded on nature itself, in consequence of which all values that exist in trade are held in balance and settle themselves at determinate values, just as the bodies given over to their weight arrange themselves in the order of their specific gravity" (Spiegel 1983, S.196 f.).
Diese Selbstregulierung des Marktes wurde auch von Adam Smith hervorgehoben, zu anderen ökonomischen Fragen gab es dagegen große Differenzen zwischen den Physiokraten und Smith. Beschränkten sich die Klassiker der Ökonomen noch auf die Bildung von anschaulichen Analogien zwischen der Mechanik und der Ökonomik, findet man eine Formalisierung dieser Gedanken erst bei den Vertretern der ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Neoklassik. Forciert wurde dies sicher durch die Tatsache, daß eine Reihe der prominentesten Vertreter zuvor eine technisch-naturwissenschaftliche Ausbildung durchliefen. So studierte Jevons Naturwissenschaften, und Pareto war als Eisenbahningenieur tätig, bevor er sich mit der Ökonomie beschäftigte. Als Vorläufer der Neoklassik wird Gossen angesehen, und ein Zitat aus der Einleitung seines 1854 veröffentlichten Buches mag zeigen, wie stark die Gedanken der "klassischen Mechanik" das ökonomische Denken bereits prägten: "Was einem Kopernikus zur Erklärung des Zusammenseins der Welten im Raum zu leisten gelang, das glaube ich für die Erklärung des Zusammenseins der Menschen auf der Erdoberfläche zu leisten. Ich glaube, daß es mir gelungen ist, die Kraft, und in großen Umrissen das Gesetz ihrer Wirksamkeit zu entdecken, welche das Zusammensein der Menschen möglich macht, und die Fortbildung des Menschengeschlechtes unaufhaltsam bewirkt. Und wie die Entdeckungen jenes Mannes es möglich machten, die Bahnen der Weltkörper auf unbeschränkte Zeit zu bestimmen; so glaube ich mich durch meine Entdeckungen in den Stand gesetzt, dem Menschen mit untrüglicher Sicherheit die Bahn zu bezeichnen, die er zu wandeln hat, um seinen Lebenszweck in vollkommenster Weise zu erreichen. Ob ich mich in diesem Glauben nicht getäuscht habe, wird sich dadurch zeigen, ob meine Ausführungen, wie jene Entdeckungen des Kopernikus, auch die Kraft besitzen, andere Menschen von ihrer Richtigkeit zu überzeugen. Möge es dann, wenn sie sich hierdurch bewährt haben, bald einem Kepler, einem Newton gelingen, die Gesetze der Wirksamkeit jener die Menschheit bewegenden Kraft näher zu präcisieren" (Gossen 1954, S.V, zitiert in Reiß 1990, S.178)
1.2 Die 'klassische Mechanik' als wissenschaftliche Leitidee
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Reiß (1990, S.187) merkt dazu an, daß Gossen als erster mathematische Formeln und Kurven in seinem Buch verwendete. Diese Art der Darstellung machte das Buch für die meisten Leser aber unverständlich, so daß es keine Beachtung fand und der enttäuschte Gossen den größten Teil der Bücher vor seinem Tode 1858 einstampfen ließ. Der Beginn der Neoklassik wird mit den Namen Jevons, Walras, Edgeworth, Fisher und Pareto in Verbindung gebracht, denen das Verdienst zukommt, die mathematische Analyse erfolgreich in die ökonomische Theorie eingeführt und verschiedene Bereiche der Ökonomik vereint zu haben (Mirowski 1984, S.362). Sind einige Autoren der Meinung, der Übergang von der Klassik zur Neoklassik sei nahezu fließend erfolgt (vgl. Spiegel 1983, S.506; Blaug 1978, S.322), so vertritt Mirowski die Auffassung, daß es sich tatsächlich um eine "Revolution" handelte: "Classical economists made reference to the Newtonian analogy in non-essential contexts ...; but they could not reconcile the inverse square law, the calculus of fluxions and other Newtonian techniques with their overall conception of social processes. The rise of energetics in physical theory induced the invention of neoclassical economic theory, by providing the metaphor, the mathematical techniques, and the new attitudes toward theory construction. Neoclassical economic theory was appropriated wholesale from mid-nineteenth century physics; utility was redefined so as to be identical with energy" (Mirowski 1983, S.366). Insbesondere die Lausanner Schule, geprägt durch die Vorstellungen von Walras, wirkte prägend auf den weiteren Verlauf des formalen ökonomischen Denkens. Der Schwerpunkt der Forschung verlagerte sich von der politischen Ökonomik auf mikroökonomische Fragestellungen, von Wachstumsfragen (z.B. Maltus) auf die optimale Nutzung gegebener Ressourcen. Wurde bisher die Funktion einzelner Märkte beschrieben, stand jetzt die Frage nach den Interdependenzen zwischen verschiedenen Märkten zur Diskussion, und die Allgemeine Gleichgewichtstheorie wurde geboren. Daß die Methoden der "klassischen Mechanik" dabei Pate standen, belegt Mirowski (1983) mit einer Reihe von Textstellen in seinem Aufsatz. Hier sei als Beleg nur ein Zitat von Fisher angeführt: "Kaum ein wirtschaftlicher Autor vergißt es, Vergleiche zwischen der Nationalökonomik und der Mechanik herzustellen. Man spricht von "groben Ähnlichkeiten" zwischen dem Spiel "ökonomischer Kräfte" und dem mechanischen Gleichgewicht. ... In der Tat leiht sich der Ökonom einen Großteil seines Vokabulars bei der Mechanik aus. Beispiele sind: Gleichgewicht, Stabilität, Elastizität, Ausdehnung, Inflation, Kontraktion, Strom, Abfluß, Kraft, Druck, Widerstand, Reaktion, (Preis)-verteilung, Niveau, Bewegung, Reibung" (Fisher 1961, S.25; Übersetzt von Lorenz 1991, S.15).
Seitdem ist die ökonomische Forschung, wie viele andere Wissenschaften auch, durch das mechanistische und monokausale Denken der klassischen Mechanik geprägt worden. Die Vorstellung der sich ausgleichenden Kräfte und das Streben eines Systems nach einem Gleichgewichtszustand ist ein
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1. Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen
wesentliches Kennzeichen der traditionellen neoklassischen Theorie, die wiederum durch Maximierungsverhalten, vollständiges Wissen, Unabhängigkeit der Entscheidungen und perfekte Märkte charakterisiert ist. Nach Dopfer fanden insbesondere drei fundamentale Annahmen der klassischen Mechanik Eingang in die Ökonomik, deren Wurzeln bis zu Descartes zurückreichen: "1. A mechanical whole can be decomposed into its parts without destroying that whole. The parts can be analyzed separately and the whole recomposed by its atomized parts. 2. The causes are invariant and the interdependencies between variables can be described mathematically by linear functions. 3. Same or similar initial conditions lead to a same or similar dynamic path of a system." (Dopfer 1988, S.689)
Durch die Übernahme dieses Leitbildes entstand die Gleichgewichtstheorie, die auch heute noch einen wesentlichen Einfluß auf die Forschungsarbeiten hat. Auch komparativ-statische Modelle sind nur dann zu rechtfertigen, wenn für die abzubildende Realität eine lineare oder quasi-lineare Struktur unterstellt werden kann, denn nur die Linearität garantiert ein globales Optimum, das von allen Systemzuständen aus erreicht werden kann. Die zunehmende Formalisierung durch die mathematische Darstellung hat aber die ursprüngliche Theorie weiter eingeschränkt und den Blickwinkel verengt. Die mathematischen Darstellungs- und Analysemöglichkeiten bestimmten in zunehmendem Maße die theoretischen Aussagen. Wie stark diese "Weltanschauung" noch heute wirkt, zeigt sich, wenn Witt schreibt: "Wie bekannt, ist im statischen, deterministischen Optimierungsmodell stets eine eindeutige Aussage über die getroffene Wahl gewährleistet, wenn die individuelle Nutzenfunktion stetig, konvex und monoton ist. Eine solche Nutzenfunktion existiert (als logische Möglichkeit), wenn die zugrundeliegende individuelle Präferenzordnung vollständig, d.h. alle nur denk- aber nicht notwendig realisierbaren Möglichkeiten einschließend, und darüber hinaus transitiv, stetig, monoton und konvex ist, und es keine Sättigungspunkte gibt (siehe z.B. Barten und Böhm 1982, S.384-395). Diese Eigenschaften werden von niemanden ernstlich anders als Fiktionen eingestuft werden. Sie werden in der allgemeinen Gleichgewichtstheorie vorausgesetzt, weil sie erlauben, sich den Problemen zuzuwenden, die in der Neoklassik seit Walras von übergeordneter Bedeutung sind: Existenz, Eindeutigkeit und Optimalität des kompetitiven Totalgleichgewichts" (Witt 1985, S.175).
In die gleiche Kerbe schlägt Tietzel mit der folgenden Kritik: "Gerade Ökonomen unterliegen oft der Neigung, Eleganz oder Schwierigkeitsgrad des angewandten Kalküls für Wissenschaftlichkeit zu halten und ihn zum Selbstzweck zu machen. Aber: nicht auf die Art der Sprache, darauf, was in ihr gesagt wird, kommt es bei kognitiver Zielsetzung an; "man kann gewissermaßen mit großer Präzision nichts sagen", denn formale Richtigkeit ist keine hinreichende Bedingung für inhaltliche Wahrheit von Aussagen" (Tietzel 1982, S.305).
Die Grenzen des kausal-analytischen Denkens wurden im Laufe der Zeit nicht nur in der Ökonomik deutlich. Auch in der Chemie, Biologie, Medizin und den Sozialwissenschaften stellte man fest, daß "das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile". Der von Descartes vorgeschlagene Forschungsweg eignet sich für einfache, determinierte, geschlossene und zeitunabhängige
1.2 Die 'klassische Mechanik' als wissenschaftliche Leitidee
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Systeme. Die in der Realität anzutreffenden Systeme sind aber häufig gekennzeichnet durch Offenheit, Nichtlinearität, Gleichgewichtsferne und Komplexität. Für die Naturwissenschaften stellt Dürr darum fest: "Am erfolgreichsten ist naturwissenschaftliches Denken da, wo die Wirkungsverflechtung verschiedener Komponenten schwach ist, wo das Ganze sich in guter Näherung als Summe seiner isoliert gedachten Teile auffassen läßt. Problematisch ist naturwissenschaftliches Denken aber dort, wo die Vernetzung stark und die Komplexität groß ist. Damit wir in der Vielfalt nicht blind werden, sollten wir auf die uns wohl mögliche, intuitive Betrachtungsweise der Welt nicht verzichten, durch die es leichter fällt, Gestalten zu erkennen und Bewertungen vorzunehmen" (Dürr 1991, S.46).
Und für die Ökonomik kommt Boulding zu dem Schluß: "The more complex the system we are considering, the more difficult it is to apply any simple concepts of cause and effect. When everything depends on everything else, as it does in ecosystems, it is by no means easy to discover exactly what depends on what" (Boulding 1987, S.9).
Es scheint also, daß ein weiterer wissenschaftlicher Fortschritt bei der Untersuchung realer Phänomene nur mit einem neuen Leitbild bzw. neuem Paradigma möglich ist. Diese Veränderung der wissenschaftlichen Perspektive führt nach Ulrich (1978, S.18) zu einer neuen Denkweise, "die sich radikal vom klassischen Ideal des wissenschaftlichen Denkens unterscheidet: An die Stelle des analytischen, den Blick auf das einzelne richtenden Denkens auf der Suche nach den kleinsten Bauteilchen der Welt tritt ein auf das größere Ganze gerichtetes, integrierendes Denken. Statt in kleinen, linearen Kausalketten mit definierbarem Anfang und Ende wird in zirkulären Verknüpfungen ohne Anfang und Ende gedacht, statt das Nichtmeßbare, Nichtquantifizierbare und nicht mathematisch Formulierbare aus der Wissenschaft zu verbannen, werden bewußt solche Phänomene in den wissenschaftlichen Denkprozeß einbezogen, und statt nach ewig gleichbleibenden, materiellen Strukturen der Dinge zu suchen, richtet man den Blick auf die Dynamik des Geschehens und sucht nach dem Ordnungsmuster solcher Prozesse." Zusätzlichen Auftrieb erhielt die Suche nach neuen wissenschaftlichen Forschungsansätzen durch erste Erfahrungen mit der Nichtlinearität, die zu unerwartetem Systemverhalten führte. So demonstrierte unter anderen May (1976), daß schon aus einfachen nichtlinearen mathematischen Modellen sehr komplexe Verhaltensmuster resultieren können. Als Konsequenz daraus muß die Annahme neu überdacht werden, daß das qualitative Verhalten realer nichtlinearer Systeme dem der modellierten linearen Systeme ähnlich ist. Mit dieser Annahme wurde zudem meist auch unterstellt, daß zum ersten bei ungefähr gleichen Ausgangspositionen auch ungefähr ähnliches Verhalten des Systems zu erwarten ist und daß zum zweiten aus einfachen Grundgesetzen bzw. mathematisch simplen Grundgleichungen auch einfache Verhaltensweisen, d.h. leicht überschaubare Lösungen, resultieren (Eilenberger 1990, S.87). Für die Ökonomik kommt Goodwin in Anbetracht dieser neuen Erkenntnisse zu folgender Aussage:
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1. Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen "Like meteorology, economics can often yield good short-term prediction (not, however, for the recent crash), not so good for medium-term and more or less worthless long-term. The great mathematician John von Neumann once maintained that, given sufficient funds for global weather data collection and a mega-computer, he could provide detailed, accurate prediction of weather over time and space. He based himself on the fact that, by contrast with economics, we know very well the laws of fluid dynamics. Hence, given the initial conditions globally, we could compute the flow in space and time of the weather. It was good sound methodology and I long believed he was right, though his assertion remained untested because of the scale of costs. I now think that empirically his conclusion was wrong in principle. To understand why he was wrong will, I hope, illuminate how fundamental for applied mathematics was the discovery of chaos and why it has unleashed a flood of new mathematical work. Mathematically, of course, von Neumann made no mistake: if we have a correct model, then, given the initial conditions, the sequence of events is necessarily calculable and therefore any future event must be predictable exactly - the entire logical basis of mathematics rests on this" (Goodwin 1989a, S.l 17).
In der Physik erfuhr das mechanistische Weltbild bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts durch die Entwicklung der Thermodynamik, der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie erste Einschränkungen in seinem Gültigkeitsbereich. Aus der Entwicklungsgeschichte der Physik leitet West fünf Stufen des wissenschaftlichen Fortschritts ab: " 1. Detailed verbal descriptions culminating in general concepts which synthesize observations into a few fundamental principles. 2. The quantification of stage 1 concepts and their subsequent rendering into static linear (mathematical) relationships. 3. The generalization of the relationships in stage 2 into a linear dynamic description from which the relaxation of the process towards the stage 2 relations can be determined. 4. A fundamental shift in perspective to re-examine the representation of stage 1 idea to include the concept of dynamical steady states. Such states require a nonlinear representation and may have little or no direct relation to stage 3 concepts. 5. The faithful mathematical transcription of stage 1 understanding into a fully dynamical nonlinear theory whose "solutions" approach the dynamical steady states in stage 4 with increasing time" (West 1985, S.10).
Lorenz (1991, S.25) weist darauf hin, daß dieses Stufenschema zwar als grobe Beschreibung für die Entwicklung in einer Reihe von Wissenschaftsdisziplinen gültig sein dürfte, es aber nicht offensichtlich ist, ob damit der Entwicklungsprozeß zwangsläufig abgeschlossen ist. Versucht man den Wissenschaftsstand der Ökonomik in das obige Schema einzuordnen, dann dürfte die vorausgegangene Diskussion deutlich gezeigt haben, daß die formal-mathematischen Ansätze der Ökonomik zum größten Teil auf der 3. Stufe anzusiedeln sind. Der Übergang zur 4. Stufe ist aber bereits in der zunehmenden Kritik an diesen Modellen und der damit verbundenen Weltanschauung zu erkennen. War die ökonomische Perspektive lange Zeit geprägt durch die Idee des wirtschaftlichen Gleichgewichts, so drängt sich jetzt immer mehr der Aspekt der Evolution ökonomischer Systeme in den Vordergrund. Diese Verschiebung der Perspektive nimmt zu, je schneller die wirtschaftliche Entwicklung in den hochentwickelten Wirtschaftsnationen verläuft und damit ein stetiger Wandel einsetzt. Eine statische Theorie mag
1.2 Die 'klassische Mechanik' als wissenschaftliche Leitidee
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für ein Wirtschaftssystem mit gleichbleibender Struktur eine gute Approximation und hilfreiche Beschreibung sein, evolutorische Phänomene kann eine Gleichgewichtstheorie, die vom Wesen her statischer Natur ist, aber nicht ohne weiteres erklären. Es reicht auch nicht, diese Gleichgewichtstheorie durch die Formulierung von Bewegungsgleichungen zu dynamisieren, wenn diese zusätzlichen Komponenten lediglich sicherstellen, daß die Ökonomie nach einer Störung auf das ursprüngliche Gleichgewicht zurückschwingt, denn die ökonomische Evolution verschiebt nicht nur die Gleichgewichtspunkte, sondern erzeugt eventuell neue und vernichtet alte Gleichgewichtspunkte. Der Wandel der ökonomischen Realität, das Entstehen neuer Unternehmen, Sektoren und Institutionen, welche die Koordinationen zwischen den Wirtschaftssubjekten regeln, tritt darum immer mehr in den Mittelpunkt der ökonomischen Forschung. Die Diskrepanz zwischen der klassischen ökonomischen Theorie und der Empirie forciert diese Suche nach neuen grundlegenden Leitbildern in der Ökonomik. Zu nennen sind hier die auch schon fast klassische Wachstumstheorie und Konjunkturtheorie, die als erste den Versuch unternahmen, die wirtschaftlichen Veränderungen zu erklären, sowie die Evolutionsökonomik und in jüngerer Zeit die Innovationsforschung. Auch nach Cugno und Montrucchio (1984, S.146f.) ist der Weg der Ökonomik zu einer realitätsnäheren Beschreibung durch mehrere Entwicklungsstufen geprägt. Auf der ersten Stufe standen statische Modelle und Gleichgewichtsanalysen im Vordergrund des Interesses, die zweite Stufe prägten lineare dynamische Modelle und erste lokale Stabilitätsanalysen bei nichtlinearen Modellen, auf der dritten Stufe stehen die Beschäftigung mit nichtlinearen Modellen und die Analyse der globalen Eigenschaften von Gleichgewichten sowie das Problem periodischer Lösungen. Die Probleme bei der Analyse nichtlinearer Modelle macht heute eine vierte Stufe notwendig, auf der simultan sowohl die qualitative Analyse komplexer Phänomene als auch die analytische Beschreibung nichtlinearer Phänomene eine wesentliche Rolle im Forschungsprozeß spielen. Bifurkationstheorie, Katastrophentheorie und die Theorie struktureller Stabilität sind nach Ansicht von Cugno und Montrucchio Teil dieser vierten Stufe. I m weiteren Verlauf dieser Arbeit soll im nächsten Kapitel zunächst versucht werden, unter Rückgriff auf verschiedene Richtungen innerhalb der Ökonomik, marktwirtschaftliche Systeme verbal zu beschreiben. Dies würde etwa der 4. Stufe des Schemas von West entsprechen. Die Skizzierung der für die formale Abbildung nichtlinearer ökonomischer Systeme relevante mathematische Theorie und die Beschreibung erster Ansätze in der Ökonomik sind ein erster Versuch in Richtung auf die 5. Stufe. Die dann folgenden einfachen Modellbeispiele können vielleicht eine Vorstellung von den Konsequenzen vermitteln und mögliche neue Ansätze in der Agrarökonomik andeuten.
2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme I m vorangegangenen Kapitel wurde versucht zu zeigen, daß das "Weltbild der klassischen Mechanik" durch die Konzentration auf geschlossene, einfache und lineare Systeme geprägt ist. Um das aus einer solchen Leitvorstellung resultierende enge Blickfeld zu demonstrieren und die dadurch entstehenden Grenzen für die Erfassung der ökonomischen Realität zu verdeutlichen, werden im folgenden verschiedene charakteristische Begriffspaare diskutiert und deren Differenzen herausgearbeitet. Es wird sich zeigen, daß die Aufgabe des Leitbildes der "klassischen Mechanik" durch die Berücksichtigung von Interaktionen zwischen System und Umwelt, durch die Vielzahl von Systemelementen und durch die Einführung von Nichtlinearitäten zu komplexeren Systemen führt; Systeme also, deren potentielles Verhalten eine größere Vielfalt aufweist. Die Argumentationen in diesem Kapitel werden sich dabei im wesentlichen auf der verbalen Ebene bewegen und nur in wenigen Fällen durch formale Begründungen ergänzt, da die Darstellung der Möglichkeiten zur formalen Abbildung komplexer Systeme Gegenstand eines späteren Kapitels ist. Der erste Teil der folgenden Ausführungen beschäftigt sich zunächst mit dem Begriff Komplexität und der Identifikation möglicher Einflußfaktoren. Die einzelnen Dimensionen sind dann Gegenstand der weiteren Diskussion, wobei insbesondere ihre Relevanz für ökonomische Phänomene hinterfragt werden soll. Die dabei betrachteten Begriffspaare System - Umwelt, einfache - vielfältige, statische - dynamische und lineare - nichtlineare Systeme entsprechen keiner hierarchischen Ordnung sondern eher verschiedenen Dimensionen; sie sind also nicht unabhängig voneinander zu betrachten, da das gemeinsame Auftreten der Faktoren in vielen Fällen die Komplexität eines Systems noch weiter erhöht. So kann durch die Einbeziehung der Zeit aus einem einfachen System ein komplexeres System entstehen oder aus dem Übergang von einem linearen zu einem nichtlinearen System ein viel variantenreicheres dynamisches Systemverhalten resultieren. Diese gegenseitige Abhängigkeit erschwert eine getrennte Diskussion der einzelnen dialektischen Begriffspaare und erzwingt leider gelegentlich einen Vorgriff auf die noch zu beschreibenden Eigenschaften. Auch stellen diese drei Dimensionen nur eine von mehreren Möglichkeiten dar, die verschiedenen Seiten des Begriffs "Komplexität" zu beleuchten. So
2.1 Komplexität
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unterscheidet Willke (1991, S.60ff.) zum Beispiel die fünf Dimensionen sachliche, soziale, zeitliche, operative und kognitive Komplexität.
2.1 Komplexität In der Umgangssprache wird der Begriff "Komplexität" häufig dann verwendet, wenn Zusammenhänge nicht vollständig durchschaut werden oder wenn das Verhalten eines Systems für uns überraschend ist. Auch in der Wissenschaft findet sich keine eindeutige Definition für Komplexität. So wird zum Beispiel von einem komplexen System gesprochen, wenn dieses aus einer Vielzahl von Systemelementen besteht, die auf nicht einfache Weise miteinander interagieren (Schiemenz 1982, S.207). Mengentheoretisch läßt sich ein System demnach als die Menge seiner Elemente (E) und Relationen (R) darstellen, also S = ( E, R ) (Schnabl 1985, S.454). Mit zunehmender Zahl von Elementen und Verknüpfungen wird ein einfaches System zu einem komplexen System. Denkbar wäre es nun, aus der Zahl der Elemente und Verknüpfungen eine Maßzahl für die Komplexität eines Systems abzuleiten (Thiele 1974). Dies wird jedoch von vielen Autoren abgelehnt, da die Komplexität eines Systems nicht nur von der Zahl, sondern auch von der Art der Verknüpfungen abhängig ist. So mag uns ein hierarchisch geordnetes System mit vielen Elementen noch einfach vorkommen, ein System mit wenigen Elementen, aber vernetzten Verknüpfungen dagegen bereits komplex. Da die menschliche Informationsverarbeitungskapazität zudem beschränkt ist, fällt es uns schon bei Systemen mit wenigen Elementen ohne übergeordneter Struktur schwer, die Wechselwirkungen "im Auge zu behalten", was sicher zu der oben angeführten umgangssprachlichen Bedeutung von Komplexität geführt hat. Von einigen Autoren wird außerdem darauf hingewiesen, daß Komplexität nicht nur eine objektive Eigenschaft des betrachteten Systems ist, sondern eher aus dem Verhältnis von Objekt und Subjekt resultiert. Ein uns neues, unbekanntes System erscheint häufig zunächst komplex, da uns die Erfahrung mit diesem System fehlt. Durch die Beschäftigung mit einem neuen System gelingt es uns dann aber zunehmend, Hypothesen über das Systemverhalten zu gewinnen; die Systemreaktionen lassen sich immer besser prognostizieren, und das System verliert scheinbar an Komplexität. Als Beispiel führt Dörner (1989, S.62) die alltägliche Handlungssituation des Autofahrens an. "Für den Anfänger ist sie sehr komplex; eine Vielzahl von Merkmalen will zugleich beachtet werden und macht das Fahren in einer belebten Großstadt zu einem schweißtreibenden Geschäft. Den erfahrenen Autofahrer hingegen läßt die gleiche Situation völlig kalt." Auch für Blaseio ist Komplexität nicht einfach die Eigenschaft eines Objektes. "Komplexität verweist auf die Grenzen des Orientierungsvermögens seitens des Beobachters. Das Prädikat "komplex" ist 3 Untz
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2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
damit zu einem guten Teil immer auch Selbst-Prädikation, d.h. Selbstbeschreibung des Beobachters" (Blaseio 1986, S.25). Ulrich und Probst (1988, S.106 ff.) differenzieren zwischen einfachen, komplizierten und komplexen Problemsituationen. Kompliziert sind aus ihrer Sicht Systeme oder Situationen, welche aus einer Vielzahl von Teilen bestehen, also zum Beispiel eine komplizierte Maschine. "Was die Komplexität wirklich ausmacht, ist die Dynamik oder der Grad der Voraussagbarkeit des Verhaltens des Systems als Ganzes. Dies zeigt sich gerade auch im Alltagsgebrauch des Wortes »komplex«, der häufig ein Unvermögen, ja eine gewisse Ohnmacht des Menschen wiedergibt, die Komplexität eines Systems in den Griff zu bekommen. Anerkennung der Komplexität eines Systems bedeutet damit Akzeptanz der Vielzahl der Teile und Beziehungen, Anerkennung und Berücksichtigung der Vielfalt und der Dynamik oder des ständigen Wandels und damit auch einer gewissen Unsicherheit" (Probst 1987, S.29). Neben der zunächst angeführten Überlegung, daß Komplexität durch eine Vielzahl von Elementen und Verknüpfungen verursacht wird, taucht in den oben angeführten Ausführungen von Probst zusätzlich die Dynamik bzw. das zeitliche Verhalten eines Systems als Ursache für Komplexität auf. Sobald dieses zeitliche Verhalten nicht ohne weiteres zu prognostizieren ist und ein System eine Vielfalt von Verhaltensmustern produzieren kann, stehen wir einem komplexen System gegenüber. Das "überraschende" Verhalten derartiger dynamischer Systeme kann dabei sowohl systemexterne als auch -interne Ursachen haben. Offene Systeme stehen mit ihrer Umwelt in Wechselbeziehung und werden durch Änderungen der externen Rahmenbedingungen in ihrem Verhalten beeinflußt. Durch möglicherweise extern verursachte Verschiebungen von Parameterwerten kann es, insbesondere bei nichtlinearen Systemen, zu gänzlich anderen Verhaltensmustern kommen. In den letzten Jahren wurden vermehrt derartige Systeme zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, und es stellte sich heraus, daß neben der Vielzahl von Elementen und Verknüpfungen vor allem die Nichtlinearität eine Quelle für komplexes dynamisches Verhalten ist. Stellvertretend sei an dieser Stelle nur auf die Arbeit von May und Oster (1976) mit dem Titel "Bifurcations and Dynamical Complexity in Simple Ecological Models" oder in der Ökonomik auf den Artikel von Day (1983) "The Emergence of Chaos from Classical Economic Growth" hingewiesen. Die bisherigen Ausführungen zeigen, daß die Auffassungen über den Begriff Komplexität in der Literatur nicht eindeutig sind. Im Kern dürfte wohl immer dann von Komplexität gesprochen werden, wenn ein System eine Vielzahl von Verhaltensmöglichkeiten zeigen kann, die zudem schlecht prognostizierbar sind oder von uns nicht erwartet werden. Ökonomische und soziale Systeme dürften damit zweifellos in vielen Fällen als komplex
2.2 System und Umwelt
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bezeichnet werden, betrachtet man zum Beispiel nur die Prognosen bezüglich der Entwicklungen von Marktpreisen, Unternehmen, Sektoren oder Volkswirtschaften. Die Ursachen hierfür können in der Vielzahl unterschiedlicher Elemente, in der Umwelt des Systems, in der internen Systemdynamik oder in den nichtlinearen Verknüpfungen liegen. In den weiteren Ausführungen dieses Kapitels soll darum noch einmal eingehender diskutiert werden, welche Eigenschaften für ökonomische Systeme zutreffen und welche weiteren Begriffe daraus resultieren.
2.2 System und Umwelt Unter einem System wird heute üblicherweise eine endliche Menge von Elementen verstanden, zwischen denen irgendwelche Beziehungen bestehen und die damit eine Gesamtheit bilden. Die einzelnen Elemente eines jeden Systems werden dabei als im Rahmen der jeweiligen Betrachtung nicht weiter zerlegbare Einheiten aufgefaßt. Eine Beziehung oder Kopplung zwischen Elementen liegt vor, wenn der Output eines Elements zum Input eines oder mehrerer anderer Elemente wird. Für ein Element stellen zunächst alle Elemente, zu denen eine Beziehung besteht, dessen Umwelt dar. Aus diesem vernetzten Ganzen werden Elemente, deren Beziehung von besonderer Art oder besonderer Intensität ist, zu einer Gruppe bzw. einem System zusammengefaßt. Alle anderen Elemente werden von diesem betrachteten System ausgegrenzt und stellen dessen Systemumwelt dar. Ulrich und Probst führen folgende Definition an: "Ein System ist ein dynamisches Ganzes, das als solches bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen besitzt. Es besteht aus Teilen, die so miteinander verknüpft sind, dass kein Teil unabhängig ist von andern Teilen und das Verhalten des Ganzen beeinflusst wird vom Zusammenwirken aller Teile" (Ulrich und Probst 1988, S.30).
Innerhalb eines Systems können einzelne Elemente noch einmal zu Subsystemen zusammengefaßt werden. Eine Pflanze oder ein Tier, eine Maschine oder ein Betrieb können also ein System darstellen, wobei einzelne Organe, Maschinenteile bzw. Betriebszweige oder einzelne Prozesse wie die Photosynthèse oder die betriebliche Produktion die Komponenten des Systems darstellen. Pflanze, Tier, Maschine oder Betrieb können ihrerseits aber auch wieder als Teil eines ökologischen bzw. ökonomischen Systems betrachtet werden. Was als System oder Element definiert wird, hängt damit vom jeweiligen Untersuchungsziel ab, Harbordt (1974, S.45) spricht in diesem Zusammenhang auch von Zerlegungsebene. Ein bestimmtes Objekt kann demnach sowohl als System behandelt werden, das in seine Elemente zu zerlegen ist, wie auch als Element eines übergeordneten Systems. Ein Unternehmen mag aus volkswirtschaftlicher Sicht ein Element darstellen, aus betriebswirtschaftlicher Sicht aber ein überaus komplexes System. 3*
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2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
Diese Auffassung von System weist auf einen Wandel des Systembegriffs hin. In älteren Definitionen wurde unter einem System eine Vielfalt von Komponenten verstanden, die untereinander in Beziehung treten. Die Komponenten entsprachen dabei häufig dauerhaften, stofflichen Körpern, deren Eigenschaften in ihrer zeitlichen Veränderung untersucht wurden. Eine derartige festgelegte Ordnung wird auch als räumliche Struktur bezeichnet (Jantsch 1992, S.326 f.). In neuerer Zeit gewinnt hingegen die Auffassung an Boden, ein System nach dem Beziehungsgefüge zwischen Prozessen zu gliedern (vgl. Jantsch 1992, S.331). Folglich spricht man bei diesem Ordnungsprinzip auch von einer Prozeßstruktur. Jantsch führt als Beispiel den Zusammenfluß zweier Wasserströme an, die eine stehende Welle bilden. "Die bei konstanten Strömungsverhältnissen stabile Struktur bleibt makroskopisch dieselbe, besteht aber mikroskopisch aus immer neuen Wassermolekülen. Ändern sich die an der Struktur beteiligten Prozesse, wie zum Beispiel Durchflußmenge oder -geschwindigkeit, so ändert sich auch die Struktur" (Jantsch 1992, S.327). Schwegler (1992, S.29 ff.) geht noch einen Schritt weiter und fordert eine Loslösung vom Substantialismus, indem er eine Konzeption von »Eigenschaften ohne Substanz« zu entwickeln versucht und ein System als Netz von Relatoren versteht. "Die Relatoren haben zumindest im allgemeinen Fall keine Körperlichkeit, ihnen braucht weder eine räumliche Position oder Ausdehnung noch ein Zeitpunkt oder eine Zeitdauer der Existenz zugesprochen werden" (Schwegler 1992, S.34). In der Ökonomie könnte zum Beispiel der Begriff "Markt" ein solcher Relator sein. Wurde in früheren Zeiten mit dem Wort "Markt" vielleicht noch eine räumliche Verknüpfung mit dem Marktplatz assoziiert, so beschreibt der Begriff in der modernen Ausprägung eher eine Funktion, durch die Angebot und Nachfrage für ein oder mehrere Produkte koordiniert werden. Der Begriff ist also nicht mehr an einen stofflichen Körper gebunden. Märkte für einzelne Produkte können zudem auch entstehen und verschwinden, was zum Beispiel auch der häufig benutzte Satz andeutet: "Für dieses Produkt ist kein Markt da". Die Begriffe System und Umwelt bedingen sich gegenseitig. Ohne System gibt es keine Umwelt und ohne Umwelt kein System (Luhmann 1988, S.242). Die Grenze zwischen System und Umwelt wird, wie auch die zwischen System und Element, in Abhängigkeit von der jeweiligen Fragestellung zu ziehen sein. Allgemein sollte die Systemgrenze so gewählt werden, daß möglichst wenige Wechselbeziehungen zwischen System und Umwelt bestehen. Es ist darauf zu achten, daß die Umwelt das System beeinflußt, sie aber durch den Systemoutput so wenig verändert wird, daß dieser Effekt vernachlässigt werden kann (An der Heiden 1992, S.63). Des weiteren sollten möglichst alle Inputfaktoren, durch die das System beeinflußt werden kann und die nicht konstant sind, in die Systembetrachtung einbezogen werden, um sicherzustellen, daß auch alle "Freiheitsgrade" zur Steuerung und Gestaltung
2.2 System und Umwelt
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des Systems genutzt werden können. Bestehen im Extrem keinerlei Beziehungen zwischen dem System und seiner Umwelt, dann spricht man von einem geschlossenen oder autonomen System, in allen anderen Fällen handelt es sich um ein offenes System. Geschlossene oder autonome Systeme sind ein Grenzfall und in der Realität streng genommen nicht zu finden; sie entsprechen damit einem Ideal in der Wissenschaft. Gerade diese isolierende Abstraktion ist ein typisches Kennzeichen für die "klassische Mechanik". Durch die Isolation eines Systems von seiner Umwelt wird die Entwicklung des Systemzustandes alleine von den systeminternen Eigenschaften bestimmt. Kennt man also alle Elemente und Beziehungen sowie den Anfangszustand eines Systems, dann läßt sich der Systemzustand zu jedem Zeitpunkt im voraus bestimmen. Exakt gleiche Anfangsbedingungen führen immer zum gleichen Ergebnis bzw. Endzustand. Als Beispiel sei ein ideales Pendel angeführt, das keiner Reibung unterliegt und dessen Masse in einem Punkt konzentriert ist. Aus dem Erhaltungssatz der Energie, der nur für geschlossene Systeme gilt, und der anfänglichen Pendelauslenkung kann der Ort des Pendels zu jedem beliebigen Zeitpunkt berechnet werden. Ebenso ist für ein mit konstanter Beschleunigung (a) bewegtes Objekt die Position zum Zeitpunkt t gegeben durch x(t) = at 2 + v ( 0 ) f + λ:(0) , wobei v(0) und jt(0) die Anfangsgeschwindigkeit und den Anfangsort kennzeichnen. Als Beispiele aus der Ökonomik sei nur auf die Darstellung von isolierten Märkten für bestimmte Produkte durch lineare Angebots- und Nachfragefunktionen verwiesen, die es jederzeit erlauben, Gleichgewichtsmenge und -preis zu bestimmen. Auch in anderen Bereichen der Ökonomik lassen sich Beispiele für eine derart isolierte Betrachtung von Teilsystemen finden. Im Gegensatz zu geschlossenen Systemen weisen offene Systeme Interaktionen mit ihrer Umgebung durch Materie-, Energie- und Informationsströme auf. Stoffe, Energie und Informationen werden vom System aus der Umwelt aufgenommen und in neue Produkte sowie andere Energieformen transformiert und wieder an die Umgebung abgegeben, egal ob es sich um lebende Organismen oder technisch-ökonomische Systeme handelt. Kann von annähernd konstanten Umweltbedingungen ausgegangen werden, wie etwa bei einem gedämpften Pendel, dann lassen sich auch noch Aussagen über den Systemzustand zum Zeitpunkt t machen. Da aber die Umweltbedingungen im allgemeinen nicht über einen längeren Zeitraum bekannt und häufig erratischen Veränderungen unterworfen sind, kann auch der Systemzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt t nicht mehr aus den Anfangsbedingungen und der Systemstruktur alleine bestimmt werden.
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2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
Weitere Eigenschaften offener Systeme wurden von Katz und Kahn in einem Aufsatz diskutiert und sind in der folgenden Aufzählung von Clark (1988, S.519) zusammengestellt worden: "(1) Importation of energy from the environment. (2) Transformation of this energy in a variety of ways consistent with the genes of the organism (themselves, of course, not uniquely defined) and involving work of some description. (3) Export of output into the environment. (4) Cyclical behavior that inheres in the nature of organism/environment relations. (5) Negative entropy as organisms "move to arrest the entropie process" (that is, the tendency towards increasing disorder). (6) The existence of information as one component of inputs (for example "negative feedback" from the environment that shapes subsequent behavior). (7) Possibilities for dynamic homeostasis where the organism balances import of energy and export of entropy through time. However, in practice this means continuous organic growth, since in order to preserve the character of the system organisms "tend to import more energy than is required for (their) output." (8) Open systems move in the direction of increasing differentiation and elaboration with respect to their internal structures as their growth takes place. Thus units are not homogeneous and have their own morphology. (9) Open systems are characterized by equifinality (L. von Bertalanffy), which means that organisms can reach the same final state from differing initial conditions and by a variety of paths."
Wie wir im Verlauf der weiteren Diskussion noch sehen werden, müssen die hier angeführten 9 Charakteristika nicht alle in einem offenen System zu finden sein, da für manche weitere Systemeigenschaften wie Nichtlinearität und Systemvielfalt Voraussetzung sind. Trotzdem dürften die genannten Eigenschaften in vielen Fällen auf ökonomische Systeme, seien es einzelne Unternehmen, Wirtschaftssektoren oder Volkswirtschaften, zutreffen. Die ersten 3 Punkte sind offensichtlich auch für soziale Systeme gültig, wie die in den Industrienationen anstehende Energie- bzw. Abfallproblematik belegt. Das mit (4) angesprochene zyklische Verhalten ist auch in ökonomischen Systemen zu beobachten und hat zu einer reichhaltigen Literatur im Bereich der Konjunkturtheorie geführt. Als Beispiel für eine Informationsrückkopplung zwischen Umwelt und System (5) kann die Beziehung zwischen Unternehmen und Märkten gelten. Mit dem Punkt (6) wird angesprochen, daß die Organisation und der Erhalt sozialer Systeme nicht ohne Aufwand möglich sind. Der Punkt (7) kann in Zusammenhang mit der Evolution sozialer Systeme gesehen werden. Beschränken wir uns auf den ökonomischen Bereich, dann ist mit Bezug auf Punkt (8) festzustellen, daß es in der Tat zu einer immer stärkeren Spezialisierung einzelner Unternehmen, aber auch einzelner Individuen in der Wirtschaft kommt. Beschränkt auf den landwirtschaftlichen Bereich ist eine stärkere Konzentration sowohl auf wenige Betriebszweige (horizontale Konzentration) als auch auf einzelne Teile des gesamten Produktionsprozesses (vertikale Konzentration) unver-
2. Komplexität durch
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kennbar. Auch der letzte Punkt ist in der ökonomischen Realität anzutreffen, wenn man an unterschiedliche Unternehmensentwicklungen oder auch an die Entwicklung verschiedener Volkswirtschaften denkt. Es bleibt abschließend festzuhalten, daß die Ökonomie sich als ein offenes System darstellt, welches in mannigfaltigen Beziehungen zu seiner Umwelt steht. Diese Verknüpfungen zwischen Umwelt und System führen aber auch dazu, daß ökonomische Subsysteme keine auf ewig festgeschriebenen Strukturen besitzen, sondern als evolutorische Systeme zu begreifen sind, deren Strukturen sich weiter ausdifferenzieren und auch neue Subsysteme entstehen lassen. Der Übergang von einem geschlossenen System zu einem offenen System erhöht die Vielfalt der Verhaltensmöglichkeiten bzw. die Komplexität des Systems.
2.3 Komplexität durch Vielheit Häufig sprechen wir von Komplexität, wenn wir einer Vielheit von Einzelteilen gegenüberstehen und keine Zusammenhänge erkennen. Zumeist werden wir im ersten Schritt zunächst versuchen, die Komplexität eines Systems zu reduzieren. Hierzu gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie die Aussonderung von Elementen und/oder Verknüpfungen, die Zusammenfassung von Elementen zu Aggregaten und die Verwendung ordnender Strukturen. Ein beliebtes Beispiel zur Demonstration dieser Prinzipien ist der Verweis auf Landkarten. Wer eine Weltreise machen will, der wird seine Route wahrscheinlich zunächst auf einer Weltkarte abstecken, die nur die großen Städte und Verbindungen zeigt. Wer dagegen eine bestimmtes Haus in einer Stadt sucht, der benutzt einen detaillierten Stadtplan. Auf der Weltkarte sind vielleicht nur die einzelnen Länder und die größten Städte sichtbar, alle andere Orte sind weggelassen, und die Vororte und Stadtteile der Hauptstädte sind zu einem Punkt zusammengefaßt. Betrachten wir Straßenkarten, dann orientieren wir uns zunächst an den großen Städten und Hauptverbindungsstraßen, die schon optisch größer dargestellt sind und einer Karte damit eine bestimmte hierarchische Struktur und Ordnung aufprägen. Diese ordnende Struktur erleichtert uns das Erfassen des komplexen Systems Landkarte; wären alle Orte und Straßen in gleicher Größe dargestellt, würden wir uns mit der Orientierung bzw. Beherrschung der Komplexität schwerer tun. Verständlich wird so wohl auch, daß eine Reihe von Autoren davon spricht, daß wir zum besseren Verständnis der Realität eine Struktur aufprägen, wobei nicht sicher ist, ob die Realität in Wahrheit dieser Struktur entspricht oder gar strukturlos ist (Müller-Merbach 1980, S.472). Besonders betont wird dies aus der Sicht des Konstruktivismus (vgl. Hejl 1992, S.269). Doch auch in der Physik ist diese Meinung anzutreffen, wie ein Zitat von Kuhn zeigt: "Es ist ein
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2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
besonderes Merkmal der physikalischen Modellvorstellungen, daß sie als gedankliche Konstruktion nicht mit der Wirklichkeit gleich gesetzt werden dürfen" (Kuhn 1975, S.134). Boulding hat bereits 1956 einen Vorschlag zur Reduktion der Komplexität durch Aggregation gemacht und eine neunstufige Hierarchie von Systemen vorgestellt, die in der Abb. 2.1 dargestellt ist und in der die Komplexität von Stufe zu Stufe größer wird. Von Steffen und Born (1987, S.17) werden diese 9 Stufen grob in drei Gruppen zusammengefaßt: "1-3 rein mechanische und technische Systeme 4-6 biologische Systeme 7-9 soziale Systeme"
Abb. 2.1 : Bouldings neunstufige Systemhierarchie (aus Schiemenz 1982, S.l 11)
2. Komplexität durch
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In ihren Anfängen hat sich die Systemtheorie vor allem auf die Ebenen 1-3 konzentriert, die durch feste Strukturen, feste Abläufe und negative Rückkopplungen gekennzeichnet sind (vgl. Jantsch 1992, S.332). Wesentlich ist dabei, daß auf diesen Ebenen keine neuen Elemente entstehen können. Mit den dann folgenden Ebenen tut sich die Systemtheorie bis heute schwer, da sowohl biologische als auch soziale Systeme mit den gleichen Mitteln analysiert werden, wie sie für die mechanischen und technischen Systeme adäquat waren. Erst in jüngster Zeit wird versucht, neue Konzepte zur Erfassung evolutorischer Systeme und zur Beschreibung der Entstehung von Ordnung und Organisationen zu entwickeln (vgl. Allen et al. 1985). Obwohl die höheren Ebenen auf den darunter liegenden Ebenen aufbauen, sind die Struktur und das Verhalten nicht alleine aus den Teilen der darunterliegenden Ebenen zu erklären. In solchen Fällen wird gerne davon gesprochen, daß "das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile". Jantsch schreibt dazu, daß sich in einem System eine makroskopische Ordnung manifestiert, "die sich nicht direkt aus den im System ablaufenden mikroskopischen Wechselwirkungen und Prozessen herleiten läßt. Der Systembegriff entspricht daher grundsätzlich nicht-reduktionistischen Denkformen, was mit dazu beiträgt, daß er in den westlichen Wissenschaften nur unter großen Schwierigkeiten Eingang findet" (Jantsch 1992, S.331). Die Reduktion der Komplexität erfolgt in vielen Wissenschaften in ähnlicher Weise wie am Beispiel der Landkarte beschrieben wurde, nämlich durch Aggregation oder durch Elimination. Die Ökonomik betrachtet beispielsweise auf der untersten Ebene das einzelne Individuum, sei es als Konsument oder Produzent. Da aber eine Volkswirtschaft aus einer Vielzahl von Konsumenten und Produzenten besteht, ist eine individuelle Berücksichtigung bei der Beschreibung der Wirtschaft eines Landes nicht mehr möglich. Folglich müssen möglichst homogene Gruppen gebildet werden; auf der Nachfrageseite aggregiert man die Individuen zu Konsumentengruppen und auf der Angebotsseite die Produzenten zu Sektoren und diese vielleicht noch zu Volkswirtschaften. Mensch (1988, S.178) unterscheidet so zum Beispiel zwischen mikro-, meso- und makro-ökonomischer Ebene. Durch diese Aggregation wird in dem betrachteten Realitätsausschnitt die Zahl der Elemente und Verknüpfungen nach einem bestimmten Ordnungs- oder Hierarchieprinzip stark reduziert und die Realität damit handhabbar gemacht. Es wird dabei implizit unterstellt, daß das jeweilige Aggregat sich prinzipiell wie die Summe seiner Individuen verhält, oder es wird ein repräsentatives Individuum bzw. Unternehmen aus dem Aggregat konstruiert. Eine solche Aggregation, die vom Prinzip her auf dem Gesetz der großen Zahlen fußt, liefert uns aber nur dann ein richtiges Bild der Realität, wenn das Verhalten einzelner Individuen vom so gebildeten Durchschnitt nur rein zufällige und keine systematischen Abweichungen zeigt (vgl. Brandes 1985, S.66 f.).
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2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
Innerhalb der Systemtheorie wird zunehmend diskutiert, welche Folgen eine Vereinfachung durch Aggregation für das Systemverhalten hat (vgl. Rahn 1985). Einfache Modelluntersuchungen von Allen et al. (1984) zeigen, daß in bestimmten Situationen gerade kleine, individuelle Abweichungen auf der Mikroebene das Makroverhalten eines Systems in entscheidender Weise beeinflussen können. Diese Abweichungen auf der Mikroebene werden aber durch die Aggregation gerade eliminiert, insbesondere dann, wenn nur die Erwartungswerte durch eine deterministische Gleichung abgebildet werden. Allen (1988, S.110) führt dazu aus: "We can always picture a system in terms of typical components with typical interactions occuring between them. But our picture will lack the evolutionary potential that exist in real life". Auch in pfadabhängigen Systemen, die zum Beispiel von Arthur et al. (1987) untersucht wurden, spielt die individuelle Fluktuation eine entscheidende Rolle für das Systemverhalten. Auf der anderen Seite darf nicht verkannt werden, daß gerade die Aggregation und Abstraktion den entscheidenden Fortschritt in der ökonomischen Theorie gebracht haben. Durch die Schaffung des homo oeconomicus gelingt es der neoklassischen Theorie, die Vielfalt der möglichen menschlichen Verhaltensformen auf einfache, handhabbare Annahmen zu reduzieren. Wie Tietzel (1981, S.115) zeigt, enthält die ökonomische Literatur eine Fülle von Definitionen, in denen Verhalten und Eigenschaften des homo oeconomicus beschrieben werden. Obwohl sich einige Charakteristika im "Laufe seines Lebens" verändert haben und er eine Reihe von Verwandten wie den homo sociologicus, politicus und psychologicus bekommen hat (vgl. Tietzel 1981, S.118), dürften die wesentlichen Eigenschaften noch heute mit den Annahmen der Neoklassik in Einklang stehen, die für alle Individuen Gewinnbzw. Nutzenmaximierung, vollständige Information und unabhängige Entscheidungen bei vollkommenen Märkten unterstellt (vgl. Brandes 1985, S.146). Welche entscheidende Rolle dem homo oeconomicus im Rahmen der ökonomischen Theorie zukommt, beschreibt Maier-Rigaud: "Eine der herausragenden Leistungen der Ökonomie ist die Konstruktion des homo oeconomicus. Durch diese Kunstfigur ist es möglich geworden, Komplexität radikal zu reduzieren und die Ökonomie vor einem fruchtlosen Psychologismus zu bewahren. Erst die Annahme eines Akteurs mit einem eindeutigen und stabilen Entscheidungsmuster macht es möglich, Preisbildungsprozesse herauszuarbeiten. Das Walrasianische System beispielsweise könnte ohne den homo oeconomicus nicht existieren" (Maier-Rigaud 1992, S.29).
Dieses künstliche Individuum weist nun zwar wohldefinierte Verhaltenseigenschaften auf, allerdings stellt die Vielzahl der Individuen zunächst noch ein Problem dar. Aber auch hier scheint die Physik Hilfestellung geben zu können. Ausgehend von den wohldefinierten deterministischen Bewegungsgesetzen der klassischen Mechanik, "entstand mit dem Übergreifen des Erklärungsanspruchs auf die Mechanik der Atome im vorigen Jahrhundert das Erfordernis, die Anfangsbedingungen für jedes Materieteilchen zu spezifi-
2. Komplexität durch
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zieren, um die Newton'schen Gleichungen lösen zu können - angesichts der Zahl von Elementarteilchen offenkundig ein undurchführbares Unternehmen. ... Da aber anzunehmen war, daß die Prinzipien der Mechanik auch für die Bewegungen der Elementarteilchen zutreffen und diese folglich Invarianzen erwarten ließen, war die in den Arbeiten von Maxwell und Boltzmann verfolgte Idee die, daß zwischen Partikelbewegung und Aggregatverhalten stabile, statistisch erfaßbare Zusammenhänge bestehen müßten, auszudrücken in Eigenschaften wie Temperatur, Druck usw.. Diese Vermutung wurde zur Grundlage der statistischen, thermodynamischen Theorie der Mechanik" (Witt 1980, S.32 f.) Unterstellt man, daß sich alle Individuen nach dem Prinzip des homo oeconomicus verhalten, sollte man auch in der Ökonomie erwarten können, daß zwischen individuellem und Aggregatverhalten stabile, statistisch erfaßbare Zusammenhänge bestehen. Das Problem der Ökonomie ist jedoch nicht nur die Vielzahl der Individuen, deren einzelnes Verhalten nicht erfaßt werden kann, sondern auch die Veränderbarkeit des menschlichen Verhaltens. Kann man in physikalischen Systemen von einem konstanten Verhalten der einzelnen Elemente ausgehen, unterliegt das menschliche Verhalten durch Lernen, Denken und Kreativität einer ständigen Veränderung. Damit müßte sich aber auch das Verhalten des Aggregats verändern, und es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Verhalten einzelner Individuen ganz entscheidend das makroskopische Verhalten beeinflussen kann. Dopfer (1991, S.50) zieht in diesem Zusammenhang folgenden Vergleich: "In a process of natural evolution, for instance, mutation only occurs in single organisms. Or, novel ideas such as inventions derive from single human brains, although the specific environment of a firm may have been conductive for this process." Die vorangegangene Diskussion hat gezeigt, daß eine Vielzahl von Elementen die Komplexität einer Marktwirtschaft erhöht. Durch eine Aggregation wie in physikalischen Systemen üblich wird das System zwar handhabbarer, verliert aber gleichzeitig wichtige Eigenschaften, die für die Evolution ökonomischer Systeme verantwortlich sind. Zu dieser Aussage kommt auch Goodwin, wenn er schreibt: "What are some of the differences between the problems of economics and those of the physical sciences? Not only can one not make experiments, but also individual events or elements are not isolated from the others. One can observe a gas without taking account of the phase of the moon or the weather outside. Worse still, each person, firm or market is different from all others, whereas all hydrogen atoms are much the same. The consequence is that we have to consider all the micro elements and all their interactions as one single problem: no amount of detailed observation and analysis of the parts will, by itself, tell us how the whole will behave. In this sense, there are not many different problems in economics: there is only one problem and that one of a nearly insoluble complexity" (Goodwin 1989, S.285).
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2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
2.4 Komplexität durch Dynamik Bisher wurde der Begriff Komplexität nur unter den Aspekten der Vielfalt und der Wechselbeziehungen zur Umwelt betrachtet, womit aber erst das statische Moment der Komplexität erfaßt wird. In den vorangehenden Ausführungen wurde aber schon ohne nähere Erläuterung die Zeit in die Diskussion mit eingebracht. In ökonomischen Systemen spielt diese oft eine entscheidende Rolle, auch wenn die ökonomische Theorie in vielen Fällen davon abstrahiert. So sind Eigenschaften wie Stabilität, Anpassungsfähigkeit an veränderte Umweltbedingungen und Eigendynamik bzw. Evolution nur in dynamischen Systemen zu finden. Bevor jedoch ausführlicher auf die besonderen durch die Dynamik begründeten Eigenschaften eingegangen wird, soll zunächst der Unterschied zwischen statischen und dynamischen Systemen herausgearbeitet werden. Immer dann, wenn ein betrachtetes System sich im Zeitablauf nicht oder scheinbar nicht ändert, bezeichnet man es als statisch. Als Beispiel für ein natürliches statisches System könnte die Geologie unserer Erde und als künstliches System eine Brückenkonstruktion angeführt werden, für die im übrigen ja auch eine Statik erstellt werden muß. Statische Systeme zeichnen sich also dadurch aus, daß alle auf das System wirkenden Kräfte ausgeglichen sind und das System sich damit im Gleichgewicht befindet. In einem solchen Fall sollte eine Beobachtung des Systems zu einem zweiten Zeitpunkt keine Veränderungen gegenüber den Ergebnissen der ersten Beobachtung aufweisen. Doch schon bei den beiden eben genannten Beispielen wird schnell jemand einwenden können, daß die Geologie unserer Erde keineswegs ein statisches System ist, da es immer wieder zu Verschiebungen innerhalb der geologischen Formationen kommt. Und auch eine Brücke weist Schwingungen auf, die nur dynamisch zu beschreiben sind. Diese Einwürfe sind berechtigt und zeigen deutlich, daß die Unterscheidung zwischen statisch und dynamisch eine Frage des Zeitraumes zwischen den Beobachtungen ist. Die Beobachtung von einem System zu einem Zeitpunkt ist zunächst immer eine Momentaufnahme und läßt lediglich Aussagen über den derzeitigen Zustand, aber nicht über mögliche Veränderungen bzw. Bewegungen in einem System zu. Erst durch die Beobachtung des gleichen Systems zu einem zweiten Zeitpunkt läßt sich eine Aussage darüber machen, ob sich etwas geändert hat. Lassen sich vereinzelte Änderungen im System feststellen, dann können bei zwei Beobachtungen auch schon erste Aussagen über die Geschwindigkeit der Änderungen gemacht werden. Aber erst drei Beobachtungen ermöglichen weitere Aussagen darüber, ob die Geschwindigkeit der Veränderungen konstant, abnehmend oder zunehmend ist.
2. Komplexität durch
nai
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Diese kurze Schilderung zeigt schon, daß das Begriffspaar statischdynamisch immer relativ zum Zeithorizont der Betrachtung zu sehen ist, eine Erkenntnis, die sicher nicht neu ist und in verschiedenen Bereichen der Ökonomik Anwendung findet. In der Betriebslehre differenzieren wir zwischen kurz-, mittel- und langfristiger Planung oder zwischen variablen und quasifixen Produktionsfaktoren. Beide Unterscheidungen spiegeln eindeutig den zeitlichen Betrachtungshorizont wider. Auch bei der Beschreibung von Märkten werden verschiedene Reaktionsmechanismen unterschieden, wie Preis- und Mengenanpassungen im kurzfristigen Bereich, Kapazitätsanpassungen auf mittelfristige und Strukturanpassungen auf langfristige Sicht. Nun kann der Begriff Gleichgewicht aber noch weiter differenziert werden. Wenn, wie im Falle der Brücke, von einem Gleichgewicht gesprochen wird, dann ist damit ein Kräftegleichgewicht gemeint; das betrachtete System verharrt in einem Ruhezustand oder auch statischem Gleichgewicht. Ziehen wir als ökonomisches Beispiel wiederum einen Markt heran, dann kann bei Kenntnis der Angebots- und Nachfragefunktion in analoger Weise das Marktgleichgewicht bestimmt werden. Betrachten wir im Gegensatz dazu aber beispielsweise die verschiedenen Populationen in einem Ökosystem, dann sprechen wir auch dort von einem Gleichgewicht, wenn die Größen der einzelnen Populationen sich nicht ändern; trotzdem sind in der Population aber Zu- und Abgänge zu beobachten. Wir haben es hier also nicht mit einem statischen Gleichgewicht zu tun, sondern mit einem dynamischen oder auch Fließgleichgewicht, ein Ausdruck, den Bertalanffy (1953) eingeführt hat. Gleiches könnte man für die Ökonomie sagen; sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite scheiden einzelne Individuen aus, und neue treten in den Markt ein. Ein ausführlicher Überblick zu den verschiedenen Gleichgewichts Vorstellungen in der Ökonomik ist bei Jaeger (1981, S.671 ff.) zu finden. Das Typische an dynamischen Systemen ist aber nicht alleine die Berücksichtigung der Zeit, sondern die Tatsache, daß der derzeitige oder zukünftige Systemzustand nicht allein von den aktuellen externen Einflußfaktoren, sondern auch von den vorhergegangenen Systemzuständen abhängt. Dynamische Systeme haben also quasi eine "Geschichte", die sowohl ihr aktuelles als auch zukünftiges Verhalten beeinflußt. Eine zeitliche Aneinanderreihung statischer Gleichgewichtspunkte stellt aber noch kein dynamisches System dar. In der Ökonomie spielt die Zeit zudem in zweierlei Hinsicht eine entscheidende Rolle. Als erstes ist festzustellen, daß sich ein ökonomisches System, sei es eine Volkswirtschaft oder ein Unternehmen, nicht von heute auf morgen ändern kann. Erhöht sich beispielsweise die Nachfrage nach einem Produkt sprunghaft, dann können die Unternehmen auf diese Änderung der externen
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2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
Bedingungen nur im Rahmen ihrer vorhandenen Lagervorräte, Produktionszeiten und Produktionskapazitäten reagieren; im allgemeinen führt eine sprunghafte Änderung der Nachfrage also nicht zu einer sprunghaften Änderung des Angebotes. Nun sind die vorhandenen Lagervorräte und Produktionskapazitäten bzw. Investitionen aber das Ergebnis von unternehmerischen Entscheidungen der Vergangenheit und spiegeln damit die Geschichte eines Unternehmens oder einer Volkswirtschaft wider, und der aktuelle Zustand eines Unternehmens ist also immer auch das Ergebnis vergangener Unternehmenspolitik und den herrschenden Umweltbedingungen. So kann dem Unternehmenswachstum durch finanzielle Restriktionen, durch die Märkte und durch fehlende Mitarbeiter Grenzen gesetzt sein. Diese dynamische Abhängigkeit ist den Unternehmern im allgemeinen wohl bewußt und führt damit zur zweiten dynamischen Abhängigkeit, nämlich der Erwartungsbildung. Die Unternehmer werden versuchen, mögliche zukünftige Entwicklungen der ökonomischen Rahmenbedingungen zu prognostizieren und in ihre derzeitigen Entscheidungen mit einfließen zu lassen, wodurch eine Verknüpfung mit zukünftigen Systemzuständen entsteht. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß der aktuelle ökonomische Zustand eines Wirtschaftssubjektes durch in der Vergangenheit getroffene Entscheidung geprägt ist und aktuelle Entscheidungen zum einen von diesem Zustand und zum anderen von den prognostizierten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen determiniert werden. Um die bisher beschriebenen Phänomene abzubilden, lassen sich auch entsprechende Modelle finden. Mit statischen Modellen kann der Zustand eines Systems zu einem Zeitpunkt beschrieben werden. Alle Variablenwerte des Modells beziehen sich auf die gleiche Zeitebene, und es wird unterstellt, daß sie den Systemzustand simultan beeinflussen. Vorhergehende oder nachfolgende Systemzustände finden in derartigen Modellen keine Berücksichtigung. Die mathematische Darstellung erfolgt häufig in der Form:
x = /(u). Darin steht der Vektor u für alle kontrollierbaren und nicht kontrollierbaren externen Größen und der Vektor χ für die daraus zusammen mit der Systemstruktur resultierenden Zustands- und Ergebnisgrößen. Die Abbildung realer ökonomischer Systeme durch statische Modelle ist dann zweckmäßig, wenn entweder davon ausgegangen wird, daß sich der Systemzustand ohne Zeitverzögerung einstellt, oder wenn der optimale Zustand bei gegebenen externen Rahmenbedingungen gesucht wird, in den das System gebracht werden soll. "Die Statik ist dabei ein durch das zeitgenössische Wissenschaftsideal, die klassische Mechanik (Georgescu-Roegen
2. Komplexität durch
nai
47
1971, S.l-3), inspirierter Kunstgriff in der Analyse an sich dynamischer Phänomene. Ihm liegt die Überzeugung zugrunde, daß analog zum Vorbild der Mechanik der Gleichgewichtszustand, in dem alle Änderungen antreibenden freien Kräfte verschwunden sind, empirisch bedeutsam sei - so bedeutsam, daß man sich auf seine Untersuchung beschränken könne" (Witt 1987, S.3 f.). Auch bei komparativ-statischen Modellen steht der Gleichgewichtszustand des Systems im Vordergrund der Betrachtungen (vgl. Boland 1984, S.3). Im wesentlichen wird dabei der Frage nachgegangen, welcher neue Gleichgewichtszustand sich bei veränderten externen Rahmenbedingungen einstellt. Von geringerem oder keinem Interesse ist dabei der Anpassungsprozeß, also der zeitliche Verlauf der endogenen Variablen. Allerdings sei darauf hingewiesen, daß diese Modellform nur dann zu korrekten Aussagen führt, wenn sichergestellt werden kann, daß die Anpassungsgeschwindigkeit des Systems im Verhältnis zur Änderungsgeschwindigkeit der exogenen Daten sehr hoch ist. In dynamischen Systemen werden dagegen nicht direkte funktionale Zusammenhänge zwischen endogenen Zustandsvariablen und exogenen Größen betrachtet, sondern es wird versucht, die Veränderung der Zustandsgrößen in Abhängigkeit exogener Größen zu formulieren. Eine allgemeine formale Darstellung stellt die folgende Gleichung dar, wobei χ den Vektor der Zustandsgrößen, u den Vektor der externen Einflußfaktoren und dx/dt den Vektor der Veränderungen repräsentiert. Aus dem aktuellen Systemzustand x, den exogenen Größen u und der Systemstruktur läßt sich so die Veränderung des Systems bestimmen: d x
f,
Λ
I m Gegensatz zum statischen Modell, bei dem der Schwerpunkt des Interesses in der Betrachtung des Gleichgewichtspunktes liegt, steht bei dynamischen Systemen der zeitliche Verlauf der Zustandsvariablen im Mittelpunkt. Jede Zustandsvariable stellt dabei eine Dimension des Zustandsraumes dar und repräsentiert beispielsweise die aktuelle Populationsgröße, den aktuellen Marktpreis oder auch das Produktionspotential eines Betriebes. Grafisch können dynamische Systeme in unterschiedlicher Form dargestellt werden, wie die Abb. 2.2 für ein Federpendel zeigt, bei der die Ortskoordinate und die Geschwindigkeit als Zustandsgrößen definiert sind. Im ersten Diagramm ist der Zeitpfad der Ortskoordinate dargestellt. Das zweite Diagramm zeigt in einem Phasenraumdiagramm den Zusammenhang der beiden Zustandsgrößen Geschwindigkeit und Ortskoordinate des Pendels. Bei dem dritten Diagramm spricht man von einer "Potentiallandschaft". Die dargestellte Funktion beschreibt die potentielle Energie, die ein Massepunkt bei der
48
2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
Auslenkung χ erfährt und die beim "Herunterrollen" in die Mulde in kinetische Energie umgesetzt wird. Die Steigung der Kurve entspricht der Kraft, die auf einen Massepunkt bei der jeweiligen Auslenkung wirkt. Eine "Potentiallandschaft" veranschaulicht recht gut die Stabilität eines Gleichgewichtspunktes, indem der Systemzustand durch eine Kugel repräsentiert wird, die sich in dieser Landschaft bewegt. Befindet sich die Kugel in der Potentialmulde, ist auch das System im Gleichgewicht, wird die Kugel dagegen durch einen Stoß aus dieser Ruhelage gebracht, fällt die örtliche Abweichung vom Gleichgewichtspunkt um so größer aus, je flacher die Mulde ausgeprägt ist. Genausogut kann man sich vorstellen, daß sich ein System bei einer steilen Mulde schneller wieder in die Gleichgewichtslage begibt als bei einer flachen (vgl. Kriz 1992, S.122; Haken 1990, S.l 18).
§ A W W 3000
0.5
Abb. 2.2: Verschiedene Darstellungsformen der Bewegung eines Federpendels
Dynamische Systeme weisen ein viel weiteres Feld von potentiellen Erscheinungsformen auf als statische Systeme. Das Interesse bei der Untersuchung dynamischer Systeme richtet sich nicht nur auf das Auffinden möglicher Gleichgewichtszustände, sondern auch auf den zeitlichen Verlauf und die Geschwindigkeit von Veränderungen der Zustandsgrößen. Zu unterscheiden ist zudem zwischen kurzfristigen und langfristigen Anpassungsreaktionen dynamischer Systeme an sich ändernde Umweltbedingungen. Übertragen wir diese Gedanken einmal auf marktwirtschaftliche Systeme,
2. Komplexität durch
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dann können und werden Unternehmen auf kurzfristige Nachfrageschwankungen zunächst mit Preisänderungen und dann mit Produktionsänderungen reagieren. Zeichnet sich dagegen ein längerfristiger Trend im Nachfrageverhalten ab, reagieren Unternehmen langfristiger mit Veränderungen in den Produktionskapazitäten, mit Produktinnovationen, bis hin zu Unternehmensaufgaben und Neugründungen. Derartige Maßnahmen stellen Strukturveränderungen in einem Sektor dar. Versteht man diesen Sektor als ein System, dann stellen wir fest, daß bei kurzfristigen Änderungen in Form von Preis- und Produktionsanpassungen zwar die Elemente und Verknüpfungen eines Systems erhalten bleiben und nur die quantitativen Ausprägungen sich ändern, bei langfristigen Anpassungen, wie Produktinnovationen, Änderungen der Produktionstiefe, Unternehmenszusammenschlüssen, -aufgaben und -neugründungen sowie die Entstehung neuer Marktbeziehungen, neue Elemente und Verknüpfungen im System selbst entstehen. Diese Form der Systemadaption wird dann auch Systemevolution oder Systemmorphogenese genannt. Für die Erfassung der Zeit in dynamischen Modellen stehen grundsätzlich zwei verschiedene Konzepte zur Verfügung, nämlich eine zeitdiskrete und eine zeitkontinuierliche Darstellung. Welches Konzept bei der Modellierung eines realen Systems zur Anwendung kommt, ist einerseits vom realen System selbst und andererseits von der analytischen Handhabbarkeit der verwendeten Modelle abhängig. Betrachten wir zunächst den Faktor Zeit in realen ökonomischen Systemen, dann drängt sich auf mikroökonomischer Ebene oft der Eindruck auf, daß die Zeit eine diskrete Variable darstellt. Bilanzen werden beispielsweise jährlich erstellt und sind damit auf einen Zeitpunkt bezogen, die dazugehörenden Gewinn- und Verlustrechnungen gelten dementsprechend für feste Periodenlängen. Zins-, Lohn- und Gehaltszahlungen erfolgen in Perioden und nicht kontinuierlich. Unternehmer treffen Investitionsentscheidungen zu einem bestimmten Zeitpunkt und nicht fortlaufend, das gleiche gilt für die Anschaffung langlebiger Konsumgüter. Außerdem beansprucht die Produktion von Gütern eine bestimmte Zeitdauer. Auch auf makroökonomischer Ebene können wir feststellen, daß volkswirtschaftliche Daten periodenorientiert erfaßt und veröffentlicht werden. Diese Beispiele mögen die Feststellung von Lorenz unterstreichen, daß die am häufigsten anzutreffenden Rechtfertigungsgründe für die Wahl eines diskreten Periodenkonzepts wie folgt lauten: " i) Individuen planen über diskrete Perioden, weil z.B. Kontrakteinkommen in festen Intervallen realisiert werden oder weil steuergesetzliche Bestimmungen Abrechnungszeiträume vorgeben. ii) Statistisch erhobene Daten beziehen sich auf diskrete Zeiträume; sie sind z.B. akkumulierte oder Durchschnittswerte über ein Zeitintervall. Modelle, die den Anspruch der Realitätserklärung erheben, müssen demnach in diskreter Zeit formuliert werden, weil nur dann das Modell mit Hilfe von empirischen Daten falsifiziert werden kann" (Lorenz 1991, S.38). 4 Lentz
50
2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
Wie die angeführten Beispiele demonstrieren, liegt den Entscheidungen von Individuen tatsächlich ein diskretes Zeitkonzept zugrunde, doch hat dieses Zeitkonzept zumeist keine festen Zeitspannen. Es wird also weder jährlich einmal über Investitionen nachgedacht, noch ist der Abstand zwischen einzelnen Investitionsentscheidungen genau ein Vielfaches eines Monats oder Jahres, daß heißt die individuellen Entscheidungen lassen sich nicht in ein festes Zeitraster einteilen. Das zweite Argument gegen ein diskretes Zeitkonzept stützt sich auf die Aggregation individueller Entscheidungen. Betrachtet man einen Markt oder einen Sektor als System, dann haben wir es mit der Interaktion einer Vielzahl von Individuen zu tun. Da aber unterstellt werden kann, daß die einzelnen Individuen unterschiedlich lange Vorbereitungszeiten für Entscheidungen oder auch für die Produktion von Gütern benötigen, ist nicht damit zu rechnen, daß die Entscheidungen aller zum gleichen Zeitpunkt getroffen werden. Betrachten wir wieder einen Markt, an dem ein plötzlicher Nachfrageanstieg zu verzeichnen ist, werden wir schnell feststellen, daß nicht alle Produzenten mit einer sofortigen Produktionsausweitung reagieren; der eine wird schneller reagieren und der andere langsamer; das Resultat wird eine kontinuierliche Anpassung der Angebotsmenge an die neue Nachfragesituation sein. Festzuhalten bleibt also, daß zum einen Individuen nicht nach einem festen Zeitraster handeln und zum anderen bei einer Vielzahl von individuellen Entscheidungen der wirtschaftliche Ablauf auf der aggregierten Ebene gegen einen zeitstetigen Prozeß konvergiert. Folglich scheint trotz der angeführten Beispiele ein kontinuierliches Zeitkonzept in vielen Fällen die ökonomische Realität adäquater abzubilden (vgl. Goodwin 1989, S. 115 und S.139; Invernizzi und Medio 1991, S.523). Lediglich bei einigen Agrarmärkten ließe sich argumentieren, daß Produktionsentscheidungen durch natürlich vorgegebene Produktionszeiten zum Teil synchronisiert werden. Kann vielleicht nur einmal im Jahr eine Entscheidung getroffen werden, wie zum Beispiel über die Investition in eine neue Obstanlage oder die Produktionsplanung im Feldfruchtbau, dann würde eine Darstellung mit Differenzengleichungen angebracht sein. Unterliegt die Produktion dagegen keinem von außen vorgegebenen Saisonverlauf und sind mehrere Produzenten bzw. Entscheidungsträger vorhanden, dann sollte zur Modellierung der Gesamtproduktionsmenge besser ein kontinuierlicher Modellansatz, also ein Differentialgleichungssystem, gewählt werden. Das zweite Argument bezieht sich auf ein technisches Problem der Datengewinnung. Im Zuge steigender Informationsverarbeitungskapazitäten könnten sich die Perioden zwischen den Erhebungszeiträumen zukünftig durchaus verkürzen. Doch ist mit der diskreten Datenerfassung natürlich nicht gesagt, daß das damit beobachtete System nicht auch eine kontinuierliche Natur aufweisen kann. Auch bei vielen technischen und naturwissenschaft-
2.4 Komplexität durch Dynamik
51
liehen Systemen haben wir es in der Realität mit zeitkontinuierlichen Prozessen zu tun, deren Zustände aber nur zu festen Zeitpunkten erfaßt werden oder erfaßt werden können. Von der formalen Seite her betrachtet, sind diskrete dynamische Modelle mit Hilfe von Differenzengleichungen und stetige Modelle mit Differentialgleichungen zu formulieren. Es ist zwar einfach, eindimensionale Differenzengleichungen analytisch zu behandeln, für höherdimensionale Systeme ist die mathematische Theorie der Differentialgleichungen aber weit besser entwickelt (Ostrusska 1992, S.9). Werden die Modelle dagegen als umfangreiche Computermodelle formuliert, ist eine Darstellung in Differenzengleichungen meist unvermeidlich. Wie wir noch sehen werden, kann das dynamische Verhalten von Systemen sich grundlegend unterscheiden, abhängig davon, ob sie als Differenzengleichungssystem oder Differentialgleichungssystem formuliert wurden. So ist beispielsweise für das Auftreten chaotischer Phänomene im stetigen Fall zumindest ein System 3. Ordnung nötig, wohingegen im diskreten Fall bereits bei der einfachen logistischen Gleichung 1. Ordnung Chaos auftreten kann. Nach dieser kurzen Diskussion bleibt festzustellen, daß keine allgemeingültigen Empfehlungen für das diskrete oder stetige Zeitkonzept abgegeben werden können. Häufig wird zur Beschreibung der Realität wohl ein kontinuierliches Zeitkonzept angemessen sein, die Modellierung größerer Systeme aus technischen Gründen aber zum Rückgriff auf das diskrete Zeitkonzept zwingen. Speziell in solchen Fällen ist darauf zu achten, daß die erzielten Ergebnisse unabhängig von der gewählten Periodenlänge sind. Mit anderen Worten, die Ergebnisse sollten invariant gegenüber dem Grenzfall sein, so daß die Periodenlänge gegen Null strebt. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß bei der Betrachtung statischer Systeme die Frage nach Gleichgewichtszuständen im Vordergrund steht und diese Modelle in erster Linie eine Momentaufnahme der Realität darstellen. Formal werden statische Systeme durch Gleichungssysteme repräsentiert, in denen die endogenen Zustandsvariablen in Abhängigkeit von exogenen Umweltvariablen definiert werden. Liegt das Schwergewicht bei der Betrachtung statischer Systeme eher bei dem Erkennen struktureller Zusammenhänge, tritt bei dynamischen Systemen das Interesse für das zeitliche Verhalten bzw. für die ablaufenden Prozesse hinzu. Bei der Modellierung dynamischer Systeme werden nicht nur Beziehungen zwischen exogenen und endogenen Zustandsgrößen beschrieben, sondern vielmehr die Veränderungen der endogenen Zustandsgrößen in Abhängigkeit von den Umweltbedingungen (Bewegungsgleichungen). Langfristig verändert sich nicht nur die quantitative Ausprägung einzelner Zustandsgrößen, sondern es verändert sich auch die Zusammensetzung der Zustandsgrößen und ihrer Relationen zueinander, welche das Erscheinungsbild eines Systems prägen. In diesem Zusammenhang spricht man auch von struktureller Stabilität bzw. Instabilität, eine Eigen4*
52
2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
schaft, die allerdings nichtlineare Systeme voraussetzt, die Thema des nächsten Abschnitts sind.
2.5 Komplexität durch Nichtlinearität Lineare Systeme sind im wesentlichen durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet. Die erste besteht darin, daß der Output eines Systems sich immer proportional zum Input verändert. Die zweite Eigenschaft linearer Systeme ist, daß bei Vorhandensein mehrerer Inputfaktoren die Gesamtantwort des Systems gleich der Summe der durch die einzelnen Inputfaktoren verursachten Teilantworten ist. Im ökonomischen Sprachgebrauch würde man von Skaleninvarianz sprechen. Mit Hilfe eines kleinen Beispiels sollen beide Eigenschaften veranschaulicht werden. Um die Proportionalitätseigenschaft zu demonstrieren, wählen wir zunächst eine lineare Angebotsreaktionsfunktion für ein Produkt A\\ AX = -10 + 5/?! Die Variable A\ kennzeichnet das Angebot bei einem Preis p\. Durch den konstanten Faktor -10 und der Annahme, daß es kein negatives Angebot gibt, wird der Definitionsbereich eingeschränkt bzw. der Minimumpreis auf Pmi = 2 gesetzt. Es ist einsichtig, daß bei jeder Preissteigerung um eine Einheit das Angebot um 5 Einheiten steigt. Zur Demonstration der zweiten Eigenschaft erweitern wir unser Modell nun auf einen 2-Produkt-Markt und unterstellen zudem, daß die beiden Produkte teilweise gegeneinander substituiert werden können: AX = -10 + 5/?! -2P 2 A2 = - 8 + 4 / ? 2 - l P i · Da das vorliegende System linear ist, können wir unterstellen, daß die Gesamtveränderung des Angebotes durch die Erhöhung beider Preise der Summe der Angebotsveränderungen entspricht, die durch die getrennte Veränderung des ersten und zweiten Preises resultieren. Der Vorteil für uns besteht nun darin, daß wir zunächst den Effekt einer Preis Veränderung von p\ bei konstantem Preis p i und umgekehrt analysieren können. Die Addition beider Effekte zu einer Gesamtangebotssteigerung muß dem Angebotseffekt entsprechen, der aus der gleichzeitigen Veränderung beider Preise resultiert. Formal läßt sich dieser Sachverhalt durch folgende Gleichungen ausdrücken d( Αχ{ρ χ + d px, p2 + d p2 )) = d (A x { Pl + d px, p2 )) + d (AX {p x, p2 + dp 2 )) d(A 2{p x + dp x, /?2 + dp2 )) = d {A 2(px +,dp x , p2 ))•+ d {A 2 (p x, p2 +,dp 2 )).
2.5 Komplexität durch Nichtlinearität
53
In der folgenden Tabelle sind die einzelnen Effekte für ein numerisches Beispiel zusammengestellt, welche die Aussage belegen. Die erste Spalte stellt dabei die Ausgangssituation dar. In der zweiten Spalte wird der Preis p\ um 2 Einheiten und in der dritten Spalte der Preis p2 um 1 Einheit erhöht. Die vierte Spalte gibt die Angebotsveränderungen durch die beiden Preisänderungen wieder, und die letzte Spalte zeigt den kummulierten Effekt, welcher der Summe der Einzelmaßnahmen entspricht.
Pi
px + dp x
Pi
P2
P\
4
4+2
4
6
P2
4
4
4+1
5
Αχ
2
12
0
10
A2
4
2
8
6
dA\
10
-2
8
8
dA 2
-2
4
2
2
P\ p2 + dp 2
dpi
Pi + dpx
dp 2
p2 + dp 2
Diese Eigenschaft, die auch als Superpositionsgesetz bezeichnet wird und die West (1985, S.68) ausführlich beschreibt, erlaubt es, ein lineares System in seine Einzelteile zu zerlegen, die einzelnen Subsysteme zu analysieren und die so erzielten Ergebnisse in einer Gesamtaussage wieder zu addieren. Wir erkennen, daß dies der schon in Kapitel 2 hervorgehobenen Leitidee von Descartes entspricht, die wiederum prägend für die "klassische Mechanik" war. Die Linearität eines Systems ist Voraussetzung für zwei weitere Eigenschaften, die in enger Verbindung mit den Begriffen Kausalität und Reversibilität stehen und Gegenstand der weiteren Diskussion sein werden. Zuvor ist allerdings noch einmal der Begriff des Gleichgewichts bzw. Attraktors neu aufzugreifen. Wie schon unter der Überschrift "Komplexität durch Dynamik" diskutiert wurde, konzentriert sich das Interesse bei der Untersuchung dynamischer Systeme nicht allein auf den Gleichgewichtsfall, sondern im wesentlichen auf den zeitlichen Verlauf der Zustandsvariablen. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob die Zustandsvariablen unabhängig vom Anfangs- bzw. Startwert des Systems einem bestimmten Endzustand entgegenstreben, den sie dann nicht mehr verlassen. Für den eindimensionalen Fall ist die logistische Funktion ein typisches Beispiel dafür. In der Abb. 2.3 ist der zeitliche Verlauf für verschiedene Startwerte aufgetragen, und es zeigt sich, wie die Zustandsgröße über die Zeit quasi vom Endzustand angezogen wird, was auch zu dem
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2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme X(t)
Abb. 2.3: Annäherung der logistischen Gleichung an einen Punkt-Attraktor von verschiedenen Startwerten aus
Namen Attraktor geführt hat. Für den allgemeinen Fall läßt sich der Begriff des Attraktors eines dynamischen Systems verbal wie folgt definieren: Für ein n-dimensionales dynamisches System x' = f(jc), χ e R n , ist eine beschränkte Menge A e R n ein Attraktor des Systems, wenn es eine Umgebung von A gibt, für die gilt, daß jede Trajektorie, die in dieser Umgebung beginnt, auch in dieser Umgebung bleibt und sich mit der Zeit dem Attraktor immer mehr nähert (vgl. Lorenz 1991, S.41 f.).
Bei dem Beispiel mit der logistischen Gleichung handelt es sich um einen sogenannten Punkt-Attraktor, den wir meistens wohl zuerst mit dem Begriff Gleichgewicht in Verbindung bringen. Neben diesem läßt die obige Definition aber weitere Formen von Attraktoren zu. Abhängig von der Dimension des dynamischen Systems existieren eine mehr oder minder große Zahl von Attraktoren, die z.B. den gesamten Phasenraum eines Systems ausfüllen oder die, im Falle der gleichzeitigen Existenz mehrerer separater Attraktoren, zueinander in Konkurrenz stehen können. Der bekannteste nicht-FixpunktAttraktor ist der sogenannte Grenzzyklus, wie er in Abb. 2.4 dargestellt ist. Alle Trajektorien, die in der Umgebung U starten, konvergieren im Laufe der Zeit gegen die Linie A. Das Gegenstück zum Attraktoren stellt der Repeller R dar, dem sich eine Trajektorie nicht nähert, sondern von dem sie abgestoßen wird, so daß sich die Trajektorien von der Menge R entfernen. Eine mathematische Behandlung der
2.5 Komplexität durch Nichtlinearität
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Abb. 2.4: Grenzzyklus-Attraktor
Attraktoren erfolgt im Kapitel 3. Hier sei nur noch darauf hingewiesen, daß in linearen Systemen ausschließlich Fixpunkt-Attraktoren auftreten können. Kausalität Zeitliche Entwicklungen verlaufen meist nicht regellos, sondern zeigen ein gesetzmäßiges bzw. kausales Verhalten. Kausalität bedeutet dabei, daß ein System bei exakt gleichen Anfangsbedingungen und konstanter Umwelt jedesmal die gleiche Entwicklung zeigt, oder anders formuliert, gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen. Diese Aussage ist aber mehr von theoretischem Wert, da es in der Praxis meist unmöglich ist, exakt gleiche Anfangsbedingungen zu messen oder herzustellen. Dagegen steht nicht nur die schon zuvor geschilderte Komplexität in Systemen, sondern zudem prinzipielle Grenzen der Beobachtbarkeit und schließlich auch die historische Einmaligkeit jeder Situation (Blaseio 1986, S.23). Stillschweigend geht man daher in den meisten Fällen davon aus, daß nahezu gleiche Beobachtungswerte auch zu annähernd gleichen Ergebnissen führen. Doch schon bei recht einfachen, aber nichtlinearen Systemen läßt sich zeigen, daß dies nur für exakt gleiche Anfangsbedingungen gilt und bereits geringfügige Abweichungen bei den Anfangswerten zu einem gänzlich anderen zeitlichen Verlauf der Systemzustände führen können. Dieses Phänomen wird als sensitive Abhängigkeit von den Anfangswerten bezeichnet. Führen ungefähr gleiche Anfangswerte auch zu einem ungefähr ähnlichen Verhalten des Systems, dann spricht man auch von starker Kausalität (Gassmann 1991, S.375 f.). Dagegen liegt eine schwache Kausalität vor, wenn
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2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
nur identische Anfangsbedingungen ein gleiches zeitliches Verhalten erzeugen und schon geringe Abweichungen in den Anfangswerten einen gänzlich anderen Verlauf verursachen. Da gerade in der Ökonomik zumeist nicht von exakten Werten ausgegangen werden kann, ist insbesondere bei Vorliegen nichtlinearer Systeme Vorsicht geboten und gegebenenfalls die Sensitivität der Ergebnisse auf kleine Parametervariationen zu prüfen. Die Ursache für derart sensitive Abhängigkeiten liegt in der Tatsache begründet, daß lineare Systeme maximal einen Gleichgewichtspunkt aufweisen können, welcher dann auch immer global wirkt. I m Gegensatz dazu können nichtlineare Systeme mehrere lokale Gleichgewichtspunkte besitzen. Die Folge davon ist, daß bei dynamischen Systemen der Anfangszustand ausschlaggebend dafür sein kann, welchen Endzustand das System erreicht. Zudem kann es nach einer Störung passieren, daß nicht mehr das alte Gleichgewicht erreicht wird, sondern das System durch die Störung in den Stabilitätsbereich eines anderen lokalen Gleichgewichtes gebracht wurde. Lineare Systeme erreichen dagegen nach dem Abklingen einer Störung immer wieder ihr globales Gleichgewicht, wenn dieses stabil ist. Irreversibilität Eine Bewegung wird in der Physik als reversibel bezeichnet, wenn eine Umkehrung der Bewegungsrichtung nicht im Widerspruch zu den Gesetzen der Physik steht. Allgemeiner heißt das, was durch eine dynamische Entwicklung entstanden ist, kann dann durch eine invers gerichtete Entwicklung wieder rückgängig gemacht werden. Die dynamischen Gleichungen der Mechanik sind reversibel, und auch die in der Ökonomik angewandten Wachstumsmodelle lassen es zumeist zu, sowohl vom Anfangswert auf den Endwert als auch umgekehrt zu schließen. Doch schon in der Thermodynamik wird über die Berücksichtigung des Zufalls die Irreversibilität oder die Richtung des Zeitpfades eingeführt und der damit in unmittelbarem Zusammenhang stehende Begriff der Entropie geprägt. Die Irreversibilität der Prozesse in der Natur begegnet uns täglich. "Die Kohle in unserem Ofen verbindet sich mit Luftsauerstoff zu Kohlendioxid und Asche, der Sandberg vor unserem Haus zerfließt, unsere Werkzeuge und Maschinen verschleißen. Eine Welt, in der all diese Prozesse auch umgekehrt verlaufen, vermag sich die kühnste Phantasie nicht vorzustellen" (Ebeling et al. 1990, S.45). Wie in dem Zitat schon anklingt, unterliegen auch ökonomische Systeme der Irreversibilität, was schon durch die manchmal zu hörende Redewendung "Die Zeit läßt sich nicht zurückdrehen" zum Ausdruck kommt. Auf einzelbetrieblicher Ebene stellen beispielsweise Investitionen solche irreversiblen Entscheidungen dar. Durch Investitionsentscheidungen wird zunächst Finanz-
2.5 Komplexität durch Nichtlinearität
57
vermögen in Anlagevermögen transformiert, mit dem Ziel einer über die Zeit verteilten erneuten Rückwandlung von Anlagevermögen in Finanzvermögen. Sollte sich dabei vor Ablauf der geplanten Nutzungsdauer herausstellen, daß die Investition nicht die geplante Rendite aufweist, ist eine vorzeitige Rückwandlung des Anlagevermögens in Finanzvermögen oft nur durch Liquidierung des Anlagevermögens möglich, ein Vorgang, der zumeist mit finanziellen Einbußen verbunden ist. Investitionen sind damit in den meisten Fällen nicht vollständig reversibel; die moderne Betriebslehre verwendet für dieses Phänomen auch den Begriff der 'sunk costs'. Ähnliche Beispiele lassen sich in vielen ökonomischen Bereichen finden, in denen zunächst finanzielle Vorleistungen für spätere Erträge zu erbringen sind. Auf volkswirtschaftlicher Ebene zählen hierzu sicherlich Infrastrukturmaßnahmen, aber auch die Investitionen in die Aus-, Weiter- und Fortbildung. Da zudem soziale Akteure über Gedächtnis verfügen, können sie die Reversibilität in einem System entdecken. Ihnen würde auffallen, daß sie den gleichen Zustand des Systems schon einmal erlebt haben. Doch gerade die Kenntnis, daß es sich um eine Wiederholung handelt, ist eine neue Erkenntnis, welche die aktuelle Situation von der alten Situation unterscheidet. "Die Entdeckung von Wiederholung durch den Akteur mit Gedächtnis zerstört mit der Reversibilität zugleich eine andere Möglichkeit der Wiederholung" (Blaseio 1986, S.25). Kommen wir nun noch einmal auf den schon weiter oben erwähnten Begriff der Entropie zurück, der im Rahmen der Ökonomik vor allem von Georgescu-Roegen (1976) eingeführt worden ist. Zur Erklärung des Begriffs Entropie soll noch einmal auf zwei Beispiele zurückgegriffen werden. Im ersten Beispiel bringen wir einen kalten Körper mit einem heißen in Kontakt. Die Folge ist, daß ein Wärmeaustausch solange erfolgt, bis schließlich beide Körper dieselbe Temperatur haben. Der Endzustand dieses Systems ist makroskopisch gesehen also völlig homogen. Da wir den umgekehrten Fall, daß sich ein Körper spontan an einem Ende erwärmt, um sich am anderen abzukühlen, in der Realität nicht beobachten können, handelt es sich um einen irreversiblen Prozeß. "Schreibt ein Flugzeug mittels Rauch Wörter an den Himmel, werden die Buchstaben im Laufe der Zeit immer diffuser, um schließlich zu vergehen" (Haken 1990, S.l f.). Auch diesen Prozeß werden wir in umgekehrter Form nicht sehen. In beiden Beispielen strebt das System einem eindeutigen Endzustand zu, dem Zustand des thermischen Gleichgewichts. "Analysiert man diese Vorgänge auf einer mikroskopischen Ebene, die die Bewegung der Atome und Moleküle betrachtet, stellt sich heraus, daß die Unordnung immer zugenommen hat" (Haken 1990, S.2). Diese Phänomene werden in der Thermodynamik mit der Entropie beschrieben, welche ein Maß für die Unordnung darstellt. Nach den Gesetzen der Thermodynamik strebt ein geschlossenes System immer dem thermodynamischen Gleichgewicht zu,
58
2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
einem Zustand größter Unordnung und maximaler Entropie. Um ein System in einen Zustand niedriger Entropie bzw. höherer Ordnung zu bringen, bedarf es eines Energieaufwandes. Das System nimmt dabei Energie niedrigerer Entropie auf und exportiert Energie höherer Entropie. Da ein geschlossenes System immer der maximalen Entropie zustrebt, erfordert der Erhalt einer Ordnung in einem System grundsätzlich eine Energiezufuhr. Auf dem geschilderten Konzept bauen eine Reihe weiterer Definitionen auf, die im folgenden dargestellt werden. Wenn sich die Struktur eines Systems, die mit dessen Ordnung gleichgesetzt wird, nicht ändert, spricht man heute auch von Gleichgewichtsstrukturen. Die Prozesse, die in diesem Zustand ablaufen, sind lediglich stochastischer Natur und reversibel. Derartige Systeme werden auch als konservative Systeme bezeichnet und sind dadurch gekennzeichnet, daß Energie weder aufgenommen noch abgegeben wird. I m Gegensatz dazu stehen dissipative Systeme, die ständig freie Energie in Entropie umwandeln. Durch die Aufnahme der Energie und dem Export von Entropie ist es diesen Systemen theoretisch möglich, auch Zustände höherer Ordnung zu erreichen. Mit anderen Worten, diese Systeme können ihre eigene Ordnung verändern und werden darum auch als evolvierende Systeme bezeichnet (Jantsch 1992, S.334 f.). Übertragen wir diese Gedanken auf die Ökonomie, dann werden wir schnell feststellen, daß auch ökonomische Systeme in den meisten Fällen irreversibel sind und einer Art zunehmender Entropie unterliegen. Im Bereich der Produktion ist dies ganz offensichtlich, hier haben wir es zumeist mit physikalischen Vorgängen zu tun, die damit auch dem 2. Gesetz der Thermodynamik unterliegen. Auch der gesamte Bereich der Ressourcenökonomik befaßt sich im wesentlichen mit dieser Problematik. Doch finden wir auch in typischen ökonomischen Funktionen wie Planung und Kontrolle Prozesse, die Energie mit niedriger Entropie aufnehmen und mit höherer Entropie wieder abgeben? Da alle Funktionen in der Ökonomie Zeit und Arbeitskraft verbrauchen, muß diese Frage mit ja beantwortet werden. Auch der Aufbau, der Erhalt und die Leitung eines Unternehmens ist ein irreversibler Prozeß, der zum Aufbau und Erhalt einer Ordnung 'freie Energie' verbraucht. In der Betriebswirtschaft wird dies vielleicht unbewußt deutlich in dem Begriff 'dispositiver Faktor', der die Leistung des Unternehmers kennzeichnet. Die Vielheit der Wirtschaftssubjekte und ihre potentiellen Handlungsmöglichkeiten sind in einem sozialen System so groß, daß nicht alle gleichzeitig verwirklicht werden können. Damit besteht aber ein Zwang zur Selektion der zulässigen Möglichkeiten, also zur Wahl einer Ordnung. Ordnung bedeutet dabei gleichzeitig auch die Einschränkung der Freiheitsgrade des Systems. "Durch Selektionszwang und durch Konditionierung von Selektionen läßt sich erklären, daß aus einer Unterschicht von sehr ähnlichen Einheiten (z.B.
2.5 Komplexität durch Nichtlinearität
59
wenigen Arten von Atomen, sehr ähnlichen menschlichen Organismen) sehr verschiedenartige Systeme gebildet werden können" (Luhmann 1988, S.47). Dies entspricht der weiter oben angesprochenen Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroebene. Demnach zwingen die Vielheit und die dadurch für jeden einzelnen entstehende Komplexität in sozialen Systemen zu einer Herstellung von Ordnung aus dem System heraus. "Ordnung bedeutet Gesetzmäßigkeit, die dem Beobachter erlaubt, Fehlendes in einem System zu ergänzen oder Fehlerhaftes zu erkennen, Teile zusammenzufügen, Verhalten abzustimmen usw.. Ordnung enthält damit Einschränkungen der Freiheiten oder Verhaltensmöglichkeiten in einem System, indem Willkür und Zufall in einem gewissen Maße ausgeschlossen werden. Dabei ist Ordnung nicht etwas Einmaliges oder Statisches. Sie ist dynamisch, aber weist Konstanz auf (Ordnung hat »Geschichte«)" (Probst 1987, S.68). Diese Ordnung wird vom sozialen System selbst und nicht von einer höheren Hierarchie hergestellt, womit eine weitere Eigenschaft ökonomischer und sozialer Systeme deutlich wird, nämlich die der Selbstorganisation. Selbstorganisation Schon Adam Smith sprach von der "unsichtbaren Hand", durch die Angebot und Nachfrage sich selbst organisierten. Die klassische Systemtheorie, geprägt durch Wiener, Shannon und später Ashby, befaßte sich hingegen zunächst intensiv mit Rückkopplungsmechanismen und Prozeßabläufen innerhalb vorgegebener Strukturen und mit der Aufrechterhaltung und der Rückführung eines gestörten Systems in den stabilen Zustand. Doch wurde sehr bald die Frage gestellt, wie es zu derartigen Strukturen bzw. Ordnungen in Systemen kommt. Die Entstehung solcher Ordnungsstrukturen zu verstehen, ist Ziel von Forschungsarbeiten sowohl in der Physik als auch in der Biologie. So konnte Prigogine mit seinen Brüsseler Mitarbeitern bei Untersuchungen an chemischen Reaktionen zeigen, "daß unter gewissen Bedingungen nichtlineare Interaktionen in einem »Netzwerk« fern von einem thermodynamischen Gleichgewicht zur Emergenz von neuen Ordnungsmustern führen können" (Probst 1987, S.21). Außerdem befaßt sich der Physiker Haken mit Fragen des Zusammenwirkens einzelner Teile und der Entstehung spontaner Ordnungen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen ließen ein neues interdisziplinäres Forschungsgebiet entstehen, das Synergetik heißt (Haken 1990, S.371). Kennzeichen bei allen untersuchten Systemen ist, daß es sich um nichtlineare Systeme handelt. "Nichtlinearität ist also eine notwendige Voraussetzung für Selbstorganisation" (Ebeling 1991, S.25). Die Bildung von Ordnungsstrukturen kann aber nicht nur in physikalischen und biologischen Systemen beobachtet werden, sondern ist, wie weiter oben
60
2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
schon anklang, auch in sozialen Systemen zu beobachten. Wie Ulrich (1978, S.198) schreibt, "weiß man seit langem, daß Menschengemeinschaften sich selbst strukturieren, daß also derartige Ordnungsgefüge auch ohne Erlaß von Organisationsvorschriften entstehen, und zwar nicht nur aus rationaler Einsicht in die Zweckmäßigkeit einer bestimmten »Rollenverteilung« unter den Beteiligten heraus, sondern auch aufgrund des Bedürfnisses der Menschen nach Ordnung und Sicherheit". Wie bereits erwähnt wurde, ist Komplexität nicht nur eine objektive Eigenschaft des betrachteten Systems, sondern resultiert vielmehr aus dem Verhältnis von Objekt und Subjekt. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, daß der Mensch bestrebt ist, diese Komplexität durch die Schaffung von Regeln und Konventionen zu reduzieren. Sugden versucht in einem Aufsatz zu zeigen, daß derartige Ordnungsstrukturen spontan in Form von Konventionen entstehen können. "In particular, rules of property - the essential preconditions for markets to work - can evolve in this way. These rules are not the result of any process of collective choice. Nor do they result from the kind of abstract rational analysis employed in classical game theory, in which individuals are modelled as having unlimited powers of deductive reasoning but no imagination and no common human experience. In this sense, at least, conventions are not the product of our reason. Nor are these patterns of behavior necessarily efficient. They have evolved because they are more successful at replicating themselves than other patterns" (Sugden 1989, S.97). Heiner (1983, S.561) vertritt eine ähnliche Auffasssung: "In particular, I believe that observed regularities of behavior can be fruitfully understood as "behavioral rules" that arise because of uncertainty in distinguishing preferred from less-preferred behavior. Such uncertainty requires behavior to be governed by mechanisms that restrict the flexibility to choose potential actions, or which produce a selective alertness to information that might prompt particular actions to be chosen. These mechanisms simplify behavior to lesscomplex patterns, which are easier for an observer to recognize and predict". Auch die Entstehung des Geldes kann man als eine Maßnahme zur Reduktion von Komplexität verstehen. Erst das Geld ermöglicht die Arbeitsteilung und Spezialisierung in der Produktion. Ohne die Existenz eines allgemein gültigen Tauschmittels würde sich der Austausch der Güter wesentlich komplizierter vollziehen, wie Siebert (1992, S.248) an zwei Beispielen eindrucksvoll demonstriert (vgl. hierzu auch Küppers und Krohn 1992, S.162). Aber auch die Entstehung von Märkten ist eine Art Selbstorganisation in ökonomischen Systemen. Wie Probst (1987, S.17) beschreibt, erachtete Adam Smith "die ungeplanten, spontanen Interaktionen im Markt als Ursache für die Entstehung einer Ordnung und beschrieb die selbstkorrigierenden und lenkenden Fähigkeiten von Individuum und Markt". Und von Hayek (1969,
2.6 Zusammenfassung
61
S.36, zit. bei Probst 1987, S.18) schreibt, "daß eine Ordnung entstehen kann, die weder ganz unabhängig von menschlichen Handeln ist, noch auch das bezweckte Ergebnis solcher Handlungen, sondern das nichtvorgesehene Ergebnis von Verhalten, das die Menschen angenommen haben, ohne ein solches Resultat im Sinne zu haben". Es gibt sicher noch viele andere Beispiele zu diesem Thema, wie auch die umfangreichen Literaturangaben zur Selbstorganisation sozialer Systeme bei Probst (1987, S.23 f.; 1992, Sp. 2255 ff.) zeigen. Die Entstehung von Ordnungsstrukturen und damit eine Komplexitätsreduktion findet auch durch die Ergebnisse der Wissenschaft statt. "Sie erarbeitet Orientierungsvorgaben, mit denen vormals aus Komplexitätsgründen Unzugängliches erfahrbar wird" (Blaseio 1986, S.27). Durch diese Beobachtung des eigenen Systems entsteht innerhalb des Systems ein Modell seiner selbst. Dies wird auch als Selbstreferenz bezeichnet. Daß dieses nicht ohne Probleme ist, zeigt im ökonomischen Bereich die Entstehung positiver Rückkopplungen. Ökonomische Prognosen führen beispielsweise an den Aktienbörsen zu Überreaktionen: "Die Hausse nährt die Hausse". Ähnlich könnte es sich mit dem schon klassischen Schweinezyklus verhalten. Zudem ist es denkbar, daß gerade die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ja Regelmäßigkeiten aufspüren wollen, dazu beitragen, diese zu zerstören. Das Forschungsobjekt lernt quasi die Forschungsergebnisse über sich selbst kennen und zieht daraus möglicherweise Konsequenzen für sein weiteres Verhalten (Tietzel 1982, S.314). In diesen Rahmen paßt auch die Äußerung von Keynes, "die Ideen der Ökonomen - ob nun falsch oder richtig - seien wirkungsvoller als gemeinhin angenommen, denn die Welt werde von kaum etwas anderem regiert" (Keynes 1936, S.383).
2.6 Zusammenfassung Die vorangegangene Diskussion hat gezeigt, daß die Linearisierung, Aggregation und Konzentration auf statische oder komparativ-statische ökonomische Modelle zu einer erheblichen Komplexitätsreduktion führt. Dies ist in der Tat ja auch die Absicht jeder Modellbildung. Trotzdem muß gefragt werden, ob durch diese starke Komplexitätsreduktion nicht wesentliche, charakteristische Eigenschaften ökonomischer Systeme verloren gehen. Gerade in einer sich dynamisch entwickelnden Volkswirtschaft spielen technischer Fortschritt und Innovationen eine wesentliche Rolle. Nicht umsonst wird immer wieder darauf hingewiesen, daß das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Es scheint, daß bei der "Konstruktion der Wirklichkeit" das Konzept der "klassischen Mechanik" nicht immer adäquat ist und durch eine zu starke Orientierung an dieser Leitidee wesentliche Aspekte ökonomischer Systeme
62
2. Komplexität marktwirtschaftlicher Systeme
von vornherein ausgegrenzt werden. Zudem drängt sich der Eindruck auf, daß es vom Systemzustand abhängig ist, ob eine abstrakte Vorstellung die Realität richtig wiedergibt oder nicht. Befindet sich ein System nahe einem Gleichgewichtszustand, der sich auch nach Störungen immer wieder einstellt, sind sicherlich mit einem linearen Modell hinreichende Prognosen bezüglich des Systemverhaltens zu machen. Ist allerdings mit Entwicklungen zu rechnen, die ein System in ein neues Gleichgewicht treiben oder die Struktur bzw. Ordnung des Systems verändern können, bedarf es einer erweiterten Modellierung, die sich nicht mehr nur auf lineare Systeme stützen kann. Mit dem folgenden Kapitel soll diese Problematik aufgegriffen und sollen neuere Entwicklungen im Bereich der formalen Darstellung nichtlinearer Systeme aufgezeigt werden.
3. Neuere Entwicklungen in der Theorie dynamischer Systeme Wurde im vorhergehenden Kapitel versucht, die Komplexität ökonomischer Systeme auf der verbalen umgangssprachlichen Ebene darzustellen, so soll in diesem Kapitel ein Überblick über die formalen Darstellungs- bzw. ι Beschreibungs- und Analysemöglichkeiten gegeben werden. Wir öffnen mit diesem Kapitel also quasi den mathematischen "Instrumentenkasten" und lernen einen Teil der zur Verfügung stehenden Werkzeuge kennen. Um den Unterschied zwischen dem Ansatz der klassischen Mechanik und neueren Methoden besser herausarbeiten zu können, wird im ersten Teil der dynamische lineare Ansatz kurz rekapituliert, um anschließend die nichtlinearen Ansätze vorzustellen. Der Weg führt uns dabei vom einfachen Systemverhalten mit einem Punkt-Attraktor über Grenzzyklen zu chaotischen Attraktoren und schließlich zu stochastischen Systemen, mit denen versucht wird, den Einfluß der Mikroebene auf die Makroebene zu demonstrieren.
3.1 Darstellung und Analyse dynamischer Systeme Dieser Abschnitt stellt im ersten Teil eine kurze Einführung in die Modellierung dynamischer Systeme durch Differential- bzw. Differenzengleichungen dar und führt einige damit im Zusammenhang stehende Begriffe ein. Daran anschließend wird erörtert, welche Fragestellungen mit der Analyse formaler dynamischer Modelle möglicherweise verknüpft sein können bzw. welchen Zielen die Aufdeckung von Modellimplikationen dienen kann.
3.1.1 Formale Darstellung dynamischer Systeme Wie schon zuvor erwähnt wurde, spricht man von dynamischen Systemen, wenn der derzeitige oder zukünftige Systemzustand nicht allein von den aktuellen Einflußfaktoren, sondern auch von den vorangegangenen Systemzuständen abhängt. Dynamische Systeme haben also quasi eine "Geschichte", die sowohl ihr aktuelles als auch zukünftiges Verhalten beeinflußt. Zur formalen Abbildung solcher zeitlich dependenter Systeme eignen sich sowohl Differenzen- als auch Differentialgleichungssysteme, welche die Veränderung eines Systems in Abhängigkeit vom aktuellen Systemzustand und von den
64
3. Neuere Entwicklungen in der Theorie dynamischer Systeme
aktuellen exogenen Einflußfaktoren beschreiben können. Differenzensysteme sind immer dann angebracht, wenn ein System sich nur zu diskreten Zeitpunkten verändern kann; Differentialsysteme kommen dagegen zur Anwendung, wenn es um die adäquate Abbildung kontinuierlicher Prozesse geht. Die Frage, ob eine zeitdiskrete oder zeitkontinuierliche Abbildung zur Erfassung des realen ökonomischen Problems adäquat ist, wurde schon im Abschnitt "Komplexität durch Dynamik" erörtert und soll hier nicht noch einmal aufgegriffen werden. Das Arbeiten mit dynamischen Modellen erschöpft sich nicht in der Entwicklung eines Modellansatzes, sondern es sollen vielmehr anhand der entwickelten Modelle bestimmte Informationen über das beschriebene System gewonnen werden. Da die Differentialgleichungen lediglich die Veränderung eines Zustandes beschreiben, zielt die erste Frage darum zumeist auf den zeitlichen Verlauf der Zustandsvariablen. Eine Antwort auf diese Frage ist durch das Lösen der Differentialgleichung oder des Differentialgleichungssystems möglich. Das heißt die Gleichungen sind mathematisch so umzuformen, daß der Verlauf der Zustandsgrößen als Funktion der Zeit und der externen Einflußfaktoren angeben werden kann. Ein einfaches Beispiel stellt die Zinsberechnung dar. Für die kontinuierliche Verzinsung gilt die Differentialgleichung
dt wobei ζ für den Zinssatz und y für den Kapitalstock steht. Aus dieser Gleichung läßt sich zunächst lediglich der Zins bzw. die Kapitalveränderung dy(t)ldt bestimmen. Soll nun zum Beispiel der Kapitalbestand nach 10 Zeiteinheiten ermittelt werden, ist bei einem iterativen Vorgehen als Ersatz für eine analytische Lösung zunächst ein Anfangswert zum Zeitpunkt t = 0 für den Kapitalbestand (jy(0)) festzulegen und anschließend der Kapitalbestand für jede Folgeperiode zu berechnen. Dieses iterative Lösen läßt sich nur dann vermeiden, wenn es gelingt, die Zustandsgröße y allein in Abhängigkeit von der Zeit t und dem Anfangswert y(0) darzustellen. Für das obige Beispiel ist die explizite Lösung gegeben durch y(t) =
y(0)e zt.
Diese Gleichung erfüllt genau die obige Forderung und ermöglicht es, für jeden beliebigen Anfangswert y(0) und zu jedem beliebigen Zeitpunkt t den Kapitalwert bzw. die Zustandsgröße y bei gegebenem Zinssatz ohne Iterationen zu berechnen.
3.1 Darstellung und Analyse dynamischer Systeme
65
Die unterschiedlichen Eigenschaften, aber auch die Möglichkeiten der analytischen Behandlung von Differentialgleichungen sind stark von deren Form abhängig. Daraus resultieren eine Reihe von Begriffen zur Klassifizierung von Differentialgleichungen. Drei dieser Begriffe, die bei der mathematischen Behandlung von Differentialgleichungen eine wesentliche Rolle spielen, sollen im folgenden beschrieben werden. Ordnung von Differentialgleichungen Die Ordnung einer Differentialgleichung richtet sich nach der höchsten vorkommenden Ableitung. Wie noch gezeigt wird, sind lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung immer in ein System von η linearen Differentialgleichungen 1. Ordnung und vice versa zu überführen. Die drei folgenden Beispiele veranschaulichen das Konzept der Ordnung von Differentialgleichungen. É É î l = a y(f ) + X
É l m dt É l M dt
= b
=
É M dt
É M dt
1. Ordnung
+ a y ( t )
t + y ( t ) t
2
2. Ordnung
2. Ordnung.
Homogene versus inhomogene Differentialgleichungen I m allgemeinen wird von einer homogenen Gleichung r. Grades gesprochen, wenn eine Multiplikation aller unabhängigen Variablen mit einer Konstanten j die endogene Variable um den Faktor j r verändert. Von linearer Homogenität spricht man, wenn r = 1 ist. I m Falle von Differentialgleichungen ist es angebracht, alle endogenen Variablen zunächst auf die linke Seite der Gleichung zu bringen und alle exogenen auf die rechte Seite, woraus im einfachsten Fall die folgende Gleichung resultiert: + ay(t) = u. dt Eine Differentialgleichung ist nur dann homogen, wenn u = 0 ist. Dies gilt für alle Differentialgleichungen. Oft wird in diesem Zusammenhang auch von einem autonomen oder geschlossenen System gesprochen, da dieses System 5 Lentz
66
3. Neuere Entwicklungen in der Theorie dynamischer Systeme
nicht dem Einfluß einer exogenen Variablen u unterliegt, sondern allein von den Anfangsbedingungen y(0) abhängig ist. Umgekehrt ist die exogene Variable u immer dann notwendig, wenn das zu modellierende System in der Realität nicht beeinflußbaren Störgrößen ausgesetzt ist oder durch gezielte Eingriffe von außen gesteuert werden kann. Lineare versus nichtlineare Differentialgleichungen Die letzte Unterscheidung betrifft die Linearität von Differentialgleichungen, eine Eigenschaft, die uns im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch intensiver beschäftigen wird. Man spricht von einer linearen Differentialgleichung, so lange die abhängige Variable und ihre Ableitungen nur in der ersten Potenz und nicht in gemischten Gliedern, wie zum Beispiel y(t) · ( 0 wächst das System unendlich, für r < 0 konvergiert das System von jedem beliebigen Startpunkt gegen 0 und für r = 0 verharrt das System in seinem Anfangszustand. Hat man es mit einem System zu tun, das einem externen Einfluß unterliegt, dann ist der einfachste Ansatz eine lineare inhomogene Differentialgleichung 1. Ordnung: dx (t) —— dt
/ \ I = rx(t) + b.
Zur Lösung dieser Gleichung bedarf es zunächst einer einfachen Umformung: dx(t)
f , =
—
dx(t) x(t) + Die Integration beider Seiten führt zu In
r
V
N W +
M 7 j
= rdt.
3
+ c{ = r i + c 2 .
Auch hier lassen sich wieder die beiden Konstanten cx und c2 zu c zusammenfassen und die Gleichung entlogarithmieren: x(t)
+- = r
x(t) = A er t -— = x k + χF r
ert+ c=er te c=Aert
(allgemeine Lösung für r * 0).
Für den Fall, daß r = 0 ist, muß ein etwas anderer Lösungsansatz gewählt werden, der zu folgender Gleichung führt: x(t) = A er t - b t = x k + x p
(allgemeine Lösung für r = 0).
Ein Vergleich mit der Lösung der homogenen Differentialgleichung zeigt, daß die Lösung einer nichthomogenen Differentialgleichung 1. Ordnung aus der Summe zweier Terme besteht, wobei der erste Term je* mit der Lösung der
3.2 Eigenschaften linearer dynamischer Systeme
73
homogenen Gleichung identisch ist, als komplementäre Funktion bezeichnet wird und das Zeitverhalten des Systems beschreibt. Der zweite Term, die partikuläre Funktion x p, kennzeichnet dagegen den Wert des Gleichgewichtspunktes. Auch in diesem Fall kann A aus dem Anfangszustand des Systems bestimmt werden: x(0) = A e
r 0
~ r
=> A =
x(0)+r
und beschreibt damit die anfängliche Abweichung des Systems vom Gleichgewichtspunkt. Nachdem die Lösung der inhomogenen linearen Differentialgleichung vorliegt, soll nun versucht werden, die anfangs gestellten drei Fragen an ein dynamisches System für den Fall der linearen Differentialgleichungen zu beantworten. Das System befindet sich im Gleichgewicht, wenn die Veränderung beziehungsweise die 1. Ableitung nach der Zeit 0 ist. Daraus folgt
ÉM dt
= r x ( t ) + b =
m—*·.
0
r
Der Gleichgewichtspunkt des Systems ist also gegeben, wenn der Systemzustand den Punkt -blr erreicht hat. Vergleichen wir dieses mit der Lösung der Differentialgleichung, dann bestätigt sich, daß der rechte Term den Gleichgewichtspunkt beschreibt, wohingegen der linke Term die Annäherung an diesen Punkt bestimmt. Damit läßt sich auch schon etwas über die Stabilität der Lösung aussagen. Das System nähert sich nur dann dem Gleichgewichtspunkt, wenn r < 0 ist, denn nur dann tendiert der Term er t mit t => °° gegen 0. Der Wert von r bestimmt die Anpassungsgeschwindigkeit und das Vorzeichen die Stabilität: r > 0 => r = 0 => r < 0 =>
unbegrenztes Wachstum keine Systemveränderung das System konvergiert gegen den Gleichgewichtspunkt -blr.
Ein System, beschrieben durch eine einzige lineare Differentialgleichung 1. Ordnung, läßt also nur diese 3 prinzipiellen Verhaltensweisen zu, die im allgemeinen nicht ausreichen dürften, um das empirisch zu beobachtende
74
3. Neuere Entwicklungen in der Theorie dynamischer Systeme
vielfältige Verhalten von ökonomischen Zeitreihen adäquat abbilden zu können. Allerdings handelt es sich in der Realität zumeist auch nicht um eindimensionale Systeme mit nur einer Zustandsvariablen. Bevor jedoch das potentielle Verhalten von mehrdimensionalen Systemen untersucht wird, sollen die zuvor gemachten Ausführungen mit einem kleinen ökonomischen Beispiel abgeschlossen werden. Stellen wir uns dazu das folgende einfache Marktsystem vor: A(t) = a0+al
P(t)
(Angebotsfunktion)
a0, ax> 0
N(t) = n0-nl
P(t)
(Nachfragefunktion,)
n0f nx > 0.
M i t diesen zwei Gleichungen haben wir noch kein dynamisches System, da keine Verknüpfung verschiedener Zeitpunkte vorliegt. Um nun aber bei vorliegenden Angebots- und Nachfragemengen zu einem Gleichgewichtspreis zu gelangen, müssen wir eine Gleichung einführen, die die Veränderung des Preises im Ungleichgewichtsfall beschreibt. Die einfachste denkbare Preisanpassung ist ^
l dt
= m(N(t)-A(t));
m > 0.
Die Veränderung des Preises erfolgt proportional zur Überschußnachfragebzw. "excess demand"-funktion A{t) - N(t). Der Preis erhöht sich, wenn ein positiver Nachfrageüberschuß besteht und fällt bei einem Überangebot. Dieser Prozeß wird als Tätonnement-Prozeß bezeichnet und geht auf den Vater der Gleichgewichtstheorie, Léon Walras, zurück (Lux 1991, S.245). Ausgangspunkt dabei ist die Annahme, daß nur zu Gleichgewichtspreisen getauscht wird. Liegt bei Marktöffnung kein markträumender Preis vor, sucht ein fiktiver "Auktionator" zunächst nach einem Gleichgewichtspreis. Hierbei orientiert sich der "Auktionator" an der Differenz der von Anbietern und Nachfragern jeweils geäußerten Transaktionswünsche. Bei einem solchen Modell spricht man auch von Tauschwirtschaft, da keine Produktionsaktivitäten berücksichtigt sind. Durch Einsetzen der Angebots- und Nachfragegleichung in die Preisanpassungsgleichung kann der Prozeß der Preisfindung durch eine einzige Differentialgleichung beschrieben werden: = mdrio-n,
P(t))-{a
= m(n 0-a0)-m(n i
0
+aY
P(t)))
+ax)p(t)
dt +m{n { dt
-αι )ρ(ί)
=
ι η (η 0^α 0).
3.2 Eigenschaften linearer dynamischer Systeme
75
Nach der Umstellung ist leicht zu ersehen, daß es sich um eine inhomogene lineare Differentialgleichung 1. Ordnung handelt. Der Preis ist die einzige Systemzustandsgröße, und der Gleichgewichtspreis ergibt sich aus (λζ0-q0) Ρ
=
Folgen wir den zuvor dargelegten Ausführungen zur Lösung inhomogener linearer Differentialgleichungen, dann ergibt sich die explizite Lösung
P(t) = p(0)-
(n l
+ax)
(Λ1+*ΐ)
= (/>(0)-P*) entwickelt. Die Abb. 3.2 zeigt noch einmal die wichtigsten Ergebnisse für r x und r 2 und die daraus resultierenden Zeit- und Phasendiagramme. Ein von Chiang (1984, S.529) angeführtes ökonomisches Beispiel soll wiederum die bisherigen mathematischen Ausführungen ergänzen. Im allgemeinen werden Marktteilnehmer die Preisbewegungen beobachten und daraus Erwartungen für die künftige Preisentwicklung bilden. Dabei wird nicht nur der Preistrend eine Rolle spielen, der durch die erste Ableitung dP/dt zu erfassen ist, sondern auch, ob sich beispielsweise der Preisauftrieb beschleunigt oder abschwächt, was durch die zweite Ableitung d 2P/dt 2 beschrieben wird. Gehen wir davon aus, daß insbesondere die Produzenten Erwartungen über zukünftige Preise bilden, dann läßt sich das folgende kleine Marktmodell konstruieren: 6 Lentz
82
3. Neuere Entwicklungen in der Theorie dynamischer Systeme
Eigenwerte des Systems
Zeitverhalten (Impulsreaktion)
Phasendiagramm
,iß
/
Typ
nicht möglich
stabil
nicht möglich
instabil
>α
-ΓΙ
t /
MP ·
>α
Γΐ
—
—
-
—
t instabil
r j1^
>
>α
Ι
-ΓΙ
\ /
Γ2
^
^
t
/ ,iß
» Γ2
ΓΙ
-
-
—
t
/ \
\/ /\
,iß -Γ,
stabil >α
-Γ2
t
\ /
/ \
\
/
,iß
/
instabil
·
-ΓΙ
>α
Γ2 ,iß
/
•-Γ2 •-ΓΙ
Mß
α >
instabil
Γ!
Y, i ß
• r2
t
/
\
^ΛΛ (© \ΛΛ. ο
stabil
stabil
instabil
>α •
Γ,
Abb. 3.2: Verhaltensmöglichkeiten linearer Systeme erster und zweiter Ordnung
3.2 Eigenschaften linearer dynamischer Systeme
A = -a0+a
j Ρ+λ dt
+μ—γ dt
83
Angebotsfunktion α 0, ax > 0
Ν =n0-nì Ρ
Nachfragefunktion n 0 , n x > 0.
Gegenüber dem ersten Marktmodell enthält dieses Modell keinen Anpassungsmechanismus zwischen Angebots- und Nachfragepreis, es wird dagegen unterstellt, daß es bei jedem Preis zu einer Markträumung kommt. Die Dynamik in diesem kleinen Modell resultiert vielmehr aus der Erwartungsbildung der Produzenten. Setzen wir Angebot und Nachfrage gleich, dann erhalten wir die Gleichung d 2P
XdP (αι+"ι) (*o+*o) + ι- P= dt μ dt μ μ
Da es sich dabei um eine lineare Differentialgleichung 2. Ordnung handeln, können wir eine Lösung erwarten in der Form P=P k+P p\
mit
P k = Ax ext + A2 eTl t
P* stellt das Gleichgewicht dar, in dem dPIdt = 0 und d 2Pldt ergibt sich
Ρ =
μ
(öo+"o)
. bzw.
2
= 0 gilt. Damit
* (*o+*o) Ρ =7 r-
μ
Für die beiden Variablen r x und r 2 gilt: λ 1 Ιίλ)2 η ο=—±—J — 1,2 2μ
4/ χ \α λ +/ΐι ). χ) μ 1
Aus dieser Gleichung lassen sich eine Reihe von Aussagen über den zeitlichen Verlauf der Preise treffen. Für den Fall, daß μ < 0 ist, kann -4/μ (