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German Pages 524 [526] Year 2007
Jens Bonnemann Der Spielraum des Imaginären
PHÄNOMENOLOGISCHE FORSCHUNGEN
Phenomenological Studies Recherches Phénoménologiques
Im Auftrage der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung herausgegeben von KARL-HEINZ LEMBECK, KARL MERTENS
und ERNST WOLFGANG ORTH
Beiheft 2
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
JENS BONNEMANN
Der Spielraum des Imaginären Sartres Theorie der Imagination und ihre Bedeutung für seine phänomenologische Ontologie, Ästhetik und Intersubjektivitätskonzeption
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-1841-4
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INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung ...................................................................................................
11
Vorüberlegungen zum Forschungsstand .................................................
20
1.
2.
Die Auseinandersetzung mit der philosophiegeschichtlichen Tradition .............................................................................................
35
1. Phänomenologische Vorüberlegungen und die ontologische Differenz von Bewußtsein und Gegenstand .............................. 2. Die rationalistische Auffassung des Bildes ................................. 3. Die empiristische Auffassung des Bildes .................................... 4. Die Gegebenheit des Bildes ist keine Leistung des Urteilsvermögens ........................................................................... 5. Husserls Phänomenologie ........................................................... 6. Die Kritik an Husserls Phänomenologie der Imagination ........
52 61 67
Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft in Das Imaginäre..................................................................................
75
1. Die vier Grundcharakteristiken ...................................................
77
1. Die Vorstellung ist ein intentionales Verhältnis von Bewußtsein und Objekt ......................................................... Exkurs: Ryle und die Kritik der Immanenz-Illusion ........... 2. Die Quasi-Beobachtung ......................................................... 3. Das Objekt der Vorstellung ist ein Nichts (néant) ............... 4. Spontaneität und Kreativität des imaginierenden Bewußtseins .............................................................................
36 42 47
77 81 86 91 94
2. Die Funktion des Analogons in der Vorstellung ....................... 97 1. Die Korrelation von Wissen und Materie auf dem Weg vom Porträt zur reinen Vorstellung ....................................... 101 2. Das Analogon in der reinen Vorstellung (image mentale) ....................................................................... 103 1. Das vorstellende Wissen .................................................... 104 2. Die Affektivität .................................................................. 109 3. Die Bewegungsbasis ........................................................... 110
Inhalt
6
3. Imagination und Denken ............................................................. 113 4. Imagination und Wahrnehmung ................................................... 116 1. Das Problem der Erinnerung ................................................. 122 5. Das Verhalten gegenüber dem irrealen Objekt .......................... 6. Halluzination als »Gegen-Spontaneität« (Im 249) .................... Exkurs: Merleau-Ponty und die Halluzination .......................... 7. Der Traum ..................................................................................... 8. Imagination und Freiheit ............................................................. 9. Imagination und Ästhetik I .......................................................... Exkurs: Sartre und Ingarden ......................................................... 3.
124 133 136 141 144 148 153
Die Rückkehr in die Höhle Platons: Der ontologische Beweis ................................................................... 161 1. Phänomenologische Reduktion als Zurückweisung noumenaler Realitäten .................................................................. 2. Die Nicht-Reduzierbarkeit des Seins des Phänomens auf das Seinsphänomen ....................................................................... 3. Das Sein des percipiens ist transphänomenal .............................. 4. Das Sein des percipi und das Dilemma des Kreationismus ....... 5. Der ontologische Beweis ............................................................. 6. Die Beschreibung des Seinsphänomens und der Dualismus von Für-sich und An-sich ............................................................
176
Die Differenz von Wahrnehmung und Imagination als Bedingung der Freiheitskonzeption .................................................
181
5.
Realismus und Konstitution ..............................................................
191
6.
Imagination und Ästhetik II .............................................................
205
4.
163 166 168 170 173
1. Das literarische Kunstwerk als Appell an die Freiheit des Lesers ...................................................................................... 208 2. Das Auftauchen eines neuen Imaginationsparadigmas in der Gegenüberstellung von Poesie und Prosa ................................... 222 1. 2. 3. 4.
Die nicht-sprachlichen Künste .............................................. 224 Die Poesie – Wörter als Dinge ............................................... 227 Die Prosa – der Handlungscharakter der Sprache ................ 231 Die widersprüchliche Auffassung des Imaginären in Was ist Literatur? ..................................................................... 235
Inhalt
7.
8.
5. Die Imagination als Gegenpol zur Wahrnehmung oder als Gegenpol zur Praxis ................................................................
239
Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle .............................................
241
1. Das Erblicktwerden durch den Anderen .................................... 2. Die Möglichkeit einer durch den Anderen vermittelten Selbsterkenntnis ............................................................................ 3. Die Objektivierung des Anderen ................................................ 4. Gewißheit des Subjekt-Anderen und Wahrscheinlichkeit des Objekt-Anderen ........................................................................... 5. Auseinandersetzung mit der Sartre-Rezeption .......................... 6. Das An-sich-für-sich als Verwiesenheit auf Objektivität ................................................................................... 7. Assimilation einer fremden Freiheit als Versuch, eine Daseinsberechtigung zu gewinnen .............................................. 8. Assimilation der fremden Freiheit durch die Komödie ............. 9. Die Begierde zu sein als Grundlage der imaginären Dimension ..................................................................................... 10. Die Faktizität oder das subjektunabhängige Eigengewicht der Rolle ........................................................................................ 11. Die gesellschaftlich-historische Dimension der Rolle als vorgeburtliches Schicksal .............................................................
242 245 248 249 251 259 262 264 273 276 278
Realisierende oder irrealisierende intersubjektive Konstitution des Subjekts ................................................................. 285 1. Rekonstruktion der archaischen Grundlagen der Sensibilität [sensibilité] (IF 1, 54) – Valorisierung oder Nicht-Valorisierung durch die Säuglingspflege ............................................................. 2. Glaube und Wissen ....................................................................... 3. Valorisierung als Verbalisierung bzw. Unfähigkeit zu Handeln als Leseschwäche ........................................................................... 4. Schauspielerei als Folge der Passivität ......................................... 5. Die Wechselseitigkeit als ursprüngliches Verhältnis zum Anderen .........................................................................................
9.
7
Irrealisierung zwischen Schauspielerei und Mißachtung ................
287 298 307 316 319 325
1. Phänomenologie des Lachens als Nicht-Valorisierung ............... 325 2. Der Komiker als »Märtyrer der Irrealität« (IF 2, 153) .............. 331 3. Ausweitung der Lächerlichkeit auf die Menschheit ................... 338
8
Inhalt
4. Widersprüchlichkeiten infolge der Äquivokation des Imaginationsbegriffs ..................................................................... 340 5. Bestimmung und Abgrenzung von drei unterschiedlichen Auffassungen des Imaginären ...................................................... 348 6. Die Rolle des Nicht-seins im Verhältnis zu den drei Imaginationsformen und ihren anthropologischen Grundvoraussetzungen ................................................................ 350 7. Die diachrone und die synchrone Ebene der Irrealisierung ...... 353 10. Imagination und Ästhetik III ............................................................ 1. Die ästhetische Einstellung als antihumanistische Bedingung der Kunstproduktion .................................................................... 2. Die ästhetische Einstellung als Gegenarbeit ............................... 3. Vom Ästheten zum Künstler ....................................................... 4. Dichter und Künstler ................................................................... 5. Ästhetische Sprachverwendung – das Wort als »Sprungbrett des Traums« (IF 4, 246) ........................................
363 363 376 387 389 394
1. Irrealisierung der Welt durch Irrealisierung der Sprache ..... 398 2. Der Stil als Vermittlung des Unsagbaren .............................. 402 3. Prosa, Kommunikation und Engagement in der späten Literaturtheorie ....................................................................... 408 11. Das Imaginäre als gesellschaftliche Struktur ....................................
421
1. Die objektiven Imperative der geschaffenen Literatur ..............
424
1. Aufklärung ............................................................................... 425 2. Der Konflikt zwischen bürgerlichem Utilitarismus und literarischer Autonomie .................................................. 430 3. Romantik ................................................................................. 433 2. Neurose-Kunst .............................................................................. 435 3. Das irreale Publikum .................................................................... 441 4. Sartre als Nachromantiker ........................................................... 454 12. Die dialektische Anthropologie und die regressiv-progressive Methode des Verstehens ....................................................................
461
1. Kritik des orthodoxen Marxismus .............................................. 462 2. Das hermeneutische Programm der Flaubert-Studie ................. 468 1. Die regressive Analyse – das Allgemeinwerden des Individuellen ................................................................................. 471
Inhalt
9
2. Die progressive Synthese – das Individuellwerden des Allgemeinen .................................................................................. 472 3. Der interpretative Charakter der progressiven Verstehenssynthese ....................................................................... 475 3. Die implizite Erweiterung des Begriffs des Subjekt-Anderen in Der Idiot der Familie ................................................................ 479 Schlußbemerkungen ..................................................................................
487
Literatur- und Siglenverzeichnis ..............................................................
505
EINLEITUNG
Die vorliegende Untersuchung widmet sich Jean-Paul Sartres Theorie der Imagination. Angesichts der nach wie vor regen Beschäftigung mit diesem paradoxerweise seit Jahrzehnten ›totgesagten‹ Philosophen, welche sich in einer Fülle von Publikationen niederschlägt, wundert es, daß bisher kaum eine Monographie verfaßt worden ist, in der primär seine Imaginationslehre im Vordergrund steht. Dies ist um so erstaunlicher, da – wie sich herausstellen wird – Sartre dieses Thema ebenso ausgiebig behandelt wie die Probleme Freiheit, Subjektivität, (literarisches und politisches) Engagement oder Intersubjektivität, welche vielfach das Interesse der Forschung geweckt haben. Die im Anschluß an die Einleitung unternommenen Vorüberlegungen zum Forschungsstand verfolgen das Ziel, einen skizzenhaften Überblick über die bisherigen Auseinandersetzungen mit Sartres Imaginationstheorie zu bieten, wobei deutlich werden soll, inwiefern hier eine Lücke innerhalb der Sekundärliteratur besteht. Abgesehen von diesem Desiderat der Forschung ist Sartres Imaginationstheorie, welche auf phänomenologische Weise das Verhältnis von Imagination und Wahrnehmung, Irrealität und Realität zu bestimmen versucht, durchaus vor dem Hintergrund aktueller philosophischer Debatten von Interesse, in denen die vermeintliche Fiktionalität des Realen verhandelt wird. In den gegenwärtigen Diskussionen, die sich mit den neuen elektronischen Medien, der Medienästhetik sowie den Computertechnologien (bzw. ihren Produkten wie Cyberspace oder Virtuelle Realität) und ihrem Einfluß auf das menschliche Leben auseinandersetzen, wird die traditionelle Unterscheidung von Sein und Schein bzw. Realität und Fiktion/Imagination ebenso als revisionsbedürftig betrachtet, wie innerhalb der Konstruktivismus-Debatte, die sich mit der Frage beschäftigt, ob die Realität nur ein Erzeugnis des menschlichen Erkenntnisapparates oder etwa kultureller Erzählungen ist. Dies gilt sowohl im epistemologischen wie im soziologischen Konstruktivismus, wo die Arbeiten von Siegfried J. Schmidt und Gebhard Rusch, die sich auf neurophysiologische Untersuchungen von Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela, Gerhard Roth u. a. stützen,1 den Gedanken der Fiktionalität des Wirklichen 1
So schreibt Roth: »Das Gehirn kann zwar über seine Sinnesorgane durch die Umwelt erregt werden, diese Erregungen enthalten jedoch keine bedeutungshaften und verläßlichen Informationen über die Umwelt. Vielmehr muß das Gehirn über den Vergleich und die Kombination von sensorischen Elementarereignissen Bedeutungen erzeugen und diese
12
Einleitung
proklamieren.2 Sowohl in diesem Kontext wie in dem der Medienästhetik ist die Tendenz deutlich, die philosophiegeschichtliche Opposition zwischen Realität und Imagination zugunsten der letzteren Größe aufzuheben. Die Erkenntnisse des Konstruktivismus offenbaren scheinbar ebenso wie die rasanten Fortschritte der elektronischen Massenmedien, daß die Realität letztlich nicht von der Fiktion zu unterscheiden, mehr noch, daß der Begriff der Realität eigentlich als obsolet aufzugeben ist. Die Grenzen, so heißt es, zwischen Realität und Imagination zerfließen, wenn auch die Realität nur das Resultat von Interpretation ist. Dabei fällt in all diesen Diskussionen jedoch die allzu selbstverständliche Verwendung der Begriffe ›Imagination‹ oder ›Schein‹ auf, bei der kaum jemals eine Klärung erfolgt, was genau hiermit eigentlich gemeint ist.3 So unterscheidet z. B. Bolz an keiner Stelle seines Buchs Eine kurze Geschichte des Scheins zwischen Schein und Imagination.4 Da die Kenntnis einer ansichseienden Realität ausgeschlossen ist, soll Realität letztlich nur ein menschliches Artefakt sein. Die Produktion und Rezeption von Artefakten fällt aber in den Zuständigkeitsbereich der Ästhetik, die auf diese Weise zur neuen Leitwissenschaft wird.5 Und diese Entgrenzung der Ästhetik, die als Grundlagentheorie die Erkenntnistheorie beerbt, ist, wie M. Seel bemerkt, nicht »nur der Spleen einiger zufällig in Mode geratener Autoren«, sondern »Ausdruck einer ernstzunehmenden Tendenz der gegenwärtigen Philosophie«.6 Die Tendenz einer solchen Kontinuität zwischen ErBedeutungen anhand interner Kriterien und des Vorwissens überprüfen. Dies sind die Bausteine der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, in der ich lebe, ist ein Konstrukt des Gehirns« (Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 21; siehe zur vollständigen Quellenangabe sowie zu den verwendeten Siglen für die Schriften Sartres im folgenden das Literaturverzeichnis.). Vgl. auch Maturana/Varela, Der Baum der Erkenntnis, 258: »Wenn der Leser die Aussagen in diesem Buch ernst genommen hat, wird er sich gezwungen sehen, alles was er tut – ob beim Sehen, Schmecken, Auswählen, Ablehnen oder Sprechen – als eine Welt anzusehen, die er in Koexistenz mit anderen Menschen mittels der von uns beschriebenen Mechanismen hervorbringt«. 2 Siehe hierzu kritisch: Dettmann, Der radikale Konstruktivismus. 3 Weder geschieht dies auf phänomenologische Weise, indem das Imaginäre beschrieben wird, wie es erscheint, noch mit den Mitteln der Analytischen Schule, die eine Klärung des sprachlichen Gebrauchs des Wortes ›imaginär‹ vornehmen würde. Sartre selbst orientiert sich, wie im folgenden deutlich werden soll, an der phänomenologischen Methode. 4 In den phänomenologischen Arbeiten z. B. von Sartre oder Casey wird hervorgehoben, daß die Verwechslung eines Baums mit einem Menschen in der Dämmerung etwas qualitativ völlig anderes ist als die Tagträumerei oder die Vorstellung des abwesenden Freundes. Siehe zur Differenzierung innerhalb dieser verwandten Phänomene: TE 180, Casey, Imagining, 9 f.; M. Seel, Ästhetik des Erscheinens, 102 f.; insbesondere zur Wahrnehmungstäuschung: Scheler, »Die Idole der Selbsterkenntnis«, 222–226. 5 Z. B. bei Bolz, Eine kurze Geschichte des Scheins, 7; Kamper, Unmögliche Gegenwart, 88 sowie das Vorwort in Ästhetisches Denken von Welsch (ebd., 7). 6 M. Seel, »Ästhetik und Aisthetik«, 38.
Einleitung
13
kenntnistheorie und Ästhetik findet sich, wie M. Seel fortfährt, mehr oder weniger deutlich bei Paul Feyerabend, Nelson Goodman, Richard Rorty, Michel Foucault und Jacques Derrida, in Deutschland bei Günter Abel, Gernot Böhme, Peter Sloterdijk oder Wolfgang Welsch.7 Stellvertretend sei hier Welsch zitiert: »Das moderne Denken hat sich seit Kant zunehmend auf die Einsicht zubewegt, daß die Grundlagen dessen, was wir Wirklichkeit nennen, fiktionaler Natur sind. Wirklichkeit erwies sich immer mehr als nicht ›realistisch‹, sondern ›ästhetisch‹ konstituiert. Wo diese Einsicht durchdringt – und das geschieht heute weithin –, da legt Ästhetik den Charakter einer speziellen Disziplin ab und wird zu einem generellen Verstehensmedium für Wirklichkeit«.8 Aus der Haltlosigkeit der Annahme eines metaphysischen Realismus schließt Welsch wie viele andere auf die Fiktionalität der menschlichen Wirklichkeit: »Erkennen und Wirklichkeit [sind] ihrer Seinsart nach ästhetisch«9 und »nehmen grundsätzlich fiktionalen, hervorbringenden, poietischen Charakter an«.10 So erklärt auch Kamper eher beiläufig, »(d)aß aber der Unterschied zwischen Realität und Fiktion selbst ein fiktionaler ist«.11 Und Zec fügt hin-
7
Vgl. M. Seel, ebd. Welsch, ebd.. 9 Welsch, »Ästhetisierungsprozesse – Phänomene, Unterscheidungen, Perspektiven«, 52. 10 Welsch, »Ästhetische Grundzüge im gegenwärtigen Denken«, 75. – Diese Ästhetisierung gilt nach Welsch nicht erst für die gegenwärtige Epoche, sondern für ihn steht fest, »daß Wahrheit, genau genommen, immer schon ästhetisch grundiert war, daß man dies nur traditionell nicht hat wahrhaben wollen« (Welsch, ebd., 64; vgl. auch ebd., 96, 103). Dank der neuen elektronischen Massenmedien kommt uns jedoch »der grundsätzlich konstruktivistische Charakter von Wirklichkeit, die Interpretativität all unserer Wirklichkeitsauffassungen deutlicher zu Bewußtsein denn je zuvor« (Welsch, »Künstliche Paradiese«, 315). Während vorherige Jahrhunderte das Ästhetische als partikulare und sekundäre Seinsweise begreifen, die der Seinsweise des Realen nachgeordnet ist und vor allem für Objekte menschlicher Erzeugung zutrifft, wird nach Welsch seit Kant die Realität selbst mehr und mehr als Produkt menschlicher Erzeugungen deutlich (vgl. »Ästhetische Grundzüge im gegenwärtigen Denken«, 73–78). So drängt sich der Gedanke auf, »daß ästhetische Kategorien zum Verständnis schon der elementaren und allgemeinen Wirklichkeitsverfassung geeignet sein könnten« (ebd., 71). Das Ästhetische liefert in dieser Sichtweise sozusagen die prinzipiellen Grundlagen des Denkens. Die Rationalität, die zwar nach wie vor auch für Welsch unentbehrlich ist, kann diese weder begründen noch rechtfertigen, ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, prämissenkonforme und verfahrenskonsistente Folgestrukturen zu entwickeln (ebd., 96). 11 Kamper, ebd., 85. In diesem Sinne hat Baudrillard bereits in den siebziger Jahren vom »Verschwinden des Realen« (Agonie des Realen, 40) gesprochen; vgl. auch ders., Der symbolische Tausch und der Tod, 113 f.: »Die Realität geht im Hyperrealismus unter, in der exakten Verdoppelung des Realen, vorzugsweise auf der Grundlage eines anderen reproduktiven Mediums – Werbung, Photo etc.« Im Stadium des Hyperrealen ist schließlich »sogar der 8
14
Einleitung
zu, daß »die Illusion sich nicht mehr von dem, was wirklich ist, unterscheiden läßt«, während sich das Reale als »virtueller Schein« darbietet.12 Rötzer gibt sich vorsichtiger, hält jedoch die Unterscheidbarkeit zwischen Wahrnehmung und Imagination ebenfalls für fragwürdig: »Der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Imagination wird weiter eingezogen, die Wahrnehmung irrealisiert, die Imagination realisiert«.13 Zweifellos ist, was wir wirklich nennen, nie unabhängig von den konstitutiven Mitteln, mit denen der Zugang zur Realität ermöglicht wird, aber, wie M. Seel zu recht fragt, ist aus diesem Grund der Schluß zwingend, daß Realität nur unsere Erfindung sei?14 Wenn wir Begriffe verwenden müssen, um etwas zu erkennen, ist dieses etwas dann nur ein Erzeugnis unserer Begriffe? Sind alle Unterscheidungen zwischen ästhetischen und nicht-ästhetischen Orientierungen, zwischen Imagination und Wahrnehmung letztlich nur Unterscheidungen innerhalb des Bereichs der Ästhetik bzw. des Imaginären? Lautet die Alternative also tatsächlich: metaphysischer Realismus oder erkenntnistheoretischer Ästhetizismus? Hier bietet sich der Rückgriff auf einen Philosophen wie Sartre an, der sich wie kaum ein anderer im zwanzigsten Jahrhundert mit dem Verhältnis von Wahrnehmung und Imagination auseinandergesetzt hat. Die vorliegende Studie hebt zwar die Aktualität der Imaginationsproblematik hervor, und ihre Ergebnisse wollen durchaus auch Ressourcen für argumentative Auseinandersetzungen liefern. Aber obwohl dieser Kontext hier aufgeblendet wird, ist mit den Resultaten dieser Arbeit nicht der Versuch verbunden, sich in diese Debatte einzumischen und einen Standpunkt mit bestimmten Lösungsvorschlägen zu formulieren – oder sich einem bereits bestehenden anzuschließen –, eher geht es darum, einen Beitrag zu leisten, um das Problembewußtsein zu schärfen. Die vorliegende Untersuchung, die eine umfassende Darstellung der Imaginationstheorie Sartres durchführt, welche einen zusammenhängenden Überblick innerhalb seines – nicht nur philosophischen – Werdegangs liefert, nimmt ihren Ausgang zwar von den frühen Studien Die Imagination (1936) und Das Imaginäre (1940), die explizit eine Theorie des Imaginären vorlegen wollen, sie will jedoch auch spätere Äußerungen Sartres zu diesem Thema, die sich mitunter weit verstreut in den unterschiedlichsten Schriften finden, in einen konzeptionellen Zusammenhang bringen. Daher richtet sich das Augenmerk auch auf jene Arbeiten, in denen primär andere Themen im VorderWiderspruch zwischen dem Realen und dem Imaginären ausgelöscht«. »Die Irrealität ist nicht mehr die eines Traums oder Phantasmas, eines Diesseits oder Jenseits, es ist die Irrealität einer halluzinierenden Ähnlichkeit des Realen mit sich selbst«. 12 Zec, »Das Medienwerk«, 105. 13 Rötzer, »Mediales und Digitales«, 67. 14 Vgl. M. Seel, ebd., 42; siehe auch ders., »Der Konstruktivismus und sein Schatten«, 106.
Einleitung
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grund stehen, da sich in ihnen trotzdem sozusagen untergründig im Schatten der jeweiligen expliziten Fragestellung eine fortwährende Weiterentwicklung des systematischen Entwurfs aus Das Imaginäre vollzieht. Und diese Weiterentwicklung der Imaginationstheorie, die schließlich mit der monumentalen Flaubert-Studie Der Idiot der Familie (1971/1972) ihren Abschluß findet, läßt sich korrelativ auch für das Verständnis des Realen nachweisen, das den Gegenpol des Imaginären darstellt. In dem Maße, als sich die Auffassung des Imaginären verwandelt, unterscheidet sich ebenfalls der Realitätsbegriff in Das Sein und das Nichts von demjenigen in Der Idiot der Familie. Bei all dem zeigt sich immer wieder, daß das Imaginäre bei Sartre kein isolierbares Sonderproblem ist: Es ist auch nicht allein, wie er selbst ausdrücklich hervorhebt, relevant für seinen Freiheitsbegriff15 oder den Entwurf einer Ästhetik im Schlußteil von Das Imaginäre. Vielmehr beeinflußt seine Bestimmung des Imaginären maßgeblich die Theoriebildung der existentialistischen Anthropologie und wirkt sich auf die Fremderfahrungslehre ebenso wie auf die Literaturtheorie oder seine Version einer Individualhermeneutik aus, die in Fragen der Methode entwickelt wird.16 Schließlich steht selbst Sartres Atheismus in enger Beziehung zu der spezifischen Gegenüberstellung von Wahrnehmung und Imagination. Mehr noch als er selbst kenntlich macht, verweisen seine umstrittenen Ansichten zur Freiheit, zum menschlichen Handeln und zum Engagement auf die frühe Theorie des Imaginären. Die genannten Themen sollen in der vorliegenden Arbeit gerade aus der Perspektive der weniger populären und aufsehenerregenden Konzeption des Imaginären in den Blick genommen werden, die von der Sartre-Forschung bisher nicht annähernd so ausgiebig wie jene beachtet und diskutiert worden ist, obwohl sie einen ähnlichen – vielleicht teilweise sogar noch bedeutenderen – Raum in seinen Schriften einnimmt. So läßt sich z. B. ein Argumentationszusammenhang offenlegen, der Sartres frühe Phänomenologie der Imagination aus den dreißiger Jahren mit dem phänomenologisch-ontologischen Standpunkt von Das Sein und das Nichts (1943) sowie mit der Theorie des literarischen Engagements in Was ist Literatur? (1947) verbindet. Das spezifische Verständnis der Imagination motiviert den Übergang von der Phänomenologie zur Ontologie, d. h. zu einer realistischen Erkenntnistheorie, die sich trotzdem auf phänomenologischem Boden bewegen will. Und Sartres Hervorhebung der 15
In Das Imaginäre unternimmt Sartre den Versuch einer Herleitung der Freiheit aus der Bewußtseinsstruktur der Imagination. 16 Die französische Ausgabe der Critique de la raison dialectique umfaßt diese Untersuchung, welche im Deutschen getrennt zunächst unter dem Titel Marxismus und Existentialismus erschienen ist und seit 1999 in einer Neuübersetzung mit dem Titel Fragen der Methode vorliegt. Die genannte Methodenschrift enthält bereits erste methodologische Entwürfe zur Flaubert-Studie: »Der Idiot der Familie ist die Fortsetzung von Questions de méthode« (IF 1, 7).
16
Einleitung
Bedeutung des Lesers für die Konstitution des literarischen Werks stützt sich zum einen auf jene Phänomenologie des Imaginären und zugleich auf den erkenntnistheoretischen Standpunkt des philosophischen Hauptwerks. Er beruft sich allerdings im Argumentationsgang von Was ist Literatur? an keiner Stelle selbst auf jene früheren Werke und legt damit diese Verbindungslinien nicht explizit offen. Um ein weiteres Beispiel für die unterschwelligen Verknüpfungen der Imaginationsproblematik mit Zentralthemen Sartres zu geben: Die Autobiographie Die Wörter (1964) beschreibt Sartres soziales Engagement und seine eigenwillige Hinwendung zum Marxismus in den fünfziger Jahren als selbsttherapeutischen Versuch einer Befreiung von der sogenannten ›Literaturneurose‹. Diese Literaturneurose zeichnet sich durch eine Privilegierung des Irrealen gegenüber dem Realen aus, die sich nicht nur in theoretischen Ansichten zur Kunst widerspiegelt, sondern auch die individuelle Lebensführung eines Künstlers zutiefst prägt. Erstmals erscheint diese Umkehrung des gewöhnlichen Prioritätsverhältnisses in dem Debütroman Der Ekel als Heilsweg aus der absurden kontingenten Realität in die Kunst, in Das Imaginäre wird sie phänomenologisch beschrieben und als pathologisch deklariert, die Autobiographie Die Wörter widmet sich wie auch der erste Band von Der Idiot der Familie schließlich der individualpsychologischen Genese dieser Neurose.17 Sartre hat in einem späteren Interview selbst auf diesen Zusammenhang der Autobiographie und der Flaubert-Studie mit der Imaginationsproblematik hingewiesen: »Ich habe Die Wörter geschrieben aus dem gleichen Grund, aus dem ich über Genet und Flaubert geschrieben habe: Wie wird ein Mensch zu einem Schriftsteller, zu einem, der von Imaginärem sprechen will?« (SüS 187) Im fünften Band von Der Idiot der Familie geht Sartre schließlich den sozialen und historischen Bedingungen nach, aufgrund derer der literaturgeschichtliche Entwicklungsstand innerhalb einer bestimmten Epoche von jedem künftigen Autor genau diese Literaturneurose verlangt. Sartre deckt somit – ohne dies eigens zuzugeben und vielleicht auch ohne sich dessen bewußt zu sein – in seinem späten Denken die gesellschaftlich-historischen Voraussetzungen seiner eigenen frühen Auffassung zur Literatur im besonderen und zum Imaginären im allgemeinen auf. Es zeigt sich also, daß die Imaginationslehre nicht isoliert werden kann, sondern mit einer Vielfalt von heterogenen Themen verstrickt ist, deren Entfaltung sie maßgeblich beeinflußt. Wer also die Absicht verfolgt, eine systematische Darstellung von Sartres Betrachtungen zur Imagination durchzuführen, darf sich nicht auf die frühen phänomenologischen Arbeiten zu
17
An späterer Stelle soll geklärt werden, was Sartre unter einer Neurose versteht.
Einleitung
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diesem Thema beschränken, sondern muß das Gesamtwerk in den Blick nehmen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die folgende Gliederung: Das erste Kapitel zeichnet Sartres Auseinandersetzung mit der philosophischen und psychologischen Tradition in seiner eher kritisch-destruktiv angelegten Schrift Die Imagination nach. Ungeachtet aller sonstigen Kontroversen begreifen sowohl Rationalisten wie Descartes, Spinoza und Leibniz als auch Empiristen wie Hume oder Taine die Imagination als wiederauflebende Wahrnehmung. Zwischen Wahrnehmung und Imagination existieren demnach nur quantitative Differenzen der Intensität und Lebendigkeit. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang allerdings, daß Sartre Kants Betrachtungen zur Einbildungskraft fast völlig ignoriert. In der Streitschrift Die Imagination wird nun im Anschluß an die Kritik der traditionellen Ansätze die folgenschwere Konversion zur Phänomenologie Husserls vollzogen, die allein eine adäquate Beschäftigung mit dem Thema der Imaginären erlauben soll. Dennoch kommt es bereits hier zur kritischen Distanznahme. Da Sartre die Kohärenztheorie Taines als Unterscheidungskriterium zwischen Wahrnehmung und Imagination in Abrede stellt – jene Kohärenztheorie findet später ihren Niederschlag in Husserls Beschreibung des Widerstreitsbewußtseins in den Schriften aus dem Nachlaß, welche unter dem Titel Phantasie, Bildbewußtsein und Erinnerung veröffentlicht worden sind18 –, bleibt für ihn die evident gegebene Subjektunabhängigkeit des Wahrgenommenen – und korrelativ die Subjektabhängigkeit des Imaginären – das wesentliche Unterscheidungskriterium zwischen Wahrnehmung und Imagination. Wenn Husserls phänomenologische Reduktion den Wahrnehmungsgegenstand auf das subjektrelative Noema reduziert, so eliminiert sie Sartres – zweifellos verzerrender und kritikwürdiger – Interpretation zufolge die einzige Möglichkeit, den Bereich des Imaginären von dem des Realen abzugrenzen. Der zweite Teil der vorliegenden Studie widmet sich Sartres eigener systematischer Behandlung des Problems des Imaginären in der ebenso akribischen wie reichhaltigen Schrift Das Imaginäre. Die Reflexion auf den Akt, in dem ich ein imaginäres Objekt intendiere, ermöglicht die Erkenntnis der vier Grundcharakteristiken dieses Phänomenbereichs: 1. Die Imagination ist ein intentionales Bewußtsein; 2. sie lehrt nichts Neues über ihr Objekt, da sie es nur in einer Quasi-Beobachtung gibt; ferner setzt sie 3. ihr Objekt als Nichts, und schließlich ist 4. das Imaginationsbewußtsein kreativ und schöpferisch im Unterschied zur Passivität des Wahrnehmungsbewußtseins. Sartre entfaltet im weiteren Verlauf dieser Schrift sein Verständnis des Analogons, das die Materie der imaginierenden Akte bereitstellt, indem er den Bereich des ImaSiehe hierzu auch Wiesing, »Phänomenologie des Bildes nach Husserl und Sartre«, 265. Vgl. zur Genese des Widerstreitsbegriffs bei Husserl: Haardt, »Bildbewußtsein und ästhetische Erfahrung bei Husserl«. 18
18
Einleitung
ginären in images physiques, deren Analogon ein Objekt der Wahrnehmung ist (Zeichnungen, Fotos, schauspielerische Darstellungen usw.), und images mentales aufteilt, deren Analogon psychischer Natur ist (Wissen, Affektivität, körperliche Bewegungen). Zu letzteren gehören all jene Akte, in denen ich mir z. B. einen nichtexistenten oder abwesenden Gegenstand vorstelle, ohne daß ich hierbei auf bestimmte aktuell gegebene Wahrnehmungsgegenstände (z. B. die Farben und Formen eines Gemäldes) zurückgreife. Sartre setzt die Imagination in Beziehung zu Denken und Wahrnehmung, untersucht die Spezifität des imaginären Objekts, dessen Funktion im Alltagsleben und überprüft seine zentrale These, das Bewußtsein sei außerstande, Imagination und Wahrnehmung zu verwechseln, anhand der komplizierten Phänomene Halluzination und Traum. Abschließend wird aus der Fähigkeit des Bewußtseins zur Imagination die Freiheit abgeleitet19 und auf der Grundlage der Phänomenologie des Imaginären eine Kunsttheorie entworfen. Allerdings ist nicht nur explizit die Herleitung der Freiheit aus der Imagination ein Verweis auf Das Sein und das Nichts. Im dritten Teil der vorliegenden Arbeit soll gezeigt werden, inwiefern der ›ontologische Beweis‹ in der Einleitung des philosophischen Hauptwerks, der in eins die Subjektunabhängigkeit des Wahrgenommenen und den Dualismus von Für-sich und An-sich als zwei aufeinander unreduzierbare ontologische Größen begründen soll, auf Fragen antwortet, die sich aus der Phänomenologie des Imaginären ergeben. In diesem Sinne wird auch im vierten Teil herausgestellt, daß Sartres Freiheitsbegriff die Subjektunabhängigkeit des Wahrgenommenen voraussetzt. Der fünfte Teil versucht zu überprüfen, ob Sartres realistische Erkenntnistheorie den Gedanken einer Konstitution ausschließt, und zeigt, inwiefern eine Kluft zwischen Konstitution oder Interpretation auf der einen und Imagination auf der anderen Seite besteht. Der sechste Teil, der zu Sartres Literaturtheorie überleitet, legt die Verbindung zwischen Das Imaginäre und Das Sein und das Nichts mit Was ist Literatur? offen. Der Gedankengang in Was ist Literatur? wird in weiten Teilen erst durch den Rückgriff auf die früheren Schriften plausibel. Zum einen stützt sich die von Sartre hervorgehobene Relevanz des Lesers auf das spezifische Verhältnis zwischen Imagination und Wahrnehmung, das Sartre in den dreißiger Jahren entwickelt, zum anderen verändert sich die Konzeption des Imaginären durch ihre Integration in den Bereich der Intersubjektivität. Ferner beschäftigt sich der sechste Teil mit der Gegenüberstellung von Poesie und Prosa, bei der sich erstmals eine Äquivokation des Imaginationsbegriffs feststellen läßt, von der unklar ist, ob sie Sartre, der sich nicht explizit dazu äußert, selbst bewußt geworden ist. Diese 19
Anders als Lesch meint (Imagination und Moral, 98), ist nach Sartre nicht die Imagination die Bedingung der Freiheit, sondern umgekehrt kann das Bewußtsein nur imaginieren, weil es frei ist (vgl. Im 293).
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Äquivokation durchzieht von nun an sein gesamtes Denken zum Problem des Imaginären und führt zu erheblichen Unklarheiten und Widersprüchen. Offensichtlich arbeitet Sartre im folgenden mit einem Imaginationsbegriff, der die Grenzen der frühen Studien Die Imagination und Das Imaginäre überschreitet. Der siebte Teil bringt das Imaginäre in den Zusammenhang mit Sartres Blick- sowie seiner Werttheorie. Es soll gezeigt werden, wie durch das Zusammenwirken von Wertbezogenheit und Für-Andere-sein der Mensch zum Schauspieler seiner selbst wird, da der Wert bzw. das An-sich-für-sich nur auf imaginäre Weise unter dem Blick des Anderen verwirklicht werden kann. Auf diese Weise läßt sich darlegen, wie sich der Prozeß der individuellen Identitätsbildung vollzieht. Die häufig geäußerte Ansicht, Sartres Blicktheorie stelle das zwischenmenschliche Verhältnis in einem allzu düsteren Licht dar, kann von hier aus zumindest nuanciert werden. Das achte Kapitel leitet zum Spätwerk Der Idiot der Familie über und beschäftigt sich mit der Beschreibung der Primärsozialisation, in der sich Sartres Ansicht nach entscheidet, ob jemand ein praktisches reales oder passives irreales Leben führen wird. Hier läßt sich eine deutliche Revision des früheren Subjektbegriffs feststellen, insofern der Andere nicht mehr nur meine Objektivität, sondern auch meine Subjektivität konstituiert. Das neunte Kapitel widmet sich Sartres in der bisherigen Forschungsliteratur völlig unbeachtet gebliebener Phänomenologie des Lachens und kommt auf dieser Grundlage zur Unterscheidung von drei unterschiedlichen Bedeutungen von Imagination. Die Beschreibungen mißlingender Interaktionsverhältnisse, in denen die Abhängigkeit des Subjekts von der Anerkennung durch Andere deutlich wird, erlauben die Anknüpfung an Honneths Anerkennungstheorie20 oder an zeitgenössische Debatten zum Personbegriff, die Sartre bisher, wenn überhaupt, dann nur marginal berücksichtigt haben. Das zehnte Kapitel behandelt die ästhetische Einstellung, die im Ausgang von Flaubert beschrieben wird, sowie dessen Literaturverständnis, dem auch Sartres Poesiebegriff noch verpflichtet bleibt. Das elfte Kapitel zeigt am Beispiel von Sartres Analyse der historischen Produktionsbedingungen und der Ideologie der Schriftstellergeneration Flauberts, unter welchen Bedingungen Irrealität als Charakteristikum anonymer Institutionen fungieren kann. Schließlich untersucht das abschließende zwölfte Kapitel die Rolle der verschiedenen Imaginationsbegriffe in Sartres Hermeneutik, deren Methodologie der Flaubert-Studie zugrundeliegt, sowie – im Ausgang von Sartre, aber über Sartre hinausgehend – die sich daraus ergebenden ethischen Konsequen20
Dies hat bereits Olschanski gezeigt, der das Problem der Anerkennung bei Sartre allerdings nicht mit der Imaginationsproblematik in Beziehung setzt (siehe Phänomenologie der Mißachtung).
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zen, welche sich durch den Vergleich mit universalistischen Gerechtigkeitstheorien (am Beispiel von Habermas’ Diskursethik) konturieren lassen.
Vorüberlegungen zum Forschungsstand Versucht man einen Überblick über die im Grunde unübersehbare Menge an Veröffentlichungen zu Sartre zu gewinnen, so erhält man den Eindruck, daß seine Imaginationstheorie eher eine marginale Position einnimmt. Sartre gilt als führender Kopf des französischen Existentialismus, als Bewußtseinsphilosoph ebenso wie als Verfechter einer engagierten Literatur, als Dramatiker und Romancier, als marxistischer Gesellschaftstheoretiker und Biographienschreiber mit eigenem hermeneutischen Programm. Sartre ist weiterhin politischer Journalist und Agitator bzw. der Prototyp des engagierten Linksintellektuellen. Aber er ist nicht als Philosoph des Imaginären im Gedächtnis geblieben.21 Dies liegt jedoch nicht zuletzt auch an der eigenwilligen Behandlung dieses Themas. Obwohl Sartre sich häufig mit diesem Gegenstandsbereich beschäftigt, scheint sich das Imaginäre bei ihm keiner allzu hohen Wertschätzung zu erfreuen. So hält z. B. Durand dem französischen Philosophen »une totale dévaluation de l’imaginaire«22 vor. Anders als die individuelle Freiheit, auf die Sartre etwa in seinen Dramen geradezu Lobgesänge anstimmt, ist eine deutliche Skepsis spürbar, sobald er auf das Imaginäre zu sprechen kommt. In Entgegensetzung zu Bretons Rede von der »Allmacht des Traumes«23 führt Sartre eine strenge Begrenzung des Imaginären durch, betont seine wesensmäßige Armut und stellt es zudem noch unter Ideologieverdacht: Insofern seine Philosophie das Handeln, das Engagement und die Verantwortung proklamiert, scheint das Imaginäre im Zeichen von Eskapismus und Verantwortungslosigkeit zu stehen. Vor allem ab den fünfziger Jahren lautet Sartres Gedanke, bis zur Karikatur zugespitzt: Wer träumt, statt die Revolution voranzutreiben, unterstützt die Herrschaft der bürgerlichen Klasse. Sartres Philosophie will die Menschen nicht zum Träumen bringen, sondern wachrütteln. Darum findet sich nirgendwo in seinen Schriften eine vergleichbar emphatische Würdigung des Imaginären, wie er sie etwa der Freiheit zukommen läßt.24 Sieht man 21
Barthes Einschätzung ist daher alles andere als repräsentativ: »Das Imaginäre war ein außerordentlich wichtiges Sartresches Thema. Sartre widmete ihm ein Buch, das ich großartig finde, eins seiner schönsten Bücher« (»Roland Barthes über Sartres Existentialismus«). 22 Durand, Structures anthropologiques de l’imaginaire, 19. Möglicherweise ist dies der Grund, warum z. B. die umfangreiche historisch angelegte Studie von Cocking Sartre an keiner Stelle erwähnt: Cocking, Imagination. A Study in the History of Ideas. 23 Breton, »Erstes Manifest des Surrealismus«, 27.
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jedoch genauer hin, so wird auch eine grundsätzliche Ambivalenz deutlich: Sartres Verhältnis zum Imaginären gleicht dem zu Flaubert, dem er sich zutiefst verbunden fühlt (vgl. W 52), den er für seine Verachtung der Arbeiterklasse heftig kritisiert (vgl. WiL 94ff) und dem er immerhin annähernd dreitausend Seiten gewidmet hat. Und der Grund ist in beiden Fällen derselbe. Das Imaginäre ist ebenso wie der literarische Ästhetizismus, den Sartre mit Flaubert identifiziert, die permanente Versuchung des Schriftstellers Sartre, die vor allem im kunstreligiösen Heilsweg in Der Ekel zum Ausdruck kommt. Wie schon zuvor angedeutet (S. 5), läßt sich Sartres politisches Engagement wie auch sein philosophischer Realismus als Versuch deuten, sich von der sogenannten Literaturneurose zu therapieren. »(I)ch wollte im reinen Äther leben, unter den luftigen Trugbildern der Dinge. Weit davon entfernt, mich an Luftballons anklammern zu wollen, habe ich mich später mit ganzem Eifer bemüht, nach unten zu gelangen; dazu brauchte man Sohlen aus Blei« (W 46). Dies ist möglicherweise ein Grund, warum vieles, was Sartre über das Imaginäre schreibt, so wirkt, als wolle er es unschädlich machen. Aber seine Haltung bleibt ambivalent: Sartre begeistert sich für engagierte Schriftsteller wie Richard Wright (vgl. WiL 63ff), dennoch hat er immer nur jenen Autoren eine ausführliche Studie gewidmet, die einen literarischen Ästhetizismus pflegen (Baudelaire, Genet, Mallarmé, Flaubert). Seine Philosophie ist geprägt von dieser Spannung zwischen Realitätshunger25 und der Liebe zur Schönheit, an die er bedingungslos glaubt.26 Zum Problem des Imaginären bei Sartre gibt es bisher lediglich zwei Monographien, nämlich die beiden französischsprachigen Abhandlungen von Cabestan und Noudelmann.27 Cabestan konzentriert sich ausschließlich auf die Schrift Das Imaginäre und läßt Fortentwicklungen in späteren Werken Sartres außer acht. Dabei hält er sich in seinem schmalen Bändchen eng an Sartres Gedankengang und begnügt sich mit gelegentlichen kritischen Kommentaren zu einzelnen Textstellen. Dagegen nimmt Noudelmann das Gesamtwerk zur 24
Vgl. als Kontrast z. B. Baudelaires Lobpreisung des Imaginären: »Die Einbildungskraft ist die Königin des Wahren, und das Mögliche ist eine der Provinzen des Wahren. Sie ist in der Tat mit dem Unendlichen verwandt. Ohne sie sind alle Fähigkeiten, sie mögen noch so kräftig oder so geschärft sein, als wären sie nicht, während die Schwäche einiger zweitrangiger Fähigkeiten, wenn eine kraftvolle Imagination ihnen aufhilft, nur ein zweitrangiges Unglück ist. Keine kann ihrer entraten, und sie kann manche vertreten« (»Der Salon 1859«, 142). 25 Vgl. FM 25: »Uns interessierten jedoch die wirklichen Menschen mit ihrer Arbeit und ihren Mühen [...]: wir wollten vom totalen Konkreten ausgehen, zum absoluten Konkreten wollten wir gelangen«. 26 Simone de Beauvoir erklärt in ihren Memoiren: »Sartre glaubte bedingungslos an die Schönheit« (In den besten Jahren, 26). 27 Cabestan, L’imaginaire de Jean-Paul Sartre; Noudelmann, Sartre. L’incarnation imaginaire.
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Kenntnis und beschäftigt sich auch ausführlich mit der Flaubert-Studie. Im Zentrum seiner Untersuchung steht jedoch das Verhältnis des Imaginären zu Sprache, Literatur und Denken; andere Aspekte des Imaginären bei Sartre werden bestenfalls angeschnitten. Vor allem befaßt sich Noudelmann mit dem Repertoire an Bildern und Metaphern, die in Sartres Phänomenbeschreibungen auftauchen. Angesichts jener Imaginationen, die der französische Denker in seinen philosophischen, literaturtheoretischen usw. Untersuchungen verwendet, gelangt Noudelmann zu dem Schluß, daß die Imagination nicht nur dem poetischen Diskurs innewohnt. Mit Sartre – und im übrigen zum Teil auch gegen Sartre – soll sich vielmehr zeigen lassen, daß sie zudem ein wesentliches und letztlich unentbehrliches Moment des philosophischen Diskurses darstellt.28 Noudelmanns Intention ist weniger eine Theorie des Imaginären als vielmehr eine Metatheorie über den philosophischen Diskurs. Betrachtet man die Forschungsliteratur zu Sartre im allgemeinen,29 so wird deutlich, daß die Subjektphilosophie gemeinhin für das zentrale Thema gehalten wird. Diese Einschätzung ist sicher alles andere als falsch. Von dieser Priorität aus rekonstruiert man verschiedene Entwicklungsstufen von der frühen Schrift Die Transzendenz des Ego, über das philosophische Hauptwerk Das Sein und das Nichts bis hin zur Kritik der dialektischen Vernunft, die zusammen mit den Fragen der Methode Sartres Wende zum Marxismus markiert. Als letzte Phase gilt der gewaltige Essay Der Idiot der Familie.30 Wer sich um eine Gesamtdarstellung dieser Philosophie bemüht, für den scheint die Imagination ein Seitenweg, ein vernachlässigbarer Übergang zwischen der Transzendenz des Ego und Das Sein und das Nichts zu sein, dessen Bedeutung sich eigentlich darauf beschränkt, Vorstudien zum philosophischen Hauptwerk zu liefern. Gesamtdarstellungen berücksichtigen noch eher das umstrittene Konzept der engagierten Literatur in Was ist Literatur?, welches in das populäre Bild des politisch engagierten Intellektuellen paßt, das Sartre wie kaum ein zweiter ausfüllt. Diese kanonisierte Akzentuierung wird besonders deutlich, wenn man einen Blick auf einführende Darstellungen von Sartres Philosophie wirft. Trotz des breiten Raumes, den die Studien zum Imaginären in Sartres frühem Denken einnehmen, widmen die Monographien von Biemel, Caws, Danto, Hackenesch, Hengelbrock, Kampits, Suhr und Wildenburg31 dieser 28
Noudelmann, ebd., 248. Der folgende Überblick erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Insofern es eher darauf ankommt, eine Tendenz aufzuzeigen, stehen die berücksichtigten Abhandlungen exemplarisch für andere Texte der Sekundärliteratur. 30 Die Frage, ob die umstrittenen Interviews mit Benny Lévy wirklich eine neue Phase in Sartres Denken eingeleitet hätten, wenn er die Zeit gehabt hätte, die dort formulierten Thesen weiterzuentwickeln, kann hier unberücksichtigt bleiben (vgl. hierzu Sartre, Brüderlichkeit und Gewalt). 29
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Thematik kein eigenes Kapitel in ihrer einführenden Gesamtdarstellung. Falls man überhaupt auf die Schriften zur Imagination zu sprechen kommt, so wird lediglich darauf hingewiesen, daß sie Vorstudien darstellen, die die methodologische Basis für Das Sein und das Nichts liefern.32 Darauf reduziert sich offenbar ihre Bedeutung. Danto erwähnt die Studie Das Imaginäre, um das Kunstprogramm in Sartres Debütroman Der Ekel zu erläutern oder das Verständnis der realistischen Erkenntnistheorie im philosophischen Hauptwerk zu vertiefen.33 Zwar ist die Behandlung dieses Themas in Möbuß’ Einführung noch am ausführlichsten,34 aber auch hier geht es darum, den Ästhetizismus in Der Ekel und die Freiheitsproblematik in Das Sein und das Nichts zu erhellen. Aufschlußreich ist auch Caws Entschluß, die frühen phänomenologischen Arbeiten – neben den beiden Schriften über die Einbildungskraft: die Skizze einer Theorie der Emotionen (TE 255–321) und der kurze Aufsatz über die Intentionalität (TE 33–38) – zusammen in einem chronologisch und nicht thematisch strukturierten Kapitel zu behandeln, während die Transzendenz des Ego (TE 39–96), welche eigentlich ebenfalls in dieses zeitliche Umfeld gehört, in einem anschließenden Kapitel diskutiert wird, um eine Überleitung zum Themenfeld von Das Sein und das Nichts zu gewinnen. Caws bringt damit im Grunde die programmatische Einschätzung zum Ausdruck, die innerhalb der Forschung vorherrschend ist: »If I have devoted a disproportionate amount of attention to the early works, and to problems which in the light of the great ontological and political questions of the better-known Sartre seem minor, it is because in his treatment of the minor problems nearly all the categories invoked later have been worked out. They can be seen more clearly in the comparatively modest and obscure writings than in the more portenous context of the major works«.35 Aus diesem Grund hält auch Manser Das Imaginäre für »the best introduction to his philosophical work«.36 Die Schriften zur Imagination dienen als Einführung in die anderen Themen, die als zentral für Sartre angesehen werden. Sie ergänzen das Studium der relevanteren Werke, insofern sie deren Hauptthesen verständlicher machen oder ihre Genese zu rekonstruieren erlauben. Daß sie darüber hinaus eine
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Biemel, Jean-Paul Sartre; Caws, Sartre; Danto, Jean-Paul Sartre; Hackenesch, JeanPaul Sartre; Hengelbrock, Jean-Paul Sartre; Kampits, Jean-Paul Sartre; Suhr, Sartre zur Einführung; Wildenburg, Jean-Paul Sartre. 32 Siehe Hackenesch, ebd., 32; Kampits, ebd., 39 und Wildenburg, ebd., 28 Fußn. 2. Dies sind dann auch die einzigen Textstellen in den drei zitierten Büchern, die Sartres Studien zum Imaginären erwähnen. 33 Danto, ebd., 41 u. 56. 34 Möbuß, Sartre, 27–32. 35 Caws, ebd., 49. 36 Manser, Sartre, 20.
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eigene Thematik behandeln, ist der Beachtung offenbar nicht wert oder wird schlichtweg nicht erkannt. Diese Einschätzung findet sich nicht nur bei Einführungen und Gesamtdarstellungen, sondern sie wird auch von den Verfassern jener Abhandlungen geteilt, die sich um eine gewissenhafte und argumentative Auseinandersetzung mit Sartres philosophischer Position bemühen. Keinerlei Beachtung findet die Theorie des Imaginären sowohl bei Natanson, dessen Untersuchung von 1951 wohl als Pionierarbeit der Sartre-Forschung gelten kann, als auch noch bei Rouger, der in den achtziger Jahren einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis des Subjektsbegriffs in Das Sein und das Nichts und Die Transzendenz des Ego geleistet hat.37 In Deutschland kann Bubners Arbeit von 1964 den Anspruch erheben, eine der ersten sachlichen Diskussionen von Sartres theoretischem Ansatz jenseits der bis dahin häufig üblichen weltanschaulich-popularisierenden Querelen zu bieten.38 Bubner rekonstruiert und kritisiert Sartres Auffassung von Phänomenologie, ohne hingegen Die Imagination und Das Imaginäre, in denen die Konversion zum Denken Husserls erstmals erfolgt und aus einer philosophischen Problemlage heraus begründet wird, überhaupt nur im Literaturverzeichnis zu erwähnen, geschweige denn einer Analyse zu unterziehen. Ganz im Gegenteil stützt sich Cumming in seinem Husserl-Sartre-Vergleich mehr noch auf Das Imaginäre als auf Das Sein und das Nichts, um Sartres von Husserl abweichendes Phänomenologieverständnis herauszustellen. Die erörterten Beispiele sollen allerdings nur dazu dienen, die Modifikationen, die Sartre an Husserls Methode vornimmt, kenntlich zu machen.39 Nach Hartmann ist die Phantasie ein »interessanter Prüfstein« für »Sartres Auffassung der Phänomenologie als Philosophie der Realität und Konkretion«.40 G. Seel greift auf diese Theorie Sartres zurück, um sein Verständnis von Phänomenologie ebenso wie seine Methode, die Ursprünge des dualistischen Denkens ebenso wie seinen Bewußtseinsbegriff
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Natanson, A Critique of Jean-Paul Sartre’s Ontology; Rouger, Le monde et le moi. Bubner, Phänomenologie, Reflexion und Cartesianische Existenz. – Hartmann beklagt im Vorwort seiner 1963 veröffentlichten Studie Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik das Niveau des Großteils der bisherigen Sekundärliteratur zu Sartre (ebd., XIII). Und Rouger erklärt 1986, daß sich die wissenschaftliche Forschung vor allem mit Sartre als Literaten, Literaturkritiker, politischem Schriftsteller und Biographen beschäftigt habe, während seine philosophischen Arbeiten – von wenigen Ausnahmen abgesehen – völlig vernachlässigt, psychoanalytisch, historisch und soziologisch ›reduktionistisch‹ erklärt oder aber auf dem Niveau weltanschaulicher Kontroversen verhandelt werden (Le Monde et le Moi, 13 ff.). Zieht man schließlich Damasts Vorwort und Einleitung seiner 1994 veröffentlichten Abhandlung heran, so scheint sich an dieser Forschungslage nicht sehr viel geändert zu haben (Sartre und das Problem des Idealismus, 1–3). 39 Cumming, »Role-playing: Sartre’s Transformation of Husserl’s Phenomenology«. 40 Hartmann, ebd., 3. 38
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zu erläutern.41 Lutz-Müller sieht die Bedeutung der Schriften zur Einbildungskraft darin, daß sie »eine neue Grunddimension des Bewußtseins«,42 eben die Negationsstruktur, erschließen, wodurch sich »der Durchbruch zur theoretischen Position« von Das Sein und das Nichts vollzieht.43 Schuppener zieht das Thema des Imaginären zum Verständnis von Sartres Unterscheidung zwischen reiner und unreiner Reflexion heran. Dies geschieht angesichts der Erörterung der existentiellen Psychoanalyse Sartres sowie seiner Identifikation der Epoché mit der Angst als Innewerden der rückhaltlosen Freiheit (vgl. TE 86–90).44 Fornet y Betancourt widmet sich zwar ausführlicher dieser Thematik, indem er die Grundcharakteristiken des Imaginären referiert, auf die Auseinandersetzung mit der Tradition eingeht und Sartres Gegenüberstellung von Imagination und Wahrnehmung darstellt,45 aber auch für ihn ist Das Imaginäre in erster Linie von Interesse als Vorarbeit zu Das Sein und das Nichts.46 Die ausgesprochen akribische Abhandlung von Damast geht kursorisch auf die Imaginationstheorie ein, um Sartres Ablehnung der Repräsentationstheorie ausführlicher als dies in der Einleitung des Hauptwerks geschieht, zu verdeutlichen.47 Alles in allem gilt das Imaginäre als ein Übergangsthema, das Sartre offensichtlich im weiteren Verlauf seines Denkens fallengelassen hat, da es nicht mehr ist als ein Seitenweg, auf dem er sich seinen eigentlichen zentralen Themen nähert, die in Die Transzendenz des Ego, Das Sein und das Nichts usw. auftauchen. Diese Perspektive scheint nahezulegen, daß sich Sartre nach 1940 – dem Jahr der Veröffentlichung von Das Imaginäre – nicht mehr mit dieser Thematik befaßt hätte. Das Verständnis der Schriften zur Imagination als Vorstudien findet sich nicht nur in Auseinandersetzungen mit dem philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts, sondern auch bei jenen Autoren, die sich mit Sartres Literatur- und Kunsttheorie in Was ist Literatur? oder in anderen Schriften beschäftigen – sei es, daß diese im Vordergrund ihres Interesses steht,48 sei es, daß sie einen Teil einer thematisch breiter angelegten Untersuchung dar-
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G. Seel, Sartres Dialektik, 14 Fußn. 35, 48 Fußn. 15, 121 Fußn. 1, 185. Lutz-Müller, Sartres Theorie der Negation, 50. 43 Lutz-Müller, ebd., 59. 44 Schuppener, Phänomenologie und Dialektik in Sartres ›L’être et le néant‹, 344–349, 504–509. 45 Fornet y Betancourt, Philosophie der Befreiung, 13–26. 46 Fornet y Betancourt, ebd., 26. 47 Damast, ebd., 162–164. 48 Dahlhaus, Subjektivität und Literatur; Howells, Sartre’s Theory of Literature; Kohut, Was ist Literatur?; Ch. König, Dialektik und ästhetische Kommunikation; Lesch, Imagination und Moral; Merks-Leinen, Literaturbegriff und Bewußtseinstheorie; Mulatris, Désir, sens et signification chez Sartre; Schmidt-Schweda, Werden und Wirken der Kunst; Tenney, »Aesthetics in the Philosophy of Jean-Paul Sartre«; Wittmann, Sartre und die Kunst. 42
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stellt.49 Da hier spezifisch ästhetische Fragen im Vordergrund stehen, werden Sartres Untersuchungen zur Imagination nur so weit dargestellt, als sie für seine Konzeption des Kunstwerks Bedeutung haben50 oder zum Verständnis unklarer Textstellen beitragen.51 So wie in den eher ontologisch, anthropologisch oder erkenntnistheoretisch orientierten Schriften die Imaginationsthematik als Vorstufe zur philosophischen Position von Das Sein und das Nichts betrachtet wird, die darüber hinaus nur einen geringen, jedenfalls vernachlässigbaren Eigenwert besitzt, so verstehen die genannten Arbeiten dieses Thema als Interpretationsschlüssel für die Ästhetik. Verständlicherweise ist Das Imaginäre natürlich auch für die Konstanzer Rezeptionsästhetik, welche sich nicht zuletzt auch auf Sartre berufen kann, vor allem insofern von Interesse, als dort bereits die konstitutiven Leistungen des kunstrezipierenden Bewußtseins erhellt werden, d. h. insofern diese Schrift einen Beitrag zum Verständnis der literarischen Kommunikation leistet.52 Es wäre erwägenswert, ob eine Blickverschiebung, die das Verhältnis umdreht und versucht, die Abhandlung Was ist Literatur? einmal aus der Perspektive der Theorie der Einbildungskraft zu betrachten, nicht möglicherweise sogar dazu führen würde, das Verständnis von Sartres Literaturtheorie zu vertiefen. Ebenso wie Das Imaginäre eine Vorstudie zur Literaturtheorie von Was ist Literatur? ist, kann letztere als Fortsetzung der Imaginationstheorie gelesen werden. Auf diesem Weg läßt sich möglicherweise zeigen, daß die Denkführung der Literaturtheorie vor dem Hintergrund der Gegenüberstellung von Wahrnehmung und Imagination in der Grundlegungsbetrachtung zu Beginn von Das Imaginäre vor allem auch an Plausibilität gewinnt. Dies entgeht einer rein literaturtheoretisch
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Bensch, Vom Kunstwerk zum ästhetischen Objekt; Smuda, Der Gegenstand in der bildenden Kunst und Literatur; Szukala, Philosophische Untersuchungen zur Theorie der ästhetischen Erfahrung. 50 Vgl. z. B. Howells, ebd., 3–9; Kohut, ebd., 18–28; Merks-Leinen, ebd., 25–31, 36–48. 51 Siehe z. B. Howells, ebd., 158 f., 172 f.; Merks-Leinen, ebd., 30 f. 52 Vgl. Iser, Der Akt des Lesens, 222, 227, 238 f., 289, 292 f., 329, 331; Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 44f, 83. – Iser sieht in einer späteren Schrift mit dem Titel Das Fiktive und das Imaginäre Sartres Konzeption als Beispiel für eine Position, die das Imaginäre nicht länger als Vermögen, sondern phänomenologisch als Tätigkeit des Bewußtseins versteht (vgl. ebd., 331–350). In seiner Darstellung unterlaufen ihm jedoch m. E. einige Fehlinterpretationen, so z. B. wenn erklärt wird, nach Sartre nichte das Imaginäre das Bewußtsein, welches Gefangener seiner selbst sei, sobald es nur imaginiere (345), oder das Bewußtsein sei nur intentional, insofern es imaginiert (339): Die Nichtung ist jedoch bei Sartre nichts, das dem Bewußtsein durch das Imaginäre geschieht, sondern sie hat ihren Ursprung in jedem Fall im Bewußtsein: Das Imaginäre ist das noematische Korrelat des schöpferischen Imaginationsaktes, und es kann in keiner Weise auf das Bewußtsein einwirken (vgl. Im 214–216). Und ebenso sagt Sartre zwar, daß jedes Bewußtsein vorstellen können muß, aber keineswegs will er darauf hinaus, daß es dies auch tatsächlich immer tut, sobald es überhaupt Objekte intendiert.
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orientierten Perspektive, weil sie dazu tendiert, sich ausschließlich auf die Überlegungen zur Sprache in Das Imaginäre zu konzentrieren, in denen die spätere Differenzierung von Poesie und Prosa bereits in Ansätzen erkennbar wird. Es soll in der vorliegenden Arbeit allerdings nicht nur die Ästhetik von der Einbildungskraftslehre aus interpretiert werden, sondern vielmehr auch die Frage gestellt werden, was die Literaturtheorie über Sartres Verständnis des Imaginären lehrt. Eine dritte Gruppe innerhalb der Sartre-Forschung thematisiert die Theorie des Imaginären vor dem Hintergrund einer Beschäftigung mit Der Idiot der Familie, wobei Sartre selbst in einem Interview eine Verbindung zwischen Das Imaginäre und der Flaubert-Studie gezogen hat.53 Wannicke kommt auf diesen Zusammenhang zu sprechen, aber er ist der Ansicht, daß die Theoreme aus der Schrift über die Einbildungskraft ›zwischendurch‹ verschwunden sind und erst in der Flaubert-Studie wieder auftauchen,54 wohingegen Collins schon zuvor darauf aufmerksam gemacht hat, daß die Theorie der Einbildungskraft nicht erst in der Flaubert-Biographie, sondern bereits in jener über Genet insofern aufgenommen wird, als Sartre dort Menschen beschreibt, die das Imaginäre dem Realen vorziehen.55 Wannicke legt zwar großen Wert auf die Kontinuität zwischen Das Imaginäre und Der Idiot der Familie56 und erklärt, daß Sartres Philosophie auf eine »Ontologie des Irrealen«57 hinauslaufe. Da er sich jedoch eher für die historische und soziale Funktion des Imaginären interessiert, nimmt er den Wandel, der sich in Sartres Verständnis des Imaginationsbegriffs vollzogen hat, nicht in den Blick. Barnes, die die wohl bisher umfangreichste Arbeit über Sartres Flaubert verfaßt hat, in der sie ebenso stringent im Detail wie ausführlich den verschlungenen Gedankengang dieses Essays in komprimierter Form nachvollzieht, erwähnt die zitierte Interviewäußerung zwar ebenfalls.58 Aber es bleibt bei dieser Erwähnung und bei allenfalls kursorischen und eher impliziten Bezugnahmen auf Das Imaginäre. Dies gilt ebenfalls für die bereits zitierte Abhandlung von Collins wie auch für die Arbeiten von Frank und Maler zu Sartres Hermeneutik.59 Schultens Interesse ist eher methodologischer Natur, insofern sie Sartres Hermeneutik mit derjenigen Diltheys vergleicht, wobei sie beiläufig und ergänzend, die Ansichten dieser Autoren zur Phantasie einander gegenüberstellt.60 So sieht sie zwar die 53
Sartre erklärt, »daß die Studie über Flaubert für mich eine Fortsetzung meiner früheren Arbeit über Das Imaginäre darstellt« (SüS 176, vgl. auch WkL 158). 54 Wannicke, Sartres Flaubert, 9. 55 Collins, Sartre as biographer, 43. 56 Wannicke, ebd., 62, 259 f. 57 Wannicke, ebd., 260. 58 Barnes, Sartre & Flaubert, 5; siehe ebenso Howells, ebd., 93. 59 Frank, Das individuelle Allgemeine; Maler, Sartres Individualhermeneutik. 60 Schulten, Jean-Paul Sartres ›L’idiot de la famille‹, 139–143.
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Verbindung der Flaubert-Studie mit Das Sein und das Nichts und Fragen der Methode, die Imaginationsproblematik scheint dagegen ihrer Ansicht nach keine vergleichbare Rolle zu spielen. Dasselbe gilt für Müller-Lissners frühe Arbeit zum Flaubert-Essay: Die Verfasserin geht in ihrer Rekonstruktion der Vorstudien zu Der Idiot der Familie auf die existentielle Psychoanalyse in Das Sein und das Nichts ein, in der eine ausführliche Beschäftigung mit Flaubert bereits angekündigt wird (SN 986), wendet sich dann den Biographien über Baudelaire und Genet zu und richtet die Aufmerksamkeit auf Fragen der Methode, in der die sogenannte regressiv-progressive Methode entwickelt wird, die in der Flaubert-Studie schließlich zur Anwendung kommt.61 Die Schrift Das Imaginäre – deren Kontinuitätsverhältnis mit Der Idiot der Familie Sartre selbst betont – taucht in dieser Entwicklungsgeschichte gar nicht auf. Müller-Lissner kommt nur kurz auf dieses Buch zu sprechen, wenn sie die dort vorgelegte Kunsttheorie mit derjenigen in Der Idiot der Familie vergleicht.62 Trotz der vielzitierten Interviewäußerung Sartres, die Flaubert-Studie sei eine Fortsetzung von Das Imaginäre, findet sich bisher keinerlei Versuch, Sartre beim Wort zu nehmen und Der Idiot der Familie tatsächlich primär als eine Theorie des Imaginären zu lesen. Dies würde z. B. bedeuten, sich weniger auf das Individuum Flaubert selbst zu konzentrieren, sondern etwa die Frage zu stellen, inwiefern sich in diesem Spätwerk eine Revision oder Weiterentwicklung der frühen Imaginationskonzeption vollzieht.63 Fast alle Aufsätze, die sich mit Sartres Imaginationstheorie beschäftigen, beschränken sich auf die beiden Schriften Die Imagination und Das Imaginäre. Dabei fällt auf, daß sich die Autoren vor allem mit den vier Grundcharakteristiken des Imaginären, die Sartre zu Beginn von Das Imaginäre entwickelt (Imagination als Bewußtseinsmodus, Quasi-Beobachtung, Negationssetzung und Kreativität), sowie mit der Konzeption des Analogons auseinandersetzen. Noch vor der Veröffentlichung von Das Imaginäre hat Feldman-Comiti in den dreißiger Jahren eine Rezension zu Die Imagination verfaßt, die im ganzen eher wohlwollend ausfällt, wenngleich sie moniert, daß Sartre es sich bei der Auswahl der Beispiele in seinen bildphänomenologischen Beschreibungen allzu leicht macht.64 Merleau-Pontys Rezension zu Die Imagination nimmt ebenfalls insgesamt eine positive Würdigung vor, meldet jedoch den 61
Müller-Lissner, Sartre als Biograph Flauberts, 15–23. Müller-Lissner, ebd., 86 f. 63 Nach Howells kommt es in Der Idiot der Familie nur zu einer bloßen Anwendung der frühen Imaginationstheorie, die sozusagen das Rüstzeug für die Interpretation bereitstellt, ohne selbst modifiziert zu werden. Hingegen versteht sie die Flaubert-Studie durchaus als eine Fortentwicklung der Literaturtheorie (siehe z. B. ebd., 144). 64 Feldman-Comiti, »Introduction à l’étude phénoménologique de l’image à propos d’un ouvrage récent«, 778 f. 62
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Vorbehalt an, Sartre gehe mitunter allzu ungerecht mit Bergson und Husserl um.65 Eine Rezension zu Das Imaginäre findet sich bei Kracauer, der sich bezeichnenderweise im kritischen Teil sogleich von der Imaginationsproblematik abwendet und zu einer Auseinandersetzung mit Sartres Freiheitsbegriff übergeht.66 Baladie liefert in seiner Rezension einen Gesamtüberblick über die genannte Schrift und beleuchtet am Ende den Einfluß des Romans Der Ekel auf die Imaginationsstudie, durch den Bestimmungen ins Spiel kommen, die nur unzureichend phänomenologisch gedeckt seien (so z. B. die Charakterisierung der realen Wahrnehmungswelt als ekelhaft: vgl. Im 303).67 Fowlers Rezension skizziert den Gedankengang der Studie Das Imaginäre, die er vor allem in engem Zusammenhang mit Sartres ein Jahr zuvor veröffentlichtem fragmentarischem Essay Skizze einer Theorie der Emotionen sieht.68 Ricœur moniert in seinem Aufsatz die Privilegierung des Originals vor dem Bild, die sich im übrigen nicht nur bei Sartre, sondern auch in Ryles Kapitel über die Phantasie in The Concept of Mind findet.69 Weiterhin formuliert Ricœur eine Kritik an Sartres Konzept der Quasi-Beobachtung,70 die sich auch in Bossarts Kurzdarstellung von Das Imaginäre findet, der gegenüber Sartres Darlegungen den Ansatz Kants privilegiert und vor allem auch die Identifikation von Kunst und Phantasie in Frage stellt.71 Auf die gemeinsame Kritik Ricœurs und Bossarts soll im folgenden näher eingegangen werden, wenn das Verhältnis zwischen Das Imaginäre und Was ist Literatur? beleuchtet wird. Warnock konzentriert sich ebenfalls auf die frühe Position, wobei sie berechtigte Bedenken hinsichtlich der Spannung anmeldet, die zwischen Sartres Zurückweisung der Immanenz-Illusion und seiner eigenen Konzeption des Analogons besteht (siehe hierzu auch Kap. 2).72 Dieser Punkt steht auch in Morgans Untersuchung im Vordergrund, die letzten Endes Sartres Widerlegung des Immanentismus des Bildes für unzureichend erklärt.73 Caseys kritische Auseinandersetzung hebt ähnlich wie diejenigen Warnocks und Morgans die Inkonsistenz hinsichtlich der Behandlung der Immanenz-Illusion hervor, moniert ferner die Trennung zwischen Wahrnehmung und Imagination als zu rigide und beanstandet ebenso Sartres Intellektualismus, der von einem reinen Denken ausgeht, das sich von jeglichen imaginären Einmischungen
65 66 67 68 69 70 71 72 73
Merleau-Ponty, »J.-P. Sartre. – L’imagination«, 764. Kracauer, »Bewußtsein, frei und spontan«, 332 f. Baladie, »La structure de l’image d’après Sartre«, 64 f. Fowler, »Sartre’s World of Dream«, 264. Ricœur, »Sartre and Ryle on Imagination«, 176 f. Ricœur, ebd., 171. Bossart, »Sartre’s Theory of the Imagination«, 44, 46 ff., 50. Warnock, »Imagination in Sartre«, 327 f. Morgan, »A Critical Analysis of Sartre’s Theory of Imagination«, 32 f.
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befreien könnte. Ein weiterer Kritikpunkt ist Sartres Dualismus, der Caseys Ansicht nach die phänomenologischen Beschreibungen verzeichnet.74 Smiths zentrales Anliegen ist die Analyse des Analogons der images mentales in Das Imaginäre. Dabei interessiert er sich auch für jene Bilder, die in Sartres Konzeption unberücksichtigt bleiben: die Imagination von Tönen, Farben, Geschmäckern, Gerüchen oder taktilen Empfindungen. Smith versucht diese Lücke der Beschreibung wenigstens auf kursorische Weise zu schließen und bietet hierbei wertvolle Anregungen.75 Auf seine in diesem Zusammenhang vorgebrachte Kritik, Affektivität könne nicht als Analogon der images mentales fungieren, da sie keinerlei Ähnlichkeit mit dem vorzustellenden Objekt habe,76 soll an späterer Stelle noch eingegangen werden. Auf die beiden Schriften über die Imagination aus den dreißiger Jahren beschränkt sich auch Bunting, der Sartres Untersuchungen mit Gombrichs Position in Kunst und Illusion vergleicht und aus der Perspektive der Analytischen Philosophie eine Kritik an Sartres schroffer Distinktion zwischen Wahrnehmung und Imagination vornimmt.77 Den Vorwurf einer solchen übergangslosen Trennung dieser Bewußtseinsformen erhebt auch Wiesings Vergleich der Bildtheorien Husserls und Sartres.78 Wiesing entwickelt schließlich im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Husserl und Sartre eine eigene bildphänomenologische Position, die sich maßgeblich auf Merleau-Ponty beruft. Eine Beschäftigung mit Sartres Bildphänomenologie mit dem Ziel, einen eigenen Ansatz zu erarbeiten, findet sich auch bei Kuehl. Allerdings dienen Sartres Darlegungen hier eher zur Bekräftigung und weniger, wie bei Wiesing, zur Abgrenzung der Position des Autors.79 Salzmanns aufschlußreiche Erörterung stellt Das Imaginäre sowie Sartres Biographie über Jean Genet, Saint Genet, Komödiant und Märtyrer, auf der einen und Was ist Literatur? auf der anderen Seite einander gegenüber, um die grundlegende Ambivalenz zu betonen, die der Imagination bzw. der ästhetischen Schöpfung bei Sartre innewohnt. Während der Bereich der Kunst und des Imaginären einerseits, wie Salzmann zeigen kann, eine Flucht vor der Realität darstellt, ist andererseits die literarische Prosa der einzige Ort einer konfliktfreien wechselseitigen Kommunikation in Sartres Denken. Hierbei wird allerdings – anders als etwa in der Poesie – die ästhetische Dimension der ethischen Dimension untergeordnet. Und dies gilt, wie Salzmann überzeugend im Sinne Sartres darlegt, gerade weil die Kunst nur für andere exi-
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Casey, »Sartre on Imagination«, 155, 157, 160, 162. Smith, »Sartre and the Matter of Mental Images«, 72–74. Smith, ebd., 75 f. Bunting, »Sartre on Imagination«, 242 f. u. 244 ff. Wiesing, »Phänomenologie des Bildes nach Husserl und Sartre«, 267 f., 276. Kuehl, »Perceiving and Imagining«; zu Sartre vor allem 218 ff.
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stiert und sich mithin nicht von der Realität abwendet, sondern vielmehr ihre Veränderung anstrebt.80 Die Untersuchung Flajoliets unternimmt einen minuziösen und kenntnisreichen Vergleich von Husserls und Sartres Verständnis von Phantasie (bzw. image mentale) und Bild (bzw. image physique). Hierbei steht vor allem Sartres Husserl-Kritik im Schlußteil von Die Imagination im Vordergrund, der sich Flajoliet im großen und ganzen offensichtlich anschließt.81 Flynns Diskussion in »The Role of the Image in Sartre’s Aesthetic« schließt eine Zusammenfassung der wesentlichen Teile von Das Imaginäre ein, die auch auf die immanenten Widersprüche dieses Lehrstücks eingeht. Diese haben nach Flynn ihren Ursprung zum Teil in Sartres Cartesianismus, der mitunter die adäquate Phänomenbeschreibung unterläuft.82 Interessant ist nicht zuletzt auch der Hinweis, daß Sartres Darstellung der realen Situation als Motivation der Imagination bereits in nuce den später in Der Idiot der Familie entwickelten Zusammenhang von Flauberts Schreibweise und seiner Klassenzugehörigkeit vorwegnimmt.83 Ein weiterer Aufsatz Flynns ist überaus aufschlußreich für die Thematik der vorliegenden Arbeit, insofern der Autor hier den Versuch unternimmt, dem mehrdimensionalen Verhältnis von Realität und Irrealität in Der Idiot der Familie Rechnung zu tragen.84 Zudem ist er – soweit dies zu übersehen ist – der erste, der darauf hingewiesen hat, daß in der FlaubertStudie das Imaginäre im Gegensatz zur Praxis verstanden wird.85 Allerdings sieht Flynn hierin offenbar keine Differenz zur frühen Imaginationstheorie. Aufgrund der zu bewältigenden Textmenge, die Sartres Flaubert dem Leser zumutet, bleibt es in Flynns Aufsatz jedoch verständlicherweise bei einer kursorischen Aufzählung der verschiedenen Sinndimensionen des Realen und des Irrealen, die zudem die soziale Dimension des Imaginären nicht ausreichend in ihrer Spezifität thematisiert. So mündet Flynns Beschreibung zwar in eine Zusammenfassung, bei der jedoch die Frage offenbleibt, inwiefern die unterschiedlichen Bedeutungen in einem Verhältnis der Über- oder Unterordnung stehen und inwiefern sie einander widersprechen. Von den Studien zum Imaginären im allgemeinen, die sich Sartres Konzeption in einem speziellen Kapitel widmen, sind in erster Linie Chateau, Védrine und Lempen-Ricci zu nennen. Chateau versucht Sartres Position in Richtung auf eine genetische Psychologie zu erweitern, während Védrine
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Salzmann, »Quelques conséquences esthétiques et éthiques de la conception sartrienne de l’imagination«, 359. 81 Flajoliet, »Deux descriptions phénoménologiques de l’imagination«. 82 Flynn, »The Role of the Image in Sartre’s Aesthetic«, z. B. 439. 83 Flynn, ebd.. 84 Flynn, »Sartre-Flaubert and the Real/Unreal«, 109–118. 85 Flynn, ebd., 118–120.
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einen kursorischen Vergleich des frühen Sartre mit Baudrillard liefert. Lempen-Ricci nimmt vor allem Sartres Husserl-Kritik in den Blick und beschäftigt sich im Anschluß mit den Überlegungen zu Wissen und Affektivität als Analogon des Imaginären.86 Aus der Reihe der Schriften zum Imaginären im allgemeinen sollen lediglich zwei aktuellere Studien ausführlicher zur Sprache kommen, die von ihrem systematischen Anspruch her mit Sartres Ansatz konkurrieren. Sowohl Caseys ebenso umfangreiche wie minuziöse phänomenologische Studie Imagining als auch Warnocks eher historisch angelegte Arbeit Imagination sind 1976 veröffentlicht worden, wobei beide Autoren sich ausführlich in den bereits erwähnten Aufsätzen eigens mit Sartre auseinandersetzen und vor allem Caseys Schrift als phänomenologischer Gegenentwurf zu Das Imaginäre gelesen werden kann. Die Auswahl dieser beiden Abhandlungen ist insofern interessant, als Casey einen engeren und Warnock einen weiteren Imaginationsbegriff als Sartre vertritt. Casey beschränkt den Bereich der Imaginationen auf jene Phänomene, die Sartre als images mentales bezeichnet. Insofern die nicht-psychischen Imaginationen, also – in Sartres Worten – die images physiques, nicht mehr zu Caseys Themenfeld gehören, untersucht dieser folglich nur einen Teilbereich von Sartres Konzeption. Das zeigt sich sehr deutlich im Zusammenhang mit der Analyse der Kunstrezeption: Nach Sartre befindet sich der Leser oder Betrachter in einer imaginierenden Haltung, insofern das Kunstwerk eine image physique darstellt – d. h. also ebenso zum Bereich der Imaginationen gehört, wie die images mentales, zu denen etwa die vorgestellten schwimmenden Delphine zählen, die Casey eindringlich untersucht.87 Nach Casey ist die Rezeption eines Kunstwerks allerdings keine Imagination, sondern eine Wahrnehmung, die jedoch Imaginationen – d. h. aber in Sartres Worten: images mentales – auslöst. Dies geschieht im Grunde dann, wenn sich der Rezipient von den eigentlichen Gegebenheiten ablöst und sie zum Anlaß für Träumereien nimmt. So fragt er sich etwa, was als nächstes geschieht, oder überlegt, warum der Künstler dies so und nicht anders gestaltet hat.88 So erklärt Casey dann auch, daß der Rezipient nach dem Vollzug seiner Imaginationen »redirects his attention onto the perceived work«.89 Die Imaginationen scheinen bei Casey nur fakultativ mit der Kunstrezeption verbunden zu sein, während für Sartre die Kunstrezeption eine Form der Imagination ist. 86
Chateau, Les sources de l’imaginaire, 227–236; Védrine, Les grandes conceptions de l’imaginaire, 122–130; Lempen-Ricci, Le sens de l’imagination, 193–223. 87 Casey, Imagining, 26f u. passim. 88 Casey, ebd., 113, 140 f., 206 f. 89 Ebd., 141. Siehe auch ders., »Sartre on Imagination«, 152–154: Daraus ergibt sich der Vorwurf an Sartre, die beiden Thesen, ›Das Kunstwerk ist ein Imaginäres‹ und ›Zum Kunstwerk gehört das sinnlich wahrnehmbare Analogon‹, stehen in einem Widerspruch zueinander. Der Grund liegt in Caseys Engführung des Imaginationsbegriffs.
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Während Caseys Imaginationsbegriff enger als der Sartres ist, faßt ihn Warnocks Studie Imagination erheblich weiter. Dabei stellt sie sich erkennbar auf die Seite der Romantik, deren Verständnis von Imagination von Casey als »overestimation«90 zurückgewiesen wird. So kritisiert sie auf der einen Seite bei der Diskussion des Verhältnisses zwischen Imagination und Wahrnehmung Merleau-Pontys Wahrnehmungsbegriff, da er keinen Platz für das Eigenrecht der Imagination lasse,91 auf der anderen Seite proklamiert sie einen ausgesprochen weiten Imaginationsbegriff, der auch noch den Deutungscharakter der Wahrnehmung einschließt.92 Angesichts dieser Auffassung stellt sich allerdings die Frage, ob Warnock sich nicht den spiegelbildlichen Vorwurf einhandelt, den sie gegen Merleau-Ponty erhebt: Ein derart umfangreicher Imaginationsbegriff läßt ebensowenig Raum für das Eigenrecht der Wahrnehmung, wie Merleau-Pontys umfangreicher Wahrnehmungsbegriff Raum für das Eigenrecht der Imagination läßt. Insofern Warnock von einer Kontinuität zwischen Wahrnehmung und Imagination ausgeht – für die sicher auch einiges spricht –, stimmt sie mit Merleau-Ponty überein (s. u.). Die Kontroverse bricht aus bei der Frage nach der Priorität oder dem Oberbegriff innerhalb des Verhältnisses zwischen Wahrnehmung und Imagination.
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Casey, Imagining, 1. Warnock, Imagination, 144, 148. 92 Warnock, ebd., 183 f., 192–199, 207. – Casey nimmt eine mittlere Position zwischen den Ansätzen ein, die das Verhältnis von Wahrnehmung und Imagination als Kontinuität und jenen, die es als Diskontinuität deuten. Er gesteht – anders als Sartre dies tut (s. u.) – den Vertretern der Kontinuitätsthese zu, daß wir gleichzeitig wahrnehmen und imaginieren können, er bestreitet jedoch, daß dies hinsichtlich desselben intentionalen Objekts möglich ist (vgl. ebd., 147). Damit schließt er sich Wittgenstein an: »Während ich einen Gegenstand sehe, kann ich ihn mir nicht vorstellen« (Zettel, § 621). Die u. a. auch von Warnock vertretene These, daß Imagination ein notwendiges Moment der Wahrnehmung sei, wird von Casey entschieden zurückgewiesen: »Not even in multiple-aspect seeing as can we say that imagination becomes part of perception; never an actual ingredient, it is at most an essential adjunct. Even in their closest conjunctions, imagining remains distinguishable from perceiving: continuity does not imply coincidence« (ebd., 145). Interessant ist, daß Warnock, die die Kontinuität vertritt, sich ebenfalls auf Wittgenstein – und zwar auf dessen gestaltpsychologische Analysen in den Philosophischen Untersuchungen – beruft (siehe Warnock, ebd., 183–195; Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 518 ff.). 91
1. DIE AUSEINANDERSETZUNG MIT DER PHILOSOPHIEGESCHICHTLICHEN TRADITION
Sartres Studie Die Imagination, 1936 veröffentlicht, verfolgt primär die Absicht, die bisherigen philosophischen und psychologischen Ansätze zur Frage nach der Einbildungskraft kursorisch darzustellen und kritisch zu überprüfen. Wannicke bemerkt nicht zu Unrecht »einen aggressiv-destruktiven Gestus«1 dieser Arbeit; Sartre ist, wie man Wannicke zugestehen kann, »polemisch« und »radikal«, wobei sich jedoch auch »erste positive Ansätze seiner eigenen Doktrin«2 ausmachen lassen. Vor der Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur findet sich jedoch am Anfang der Schrift zunächst eine Deskription der unmittelbaren Bewußtseinsgegebenheiten. Die Nähe zur phänomenologischen Schule Husserls, zu der Sartre sich innerhalb dieser Untersuchung erst an späterer Stelle bekennt, wird bereits deutlich, indem er Wahrnehmungs- und Vorstellungsgegenstände so beschreibt, wie sie sich zeigen. Bei diesem Verfahren wird ebenfalls ersichtlich, inwieweit schon hier das Problem der ontologischen Selbständigkeit des Phänomens relevant ist, welches strenggenommen das von Husserl aufgewiesene Aufgabenfeld der Phänomenologie überschreitet. Ausgehend von den Gegebenheiten des Bewußtseins, stellt Sartre, der auf der »kategorischen Eigenständigkeit«3 des Imaginären insistiert, die Frage nach der Differenz von Wahrnehmung und Imagination, wobei der ontologische Status des Gegebenen als wesentliches Unterscheidungskriterium in den Vordergrund rückt. Es liegt also der Schluß nahe, daß schon die philosophischen Betrachtungen in Die Imagination die Ebene einer phänomenologischen Ontologie einnehmen, die allerdings erst im späteren philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts mittels einer durch den ›ontologischen Beweis‹ (vgl. SN 33–37) geleisteten Selbstüberschreitung der Phänomenologie zu einer phänomenologisch fundierten Ontologie argumentativ legitimiert werden soll. Hierfür spricht auch, daß Sartre am Anfang von Die 1
Wannicke, ebd., 54. Ebd., 55; siehe auch: Feldman-Comiti, ebd., 767: »Un effort pour poser en termes nouveaux le vieux problème de l’imagination – appréhension immédiate d’une image en tant que telle – et, par suite, pour résoudre les contradictions qu’entraine dans les théories classique une conception ›chosiste‹ de l’image, – tel est le plus grand mérite du petit livre que M. Sartre propose à nos méditations«; siehe zur Gesamteinschätzung auch MerleauPontys Rezension, »J.-P. Sartre. – L’imagination«, 756–764; Ricœur, ebd., 169; Warnock, »Imagination in Sartre«, 323. 3 Wiesing, ebd., 258. 2
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1. Auseinandersetzung mit der philosophiegeschichtlichen Tradition
Imagination erstmals mit den Kategorien An-sich-sein und Für-sich-sein operiert. Die kritischen Bemerkungen dieser Schrift sind, wie Betancourt zutreffend feststellt, durch eine »These deutlich ontologischen Charakters motiviert«, die eine »radikale Distinktion« zwischen Ding und Bewußtsein behauptet.4
1. 1. Phänomenologische Vorüberlegungen und die ontologische Differenz von Bewußtsein und Gegenstand Zunächst sollen die phänomenologischen Vorüberlegungen Berücksichtigung finden, in denen die entscheidenden Weichen der Argumentation sowie die Grundlage der Kritik der Forschungstradition entwickelt werden (vgl. TE 97–102). Sartre wählt folgendes Beispiel: Ich sehe den vor mir auf dem Tisch liegenden weißen Bogen Papier: Seine verschiedenen Qualitäten (Form, Farbe, Lage usw.) zeichnen sich, wie betont wird, dadurch aus, daß sie subjektunabhängig sind, die Spontaneität sie also nicht hervorbringen kann (vgl. TE 97). Ihr Sein läßt sich weder auf meine noch auf eine andere Subjektivität reduzieren, weshalb ich es »nur feststellen kann«: »Sie [die unterschiedlichen Qualitäten – Anm. J. B.] sind für mich, sie sind nicht ich« (TE 97). Dies ist das wesentliche Charakteristikum, das von Sartre von Anfang an in seiner Beschreibung des Wahrnehmungsphänomens geltend gemacht wird. Jene Subjektunabhängigkeit begreift er als »Trägheit« bzw. – die spätere Terminologie aus Das Sein und das Nichts vorwegnehmend – als »Existenz an sich« oder auch einfach als »Ding [chose]« (vgl. TE 97): »(T)atsächlich bin ich nicht dazu in der Lage, einen Hut an diesem Kleiderhaken zu sehen oder ein Klavier an Stelle dieses Sessels« (TE 206). Die Frage, ob das Wahrgenommene auch unabhängig von seinem Wahrgenommen-sein existiert, gehört allerdings nicht mehr zum Forschungsbereich der Phänomenologie, sondern stellt genaugenommen ein ontologisches Problem dar: »Dinge können«, wie Husserl notiert, »in Wirklichkeit sein, ohne wahrgenommen zu sein. Solche Aussagen«, so fügt er hinzu, »überschreiten freilich die rein phänomenologische Sphäre«:5 »Die ›Einklammerung‹, die die Wahrnehmung erfahren hat, verhindert jedes
4
Betancourt, ebd., 20. Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, 293. Dies hindert ihn jedoch nicht daran, auf dieses Charakteristikum zurückzukommen, wenn es etwa darum geht, Wahrnehmung und wahrgenommenes Ding zu unterscheiden, vgl. Ideen I, 84: »Das wahrgenommene Ding kann sein, ohne wahrgenommen, ohne auch nur potentiell bewußt zu sein […]; und es kann sein, ohne sich zu verändern. Die Wahrnehmung selbst ist aber, was sie ist, im beständigen Fluß des Bewußtseins und selbst ein beständiger Fluß: immerfort wandelt sich das Wahrnehmungs-Jetzt in das sich anschließende Bewußtsein des Soeben-Vergangenen, und 5
Phänomenologische Vorüberlegungen
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Urteil über die wahrgenommene Wirklichkeit (d. i. jedes, das in der unmodifizierten Wahrnehmung gründet, also ihre Thesis in sich aufnimmt)«.6 Sartre will aber hervorheben, daß die Dinglichkeit bzw. Subjektunabhängigkeit des Wahrgenommenen sich bereits dem unmittelbaren Bewußtsein offenbart, ohne daß hierfür eine zusätzliche Denkoperation erforderlich wäre. Das wahrnehmende Bewußtsein ist dagegen kein Ding, auch wenn es selbst an sich ist – inwiefern auch das Bewußtsein und später das Für-sich-sein im systematischen Hauptwerk ein An-sich-sein ist, wird im folgenden noch zu diskutieren sein –, aber es ist dies, indem es »ein für sich Sein ist« (TE 97). Das Bewußtsein ist Spontaneität, seine Existenz fällt mit dem Bewußtsein der Existenz zusammen. »Man nennt eine Existenz spontan, die sich durch sich selbst zu existieren bestimmt. Mit anderen Worten, spontan existieren heißt für sich und durch sich existieren. Eine einzige Realität verdient somit den Namen spontan: das Bewußtsein. Existieren und Bewußtsein vom Existieren haben ist für das Bewußtsein ja eins. Mit anderen Worten, das ontologische Hauptgesetz des Bewußtseins ist: für ein Bewußtsein ist die einzige Art zu existieren, Bewußtsein davon zu haben, daß es existiert« (TE 210, vgl. ebd., 264). Während die Spontaneität also die Unabhängigkeit des Bewußtseins von den Dingen und ihren deterministischen Gesetzmäßigkeiten garantiert, bewahrt umgekehrt gerade die Trägheit, d. h. eben für Sartre ihre Dinghaftigkeit, die Phänomene davor, durch das Bewußtsein in einen Komplex von subjektiven Vorstellungen aufgelöst zu werden – und eben hierin gründet wiederum die Autonomie der Dinge. Folgerichtig unterscheidet Sartre also »von Anfang an zwei Existenztypen« (TE 98): die Dinge, deren Trägheit sie vor idealistischen Auffassungen bewahrt,7 und das Bewußtsein mit seiner Spontaneität, welche die realistische Reduktion der Subjektivität auf die Objektivität ausschließt. »Es ist ein ontologisches Gesetz, daß es nur zwei Existenztypen gibt: Existenz als Ding der Welt und Existenz als Bewußtsein« (TE 211). Dieser Dualismus, der kennzeichnend für die Position von Das Sein und das Nichts ist und im Grunde auch das spätere Denken prägt, läßt sich also deutlich schon in der Frühschrift Die Imagination konstatieren. Er ist das Resultat des Bestrebens, einen Mittelweg zwischen Idealismus und Realismus zu finden, bei dem es vor allem darauf ankommt, auf der wechselseitigen Unre-
zugleich leuchtet ein neues Jetzt auf usw.« [Hervorhebung – J. B.]; vgl. auch ders., Zeitbewußtsein, 462: »(D)ie Dauer der Wahrnehmung [fällt] nicht zusammen mit der Dauer des wahrgenommenen Objektes: wir sagen, daß es vor der Wahrnehmung schon existiert hat und nach ihrem Ablauf noch weiter existieren wird«. 6 Husserl, Ideen I, 209. 7 Es ist eine fundamentale Überzeugung Sartres, daß die Spontaneität nichts Inertes erschaffen bzw. die Transparenz keine Opazität hervorbringen kann (vgl. TE 208).
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1. Auseinandersetzung mit der philosophiegeschichtlichen Tradition
duzierbarkeit von Bewußtsein und Gegenstand zu insistieren – damit werden beide allerdings zunächst als unversöhnliche Gegensätze auseinandergerissen. Diese Positon, die G. Seel zu den vortheoretischen Grundüberzeugungen Sartres rechnet,8 bringt Simone de Beauvoir in ihren Memoiren pointiert zum Ausdruck: »Sartres Originalität bestand darin, daß er dem Bewußtsein die stolzeste Unabhängigkeit zubilligte und dabei der Realität ihr volles Gewicht ließ«.9 Bis auf weiteres soll die Darlegung des Dualismus bei Sartre mit diesen knappen Hinweisen ihr Bewenden haben. An späteren Stellen der vorliegenden Arbeit werden sich noch häufig Gelegenheiten finden, diese Problematik erneut aufzugreifen und weiter zu vertiefen. Nach den referierten Ausführungen zum Verhältnis von Bewußtsein und Gegenstand kommt Sartre nun auf die eigentliche Thematik von Die Imagination zu sprechen. Wieder ist das Beispiel der wahrgenommene Bogen Papier. Aber nun drehe ich den Kopf in eine andere Richtung, und das Papier verschwindet aus meinem Blickfeld. Es ist mir jedoch klar, daß es dadurch nicht aufhört, zu sein, denn es ist ja gerade an sich: »Doch ich weiß wohl, daß er sich nicht in Nichts aufgelöst hat: davor bewahrt ihn seine Trägheit«. Er hat lediglich »aufgehört, für mich zu sein« (TE 98). Während mein Blick nun auf die graue Tapete gerichtet ist, kann ich mir den Bogen Papier vorstellen, er erscheint mir mit seiner ihm eigentümlichen Farbe, Form usw. Dennoch ist es unstrittig, daß der zuvor wahrgenommene Bogen Papier auf seinem Platz geblieben ist. Letzterer ist nicht anwesend; wenn ich ihn wahrnehmen will, muß ich meinen Kopf drehen, mich meinem Schreibtisch zuwenden, auf dem sich der reale Bogen Papier befindet. Besteht nun Identität zwischen dem wahrgenommenen und dem vorgestellten bzw. erinnerten Gegenstand? »Ja und nein« (TE 98), antwortet Sartre: Der Bogen, der mir jetzt erscheint, besitzt dieselben Qualitäten, wie der zuvor gesehene; es besteht hier eine »Wesensidentität« (TE 98), und unter Wesen versteht Sartre nicht nur die »Struktur«, sondern, wie er eigens hinzufügt, auch die »Individualität«. Allerdings kann von einer, wie Sartre es nennt, »Existenzidentität« (TE 98) keine Rede sein, denn dem imaginären Bogen kann im Unterschied zum wahrgenommenen Bogen keine Trägheit, kein An-sich-sein zugesprochen werden:10 8
G. Seel nennt das »Streben nach dem Konkreten«, das sich »in einem überzeugten Antiidealismus« artikuliert, und zweitens die »Überzeugung von der Freiheit des Menschen«; als drittes Motiv wird das »Interesse an sozialen Problemen« aufgeführt (ebd., 7 f.). G. Seel stützt sich hierbei auf die Memoiren S. de Beauvoirs; vgl. hierzu auch Damast, ebd., 42 f., 178–180. 9 S. de Beauvoir, ebd., 29; vgl. auch ebd., 30: »(E)r liebte die Welt zu leidenschaftlich, um sie zur Illusion zu degradieren. Dieser Optimismus erwuchs aus seiner Vitalität, er ließ Subjekt und Objekt im selben Maße gelten«. 10 Vgl. Caws, ebd., 32: »(T)he thing unperceived is in-itself but not for me; perceived it is in-itself and for-me; in image it is for-me but not in-itself«.
Phänomenologische Vorüberlegungen
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»Ich sehe ihn nicht, er drängt sich meiner Spontaneität nicht wie eine Grenze auf; er ist auch kein inertes, an sich existierendes Gegebenes. Mit einem Wort, er existiert nicht de facto [en fait], er existiert als Bild [en image]« (TE 98).11 Und diese Unterscheidung vollzieht das Bewußtsein nicht erst in einer die unmittelbaren Gegebenheiten überprüfenden Denkoperation auf der Ebene des Urteils. Schon das unmittelbare Bewußtsein würde nach Sartre niemals die Bilder12 mit Anwesenheiten verwechseln, eben weil es spontan die Trägheit oder ihr Fehlen erfaßt: »Wenn ich mich ohne Vorurteile prüfe, werde ich bemerken, daß ich spontan die Unterscheidung zwischen der Existenz als Ding und der Existenz als Bild mache […]. Man würde jemanden, der keine Psychologie studiert hat, sehr verblüffen, wenn man ihn fragte, nachdem man ihm erklärt hat, was der Psychologe Bild nennt: Passiert es ihnen manchmal, daß sie das Bild ihres Bruders mit dessen realer Anwesenheit verwechseln? Die Anerkennung des Bildes als solchen ist eine unmittelbare Gegebenheit des innersten Sinns (sens intime)« (TE 99).13 Bevor Sartres Gedankengang weiterverfolgt wird, sollen zunächst die Implikationen seiner Unterscheidung zwischen Ding und Bild vor allem im Hinblick auf die von Anfang an mitbedachte ontologische Dimension hervorgehoben werden. Obwohl Sartre an dieser Stelle noch keine expliziten Schlußfolgerungen aus seinen Überlegungen zieht, läßt sich bereits feststellen, daß dem Imaginären im Gegensatz zum Wahrgenommenen keinerlei Autonomie zukommt, weil es ihm an Trägheit als fundamentalem Charakteristikum des Dinglichen, und damit an Subjektunabhängigkeit, mangelt. Der Dualismus von Bewußtsein und Gegenstand stößt hier, so scheint es, an eine Grenze, insofern sich der erinnerte Gegenstand offenbar auf das Bewußtsein reduzieren läßt. Da das Bewußtsein das Imaginäre hervorbringt, verschwindet es, sobald es diesem nicht mehr erscheint. Im folgenden versucht Sartre, die Genese der traditionell üblichen und seiner Ansicht nach fehlerhaften Theorie des Bildes nachzuvollziehen. Insofern die Unterscheidung von Bild und Ding sich spontan und mit Gewißheit auf der Ebene des unmittelbaren, unreflektierten Bewußtseins vollzieht, kann
11
Vgl. Husserl, VI. Logische Untersuchung, 588: »Gegenüber der Imagination ist die Wahrnehmung […] dadurch ausgezeichnet, daß in ihr der Gegenstand ›selbst‹ und nicht bloß ›im Bilde‹ erscheint«. 12 Anders als bei Husserl und Fink (s. u.), die Bild und Vergegenwärtigung einander gegenüberstellen, bezieht sich der Begriff ›Bild‹ bzw. ›image‹ bei Sartre auf den gesamten Bereich des Imaginären. 13 Es handelt sich nach Ricœur um eine »immediate certitude of an essential gap between the two experiences of having an image and of perceiving« (ebd., 169).
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1. Auseinandersetzung mit der philosophiegeschichtlichen Tradition
also, wie gefolgert wird, eine fehlerhafte Einschätzung der Natur der Bilder im allgemeinen nicht diesem spontanen Erfassen des Bildes als Bild zur Last gelegt werden. Die »Theorie der Existenz als Bild« (TE 99) soll sich auf Behauptungen beschränken, die ihr Fundament in der reflexiven Erfahrung finden. Zu vermeiden ist der naheliegende, auf einer »fast unüberwindbaren Gewohnheit« (TE 99) beruhende Irrtum, jede Existenzform als physikalische Existenz zu deuten. Sicher ist der Bogen als Bild mit dem Bogen als Realität identisch – es ist derselbe Bogen mit derselben Farbe, derselben Größe und Form usw. Aber beide befinden sich auf völlig verschiedenen Existenzebenen. Eine jegliche Theorie, die davon absieht, Bilder zu formen und ihre Thesen auf deren Beschreibung zu gründen, tendiert dazu, nicht nur die Wesensidentität zwischen Bild und Objekt, sondern auch deren Existenzidentität zu deklarieren: Das Bild ist nicht nur das Objekt – darin liegt die Wesensidentität begründet –, es soll auch, so folgert man, wie das Objekt existieren. Sartre bezeichnet jene Position, die sich nicht auf die Beschreibung des Bildes stützt, sondern sich vorurteilsvolle Gedanken über das Bild macht, als »die naive Metaphysik des Bildes« (TE 100). Das Bild wird hier verstanden als die Kopie eines Dings, die selbst wiederum als etwas Dingliches existiert. Der wesentliche Unterschied zu den Ergebnissen, die die Deskription des Bildes als Bewußtseinsgegebenheit hervorgebracht hat, liegt also darin, daß die naive Metaphysik dem Bild Trägheit bzw. An-sich-sein zuschreibt.14 Auch wenn paradoxerweise jeder psychologisch nicht geschulte Mensch unmittelbar und spontan seine Bilder als Bilder erkennt und sie von den wahrgenommenen Dingen problemlos unterscheidet, unterliegt er dem von Sartre dargestellten Irrtum, sobald er behauptet, er sehe, höre usw. seine Bilder. Die erste Behauptung, die Bild und Ding unterscheidet, stützt sich auf die vorurteilsfreie Reflexion auf die spontane Erfahrung des Bildes (vgl. TE 178), die zweite Behauptung, die offenbar Bild und Ding wieder identifiziert, ist das Resultat »einer naiv konstruierten Theorie« (TE 100). Im letzteren Fall habe ich es dann nicht mehr mit demselben Bogen Papier auf zwei verschiedenen Existenzebenen, sondern mit zwei identischen Bögen zu tun, die auf derselben Ebene existieren. Die erwähnten Behauptungen stehen, wie Sartre betont, in einem deutlichen Widerspruch zueinander. Wenn ich die Bilder – der zweiten These zufolge – wie Dinge wahrnehme, wie gelingt es mir dann – der ersten These zufolge – sie spontan von den Gegenständen zu unterscheiden? Die naive Theorie, die aus dem Bild ein Ding macht, widerspricht der Intuition, 14
Vgl. Ricœur, ebd., 169: »Philosophers and psychologists, equally deceived by the fallacy of immanence and its corollary, the substantial identity of image and thing, are condemned to rely on extrinsic criteria in order to distinguish between essentially identical phenomena«. Siehe hierzu auch: Casey, ebd., 142; Feldman-Comiti, ebd., 768; Kuehl, ebd., 218 f.; Morgan, ebd. ,20; Smith, ebd., 69.
Phänomenologische Vorüberlegungen
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welche beide säuberlich unterscheidet. Die theoretische Konstruktion, welche die Gegebenheiten der Intuition umformt, erlaubt eine Differenz zwischen Bild und Ding nur noch mit dem Rückgriff auf die Annahme einer ›metaphysischen Minderwertigkeit‹. Diese Hypothese dient dann als Notlösung, um eine Unterscheidung überhaupt noch zu ermöglichen: »Die Ontologie des Bildes ist jetzt vollständig und systematisch: das Bild ist ein minderwertiges Ding, das seine eigene Existenz hat, das sich dem Bewußtsein als irgendein Ding zeigt und das externe Beziehungen zu dem Ding unterhält, dessen Bild es ist« (TE 101). Die Differenz kann nur noch quantitativer Natur sein; dem Bild muß – offenbar infolge einer erklärungsbedürftigen »Art magischer Schwachheit« (TE 101) – ein geringerer Grad an Deutlichkeit und Klarheit zukommen. Zu fragen wäre dann auch, wie der externe Bezug zum Objekt, der das Bild bestimmt, zu verstehen ist. Diese naive Ontologie ist nun Sartres Ansicht nach das Grundpostulat aller Psychologen, die sich mit dem Problem des Bildes befaßt haben (vgl. TE 101). Bei ihnen findet sich eine solche a priori konstruierte Theorie des Bildes, die Wesens- und Existenzidentität vermischt, und infolgedessen ist die erst später in einem zweiten Schritt befragte Erfahrung durch die apriorische Konstruktion beeinträchtigt, ja verfälscht worden. So sucht die Psychologie etwa nach einer geeigneten Methode, wobei jedoch diese sich nicht am Gegenstand orientiert, sondern a priori entwickelt und in einem zweiten Schritt auf den Gegenstand angewendet wird, »ohne zu ahnen, daß man mit der Methode gleichzeitig den Gegenstand geschaffen hat« (TE 171). Die Orientierung an einem analytischen Denken, das das Höhere durch das Niedere erklärt, führt konsequent von diesem Methodenmaterialismus zu einem impliziten metaphysischen Materialismus (vgl. TE 171). Konzipiert man die Materie des Bildes als etwas Sinnliches, dann ist die Basis immer eine wiederentstehende Empfindung. Ein physiologischer Mechanismus löst das Erwachen von zerebralen Spuren aus, die bestimmten Bildern entsprechen (vgl. TE 202). Letztlich will Sartre also sagen, daß der Psychologie des Bildes »seit sechzig Jahren« trotz aller Verschiedenheiten nur »eine einzige Theorie« (TE 101) zugrundeliegt. Es handelt sich hierbei um eine Hinterlassenschaft der Philosophie des 17. bis 18. Jahrhunderts: »Descartes, Leibniz und Hume haben die gleiche Konzeption des Bildes« (TE 102). Unterschiede zwischen den genannten Denkern bestehen lediglich in der Auffassung des Verhältnisses des Bildes zum Denken. Alle Psychologen, die sich zu diesem Thema geäußert haben, sind dem Verständnis des Bildes als Ding verpflichtet geblieben und infolgedessen nicht über Descartes, Leibniz und Hume hinausgekommen.15 15
Vgl. Feldman-Comiti, ebd., 767; Bossart erklärt: »According to Sartre virtually every theory of the imagination fails to distinguish clearly between imagination and perception«
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1. Auseinandersetzung mit der philosophiegeschichtlichen Tradition
Es soll in diesem Zusammenhang genügen, schwerpunktmäßig vor allem Sartres kritische Auseinandersetzung mit Descartes und Hume zu behandeln,16 wobei Ansätze anderer Denker aus dem jeweiligen Umfeld wie z. B. Leibniz oder Taine eher in ergänzender und veranschaulichender Absicht Erwähnung finden. Die Kritik an Autoren wie z. B. Ribot, Spaier und schließlich Bergson wiederholt lediglich immer wieder dieselben Argumente, ohne daß hierbei für das Problem der Imagination wirklich neue Einsichten ins Spiel gebracht werden, weswegen diese Passagen daher auch unberücksichtigt bleiben können. Abschließend soll dann Sartres Erörterung der Husserlschen Position wieder in umfangreicherem Maße zur Geltung kommen, insofern der Phänomenologie, wie in Die Imagination erklärt wird, eine immense Bedeutung für die Lehre der Einbildungskraft zukommt. Dabei zeigt sich, daß Sartre wie auch in »Die Transzendenz des Ego« trotz aller sichtlichen Begeisterung durchaus auf kritische Distanz zu Husserl geht. Inwiefern die referierten kritischen Einwände zu den verschiedenen in Die Imagination behandelten Theorien im einzelnen zutreffend sind, soll im Rahmen der hier relevanten Aufgabenstellung jedoch nicht überprüft werden.
1. 2. Die rationalistische Auffassung des Bildes Ausgangspunkt des philosophiegeschichtlichen Überblicks, der die Tradition nachzeichnet, die ihren Ursprung vom Postulat des Ding-Bildes nimmt, ist Descartes. Bei ihm werden die entscheidenden Weichen gestellt, die noch im 20. Jahrhundert die Erforschung der Imagination beeinträchtigen. Descartes führt in die Philosophie die streng dualistische Trennung zweier Substanzen ein: Das Wesen der res cogitans ist das Denken, das der res extensa die Ausdehnung, wobei, wie Sartre unterstreicht, »das Körperliche völlig auf das Mechanische reduziert wird« (TE 102). Empfindungen, wie sie z. B. die Wahrnehmung sinnlicher Gegenstände hervorbringt, sind für Descartes das Resultat von »Einprägungen im Hirn durch die Nerven«;17 insofern sie also materielle, durch Nerven und Sinne vermittelte Eindrücke sind und Bewußtsein und Materie streng getrennt werden, gehören sie nicht der res cogitans, (ebd., 37). Siehe auch Bunting, ebd., 236 f.; Casey, ebd., 142; Warnock, ebd., 324. Smith weist darauf hin, daß die von Sartre kritisierte Auffassung des Bildes sich nicht erst bei Descartes, sondern bereits bei Platon befindet (ebd., 69; Fußn. 1). Smith bezieht sich dabei auf Philebos 34a und Politeia 510a. Dieser Hinweis läßt sich noch durch eine vergleichbare Stelle bei Aristoteles ergänzen (De anima 425b). 16 Es fällt auf, daß Sartre in seiner philosophiegeschichtlichen Auseinandersetzung Kant völlig ausblendet. Es ist nachvollziehbar, daß Wiesing hierin einen »argen Schönheitsfehler« erblickt (ebd., 259). 17 Descartes, Die Leidenschaften der Seele, 45.
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sondern der res extensa zu: Sie sind Objekte, die im Bereich des Gehirns lokalisiert werden müssen. Offenbar können die psychosensorischen Bereiche sowohl wie im Fall der Wahrnehmung durch einen äußeren als auch wie bei der Einbildung durch einen inneren Stimulus angeregt werden: Als Ursprünge von Empfindungen kommen entweder die Dinge der Außenwelt oder der eigene Körper oder drittens die Seele in Betracht. Dieselben Empfindungen der Seele, die darauf beruhen, daß »Sinnesgegenstände« in den »äußeren Sinnesorganen« eine »Bewegung« hervorbringen, und »mittels der Nerven auch im Hirn bewirken, daß die Seele sie empfindet«,18 können ebenso durch die Seele selbst bzw. den Willen (z. B. die willkürliche Vorstellung eines Zauberschlosses19), aber auch durch die »zufällige Bahn der Lebensgeister«20 (z. B. beim Träumen wie auch bei Traumvorstellungen im Wachzustand21) evoziert werden. Die erwähnten Lebensgeister definiert Descartes als »Teilchen einer rein materiellen Substanz«;22 sie sind die leichtesten Elemente des Blutes, die der Reizübertragung dienen.23 Gemäß der mechanistischen Wahrnehmungstheorie löst ein äußerer Reiz eine Bewegung der Lebensgeister in den Sinnesorganen aus, welche sich durch die Nerven auf die Zirbeldrüse überträgt und dort die Bewegungen hervorruft, die der Seele die Gegenstände vergegenwärtigen. Genaugenommen nehmen wir also nicht die Gegenstände der Außenwelt selbst wahr, sondern wir empfinden die Bewegungen, die diese Gegenstände in den Nerven und vermittels dieser im Gehirn hervorbringen.24 Bei diesem Vorgang bewirken die Bewegungen der Lebensgeister Einprägungen bzw. Erinnerungsspuren im Gehirn, die wiederum ihre künftigen Bewegungen modifizieren können. Eine Vorstellung präsentiert sich dem Bewußtsein, wenn eine bestimmte assoziative Gruppe von Nervenzellen geweckt wird (vgl. TE 200 f.). »Das Bild«, so schreibt Sartre Descartes referierend, »ist eine Idee, die von der Seele anläßlich einer Affektion des Körpers erzeugt wird« (TE 200). Dies soll nun anhand von zwei Beispielen aufgezeigt werden: Wenn ich mich an etwas erinnern will, so ruft der Wille Bewegungen der Lebensgeister hervor, um sie auf die Spuren stoßen zu lassen, welche das vorher wahrgenommene Objekt, in bestimmten Gehirnbereichen hinterlassen hat.25 Die besagten Spuren sind Gehirnporen, durch die die Lebensgeister bei der Wahrnehmung des Gegenstandes
18 19 20 21 22 23 24 25
Descartes, ebd., 41. Ebd., 37. Ebd., 45. Ebd., 39. Descartes, Diskurs der Methode, 89, Fußn. 26. Vgl. Röd, Descartes, 133 f. Descartes, Die Leidenschaften der Seele, 41. Vgl. Descartes, ebd., 69.
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»ihren Lauf genommen haben und die dadurch eine größere Leichtigkeit als andere gewonnen haben, sich in der gleichen Weise zu öffnen, wenn die Lebensgeister gegen sie strömen. Deshalb treten die Lebensgeister, wenn sie zu diesen Poren kommen, dort leichter als in andere ein. Dadurch rufen sie eine besondere Bewegung in der Hirndrüse hervor, welche der Seele gerade das Objekt vorstellt, dessen sie sich erinnern will, und welche es sie erkennen läßt«.26 Will ich mir dagegen etwas vorstellen, das ich noch niemals zuvor wahrgenommen habe, so müssen, wie Descartes etwas ungenau erklärt, auch in diesem Fall die Lebensgeister zu den »Hirnporen« gelangen, »durch deren Öffnung so etwas dargestellt werden kann«.27 Da das Bild also durch mechanische Einflüsse des eigenen Körpers zustande kommt und darum mit der Empfindung identisch ist, gehört es zur res extensa.28 Der Unterschied zwischen Bild und Empfindung liegt allein darin, daß die Empfindungen, die auf momentanen Außenreizen beruhen, gegenüber denen, welche bei Erinnerung und Vorstellung ausschließlich durch die Bewegungen der Lebensgeister hervorgerufen werden, »lebhafter und ausgeprägter«29 sind. Letztere sind »wie ein Schatten oder Abbild der ersten«;30 eine Täuschung ist darum jederzeit möglich. Also obliegt es dem Verstand, uns ein Bewußtsein des Bildes zu bieten, indem er sich auf die materiellen Eindrücke richtet, die im Gehirn entstehen. Descartes’ Position macht es unmöglich, wie Sartre ihm vorwirft, eine Unterscheidung zwischen Empfindungen auf der einen und Fiktionen sowie Erinnerungen auf der anderen Seite vorzunehmen: »Das Bild wird sich nicht von der Empfindung unterscheiden« (TE 109). Das Bild wie auch die Mechanismen seiner Produktion sind »körperliche(n) Realitäten« (TE 104), und dem dualistischen Grundprinzip entsprechend, ist es deshalb vom Denken geschieden: Die Einbildungskraft ist »zum Wesen meiner selbst, d. h. meines Geistes nicht erforderlich«.31 Auch an einer anderen Stelle zeigt sich diese Skepsis Descartes’ gegenüber der Einbildungskraft: »Ich erkenne also, daß nichts von dem, was ich mit Hilfe der Einbildungskraft erfassen kann, zu der Kenntnis gehört, die ich von mir habe, daß ich meinen Geist sehr sorgfältig davon abwenden muß, wenn ich seine Natur recht deutlich begreifen will«.32 Die Einbildung ist immer auf Körperliches bezogen, weswegen sie kein Fundament der philosophisch gesicherten
26 27 28 29 30 31 32
Ebd., 69. Ebd., 71. Vgl. Betancourt, ebd., 14. Descartes, ebd., 45. Ebd., 45, vgl. auch ebd., 39. Descartes, Meditationen, 65. Descartes, ebd., 24 f.
Die rationalistische Auffassung des Bildes
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Erkenntnis darstellen kann: »Nun weiß ich aber bereits gewiß, daß ich bin, und zugleich, daß möglicherweise alle diese Bilder und ganz allgemein alles, was sich nur auf die Natur des Körpers bezieht, nichts sind als Träume«.33 Das Bild gehört zum Körperlichen. Da es aber kein unbezweifelbares Wissen von unserem Körper gibt, insofern er zur Welt der ungewissen Dinge gehört, kann das unbezweifelbare Ich nicht von dem Körper bzw. von einem seiner Teile oder Organe abhängen. Descartes hält an der Konzeption eines reinen Denkens ohne jede Mitwirkung des Körpers34 fest, dem das Bild immer nur eine »sehr verdächtige Hilfe« (TE 110) leisten kann: »Das sicher Erkannte kann nicht von etwas abhängig gemacht werden, von dem es zunächst keine gesicherte Erkenntnis gibt«.35 In Anlehnung an Descartes begreift Spinoza das Vorstellungsbild als Affektion des Körpers, wenn er in seiner Ethik schreibt: »Die Seele stellt sich […] einen Körper deswegen vor, weil der menschliche Körper von den Spuren eines äußeren Körpers ebenso affiziert und in den gleichen Zustand versetzt wird, wie dies geschehen ist, als einige seiner Teile von dem äußeren Körper selbst angetrieben wurden«.36 Die Vorstellung, die Paul von Peter hat, sagt weniger über die Natur Peters, vielmehr zeigt sie »einen Zustand des Körpers von Paul an«.37 So versteht Spinoza auch die Erinnerung als eine Verkettung von Ideen, die sich »gemäß der Ordnung und Verkettung der Affektionen des menschlichen Körpers« vollzieht, wobei die Gewohnheit des jeweiligen Menschen eine entscheidende Rolle spielt.38 Darum unterscheidet sich die Erinnerung von derjenigen »Verkettung der Ideen«, »die sich gemäß der Ordnung des Verstandes vollzieht« und »bei allen Menschen die selbe ist«.39 Mit Sartre läßt sich also feststellen, daß bei Descartes und Spinoza die Theorie des Bildes zur Beschreibung des Körpers und nicht zur Theorie der Erkenntnis gehört (vgl. TE 104). Leibniz schließt sich Descartes an, wenn er »die Welt der Imagination als einen reinen Mechanismus« beschreibt, »wo man nicht zwischen Bildern im engeren Sinn und Empfindungen [sensations] unterscheiden kann, weil die einen wie die anderen Zustände des Körpers ausdrücken« (TE 105). Er spricht in diesem Sinne von der »Perzeption der Bilder, die entweder schon seit langem in uns wohnen oder sich neu bilden«. Dementsprechend behauptet er die Existenz gewisser »Anlage(n) […], die Überreste vergangener Ein-
33 34 35 36 37 38 39
Ebd., 24. Ebd., 20–30. Röd, ebd., 95. Spinoza, Die Ethik, 72 f. Spinoza, ebd., 72. Vgl. ebd., 74. Ebd., 73.
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drücke sowohl der Seele als auch des Körpers sind«.40 Aufgrund dieser Identität von Bildern und Empfindungen sind auch erstere für Leibniz nur ein Zustand bzw. eine Affektion des Körpers. Der wesentliche Unterschied zu Descartes liegt jedoch darin, daß Leibniz das Verhältnis zwischen dem Bild – bzw. der Sinnlichkeit, der es ja zugeordnet wird – und dem Denken anders akzentuiert: Während die Sinnlichkeit bei Descartes vornehmlich als Quelle von Täuschungen diskreditiert wird, steigt sie bei Leibniz zu einer adäquaten Instanz menschlicher Erkenntnis auf. Er versucht, mit Sartres Worten, »eine Kontinuität zwischen jenen zwei Erkenntnismodi herzustellen« (TE 105). Die sinnliche Gegebenheit erhält dadurch eine intellektuelle Bedeutung; der Verstand denkt nicht nur, er ist auch sinnlich erfahrend. Dem Bild oder der Empfindung ist selbst Rationalität inhärent, und umgekehrt ist entgegen Descartes’ Verständnis auch das Denken niemals rein: Leibniz ist der Überzeugung, »daß die Seele niemals von jeglichem Körper abgetrennt ist«41 und das Denken »niemals ohne sinnliche Wahrnehmung«42 vollzogen wird. Man kann also von einer Untrennbarkeit von Denken und Erfahrung sprechen, wobei letztere das intellektuelle Vermögen entwickelt: »Ich gebe zu, die Erfahrung ist notwendig, damit die Seele zu diesem oder jenem Gedanken bestimmt werde«.43 »Indessen ist die Seele niemals der Hilfe der Sinnlichkeit beraubt, weil sie immer ihren Körper ausdrückt, und dieser Körper wird immer auf unendlich viele Weisen von den umgebenden beeindruckt, die ihm aber oft nur einen verworrenen Eindruck mitteilen«.44 Bilder und Empfindungen vermitteln uns nur verschwommene Ideen, während die Ideen der Vernunft statt dessen notwendig und klar sind. Diese Verschwommenheit hat, wie Sartre erklärt, ihren Grund darin, »daß jede Bewegung in sich die Unendlichkeit der Bewegungen des Universums einschließt und das Gehirn eine Unendlichkeit von Modifikationen erfährt, denen nur ein verschwommenes Denken entsprechen kann, das die Unendlichkeit der klaren Ideen, die jedem Detail entsprechen würden, in sich schließt« (TE 106). Leibniz führt aus: »Jede Seele erkennt das Unendliche, erkennt alles, freilich in undeutlicher Weise, so wie ich etwa, wenn ich am Meeresufer spazierengehe und das gewaltige Rauschen des Meeres höre, dabei auch die besonderen Geräusche einer jeden Woge höre, aus denen das Gesamtgeräusch sich zusammensetzt, ohne sie jedoch deutlich voneinander unterscheiden zu können.
40 41 42 43 44
Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand I, 171. Leibniz, ebd., 119. Ebd., 121. Ebd., 101. Ebd., 117.
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Unsere undeutlichen Perzeptionen sind eben das Ergebnis der Eindrücke, die das gesamte Universum auf uns ausübt«.45
1. 3. Die empiristische Auffassung des Bildes Humes radikaler Empirismus lehnt die Annahme von eingeborenen Ideen entschieden ab und läßt alle Gehalte des Verstandes in der sinnlichen Erfahrung wurzeln. Die Perzeptionen, unter denen Hume die Bewußtseinsinhalte versteht, lassen sich in die beiden Klassen der Eindrücke (impressions) und der Vorstellungen (ideas) einteilen. Zu den Eindrücken gehören die Sinneswahrnehmungen wie Farbe, Geruch usw. (sensations) sowie die Wahrnehmungen der inneren Zustände bzw. die Selbstwahrnehmungen wie z. B. Lust, Schmerz usw. (reflections). Wahrnehmung selbst ist dabei nach Hume nichts anderes als die rein passive »Aufnahme der Eindrücke durch die Organe der Sinnesempfindung«.46 Da die Vorstellungen aus den Eindrücken hervorgehen, kann Hume die ideas of sensations – der nur vorgestellte Ton – den ideas of reflections – »die Liebe, die ich nicht jetzt unmittelbar erlebe oder habe, sondern nur vorstelle, d. h. meiner Erinnerung oder Phantasie vergegenwärtige«47 – gegenüberstellen. Es herrscht eine »Priorität der Eindrücke«,48 insofern diese die Ursache unserer Vorstellungen sind. Hume bezeichnet die Vorstellungen dementsprechend auch als »Nachbilder« (copies) oder »Abbilder« (images) unserer Eindrücke.49 D. h. um eine Vorstellung zu besitzen, muß ich zuvor die entsprechenden Eindrücke erhalten haben. Der Blinde kann keine Vorstellung einer Farbe entwickeln, so wie ich mir »keine richtige Vorstellung von dem Geschmack einer Ananas machen« kann, »ohne sie wirklich gekostet zu haben«.50 Zwischen Eindrücken und Vorstellungen, in denen Sartre seine eigene Unterscheidung von Wahrnehmung und Bild wiederfindet (vgl. TE 108), existiert nur eine quantitative Differenz »hinsichtlich des Grades ihrer
45
Leibniz, Vernunftprinzipien, 19. Vgl. Baladie, ebd., 46: »Pour Descartes et pour Spinoza, l’image, comme la sensation, est un enemi de la pensée; elle est dans l’esprit une trace ineffaçable de l’étendue, de la chose matérielle; entre elle et la trace proprement cérébrale, il n’existe pour ainsi dire aucun contraste de valeur. L’image, c’est le corps ou ses parcelles devenues consciente d’elles-mêmes. Si, pour Leibniz, la distinction entre la sensibilité et l’entendement semble n’être que de degré, il reste que la confusion propre à l’image la rapproche de la sensation, en fait un contenu opaque dont on ne sait comment la conscience bénéficie ou se libère«. 46 Hume, Traktat über die menschliche Natur I, 99. 47 Hume, ebd., 8, Fußn. von Th. Lipps. 48 Ebd., 14. 49 Vgl. ebd., 10 f., 16 f. 50 Ebd., 14.
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Stärke und Lebhaftigkeit«.51 Bei Hume erscheint das Bild »als ein Verblassen der Wahrnehmung, ein Echo, das ihr [der Empfindung – Anm. J. B.] in der Zeit folgt« (TE 140). Da die Vorstellungen lediglich schwächer sind als die Eindrücke, können sie in Ausnahmefällen durchaus verwechselt werden: »So können sich im Schlaf, im Fieber, im Wahnsinn oder anderen sehr heftigen Erregungszuständen der Seele unsere Vorstellungen den Eindrücken nähern, wie es andererseits bisweilen vorkommt, daß unsere Eindrücke so matt und schwach sind, daß wir sie nicht von unseren Vorstellungen zu unterscheiden vermögen. Aber trotz dieser großen Ähnlichkeit in einigen Fällen sind beide im allgemeinen so wohl unterschieden, daß niemand Bedenken tragen kann, sie in verschiedenen Klassen zusammenzuordnen und jeder derselben einen besonderen Namen zu geben, der den Unterschied bezeichnet«.52 Hume unterscheidet innerhalb des Bereichs der Vorstellungen weiterhin zwischen Erinnerungen und Einbildungen:53 Vorstellungen der Einbildungskraft sind verglichen mit denen der Erinnerung »matt und schwach«, und insofern die Intensität wiederum das einzige Kriterium der Differenz darstellt, ist auch hier jederzeit eine Verwechslung möglich. Natürlich beruht sowohl die Erinnerung wie auch die Einbildungskraft auf vorgängigen Eindrücken: »Weder die Vorstellungen der Erinnerung noch die der Einbildungskraft, also weder die lebhaften noch die schwachen Vorstellungen können im Geist auftreten, ohne daß ihnen entsprechende Eindrücke vorausgegangen sind und ihr Auftreten möglich gemacht haben«.54 Aus dem Gesagten wird deutlich, daß sich »die Perzeption […] nicht an sich selbst vom Bild« (TE 108) unterscheidet. Die Existenzidentität zwischen Bild und Wahrnehmung bleibt wie bei Descartes bestehen: Das Bild ist also auch bei Hume ein Ding, und die Trennung besteht wie zuvor auch bei Descartes nur in der Verschiedenheit der Intensität bei identischer Natur. Die Bilder sind schwache Eindrücke, wobei diese Differenzierung zwischen Bild und Perzeption unmittelbar, aber mechanisch vollzogen wird: »(V)on selbst verweisen die starken Eindrücke die schwachen Eindrücke auf eine geringere Existenzebene« (TE 179). Aber wie verhält es sich mit schwachen, undeutlichen Eindrücken? Werden diese durch den Mangel an Klarheit und Lebhaftigkeit schon zu Bildern? Wie soll in diesem Fall eine Verwechslung zwischen lebhaften Bildern und schwachen Perzeptionen ausgeschlossen werden?
51 52 53 54
Ebd., 11. Ebd., 10 f. Vgl. ebd., 18 f., 113. Ebd., 19; vgl. auch ders., Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 62.
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»Und warum erscheint das Bild des Knalls eines Kanonenschusses nicht als ein reales schwaches Krachen? Woher kommt es, daß wir niemals unsere Bilder für Wahrnehmungen halten würden?« (TE 180)55 Zwar könnte man versuchen, Hume mit dem Hinweis zu verteidigen, daß die Ununterscheidbarkeit zwischen schwacher Wahrnehmung und lebhaftem Bild keine Widerlegung seiner Theorie bedeute, da er selbst ja wiederholt auf die zahlreichen Fälle aufmerksam macht, in denen eine Verwechslung durchaus möglich sei (s. o.). Eine mit Gewißheit jederzeit vollziehbare Differenzierung scheint er damit zwar in Abrede zu stellen, dennoch sollen aber »beide im allgemeinen so wohl unterschieden«56 sein, daß eine Klassifizierung problemlos möglich ist. Es wäre jedoch in der Tat mit Sartre zu fragen, wie auf der Grundlage von Humes Lehre eine solche ›Wohlunterschiedenheit‹ überhaupt zu erklären ist. Sartres Kritik beruht auf dem Festhalten an der spontanen und zweifelsfreien Unterscheidung zwischen Bild und Wahrnehmung auf der Ebene des unmittelbaren Bewußtseins, die durch Reflexion auf die Bewußtseinsgegebenheiten aufgewiesen werden kann: Niemals wird jemand ein plötzlich auftauchendes Bild von einem Menschen für einen wirklich wahrgenommenen Menschen halten. Eine Verwechslung hält Sartre für strikt ausgeschlossen; sie liegt auch dann nicht vor, wo ich z. B. einen Baumstamm für einen Menschen halte, denn hier erfährt lediglich eine reale Wahrnehmung eine falsche Deutung. In diesem Fall von Verwechslung zu sprechen, hieße schlichtweg, das Bild mit der falschen Wahrnehmung zu identifizieren. Wenn ich jedoch das Bild eines Freundes evoziere, dann fälle ich kein falsches Urteil, sondern der Freund erscheint mir, zwar nicht als Objekt, aber als Bild. »Einen Menschen an Stelle eines Baumes wahrnehmen heißt nicht ein Bild von einem Menschen hervorbringen, sondern ganz einfach, einen Baum schlecht wahrnehmen. Wir bleiben auf dem Gebiet der Wahrnehmung, und bis zu einem gewissen Punkt nehmen wir richtig wahr: es gibt wirklich – zehn Schritt von uns entfernt – ein Objekt im Halbdunkel. Es ist wirklich ein schlanker, hoch aufgeschossener, ungefähr ein Meter achtzig großer Körper usw. Aber wir haben uns in unserer Weise getäuscht, den Sinn dieses Objekts zu begreifen. Ebenso, wenn ich die Ohren spitze, um zu wissen, ob ich wirklich ein Prasseln gehört habe, so heißt das im Grunde, daß ich festzustellen suche, ob es wirklich ein Prasseln ist, das ich gehört habe. Ich habe ein organisches Geräusch, das meines Atems beispielsweise, für das Prasseln des Regens halten können« (TE 191).57 55
Vgl. hierzu Smith, ebd., 70. Hume, Traktat über die menschliche Natur I, 10. 57 Vgl. Schütz, »Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten«, 271f; Husserl, Ideen I, § 103; ders., Erfahrung und Urteil, 99 ff. 56
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1. Auseinandersetzung mit der philosophiegeschichtlichen Tradition
Bliebe die Intensität als einziges Unterscheidungskriterium, so wäre die von Sartre festgestellte Gewißheit in der Unterscheidung von Wahrnehmung und Bild unerklärlich: »(I)n gewissen Momenten, zum Beispiel in der Abenddämmerung, würden sich sogar Zwischenwelten [mondes intermédiaires] konstituieren, die auf halbem Wege zwischen Traum und Wachsein, aus realen Empfindungen und aus Bildern zusammengesetzt wären« (TE 180). Sartre zufolge ist von Anfang an das Bild bei Hume als sinnlicher Gehalt – und damit, mit Sartres Worten, als ein An-sich-sein – konzipiert (vgl. TE 204), dessen grundlegendes Merkmal die »Opazität« (TE 104) ist. Zweifellos ist dieser Feststellung beizupflichten, sofern sie ihre Geltung auf den Wahrnehmungsbereich beschränkt: Die Opazität der Farbe des Aschenbechers besteht darin, auf das Subjekt nicht reduzierbar, etwas »Gegebenes« (TE 204) zu sein. Dies ist schon im Zuge der Beschreibung der Wahrnehmungsgegebenheiten, die zu Beginn dieser Schrift unternommen wird, offenkundig geworden. »Dieses Gegebene stellt nicht nur den Opazitäts-, sondern auch den Rezeptivitätsanteil der Wahrnehmung dar«. Für Sartre »sind Opazität und Rezeptivität nur die zwei Seiten ein und derselben Realität« (TE 204). Da Hume jedoch das Bewußtsein allein aus sinnlichen Inhalten mosaikartig zusammensetzen will, schreibt er auch den Vorstellungen, also den Bildern, dieselben sinnlichen Inhalte, wenn auch mit geringerem Intensitätsgrad zu, wodurch dann auch diese als opak und inert aufgefaßt werden müssen: »Die gelbe Farbe dieses Aschenbechers behält, wenn sie als abgeschwächter Eindruck wiederersteht, ihren Charakter von etwas Gegebenem« (TE 204). Untereinander sind Bilder wie Empfindungen durch die Gesetze der Assoziation verknüpft: Die Assoziation, welche Hume als eine »sanfte Macht«,58 »Instinkt« und »mechanische Tendenz«59 beschreibt, entsteht aus den drei Faktoren 1. Ähnlichkeit 2. räumlicher oder zeitlicher Zusammenhang und 3. Ursache/Wirkung. Die Annahme von Assoziationsgesetzen führt, wie Sartre betont, zu der Konzeption einer »Welt reiner Exteriorität« (TE 205). »Wir sehen jetzt, was das Bewußtsein für den Assoziationismus ist: es ist ganz einfach die Welt der Dinge. Es existiert ja nur eine Welt der Exteriorität, es ist die äußere Welt. Zwischen dieser roten Kugel und der Wahrnehmung dieser Kugel gibt es keinen Unterschied« (TE 205).60 Die Kugel bleibt ohne äußere Krafteinwirkung regungslos; die Wahrnehmung dieser Kugel ist ebenso inert und gelangt ins Bewußtsein, indem sie durch einen anderen inerten Inhalt eine Krafteinwirkung erfährt. Daher würde sie unendlich gegenwärtig sein, wenn sie nicht durch einen anderen Inhalt zurückgestoßen würde. Von Humes Standpunkt aus gibt es also nur Dinge und 58 59 60
Hume, ebd., 21. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 69. Vgl. Cabestan, ebd., 56.
Die empiristische Auffassung des Bildes
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äußere Relationen zu ihnen. In diesem Sinne ist auch das Bewußtsein folgerichtig nichts weiter als »eine Kollektion dieser Objekte« (TE 206). Daraus ergeben sich natürlich erhebliche Konsequenzen für das Verständnis der Rationalität: Indem das Trägheitsprinzip auf diese Weise auf den Bereich des Geistigen übertragen wird, läßt sich das Bewußtsein auf eine Ansammlung passiver Inhalte reduzieren, die einander durch Assoziationsgesetze evozieren. Sobald ich dem Bild einen sinnlichen Inhalt zubillige, mache ich aus ihm ein Ding, das den Gesetzen der Dinge und nicht denen des Bewußtseins folgt. Während bei Descartes also das Denken den induktiven Wissenschaften wie z. B. der Naturwissenschaft, welche von den Fakten zu den Gesetzen gelangen will, entgeht und einen Bereich reiner Wesenheiten behauptet, impliziert Humes Behandlung der psychischen Fakten als Dinge gerade den totalen Verzicht auf diese Sphäre reinen Denkens. Indem er die Gültigkeit eines Gedankens in seiner Herleitbarkeit aus den Eindrücken – und damit aus psychischen Fakten – fundiert, wird die Erkentnistheorie bei Hume zum Teil der Psychologie – Sartre spricht konsequent von einem »Panpsychologismus Humes« (TE 111) –, deren Aufgabenfeld bei Descartes noch auf den Bereich der Empfindungen beschränkt ist (vgl. TE 110 f.). Sind die psychischen Fakten Dinge, deren Zusammenhang durch externe Verbindungen garantiert wird, bricht der cartesianische Überbau zusammen: »Der Assoziationismus ist vor allem eine ontologische Doktrin, die die radikale Identität des Seinsmodus der psychischen Tatsachen und des Seinsmodus der Dinge behauptet. Kurz, es existieren nur Dinge: diese treten miteinander in Beziehung und konstituieren so eine gewisse Kollektion, die man Bewußtsein nennt« (TE 111). Dies ist für Sartre eine Entwicklung, die folgerichtig aus dem »Verzicht auf die cartesianischen Wesenheiten« (TE 112) folgt. Durch diesen Wegfall des intelligiblen Himmels wird jedoch die Theorie des Bildes nicht wesentlich betroffen, weil schon bei Descartes das Bild ein Ding ist. Hume stellt aus dieser Sicht gegenüber Descartes vor allem eine Reduktion dar: »Descartes setzte zugleich das Bild und das Denken ohne Bild; Hume behält nur das Bild ohne das Denken bei« (TE 112).61 Nach der Auseinandersetzung mit den Positionen Descartes’, Leibniz’ und Humes kommt Sartre zu folgendem Schluß: »In diesen drei Lösungen behält das Bild eine identische Struktur bei«. Es ist nichts anderes als »ein Ding« (TE 113). Gemeinsames Postulat der drei Denker ist die Identität von Bild und Empfindung, allein das Verhältnis des Bildes zum Denken verändert in den verschiedenen Positionen seinen Stellenwert. Damit ist das Grundpostulat, eben jene Existenzidentität von Bild und Wahrnehmung, aufgestellt, das die folgenden Psychologengenerationen trotz aller partiellen Divergenzen 61
Vgl. Feldman-Comiti, ebd., 768 f.
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nachhaltig bestimmt. So bleibt Taine, der Gründervater der szientistischen Psychologie, Humes Standpunkt verpflichtet, wenn er alle menschlichen Erkenntnisse als psychologische Tatsachen behandelt. Während er einerseits die Erfahrung als Quelle der Erkenntnis ansieht, hält er andererseits an einer metaphysischen und a priori aufgestellten Theorie der Natur des Bildes fest (vgl. TE 117). Aufgrund ihrer impliziten und ungeklärten Voraussetzungen bezeichnet Sartre diese Psychologie als »deduktiv« (TE 117). Alles in ihr sei erfahrungsfern konstruiert, an keiner Stelle finde sich wirklich eine Beschreibung, die die konkrete Betrachtung der Erfahrungsgegebenheiten vorgeschrieben hätte. Die Natur des Bildes leitet Taine ohne jeglichen Rückgriff auf die Erfahrungsgegebenheiten aus dem Modell des physikalischen Mechanismus ab. Das Bild beruht darum nach wie vor auf »spontane(n) Wiederholungen der Empfindungen« (TE 118).62 Alle Psychologen, seien es z. B. Ribot (vgl. TE 128) oder Binet (vgl. TE 166), bleiben, wie Sartre urteilt, Taine in der Annahme einer Identität von Bild und Ding – bzw. dem damit verbundenen »Postulat des Wiedererstehens von inerten sinnlichen Inhalten« (TE 172) – treu: »Die Imagination ist mit der Sinnlichkeit die Domäne der körperlichen Passivität geblieben« (TE 170).63 Das faktisch Gegebene sind nicht die Phänomene der unmittelbaren Erfahrung, sondern der Assoziationismus, welcher ungeprüft vorausgesetzt wird (vgl. TE 129). Nach wie vor beginnt man mit Erklärungen, eine Beschreibung der Tatsachen findet nicht statt (vgl. TE 132) – und dies gilt, wie Sartre urteilt, letztlich auch noch für Bergsons philosophische Position (vgl. TE 133–155).64
1. 4. Die Gegebenheit des Bildes ist keine Leistung des Urteilsvermögens Ein weiteres Problem, das Sartre mißfallen muß, zeichnet sich durch diese Konzeption ab: Da das Bild »zuerst als Empfindung« (TE 181) auftaucht und Taine ihm somit den Status einer unmittelbaren Gegebenheit abspricht, bedarf es einer zusätzlichen Operation, um es als Bild aufzufassen. »Von Natur aus behauptet sich das Bild also als Empfindung, spontan führt es unseren Glauben an die Existenz seines Objekts herbei« (TE 181). Es gibt, wie Sartre Taine referiert, eine Empfindung, die nur in der Konfrontation mit einer antagonistischen ursprünglicheren Empfindung eine Verminderung erfährt und als Bild erfaßt wird (vgl. TE 182). Der Stärkere siegt hier und gilt als real: 62
Vgl. Taine, Der Verstand, 63 f. Vgl. Feldman-Comiti, ebd., 769. 64 Vgl. Cabestan, ebd., 15; Baladie, ebd., 46 f.; Feldman-Comiti, ebd., 769–773; MerleauPonty, »J.-P. Sartre – L’imagination«, 761; Ricœur, ebd., 169. 63
Die Gegebenheit des Bildes ist keine Leistung des Urteilsvermögens
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Das Bildbewußtsein ist also einerseits mittelbar und andererseits das Resultat eines Kampfes. Die spontane Empfindung, die sich in diesem Prozeß durch Gegenüberstellung mit einer intensiveren als Bild erweist, büßt ihre »Situation«, ihre »Äußerlichkeit« und damit ihre Objektivität (vgl. TE 184) ein und geht »zum Subjektiven« (TE 184, vgl. auch 187) über.65 Siegt jedoch die spontane und konsekutive Empfindung, so liegt eine Halluzination vor. Daraus folgt im Grunde, daß ich in der Stille, in der ich nur sehr wenige auditive Empfindungen habe, »eine unaufhörliche Folge von Halluzinationen« (TE 185) ertragen müßte,66 während umgekehrt Menschen, die permanent dem ohrenbetäubenden Lärm einer Großstadt ausgesetzt wären, am sichersten vor jeder akustischen Halluzination bewahrt blieben. »Denn die Stille meines Zimmers, die des Landes, die keine Empfindungen sind, könnten nicht als Reduktoren wirken. Kann es genügen, mit Taubheit geschlagen zu sein, um völlig wahnsinnig zu werden?« (TE 185 f.) Nach Sartre können lediglich zwei Urteile einander widersprechen, Empfindungen, die einander gegensätzlich sind, gehen vielmehr häufig ineinander über: Schwarz und Weiß schließen sich nicht aus, sondern erscheinen als Grau. Offensichtlich versteht Taine unter einem Bild jedoch ein Urteil (vgl. TE 185): Jene Empfindung, welche nicht einer Überprüfung mit der »Kohärenz und Ordnung der realen Welt«, dem Resultat einer langen »Lehrzeit«, standhält, »wird auf die Seite der reinen Subjektivität verwiesen« (TE 187). Taine behauptet damit also, daß wir eine hypothetisch-experimentelle Haltung gegenüber unseren eigenen Bewußtseinsgegebenheiten einnehmen (vgl. TE 189). »(A)nstatt daß uns die Natur des Bildes als solches durch eine unmittelbare Intuition offenbart würde, muß man schließlich über ein System unendlicher Verweisungen verfügen, um von einem Inhalt behaupten zu können, ob er Bild oder Wahrnehmung ist« (TE 188 f.). Genaugenommen ist hierfür Sartre zufolge eine ad infinitum durchgeführte vergleichende Überprüfung erforderlich, und jedes auf diesem Wege erhaltene Resultat
65
Vgl. Taine, ebd., 79 f.: »Das gewöhnliche Bild ist demnach kein einfaches, sondern ein doppeltes Factum. Es ist eine spontane, consecutive Wahrnehmung, welche im Conflict mit einer andern, nicht spontanen, primitiven Wahrnehmung eine Verminderung, Einschränkung und Correctur erleidet. Es umfasst zwei Momente, im ersten erscheint es räumlich und äusserlich, im zweiten sind ihm diese Aeusserlichkeit und Räumlichkeit genommen. Es ist das Product eines Kampfes; seine Tendenz, äusserlich zu erscheinen, ist durch die entgegenstehende, starke Tendenz der Wahrnehmung, die der erregte Nerv im selben Augenblicke hervorgerufen hat, bekämpft und überwunden. In diesem Zwiespalt wird es schwach, hinfällig, zum blossen Schatten; wir nennen es Bild, Phantom, Schein, und so klar und lebendig es auch werden kann, diese Verneinung, die mit ihm verbunden ist, reicht hin, um es seiner Substanz zu entkleiden, es auch seiner scheinbaren Stellung zu verdrängen, und es von der wirklichen Wahrnehmung zu unterscheiden«. 66 Dieser Schluß liegt Taines Ausführungen tatsächlich nahe (vgl. ebd., 81 f.).
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wird ferner immer nur »wahrscheinlich« (TE 189) sein.67 Hinzu kommt die permanente Veränderbarkeit des Verweisungssystems, das außerdem längst nicht für jeden Menschen dasselbe sein wird. Aus diesen Überlegungen folgt: »(W)eit davon entfernt, daß uns die eigentliche Natur des Bildes durch eine unmittelbare und gewisse Erkenntnis enthüllt würde, werden wir niemals sicher sein, ob irgendein psychischer Inhalt, der an irgendeinem Tag zu irgendeiner Stunde erschienen ist, wirklich ein Bild war« (TE 189). Die unmittelbare und vorreflexive Erfahrung, die Sartre von Anfang an ins Feld führen will, weist eine derartig künstliche Konzeption zurück. Immer wieder betont er: In dem Moment, wo das Bild erscheint, weiß ich genau, daß es sich um ein Bild handelt. Wenn die Reflexion anschließend feststellt, daß ich ein Bild geformt habe, bedeutet dies kein Erwachen aus einer Illusion: »Jeder beziehe sich auf seine innere Erfahrung. Ich sitze, ich schreibe, ich sehe die mich umgebenden Objekte; einen Augenblick bringe ich das Bild meines Freundes Pierre hervor: alle Theorien der Welt werden nicht verhindern, daß ich in demselben Moment, wo das Bild erschien, wußte (savais), daß es ein Bild war« (TE 189 f.). Anders als etwa auch Spaier meint (vgl. TE 190, 194), muß ich nicht erst aus dem Fenster sehen, um zu entscheiden, ob ein erscheinendes Prasseln das Bild oder die Wahrnehmung des Regens ist, sondern ich erkenne das Bild des Prasselns vielmehr »auf der Stelle« (TE 190) als Bild. Dem Rückgriff auf das Urteilsvermögen, dem Taine und Spaier das Wort reden, hält Sartre in phänomenologischer Manier die Wahrnehmung als primäre Erkenntnisquelle entgegen. Dabei führt er, um ihre Relevanz zu veranschaulichen, folgendes Beispiel an: Obwohl ich sicher bin, daß mein Freund Pierre sich in Amerika aufhält, sehe ich ihn plötzlich auf der Straße. Halte ich ihn darum für ein Bild? Dies verneint Sartre in aller Bestimmtheit. Statt dessen versuche ich im Gegenteil, in meiner ersten Reaktion Gründe zu finden, die seine unerwartete Rückkehr plausibel erklären können. Selbst wenn ich einen vermeintlich Toten sehe, ziehe ich nicht meine Wahrnehmung in Zweifel, sondern ich frage mich, ob ich nicht das Opfer einer Verwechslung bin und die Todesanzeige eines anderen gelesen habe. Nicht das Denken, sondern die Wahrnehmung ist also das Fundament unseres Erkenntnisprozesses:68 »Anstatt daß uns rationale Motive veranlassen könnten, unsere Wahrnehmung in Zweifel zu ziehen, sind es vielmehr unsere Wahrnehmungen, die unsere Urteile und unsere Überlegungen regieren und dirigieren« (TE 193). Die Wahrnehmung, 67
Vgl. Manser, Sartre, 25. Siehe auch Kant: »Alles Denken aber muß sich, es sei geradezu (direkte) oder im Umschweife (indirekte), vermittelst gewisser Merkmale zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben sein kann« (Kritik der reinen Vernunft, A19/B 33). 68
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die meinen vorhergegangenen Urteilen widerspricht, führt zu einer Revision dieser Urteile und nicht umgekehrt diese Urteile zu einer Infragestellung der Wahrnehmungsgegebenheiten: »Die Wahrnehmung ist eine primäre Erkenntnisquelle; sie liefert uns die Objekte selbst; sie ist eine der Hauptintuitionsarten, das, was die Deutschen eine ›originär gebende Anschauung‹ […] nennen, und das empfinden wir so genau, daß unsere Geistesverfassung ihr gegenüber das Umgekehrte von dem ist, was Spaier beschreibt: statt sie zu kritisieren, versuchen wir nur, wenn sie einmal erschienen ist, sie mit allen Mitteln zu rechtfertigen. Wenn gewisse Leute geglaubt haben, Pierre zu sehen, während er unmöglich in Frankreich sein konnte (drei Tage vorher hat man ihn nach New York abreisen sehen), werden sie noch mit den sophistischsten und unwahrscheinlichsten Argumenten die Rechte ihrer (falschen) Wahrnehmung gegen die der Überlegung verteidigen« (TE 193).69 Die Unterscheidung zwischen Bild und Wahrnehmung ist nicht das Resultat eines Urteils, das der eigentlichen Gegebenheit nachgeordnet wäre, sondern sie findet als Evidenz schon auf der Stufe des Wahrnehmens bzw. Vorstellens selbst statt. Im unmittelbaren Bewußtsein fallen das Wissen und der Akt, der Pierre als Bild konstituiert, zusammen. Aber der diskutierte Unterscheidungsprozeß auf der Urteilsebene erweist sich darüber hinaus auch als unzuverlässig, um die Bilder als Bilder aufzufassen: Denn diese sind nicht immer »phantastisch, vernunftwidrig« (TE 193) und damit so deutlich von der Alltagswahrnehmung abweichend, »daß das Urteilsvermögen sie mit einiger Wahrscheinlichkeit von der realen Welt fernhalten könnte« (TE 193). Auch nach Merleau-Ponty muß diese Unterscheidung vor jedem Urteil schon gegeben sein: »Denn wie könnte ich je von ›Traum‹ und ›Wirklichkeit‹ überhaupt reden, nach dem Unterschied zwischen Realem und Imaginärem fragen, die Wirklichkeit des ›Realen‹ bezweifeln, hätte ich diesen Unterschied nicht, vor aller Analyse, je schon gemacht, und hätte ich nicht schon immer Erfahrung von Wirklichem wie von Imaginärem?«.70 Die Wirklichkeit einer Wahrnehmung beruht nicht auf einer vergleichenden Überprüfung mit der Kohärenz der Welt; die Unterscheidung zwischen Imagination und Wahrnehmung geschieht auf einer Ebene, die früher ist als Urteil und Prädikation: »Wahrnehmung ist nicht den Synthesen des Urteils, der Akte oder der Prädikation zu assimilieren. In jedem Augenblick ist mein Wahrnehmungsfeld erfüllt von Reflexen, Geräuschen und Tasteindrücken flüchtiger Art, die dem wahrgenommenen Kontext genau zu verbinden ich außerstande bin, 69
Husserl bringt dasselbe Beispiel wie Sartre, kommt jedoch zu einem konträren Schluß: »Ein Abwesender, in Australien Lebender, ist da in der Erscheinung. Das ist unmöglich« (Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung, 133; Fußn. 1). 70 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 13.
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die ich aber gleichwohl unmittelbar der Welt zuschreibe, ohne sie je zu verwechseln mit bloß Geträumtem. Jederzeit auch umgebe ich Dinge mit Träumen, phantasiere ich Gegenstände und Menschen, deren Gegenwart mit dem Kontext nicht unverträglich wäre; doch gleichwohl, ich vermenge sie nicht mit der Welt, sie bleiben vor ihr, auf der Bühne der Einbildung stehen. Wäre die Realität meiner Wahrnehmung nur auf die innere Kohärenz der ›Vorstellungen‹ gegründet, sie bliebe beständig zögernd; angewiesen auf wahrscheinliche Konjekturen, müßte ich immer aufs neue illusorische Synthesen rückgängig machen und umgekehrt Phänomene der Wirklichkeit reintegrieren, die ich zuvor als irreführend aus ihr ausschloß«.71 Die Unterscheidung zwischen dem, was das Bild ist, und dem, als was es erscheint, ist für Sartre obsolet, sobald man das Bild als Bewußtseinsgegebenheit beschreibt (vgl. TE 212). Statt apriorischer Konstruktion soll die Psychologie »im Gegenteil von der unwiderlegbaren faktischen Gegebenheit ausgehen: Es ist mir unmöglich, ein Bildbewußtsein hervorzubringen, ohne gleichzeitig zu wissen, daß ich ein Bild hervorbringe; und die unmittelbare Erkenntnis, die ich von dem Bild als solchem habe, wird die Basis für Existenzurteile (vom Typ: ich habe ein Bild von X – das ist ein Bild usw.) werden können, sie selbst aber ist eine vorprädikative Evidenz« (TE 195 f.).72 71
Merleau-Ponty, ebd., 6. Vgl. Husserl, Formale und transzendentale Logik, § 86: Der Begriff ›vorprädikative Evidenz‹ dient hier zur Charakterisierung der untersten Stufe der Sinnesgenesis, die als Intentionalität der Erfahrung letztlich die Grundlage aller prädikativen Urteile darstellt; vgl. ebd., 216: »(E)s sind die schlichten Erfahrungsurteile, Urteile über Gegebenheiten möglicher Wahrnehmung und Erinnerung, normgebend für die Richtigkeit der kategorischen Urteilsmeinungen der niedersten Individualstufe«. Husserl hat die Theorie der vorprädikativen Erfahrung im ersten Teil von Erfahrung und Urteil systematisch entfaltet; hierbei handelt es sich allerdings um eine aus dem Nachlaß veröffentlichte Schrift, die Sartre zur Zeit der Niederschrift von Die Imagination nicht zugänglich war. Kuehl hebt unabhängig von Sartre hervor, daß die Unterscheidung zwischen Imagination und Wahrnehmung vorprädikativen Ursprungs sein müsse, da ansonsten ein infiniter Regreß drohe: »Were perceptual experience to be distinguished from imaging by ›true‹ judgments, these judgments could not be verified by perceptual experience, for any appeal to perceptual experience would require further judgments about which the question of verification could again be raised, and so on to infinity, and radical skepticism« (ebd., 212). Nach Feldman-Comiti setzt die Kohärenzüberprüfung hingegen einen naiven Realismus voraus: »Différences de vivacité, d’intensité, réduction de l’image par rapport à la perception (thèse particulièrement fragile), accord ou désaccord avec les données sensibles: toutes ces distinctions restent empreintes d’un réalisme naïf […]. Il s’agit ici, à partir de données psychiques indifférentes, de construire un système objectif: le monde extérieur; un domaine subjectif: l’imagerie. Non seulement il nous faudra disposer, comme l’écrit M. Sartre, d’un système de références infinies pour établier entre image et perception une discrimination qui doit être immédiate, mais encore, pourquoi ôter au subjectif le pouvoir de s’ordonner en système et d’aboutir 72
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Die vermeintliche Spontaneität der Differenz ist das Hauptargument gegen die Auffassung der Imagination als schwache Wahrnehmung. Selbst wenn der Prozeß der Kohärenzüberprüfung sich auf der vorprädikativen Ebene vollziehen würde, so könnte er doch nie jene Gewißheit der Unterscheidbarkeit garantieren, von der Sartre ausgehen zu können glaubt. An dieser Stelle ist der Rückgriff auf Carnaps Realitätsauffassung vor allem auch im Blick auf die erkenntnistheoretischen Konsequenzen erhellend, die Sartre mit seinem Verständnis der Differenz von Wahrnehmung und Imagination auf sich nimmt: Carnap unterscheidet zwischen dem ›empirischen‹ bzw. ›konstitutionalen‹ und dem ›metaphysischen‹ Wirklichkeitsbegriff.73 Nach dem ersten sind Objekte unwirklich, wenn sie nicht »in das System der Wahrnehmungswelt gemäß den konstitutionalen Formen des Systems« eingebaut werden können, d. h. wenn sie »mit den sonstigen Konstitutionen von Wahrnehmungsdingen in Widerspruch […] geraten«.74 Dieser Wirklichkeitsbegriff macht, wie Carnap betont, jenen metaphysischen Wirklichkeitsbegriff überflüssig, der Wirklichkeit – wie Sartre dies tut – mit »Unabhängigkeit vom erkennenden Bewußtsein«75 identifiziert. Insofern Sartre die Kohärenzüberprüfung, d. h. also die Frage der Eingliederbarkeit eines Phänomens in den realen Erfahrungskontext als Wirklichkeitskriterium in Abrede stellt, da für ihn inkohärente Objekte real und kohärente Objekte irreal sein können,76 bleibt ihm nur noch der metaphysische Wirklichkeitsbegriff: ›Real‹ heißt für Sartre nicht kohärent, sondern an-sich, d. h. subjektunabhängig. Das Verfahren, mit dem Sartre schließlich das An-sich-sein der Wahrnehmungsobjekte und damit die für ihn einzige Möglichkeit einer trennscharfen Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Imagination auf argumentativer Ebene legitimieren will, ist der sogenannte ›ontologische Beweis‹, der in der Einleitung von Das Sein und das Nichts durchgeführt wird.77 Eine Theorie der Imagination darf der Frage nach der Wirklichkeit, d. h. nach ihrem Gegenbe-
ainsi à une sorte d’objectivité psychique qui ne surprendra personne, soit dans le domaine ›émotionnel‹, soit dans le domaine ›idéel‹?« (ebd., 776). 73 Carnap, Der logische Aufbau der Welt, 237. 74 Carnap, ebd., 238. Auch bei Carnap ist dementsprechend das Urteil, ob etwas real oder irreal ist, der unmittelbaren Gegebenheit nachgeordnet (vgl. ebd., 237 f.). 75 Ebd., 245. 76 Der vorgestellte Freund, der jetzt abwesend ist, aber für gewöhnlich auf dem Stuhl mir gegenüber sitzt, wäre ein Beispiel für ein Phänomen, das irreal ist, obwohl es in den realen Erfahrungskontext passen würde. Im Gegenzug können aber auch außergewöhnliche Ereignisse real sein: Wenn ich die Tarantel, die soeben aus meiner jüngst erworbenen Palme krabbelt, aufgrund ihrer Inkohärenz – in unseren Breiten gibt es keine Taranteln und in meiner Wohnung schon gar nicht – für ein Phantasieobjekt halte, kann ich eine böse Überraschung erleben. 77 Vgl. das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit.
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griff, nicht ausweichen.78 Wenn es nach Carnap nur zwei Wirklichkeitsbegriffe gibt und die Kohärenzüberprüfung die Transzendenzklärung überflüssig macht, so muß ich doch jene Transzendenzklärung vornehmen, sobald ich die Kohärenzüberprüfung in Abrede stelle. Die Ablehnung des Konzepts des Vorstellungsobjekts als widerstreitende Wahrnehmung läßt Sartre schließlich nach einem anderen Ausweg als etwa Husserl suchen, dessen Theorie des Widerstreits in den Vorlesungen von 1905, die aus dem Nachlaß veröffentlicht wurden, Wiesing zufolge letztlich von Taine beeinflußt ist.79 Husserl schreibt: »Wo immer eine Wahrnehmungsauffassung mit einer zweiten in Widerstreit tritt – was voraussetzt, daß sie im ganzen oder einem Teil nach dieselbe Empfindungsgrundlage haben –, da bestimmt diejenige Auffassung, die mit der Einheit der gesamten aktuellen Wahrnehmung sich zu einer umfassenden Gesamtwahrnehmung zusammenfügt und an der Kraft der sich wechselseitig fundierenden Glaubensintentionen partizipiert, das wirklich Gegenwärtige. Die andere Auffassung aber, wofern sie sich des sinnlichen Inhalts bemächtigt […] und eine Erscheinung ergibt, konstituiert ein bloßes Fiktum, ein Scheinobjekt«.80 Wie sich dieser Passage entnehmen läßt, ist der Widerstreit jedoch abhängig von einer zumindest teilweise identischen Empfindungsgrundlage (s. o.). Husserl orientiert sich also an dem Verhältnis zwischen Bildbewußtsein und Wahrnehmungsbewußtsein, bei dem es z. B. zu einem Konflikt zwischen Landschaftswahrnehmung und Wandwahrnehmung kommen kann. Das Bild ist Bild, weil es der Wahrnehmung widerstreitet. Spielt der Widerstreit jedoch auch eine solche konstitutive Rolle bei der Differenz zwischen der reinen Phantasie, die keinerlei aktuelle Empfindungsgrundlage besitzt, und der Wahrnehmung? Sartre nimmt ja bei seiner Grenzziehung die sogenannte image mentale als Paradigma des Imaginären,81 wenn er jegliche sinnlichen Gehalte in Abrede stellt. Husserl ordnet dagegen die Phantasie dem Bildbewußtsein unter. Der Bereich der Imagination beinhaltet Phantasien, d. h. jene »inneren Bildvorstellungen« und »Bildvorstellungen im gemeinen Wortsinn, also jene merkwürdigen Vorstellungen, bei denen ein wahrgenommener Gegenstand einen anderen durch Ähnlichkeit vorstellig zu machen bestimmt
78
Vgl. Haardt, »Bildbewußtsein und ästhetische Erfahrung bei Edmund Husserl«, 105: »Die Frage nach der Seinsweise des bildhaft Dargestellten fragt nach der Differenz von Fiktion und Wirklichkeit und zwingt zur genaueren Bestimmung dessen, was unter ›Wirklichkeit‹ zu verstehen ist und wie sie sich konstituiert«. 79 Vgl. Wiesing, ebd., 265. 80 Husserl, Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung, 48. 81 Siehe zur Gegenüberstellung von image mentale und image physique, die hier vorweggenommen wird, das folgende Kapitel.
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und befähigt ist, und zwar in der bekannten Weise, in der das physische Bild das Original vorstellig macht«.82 Die Phantasievorstellung erläutert Husserl dabei an dem folgenden Beispiel: »Wenn das Berliner Schloß uns im Phantasiebild vorschwebt, so ist eben das Schloß zu Berlin die gemeinte, die vorgestellte Sache. Davon unterscheiden wir aber das vorschwebende Bild, das natürlich kein wirkliches Ding und nicht zu Berlin ist. Das Bild macht uns die Sache vorstellig, ist aber nicht sie selbst«.83 Wie bei einem Gemälde gibt es dann auch in der Phantasie als Sonderfall des Bildbewußtseins eine doppelte Gegenständlichkeit, »nämlich das Phantasiebild, das erscheint, und das bildlich dargestellte Objekt«.84 Die Phantasie stellt einen Gegenstand vor, indem »sie zunächst einen anderen, ihm ähnlichen Gegenstand zur Erscheinung bringt und ihn als Stellvertreter oder besser, das einzige Wort ist hier doch Bild, ihn als Bild für den eigentlich gemeinten nimmt«.85 Wenn der Gegenstand, der in der Phantasievorstellung erscheint, nicht der vorgestellte Gegenstand selbst, sondern sein Bildobjekt ist, so führt Husserl offenbar wieder die Bildertheorie ein, welche er in den Logischen Untersuchungen zurückgewiesen hat.86 Das Erscheinende ist ein Bildobjekt, das als Vermittler und Stellvertreter des eigentlich gemeinten Objekts fungiert; aber da auch in der Wahrnehmung sich eine Erscheinung gibt, müßte auch diese dann mit demselben Recht konsequent als Bild aufgefaßt werden.87 Man wäre also gezwungen, die Bildtheorie vollständig anzunehmen – eine Konsequenz, die nach der Intentionalitätstheorie ausgeschlossen ist. Husserl hat jedoch seine Auffassung der Phantasie als Spezialfall des Bildbewußtsein an späterer Stelle revidiert. »Beim physischen Bild habe ich eine Ineinanderwirkung von zwei Wahrnehmungsauffassungen, eine Durchdringung mit Widerstreit. Nicht so beim Phantasiebild. Hier haben wir nichts von Durchdringung, nicht dasselbe Empfindungsmaterial, das mehrfache Auffassung erfährt, nicht ein Hineinerscheinen in die feste Gegenwartswelt«.88 Daher kommt der Phantasie anders als dem Bildbewußtsein keine mittelbare und indirekte Intentionalität zu: »Man betrachtet nicht das Bild [gemeint ist das Phantasiebild – Anm. J. B.] als ein für sich konstituiertes Objekt, das man
82
Husserl, ebd., 17. Ebd., 18. 84 Ebd., 24. 85 Ebd. 86 Siehe hierzu die V. Logische Untersuchung, 436–440. 87 Vgl. hierzu: Volonté, Husserls Phänomenologie der Imagination, 208 f. 88 Husserl, Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung, 152. Siehe zu dieser Revision auch Flajoliet, ebd., 139. 83
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als so seiend nimmt und dann als Bild gelten läßt«. Ganz im Gegenteil, »durch dies sonderbar Flüchtige hindurch geht die Intention auf die Sache, ähnlich wie man die unklare Wahrnehmung im Dämmerschein nicht für sich nimmt und zum Bild macht, sondern in ihm den Gegenstand faßt«.89 Die Phantasie hat keinen Ort im Wahrnehmungsfeld. Daher kann es auch keinen Widerstreit als konstituierendes Moment der Phantasie geben. Der Widerstreit bzw. die Kohärenzüberprüfung kann bei der Unterscheidung zwischen Phantasie (bzw. Sartres image mentale) und Wahrnehmung nicht dieselbe Rolle spielen wie bei der zwischen Bildbewußtsein (bzw. Sartres image physique) und Wahrnehmung. Zwar existiert auch zwischen Wahrnehmung und Phantasie ein »Widerstreitsverhältnis«, aber dies unterscheidet sich deutlich von dem des »Blickfeldes«. Das ganze »Phantasiefeld« streitet hier mit dem »Wahrnehmungsfeld und ohne jede Durchdringung«: »Die Wahrnehmung, die widerstreitslose, weder von innen noch von aussen (durch Erfahrungsintentionen) bestrittene, konstituiert Erscheinung der aktuellen Gegenwart. Was gegen sie streitet, ist nicht gegenwärtig, als Einheit der Koexistenz mit dem Gegenwärtigen ist das Phantasieobjekt unmöglich, nicht bloß objektiv unmöglich, sondern auch phänomenologisch als mit ihr unverträglich charakterisiert«.90 Läßt sich aber bei einem solchen Widerstreitsverhältnis noch behaupten, daß die Auffassung der Phantasieerscheinung als Phantasieerscheinung von einer Unstimmigkeit mit dem Wahrnehmungsfeld herrührt? Einen Widerstreit erlebe ich erst dann, wie Husserl erläutert, wenn ich versuche, eine imaginäre Linie in dieses reale Papier hineinzuphantasieren: »Stelle ich aber das Kinderzimmer vor, so streitet diese Vorstellung nicht mit der Wahrnehmung, obwohl ich beide nicht zugleich in wirklich anschaulicher Lebendigkeit halten kann«.91 Das Nichtgegenwärtige ist nur dann mit dem Gegenwärtigen »unverträglich, wenn es eben gegenwärtig sein will«;92 für gewöhnlich ist es völlig isoliert von der Wirklichkeit und kann daher auch keinen Widerstreit mit der aktuellen Gegenwart hervorrufen. Und selbst dieser Widerstreit taucht nur auf dem Feld des Gesichtssinns und z. B. nicht auf dem des Gehörssinns auf:93 »(E)ins ist sicher, ein Widerstreit im echten Sinn ist da nicht vorhanden«.94 Die Phantasieerscheinung widerstreitet der Wahrnehmung, insofern als sie nicht gegenwärtig ist und damit die homogene Kontinuität des
89
Ebd., 161. Ebd., 67 f.; siehe auch ebd., 74. 91 Ebd., 150; Fußn. 1 92 Ebd., 151; Fußn. 1 von Seite 150. 93 Ein Widerstreit entsteht nicht, wenn ich mir einen Walzer vorstelle und zugleich das Ticken der Uhr wahrnehme (vgl. ebd., 152). 94 Ebd., 152. 90
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aktuellen Erfahrungszusammenhangs durchbricht. Sie ist nicht deshalb eine Vergegenwärtigung, weil sie sich nicht in der Wahrnehmungswelt situieren läßt, sondern sie läßt sich umgekehrt dort nicht situieren, bzw. sie konfligiert mit der Erscheinungsreihe der ›Gegenwärtigungen‹, weil sie eine Vergegenwärtigung ist. Der Widerstreit ist sozusagen eine Konsequenz und nicht der Grund für die Konstitution als Phantasieerscheinung. Die Auffassung Peters als ›vergegenwärtigt‹ ist nicht das Resultat eines Widerstreits, sondern dieser Widerstreit setzt voraus, daß etwas als Vergegenwärtigung erscheint.
1. 5. Husserls Phänomenologie Husserls Phänomenologie soll in der Lage sein, den von Sartre gesuchten adäquaten Zugang zum Problem des Bildes ohne jegliche metaphysischen Vorurteile zu garantieren.95 Dieser letzte, Husserl gewidmete, Abschnitt in Die Imagination beginnt mit einer begeisterten Würdigung: Das Erscheinen der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Band 1) 1913 ist für Sartre das »große Ereignis der Vorkriegsphilosophie« (TE 222); es bedeutet eine Umwälzung nicht nur der Philosophie, sondern auch der Psychologie, die von der phänomenologischen Methode kostbare Beiträge erwarten kann, auch wenn die deutlichen Unterschiede zunächst ins Auge fallen: Sie ist »eine radikal andere Disziplin als die psychologischen Wissenschaften« (TE 223), jene untersuchen das Bewußtsein als ein Sein in der Welt, sie verbleiben aus Husserls Perspektive, wie die Naturwissenschaften, auf dem Gebiet der ›Wissenschaft der natürlichen Einstellung‹, d. h. ihnen ist ein spontaner Realismus immanent. Die phänomenologische Forschung beginnt im Gegenteil gerade damit, die zum Wesen der natürlichen Einstellung gehörige Generalthesis außer Kraft zu setzen; diese sogenannte phänomenologische Reduktion ist die Einklammerung der natürlichen Einstellung, der die Psychologie verbunden bleibt: »Die zum Wesen der natürlichen Einstellung gehörige Generalthesis setzen wir außer Aktion, alles und jedes, was sie in ontischer Hinsicht umspannt, setzen wir in einem Schlage in Klammern: also diese ganze natürliche Welt, die beständig ›für uns da‹, ›vorhanden‹ ist, und
95
Vgl. Husserl, Ideen I., 247: »Man muß […] wie überall in der Phänomenologie den Mut haben, das im Phänomen wirklich zu Erschauende, statt es umzudeuten, eben hinzunehmen, wie es sich selbst gibt, und es ehrlich zu beschreiben. Alle Theorien haben sich darnach zu richten«. Siehe auch Feldman-Comiti, ebd., 777: »(L)oin de poser a priori les caractères de l’image, de la transformer au gré des systèmes métaphysiques, il nous faut recourir aux expériences initiales, nous replacer dans ›le flux pur du vécu‹, chercher des expériences privilégiées qui nous permettent de rentrer en contact avec les structures intellectuelles. Cela est-il possible? C’est du moins ce qui ressort de la phénoménologie«.
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die immerfort dableiben wird als bewußtseinsmäßige ›Wirklichkeit‹, wenn es uns auch beliebt, sie einzuklammern«.96 Das Ziel dieser Operation ist die Beschreibung der Wesensstrukturen des transzendentalen Bewußtseins, die in der eidetischen Anschauung zur Gegebenheit gebracht werden. Da die so ermittelten Wesensstrukturen auch für das Bewußtsein gültig sind, das sich in der natürlichen Einstellung, also in der Welt, »gefangenhält« (TE 223), wie Sartre schreibt, können die grundlegenden Ergebnisse der Phänomenologie auch für die Psychologie Geltung beanspruchen.97 Die erwähnte Deskription der eidetischen Strukturen geschieht nun zwar auf der Ebene der Reflexion, sie ist jedoch etwas anderes als die Introspektion der positiven Wissenschaften: Diese nimmt empirische Fakten in den Blick und fixiert sie begrifflich; ihr Ziel ist die Formulierung wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten, darum ist hier der induktive Übergang zum Allgemeinen erforderlich. Die Reflexion der Phänomenologen betrachtet statt dessen die Wesen; sie »begibt sich von Anfang an auf das Gebiet des Universalen. Sie benutzt zwar Beispiele. Aber es kommt nicht so sehr darauf an, ob die individuelle Tatsache, die dem Wesen als Träger dient, nun real oder imaginär ist. Wäre die ›exemplarische‹ Gegebenheit eine reine Fiktion, dann mußte sie gerade auf Grund der Tatsache, daß sie imaginiert werden konnte, an sich das gesuchte Wesen realisieren, denn das Wesen ist selbst die Bedingung ihrer Möglichkeit« (TE 224). Da die Erfahrungspsychologie ein Empirismus ist, »der seine eidetischen Prinzipien noch sucht« (TE 225 f.), soll ihr eine eidetische Psychologie vorausgehen, welche »auf der intramundanen Ebene Wesensuntersuchungen und Wesensfixierungen durchführen [wird] wie die Phänomenologie auf der transzendentalen Ebene« (TE 226). Obwohl die intuitive Wesenserfahrung vor jedem Experiment durchgeführt werden soll, bleibt sie dennoch Erfahrung, da sie deskriptiv und nicht deduktiv wie die mathematischen Naturwissenschaften verfährt. Vor Experiment und Induktion muß eine eidetische Beschreibung klären, »worüber man Experimente machen wird« (TE 224), d. h. sie muß den Gegenstandsbereich der beabsichtigten Untersuchung fixieren. Die Frage lautet also in diesem Fall: Was ist ein Bild? »Hat dieses so wichtige Element des psychischen Lebens eine Wesensstruktur, die der Intuition zugänglich ist und die man durch Wörter und Begriffe fixieren kann?« (TE 225). Von einer Studie über das Bild erwartet Sartre infolgedessen zunächst eine »Eidetik des Bildes«, um jene wesentlichen Bestimmungen offenzulegen, die ein Phänomen, sofern es ein Bild genannt werden kann, »notwendig realisieren« muß. Diese Eidetik leistet eine Beschreibung und Fixierung des Wesens, 96
Husserl, ebd., 65. Sartre erklärt: »(Z)weifellos ist der Dienst, den er [Husserl – Anm. J. B.] der Psychologie erwiesen hat, unschätzbar« (TE 232). 97
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wie es sich der reflexiven Intuition zeigt. Von da aus wird die Untersuchung vom Gewissen (der Reflexion) zum Wahrscheinlichen (der Experimentalpsychologie) übergehen (vgl. den Aufbau der späteren systematischen Arbeit Das Imaginäre). Äußerst fruchtbar für eine Revision des Bildbegriffs ist weiterhin Husserls Konzeption der Intentionalität als Wesensstruktur des Bewußtseins,98 die wie Lutz-Müller richtig gesehen hat, »den Ausgangspunkt und die Basis für seine [Sartres – Anm. von J. B.] ganze theoretische Entwicklung«99 bildet. Intentionalität als »das wesentliche Prinzip der Phänomenologie« (TE 48), so heißt es in pointierter Formulierung bei Sartre, ist »Überschreitung des Bewußtseins durch sich selbst« (TE 36): »Diese Notwendigkeit für das Bewußtsein, als Bewußtsein von etwas anderem als von sich zu existieren, nennt Husserl ›Intentionalität‹« (TE 35). Dank diesem zentralen Gedanken der Phänomenologie wird der Bewußtseinsgegenstand als transzendent aufgefaßt und erlaubt eine Vermeidung der »Irrtümer eines bestimmten Immanentismus […], der die Welt mit den Bewußtseinsinhalten konstituieren will (zum Beispiel der Idealismus von Berkeley)« (TE 227). Die Phänomenologie löst den Baum nicht wie der Psychologismus in eine Reihe von taktilen, visuellen und thermischen usw. Empfindungen auf, wodurch er auf die Subjektivität reduziert würde, vielmehr situiert Husserl infolge der Intentionalität den Wahrnehmungsgegenstand außerhalb des Bewußtseins: »(I)n schlechthin unbedingter Allgemeinheit bzw. Notwendigkeit kann ein Ding in keiner möglichen Wahrnehmung, in keinem möglichen Bewußtsein überhaupt, als reell immanentes gegeben sein«.100 Liest man in diesem Zusammenhang Sartres kurzen Aufsatz über die Intentionalität (vgl. TE 33–37), so fällt auf, daß Husserls Lehre hier eine ausgesprochen realistische Deutung101 erfährt: Der Aufsatz ist zugleich Programm, Bekenntnis, aber auch Streitschrift gegen die Vertreter eines von Sartre als »Ernährungsphilosophie« (TE 33) diffamierten Denkens, das jeden Gegenstand nach den Prinzipien »Assimilation, Vereinheitlichung, Identifikation« (TE 33)102 auf eine Verbindung von Bewußseinsinhalten re-
98
Vgl. Husserl, Ideen I, §§ 34, 36ff, 84; Cartesianische Meditationen, § 14. Lutz-Müller, Sartres Theorie der Negation, 27. 100 Husserl, Ideen I, 87; vgl. ders., Zeitbewußtsein, 371. 101 Vgl. hierzu auch Lutz-Müller, ebd.,28. 102 In der deutschen Philosophie ist z. B. Cohen Repräsentant für eine philosophische Position, für die es Sein nur relativ auf das Denken gibt: »Sein ist Setzung« (Logik der reinen Erkenntnis, 28); vgl. dazu G. Seel, ebd., 12 f. 103 In Opposition zu jeglicher »Immanenzphilosophie« (TE 35) wird neben Husserls Intentionalität auch Heideggers Lehre vom In-der Welt-sein zu einer sogenannten »Transzendenzphilosophie« (TE 35) gerechnet. ›Transzendenz‹ wird bei Husserl (vgl. z. B. Cartesianische Meditationen, 116 f.) allerdings als ein in meinem eigenen intentionalen Bewußtseinsleben konstituierter Seinssinn konzipiert. Genaugenommen müßte Sartre also 99
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duziert.103 Genannt werden »Empiriokritizismus«, »Neukantianismus« und »Psychologismus« (vgl. TE 34). Wie schon oben erwähnt, bietet Husserl die philosophische Alternative, die aus diesem Subjektivismus hinausführt.104 Jener Baum, den ich betrachte, befindet sich nicht als Inhalt in meinem Bewußtsein, er ist draußen in der Welt, auch wenn er nur in einer von meiner Position abhängigen Perspektive erscheint: »Das Bewußtsein und die Welt sind beide auf einmal gegeben: ihrem Wesen nach dem Bewußtsein äußerlich, ist die Welt ihrem Wesen nach relativ zu ihm« (TE 34). Die Tätigkeit des Bewußtseins wird in dem erwähnten Aufsatz als ein permanentes »Bersten« zu etwas hin beschrieben; darum gibt es keine ›feuchte, gastrische Intimität‹ (vgl. TE 34), kein sogenanntes Innenleben, sondern dieses Bewußtsein, wie Husserl es Sartre zufolge versteht, ist ein Bezug zu etwas, »was nicht es ist« (TE 34). Bewußtsein bezieht sich auf Nicht-Bewußtsein. Weder läßt sich das Ding im Bewußtsein auflösen, noch absorbiert umgekehrt das Ding das Bewußtsein: »(D)ort hinten, bei dem Baum und dennoch außerhalb von ihm, denn er entgeht mir und stößt mich zurück, und ich kann mich ebensowenig in ihm verlieren, wie er sich in mir auflösen kann: außerhalb von ihm, außerhalb von mir« (TE 34). Sartre fragt seine Leser suggestiv, ob diese Darstellung nicht mit den »Ansprüche(n) und Ahnungen« (TE 34) eines jeden übereinstimme. Dieses implizite Wissen, an das hier appelliert wird, ist die zu Beginn von Die Imagination entdeckte vorprädikative Evidenz, in der sich dem Wahrnehmenden die Trägheit oder Dinglichkeit des Wahrgenommenen offenbart: »Sie wußten sehr wohl, daß der Baum nicht Sie war, daß sie ihn nicht in ihre düsteren Mägen hineinbringen konnten und daß die Erkenntnis sich nicht ohne Unredlichkeit mit dem Besitzen vergleichen läßt« (TE 34).105 Ohne jeden Bewußtseinsinhalt ist das Bewußtsein »gereinigt« (TE 34); es hat kein »Drinnen« (TE 35) und ist, insofern es nicht wie Descartes’ res cogitans durch Substantialität ausgezeichnet ist, nichts weiter als Transzendenz zu seinem Gegenstand. Das erwähnte ›Bersten‹ wirft uns »in den trockenen Staub der
auch Husserl zu den ›Ernährungsphilosophen‹ rechnen: Insofern »Realität und Welt« für den Begründer der Phänomenologie nur »Titel für gewisse gültige Sinneseinheiten, nämlich Einheiten des ›Sinnes‹« darstellen, die auf »sinngebende und Sinnesgültigkeit ausweisende Zusammenhänge des absoluten, reinen Bewußtseins« (Ideen I., 134) bezogen sind, ist abzusehen, daß Sartres Intention einer konkreten Philosophie nur eine vorübergehende Anhängerschaft erlaubt. 104 Vgl. auch Husserl, Cartesianische Meditationen, §§ 21 f., 26 f. Cabestan kommentiert die Rolle der Intentionalität im Denken Sartres: »(C)e choix se justifie par la volonté de rompre avec une conception ordinaire de la conscience comme monade ou substance repliée sur elle-même dont les sensations, les sentiments, les représentations seraient autant d’êtats de conscience« (ebd., 56). 105 Später jedoch in Das Sein und das Nichts rechnet Sartre selbst die Erkenntnis dem Besitz zu (vgl. SN 751, 990–994).
Husserls Phänomenologie
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Welt, auf die harte Erde, mitten unter die Dinge« (TE 35). Ähnlich wie Sartre versteht auch Lévinas die Intentionalität als »Transivität«,106 d. h. als Abkehr von einem idealistischen Denken, das nur ein weltloses Subjekt kennt: »Das Subjekt verharrt nicht länger in der Unbeweglichkeit des idealistischen Subjekts, sondern findet sich in Situationen fortgerissen, die sich nicht in Vorstellungen, die es sich von diesen Situationen machen könnte, auflösen […]. Das Ich bleibt nicht in sich, um alles Andere in der Vorstellung zu absorbieren. Es transzendiert sich wirklich«.107 Auch das Bild wird nur in einer intentionalen Beziehung, d. h. im Verhältnis »eines bestimmten Bewußtseins zu einem bestimmten Objekt« (TE 229) erfahren: Es ist nicht länger ein psychischer Inhalt, denn die Differenz zwischen der Intention und der von ihr beseelten Hyle ist auch in diesem Fall gültig; letztere bleibt subjektiv, während auch der Gegenstand des Bildbewußtseins, wie Sartre nun erklärt, »außerhalb des Bewußtseins als etwas radikal Verschiedenes« (TE 229) situiert ist. Husserl schreibt hierzu: »Gewiß vollzieht sich […] die freie Fiktion spontan, und das spontan Erzeugte ist selbstverständlich ein Produkt des Geistes. Aber was den flötenspielenden Kentaur anlangt, so ist er Vorstellung in dem Sinne, wie das Vorgestellte Vorstellung genannt wird, aber nicht in demjenigen, in dem Vorstellung der Name eines psychischen Erlebnisses ist. Der Kentaur selbst ist natürlich nichts Psychisches, er existiert weder in der Seele noch im Bewußtsein, noch sonstwo, er ist ja ›nichts‹, er ist ganz und gar ›Einbildung‹; genauer gesprochen: das Einbildungserlebnis ist Einbilden von einem Kentaur. Insofern gehört freilich zum Erlebnis selbst ›Kentaur-vermeintes‹, Kentaur-phantasiertes. Aber man vermenge nun auch nicht eben dieses Einbildungserlebnis mit dem in ihm Eingebildetem als solchen«.108 Obwohl der Kentaur nicht existiert, so bringt Sartre die Beschreibungen Husserls auf den Punkt, läßt er sich nicht auf psychische Elemente reduzieren; zwar ist er ein Nichts, dennoch wahrt er als intentionales Objekt seine Transzendenz:109 Er ist nicht im Bewußtsein, sondern für das Bewußtsein. Das Bild wird dank der phänomenologischen Zugangsweise also nicht länger als ein inerter Bewußtseinsinhalt aufgefaßt oder als Epiphänomen einer zerebralen Spur. Es gibt keinen Pierre in Kleinformat, der das Bewußtsein bewohnt: »Im Imaginationsakt bezieht sich das Bewußtsein also direkt auf Pierre und nicht vermittels eines Trugbildes, das im Bewußtsein wäre« (TE 230). So glaubt Sartre ferner auch die materialen Bilder – Gemälde, Zeichnun106
Vgl. Lévinas, »Intentionalität und Metaphysik«, 148. Lévinas, ebd. 108 Husserl, Ideen I, 49 f. 109 Es gibt offensichtlich auch Transzendenz ohne An-sich-sein, ohne Trägheit. Vgl. hierzu Bunting, ebd., 241; Fußn. 34. 107
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1. Auseinandersetzung mit der philosophiegeschichtlichen Tradition
gen, Fotos usw. – dem Bereich der Imaginationen eingliedern zu können (vgl. TE 231). Als ein anschauliches Beispiel für eine solche Assimilation würdigt Sartre Husserls Betrachtung des Dürerschen Kupferstichs Ritter, Tod und Teufel: »Es sei etwa der Dürersche Kupferstich ›Ritter, Tod und Teufel‹ betrachtet. Wir unterscheiden hier fürs Erste die normale Wahrnehmung, deren Korrelat das Ding ›Kupferstichblatt‹ ist, dieses Blatt in der Mappe. Fürs Zweite das perzeptive Bewußtsein, in dem uns in den schwarzen Linien farblose Figürchen ›Ritter auf dem Pferde‹, ›Tod‹ und ›Teufel‹ erscheinen. Diesen sind wir in der ästhetischen Betrachtung nicht als Objekten zugewendet; zugewendet sind wir den ›im Bilde‹ dargestellten, genauer, den ›abgebildeten‹ Realitäten, dem Ritter aus Fleisch und Blut usw.«110 Aufschlußreich ist diese Passage für Sartre insofern, als hier deutlich wird, daß das hyletische Material der Wahrnehmung ›Blatt in der Mappe‹ »unzweifelhaft« (TE 232) identisch ist mit derjenigen des Bildes ›Ritter, Tod und Teufel‹. Was sich verändert, ist allein die intentionale Struktur: Die Existenzsetzung erfährt Sartre zufolge offenbar eine »Neutralitätsmodifikation«, da der Gegenstand in der ästhetischen Einstellung »nicht als existierend gesetzt wird« (vgl. Im 29).111 Festzuhalten ist: Die Materie allein genügt nicht, um die Unterscheidung zwischen Bild und Wahrnehmung zu begründen: »Alles hängt von dem Beseelungsmodus dieser Materie ab« (TE 232). Bild und Wahrnehmung sind »vor allem« (TE 233) durch die Art des intentionalen Erlebnisses getrennt. Allerdings bestimmt Husserl weder die Natur der Intention des Bildes noch gibt er Auskunft über die genauen Unterscheidungsmerkmale, die gegenüber der Wahrnehmung geltend gemacht werden können. Alles in allem handelt es sich weniger um eine »systematische Konstruktion« als vielmehr um einen »Komplex fruchtbarer Anregungen« (TE 227).112
110
Husserl, ebd., 252. Flynn weist darauf hin, daß Husserls kurze Analyse des DürerBildes beispielhaft für Sartres Kunstkapitel in Das Imaginäre ist (ebd., 432 f.). 111 Sartre ist der Ansicht, daß Husserl sich bei diesen Erörterungen an Kant orientiert. Vgl. z. B.: »Nun will man aber, wenn die Frage ist, ob etwas schön sei, nicht wissen, ob uns oder irgend jemand an der Existenz der Sache irgend etwas gelegen sei, oder auch nur gelegen sein könne; sondern, wie wir sie in der bloßen Betrachtung (Anschauung oder Reflexion) beurteilen« (Kritik der Urteilskraft, 40). 112 Zur Problematik der Imagination war Sartre nur der Paragraph 111 der Ideen I bekannt. Er äußert jedoch die richtige Vermutung, Husserl habe seine Andeutungen »zweifellos in seinen Vorlesungen und unveröffentlichten Werken präzisiert« (TE 232). Husserls Vorlesungen zu diesem Thema, die im Wintersemester 1904/05 gehalten wurden, sind 1980 im 23. Band der Husserliana veröffentlicht worden.
Die Kritik an Husserls Phänomenologie der Imagination
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1. 6. Die Kritik an Husserls Phänomenologie der Imagination Die Kritik, die Sartre gegen Husserls Ansatz vorbringt, bezieht sich primär auf das folgende Problem, das sich aus den zuvor referierten Ausführungen ergibt:113 Wenn die Hyle, also die impressionale Materie, Husserl zufolge identisch bleibt, gleichgültig ob sie nun von einer Wahrnehmungsintention oder von der hiervon ganz verschiedenen imaginierenden Intention beseelt wird, d. h. wenn »diese schwarzen Linien […] zugleich zur Konstitution des Bildes ›Ritter‹ oder zur Wahrnehmung ›schwarze Striche auf einem weißen Bogen‹« dienen (TE 233), stellt sich die Frage, wie es sich dann im Fall des rein »mentale(n) Bild(es)« (TE 233) verhält. Nach Husserl kann das Bild wie die Wahrnehmung ein leeres Wissen erfüllen. Wenn es eine solche Funktion übernehmen kann, drängt sich der Schluß auf, es habe auch dieselbe Hyle wie das äußere Bild: »Wenn ich beispielsweise an eine Lerche denke, kann ich leer daran denken, das heißt lediglich eine signitive Intention […] hervorbringen, die auf das Wort ›Lerche‹ fixiert ist. Um jedoch dieses Leerbewußtsein zu erfüllen und es in intuitives Bewußtsein zu verwandeln, ist es gleichgültig, ob ich ein Bild von einer Lerche hervorbringe oder ob ich eine Lerche aus Fleisch und Blut erblicke. Diese Bedeutungserfüllung durch das Bild scheint darauf hinzuweisen, daß das Bild eine konkrete impressionelle Materie besitzt und daß es selbst ein Volles ist wie die Wahrnehmung« (TE 233 f.). Zur Bestätigung dieser Vermutung bringt Sartre nun die von Husserl in den Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins dargelegte Beschreibung der Wiedererinnerung ins Spiel, die offenbar dem Bereich des mentalen Bildes zugeordnet wird: »Ich erinnere mich an das erleuchtete Theater von gestern, d. h. ich vollziehe eine ›Reproduktion‹ der Wahrnehmung des Theaters, somit schwebt mir in der Vorstellung das Theater als ein gegenwärtiges vor, dieses meine ich, fasse aber diese Gegenwart als zurückliegend in Beziehung auf die aktuelle Gegenwart der jetzigen aktuellen Wahrnehmungen auf«.114 Die Wiedererinnerung versteht Husserl als eine Vergegenwärtigung, welche in der Vergangenheit erfaßte Dinge mit ihren Eigenschaften reproduziert: »(F)ür Husserl impliziert die Reproduktion des erleuchteten Theaters die Reproduktion der Wahrnehmung des erleuchteten Theaters« (TE 234).
113
Man wird nach einer aufmerksamen Lektüre der letzten Passagen von Die Imagination Wannicke nicht zustimmen können, für den in dieser Schrift Sartres »Gefolgschaft für die Grundpositionen der Husserlschen Phänomenologie« als »uneingeschränkt« anzusehen ist (ebd., 55). So begeistert Sartre auf die Idee der Intentionalität auch reagiert, der zweite zentrale Gedanke der Phänomenologie, die Epoché, wird bereits mit deutlicher Skepis betrachtet (s. u.). 114 Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtsein, 415.
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1. Auseinandersetzung mit der philosophiegeschichtlichen Tradition
Aus diesen Beschreibungen der Wiedererinnerung als »Reiteration […] von allen ursprünglich perzeptiven Akten« (TE 234) folgt, wie Sartre schließt, nichts anderes als daß das Erinnerungs-Bild nur ein von einem Vergangenheitskoeffizienten modifiziertes Wahrnehmungsbewußtsein, also die Reproduktion einer Perzeption ist. So scheint es, als sei Husserl, obwohl er »den Grund zu einer radikalen Erneuerung der Frage« gelegt hat, schließlich doch ein »Gefangener der alten Konzeption« (TE 234) des Bildes geblieben, denn die Hyle des Bildes ist für ihn nur eine wiedererweckte sinnliche Impression. Sartre räumt zwar ein, daß seine Kritik auf einer Interpretation beruht, die keineswegs zwingend ist, dennoch schließen Husserls Bemerkungen diese Lesart nicht aus. Sie sind zumindest mehrdeutig, wohingegen Sartre eine ›klare und deutliche‹ (vgl. TE 235) Stellungnahme erwartet. Zusammenfassend läßt sich also, vorsichtig gesagt, feststellen, daß Husserl eine Identität der Materie von Wahrnehmung sowie äußerem und mentalem Bild nahezulegen scheint. Hinsichtlich des äußeren Bildes zeigen sich bei einer solchen Konzeption keinerlei Schwierigkeiten: Es gibt zwei unterschiedliche Auffassungen derselben Sinnesdaten, insofern die Imagination den Ritter bzw. das Bildobjekt und die Wahrnehmung das Kupferstichblatt in der Mappe bzw. die Farben, Striche usw. erfaßt. Bei den images mentales gibt es jedoch keine identische Materie, die sowohl in einer Imaginations- als auch in einer Wahrnehmungsnoese intendiert werden kann. Es liegt hier offenbar nicht nur eine Differenz der Auffassungen, sondern auch der Materie vor.115 Aus diesen Unklarheiten folgen nun Probleme, die denen der positiven Psychologen analog sind und durch die Epoché als der zentralen Operation der Phänomenologie noch verschärft werden: Wie gelingt es mir, nachdem ich die phänomenologische Reduktion durchgeführt habe, Bild und Wahrnehmung allein aufgrund ihrer Intention zu differenzieren? Infolge der Einklammerung stehen sich nun nicht mehr Bewußtsein und Welt gegenüber, sondern ich erhalte auf der einen Seite die realen Elemente der bewußten Synthese – die Hyle und die intentionalen Akte, d. h. die Noesis – und auf der anderen Seite den intentionalen Sinn, also das Noema. Der ›wahrgenommeneblühende-Baum‹ ist Noema meiner augenblicklichen Wahrnehmung – aber dieses Noema ist nun, wie Husserl hervorhebt, selbst nichts Reales; sein esse reduziert sich auf das percipi: »(J)edes Erlebnis ist so geartet, daß die prinzipielle Möglichkeit besteht, ihm und seinen reellen Komponenten den Blick zuzuwenden und ebenso in der Gegenrichtung dem Noema, etwa dem gesehenen Baum als solchem. Das in dieser Blickstellung Gegebene ist nun zwar selbst, logisch gesprochen, ein Gegenstand, aber ein durchaus unselbständiger. Sein esse besteht 115
Vgl. zu dieser Kritik Sartres an Husserl auch Flajoliet, ebd., 153–156 u. LempenRicci, ebd., 196–207.
Die Kritik an Husserls Phänomenologie der Imagination
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ausschließlich in seinem ›percipi‹ – nur daß dieser Satz nichts weniger als im Berkeleyschen Sinne gilt, da das percipi das esse hier ja nicht als reelles Bestandstück enthält«.116 Ein reelles Bestandstück des percipi ist das esse des Noema deswegen nicht, weil es aufgrund der Intentionalität des Bewußtseins ein Transzendentes bleibt. Als reell dem Subjekt immanent wäre es ein Bewußtseinsinhalt, ein Bewohner des Bewußtseins, der dessen Transparenz durch Einführung einer Opazität gefährdete. Das Noema ist, so folgert Sartre aus den zitierten Ausführungen Husserls (s. o.), im Grunde nur das Korrelat der Noesis; da es keinerlei Selbständigkeit besitzt, ist es »ein Nichts [néant]« (TE 236).117 Aber wie, so drängt sich nun die Frage auf, ist es nach dem Vollzug der phänomenologischen Reduktion dann noch möglich, den wahrgenommenen Baum von dem imaginären Baum zu unterscheiden? Vor der Reduktion war gerade dieses Nichts konstitutiv für den Bild-Baum, während das Wahrgenommene sich dadurch auszeichnete, daß es eine gewisse Unabhängigkeit dem Subjekt gegenüber bewahrte: »(D)er blühende Baum existierte irgendwo außerhalb von uns, man konnte ihn berühren, ihn umarmen, sich von ihm abwenden und ihn dann wieder am selben Platz vorfinden, wenn man wieder umkehrte. Der Kentaur dagegen war nirgendwo, weder in mir, noch außerhalb von mir« (TE 236). Die Epoché macht aus dem mir gegenüberstehenden Ding ein bloßes Noema der Wahrnehmung, »und als solches ist dieses Noema etwas Irreales, ganz wie der Kentaur« (TE 236). Zur Unterstützung seiner Schlußfolgerung zitiert Sartre folgende Passage aus den Ideen I: »Der Baum schlechthin, das Ding der Natur, ist nichts weniger als dieses Baumwahrgenommene als solches, das als Wahrnehmungssinn zur jeweiligen Wahrnehmung unabtrennbar gehört. Der Baum schlechthin kann abbrennen, sich in seine chemischen Elemente auflösen usw. Der Sinn aber – Sinn dieser Wahrnehmung, ein notwendig zu ihrem Wesen Gehöriges – kann nicht abbrennen, er hat keine chemischen Elemente, keine Kräfte, keine realen Eigenschaften«.118 In geradezu spiegelbildlicher Umkehrung der aporetischen Wendung der positiven Psychologie, die dem Bild einen sinnlichen Inhalt gibt und dadurch aus ihm ein Ding macht, welches sich nur noch durch einen hypothetischen schwächeren Intensitätsgrad von dem Wahrgenommenen unterscheidet, hat Husserls Epoché zur Konsequenz, das Reale in ein Noema und damit in ein Irreales zu verwandeln, d. h. es im Grunde dem Bild gleich zu machen. In116
Husserl, Ideen I, 229 f. Husserl hat den Vorwurf, er reduziere wie Berkeley das esse auf das percipi, vorhergesehen und versucht, bereits im voraus darauf zu antworten (vgl. Ideen I, § 55). 118 Husserl, ebd., 205. 117
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1. Auseinandersetzung mit der philosophiegeschichtlichen Tradition
folgedessen tut sich erneut die Frage der Unterscheidbarkeit auf. Gegen die phänomenologische Reduktion und ihre Konsequenzen will Sartre paradoxerweise offenbar gerade die unmittelbaren Bewußtseinsgegebenheiten ins Feld führen: Schließlich können wir, so eine zentrale These aus Die Imagination, spontan und unmittelbar Bild und Wahrnehmung voneinander trennen – aber hierzu müssen wir »die Barrieren der phänomenologischen Reduktion fallen lassen« (TE 237). Während bei Husserl die Epoché gerade den unverstellten Zugang zur Erfahrung ermöglichen soll, erscheint sie bei Sartre – der den Gedanken uneingeschränkt aufnimmt, nach dem die Philosophie vor jeder apriorischen Konstruktion einer Theorie sich den Erfahrungsgegebenheiten zuwenden muß – als etwas, das gerade deren Auslegung behindert. Die phänomenologische Reduktion versperrt den Weg zu den Sachen selbst; anstelle des »Baum(es) schlechthin«, dem »Ding in der Natur« erhält Sartre nur ein »Baumwahrgenommenes«:119 Statt »zur massiven, verführerischen und erschreckenden Gegenwart der Dinge zurückzufinden«,120 bietet sich ihm nur noch ein Wahrnehmungssinn, ein bloßes Korrelat der subjektiven Vollzüge, kurz, ein cogitatum. Um eine häufig zitierte Formulierung Husserls aufzugreifen, könnte man sagen: Bringt man die »noch stumme Erfahrung […] zur reinen Aussprache ihres eigenen Sinnes«,121 so widerspricht sie den Implikationen der phänomenologischen Reduktion, die ja gerade eine Operation darstellt, welche der Beschreibung der Gegebenheiten des Bewußtseins vorausgeht. Das Gegebene entzieht sich der phänomenologischen Reduktion, insofern es sich als etwas behauptet, das mehr ist als nur Gegebenes. Man könnte natürlich mit einiger Berechtigung fragen, ob hier nicht eine Fehldeutung Husserls vorliegt. Husserl will im Grunde nur sagen: Das Noema zeigt sich immer nur innerhalb einer cogitatio als ein cogitatum bzw. als ein Bewußtseinskorrelat. Sartres Deutung radikalisiert Husserls These und unterstellt: Es gibt kein Ding mehr, sondern nur noch das Noema; und dieses Noema existiert nur, wenn es sich innerhalb einer cogitatio als ein cogitatum zeigt – ansonsten existiert es einfach nicht. Im Gegensatz zum Bewußtsein in der natürlichen Einstellung offenbart sich zwar in der Tat für das transzendental eingestellte Subjekt die Abhängigkeit des wahrgenommenen Gegenstands von der Gegebenheit. Wenn Husserl allerdings von einem intentionalen Beschlossensein des cogitatum im Bewußtsein spricht, so haben diese Bemerkungen eher eine strukturelle Bedeutung. Es geht ihm darum, das Verhältnis zu erhellen, in dem das cogitatum innerhalb der cogitatio zu deren reell immanenten Momenten, Hyle und Noesis, steht. Sartre unterzieht 119
Ebd.; Husserl spricht sogar von dem Bewußtsein »als Residuum der Weltvernichtung« (ebd., 103). 120 Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, 63. 121 Husserl, Cartesianische Meditationen, 77.
Die Kritik an Husserls Phänomenologie der Imagination
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den Paragraphen 98 jedoch einer ontologischen Deutung und forciert damit die Aussagen Husserls: »Demgemäß bedeutet ›irreell‹ soviel wie ›unwirklich‹ bzw. ›nicht-wirklich‹«,122 wodurch der Eindruck entsteht, Husserl reduziere die Wirklichkeit auf ihr Wahrgenommen-sein und spreche ihr jede ontologische Selbständigkeit ab: »So erweckt Sartre den Eindruck, als ob Husserl bei seinem Rückgriff auf Berkeley dem subjektiven Idealismus habe das Wort reden wollen, oder, anders gesagt, als ob die transzendentale Phänomenologie – ›onto-logisch‹ – einem objektiven Phänomenismus entspricht«.123 Im übrigen ist es keineswegs, wie Sartre selbst einräumt, Husserls Absicht, die Differenzen zwischen Bild und Wahrnehmung zu verwischen, er hält sie vielmehr für »wesentlich«: »Es mag sich überall um einen blühenden Baum handeln, und überall mag dieser Baum in solcher Weise erscheinen, daß die getreue Beschreibung des Erscheinenden als solchen notwendig mit denselben Ausdrücken erfolgt. Aber die noematischen Korrelate sind darum doch wesentlich verschiedene für Wahrnehmung, Phantasie, bildliche Vergegenwärtigung, Erinnerung usw. Einmal ist das Erscheinende charakterisiert als ›leibhafte Wirklichkeit‹, das andere Mal als Fiktum, dann wieder als Erinnerungsvergegenwärtigung usw.«124 Aber für Sartre stellt sich nun die Frage, ob es restlos dem noetischen Akt und damit »meinem Gutdünken« (TE 237) unterstellt ist, ob ich eine hyletische Materie als Imagination oder als Wahrnehmung konstituiere. Seiner Überzeugung nach zeichnet sich das Wahrgenommene ja gerade dadurch aus, daß es sich meinem Belieben entzieht: Hängt also dessen Sinn in einem solchen Ausmaße vom Bewußtsein des Wahrnehmenden ab, was wird dann aus der Trägheit des Wahrgenommenen? »Was wird in diesem Fall aber ›Bild‹ oder ›wahrgenommenes Ding‹ bedeuten? Kann eine Weigerung, das Noema ›blühender Baum‹ mit den vorangegangenen Noemata in Beziehung zu bringen, bereits ein Bild konstituieren?« (TE 237) Husserl selbst bietet Andeutungen zu einer Lösung, wenn er in den Cartesianischen Meditationen die assoziativ entstehenden passiven Synthesen, die die Wahrnehmung konstituieren, von den aktiven Synthesen (z. B. das Urteil und die Fiktion), die es mit Produkten der freien Spontaneität zu tun haben, unterscheidet. »Die Differenz zwischen Fiktion-Bild und Wahrnehmung käme so von der Grundstruktur der intentionalen Synthese« (TE 239). Dieser Darstellung schließt Sartre sich »ganz und gar« an (TE 239). Er moniert nur, daß sie noch »sehr unvollständig« (TE 239) bleibe. Ist das Bild eine aktive Synthe122 123 124
Damast, ebd., 153. Ebd. Husserl, Ideen I, 210.
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sis, so ist damit noch keine Modifikation der Materie in Anschlag gebracht, es genügt anzunehmen, daß sich nur der Vereinigungstypus modifiziert. Eine aktive Synthesis wäre durchaus auch als Zusammenführung von wiedererwachenden sinnlichen Gehalten vorstellbar: »Der Kentaur würde durch die spontane Synthesis einer wiedererstehenden Pferdwahrnehmung und einer wiedererstehenden Menschenwahrnehmung konstituiert« (TE 239). Damit wäre Husserl jedoch nicht über Descartes und Spinoza hinausgekommen (vgl. TE 239).125 Sartre hält die impressionelle Materie der Wahrnehmung für unvereinbar mit dem intentionalen Modus des Bildes: Wenn die Reproduktion des wahrgenommenen Theaters ein wiedererstehender sinnlicher Eindruck wäre, dann gehörte sie zum Bereich der passiven Synthesis und wäre damit radikal von dem Bild als aktiver Synthesis getrennt. Sartre bezweifelt jedoch die Einsichtigkeit einer solch scharfen Trennung zwischen »Erinnerung-Bild« und »Fiktion-Bild« mit dem Hinweis auf die zahlreichen Zwischenformen. Es ist zwar notwendig, aber nicht ausreichend an der Verschiedenheit der intentionalen Struktur festzuhalten: »(D)ie Unterscheidung zwischen mentalem Bild und Wahrnehmung könnte nicht von der bloßen Intentionalität herrühren […]; auch die Materien müssen unähnliche sein. Vielleicht muß sogar die Materie des Bildes selbst Spontaneität sein, jedoch eine Spontaneität von einem minderen Typ« (TE 240).126 Zusammenfassend läßt sich feststellen: Die Phänomenologie erlaubt eine völlig neue Theorie der Einbildungskraft, weil sie das Bild als Bewußtseinsmodus auffaßt. Das Bild ist kein Ding bzw. läßt sich auf keinen sinnlichen Inhalt zurückführen, so lautet der Grundgedanke, der in Die Imagination immer wieder zum Ausdruck kommt. Die trennscharfe Unterscheidung zwischen 125
Morgan faßt Sartres Kritik zusammen: »Sartre’s argument runs as follows: if one conceives of the difference between perception and imagination being founded solely on the basis of intentionality, then this does not yet serve to distinguish imaginary objects as described by phenomenology from the theories propounded by Spinoza and Descartes, both of whom Sartre regards as victims of the illusion of immanence. This is, simply to say that perceptions and imaginations differ solely on the basis of different intentionalities does not, for Sartre, exclude the possibility of explaining the latter as the spontaneous syntheses of elements which retain the status of being reborn sensible impressions. In short, Sartre is maintaining that Husserl’s account provides a necessary but not sufficient condition for distinguishing between these two intentional modes« (ebd., 22). Siehe auch Feldman-Comiti, ebd., 779. 126 Hier drängt sich nun der Eindruck auf, als wolle Sartre, der soeben noch die Annahme einer graduellen, auf einem wechselnden sinnlichen Intensitätsgrad beruhenden Differenz kritisiert hat, nun eine Distinktion postulieren, welche auch nur graduell auf einer Intensität der Spontaneität beruht. Aber führt der Gedanke einer schwächeren Sinnlichkeit nicht zu ähnlichen Widersprüchen wie derjenige einer schwächeren Spontaneität?
Die Kritik an Husserls Phänomenologie der Imagination
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Wahrnehmung und Imagination entspricht 1. den unmittelbaren Bewußtseinsgebenheiten, nach denen die Unterscheidung spontan und gewiß erfolgt, und 2. erlaubt sie eine Zurückweisung der assoziationistischen Position mit ihren mechanistischen Implikationen. Da es nach Sartre nur zwei Existenztypen gibt (vgl. TE 211) und das Bild kein sinnlicher Gehalt ist, kann es nur als Bewußtsein beschrieben werden: »Es gibt keine Bilder im Bewußtsein und es kann auch keine geben. Sondern das Bild ist ein bestimmter Bewußtseinstyp. Das Bild ist ein Akt und kein Ding. Das Bild ist Bewußtsein von etwas« (TE 242).127 Gefordert wird eine »Wesensbeschreibung«, die bei Husserl noch fehlt, für die er aber die Methode und die grundlegenden Einsichten hinsichtlich der Natur des Bewußtseins bereitstellt. Sämtliche »vorphänomenologische Literatur« kann »außer acht« (TE 240) gelassen werden. Mittels intuitiver Hinwendung zu den Gegebenheiten soll die Intentionalität des Bildes gewonnen werden, welche anders als die zeitgenössische Psychologie, die von apriorischen Ideen ausgeht, nicht nur bestenfalls mit den »Gegebenheiten des innersten Sinns« (TE 241) übereinstimmt, sondern auch aus ihnen hervorgeht. Die Imagination versteht sich nicht als Versuch einer systematischen Darstellung des Imaginären. Ziel dieser vor allem kritischen Schrift ist es vielmehr, »den Weg zu einer phänomenologischen Interpretation der Einbildungskraft frei zu machen«.128 Sartre stellt sich die Aufgabe, in einer folgenden Studie eine »phänomenologische Beschreibung der Struktur ›Bild‹ vor(zu)nehmen« (TE 242).
127
Vgl. Casey, ebd., 162: »At the time of writing Imagination and The Psychology of Imagination, Sartre’s ontology allowed for only two options. Whatever we experience must be of the nature of a thing or of consciousness; it must be either inert or spontaneous, initself or for-itself. Images too, then must be either thing-like or consciousness-like. Having rejected the interpretation of the image as a mini-thing, Sartre can only conclude that it is of the character of consciousness«. 128 Betancourt, ebd., 20.
2. DIE SYSTEMATISCHE ENTFALTUNG DER THEORIE DER EINBILDUNGSKRAFT
Nach der eher kritischen Intention, die Sartre in Die Imagination verfolgt, stellt die deutlich systematisch angelegte Schrift Das Imaginäre von 1940 »den positiven Teil seiner Argumentation vor«.1 Auch diese Studie kann als »Beitrag zur Phänomenologie im Sinne Edmund Husserls«2 aufgefaßt werden: Sartre unterzieht sowohl in noetischer Perspektive das imaginierende Bewußtsein als auch sein noematisches Korrelat, das imaginäre Phänomen, einer ebenso detaillierten wie umfassenden Beschreibung.3 Noch in seinem späteren Denken im Kontext der Flaubert-Studie betont Sartre die Bedeutung dieses »Herzstücks seiner frühen Philosophie«4 und erklärt, daß er nach wie vor an dessen Zentralthesen festhalte (vgl. WkL 158). Am Anfang dieser Schrift erfolgen einige methodologische Vorüberlegungen, die im Grunde direkt an die frühere Studie über die Einbildungskraft anknüpfen. Wenn ich die Vorstellung von Peter evoziere, so Sartres Beispiel, ist es »gewiß« (Im 15), daß Peter als das Objekt eines aktuellen Bewußtseins erscheint. Dieses Objekt kann ich zwar auf diesem Weg in seiner Erscheinungsweise als Vorstellung beschreiben, eine vollständige »Beschreibung der Vorstellung als solcher« (Im 15) bedarf jedoch der Stufe der Reflexion, welche »einen Akt zweiten Grades« (Im 15) darstellt, der sich »vom Objekt abwendet, um sich auf die Art und Weise zu richten, in der dieses Objekt gegeben ist« (Im 15).5 Es fällt auf, daß sich Sartres Vorgehen auf zweifache Weise von demjenigen Husserls unterscheidet. Von der phänomenologischen Reduktion ist im Rahmen seiner phänomenologischen Psychologie der Einbildungskraft (vgl. den Untertitel von Das Imaginäre) keine Rede: »A phenomenological psycholo-
1
Siehe Wiesing, ebd., 259; Waldenfels, ebd., 76; Wannicke, ebd., 56 f. Wiesing, ebd., 255. 3 Vgl. Sartres Erklärung in der kurzen Präambel: »Diese Untersuchung hat zum Ziel, die wichtige ›irrealisierende‹ Funktion des Bewußtseins, die ›Vorstellungskraft‹ zu beschreiben und ihr noematisches Korrelat, das Imaginäre« (Im 14). 4 Wannicke, ebd., 56. 5 Vgl. Ricœur, ebd., 170; vgl. Jeanson, Le problème moral, 75 f. Es ist allerdings verwunderlich, daß im reflexiven Bewußtsein nicht mehr das Korrelat des unmittelbaren Bewußtseins thematisch ist; die Reflexion, die das Urteil erlaubt: ›Ich habe eine Vorstellung‹, erfaßt, wie sich aus Sartres Darstellung entnehmen läßt, ausschließlich die Noesis und nicht sowohl Noesis und Noema des reflektierten Bewußtseins. 2
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2. Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft
gist remains ›intramundance‹ for Sartre«.6 Der entscheidende methodische Schritt ist zudem die Reflexion und nicht die eidetische Variation: »Instead of holding that phenomenological method is a matter of intuiting essence (Wesensschau, in Husserl’s term), Sartre appeals to ›reflection,‹ which is a second-order act that scrutinizes ordinary first-order acts. To understand what it is to imagine it is not enough merely to imagine; we must direct our reflective attention onto the original act of imagining so as to discern its eidetic structure«.7 Um dieses Vorgehen zu legitimieren, beruft sich Sartre auf Descartes’ Verdikt, daß ein reflexives Bewußtsein »absolut gewisse Gegebenheiten« (Im 15) erhalte: Die Einsicht der Reflexion, daß ich eine Vorstellung habe, ist absolut gewiß und unbezweifelbar; eine Täuschung oder eine Verwechslung mit der Wahrnehmung ist ausgeschlossen, wie schon in Die Imagination fortwährend betont wurde.8 Sartre erweist sich hierin als Erbe der »cartesianischen Deutung des Weges in die Phänomenologie«:9 »Der Zugang zur spezifischen Erscheinungsweise einer Sache kann entweder im antik-platonischen Horizont über die Idee dieser Sache führen oder über eine an Descartes’ radikale Zweifelsbetrachtung anknüpfende Reflexion auf jene Bewußtseinsakte, in denen die jeweilige Sache zur Erscheinung gelangt«.10 Die in Frage stehenden Bewußtseinsformen bieten sich der Reflexion mit bestimmten Qualitäten, die sich unmittelbar gewiß als das »Wesen der Vorstellung« (Im 16) enthüllen. ›Unmittelbar‹, so läßt sich mutmaßen, unterstreicht hier das Fehlen des Zwischenschrittes der eidetischen Variation. »Dieses Wesen«, so fügt Sartre hinzu, »ist das gleiche für jeden Menschen« (Im 16). Es handelt sich also um eine Invarianz, welche unabhängig von kulturellen und historischen Bedingungen besteht und völlig problemlos (›unmittelbar gewiß‹) aufzudecken ist. Sartre zufolge ignorieren »die meisten Psychologen« (Im 16) jedoch die Möglichkeit der Reflexion und stellen stattdessen »explikative Hypothesen über die Natur der Vorstellung« auf, die, wie grundsätzlich alle wissenschaftlichen Hypothesen, nur Wahrscheinlichkeit beanspruchen können (vgl. Im 16), wohingegen die Gegebenheiten der Reflexion gewiß sein sollen. Die erste Aufgabe des Psychologen, so fordert Sartre, besteht darin, das gewisse Wissen begrifflich zu bestimmen und zunächst also »die Theorien
6
Casey, ebd., 144. Casey, ebd. 8 Vgl. Cabestan, L’imaginaire. Sartre, 61. Von jener Skepsis, die Sartre in »Die Transzendenz des Ego« (TE, 60) gegenüber der Reflexion äußert und die zur Unterscheidung von reiner und komplizenhafter Reflexion führt, ist hier nichts zu bemerken. 9 Haardt, »Von den bloßen Worten zu den Sachen selbst«, 325. 10 Haardt, ebd., 332. 7
Die vier Grundcharakteristiken
77
außer acht (zu) lassen. Wir wollen nichts von der Vorstellung wissen, als was uns die Reflexion darüber lehrt« (Im 16). Auf diesem Wege wird eine »Phänomenologie der Vorstellung« (Im 17) durchgeführt, deren Methode Sartre folgendermaßen zusammenfaßt: »(I)n uns selbst Vorstellungen hervorrufen, über diese Vorstellungen reflektieren, sie beschreiben, das heißt ihre unterscheidenden Charakteristika zu determinieren und zu klassifizieren versuchen« (Im 17). Diese Wesensbeschreibung bringt vier Grundcharakteristika der Vorstellung zutage, die in den folgenden vier Abschnitten erörtert werden.
2. 1. Die vier Grundcharakteristiken 2. 1. 1. Die Vorstellung ist ein intentionales Verhältnis von Bewußtsein und Objekt Häufig gewinnt man, wie Sartre ausführt, in philosophischen und psychologischen Traktaten den Eindruck, die Vorstellung sei etwas im Bewußtsein wie ein Gegenstand in einem Behälter: Die Vorstellungen sind kleine Figuren, die das Bewußtsein bewohnen. Eine solche Konzeption, die auf einer Dominanz des räumlich orientierten Denkens beruht und eine »reification of the image«11 mit sich bringt, bezeichnet Sartre als »Immanenz-Illusion« (Im 17). Hume ist derjenige Philosoph, bei dem diese Position am deutlichsten artikuliert wird, indem er die Vorstellungen als weniger intensive Abbilder der Impressionen bestimmt. Sartre identifiziert, wie schon vorher in Die Imagination, Humes ideas mit den images, die das Thema des französischen Philosophen sind: »Diese Vorstellungen (idées) sind nichts anderes als das, was wir Vorstellungen (images) nennen« (Im 17 f.). Der Bezug der Vorstellung zum Gegenstand ist nach Humes Darstellung sekundär: Die Vorstellung eines Stuhls steht nur in äußerlicher Relation zum realen Stuhl; sie bezieht sich auf ein Stuhl-Abbild, sozusagen auf einen zweiten ›schwächeren‹ Stuhl im Bewußtsein, der die Eigenschaften des realen Stuhls teilt (vgl. Im 18). Sartre folgert, daß für Hume »(e)ine Vorstellung eines Stuhls haben heißt, einen Stuhl im Bewußtsein haben« (Im 18). In diesem Fall hat die Vorstellung jedoch einen sensuellen Gehalt. Die Immanenz-Illusion ist, wie Morgan erklärt, »the error of transferring all the qualities of sensible things; e. g. externality, spatiality, temporality, and the laws governing such objects into the realm of imaginary contents«.12
11 12
Casey, ebd., 142; vgl. auch Cabestan, ebd., 7. Morgan, ebd., 21.
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2. Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft
Diese Position ist nicht nur den meisten Psychologen und Philosophen eigen, sie findet sich darüber hinaus auch im Alltagsdenken.13 Jemand, der sagt, er habe eine Vorstellung von Peter, glaubt, er besitze in diesem Augenblick ein Porträt von Peter in seinem Bewußtsein. Gegenstand der Imagination ist genau dieses Porträt, der tatsächliche Peter ist nur insoweit auf eine eher äußerliche Weise getroffen, als er durch dieses Porträt wiedergegeben wird.14 Sartres Kritik an der Immanenz-Illusion beruht auf dem schon im ersten Teil der vorliegenden Arbeit erläuterten Bewußtseinsbegriff, der jeden Inhalt des Bewußtsein rigoros ausschließt. Das materielle Porträt würde wie das Ich (vgl. »Die Transzendenz des Ego«) die für die Intentionalität notwendige Transparenz verdunkeln. Es wäre ein unassimilierbares Objekt, das den Dingen der Außenwelt gliche und dennoch dem Bewußtsein immanent wäre – bzw., wie Waldenfels ironisierend schreibt, »als Fremdkörper im Bewußtsein herumgeistert(e)«.15 Durch diesen dinglichen Eindringling wäre das Bewußtsein den äußerlichen Kausalgesetzen unterworfen.16 Hält man sich dagegen an die Gegebenheiten der Reflexion, so wird die erfahrungswidrige Konstruktion des Immanentismus obsolet, denn die reflexive Betrachtung des imaginierenden Bewußtseins lehrt, daß der vorgestellte Gegenstand ebensowenig in der Vorstellung wie der wahrgenommene Gegenstand in der Wahrnehmung ist: »Meine Wahrnehmung ist, nach der Terminologie, für die wir uns entschieden haben, ein bestimmtes Bewußtsein, und der Stuhl ist das Objekt von diesem Bewußtsein. Nun schließe ich die Augen und rufe die Vorstellung des Stuhls hervor, den ich gerade wahrgenommen habe. Der Stuhl, der sich jetzt als Vorstellung gibt, kann ebensowenig wie vorher in das Bewußtsein gelangen. Die Vorstellung eines Stuhls ist kein Stuhl und kann es nicht sein. Dieser Strohstuhl, auf dem ich sitze, gleichgültig, ob ich ihn wahrnehme oder ob ich ihn mir vorstelle, bleibt immer außerhalb des Bewußtseins. In beiden Fällen ist er da, im Raum, in diesem Zimmer, am Schreibtisch« (Im 19 f.).17 Die Reflexion zeigt dabei vor allem, daß das Vorstellungsobjekt mit dem Wahrnehmungsobjekt »identisch« (Im 20) ist. D. h. auch die Imagination 13
Der Standpunkt der Psychologen und Philosophen hinsichtlich des Imaginären ist »auch der des gesunden Menschenverstandes« (Im 18). 14 Vgl. Bossart, ebd., 37. 15 Waldenfels, ebd., 76. 16 Vgl. Cabestan, ebd., 58; Wiesing, ebd., 259; Casey, ebd., 143; Jeanson, ebd., 80, 85; Morgan, ebd. 20, vgl. auch ebd., 31: »(T)he illusion of immanence may be seen as extremely dangerous since it radically denies the very nature of consciousness and its ontological status«. Morgan ist allerdings nicht der Ansicht, daß es Sartre in Das Imaginäre gelingt, den Immanentismus zu widerlegen (ebd., 31). 17 Casey weist darauf hin, daß Husserls Intentionalität hier als »a specific remedy for the illusion of immanence« fungiert (ebd., 143). Vgl. auch das erste Kapitel.
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bezieht sich auf den realen Gegenstand und nicht auf ein von diesem unterschiedenes Vorstellungsobjekt, das das Wahrnehmungsobjekt abbildet oder kopiert. Strenggenommen gibt es demnach kein eigentliches Vorstellungsobjekt: »Das Bewußtsein bezieht sich einfach in zwei verschiedenen Weisen auf diesen gleichen Stuhl. In beiden Fällen zielt es auf den Stuhl in seiner konkreten Individualität, in seiner Körperlichkeit. Nur wird der Stuhl im einen Falle ›angetroffen‹ durch das Bewußtsein, im andern nicht« (Im 20). Imagination und Wahrnehmung sind zwar radikal getrennt – und diese »Trennung und Gegenüberstellung« stellt nach Wiesing »das Fundament der gesamten Phänomenologie Sartres«18 dar. Dennoch besteht zugleich eine Identität zwischen Wahrnehmungs- und Vorstellungsobjekt: Ob wahrgenommen oder vorgestellt, der Gegenstand ist in beiden Fällen derselbe reale Stuhl.19 Wenn es kein Stuhl-Abbild-Ding gibt, das sich im Bewußtsein aufhält und sich nur extern auf den realen Stuhl bezieht, sondern vielmehr eine Identitiät der Objekte festzustellen ist, dann kann mit Ricœur festgehalten werden: »(I)t is the object of perception which gives an object to the picture«.20 Die Vorstellung ist eine bestimmte synthetische Organisation, die ihrem Wesen gemäß unmittelbar, d. h. ohne abbildendes Zwischenglied bzw. Porträt, den wirklichen Stuhl intendiert: »I imply that my act of consciousness is directed only at the real Peter and not at any private mental object such as an image«.21 Ist das Objekt der Vorstellung, wie es nun heißt, der reale Stuhl, so kann dessen esse keineswegs, wie vorher für das Bild geltend gemacht wurde, ein bloßes percipi sein, sondern es muß als ein An-sich-sein aufgefaßt werden. Es gibt hier also eine gewisse Spannung einerseits zwischen der Absicht, die Differenz der Phänomene zu gewährleisten, und andererseits dem Bestreben, das Bewußtsein von Abbildern bzw. Porträts rein zu halten. Eine Unterscheidung, so hat sich gezeigt, ist nur dann möglich, wenn das Bild nicht sinnlich, d. h. keine wiederauflebende Wahrnehmung ist. Würde die Imagination eine solche – selbst wieder reale – Kopie des Realen intendieren, dann, so Sartres Befürchtung, wäre sie von der Wahrnehmung nicht zu unterscheiden, bzw. man könnte die tatsächlich ja problemlos vollzogene Trennung nicht mehr verstehen. Die Eliminierung dieser Abbilder, d. h. also die Zurückweisung der Immanenz-Illusion, bedeutet jedoch folgerichtig, daß das Objekt des imaginierenden Bewußtseins der reale Tisch ist. Anstelle einer schwächeren Wahr-
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Wiesing, ebd., 258. Diese Auffassung deutet sich schon in Die Imagination an: Das Objekt der Vorstellung, so heißt es dort, »ist zwar derselbe Bogen, der gegenwärtig auf meinem Schreibtisch ist, aber er existiert anders«, d. h. er »existiert nicht de facto«, sondern »als Bild« (TE 98). 20 Ricœur, ebd., 171. 21 Bunting, ebd., 238. 19
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nehmung hat es das Bewußtsein nun paradoxerweise gleich mit der ›wirklichen‹ Wahrnehmung zu tun. Der Dualismus ist zwar die Voraussetzung der Widerlegung der Immanenz-Illusion, wie Morgan richtig sieht22 – aber dieser Dualismus der Intentionalität trifft sozusagen auf einen Monismus des intentionalen Objekts, der die von den Phänomenologen hervorgehobene Korrelation von Noesis und Noema zu ignorieren scheint: »(O)ne must distinguish between seeing a chair and imagining a chair not by distinguishing the nature of a chair from that of an image and then saying that in imagination one sees the one kind of thing and in perception the other. It is rather that the object both of perception and of imagination is the same thing, namely the chair, and that we are conscious of the chair in two different ways«.23 Sartre bestimmt die Vorstellung nicht als ein Objekt, sondern als ein spezifisches »Verhältnis« (Im 21) zwischen Bewußtsein und Objekt: »(A)nders gesagt, es ist eine bestimmte Weise, dem Bewußtsein zu erscheinen, die das Objekt hat, oder, wenn man so will, eine bestimmte Weise, sich ein Objekt zu geben, die das Bewußtsein hat« (Im 20). In der Imagination erscheint also dasselbe Objekt wie in der Wahrnehmung. Es erscheint jedoch auf andere Weise als in der Wahrnehmung, ohne daß es paradoxerweise deswegen aufhörte, das Wahrnehmungsobjekt zu sein, da die Imagination keine eigenen Objekte besitzt. Intentionales Objekt ist der reale – also wahrgenommene bzw. wahrnehmbare – Peter als Vorstellung, der nicht als der wahrgenommene Peter erscheint und trotzdem kein Abbild, also kein anderes Objekt ist als in der Wahrnehmung.24 Um der Immanenz-Illusion zu entgehen, ist es notwendig, auf die Formulierung zu achten: Ich habe kein Bewußtsein der Vorstellung von Peter – in diesem Fall wäre die Vorstellung das Objekt –, sondern ich habe ein Bewußtsein von »›Peter-als-Vorstellung‹ oder ›Bewußtsein, Peter vorstellend‹« (Im 21). Peter ist nicht über ein Porträt angezielt, sondern »unmittelbar betroffen, meine Aufmerksamkeit ist nicht auf eine Vorstellung gerichtet, sondern auf ein Objekt« (Im 21). Die Vorstellung ist kein Element innerhalb des Bewußtseins, sie ist selbst ein Bewußtsein.25 Morgan bemerkt hierzu: Sartre »wants to explode the myth that imaginary objects form a 22
Morgan, ebd., 21. Vgl. Warnock, »Sartre in Imagination«, 324; siehe auch Bunting, ebd., 236: Sartre »concludes, like Ryle, that imagining and perceiving can only be distinguished by reference to these activities themselves. Imagining and perceiving, Sartre contends, are two mutually exclusive activities, directed at the same objects – viz. at the objects of perception«. 24 Vgl. Warnock, ebd., 324. 25 Auch das Objekt, das nicht unabhängig von mir existiert, ist Sartres Ansicht nach hiermit zutreffend erfaßt, denn »gerade die Chimäre existiert nicht ›als Vorstellung‹. Sie existiert weder so noch anders« (Im 21, Fußn. 1). Diese lapidare Bemerkung ist allerdings 23
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seperate realm of being since Sartre argues that an image is nothing more than a relationship«.26
Exkurs: Ryle und die Kritik der Immanenz-Illusion In Ryles Buch Der Begriff des Geistes (Concept of Mind, 1949) findet sich eine ganz ähnlich orientierte Kritik an der sowohl von »Laien« als auch von »Fachleuten« vertretenen Auffassung, »die den Geist als den verborgenen Wohnsitz« oder als »Schauplatz«27 der Vorstellungen versteht.28 Trotz aller Differenz der philosophischen Herkunft und Vorgehensweise29 besteht insofern eine deutliche »convergence in their polemical concerns«, als beide Autoren sich gegen denselben Gegner wenden.30 Auch wenn der von Sartre stammende Begriff der Immanenz-Illusion bei Ryle so nicht vorkommt, so entwickelt er doch seine eigene Konzeption in der Abkehr von der These des Immanentismus und kommt zu ganz ähnlichen Ergebnissen: »The purpose and conclusions of Sartre’s analysis of imagination are remarkably similar to Ryle’s«.31 Nach Ryle existieren weder die vorgestellten Objekte wirklich, noch kann davon die Rede sein, daß sie wirklich gesehen, gehört usw. werden, in dem Sinne wie die Dinge der Außenwelt gesehen, gehört usw. werden. »So wie etwa ein Bühnenmord kein Opfer fordert und kein Mord ist, kann man etwas im Geiste sehen unabhängig von der Existenz des Gesehenen oder dem Ereignis von Sehakten. Es wird also kein Zufluchtsort gebraucht, in dem sie existieren oder sich ereignen könnten«.32
kaum geeignet, das von Sartre an dieser Stelle eher vernachlässigte Problem der reinen Fiktion erschöpfend zu behandeln. 26 Morgan, ebd., 22 f.; siehe hierzu Casey, ebd., 143: »(T)o posit images as mini-things is to duplicate needlessly the universe of entities« (vgl. hierzu auch Audi, »The Ontological Status of Mental Images«). 27 Ryle, Der Begriff des Geistes, 335. 28 Ryle erwähnt Sartres Werk im Kapitel über die Vorstellung in Der Begriff des Geistes an keiner Stelle; er hat jedoch an späterer Stelle selbst die Nähe zu Sartre hervorgehoben (vgl. »Phenomenology versus ›The Concept of Mind‹«, 193). 29 Vgl. Ricœur, ebd., 173: »(T)he idea that the philosopher has the task of grasping an essential structure of imagination is foreign to him [gemeint ist Ryle – Anm. J. B.]. Instead of an ›eidetics‹, Ryle in Concept of Mind, prefers to start from the loose enumeration of the sorts of behavior that we should ›ordinarily and correctly‹ describe as imaginative«. Der radikalste Unterschied besteht in den »fundamental assumptions concerning the mind or consciousness« (ebd., 175). Dennoch fügt Ricœur hinzu: »(L)inguistic analysts and phenomenologists have a great deal in common in their practice of description« (ebd., 174). 30 Ricœur, ebd., 174. 31 Bunting, ebd., 236; vgl. Morgan ebd., 29. 32 Ryle, Der Begriff des Geistes, 335 f.
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Die Frage, wo die Vorstellungen sich befinden, erweist sich für Ryle bei genauerer Betrachtung als eine »Scheinfrage«,33 stattdessen nimmt er – auch hierin ähnlich wie Sartre – eine deutliche Unterscheidung von Wahrnehmung und Vorstellung an, um die von Sartre so genannte ›Immanenz-Illusion‹ zu vermeiden und in eins die »irreducibility of the image«34 zu sichern: »Sehen und sich etwas vorstellen sind zwei ganz verschiedene Dinge«.35 Anders als die phänomenologische Beschreibung der Bewußtseinsgegebenheiten, die Sartre beansprucht, versucht Ryle als Vertreter der analytischen Philosophie, seine These durch die Art und Weise zu fundieren, wie die Menschen üblicherweise über ihre Vorstellungen sprechen und schreiben. Anhand des konventionellen Sprachgebrauchs zeigt sich, daß die Ausdrücke ›lebendig‹, ›naturgetreu‹ oder ›lebensecht‹ zwar angebracht sind, wenn jemand das »Heim seiner Kindheit« vor sich ›sieht‹, niemand würde jedoch mit diesen Prädikaten dasjenige qualifizieren, das wirklich »vor seiner Nase liegt«,36 also gesehen wird. Offenbar sind die sprachlichen Gepflogenheiten für Ryle der Hinweis darauf, daß die Menschen immer schon zwischen Sehen und Vorstellen unterscheiden. Ebenso wie Sartre nennt auch Ryle innerhalb der Philosophie Hume als den Hauptverantwortlichen für die Verwirrungen zwischen Wahrnehmung und Vorstellung: »Both Ryle and Sartre agree that Hume ought to be the major focus of attack when it comes to exposing the origin of the philosophical doctrine of immanentism«.37 Hume sucht »vergeblich nach einer klaren Trennungslinie«, wenn er Eindrücke und Ideen nur durch ihren Intensitätsgrad unterscheiden will: Da Eindrücke auch ausgesprochen schwach sein können und Ideen ebensowenig »mit dem Aufdruck ›Kopie‹ oder ›Abbild‹ erscheinen«,38 wie Eindrücke »mit dem Stempel ›Original‹ oder ›Urbild‹« ist nie sicher, ob etwas ein Eindruck oder eine Idee ist. Demgegenüber betont Ryle den »entscheidende(n) Unterschied«39 zwischen Sehen und ›Sehen‹, der durch Humes Lehre nivelliert wird: »Humes Irrtum bestand darin anzunehmen, ›sehen‹ sei eine Art von sehen, und ›Wahrnehmung‹ der Name einer Gattung, von der es zwei Arten gibt, nämlich Eindrücke und Gespenster oder Echos von Eindrücken. Es gibt keine solchen Gespenster, und wenn es sie gäbe, dann wären sie nur
33
Ryle, ebd., 335. Ebd., 167. 35 Ebd., 336. Wiesing bemerkt bei beiden Autoren vor allem eine Übereinstimmung hinsichtlich der schroffen Opposition zwischen Imagination und Wahrnehmung (ebd., 262; Fußn. 2). 36 Ryle, ebd., 336. 37 Morgan, ebd., 26. 38 Ryle, ebd., 341. 39 Ebd., 341. 34
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wieder weitere Eindrücke; und sie würden zum Sehen gehören, nicht zum ›Sehen‹«.40 Hume versucht, Ideen und Eindrücke auseinanderzuhalten, indem er sagt, letztere seien lebendiger. Ryle entgegnet jedoch, daß die Lebendigkeit als Unterscheidungskriterium versagt, gleichgültig ob ›lebendig‹ 1. ›lebhaft‹ oder 2. ›intensiv‹, ›scharf‹ oder ›stark‹ bedeutet. Im ersten Fall kann zwar etwas lebendig vorgestellt werden oder eine Idee kann lebhafter als eine andere sein, dagegen kann ein Eindruck, wie Ryle meint, nicht lebhaft genannt werden: »Eindrücke können überhaupt nicht als lebhaft beschrieben werden, genauso wie eine Puppe lebensechter als eine andere, aber ein Baby weder lebensecht noch lebensunecht sein kann. Die Behauptung, der Unterschied zwischen Babys und Puppen bestünde darin, daß Babys lebensechter seien als Puppen ist offenkundiger Unsinn«.41 Nimmt man dagegen an, Hume meine mit ›lebendig‹ eher ›intensiv‹, so weist Ryle auf folgende Schwierigkeit hin: Natürlich kann ein Eindruck intensiver oder stärker als ein anderer sein, aber Eindrücke und Ideen können hinsichtlich ihrer Intensität nicht miteinander konkurrieren. Vorstellungen können nicht mehr oder weniger intensiv als Eindrücke sein: »Wenn ich mir vorstelle, einen großen Lärm zu hören, höre ich weder ein lautes noch ein leises Geräusch; ich habe keine schwache auditive Empfindung, da ich überhaupt keine auditive Empfindung habe, obwohl ich mir vorstelle, eine starke zu haben«.42 Eindrücke und Ideen hinsichtlich ihrer Intensität aneinander zu messen und dadurch einer identischen Kategorie zuzuordnen, käme für Ryle dem Versuch gleich, zwei Typen von Mördern zu unterscheiden, eben jene, die wirklich Menschen umbringen, und jene, die im Theater die Rolle von Mördern übernehmen. Vorstellungen sind ebensowenig schwache Wahrnehmungen, wie Scheinmörder schwache, wirkliche Mörder sind: »Genau wie Scheinmorde gar nicht Morde sind, so sind vorgestellte Anblicke und Geräusche gar nicht Anblicke und Geräusche. Sie sind daher auch nicht trübe Anblicke oder leise Geräusche. Und sie sind auch nicht Privatanblicke oder –geräusche«.43 Der Scheinmord ist kein schwacher Mord, sondern überhaupt kein Mord. Die Frage, wo ich das Opfer meines Scheinmordes versteckt habe, ist ebenso wie die Frage, wo die Gegenstände existieren, die wir uns zu sehen vorstellen, eine »Scheinfrage […], denn es gibt keine solchen Gegenstände«.44 Hierin liegt nichts Geheimnisvolles, erklärt Ryle fortfahrend, da wir schon »seit un40 41 42 43 44
Ebd., 342. Ebd.. Ebd. Ebd., 343. Ebd.
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serer Kindheit«45 wissen, wann wir von Leuten sagen können, daß sie sich vorstellen, etwas zu sehen oder zu hören. Das Problem taucht erst auf, wenn wir diese Vorgänge interpretieren und dabei in eine Ausdrucksweise fallen, die sich an der sinnlichen Wahrnehmung orientiert: »Wir verfallen in diese Ausdrucksweisen, sobald wir sagen, das Sicheinbilden, man sähe einen Drachen, bestehe im Sehen einer wirklichen Dracheneinbildung oder eines wirklichen Drachenphantoms, oder das Vortäuschen, man beginge einen Mord, im Begehen eines wirklichen Scheinmordes oder das anscheinende Hören einer Melodie im Hören einer wirklichen psychischen Melodie«.46 Auch hier trifft sich Ryle mit Sartre, wenn er geltend macht, daß sich erst auf der Ebene der Deutungen und der explikativen Hypothesen die Fehleinschätzung einschleicht. Wie kommt es aber nun zur Fehldeutung der Vorstellung, die Ryle beklagt? Aus der Dominanz des Sehens gegenüber den anderen Sinnen folgt, daß auch die »visuelle Vorstellungskraft«47 am besten entwickelt ist, daher wird über die Vorstellung generell vorwiegend mit Begriffen aus dem Bereich des Sehens (‚etwas vor dem geistigen Auge sehen‹, ›sich etwas ausmalen‹ usw.) gesprochen. Es lassen sich nun innerhalb des Gegenstandsbereichs der visuellen Wahrnehmung sichtbare Dinge und sichtbare Abbilder unterscheiden, d. h. es gibt »sowohl Köpfe wie Porträts, sowohl Unterschriften wie auch Fälschungen von Unterschriften, sowohl Berge wie auch Aufnahmen von Bergen, sowohl kleine Kinder wie auch Puppen«.48 Diese Unterscheidbarkeit im Bereich der sichtbaren Gegenstände führt nun fälschlicherweise dazu, »die Ausdrücke, mit denen wir Vorstellungen beschreiben, in einer entsprechenden Weise auszulegen«.49 Daher ist man dazu verleitet anzunehmen, daß jemand, der sich sein Kinderzimmer vorstellt, nicht sein Kinderzimmer ›sieht‹, sondern ein sichtbares Objekt, nämlich das Abbild seines Kinderzimmers wirklich sieht. Dieses rätselhafte Objekt ist allen anderen unzugänglich, sie können es nicht betrachten. Üblicherweise wird Ryle zufolge dann gesagt, es befinde sich im Geist des Vorstellenden; da das körperliche Auge nur Gegenstände sieht, die jedem Sehenden zugänglich sind, muß das Abbild des Kinderzimmers also vom geistigen Auge gesehen werden. Dies ist sozusagen nach Ryles Darlegung der Ursprung der Immanenz-Illusion: »So pflichten wir also unversehens der Theorie bei, daß ›sehen‹ schließlich doch sehen ist, und daß das, was
45
Ebd., 344. Ebd. 47 Ebd., 337. 48 Ebd., 337 f. Anders als Sartre rechnet Ryle also die Porträts und Fotos zum Bereich der Wahrnehmung. 49 Ebd., 338. 46
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er ›sieht‹, ebenso ein treues Abbild ist und ebenso wirklich von ihm gesehen wird wie das Ölgemälde, das jedermann sieht«.50 Ryle bestreitet jedoch, daß die Vorstellungen gesehen werden: Es gibt keine Abbilder, die sich – wenn auch »vorübergehend«51 – im Geist aufhalten: Der legitime und nützliche Begriff des Sichvorstellens oder ›Sehens‹ bedeutet nicht, daß ein Abbild »wie eine fotografische Aufnahme«52 gesehen wird: »Es wird nicht ein wirkliches Leben draußen von blutlosen Ähnlichkeiten innen nachgeahmt«.53 Ryle zeigt am Beispiel des vorgestellten Geruchs, daß die Unterscheidung von Original und Kopie unzulänglich für die Beschreibung von Vorstellungen ist. Der vorgestellte Geruch einer ›gesehenen‹ Schmiede kann den realen Lavendelduft nicht verdrängen: Auch wenn jemand lebhaft ›riecht‹, so weiß er doch, daß er nichts riecht:54 »Wenn aber die Theorie richtig wäre, daß das ›Riechen‹ von Rauch wirklich das Riechen einer Rauchkopie wäre, könnte er auf keine Art zwischen ›riechen‹ und riechen unterscheiden, die den Methoden entspricht, mit denen zwischen dem Betrachten von Gesichtern und dem Betrachten von Kopien von Gesichtern, oder dem Hören von Stimmen und dem Hören von Grammophonplatten von Stimmen unterschieden wird«.55 Im Bereich des Sehens und Hörens gibt es die Möglichkeit, Dinge und ihre Kopien zu unterscheiden: Das Bild ist zweidimensional, es besitzt einen Rahmen, anders als das, was auf ihm abgebildet ist, kann ich es zerreißen. Ebenso kann ich, wie Ryle erklärt, »mit Hilfe gewisser mechanischer Kriterien«56 zwischen der Grammophonaufnahme und der Stimme selbst unterscheiden, aber das Schema von Original und Kopie versagt völlig im Falle des Geruchs oder Geschmacks und der Nachahmung des Geruchs oder Geschmacks: »(J)a es ist sinnlos, solche Wörter wie ›Nachahmung‹, ›Imitation‹ und ›Attrappe‹ auf Gerüche, Geschmäcke und Gefühle anzuwenden. Daher sind wir nicht versucht zu sagen, daß jemand, der eine Schmiede ›riecht‹, wirklich ein Faksimile oder eine Nachbildung von irgend etwas riecht. Er scheint oder bildet sich ein, etwas zu riechen, aber wir haben keine Redensart, so als ob es eine innere Geruchskopie gäbe, oder ein Geruchsfaksimile oder ein Geruchsecho. In diesem Fall ist es also klar, daß etwas ›riechen‹ nicht
50
Ebd.; vgl. Morgan, ebd., 27 f. Ryle, ebd., 338. 52 Ebd., 339. 53 Ebd., 340. 54 Jemand, der sich im Delirium befindet, und die Vorstellung für real hält, würde nicht sagen, daß der Geruch lebhaft ist, sondern daß er stark ist (vgl. ebd., 346). Dies legt den Schluß nahe, daß Ryle die Halluzination wie Husserl (vgl. Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung, 5) den Wahrnehmungen zuordnet. 55 Ryle, ebd., 346. 56 Ebd. 51
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riechen impliziert und daher auch, daß sich etwas vorstellen nicht eine Abbildung wahrnehmen heißt, da es überhaupt kein Wahrnehmen ist«.57 »Träumen« ist »nicht der Besuch einer privaten Kinovorstellung«,58 so als würde der Träumer eine geistige Leinwand betrachten. Ryle erklärt zusammenfassend: »Kurz, es gibt keine solchen Objekte wie geistige Bilder, und wenn es solche Objekte gäbe, dann wäre sie sehen noch immer nicht dasselbe wie scheinbar Gesichter oder Berge sehen. Wir stellen uns Gesichter oder Berge vor, genauso wie wir, nicht ganz so oft, versengte Hufe ›riechen‹; aber sich ein Gesicht oder einen Berg vorstellen besteht nicht darin, ein Bild des Gesichts oder des Berges vor uns zu haben«.59
2. 1. 2. Die Quasi-Beobachtung Vorstellungen sind, wie im Abschnitt vor dem Ryle-Exkurs deutlich geworden ist, keine Bewußtseinselemente, sondern »vollständige Bewußtseinsformen« (Im 21). Um das Wesen dieser Bewußtseinsformen genauer zu bestimmen, vergleicht sie Sartre mit dem Denken und der Wahrnehmung. Nachdem er im zweiten Abschnitt von Das Imaginäre die Identität von Vorstellungs- und Wahrnehmungsobjekt behauptet hat, rufen die folgenden Abschnitte 3 bis 5 eher Verwirrung hervor, da Sartre hier Wesenszüge des Vorstellungsobjekts enthüllt, die das Wahrnehmungsobjekt nicht teilt. Die Wahrnehmung zeichnet sich dadurch aus, daß ich in ihr Gegenstände beobachte, wobei diese sich hier wesensnotwendig immer nur von jeweils einer Seite präsentieren. So kann ich etwa in dem von den Phänomenologen häufig verwendeten Beispiel des Würfels aus jeder Perspektive höchstens drei der insgesamt sechs Würfelflächen gleichzeitig erfassen:60 »Ich muß sie also nacheinander sehen« (Im 22). Die Gefahr besteht, daß beim Übergang von der Fläche ABC zur Fläche BCD die Fläche A, die aus meinem Wahrnehmungsfeld verschwindet, sich verändert oder sogar aufgehört hat zu existieren. Sartre bezieht sich an dieser Stelle auf den von Husserl erwähnten Innenhorizont der Wahrnehmungsgegenstände, womit all jene Abschattungen gemeint sind, die aus meiner gegenwärtigen Perspektive nicht selbst präsent, aber dennoch mitgegeben, also appräsentativ erfaßt sind.61 Da ich nicht alle 57
Ebd., 346 f. Ebd., 349. 59 Ryle, ebd., 348 f. 60 Vgl. Cabestan, ebd., 7 f. 61 Husserl erläutert das Zusammenspiel von Präsentation und Appräsentation ebenfalls ausführlich im Zusammenhang mit der Konstitution des alter ego in den Cartesianischen Meditationen. 58
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Seiten des Würfels auf einen Schlag wahrnehmen kann, bleibt die Existenz des Würfels immer »zweifelhaft« (Im 22). Die Evidenz der Wahrnehmung ist immer inadäquat; in diesem Sinne »gehört zum Urwesen der Korrelation äußere Wahrnehmung und körperlicher ›Gegenstand‹ diese fundamentale Scheidung von eigentlich Wahrgenommenem und eigentlich Nichtwahrgenommenem. Sehen wir den Tisch, so sehen wir ihn von irgendeiner Seite, und diese ist dabei das eigentlich Gesehene; er hat noch andere Seiten. Er hat eine unsichtige Rückseite, er hat unsichtiges Inneres, und diese Titel sind eigentlich Titel für vielerlei Seiten, vielerlei Komplexe möglicher Sichtigkeit. Das ist eine sehr merkwürdige Wesenslage«.62 »Der Würfel«, so schließt Sartre aus der Reflexion auf die Wahrnehmung, »ist mir durchaus präsent, ich kann ihn berühren, sehen; aber ich sehe ihn immer nur auf eine bestimmte Weise, die nach einer Unendlichkeit anderer Gesichtspunkte ruft und sie gleichzeitig ausschließt« (Im 22). Das Objekt gibt sich in einem prinzipiell unabschließbaren Lernprozeß, in dem ich die potentiellen Aspekte vervielfachen kann, ja es ist selbst im Grunde nichts anderes als »die Synthese aller dieser Ansichten« (Im 22). Ich lerne jedes Objekt erst allmählich kennen, ich erweitere mein Wissen über es, und in jedem Moment kann es mich durch seinen Horizont an Unbestimmtheiten überraschen und enttäuschen: »In perception I observe objects and I learn from my observations, for a perceptual object is never given to consciousness completely and at one at the same time«.63 Wenn ich dagegen vermittels eines Begriffs an einen Würfel denke, so sind seine sechs Seiten und die acht Winkel gleichzeitig intendiert, indem ich einfach denke, »daß seine Winkel rechte sind und seine Seiten Quadrate« (Im 23). Die Wahrnehmung konstituiert die synthetische Einheit eines Objekts in einem fortschreitenden Prozeß beständigen Lernens aus der Mannigfaltigkeit der erscheinenden Aspekte, wohingegen sich das Denken »auf einen Schlag in das Zentrum des Objektes setzt«, d. h. es denkt »in einem einzigen Bewußtseinsakt« (Im 23) die Wesensbestimmungen, die sich in der Wahrnehmung nacheinander entfalten. Und dies ist für Sartre »zweifellos die sauberste Unterscheidung zwischen dem Denken und der Wahrnehmung« (Im 23).64 Beide Bewußtseinsformen sind deshalb Sartre zufolge »völlig verschiedene Phänomene« (Im 23).65 62
Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, 4. Bossart, ebd., 38. 64 Vgl. zum Wahrnehmen und Denken eines Würfels Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 239 f.; Das Sichtbare und das Unsichtbare, 259 f. Vgl. auch Fink, der dieses Verhältnis als Gegenüberstellung von »Anschauung« und »Leerbewußtsein« begreift (»Vergegenwärtigung und Bild«, 60). 65 Vgl. Bossart, ebd., 38 f. 63
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Die Vorstellung ähnelt zunächst eher der Wahrnehmung, denn auch in ihr schattet sich ein Objekt, z. B. der Würfel, ab, aber er gibt sich in ihr unmittelbar als ein solcher.66 Die Wahrnehmung, die den Würfel setzt, stellt eine Hypothese an, die die im folgenden sich präsentierende Erscheinungsmannigfaltigkeit des wahrgenommenen Objekts in Frage stellen kann (z. B. kann sich die Häuserfront nach meinem Standortwechsel als bloße Fassade herausstellen). Stellt die Vorstellung dagegen fest, daß das Objekt, das sie intendiert, ein Würfel ist, so kann sie sich niemals täuschen; dieses Urteil hält Sartre für »absolut gewiß« (Im 23):67 »In der Wahrnehmung bildet sich ein Wissen langsam; in der Vorstellung ist das Wissen unmittelbar« (Im 23). Die Vorstellung ist demnach an keinen Lernprozeß gebunden; sobald das vorgestellte Objekt erscheint, weiß ich, was es ist. Sartre illustriert diese These, die Vorstellung könne keinen Zuwachs an Wissen bieten, am Beispiel eines Blattes Papier: »Sehen wir uns dieses Blatt Papier hier auf dem Tisch an. Je mehr wir es betrachten, um so mehr enthüllt es uns von seinen Besonderheiten. Jede Neuorientierung meiner Aufmerksamkeit, meiner Analyse zeigt mir ein neues Detail: der obere Blattrand ist ein wenig gewellt; die dritte Linie geht in Punkte über usw. Nun kann ich eine Vorstellung, solange ich will, im Blick halten: ich werde immer nur das, was ich hineingelegt habe, bemerken« (Im 24). Wesentlich ist diese Erkenntnis für die Differenz von Vorstellung und Wahrnehmung: Das Wahrnehmungsding ist charakterisiert durch eine Unendlichkeit von Relationen zu anderen Dingen (vgl. Husserls Außenhorizont) sowie durch die Unendlichkeit der Relationen innerhalb des gesehenen Dinges (vgl. Husserls Innenhorizont). Daher spricht Sartre von einem »Überfluß« (Im 24; vgl. auch WE 132, FM 55) im Bereich der Wahrnehmungen: In jedem Moment existiert mehr als in dem gegenwärtigen Wahrnehmungsakt erfaßt werden kann, die momentane Wahrnehmung intendiert einen »Reichtum« (Im 24), der nur nach und nach in einer unendlichen Zeitspanne in den Blick kommen kann.68 Nach Sartre ist »diese Art des ›Überfließens‹ […] konsti-
66
Wiesing spricht von einer »Zwischenstellung« der Imagination zwischen Wahrnehmen und Denken (ebd., 260). 67 Zu diesem Ergebnis kommt auch Casey: »The uneliminable uncertainty of perceptual experience stands in stark contrast with the unqualified certainty that charakterizes imaginative experience. I can be perfectly confident that everything I imagine is just as it appears to me. This means that in imagining there is no prospect – indeed, no possibility – of being in error as to the character of what I imagine. Nor can mistaken judgments occur when there is no such thing as misapprehension in the first place. In short, although I can misperceive, I cannot misimagine« (Imagining, 167). 68 Vgl. Kuehl, ebd., 217: »One of the necessary conditions of perception is the possibility of successive and harmonious articulation of references«. Vgl. auch zum Lernen als Eindringen in die Horizonte: Schütz, Das Problem der Relevanz, Kap. II, C.
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tutiv für die Natur der Objekte selbst« (Im 24). Kein Wahrnehmungsobjekt existiert also »ohne eine unendliche Anzahl von bestimmten Beziehungen zu einer unendlichen Anzahl von anderen Objekten« (Im 24). Zum Vorstellungsobjekt, das nur ist, weil es erscheint, gehört dagegen »eine Art wesenhafter Armut« (Im 24).69 Es hat keinerlei Beziehung zum restlichen Universum, und die wenigen Elemente unterhalten ausschließlich nur diejenigen Beziehungen, die ich gegenwärtig erfasse. Im Unterschied zum Wahrgenommenen existiert dasjenige nicht, was im aktuellen Vorstellungsbewußtsein nicht erscheint. Darum gibt es nichts in einem kontinuierlichen Lernprozeß zu entdecken: »Man kann nicht behaupten, daß die anderen Beziehungen heimlich existieren, daß sie auf einen Lichtstrahl warten, der auf sie fällt. Nein – sie existieren gar nicht« (Im 24 f.). Da das Vorstellungsobjekt ausschließlich existiert, wenn und insoweit es erscheint, kann es keine wiederauflebende, frühere Wahrnehmung sein (vgl. Im 25). Zusammenfassend erklärt Sartre: »Mit einem Wort, das Wahrnehmungsobjekt übersteigt dauernd das Bewußtsein; das Vorstellungsobjekt ist nie mehr als das Bewußtsein, das man von ihm hat, es definiert sich durch dieses Bewußtsein: man kann nichts von einer Vorstellung erfahren, als man schon weiß« (Im 25).70 Da wir uns gegenüber dem vorgestellten Objekt zwar in einer Art Beobachtungshaltung befinden, aber dennoch nichts Neues erfahren können,71 charakterisiert Sartre diese spezielle Einstellung als »›Quasi-Beobachtung‹« (Im 26).72 Wenn die Imagination eine wiederauflebende Wahrnehmung wäre, könnte ich mir Peter vorstellen und beobachten, daß heißt, die Augenfarbe erfahren, an die ich mich erinnern will. Es gäbe dann keine Quasi-Beobachtung: Ich könnte von der Vorstellung, die ich evoziere, etwas Neues erfahren wie von der Wahrnehmung, insofern erstere nur eine Kopie wäre. Nach Sartre kann dagegen in der Vorstellung nichts erscheinen, was über mein Wissen hinausgeht.73 Die im Abschnitt über die Immanenz-Illusion aufgewiesene Problematik fängt nun erst an, sich in ihrer ganzen Tragweite abzuzeichnen: In der Absicht, den Immanentismus zurückzuweisen, insistiert Sartre auf der Identität
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Vgl. Wiesing, ebd., 259 f. Vgl. Bossart, ebd., 39. 71 Vgl. Flynn, »The Role of the Image in Sartre’s Aesthetic«, 432; Casey, »Sartre on Imagination«, 144. 72 Der Sache nach beschreibt Ryle ganz ähnlich wie Sartre die Objekte der Vorstellung, wenn auch der Begriff ›Quasi-Beobachtung‹ bei ihm nicht auftaucht: »A person at a concert may be listening to a piece of music that is strange to him, so that he is then and there trying to learn how it goes; but a person who goes over a tune in his head must already have learned and not yet forgotten how the tune goes […]. He must be thinking how it goes, in its absence« (»Phenomenology versus ›The concept of mind‹«, 194). 73 Warnock findet Sartres Argumente »against the suggestion that images are the kinds of things which can be looked at or examined […] very powerful« (ebd., 325). 70
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2. Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft
von Vorstellungs- und Wahrnehmungsobjekt, während er nun Differenzen nachweist, die eher einen entschiedenen Dualismus als eine Übereinstimmung, geschweige denn eine Identität, nahelegen. Wenn Imagination und Wahrnehmung nur zwei verschiedene Weisen sind, sich auf dasselbe Objekt – nämlich das reale, wahrgenommene Objekt – zu beziehen, inwiefern kann Sartre dann überhaupt noch von einem irrealen Objekt sprechen? Was also genau zeigt sich in der Quasi-Beobachtung? Wenn sich etwas anderes als das Wahrnehmungsobjekt zeigt, stellt sich die Frage, ob Sartre nicht wieder in die Immanenz-Illusion zurückfällt. Ist es dagegen das Reale selbst, so wäre zu klären, wie dieses nun auf eine völlig andere, der Wahrnehmung konträre Weise erscheinen kann. Sartre leugnet nicht, daß in der Imagination ein Gegenstand erscheint, aber insofern das Gemeinte der Imagination der reale Wahrnehmungsgegenstand sein soll, dasjenige, was erscheint, aber nichts Reales sein kann, entsteht folgendes Dilemma: Dasjenige, das erscheint – ein esse, das auf sein percipi zurückgeführt werden kann –, ist nicht dasjenige, das intendiert ist (der reale Gegenstand, also kein esse, das von seinem percipi abhängt); und trotzdem darf es kein zusätzliches Objekt geben, das eine Abbildfunktion übernehmen würde und den Rückfall in die Immanenz-Illusion darstellte. Die These, man könne nichts Neues von einer Vorstellung erfahren, gilt auch für die unwillkürlichen Vorstellungen. So kann z. B. eine »ErinnerungsVorstellung« (Im 25) unerwartet auftauchen, dennoch weiß ich auch hier unmittelbar, was dieses Phänomen ist, da der vorstellende Akt selbst diese Kenntnis schon impliziert. Wenn mir etwa ein blühender Garten erscheint, ohne daß ich sofort wüßte, wo und wann ich ihn gesehen habe, handelt es sich um einen Mangel an Bestimmung, dem keine Beobachtung zu Hilfe kommen könnte: »Wenn ich ein wenig später den Namen des Gartens finde, dann mit Hilfe von Verfahren, die nichts zu tun haben mit der reinen und einfachen Beobachtung: die Vorstellung hat auf einen Schlag alles gegeben, was sie besaß« (Im 25 f.).74 Indem ich ein Bewußtsein des Tisches als Vorstellung konstituiere, konstituiere ich sogleich den Tisch als Objekt dieses vorstellenden Bewußtseins. Objekt und Bewußtsein tauchen gleichzeitig auf, und da das Objekt koexistent mit dem es konstituierenden Bewußtsein ist, »enthält (es) nichts anderes in sich, als das, wovon ich Bewußtsein habe« (Im 27). Dementsprechend ist alles, was konstitutiv für das Bewußtsein ist, auch als dessen Korrelat im Objekt wiederzufinden. In der Welt der Vorstellungen kann es Sartre zufolge keine Ereignisse geben, nichts geschieht in ihr; es gibt keinerlei Überraschung, da das Objekt nie der Intention vorauseilt, wie Sartre 74
Vgl. Kuehl, ebd., 217: »The image-object presents itself all at once, in its typicality with references to detail and perspectives which need not, and cannot be further articulated or explored«.
Die vier Grundcharakteristiken
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sich ausdrückt (vgl. Im 27). Umgekehrt gilt: Insofern die Intention sich zugleich enthüllt und realisiert, kann das Bewußtsein auch niemals dem Objekt vorauseilen.
2. 1. 3. Das Objekt der Vorstellung ist ein Nichts (néant) Sartre beschreibt nun als drittes Grundcharakteristikum den Setzungscharakter des imaginierenden Bewußtseins, dessen sich das vorreflexive Bewußtsein auf nicht-thetische Weise bewußt ist (vgl. Im 28). Der Akt, in dem ich einen Baum als Vorstellung setze, ist von qualitativ anderer Art als die Setzung des wahrnehmenden Bewußtseins. Denn Sartre lehnt, wie schon im ersten Kapitel gezeigt wurde, alle Versuche ab, die die Vorstellung anfänglich nach Art der Wahrnehmung konzipieren und sie erst »nachträglich« (Im 29) mithilfe des Wissens, bestimmter »Reduzierer« oder einer Kohärenzüberprüfung aus der Welt der Wahrnehmungen herauslösen, um sie als Vorstellungen zu setzen. Wahrnehmung und Vorstellung sind, wie Sartre wiederholt, »von Natur aus verschieden« (Im 29); die Vorstellung muß deshalb von Anfang an »notwendigerweise in ihrer inneren Natur ein radikales Unterscheidungselement« (Im 29) implizieren. Um dieses Unterscheidungselement im Setzungsakt des vorstellenden Bewußtseins aufzudecken, bedarf es wiederum des reflexiven Aktes. Dabei gibt sich der folgende Sachverhalt zu erkennen: Wie jedes Bewußtsein setzt auch die Vorstellung ihr Objekt, aber sie setzt es nicht wie das Wahrnehmungsbewußtsein als existierend. Sartre unterscheidet vier mögliche Formen des Setzungsaktes der Vorstellung: »(E)r kann das Objekt als nichtexistent setzen oder als abwesend oder als anderswo existierend; er kann sich auch ›neutralisieren‹, das heißt sein Objekt nicht als existierend setzen« (Im 29).75 Peter als Vorstellung und der Zentaur als Vorstellung sind »zwei Aspekte des Nichts« (Im 286).76 75
Überblickt man die Wahl der Beispiele in Das Imaginäre, so läßt sich vorbehaltlos Casey zustimmen: »Of these four thetic characters, Sartre considers the first two the most essential« (ebd., 146). Ferner bemerkt Casey zu den vier Setzungscharakteren, »that the four forms of thetic character imputed to imagined objects are all conceived in decidedly dualistic fashion: such objects are posited as non-existent (vs. existent), as absent (vs. present), as existing elsewhere (instead of here), or as neither existent or non-existent (vs. posited as existent or as non-existent). This series of disjunctive pairs reflects Sartre’s intellectualistic preference for a clear choice between alternatives that are strictly incompatible with each other: absent/present, existent/non-existent, here/there, etc. Indeed, Sartre even suggests that a similary exclusive choice is to be made between the imaginary and the real themselves« (ebd., 161). Vgl. zu den Setzungscharakteren auch Flynn, ebd., 432; Morgan, ebd., 21 ff. 76 Waldenfels erblickt ein Dilemma darin, daß der Abwesende von mir als Nichts gesetzt
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2. Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft
Der dritte Akt unterscheidet sich vom zweiten77 dadurch, daß er eine positive Setzung darstellt, auch wenn er natürlich die Negation der aktuellen Existenz ›hier und jetzt‹ voraussetzt. Der erste und zweite Akt sind primär Negationen, während der vierte Akt eine Suspension oder »Neutralisierung der These« darstellt, aber dennoch »ein setzender Akt« (Im 29, Fußn. 1) ist.78 Insoweit die vierte Form des Setzungsaktes der Imagination im wesentlichen mit der phänomenologischen Reduktion Husserls übereinstimmt, scheint Sartre hier an seine Husserl-Kritik im Schlußteil von Die Imagination anzuknüpfen, derzufolge die phänomenologische Reduktion, die aus dem realen Ding ein bloßes Noema macht, gerade eine Irrealisierung des Realen hervorbringt, die die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Imagination nicht mehr aufrechterhalten kann.79 Die genannten vier Formen des Setzungsaktes der Imagination sind – darauf kommt es Sartre an – keine nachträglichen Hinzufügungen zu einer bereits konstituierten Vorstellung, sondern »der Setzungsakt ist für das Vorstellungsbewußtsein konstitutiv« (Im 29 f.). Ansonsten, betont Sartre, wäre der Rückfall in die Immanenz-Illusion unvermeidlich (vgl. Im 30). Nur im Falle des Vorstellungsbewußtseins findet sich die »Setzung von Abwesenheit oder Nichtexistenz« (Im 30). Die Wahrnehmung setzt die Existenz der Objekte, während die Begriffe des Denkens bzw. Wissens die Existenz der Wesen setzen, die gleichgültig sind gegenüber der »›Aus-Fleischund-Blut‹-Existenz der Objekte. Den Begriff ›Mensch‹ etwa denken heißt wird, aber doch gleichzeitig für andere gegenwärtig sein kann (ebd., 78). Es ist fraglich, ob Sartre dieser Hinweis wirklich in Verlegenheit bringen würde, da er ja durchaus zwischen den Setzungscharakteren ›nichtexistent‹ und ›abwesend‹ oder ›anderswo existierend‹ unterscheidet: Darin liegt, daß der Abwesende im Gegensatz zur Nichtexistenz bzw. Fiktion natürlich in diesem Moment von anderen wahrgenommen werden kann, wenngleich ihm aus meiner Perspektive eben dieser Nichtscharakter zugewiesen wird. Die »Kategorie der Negation« kommt allen vier Setzungscharakteren zu, »wenn auch«, wie Sartre hinzufügt, »in verschiedenen Graden« (Im 287). 77 Bereits Kant hat darauf hingewiesen, daß die Einbildungskraft abwesende Objekte intendiert: »Die Einbildungskraft (facultas imaginandi)« ist »ein Vermögen der Anschauungen auch ohne Gegenwart des Gegenstandes« (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 28). Und Baumgarten erklärt schon zuvor: »(D)a meine Einbildungen Vorstellungen von Dingen sind, die einst gegenwärtig waren, sind sie Einbildungen von Empfundenen, das aber, während ich sie gestalte, abwesend ist« (Metaphysica, § 558). 78 Vgl. Husserl, Ideen I, §§ 109–112; siehe auch Finks Bemerkung zu den unwirklichen Gegenständen, in deren Sinn das Nichtsein beschlossen ist (ebd., 67) sowie seine Auffassung des Bildbewußtseins als Variante der Gehaltsneutralität (ebd., 71). 79 Lempen-Ricci hat darauf hingewiesen, daß dem Neutralitätsbewußtsein bei Husserl eine Inhibition der Setzung zugrundeliegt, während Sartre von Anfang die Neutralität als einen Akt ansieht, der die Frage nach dem Sein nicht offen läßt, sondern negativ bzw. privativ beantwortet. Daher ist das Neutralitätsbewußtsein ein negativer Akt, der zu den Setzungscharakteren der Imagination gehört (vgl. Lempen-Ricci, ebd., 199, 220).
Die vier Grundcharakteristiken
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nur, eine Essenz setzen« (Im 30). Dies gilt auch für den ›konkreten Begriff‹, z. B. Peter: ›Peter ist verreist‹ ist eine positive Bestimmung, die dem Wesen ›Peter‹ addiert wird, sie hat nicht wie die Vorstellung jenen vorwiegend negativen Charakter (vgl. Im 30).80 Natürlich können auch Wahrnehmungsurteile neutralisierende Setzungen implizieren. Sehe ich z. B. jemanden mir entgegenkommen, so kann ich sagen: ›Es ist möglich, daß dies Peter ist‹. Diese Suspension bezweifelt, daß diese Person Peter ist, sie bezweifelt jedoch keineswegs, daß ein realer Mensch auf mich zukommt. Der Zweifel, ob diese Person Peter ist, fügt sich also der Existenzsetzung ›Ein Mensch kommt auf mich zu‹ hinzu. Wenn ich dagegen sage: ›Ich habe eine Vorstellung von Peter‹, dann sehe ich überhaupt nichts; ich vollziehe keine Existenzsetzung, denn das Objekt der Vorstellung ist als ein Nichts gesetzt, es ist nicht da: »Das intentionale Objekt des vorstellenden Bewußtseins hat die Besonderheit, daß es nicht da ist und daß es als solches gesetzt ist, oder auch, daß es nicht existiert und daß es als nichtexistent gesetzt ist, oder, daß es gar nicht gesetzt ist« (Im 31).81 Das Bewußtsein von Peter als Vorstellung richtet sich wie in der Wahrnehmungsintention auf Peter als Individiuum, d. h. »auf Peter in seiner Körperlichkeit, diesen Peter, den ich sehen, berühren, hören kann« (Im 31), und der sich aus einer bestimmten Perspektive, mit einem bestimmten Abstand zeigt. Aber die Vorstellung setzt in eins, daß ich ihn nicht sehen, hören, berühren kann: »Die Meinung in der Vorstellung setzt die Intuition, setzt aber nicht Peter« (Im 31).82 Peter als Vorstellung ist, wie Sartre erklärt, »anschaulichabwesend« bzw. »der Anschauung als abwesend gegeben« (Im 31); das intentionale Objekt ist kein Porträt, es behauptet und zerstört sich zugleich: »Wie lebhaft, eindrucksvoll und stark eine Vorstellung sein mag, sie gibt ihr Objekt als nicht seiend« (Im 31). Sartre spricht von einem »unmittelbaren Bewußtsein seines Nichts« (Im 32), das für die Vorstellung konstitutiv ist. Casey hat gegen den Nichtscharakter der Setzung des Imaginationsaktes folgenden Einwand erhoben: »But if what we imagine is unreal only in this sheerly negative sense, there would be no way to distinguish it from the me80
Dieser Nichtscharakter korrespondiert natürlich mit der Ablehnung der ImmanenzIllusion: Gerade weil die Imagination nicht ein Abbild, sondern das reale Objekt intendiert, das aber abwesend oder nichtexistent ist, setzt sie das Erscheinende als ein Nichts. Vgl. hierzu auch Jeanson, ebd., 88. 81 Das dritte Beispiel in dem zitierten Satz bezieht sich anscheinend auf die Neutralisierung, die jedoch ebenfalls ein »setzender Akt« (Im 29, Fußn.1) sein soll. An dieser Stelle drängt sich nun die Frage auf, inwiefern ein setzender Akt sein Objekt nicht setzen kann. Ist es dasselbe, wenn einerseits gesagt wird, daß ein setzender Akt sein Objekt nicht als existierend setzt, und andererseits erklärt wird, daß er es gar nicht setzt? 82 Unabhängig von Sartre erklärt Bernis: »L’image du cheval a tous les caractères du cheval sauf celui d’une ›rencontre‹« (L’imagination, 41).
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rely non-real«.83 Eine Unterscheidung ist jedoch insofern möglich, so ließe sich auf Caseys Einwand erwidern, als das ›merely non-real‹ überhaupt nicht erscheint. Nicht-sein im Sinne der Imagination bedeutet dagegen, ein Sein zu sein, das, um zu sein, erscheinen muß: Während das Imaginäre ein esse ist, das sich auf das percipi reduzieren läßt, besitzt das reine Nichts überhaupt kein Sein. Nicht zu sein, bedeutet in Sartres Denken, nicht unabhängig vom Bewußtsein zu sein.
2. 1. 4. Spontaneität und Kreativität des imaginierenden Bewußtseins Die vierte und letzte Grundbestimmung des Imaginären wird erneut in Abgrenzung von den Eigenschaften der Wahrnehmung erörtert. Die Wahrnehmung erfaßt sich – bereits auf der vorreflexiven Ebene auf nicht-thetische Weise – als »Passivität« (Im 32); sie ist abhängig von den vorgegebenen Eigenschaften des betrachteten Dinges, die sie nicht in der Erscheinung willkürlich ändern kann.84 Dagegen erscheint sich das vorstellende Bewußtsein nichtthetisch als eine Spontaneität, die ihr Objekt »erzeugt und bewahrt« (Im 32): »(I)maginative consciousness creates ex nihilo, that is to say, completely out of itself«.85 Wiesing faßt den Unterschied bündig zusammen: »Das Bewußtsein erzeugt in der Imagination das Objekt, auf das es sich durch die Imagination richtet. Und deshalb ist die Imagination […] aktiv, konstituierend und spontan – also nicht wie die Wahrnehmung passiv, an Vorgaben gebunden und rezeptiv«.86 Das Vorstellungsobjekt ist das »Produkt einer bewußten Aktivität und durch und durch von einer Strömung schöpferischen Wollens durchdrungen« (Im 34), und insofern »consciousness recognizes in the unreality of the imaginary objects the marks of its own spontaneity«.87 Da sie nur durch meine 83
Casey, ebd., 154. Die erwähnte Passivität des Wahrnehmungsbewußtseins trifft sich mit den Bemerkungen zu Beginn von Die Imagination, nach denen das Wahrgenommene subjektunabhängig und ›träge‹, d. h. gerade ein Ding ist (vgl. TE 97). Es ist ein solches An-sich-sein, weil wir es erkennen und nicht erschaffen. Vgl. auch Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 374 f.: »Das Ding ist für unsere Existenz weit mehr ein Abstoßungs- als ein Anziehungspol. In ihm erkennen wir nicht uns selbst, und eben dies macht das Ding zum Ding«. 85 Morgan, ebd., 28. Vgl. Kaehlin, An Existentialist Aesthetic, 40. 86 Wiesing, ebd., 260. Wiesings Bemerkung, die Imagination »gibt ein Ding wie gesehen, obwohl es aktiv erfunden ist« (ebd., 261), ist allerdings irreführend, da es sich hierbei, wie zuvor in Die Imagination deutlich wurde, strenggenommen um kein ›Ding‹ handelt. 87 Morgan, ebd., 22. Vgl. Feldman-Comit, ebd., 779: »(I)l y aurait intérêt à ne pas oublier que l’intention imageante n’est peut-être qu’une intention inventive«. Siehe auch Bossart, ebd., 40 f.; Ricœur, ebd., 169; Cabestan, ebd., 9. Wenn Sartre über das Vorstellungsbe84
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Vollmacht da sind, müssen sie »künstlich am Leben erhalten« (Im 199) werden. Insofern ihre Existenz von unserer Spontaneität herrührt, folgt daraus: »Wenn wir uns von ihnen abwenden, lösen sie sich auf« (Im 198).88 Es zeigt sich dabei der enge Zusammenhang zwischen Spontaneität und Quasi-Beobachtung: Ist das Objekt der Vorstellung erschaffen – d. h. hat es kein vom Bewußtsein unabhängiges Sein –, so folgt für Sartre »notwendigerweise« (Im 34), daß es niemals mehr ist, als das Bewußtsein von ihm weiß.89 Eine Illustration dieses Zusammenhangs läßt sich in Dostojewskis Die Brüder Karamasoff finden. Iwan Karamasoff stellt die Realität der auf ihn einredenden Teufelserscheinung mit folgenden Worten in Abrede: »›Indem ich dich beschimpfe, beschimpfe ich mich selbst!‹, sagte Iwan und lachte wieder kurz auf. ›Du bist ich, ich selbst, bloß mit einer anderen Fratze. Du sprichst genau das, was ich schon bei mir denke … und bist überhaupt nicht imstande, mir etwas Neues zu sagen!‹«.90 Das vierte Charakteristikum der Imagination ist möglicherweise durch die Übersetzungsarbeit an Jaspers Allgemeine Psychopathologie beeinflußt worden, an der Sartre in den zwanziger Jahren mitgewirkt hat.91 Schon Jaspers stellt Wahrnehmung und Vorstellung auf ganz ähnliche Weise einander gegenüber: Wahrnehmungen sind für den späteren Existenzphilosophen »leibhaftig«, d. h. sie besitzen »Objektivitätscharakter«, während Vorstellungen »bildhaftig« sind und sich durch einen »Subjektivitätscharakter« auszeichnen: »Wahrnehmungen sind unabhängig vom Willen, sie können nicht beliebig hervorgerufen und nicht verändert werden. Sie werden mit dem Gefühle der Passivität hingenommen. Vorstellungen sind abhängig vom Willen, sie
wußtsein schreibt, es erschaffe das irreale Objekt und erhalte »durch eine ununterbrochene Schöpfung« (Im 34) dessen Qualitäten, so verwendet er im übrigen eine Terminologie, die verwandt ist mit Descartes‹ Beschreibungen der Tätigkeit Gottes (vgl. creatio ex nihilo und creatio continua); auch der Gott im ontologischen Beweis in Das Sein und das Nichts ist der cartesianische Gott, wobei dessen Schöpferkraft hier allerdings widerlegt werden soll. 88 Sartre betont hier, daß sich alles im irrealen Geschehen aufgrund meiner Spontaneität vollzieht. Später erwähnt er jedoch Beispiele, in denen das irreale Objekt eine gewisse Autonomie seinem ›Schöpfer‹ gegenüber entwickelt, die immerhin so weit geht, daß es sich sogar seinen Intentionen widersetzen kann (vgl. Im 187–189, 213 f.). 89 Vgl. Audi, ebd., 350. Nach Ricœur ist das vierte Charakteristikum »the counterpart to the fact that the object occurs as a nothingness« (ebd., 171). Auch Husserl weist auf die Freiheit der Reproduktion gegenüber dem originären Erscheinen hin, »auf das wir nur hinsehen können« (Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtsein, § 20). Vgl. auch Husserl, Ideen I, § 23: Fiktum und Ideation vollziehen sich spontan, »während dem sinnlich gebenden, dem erfahrenden Bewußtsein Spontaneität außerwesentlich ist« (ebd., 50). 90 Dostojewski, Die Brüder Karamasoff, 1041. 91 Vgl. Cohen-Solal, Sartre 1905–1980, 128; Beauvoir, In den besten Jahren, 40.
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können beliebig hervorgerufen und verändert werden. Sie werden mit dem Gefühl der Aktivität produziert«.92 Wäre die Imagination eine wiederauflebende Wahrnehmung, so könnte von einer solchen schöpferischen Aktivität des imaginierenden Bewußtseins keine Rede sein.93 Die Spontaneität der Imagination, die Sartre meint, steht für ihn nicht im Widerspruch zu den Behauptungen der Versuchspersonen Watts und Messers, die von unbestimmten Vorstellungen sprechen, in denen unklar ist, ob das erscheinende Gesicht das eines Mannes oder einer Frau ist. Während Berkeley und Hume die Existenz unbestimmter Vorstellungen bestreiten, sieht Sartre sich in Übereinstimmung mit den genannten Experimenten, wenn er erklärt, daß das vage Bewußtsein einer Vorstellung das Bewußtsein einer vagen Vorstellung bzw. genauer eines vagen Objekts als Vorstellung ist: »Ein unklar wahrgenommener Hase ist an sich ein bestimmter Hase. Aber ein Hase als Objekt einer unklaren Vorstellung ist ein unbestimmter Hase«(Im 34).94 Dies trifft sich mit den vorherigen Einsichten im Zusammenhang der QuasiBeobachtung: So ist etwa die Anzahl der Bestimmungen des Wahrnehmungsobjektes unendlich, während das Objekt der Vorstellung wesensmäßig arm ist, ja wie Sartre betont, »etwas Verkümmertes« (Im 35)95 besitzt. Unklar ist jedoch immer noch die zuvor deklarierte Identität von Vorstellungs- und Wahrnehmungsobjekt: Betrachtet man die aufgeführten Charakteristiken, so soll das Objekt der Vorstellung einerseits das reale Objekt selbst sein (Abwehr der Immanenz-Illusion), das ein vom Bewußtsein unabhängiges An-sich-sein ist; andererseits wird es zugleich als ein vom Bewußtsein erschaffenes Objekt konzipiert, das sich folgerichtig »in essential dependence on consciousness itself«96 befindet. 92
Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 59. Vgl. Cabestan, ebd., 41; vgl. Ricœur, ebd., 169: »The self-transparency accompanying this spontaneity consciousness excludes the possibility that an image is a thing in the mind and therefore a kind of sensory content«. Es stellt sich allerdings die Frage, was genau das imaginierende Bewußtsein erschafft, wenn es ein abwesendes Wahrnehmungsobjekt intendiert. Letzteres kann kaum das Produkt der Schöpferkraft des Bewußtseins sein, und jedes andere Objekt bedeutete den Rückfall in die Immanenz-Illusion. 94 Vgl. Kuehl, ebd., 223; Flynn, ebd., 432. 95 Vgl. Casey, ebd., 142: »Sartre aims at demolishing once and for all the Romantic myth of imagination’s omnipotence: the puritan of prose calls into question the poetizing productivity of imagination and seeks to present a rigorous portrait of the phenomenons«. Die These einer wesenhaften Armut der Phantasieobjekte steht in krassem Widerspruch zu all denjenigen Tendenzen, die den unendlichen Reichtum der Phantasie als Befreiungskraft beschwören. Wie Wannicke feststellt, ist dieser Gedanke auch »der am häufigsten kritisierte Punkt des Sartreschen Einbildungskraftkonzepts«. Mit dieser These tritt er »einer mythomanischen Überbewertung der Befreiungskraft des Imaginären entgegen« (ebd., 58). 96 Flynn, ebd., 431. 93
Die Funktion des Analogons in der Vorstellung
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2. 2. Die Funktion des Analogons in der Vorstellung Behandelt Sartre im bis jetzt referierten ersten Teil von Das Imaginäre ausschließlich die ›inneren Vorstellungen‹ (images mentales), zu denen er hier noch die Erinnerungs-Vorstellungen zählt (vgl. aber Im 285), so rückt im zweiten Kapitel des ersten Teils der Bereich der ›äußeren Vorstellungen‹ (images physiques) in den Mittelpunkt des Interesses, für die allerdings die bisherigen Wesensbestimmungen, die die Reflexion zutage gefördert hat, gleichwohl gültig sein sollen.97 Bei den ›äußeren Vorstellungen‹ handelt es sich um Gegenstände in der Wahrnehmungswelt, welche ebenfalls als Bilder (images) bezeichnet werden (vgl. Im 36). Als Beispiele werden »Porträts, Spiegelreflexe, Imitationen« (Im 36; vgl. zum Spiegel als Bild: MRT 92) genannt. Sartre will der Frage nachgehen, ob hier lediglich eine »Namensgleichheit« (Im 36) vorliegt oder ob sich nicht vielmehr in diesen Fällen eine ähnliche Bewußtseinshaltung wie in der ›inneren Vorstellung‹ auffinden läßt. Wenn die zweite Option zutreffend ist, dann erweitert sich der Bereich der Imagination natürlich erheblich. Sartre beginnt seine Ausführungen mit dem Vergleich von Erinnerung bzw. Repräsentation (représentation mentale), Fotografie und Karikatur. Es handelt sich hierbei um drei Verfahren, die dazu dienen, mir das Gesicht des abwesenden Freundes Peter zu vergegenwärtigen (vgl. Im 37). In allen drei Fällen richtet sich die Intention auf dasselbe Objekt, eben jenen Freund Peter – das Objekt ist also keineswegs die Repräsentation, das Foto oder die Karikatur. Das gesuchte Objekt will ich vielmehr im »Bereich der Wahrnehmung« (Im 37) erscheinen lassen; da dies jedoch nicht »unmittelbar« (Im 37) geschehen kann, greife ich auf eine bestimmte »Materie«, sozusagen als ein »Äquivalent der Wahrnehmung«, zurück, die Sartre als »Analogon« (Im 37) bezeichnet.98 Das Analogon, das wir im Fall der Fotografie und der Karikatur antreffen, ist ein Wahrnehmungsgegenstand, ein Ding, das auch existiert, ohne als Materie für eine Vorstellung zu fungieren: »Das Foto als solches ist ein Ding: ich kann versuchen, nach seiner Farbe seine Belichtungszeit zu bestimmen, das Mittel, mit dem es getont und fixiert wurde usw.; die Karikatur ist ein Ding, ich kann mich an der Betrachtung der Linien und Farben erfreuen, ohne daran zu denken, daß diese Linien und diese Farben die Funktion haben, etwas darzustellen« (Im 37). Dies ist die differentia specifica der images physiques innerhalb der Familie der images: »It must always be something which we do or can perceive at the time of the imagining – i. e. it must be something which
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Ricœur hat den gesamten ersten Teil von Das Imaginäre trotz aller Kritik als »brillant«, »very convincing« und »genial« gewürdigt (ebd., 172). 98 Vgl. Bossart, ebd., 42; Cabestan, ebd., 10; Flynn, ebd., 432; Warnock, ebd., 327.
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2. Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft
is not just a constituting element of the imaginative consciousness«.99 Die Frage nach der Materie der image mentale will Sartre zunächst hintanstellen, erklärt aber einstweilen unmißverständlich, »daß man auch hier eine Materie finden muß und daß diese Materie ihren Sinn nur durch die sie belebende Intention findet« (Im 38). In der bloßen Wahrnehmungseinstellung ist das Foto ein Viereck mit bestimmten Farb- und Helligkeitsdifferenzen; insofern ich dieses Foto als »›Foto eines auf der Treppe stehenden Mannes‹« (Im 39) erfasse, kommt eine andere Intention ins Spiel. Das Papierviereck wird belebt und mit einem neuen Sinn versehen: »Wenn ich Peter auf dem Foto wahrnehme, so weil ich ihn dort hinstelle« (Im 39). Und dies gelingt nur über eine spezifische Intention – wobei es keine Rolle spielt, ob die Vorstellung »unverhofft oder absichtlich« (Im 39) auftaucht.100 In allen diesen Beispielen bleibt die Absicht identisch, ein Objekt zu vergegenwärtigen, das nicht da ist: »Vorstellungen (images mentales), Karikaturen, Fotografien sind lauter Arten derselben Gattung, und wir können nunmehr ihre Gemeinsamkeiten zu bestimmen suchen« (Im 40). Es handelt sich also immer um eine Intention, die ein abwesendes Objekt anzielt, das bedeutet jedoch nicht, daß diese Intention leer bleibt. Sie bezieht sich auf einen Inhalt, der im Verhältnis einer Analogie mit dem abwesenden Objekt steht. Hierbei werden im Fall der image physique bestimmte sinnliche Objekte durch eine vorstellende Intention als Bilder konstituiert, d. h. in eine neue Bewußtseinsform integriert: »Will ich mir zum Beispiel Peters Gesicht vergegenwärtigen, so muß ich meine Intention auf bestimmte Objekte richten und nicht auf einen Füller oder auf dieses Stück Zucker. Das Erfassen dieser Objekte geschieht in Form von Bildern (images), das heißt, sie verlieren ihren Eigensinn, um einen anderen anzunehmen« (Im 40). Diese wahrnehmbaren und anwesenden Gegenstände werden zum »Mittel«, um ein abwesendes Objekt hervorzubringen: »Sie dienen als Repräsentanten für das abwesende Objekt, ohne jedoch dieses Charakteristikum der Objekte eines vorstellenden Bewußtseins aufheben zu können: die Abwesenheit« (Im 40).101 Zusammenfassend stellt Sartre fest, »daß die Vorstellung (image) 99
Bunting, ebd., 239 f. Bunting scheint allerdings zu glauben, daß ein »perceptually present analogue«, also ein Objekt, »which I can, and do, perceive […] in all cases of imagining« vorkommt (ebd., 240 f.). Wahrnehmungsobjekte als Analoga sind jedoch das Spezifikum der images physiques. Wäre auch die Materie der images mentales wahrnehmbar, würde sich Sartre selbst in der Immanenz-Illusion verstricken. 100 Vgl. Baladie, ebd., 50: »(I)l semble que l’image ne naisse qu’au moment où je regarde la photo moins pour elle-même que pour mon ami que je retrouve en moi, mais en image«. Vgl. auch Husserl, VI. Logische Untersuchung, 587: »Ebenso ist auch das Bild, etwa die Büste aus Marmor, ein Ding wie irgendein anderes; erst die neue Auffassungsweise macht es zum Bilde, es erscheint nun nicht bloß das Ding aus Marmor, sondern es ist zugleich und auf Grund dieser Erscheinung eine Person bildlich gemeint«. 101 Überblickt man die Wahl der Beispiele in Das Imaginäre, so scheint sich Sartre für
Die Funktion des Analogons in der Vorstellung
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ein Akt ist, der auf ein abwesendes oder nichtexistierendes Objekt zielt in seiner Körperlichkeit, durch einen physischen oder psychischen Inhalt hindurch, der sich nicht als das gibt, was er eigentlich ist, sondern als ›analoger Repräsentant‹ des angezielten Objektes« (Im 41).102 Die Intention bleibt dieselbe, nur die Materie unterscheidet sich, insofern sie einerseits im Falle der Zeichnungen, Fotos usw. in der »Welt der Dinge« (Im 41) angesiedelt ist und andererseits im Falle der images mentales »der geistigen Welt« (Im 41) zugehörig ist. Die Welt der Vorstellungen ist Sartre zufolge nicht streng von der Welt der Wahrnehmungen geschieden. Ein Objekt, sei es gegeben dank der äußeren Wahrnehmung oder dem »inneren Sinn« (sens intime) (z. B. kinästhetische Empfindungen), kann genausogut als Realität wie als image aufgefaßt werden. Ausschlaggebend ist hierbei die »Bewußtseinshaltung«: »Die beiden Welten, das Imaginäre und das Reale, sind durch die gleichen Objekte konstituiert; lediglich die Zusammenstellung und die Interpretation dieser Objekte variieren« (Im 41). Finks Unterscheidung von Vergegenwärtigung und Bild trifft sich mit Sartres Gegenüberstellung von reinen Vorstellungen und physischen Bildern. Das Hauptanliegen von Finks Studie ist gerade »die Entwirrung einer Äquivokation«103: Die Vergegenwärtigung darf nicht als Bildbewußtsein verstanden werden.104 Das Bildbewußtsein unterscheidet sich nach Fink von der Vergegenwärtigung dadurch, daß die Bildwelt »immer und wesensmäßig mit einem realen Träger«105 verbunden ist. Im thematischen Interesse liegt jedoch ein Übersehen dieses Trägers, der sozusagen eine »anonyme(n) Funktion«106 einnimmt. D. h. die »›Verdecktheit‹ des Trägers« ist »die genuine Weise seiner Gegebenheit«.107 Gerät dieser selbst in den Blick, so kann bereits von einer gewissen Anomalität gesprochen werden.108
die Fiktionen, also die nicht-existierenden Objekte, deutlich weniger zu interessieren als für die abwesenden Objekte. 102 Vgl. auch Cabestan, ebd., 41: »(P)arce que celui-ci est absent (Pierre est en voyage) ou inexistant (le centaure), la conscience imageante vise cet objet à travers une matière qui est, selon les cas, physique ou psychique«. 103 Fink, ebd., 1. 104 Nach Sartre führt eine solche Verwechslung von image mentale und image physique zur Immanenz-Illusion, da auch der image mentale dann eine sinnliche Materie untergeschoben würde. Vgl. zur Unterscheidung bei Fink, ebd., 29, 57, 67, 73. Finks Bildbegriff ist allerdings weiter als der Sartres: Auch der Schatten wird noch als Bild aufgefaßt (vgl. Fink, ebd., 73). 105 Ebd., 74. 106 Ebd., 76. 107 Ebd. 108 Finks Beispiel ist die »kunstkritische(n) Betrachtung der ›Materialbehandlung‹« (ebd., 74).
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»Wesentlich ist, daß wir beim Bildbewußtsein nicht im noematischen Gehalt ein wahrnehmungsmäßig Gegebenes, etwa den realen ›Träger‹ haben und an diesem irgendwie indiziert oder hinzuphantasiert die Bildwelt. Sondern Bild als das einheitlich untrennbare Ganze ist ein wahrnehmungsmäßiges Korrelat. Bildwahrnehmung ist eine bestimmte Art von Wahrnehmung, die ihren eigenen genuinen Erfüllungs- und Bewährungsstil hat, wie er eben durch das Wesen des Gegenstandes vorgezeichnet ist«.109 Anders als Sartre und ebenso wie Ryle scheint Fink die physischen Bilder eher den Wahrnehmungen als den Vorstellungen zuzuordnen. Es kommt bei den Bildern zu einer Verbindung der Bestimmungsgehalte von Träger und Bildwelt: »(Z.) B. ›dieselbe‹ rote Farbe ist einmal der rote Bestrich des Stückes Leinwand und ist auch die rote Farbe des Abendhimmels der Bildwelt«.110 Anders als später in Sartres Kunsttheorie zu kritisieren sein wird, betont Fink die Abhängigkeit der Bildwelt von den realen Trägerbestimmungen. Insofern in den impressionalen hyletischen Daten sich die vergegenwärtigten Daten abbilden, muß von einer phänomenalen »Unabtrennbarkeit«111 von Bildwelt und realem Träger gesprochen werden. Im Verlauf der minutiösen Beschreibungen einer Vielfalt von Phänomenen, die dem Bereich der images physiques zugehören, und auf die hier im einzelnen nicht eingegangen werden kann, zeigen sich bei Sartre allerdings deutliche Unstimmigkeiten. Dies betrifft vor allem das Grundcharakteristikum der Quasi-Beobachtung im Bereich der images physiques. So erklärt Sartre z. B. beim Versuch einer Grenzziehung zwischen Zeichen und Bild: »(D)as Peter vorstellende Bewußtsein reichert sich beständig an« (Im 45), und »diese Falte, die ich an Peter nicht kannte, verbinde ich mit ihm von da an, wo ich sie auf seinem Porträt sehe« (Im 45). Jenes wahrgenommene Detail erscheint nicht für sich selbst, etwa als farbige Fläche auf einer Leinwand, »es verleibt sich sofort dem Objekt, das heißt Peter, ein« (Im 45). Diese Bemerkungen sind zwar geeignet, um das Porträt vom Zeichen zu unterscheiden – tatsächlich erfahre ich von der Beschaffenheit der Buchstaben des Wortes ›Dienstraum‹ nichts über den realen Dienstraum, ja ich beachte diese Beschaffenheit nicht einmal.112 Aber es taucht nun allerdings auch ein Widerspruch auf, denn die universelle Gültigkeit der Quasi-Beobachtung für den Gesamtbereich des 109
Ebd., 75. Ebd., 77. 111 Ebd. – Auch Ingarden differenziert zwischen dem eigentlichen Bild und dem materiellen Gemälde und erklärt, daß das Gemälde – also das reale Ding »aus Papier, Holz, Leinwand und dgl.« (vgl. Untersuchungen zur Ontologie der Kunst, 139) – ein »unentbehrliches Seinsfundament« (ebd., 164) des eigentlichen Bildes ist. 112 Man kann hier natürlich wiederum die Engführung des Zeichenbegriffs in Das Imaginäre monieren, denn es ist zu bezweifeln, ob Sartres Behauptungen uneingeschränkt auch für die natürlichen oder die ikonischen Zeichen zutreffend sind. 110
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Imaginären ist fraglich geworden: In Sartres Beispielen ist es offensichtlich so, daß die image physique, also jene Vorstellung, deren Materie der Wahrnehmung entnommen ist, mich entgegen dem Prinzip der Quasi-Beobachtung durchaus etwas lehren kann: Ich erfahre von der Materie der Vorstellung etwas Neues über das Objekt der Vorstellung. Dasselbe Problem zeigt sich, wenn sich Sartre mit den Imitationen oder den schematischen Zeichnungen beschäftigt. Kann nicht auch ein geschickter Imitator, nachdem er erst einmal die Vorstellung aufgebaut hat, mir Aspekte des Repräsentierten – sozusagen in seiner Abwesenheit – offenbaren, die mir bisher an ihm nicht aufgefallen sind, die ich aber von nun an immer wieder an ihm entdecke? Lese ich also wirklich nur auf der Materie das, was ich selbst hineingelegt habe? Ebenso kann ich auch beim Betrachten einer Karikatur, nachdem die Repräsentationsbeziehung erst durch vertraute und übertriebene Elemente instituiert wurde, erstmals bemerken, daß der Dargestellte ›Segelohren‹ hat.113 Die intentionalen Verhältnisse, durch die sich der Bereich des Imaginären auszeichnet, will Sartre im folgenden anhand einer Reihe von Beispielen untersuchen, wobei er bei denjenigen Vorstellungen den Anfang macht, die ihre Materie der Wahrnehmung entlehnen, und schließlich zu den Vorstellungen aufsteigt, deren Materie dem ›inneren Sinn‹ entstammt.114 Dieser Weg wird explizit als Aufstiegsbewegung deklariert (vgl. Im 41).
2. 2. 1. Die Korrelation von Wissen und Materie auf dem Weg vom Porträt zur reinen Vorstellung Sartre widmet sich einer ausführlichen Untersuchung des Porträts, der Imitation (die Komikerin Franconnay parodiert Chevalier), schematischer Zeichnungen (Strichmännchen, die einen Läufer repräsentieren) und schließlich den hypnagogischen Vorstellungen bzw. den Halbschlafvisionen. Während die Materie in dieser Reihe von images physiques immer mehr verarmt (die bemalte Fläche des Porträts; der Frauenkörper, der einen Männerkörper imitiert; die spärlichen schwarzen Linien der Schemazeichnung und schließlich die entopischen Flecken auf der Netzhaut im Fall der hypnagogischen Vor113
Kuehl zeigt, inwiefern hinsichtlich eines Porträts von einer Quasi-Beobachtung gesprochen werden kann: »To ask, ›Where are the lady’s shoes?‹ or ›What does her back look like?‹ is not to see a portrait but to perceive the person« (ebd., 218). Im Grunde schließt das Imaginäre jegliche Appräsentation und damit seine weitere Klärung aus (vgl. ebd., 223). Kuehl spricht darum von »frozen references« (ebd., 217). 114 Vgl. Waldenfels, ebd., 131, Anm. 23: »Sartre greift hier auf Husserls ›Hyle‹ zurück, doch ist diese als physischer wie als psychischer Repräsentant dem Bewußtsein transzendent; denn eine immanente Gegebenheit würde als ›träger Inhalt‹ der Bewußtseinsstruktur widersprechen«.
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stellungen115), nimmt gleichfalls die Ähnlichkeit von Materie und Objekt der Vorstellung permanent ab, und das Wissen durchtränkt stattdessen in größerem Umfang die Materie.116 Im Verlauf der Reihe »the material analogue disappears step by step, down to the point where it seems legitimate to form the ›probable‹ hypothesis that now occular movements and feeling exert the same hyletic function (as regards the morphic function of the intentional attitude) as the physical support of the portrait«.117 Die Materie der image mentale besteht schließlich nur noch aus Wissen, Affektivität und Bewegungen, ohne jegliche aktuelle Wahrnehmungsgrundlage. Die Materie der reinen Vorstellung hat die Besonderheit, »keine Extorität« (Im 91) zu besitzen: »Man sieht ein Porträt, eine Karikatur, einen Fleck: eine Vorstellung sieht man nicht« (Im 91). Nichts an ihr kann Objekt einer Wahrnehmung sein. Im Falle der reinen Vorstellung löst schließlich das Wissen die sinnliche Materie vollkommen ab und bietet sich selbst als intuitiv dar: »Am Ende der Skala steht der eigentliche Probefall rein ›geistiger Vorstellungen‹ (images mentales), die sich nicht mehr auf sinnliches Material stützen, das man auch für sich wahrnehmen kann«.118 Das Wissen, das den Platz der verarmenden Materie einnimmt, kann, wie Sartre erklärt, nicht »in seiner ideativen Form« (Im 90) die Intuition ersetzen. Es erfährt eine »Degradierung« (Im 90), die im folgenden beschrieben werden soll. 115
Allerdings sind nach Sartre diese entopischen Flecken nicht die einzige Materie hypnagogischer Vorstellungen. Hierfür eignen sich auch Arabesken in der Tapete und sonstige unklare und schwache Formen z. B. im Kaffeesatz oder in einer Glaskugel, die die Eigenschaft haben, »die Aufmerksamkeit unaufhörlich zu erregen und sie unablässig zu enttäuschen. Nehmen wir andererseits beim Subjekt eine gewisse Somnolenz, einen Zustand von Suggestibilität an: die hypnagogische Vorstellung entsteht« (Im 87). 116 Vgl. Baladie, ebd., 50; vgl. Cabestan, ebd., 41 und 13: (O)n peut hiérarchiser ces types de conscience imageante selon l’indigence plus ou moins grande de son support matériel et la place inversement proportionelle qu’y occupe le savoir«. 117 Ricœur, ebd., 172. Ricœur hält Sartres »attempt […] to generalize on the concept of the analogue from the physical picture to the mental picture« für »succesful«: »The picture-family has found its homogeneity, perhaps, at the expense of fiction« (ebd.). Nach Caseys Einschätzung ist das Analogon »a key to Sartre’s entire analysis of imagining and an Achilles heel« (ebd., 147); insofern es das »›substitute‹ or ›proxy‹« (ebd.) des intendierten Objekts ist, bedeutet es seiner Ansicht nach einen Rückfall in die Immanenz-Illusion, denn »it appears that the psychical analogon is after all a mini-thing« (ebd., 149): »The important point is that as a truly ›analogical representative‹, the mental image qua analogon must be capable of presenting or sustaining qualities that resemble (though they need not replicate) sensible qualities. Indeed, without such resembling qualities, how could a mental image be experienced as a ›transcendent psychical content‹ in the first place? The mental image must, then, serve to support these qualities. And yet to admit this is once more to fall prey to the illusion of immanence. To support qualities that resemble sensible qualities is to be to this extent thing-like« (ebd., 150). 118 Waldenfels, ebd., 77.
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2. 2. 2. Das Analogon in der reinen Vorstellung (image mentale) Auch die image mentale intendiert ein reales Ding, das sich im Wahrnehmungsfeld befindet, dies tut sie jedoch anders als in den bisher beschriebenen Fällen »durch einen psychischen Inhalt hindurch« (Im 92). Und dieser psychische Inhalt fungiert wie Gemälde, Imitationen, Schemazeichnungen, Flecken, entopische Lichter als ein Objekt, das als ein Analogon für ein anderes Objekt auftritt. Der Versuch, die Materie der image mentale wie die »materiellen Inhalte des Porträt- oder des Imitations-Bewußtseins« (Im 92) zu beschreiben, steht, wie Sartre nun erklärt, vor dem Problem, daß das Verschwinden der image mentale keinen sinnlichen Rest übrigläßt: Es bleibt keine bemalte Leinwand, kein Liniengewirr wie bei den images physiques. In diesen Fällen konnte das Analogon rekonstruiert werden, ohne die Vorstellung zu erneuern, d. h. ich kann auf die Wahrnehmung zurückgreifen, um das Analogon der image physique zu beschreiben. Nach dem Wechsel der Intention wird die Materie der Vorstellung jedoch nicht zum Objekt einer Wahrnehmung, wie bei den images physiques, sondern sie verschwindet schlichtweg. Bewahren wir jedoch das vorstellende Bewußtsein, so erscheint die Materie dem reflexiven Akt nur in ihrer Analogiefunktion. Daß jedoch auch in der image mentale ein Analogon integriert ist, hält Sartre für eine »Wesensnotwendigkeit [nécessité d’essence]« (Im 93). Dieses Dilemma ist der Grund für den methodischen Wechsel, der schon in der Einleitung von Das Imaginäre angekündigt wurde (vgl. Im 16). An dieser Stelle, vor dem zweiten Kapitel, findet sich nun der Übergang von der phänomenologischen Wesensbeschreibung zur Experimentalpsychologie:119 »(W)enn wir die Natur und die Komponenten dieses Gegebenen (gemeint ist das Analogon der reinen Vorstellung – Anm. J. B.) genauer determinieren wollen, sind wir auf Vermutungen angewiesen« (Im 93). Nun müssen Hypothesen aufgestellt werden, die anhand von Beobachtung und Experiment überprüft werden können. Sartre verläßt damit den Bereich der Gewißheit und verlegt seine Untersuchungen in den »Bereich des Wahrscheinlichen« (Im 93).
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Vgl. zum Methodenwechsel Bunting, ebd., 240; Morgan, ebd., 32 f.; Waldenfels, ebd., 77; vgl. Cabestan, 14, 61: »(L)es droits parties suivantes relèvant du probable car Sartre y est obligé d’abandonner l’évidence que la pure réflexion offre à la description psychologique et de s’appuyer sur la psychologie expérimentale dont les résultats ne sauraient prétendre à la même certitude«. Smith hat zutreffend bemerkt, daß auch der Teil von Das Imaginäre, der sich mit dem Wahrscheinlichen beschäftigt, nicht auf phänomenologische Beschreibungen verzichtet (vgl. ebd., 71; Fußn. 11).
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2. Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft
2. 2. 2. 1. Das vorstellende Wissen Nach Sartre sind »Wissen, Bewegung und Affektivität« die »realen, noetischen Elemente des vorstellenden Bewußtseins« (Im 213), die nun der Reihe nach erläutert werden sollen. Von hier aus soll es möglich sein, den »Ursprung der Immanenz-Illusion« (Im 144) aufzuklären: Die Auffassung, man könne seine Vorstellungen sehen oder hören, die zur Immanenz-Illusion führt, hat ihren Grund in einer fundamentalen Widersprüchlichkeit des Imaginären. Das irreale Objekt – z. B. das Pantheon – erscheint, aber es gibt sich zugleich als abwesend.120 Die Vernunft tendiert nun dazu, dieses Paradox durch die These aufzuheben, es habe ein dem Pantheon ähnliches Objekt gegeben, das tatsächlich anwesend ist und welches man die Vorstellung nennt. Damit wäre der logische Widerspruch um den Preis einer Identifikation der Vorstellung mit dem Analogon vermieden. Das Analogon erhält die Eigenschaften der Sache, die es repräsentiert, und wird aufgrund seiner geringeren Intensität zu einer Miniatur-Sache: »Es repräsentierte die sinnlichen Eigenschaften des abwesenden Objekts, ohne sie zu besitzen: man könnte sagen, daß es sie hatte, ohne das abwesende Objekt zu sein. Nichts ist klarer, besser konstruiert als diese Illusion: diese graue Farbe repräsentieren, das heißt dieses auf das Grau hin erstreckte Bewußtsein erfüllen, ohne es zu befriedigen, bedeutet das nicht, ihm ein geringeres Grau, ein Grau ohne Exteriorität, ein phantomartiges Grau zu präsentieren, das nichts Sinnliches behielte außer seiner undefinierbaren Grau-Natur« (Im 144). Es gibt nicht zwei Peter, einen realen, weit entfernt von mir und einen irrealen, der als Korrelat meines vorstellenden Bewußtsein anwesend ist. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Peter als Vorstellung und dem Peter als Fleisch und Blut, selbst wenn ich explizit angesichts des Erscheinens von Peter als Vorstellung unterstreiche, daß er nicht wirklich da ist: »Es gibt nur einen Peter, und das ist der, der eben gerade nicht da ist; nicht dasein ist seine wesentliche Eigenschaft: in einem Moment ist mir Peter als in der und der Straße gegeben, das heißt als abwesend. Und diese Abwesenheit Peters, die ich direkt wahrnehme, die die wesentliche Struktur meiner Vorstellung konstituiert, ist eben gerade eine Nuance, die ihn ganz und gar färbt, ist das, was wir seine Irrealität nennen« (Im 200). Welcherart ist nun das Analogon der image mentale? An ihrem Ursprung in unserer Spontaneität impliziert die image mentale ein konkretes, wenn auch »hypothetisch(es)« (Im 97), Wissen, eben die Kenntnis Peters, die in Form einer »Richtung auf Peter zu« oder einer »Erwartung von Peter« (Im 97) be120
Vgl. Kuehl, ebd., 224. Siehe hierzu auch die bereits dargelegte Erklärung, die Ryle für den Ursprung der immanentistischen Fehldeutung der Imagination liefert.
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steht. Nur dasjenige kann vorgestellt werden, was man schon in irgendeiner Weise kennt. Das vorstellende Wissen wird von Sartre bestimmt als »eine Bemühung, dieses ›etwas‹ zu bestimmen«, als »Wille zum Anschaulichen zu gelangen« oder auch als »Erwartung von Vorstellungen« (Im 111).121 Und diese Veranschaulichung ist keine nachträgliche Ergänzung, sondern Konstituens und »aktive Struktur der Vorstellung« (Im 98). Während die Vorstellung auf ein Wissen angewiesen ist, das sie konstitutiert – hierin sieht Sartre »die Hauptursache des Phänomens der Quasi-Beobachtung« (Im 98) – kann das Wissen umgekehrt unabhängig von der Vorstellung sein, d. h. es ist selbst in ungebundenem Zustand ein vollständiges Bewußtsein (vgl. Im 98). Sartre beruft sich bei der These eines reinen Denkens auf die Untersuchungen Bühlers.122 Ein solches Wissen »im freien Zustand« (Im 98) intendiert, wie aus den Experimenten Bühlers entnommen werden kann, z. B. das Gebirge »nicht als anschauliche Realität, sondern als bestimmte Regel« (Im 98). Es ist ein »Bewußtsein von Relationen« (Im 99) bzw. eine Leerintention, da hier die sinnliche Materie entweder überhaupt nicht oder allenfalls »in der Form des Terms oder Trägers der Relationen« (Im 99) eine Rolle spielt: »Zum Beispiel wird das Blau des Gemäldes nur als ›vierte Grundfarbe‹ gedacht« oder Herr Lebrun »als ›oberster Beamter Frankreichs‹« (Im 99). In jedem Fall bleibt es »ein leeres Bedeutungsbewußtsein« (Im 99).123 Husserl zufolge kann die Vorstellung, sofern die Wahrnehmung fehlt, die intuitive Erfüllung der zunächst leeren Bedeutung ermöglichen.124 Dies ge121
Vgl. Baladie, ebd., 51 f. Sartre bezieht sich auf Bühlers Studie Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge (zit. n. Im 98 Fuß.). 123 Schon Husserl spricht in der I. Logischen Untersuchung von dem reinen Bedeutungsbewußtsein als von einem »Verständnis ohne Anschauung« (ebd., 72), das ohne Erfüllung durch Wahrnehmung oder Vorstellung eine reine Leerintention bleibt (vgl. auch WE 105): Die Bedeutungsintention ist, wie Husserl fortfährt, »sinnvoll und doch ohne illustrierende Anschauung«. Ich verstehe das Wort ›Kugelschreiber‹, ohne mir einen Kugelschreiber vorstellen zu müssen: »Liegt die Bedeutsamkeit nicht in der Anschauung, so wird das anschauungslose Sprechen darum kein gedankenloses sein müssen« (ebd., 73). Für das Verständnis eines Ausdrucks sind nach Husserl die bedeutungsverleihenden, nicht aber die bedeutungserfüllenden Akte wesentlich (ebd., 44, vgl. auch ebd., §§ 17–20). Vgl. auch schon Descartes, Meditationen, 65: »Handelt es sich aber um ein Fünfeck, so kann ich zwar seine Figur, wie die des Tausendecks, verstehen, ohne mich der Einbildungskraft zu bedienen, aber ich kann sie mir auch bildlich vorstellen, indem ich nämlich mein geistiges Auge auf seine fünf Seiten und zugleich auf die durch diese eingeschlossene Fläche richte. Und ich bemerke hierbei ganz deutlich, daß es einer ganz besonderen seelischen Anstrengung bedarf, um sich etwas bildlich vorzustellen, einer Anstrengung, die ich zum Verstehen nicht nötig habe. Diese neue seelische Anstrengung aber zeigt klar den Unterschied zwischen bildlichem Vorstellen und reinem Verstehen«. 124 Vgl. Husserl, II. Logische Untersuchung, Kap. 1. 122
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2. Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft
schieht in den Fällen, in denen ich zuvor das Wort ›Schwalbe‹ denke und diese leere Bedeutung dann mit der Vorstellung einer Schwalbe ›anfülle‹. Diese Erwägungen Husserls empfindet Sartre als »schockierend« (Im 99), denn die Vorstellung ist selbst ein Bewußtsein und kein Gehalt, der ein anderes Bewußtsein ›anfüllen‹ könnte. Eine solche Konzeption bedeutet den Rückfall in die Immanenz-Illusion. Die Wahrnehmung ist für Sartre ebensowenig wie die Vorstellung ein Bewußtseinsinhalt (vgl. Im 20). Dennoch nimmt er keinen Anstoß daran zu sagen, daß die Wahrnehmung die Bedeutung »erfüllt« (vgl. Im 47); er hält es dagegen für einen Rückfall in die Immanenz-Illusion, wenn Husserl erklärt, daß auch die Vorstellung die Bedeutung erfüllt (vgl. Im 99). An späterer Stelle findet sich allerdings eine Erklärung für diesen Unterschied: Die Vorstellung – ob mentale oder physique – »repräsentiert ein gefülltes Bewußtsein« (Im 139), weswegen es niemals in ein umfassenderes Bewußtsein integriert werden kann. Das Zeichenbewußtsein ist jedoch leer, insofern es ein zweites Objekt intendiert, das nur in äußerer Relation zum Zeichen steht (vgl. Im 47, 99); eben darum »kann ein bedeutendes Bewußtsein sehr wohl sich erfüllen, das heißt als Struktur in eine neue Synthese eintreten – Wahrnehmungs- oder Vorstellungsbewußtsein« (Im 139). Sartre bietet nun folgende Alternative zu der für ihn inakzeptablen Deutung Husserls an: Seiner Ansicht nach stellt das vorstellende Wissen gegenüber dem reinen Wissen »eine radikale Modifikation der Intention« (Im 110) dar. Die Vorstellung ist keine Erfüllung der Bedeutung, sondern vielmehr deren Degradierung. Das reine Wissen erfährt nach Sartre eine Degradierung, sobald es seinen Gehalt anschaulich repräsentieren will, d. h. sobald es sich in ein imaginierendes Bewußtsein integriert. Am Beispiel der phänomenologischen Beschreibung der Romanlektüre versucht Sartre, den Begriff des vorstellenden bzw. degradierten Wissens zu veranschaulichen. Dabei steht zwar weniger die Absicht im Vordergrund, sich dem Phänomen des literarischen Textes zu nähern, dennoch sind die wenigen Bemerkungen zu diesem Thema insofern richtungsweisend für seine späteren Arbeiten, als Sartre hier erstmals zwischen der Lektüre eines pragmatischen und eines literarischen Textes unterscheidet. Lesen wir ein Plakat oder ein wissenschaftliches Werk, so konstituiert sich ein reines, d. h. anschauungsloses Bedeutungsbewußtsein bzw. eine »Lexis« (Im 108). Die verbalen Zeichen sind hier nur »Mittler zwischen reinen Bedeutungen und unserem Bewußtsein« (Im 107). »Wenn wir ein wissenschaftliches Werk lesen, erzeugen wir ein Bewußtsein, in dem die Intention in jedem Augenblick an dem Zeichen festgehalten wird. Unser Denken, unser Wissen taucht in die Wörter ein, und wir werden uns dessen bewußt an (sur) den Wörtern, als objektive Eigenschaft der Wörter. Natürlich bleiben diese objektiven Eigenschaften nicht getrennt, sondern verschmelzen von einem Wort zum anderen, von einem Satz zum
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anderen, von einer Seite zur anderen: kaum haben wir ein Buch geöffnet, haben wir eine objektive Bedeutungssphäre vor uns« (Im 108). Vergleicht man ein Element aus einem Bericht, z. B. ›Der Pariser Hausbesitzerverband‹, mit einem Element aus einem Roman: ›Er stieg eilig die drei Stockwerke des Hauses hinab‹, dann ändert sich weniger der Inhalt des Wissens ›Haus‹, sondern die Art und Weise, wie dieser Inhalt gewußt wird. Der Bericht bietet diesen Inhalt als Regel, im Roman erscheint er als Objekt: »Ich denke ›Büro‹, ›dritter Stock‹ in der Art von Sachen« (Im 109).125 An die Stelle der »objektive(n) Bedeutungssphäre« tritt ein »Kontakt mit der irrealen Welt« (im 108). Das Wissen kann also einmal zuerst über die Ordnung das Objekt intendieren – »und zwar auf eine sehr vage Art und Weise als das, ›was die Ordnung trägt‹, das ist noch ein Bericht« (Im 109). Das Bewußtsein kann aber ebenso primär das Objekt intendieren und sich auf die Ordnung nur insofern richten, »als sie für das Objekt konstitutiv ist« (Im 109). Dies ist das Charakteristikum der Romanlektüre. Das reine Wissen, das immer nur leeres Bewußtsein einer Regel bzw. Ordnung ist (vgl. Im 168), versagt vor der Individualität des Blautons, es erfaßt ihn nur indirekt als ›vierte Grundfarbe‹, d. h. es intendiert lediglich seine Essenz bzw. die Ordnung seiner Qualitäten. Damit gibt sich das vorstellende Wissen nicht zufrieden: »Nur wird das vorstellende Wissen diese Ordnung nicht in sich anvisieren, es will nicht mehr ›die vierte Grundfarbe der ›Sixtinischen Madonna‹ anvisieren. Es visiert etwas an, das diese vierte Farbe ist. Die Beziehung tritt hinter der Sache zurück« (Im 110). So geben sich die Romansätze des Lesebewußtseins als mit vorstellenden Wissen »durchtränkt« (Im 111). Der Leser hat es nicht mit »Beziehungssynthesen«, sondern mit »Synthesen von etwas« (Im 111) zu tun, wobei die gelesenen Beziehungen nicht die Implikationen eines Begriffs konstituieren, sondern sich zueinander verhalten wie die Qualitäten eines Objekts: »Zum Beispiel wird das Büro von Peter etwas, das in dem Neubau ist; und der Neubau wird etwas, das in der Rue Émile-Zola ist« (Im 111). Wenn das vorstellende Wissen nach erfüllender Intention verlangt, läßt es »von Zeit zu Zeit« die Zeichen die Rolle eines Objektrepräsentanten übernehmen. Das Zeichen wird Zeichnung, seine Physiognomie erhält eine repräsentierende Funktion. Die Bedeutung des Wortes ist nicht mehr anschauungslos intendiert, sondern als Vorstellungsobjekt; und korrelativ hierzu wird das Wort nicht mehr wie in der gewöhnlichen Signifikation einfach übergangen, sondern der Zeichenkörper fungiert von nun an als Analogon. Sartre spricht in diesem Zusammenhang von einer »Kontamination« (Im 112), die die Wörter des Romans erfahren: 125
Verhält es sich aber genauso, wenn in einem Bericht von einem ganz bestimmten Haus die Rede ist?
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»Wenn ich lese ›diese schöne Person‹, bedeuten diese Worte zweifellos und vor allem eine bestimmte junge Frau, die Heldin des Romans. Aber sie repräsentieren in einem bestimmten Maß die Schönheit der jungen Frau; sie spielen die Rolle dieses etwas, das eine schöne junge Frau ist« (Im 112). Infolgedessen haben wir es im Fall der Romanlektüre »mit einem hybriden, halbbedeutenden, halbvorstellenden Bewußtsein zu tun« (Im 113).126 Natürlich gibt es viele Vorstellungen ohne Wörter, sie sind »nicht unentbehrlich« (Im 140). Aber insofern jede Vorstellung ein Wissen impliziert und jedes Wissen, wie Sartre erklärt, die Tendenz hat, sich durch Wörter zu artikulieren, existiert auch »in jeder Vorstellung eine Art verbaler Tendenz« (Im 140). Ist das Wort erst einmal explizit dem Vorstellungsbewußtsein gegeben, so fügt es sich in das Analogon und damit »in die Synthese des transzendenten Objekts« (Im 140) ein. Sartre veranschaulicht diesen Sachverhalt: »Ebenso, wie wenn ich den Mond wahrnehme und das Wort ›Mond‹ denke, sich dieses Wort dem wahrgenommenen Objekt einfügt als eine seiner Eigenschaften, ebenso wird sich, wenn ich nur das vorstellende Bewußtsein des Mondes hervorrufe, das Wort in die Vorstellung einfügen« (Im 140). Es kann also zur Eigenschaft des wahrgenommenen oder vorgestellten Objekts werden, wobei es auch im letzteren Fall keineswegs seine Zeichenfunktion einbüßen muß. Kraft des »zwischengeschaltete(n) Objekts« (Im 140) in der Vorstellungssynthese wird es »angesteckt« (Im 140) und erhält zu seiner gewöhnlichen Zeichenfunktion eine zusätzliche »Repräsentationsfunktion« (Im 141): »Freilich nicht als Repräsentant des wirklichen (gesehenen oder gehörten) Wortes, weil es selbst ein wirkliches, durch wirkliche Stimmbandbewegungen erzeugtes Wort ist. Das Wort der inneren Sprache ist keine Vorstellung, es ist ein physisches Objekt, das als Zeichen dient. Es wird also als Repräsentant einer Eigenschaft der Sache erscheinen. Wenn ich das vorstellende Bewußtsein des Mondes erzeuge, kann dieses Wort ›Mond‹ sehr wohl eine wirkliche Eigenschaft des Objektes manifestieren, nämlich die Eigenschaft, Mond zu sein. In diesem Fall kann das Wort, das ein System von Bewegungen ist, der Vorstellung jene Exteriorität verleihen, die sie üblicherweise von den Bewegungen der Augen des Kopfes oder der Arme verlangt. Das Wort repräsentiert sogar den zentralen Kern des Analogons, wie man schon voraussehen konnte nach dem, was wir über seine Rolle bei der Romanlektüre gesagt haben« (Im 140 f.). Die Beziehung zwischen der fundierenden Zeichenfunktion und der in der Vorstellung erworbenen Repräsentationsfunktion des Wortes, welche sich in der späteren Trennung von Prosa und Poesie widerspiegelt, präzisiert Sartre in Das Imaginäre allerdings nicht weiter: »So bleibt dieses für die littérature 126
Das vorstellende Wissen ist also eine Mischform zwischen Signifikation und Imagination.
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engagée so wichtige Problem nur angedeutet«.127 Offenbar sind die Beschreibungen des irrealisierten Wortes in der Schrift über die Einbildungskraft ohne Unterschied für den gesamten Bereich der Literatur gültig, wohingegen sie in Was ist Literatur? auf die Poesie beschränkt werden (vgl. das vielzitierte Florence-Beispiel WiL 18, s. u.). Sartre spricht jedoch bereits von einer weiterführenden Studie, die genauer das Verhältnis zwischen der Zeichenfunktion und der neu erhaltenen Repräsentationsfunktion entfalten müßte (vgl Im 141). Dieses Programm wird schließlich in Was ist Literatur? und Der Idiot der Familie wieder aufgenommen.
2. 2. 2. 2. Die Affektivität In Abwesenheit einer Person kann das Gefühl wiederauftauchen, das ihre anmutigen, weißen Hände in mir hervorgerufen haben. Im Grenzfall ist dieses Gefühl ohne jedes Wissen (vgl. Im 117). Dennoch ist es kein subjektiver Inhalt, sondern die Affekte sind, wie Sartre bereits in seinen Studien »Die Transzendenz des Ego« und der »Skizze einer Theorie der Emotionen« gezeigt hat, als Bewußtseinsformen zu beschreiben, die dem Prinzip der Intentionalität folgen: »(J)edes Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas. In einem Wort, die Gefühle haben spezielle Intentionalitäten, sie repräsentieren eine Art – unter anderen –, sich zu überschreiten. Der Haß ist Haß gegen jemanden, die Liebe ist Liebe für jemanden« (Im 115). Es handelt sich also bei diesem Beispiel um ein affektives Bewußtsein von den feinen, anmutigen Händen. Vorausgesetzt, daß das kognitive Moment fehlt, visiert das Bewußtsein diese Hände nicht als Hände an, aber es bleibt dennoch nicht leer. Das Begehren ohne jedes Wissen würde diese Hände in ihrer affektiven Form setzen und sich auf dieses affektive Äquivalent richten, ohne sie als Hände zu erkennen (vgl. Im 117 f.). So ist dieses Korrelat des affektiven Bewußtseins zwar affektiv determiniert, aber ich weiß nicht, was es ist. »So kommt es vor, daß ich nach einer erschöpfenden und schlaflosen Nacht ein außerordentliches Begehren in mir entstehen fühle. Affektiv ist sein Objekt streng determiniert, man kann sich nicht darin täuschen: nur weiß ich nicht, was es ist. Habe ich Lust, eine süße Erfrischung zu trinken; habe ich Lust zu schlafen, handelt es sich um ein sexuelles Begehren?« (Im 119) Völlig unverständlich ist allerdings angesichts dieser Unklarheit der affektiven Intention, inwiefern Sartre überhaupt noch behaupten kann, daß dieses unbekannte Objekt affektiv determiniert ist. Seiner Ansicht nach setzt das Begehren zwar ein Objekt, aber ausschließlich als Korrelat des affektiven 127
Kohut, ebd., 21.
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Bewußtseins, weswegen jeder Versuch einer Definition zum Scheitern verurteilt ist. Es besteht dann mitunter ein »blindes Bemühen« (Im 119), repräsentativ zu erfassen, was affektiv schon gegeben ist. Dieses affektive Begehrensbewußtsein hat nach Sartre die Struktur einer Imagination: Eine gegenwärtige Synthese ist »Substitut einer repräsentativen abwesenden Synthese« (Im 119). Die Vorstellung ist der Grenzzustand, in dem das Begehren zugleich auch Kenntnis wäre, d. h. sie ist die untere Grenze des Wissens, sobald es sich degradiert, und die obere Grenze eines Gefühls, das sich erkennt (vgl. Im 120).128 Das vorstellende Wissen lehrt mich, daß das affektive Etwas für zwei Hände steht: Nun weiß ich, daß dieses Objekt zwei weiße und feine Hände repräsentiert, und ich fühle gleichzeitig die Weiße und Feinheit.129 Diese affektiv-kognitive Synthese ist die »Grundstruktur des Vorstellungsbewußtseins« (Im 121). Für Sartre scheint das Wissen unentbehrlich für die Konstitution einer Vorstellung zu sein, denn dem reinen affektiven Bewußtsein fehlt das Wissen, um ein Objekt zu imaginieren. Umgekehrt geht jedoch aus Sartres Darstellung nicht hervor, daß auch die Affektivität eine unentbehrliche Funktion bei der Imagination spielt. Das Wissen scheint notwendig zu sein, wohingegen das Gefühl eher fakultativ hinzutreten kann (vgl. hierzu auch Im 163).130
2. 2. 2. 3. Die Bewegungsbasis Die Bewegungen bzw. die kinästhetischen Empfindungen sind Sartre zufolge das dritte Moment des Analogons der image mentale.131 Ausgangspunkt der Untersuchung ist auch hier wiederum wie bei Wissen und Affektivität nicht 128
Lempen-Ricci, ebd., 217 f., hat auf das Ungleichgewicht zwischen Wissen und Affektivität hingewiesen: »(D)ans l’image, le désir se fait connaissance, mais la connaissance ne se fait nullement désir; elle reste connaissance. Certes, il ne s’agit que d’une connaissance dégradée; mais cette dégradation ne provient pas d’une contamination par l’instance affective«. 129 Vgl. Baladie, ebd., 53; Lempen-Ricci, 218; siehe auch Fowler, ebd., 266: »The quality of feeling finds its way into the heart of the thing; it is constitutive of it, overwhelming and definitive, spreading out over the whole future like a revelation of inner meaning«. 130 Smith hat an dieser Stelle den Einwand erhoben, daß die Affektivität nicht zur Konstitution eines Vorstellungsobjekts dienen kann, da sie keinerlei Ähnlichkeit mit dem intendierten Objekt besitzt (ebd., 74 f.). Er übersieht, daß die Ähnlichkeit hier darin besteht, daß das Gefühl angesichts des realen Objekts in Übereinstimmung mit demjenigen ist, welches zur Konstitution dieses Objekts als Vorstellung dient. Im übrigen scheint Smith zu unterstellen, mit dem affektiven Sinn sei ein Zeichenverhältnis gemeint (ebd., 75 f.) – andernfalls würde sein Verweis auf Husserl an dieser Stelle keinen Sinn machen –, wobei er Sartres Differenz zwischen Sinn und Bedeutung, die an späterer Stelle erörtert werden soll, allerdings außer acht läßt (vgl. hierzu auch Flynn, ebd., 436). 131 Vgl. Baladie ebd., 54.
Die Funktion des Analogons in der Vorstellung
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mehr die Reflexion, sondern die Experimentalpsychologie, deren Resultate einer phänomenologischen Auslegung unterzogen werden. Um den Beitrag der Bewegungen zur Vorstellungskonstitution zu klären, stützt Sartre sich auf Experimente, die Piéron vorgenommen hat, in denen die Probanden Figuren aus Linien aus dem Gedächtnis nachzeichnen sollten, die ihnen kurz vorher gezeigt worden waren (vgl. Im 122). Es finden sich neben Bewegungen der Augen auch solche des Kopfes oder der Hände, mit denen die Linien der Figuren reproduziert werden sollen. Diese motorischen Vorgänge bzw. die sie »heimlich« (Im 126) begleitenden kinästhetischen Empfindungen – »Empfindungen der Haut, der Muskeln, der Sehnen, der Gelenke« (Im 126) – übernehmen hier, so läßt sich aus Piérons Versuchsreihe entnehmen, die Rolle der Materie für ein visuelles Objekt als Vorstellung. Anders gesagt, die Muskelbewegungen werden nicht als solche wahrgenommen, sondern es kommt zu einer irrealen Visualisierung realer kinästhetischer Eindrücke.132 Insofern das kinästhetische Analogon durch einige wenige charakteristische Bewegungen hervorgerufen werden kann, ist es »ein ausgezeichnetes mnemotechnisches Mittel« (Im 134 f.): »Eine Versuchsperson, der wir ein Bild ›Die Rückkehr der Soldaten aus dem Krimkrieg‹ gezeigt hatten, beschrieb es darauf sehr richtig. Als wir sie fragten, ob sie sich bewußt wäre, interpretiert oder beschrieben zu haben, antwortete sie: ›Ich habe vor allem nach der Bewegung der Linien rekonstruiert.‹ Und etwas früher hatte sie uns gesagt: ›Ich repräsentiere mir hauptsächlich das Gemälde durch eine Bewegung von unten nach oben.‹ Diese Bewegung war in der Tat sehr charakteristisch wegen der großen Anzahl parallel laufender Bajonette, die auf dem Bild dargestellt waren. Die Versuchsperson sagte uns dann, sie habe eine durch senkrechte Striche gebildete Figur im Sinn, die nach unten durch Halbkreise verbunden seien. Diese Figur repräsentierte für sie das Gemälde. Sie war offensichtlich kinästhetischen Ursprungs und gewann all ihren Sinn aus dem Wissen« (Im 135). Im Falle bewegter Vorstellungsobjekte scheint die konstitutive Funktion der kinästhetischen Empfindungen unentbehrlich zu sein. Sartre erwähnt die Vorstellung einer bewegten Schaukel, die mit dem kinästhetischen Eindruck einher geht, daß die Augäpfel sich verschieben. Bei dem Versuch, sich diese bewegte Schaukel erneut – jedoch ohne Bewegung der Augäpfel – zu repräsentieren, kommt er zu folgendem Ergebnis: »(E)ntweder nahmen unsere Augen ihre Bewegung gegen unseren Willen wieder auf, oder wir konnten uns die Bewegung der Schaukel in keiner Weise vergegenwärtigen« (Im 133). 132
Die kinästhetischen Empfindungen »sind wie von der Vorstellung verschlungen, und wenn man sich bemüht, sie wiederzufinden, wird ihr Erscheinen von dem Verschwinden der Vorstellung begleitet« (Im 127).
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Dabei muß der jeweils ins Spiel kommende Muskel nicht unbedingt derjenige sein, der aktiv würde, wenn wir es mit einem realen Objekt in Bewegung zu tun hätten (vgl. Im 132 f.). Wie Smith moniert, bleiben Sartres Ausführungen zum Bewegungsanalogon allerdings unvollständig, da lediglich die visuellräumlichen Vorstellungsobjekte Berücksichtigung finden: «He does not describe what movements are involved in the imaginative consciousness of colours, sounds, tastes, smells and tactile sensations. As the validity of Sartre’s new theory of the imagination can only be established once it can be shown to explain all the aspects of the imaginative consciousness, it is necessary that these images of non-visual forms and sense qualities also be accounted for in terms of physical movements«133. In diesem Zusammenhang ist ein kurzer Blick auf Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung aufschlußreich. Merleau-Ponty versucht dort nachzuweisen, daß die verschiedenen wahrgenommenen Farben mit bestimmten leiblichen Reaktionen korrespondieren.134 Man könnte nun vermuten, daß diese Leibreaktionen als Analogon fungieren können, um die jeweiligen Farben irreal hervorzubringen, wie auch die Augenbewegungen als Analogon für die Vorstellung bestimmter Formen bei Sartre in Anspruch genommen werden. Hier bieten sich weiterführende Untersuchungen an. Die plurale Struktur des Analogons der image mentale ist, wie Sartre meint, verantwortlich dafür, daß das Vorstellungsobjekt anders als das Wahrnehmungsobjekt nur unzureichend dem Individuationsprinzip genügt. Wissen, Kinästhesie und Affektivität konstituieren in der Vorstellungsintention ein Objekt, das allgemeiner als dasjenige der Wahrnehmung ist. Peter als Vorstellung ist daher niemals Peter, wie er gegenwärtig in einem bestimmten Augenblick wahrgenommen würde, sondern vielmehr eine Art Synthese, die nicht nur eine gewisse Dauer, sondern auch widersprüchliche Momente einschließt. Die Wissensintention richtet sich z. B. auf Peter, wie ich ihn heute morgen wahrgenommen habe, während die affektive Intention ihn mir durch das Analogon so gibt, wie er sich vor einer Woche gezeigt hat. Da es zur Synthese beider Intentionen kommt, ist das Objekt in sich widersprüchlicher Natur: »(D)er Peter, den mein Wissen anvisiert, ist derjenige, der heute morgen sein Frühstück im Morgenrock einnahm; derjenige, den mir das Analogon liefert, ist der Peter, den ich vorgestern in blauem Mantel auf der Place du Châtelet gesehen habe«. Trotzdem »gibt sich dieser Peter im Mantel als Peter im Morgenrock« (Im 149). Während das Wissen trotz seiner Allgemeinheit ein individuelles Objekt intendiert, kann die Affektivität zudem für eine Vielheit von Objekten im undifferenzierten Zustand als Analogon 133
Smith, ebd., 72. Smith hat in diesem Aufsatz versucht, die bei Sartre kritisierte Lücke zu schließen (ebd., 72–74). 134 Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 245–249.
Imagination und Denken
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dienen: »Deshalb kann ein und dieselbe Person im Traum mehrere Personen sein« (Im 150).135
2. 3. Imagination und Denken Die Imagination ist dem Denken nicht völlig heterogen, sie schließt ein Wissen, ja sogar Wörter und Urteile (vgl. Im 55) ein. Der Begriff kann nach den bisherigen Ausführungen in zwei Erscheinungsweisen auftreten: Auf der reflexiven Ebene ist er reines Denken, auf der unreflektierten Ebene gibt er sich als Vorstellung. Sartre nennt die unreflektierte Ebene des Denkens daher auch »die Ebene der Präsenzen« (Im 169), insofern das Bewußtsein hier eine Haltung einnimmt, als ob die Objekte, über die es urteilt, präsent wären: »(D)as Denken nimmt die Vorstellungsform an, wenn es intuitiv sein, wenn es seine Behauptungen auf den Anblick eines Objekts gründen will« (Im 194).136 Daraus läßt sich schließen, daß erst auf einer entwickelten ideativen Ebene, Vorstellung und Begriff sich voneinander trennen,137 zuvor also auf einer ursprünglichen Stufe ungeschieden sind. Die »Befreiung von allen Vorstellungen« (Im 185) mit dem Ziel, das Denken als »für sich selbst ganz und gar transparent« (Im 185) zu verwirklichen, bedeutet für Sartre eine »radikale Haltungsänderung«, ja eine »wahre Revolution« (Im 185). Durch die Konversion der Irreflexion zum reflexiven Denken beschreitet das Bewußtsein einen Weg von der Idee als Vorstellung zur Idee als Idee. Mit anderen Worten, bevor sich das reine Denken herausbildet, vollzieht sich die ideative Tätigkeit unter dem Einfluß von imaginären Hervorbringungen. Dieses »Denken als Vorstellung« kann nun durchaus als eine Art »Fesselung« (Im 182) der intellektuellen Tätigkeit empfunden werden. Hieraus ergibt sich ein Mißtrauen gegenüber dem eigenen symbolischen Schema bzw. seiner Eignung, das Denken adäquat wiederzugeben, das sich, wie Sartre erklärt, vor allem bei Philosophen findet, die die Geltung ihres Denkens selbst kritisch reflektieren und eine Skepsis gegenüber Vergleichen und Metaphern entwickeln (vgl. Im 183). Das Denken, das sich in Analogien bewegt, ist durch den jederzeit 135
Entgegen dem Prinzip der Quasi-Beobachtung scheint es hier doch so etwas wie ein Überraschungselement zu geben. Statt auf einen Schlag alles zu liefern, was an Wissen in ihr ist, stellt die Vorstellung uns vor das Problem, erst nach und nach – wie beim Wahrnehmungsobjekt – die Vielfalt ihrer Sinndimensionen herauszufinden. Nachdem wir trotz der behaupteten Gleichursprünglichkeit von Wissen und Intenion uns zunächst »in vergeblichen Bemühungen« (Im 150) verloren haben, steht uns dann schließlich die Lösung vor Augen. 136 Vgl. Smith, ebd., 70. 137 Genaugenommen kann sich nur das Denken von der Vorstellung, nicht aber umgekehrt die Vorstellung vom Denken isolieren, da sie immer ein Wissen einschließt.
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möglichen Konflikt zwischen der Eigengesetzlichkeit des Symbols und dem symbolisierten kognitiven Gehalt gefährdet: »Einerseits können Steine, ein Hammer, eine Blume Symbole für eine Menge abstrakter Wesenheiten sein; andererseits haben diese Blume, diese Steine, dieser Hammer ihre eigene Natur und tendieren dahin, sich gemäß dieser Natur als Vorstellungen zu entwickeln« (Im 189). Zur Veranschaulichung zitiert Sartre die Überlegungen des Studenten »R. S.« (Im 190, Fußn. 1) zum Begriff der ›Unterdrückung‹ mit Hilfe eines symbolischen Schemas: »›Ich hätte mich gerne von der Idee überzeugt, nach der jeder Unterdrückte oder jede Gruppe von Unterdrückten aus der erlittenen Unterdrückung selbst Kräfte schöpft, sie abzuschütteln. Aber ich hatte den deutlichen Eindruck, daß eine solche Theorie willkürlich sei, und ich fühlte eine Art Unbehagen. Ich unternahm eine neue Reflexionsbemühung: in diesem Augenblick entstand die Vorstellung einer gespannten Feder. Gleichzeitig spürte ich in meinen Muskeln die latente Kraft der Feder. Sie würde um so heftiger entspannen, je stärker sie gespannt worden war. Für einen Moment fühlte ich bis zur Evidenz die Notwendigkeit der Idee, von der ich mich einen Augenblick vorher nicht hatte überzeugen können‹« (zit. n. Im 189 f.). Hier kommt es nun zur »Kontamination zwischen den Gesetzen der Vorstellung und denen des repräsentierten Wesens« (Im 190). Natürlich reichert die Feder Energie an, aber sie könnte sich niemals von dem auf ihr lastenden Druck befreien, denn die gespeicherte Kraft ist in jedem Fall geringer als diejenige, die sie zusammendrückt: »Die Schlußfolgerung, die man an (sur) der Vorstellung ablesen könnte, wäre dann folgende: ›Der Unterdrückte gewinnt an Kraft und Fähigkeit aus der Tatsache der Unterdrückung selbst, aber es wird ihm nie gelingen, sich von seinem Joch zu befreien.‹« (Im 190). Hätte der Student seine Vorstellung genauer betrachtet, wäre er also zu eher pessimistischen Schlußfolgerungen gekommen. Wenn er dagegen ein anderes symbolisches Schema konstituiert hätte, so hätte er möglicherweise ganz andere Resultate erhalten: »So birgt die Vorstellung eine fragwürdige Überzeugungskraft in sich, die von der Doppeldeutigkeit ihres Wesens herrührt« (Im 191). Obwohl der Begriff ›Degradierung‹ eine Verfallsbewegung zu suggerieren scheint, legen Sartres Bemerkungen doch eher den Schluß nahe, daß nicht das reine, sondern das vorstellende bzw. degradierte Denken die ursprüngliche Denkform ist. Dementsprechend scheint es zutreffender, von einem Rückfall als von einer Degradierung zu sprechen. Das reine Denken, das sich von Analogien emanzipiert hat, entwickelt sich sozusagen erst infolge einer Konversion aus dem vorstellenden Denken. In diesem Sinne können diese Erörterungen auch als Versuch der Darstellung einer Genese des Denkens aus
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der Vorstellung gelesen werden, der zugleich auch die Motivationen dieses Übergangs mitzuliefern beabsichtigt. In der Forschungsliteratur ist in erster Linie Sartres intellektualistische Herabsetzung des Denkens in Bildern moniert worden. Vor allem Casey übt deutliche Kritik an der Konzeption eines reinen Denkens, die sich offensichtlich an Descartes orientiert. »Sartre falls into the embrace of an intellectualistic illusion«138: »By the very act of differentiating ›pure‹ from ›degraded‹ knowing, and by then ranging the image under the latter heading alone, he severely downgrades the cognitive status of imagining […]. In this way Sartre further reinforces the rationalist tradition penchant for deprecating imagination as a lowly species of thinking«.139 Caseys zitierte Einwände sind alles in allem kaum von der Hand zu weisen, insofern Sartre eindeutig zu werten und zu hierarchisieren scheint und vor allem an der Reinheit eines sich selbst völlig transparenten Denkens festhält. Das reine Denken, das Regeln und »universelle Essenzen« (Im 30) intendiert, steht der Unzuverlässigkeit des vorstellenden Denkens in Analogien gegenüber, das sich verirrt und zu falschen Ergebnissen kommt. Dies ist jedoch nicht Sartres letztes Wort in dieser Angelegenheit: Bereits in Der Ekel, schließlich in Das Sein und das Nichts und vielleicht am deutlichsten in Wahrheit und Existenz artikuliert Sartre eine ausgesprochene Skepsis gegenüber dem reinen Denken. Das Phänomen des Seins, das sich im Ekel zeigt (vgl. die berühmte Kastanienwurzelszene) markiert den Übergang vom Idealismus zur Ontologie (vgl. das Kapitel über den ontologischen Beweis in der vorliegenden Arbeit), insofern Roquentins Kontingenzerfahrung die Einsicht in das Versagen abstrakter und logischer Erklärungskategorien einschließt. Das konkrete reale Ereignis ist absurd und kontingent, weil es sich nicht ableiten läßt.140 Sartre ist sich der Grenzen intellektualistischer Erklärungsansätze offenbar sehr bewußt, wenn er schließlich Roquentin sagen läßt: »(D)ie Welt der Erklärungen und Gründe ist nicht die der Existenz« (E 147). In Wahrheit und Existenz beschreibt Sartre den Idealismus bzw. den Intellektualismus, den Casey ihm angesichts seiner Konzeption des Denkens in Das Imaginäre gerade vorwirft, als eine Form der mauvaise foi oder der Ignoranz, die als Flucht vor der Faktizität das Wissen von jedem Sehen ausschließt: »Ich will durchaus eine fertige Wahrheit annehmen und mich ihrer als Mittel für mein Handeln bedienen, aber ohne sie zu öffnen, ohne sie zu realisieren« (WE 105). Auf diese Weise bildet sich ein »Typus idealistischer Wahrheiten« (WE 106):
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Casey, ebd., 158; vgl. auch Cabestan, ebd., 21, 43. Casey, ebd., 159 f. Angesichts der Kontingenz des Seins stößt das Denken mit seinen Begriffen an un-
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»(D)as heißt Wahrheiten, die Aussagen über das Sein sind ohne Kontakt mit dem Sein. So entsteht ein Denktypus, der aus der Wahrheit das Produkt von Schlüssen und Diskursen macht und dabei der Anschauung ihren grundlegenden, offenbarenden Wert abstreitet« (WE 106). Hierdurch kommt das Denken zu einer »Erkenntnis über das Sein in Abwesenheit des Seins« (WE 107). Die Spezifität, die in Das Imaginäre gerade den Wert, eben die Reinheit des reinen Wissens ausmacht, wird in Sartres späterem Denken nun zu einem Kritikpunkt, der als Kontrastfolie konstitutiv für das Selbstverständnis des existentialistischen Denkens wird. Das reine Denken erfaßt allgemeine Wesenheiten; einer Philosophie, der es um die Faktizität geht, kann dies jedoch nicht genügen.141 Dieser Wandel in Sartres Einschätzung des Denkens beruht wahrscheinlich auf dem Einfluß von Heideggers Sein und Zeit, worin in Abgrenzung von der intellektualistischen Betrachtung von Wesenheiten Husserlscher Prägung eine existenziale Daseinsanalyse durchgeführt wird. Das letzte Kapitel der vorliegenden Arbeit wird hervorheben, daß die Imagination in Sartres Hermeneutik an der Stelle eine unentbehrliche Rolle spielt, wo abstrakte Erklärungsmodelle versagen.
2. 4. Imagination und Wahrnehmung Bereits in den vorherigen Untersuchungen hat sich Sartres Weigerung gezeigt, der weitverbreiteten Auffassung der Imagination als schwächerer, wiederauflebender Wahrnehmung das Wort zu reden. Im vierten und letzten Abschnitt des dritten Teils von Das Imaginäre gibt er in aller Deutlichkeit
überwindliche Grenzen: »Die Wörter waren verschwunden und mit ihnen die Bedeutung der Dinge, ihre Verwendungsweisen, die schwachen Markierungen, die die Menschen auf ihrer Oberfläche eingezeichnet haben« (E 144). Vgl. auch: »Vergebens versuchte ich, die Kastanienbäume zu zählen, sie in bezug auf die Veranda zu situieren, ihre Höhe mit der der Platanen zu vergleichen: jeder von ihnen entzog sich den Relationen, in die ich ihn einschließen wollte, isolierte sich, brach aus. Diese Relationen (die ich hartnäckig beibehielt, um den Zusammenbruch der menschlichen Welt, der Maße, der Quantitäten, der Richtungen hinauszuzögern): ich empfand ihre Willkürlichkeit, sie verfingen nicht mehr bei den Dingen« (E 146). 141 Dies zeigt sich auch in den Grundzügen von Sartres Individualhermeneutik von der existentiellen Psychoanalyse bis zur regressiv-progressiven Methode. Simone de Beauvoir schreibt über Sartres philosophische Haltung: »Jeden universalistischen Gedanken jedoch bekämpfte er rückhaltlos. Die Gesetze, die Begriffe, alle Abstraktionen waren nichts als Schall und Rauch. Die Menschheit fand sich einstimmig bereit, sie zu akzeptieren, weil sie ihr eine beunruhigende Realität verschleierten. Er jedoch wollte diese Realität zu fassen kriegen; er verachtete die Analyse, die immer nur Leichen seziert; ihm schwebte ein allumfassendes Verstehen des Konkreten vor, also des Individuellen, denn nur das Individuum ist existent« (In den besten Jahren, 30).
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seiner Überzeugung einer grundsätzlichen Trennung von Wahrnehmung und Vorstellung Ausdruck: Wahrnehmung und Imagination sind »die beiden großen unreduzierbaren Haltungen des Bewußtseins […]. Daraus folgt, daß sie sich gegenseitig ausschließen« (Im 191).142 Wenn ich vorstelle, kann ich nicht gleichzeitig wahrnehmen und umgekehrt:143 »Solange ich diesen Tisch betrachte, kann ich nicht die Vorstellung von Peter bilden; aber wenn plötzlich der irreale Peter vor mir auftaucht, verschwindet der Tisch, der vor meinen Augen ist, er verläßt die Szene. So können diese beiden Objekte, der reale Tisch und der irreale Peter, nur als Korrelate radikal unterschiedener Bewußtseinsformen aufeinanderfolgen: wie könnte die Vorstellung unter diesen Bedingungen dazu beitragen, die Wahrnehmung zu bilden?« (Im 191 f.) In seinen Beschreibungen beruft sich Sartre explizit neben Husserl auch auf die Gestaltpsychologen Köhler, Koffka und Wertheimer (vgl. Im 192). Die Wahrnehmung ist nicht das Resultat von Sinnesempfindungen, sondern sie muß in phänomenologischer Weise als ein »Akt« betrachtet werden, »durch den das Bewußtsein sich in Präsenz eines raumzeitlichen Objekts setzt« (Im 192). Selbstgebung zeichnet zwar das Gemeinte als solches aus, impliziert jedoch nichtsdestotrotz, daß die meisten Aspekte des Gemeinten nicht selbst wie der urpräsente Kern leibhaftig gegeben, sondern nur mitgegeben, sozusagen appräsentiert sind. In den Cartesianischen Meditationen beschreibt Husserl die Wahrnehmung als eine solche Mischung aus Präsenz und Appräsenz, wobei beide so »verschmolzen« sind, »daß sie in der Funktionsgemeinschaft einer Wahrnehmung stehen, die in sich zugleich präsentiert und appräsentiert und doch für den Gesamtgegenstand das Bewußtsein seines Selbstdaseins herstellt«.144 Natürlich, räumt Sartre ein, nehme ich mehr und anderes wahr, als ich tatsächlich sehe. Das impliziert jedoch nicht, daß wir das sinnlich Gegebene mit Vorstellungsgehalten ergänzen und »irreale Qualitäten auf die Objekte projizieren« (Im 192). Die Aufgabe, die nicht-gegebenen Seiten des Gemeinten, also seinen Innenhorizont, anzuvisieren, ist nicht Sache der Vorstellung, sondern der sogenannten Leerintentionen, die damit einen notwendigen Beitrag zur Konstitution des Wahrnehmungsobjekts lei142
Erneut wird damit die These einer wechselseitigen Unreduzierbarkeit von Sartre bis zu einer radikalen Trennung der fraglichen Größen getrieben. 143 Vgl. auch Kuehl, ebd., 224; sowie Husserl, Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung, 69: »Niemals kann man auf das Wahrnehmungsfeld hinblicken und zugleich auf das Phantasiefeld hinblicken. Sobald wir auf Wahrnehmungsobjekte achten, ist das Phantasiefeld weg«. 144 Husserl, Cartesianische Meditationen, 150. Nachdem Husserl selbst in der Wahrnehmungstheorie der VI. Logischen Untersuchung Imagination und Signifikation als Komponenten der Wahrnehmung versteht, revidiert er in den späteren Phasen seiner gedanklichen Entwicklung diese Position (vgl. hierzu Damast, ebd., 247, 252).
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sten. Ihren Ursprung haben diese Kenntnisse in einem »Erinnerungswissen« (Im 193) bzw. einem »vorprädikative(n) Wissen, das zwar nicht unbewußt ist« (Im 193),145 aber »unformuliert« (Im 193) bleibt: »(E)s haftet am Objekt, es verschmilzt mit dem Wahrnehmungsakt« (Im 193). Das Bewußtsein intendiert nicht explizit das nicht Gesehene, also die von der aktuellen Position aus unsichtbaren Seiten des Dings, sondern das Gesehene, insofern es nicht selbst gegebene Aspekte einschließt, welche von Sartre auch als »fast bloße Entwicklungsmöglichkeiten« (Im 193) qualifiziert werden. Leerintentionen intendieren an den wahrgenommenen Objekten nicht wahrgenommene Eigenschaften, »wie beim Stuhl die Tatsache, noch zwei andere Beine außer den gesehenen zu haben, wie bei den Arabesken der Tapete, sich auch hinter dem Schrank fortzusetzen, bei diesem Mann, den ich von hinten sehe, auch von vorn gesehen werden zu können usw.« (Im 193). Kurz, diese Leerintentionen bereichern und ergänzen das Wahrgenommene, insofern sie etwas intendieren, das selbst nicht gegeben ist, aber sie sind dennoch dem Vorstellungsbewußtsein »radikal heterogen« (Im 193).146 Statt auf Vorstellungen zu beruhen, sind Leerintentionen vielmehr die Bedingung jeder Vorstellung. Sobald sie nicht mehr lediglich den Horizont der Wahrnehmung bilden, sondern für sich selbst gesetzt werden, gehe ich zur Imagination über: »Nur, wenn ich mir die Tapete hinter dem Schrank repräsentieren will, werden die leeren, in der Wahrnehmung der sichtbaren Arabesken implizierten Intentionen hervortreten, sich für sich setzen, sich verdeutlichen und sich schattieren müssen« (Im 193). In einem solchen Fall integrieren sich diese Intentionen nicht mehr wie die Leerintentionen in den Wahrnehmungsakt, d. h. die verdeckten Arabesken qualifizieren nicht länger die sichtbaren Arabesken als etwas, das eine Fortsetzung ohne Unterbrechung hinter dem Schrank hat. Von jetzt an »werden [sie] dem Bewußtsein isoliert, als ein autonomes Objekt erscheinen« (Im 194). Daraus ergibt sich die Schlußfolgerung: Die Wahrnehmung hält den Ausgangspunkt für eine »Unendlichkeit von Vorstellungen« (Im 194) bereit, die sich allerdings nur um den Preis des Verschwindens des Wahrnehmungsbewußtseins bilden können. Auf ganz ähnliche Weise wie Sartre unterscheidet auch Fink die Vergegenwärtigungen von den »Intentionalitäten, welche die lebendigen Horizonte einer Erlebnisgegenwart konstituieren wie Retention, Protention und Apprä145
Sartre würde aufgrund seiner Bewußtseinskonzeption niemals konstitutive Leistungen als »passiv« oder gar als »automatisch« bezeichnen, wie Schütz dies in Anlehnung an Husserls passive Synthesis tut (siehe Schütz, Das Problem der Relevanz, 44; Husserl, Cartesianische Meditationen, §§ 17 f., 38 f., 51 f.). 146 Der Gedanke, gegen den sich Sartre hier wendet, daß die Phantasie die Wahrnehmung verknüpft und ergänzt, findet sich z. B. im 20. Jahrhundert bei so unterschiedlichen Autoren wie Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, 391, 395, oder Gehlen, Der Mensch, 182, 185.
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sentation«.147 Diese Intentionalitäten nennt Fink »Entgegenwärtigungen«.148 Zwischen Vergegenwärtigungen und Entgegenwärtigungen, so lautet seine Kritik an Brentano, besteht ein »Wesensunterschied intentionalen Sinnes«,149 weswegen auch für ihn die nicht gesehenen Seiten eines Wahrnehmungsobjekts nicht durch Vergegenwärtigungen, sondern durch das »Horizontbewußtsein«,150 also die Entgegenwärtigungen, intendiert werden. Während diese »unselbständige Intentionen« sind, die sich dem Wahrnehmungsakt hinzufügen, »kann man wohl von den Vergegenwärtigungen als selbständigen Erlebnissen sprechen«.151 Eine weitere Parallele zu Sartre zeigt sich, wenn Fink die Entgegenwärtigungen als Bedingungen der Vergegenwärtigungen deklariert: Die Vergegenwärtigung, so erklärt er, ist »immer nur auf dem Grunde einer Entgegenwärtigung möglich«, insofern erstere »nichts anderes (ist) als ein Hineingehen in diese Horizonte«. Kurz, Vergegenwärtigung ist »Gegenwärtigung eines Entgegenwärtigten«.152 Sartres scharfe Trennung von Imagination und Wahrnehmung, die sich in Ansätzen auch schon bei Husserl feststellen läßt,153 bedeutet einen Bruch mit der Konzeption der transzendentalen Einbildungskraft, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft vorgelegt hat.154 Durch die Leistung der Einbildungskraft kann laut Kant erst die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Empfindungen der
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Fink, ebd., 22. Die Zusammenstellung von Retention, Protention und Appräsentation ist nicht so homogen wie es zunächst den Anschein hat. Die Reflexion auf den Bewußtseinsstrom zeigt, daß die immanente Gegebenheit des reflektierten Bewußtseins sich in adäquater Evidenz gibt und daher keine Appräsentationen, jedoch selbstverständlich Retentionen und Protentionen aufweist und insofern auch innerhalb der immanenten Gegebenheit eine Horizontintentionalität vorliegt. Appräsentationen kann es natürlich nur im Bereich der transzendenten Wahrnehmung geben, in denen das Gemeinte nicht mit dem leibhaftig Gegebenen zusammenfällt (vgl. Husserl, Ideen I, §§ 44, 46, 138). 148 Fink, ebd., 22. 149 Ebd., 25. 150 Ebd. 151 Ebd. 152 Ebd., 24, vgl. auch ebd., 42. 153 Vgl. Husserl, Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung, 69: »Man kann nicht etwa das Feld aktueller Gegenwart erweitern um ein neues Stück, das sich ihm so anschmiegte wie etwa das Tastfeld einer Hand an das übrige Tastfeld. Was zur Einheit des Blickfeldes der Wahrnehmung gehört, das ist zugleich da, ist gegenwärtig, und alles darin ist zugleich. Was zur Einheit eines Erinnerungsfeldes, und eines Phantasiefeldes jeder Art, gehört, ist auch zugleich, aber nicht findet die Rede vom Zugleich eine Anwendung auf Wahrnehmungsfeld und Phantasiefeld in eins genommen«. Es gibt also »kein Hineinphantasieren in die Wahrnehmung«: »Phantasiere ich die weiße Kreide als rote Kreide, so habe ich im Moment eine siegende Phantasie ›rote Kreide‹, aber alsbald sich abwechselnd mit der Perzeption ›weiße Kreide‹« (ebd., 76). 154 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 100–128. Siehe zu dieser Problematik auch Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 127–202.
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Anschauung mit der Einheit der Verstandesbegriffe vermittelt werden. Sie ist darum »ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung selbst«.155 Bevor die sinnliche Mannigfaltigkeit in einem Begriff gedacht werden kann, muß sie zunächst synthetisiert werden; und diese Synthesis, ohne die »die Begriffe überhaupt keine Chance [hätten], sich eine chaotischen Sinnlichkeit zuzuwenden«156 ist »die bloße Wirkung der Einbildungskraft«.157 Sartres Studie über die Einbildungskraft bezieht hier einen deutlichen Gegenpol: So wie das Ego Sartres Ansicht nach für den Phänomenologen die Aufgabe verliert, die Synthesis des Bewußtseinsflusses zu konstituieren, da das Zeitbewußtsein, genauer: die längsintentionalen Retentionen und Protentionen, diese Synthetisierungsleistung übernehmen (vgl. TE 44 f.),158 so ist es auch nicht die Phantasie, sondern die Horizontintentionalität, die die Einheit der Abschattungen des Gegenstands gewährleistet und sie nicht zusammenhanglos nebeneinander stehen läßt (vgl. z. B. das Hören einer Melodie).159 Bei Kant sind das »Vorhersehungs«- und das »Erinnerungsvermögen« zwar keine Wahrnehmungen, dennoch »dienen sie zur Verknüpfung der Wahrnehmungen in der Zeit, das, was nicht mehr ist, durch das, was gegenwärtig ist, in einer zusammenhängenden Erfahrung zu verknüpfen«.160 Die Einbildungskraft übernimmt hier die Aufgabe, die die Phänomenologen dem unmittelbaren Zeitbewußtsein zuweisen: »Gleichwie der gegenwärtige Zustand auf den vergangenen folgt, ebenso folgt auf den gegenwärtigen der künftige. Dieses geschieht nach Gesetzen der Imagination«.161 Innerhalb der Phänomenologie wird die Einbildungskraft von ihrer Funktion innerhalb der Wahrnehmungskonstitution entbunden und erhält den Status einer selbständigen Bewußtseinseinstellung.
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Kant, ebd., A 120, Fußn.; vgl. hierzu auch Volonté, ebd., 33–44. Volonté, ebd., 42; vgl. auch Bossart, ebd., 46–48. 157 Kant, ebd., A 78. 158 Siehe Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. 159 Nimmt man an, daß die Wahrnehmung durch imaginative oder signitive Komponenten vervollständigt wird, so gerät man in einen regressus in infinitum, den Damast folgendermaßen beschreibt: »Denn Signifikation und Imagination übertragen ja einem Seienden die Funktion als Zeichen bzw. Bild für ein anderes Seiendes zu dienen. Ihre Materie ist also etwas, das selbst bereits wahrgenommen ist. Dessen Gegebenheit läßt sich dann aber nicht wieder durch signitive oder imaginative Auffassungen erklären, da solche Intentionen ja wiederum eine wahrnehmungsmäßig konstituierte Unterlage voraussetzen würden usw. usf.« (ebd., 247; vgl. auch Rang, »Repräsentation und Selbstgegebenheit«, 118). 160 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 486. 161 Kant, Vorlesungen über die Metaphysik, 151, zit. n. Mörchen, Die Einbildungskraft bei Kant, 29. Diese äußerst knappe Darstellung bleibt Kant natürlich vieles schuldig, weil sie nicht zuletzt davon absieht, daß die Konzeption der Einbildungskraft sich bei Kant nicht auf ihre Funktion innerhalb der Erfahrung beschränkt: Thematisiert wird diese in jeweils unterschiedlichen Zusammenhängen in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, der Kritik der reinen Vernunft und in der Kritik der Urteilskraft. Vgl. hierzu Möhrchen, ebd. 156
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Betrachtet man Sartres Gegenüberstellung von Wahrnehmung und Imagination im Kontext der gesamten Schrift Das Imaginäre, so läßt sich das angesprochene Verhältnis noch genauer differenzieren. Ausgeschlossen ist in der image physique eher die wahrnehmende Haltung und weniger das Wahrgenommene selbst, denn die image physique ist zwar in sich ein selbständiger intentionaler Bewußtseinsakt, der jedoch die Wahrnehmung voraussetzt, welche ihm erst das Objekt liefert, das als Materie der Vorstellung fungiert. Insoweit die image mentale sich aus Erinnerungs-Vorstellungen – die meisten Beispiele, die Sartre in Das Imaginäre wählt, fallen unter diese Rubrik – zusammensetzt, ist auch sie offenbar der Wahrnehmung nachgeordnet. Wenn das Wissen zudem ein Konstituens jeder Vorstellung ist, jedes Wissen jedoch, wie es in Die Imagination heißt, auf die Wahrnehmung als »primäre Erkenntnisquelle« verweist, insofern es die Wahrnehmungen sind, die »unsere Urteile und unsere Überlegungen regieren und dirigieren« (TE 193), scheint ein Verhältnis der Fundierung der Imagination in der Wahrnehmung nicht mehr von der Hand zu weisen.162 Im vorangegangenen Abschnitt hat sich nun erwiesen, wie das Denken in seiner Reinform als anschauungsloses Bedeutungswissen sich im Grunde erst durch Loslösung von der Vorstellung generierte. Zieht man aus diesen Erörterungen die Summe, so läßt sich aus Sartres Untersuchungen ein dreistufiges Modell herauslesen, an dessen Anfang die Wahrnehmung als Urmodus der Gegebenheit steht. An zweiter Stelle folgt nun nicht unmittelbar das reine Denken, da dieses ja zunächst sozusagen in gebundener bzw. degradierter Form dem imaginierenden Bewußtsein immanent ist, welches sich seinerseits wiederum, wie Sartre in Übereinstimmung mit Fink erklärt, auf die Leerstellen der Wahrnehmung, mithin auf die Wahrnehmungsintention selbst gründet (vgl. hierzu auch Im 291–295). Wenn sich das Denken von der Imagination emanzipiert, entwickelt es sich nicht mehr in Analogien und erreicht erst das Niveau des reinen Denkens als Bewußtsein einer Regel, die dritte Stufe in diesem Modell.163 Inwieweit das Denken schon auf der Ebene der Wahrnehmung eine Rolle spielt, läßt sich aus Das Imaginäre nicht entnehmen.164 162
Dies entspricht einerseits auch Ricœurs Kritik an Sartres impliziter Privilegierung des Verhältnisses zwischen Original und Abbild, andererseits deckt es sich, mit der Widerlegung der Immanenz-Illusion und ihrer Konsequenz: »(I)t is the object of perception which gives an object to the picture« (ebd., 171). 163 Man darf jedoch nicht den Fehler begehen zu schließen, weil die Imagination die Wahrnehmung voraussetzt, setzt auch das reine Denken das degradierte Denken bzw. die Imagination voraus. Die Wahrnehmung ist faktisch und logisch früher als die Imagination, wohingegen das degradierte Denken nur faktisch dem reinen Denken vorausgeht – ob jenes jedoch eine notwendige Vorstufe des reinen Denkens darstellt, kann wohl bezweifelt werden. 164 Lediglich in einer Fußnote weist Sartre lapidar und ohne nähere Erklärungen darauf hin, daß auch die Wahrnehmung wiederum Wissen voraussetzt (Im 22, Fußn. 1).
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2. 4. 1. Das Problem der Erinnerung Obwohl Sartre wiederholt im bisherigen Verlauf seiner Untersuchungen die Bestimmungen des Imaginären am Beispiel der Erinnerung untersucht hat, stellt er gegen Ende seiner Studie völlig überraschend und wenig plausibel die Erinnerung zusammen mit den Retentionen und Protentionen auf die Seite des Realen bzw. der Wahrnehmung. Das Erinnerte, so heißt es, ist nicht irreal, sondern vergangen; es ist nicht als »abwesend-gegeben, sondern als gegenwärtiggegeben in der Vergangenheit« erfaßt (vgl. Im 285). Eine Erinnerung wird auch nicht schöpferisch evoziert, sondern »ich versetze mich dahin, wo sie ist, ich richte mein Bewußtsein auf die Vergangenheit, wo sie mich als reales Ereignis zur Ruhe gesetzt (à la retraite) erwartet« (Im 285). Wenn ich Peter imaginiere, der sich zur Zeit in Berlin aufhält, wie er z. B. auf dem Kurfürstendamm spazierengeht, so steht dieses Vorstellungsbewußtsein nach Sartre dem Bewußtsein des nichtexistenten Zentauren näher als der Erinnerung an Peter am Tag seiner Abreise (vgl. Im 286).165 Es ließe sich darauf erwidern, daß doch dieselben Grundbestimmungen, die das Irreale konstituieren, sich auch beim Erinnerten wiederfinden lassen (Quasi-Beobachtung, Reduktion auf das Erkannt-sein usw.). Die Übereinstimmungen scheinen trotz allem zu dominieren, ansonsten wären ja auch alle Untersuchungen hinfällig, in denen Sartre auf die Erinnerung zurückgegriffen hat, um das Imaginäre zu erfassen.166 Von einer originären Selbstgebung wie bei der Wahrnehmung kann ferner keine Rede sein.167 165
Aber auch bei dieser Vorstellung von Peter in Berlin gibt es Beiträge der Erinnerung: Ich weiß, wie Peter aussieht, wie er läuft usw. und veranschauliche dieses Wissen ebenso wie dasjenige, das ich über Berlin besitze: Wenn ich »ein Gegenwärtiges als jetzt seiend« vorstelle, »ohne es jetzt leibhaft vor mir zu haben«, so dient mir hierzu »ein Erinnerungsbild«, aber »wir setzen es nicht als ›vergangen‹« (Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtsein, 417). 166 Hingegen gehört für Kant die Erinnerung zum Bereich der Einbildungskraft. Als reproduktive wird sie in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht der produktiven Einbildungskraft gegenübergestellt: »Die Einbildungskraft (facultas imaginandi) als ein Vermögen der Anschauung auch ohne Gegenwart des Gegenstandes, ist entweder produktiv, d. i. ein Vermögen der ursprünglichen Darstellung des letzteren (exhibitio originaria), welche also vor der Erfahrung vorhergeht; oder reproduktiv, der abgeleiteten (exhibitio derivativa), welche eine vorher gehabte empirische Anschauung ins Gemüt zurückbringt […]. Die produktive aber ist dennoch darum eben nicht schöpferisch, nämlich nicht vermögend, eine Sinnenvorstellung, die vorher unserem Sinnesvermögen nie gegeben war, hervorzubringen, sondern man kann den Stoff zu derselben immer nachweisen« (ebd., 466). Auch wenn die Einbildungskraft eine »Künstlerin, ja Zauberin« ist, muß sie doch »den Stoff zu ihren Bildungen von den Sinnen hernehmen« (ebd., 468). Hinsichtlich der Bestimmung der Einbildungskraft ist Kant möglicherweise von Wolff beeinflußt, der in seiner Psychologia Empirica jene als »facultas producendi perceptiones rerum sensibilium absentium« beschreibt (vgl. § 92). 167 Für Fink nimmt die Wiedererinnerung allerdings einen Sonderstatus unter den Vergegenwärtigungen ein, da sie allein »selbstgebende Vergegenwärtigung« ist (ebd., 28 f.).
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Analog zur Unterscheidung zwischen Retention und Erinnerung unterscheidet Sartre auch zwei Formen des Zukunftsbezugs, die er allerdings nicht, wie sich zeigen wird, hinsichtlich der Imaginationsproblematik analog behandelt: Die erlebte Zukunft ist »der zeitliche Hintergrund« (Im 286) der aktuellen Wahrnehmung, die vorgestellte Zukunft wird für sich gesetzt, »aber als das, was noch nicht ist« (Im 286). Sartre bringt folgendes Beispiel für die erlebte Zukunft: »Wenn ich Tennis spiele, sehe ich meinen Gegner einen Ball mit seinem Schläger schlagen, und ich springe bis zum Netz vor. Hier haben wir also Antizipation, da ich die Flugbahn des Balles voraussehe. Aber diese Antizipation setzt den Flug des Balles zu diesem oder jenem Punkt nicht für sich selbst. In Wirklichkeit ist die Zukunft hier nur die reale Entwicklung einer durch die Geste meines Gegners begonnenen Form, und die reale Geste dieses Gegners teilt ihre Realität der ganzen Form mit. Anders gesagt, die reale Form mit ihren Zonen von real-vergangen und real-zukünftig realisiert sich ganz durch seine Geste hindurch« (Im 286). Aus diesem Grund gehört die Antizipation zur Realität. Was ich voraussehe, ist »der Sinn einer augenblicklichen Form in Entwicklung« oder, wie Sartre es auch schlichtweg nennt, die »Bedeutung des Universums« (Im 286). Insofern die Wahrnehmung sowohl mit vergangenen als auch mit zukünftigen Aspekten erscheint, sind Vergangenheit und Zukunft für Sartre »Wesensstrukturen des Realen« (Im 287) bzw. das »Korrelat einer realisierenden Setzung« (Im 287). In dem Moment, wo ich jedoch auf dem Bett liege und vorhersehen will, was geschehen wird, wenn Peter aus Berlin zurückkehrt, trenne ich die Zukunft von der Gegenwart, die ihren Sinn von eben dieser Zukunft empfing. Damit begebe ich mich in den Bereich des Imaginären: »So kann ich die gleiche Zukunft real leben, als Hintergrund der Gegenwart (wenn ich zum Beispiel Peter am Bahnhof abholen werde und wenn alle meine Akte die Ankunft Peters um 19 Uhr 35 als ihren realen Sinn voraussetzen), oder sie im Gegenteil isolieren und für sich setzen, indem ich sie aber von jeder Realität trenne und sie nichte, sie als Nichts präsentifiziere [en le présentifiant comme néant]« (Im 287).168 Sartre ordnet die Wiedererinnerung dem Realen und die Vorerinnerung dem Imaginären zu. Im Unterschied zu Husserl und Fink, für die auch die Wiedererinnerung ein Akt der Vergegenwärtigung ist,169 behan168
Vgl. zum Neologismus ›präsentifizieren‹: Im 168, 198, 290, 294. – Fink faßt diese Differenz in der Gegenüberstellung von Protention und Vorerinnerung (vgl. Fink, ebd., 39 f.). Da Fink zwischen Wieder-, Vor- und Gegenwartserinnerung unterscheidet, ist für ihn die Erinnerung nicht nur retrospektiv (vgl. ebd., 27–46). Vgl. zur Wiedererinnerung und zur Gegenwartserinnerung auch schon Husserl, ebd., §§ 23–29. 169 So unterscheidet Husserl zwar zwischen Phantasie als nichtsetzender und Wiedererinnerung als setzender Vergegenwärtigung, aber beide gehören zur Familie der Vergegenwärtigung bzw. der Reproduktion. Zwischen primären Erinnerungen, also dem »jeder Wahrnehmung als Kometenschweif zugehörige(n) retentionale(n) Bewußtsein« (Analysen
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delt er also Erinnerung und Antizipation nicht komplementär: Derjenige, der die Vergangenheit von der Gegenwart löst, indem er sie nicht mehr lediglich retentional bewahrt, sondern sie in der Erinnerung als selbständiges Objekt setzt, verbleibt Sartres Beschreibung zufolge trotzdem im Bereich der Realität, während der Übergang von der Protention bzw. der erlebten Zukunft zur Setzung der Zukunft als sie selbst den Übergang vom wahrnehmenden zum imaginierenden Bewußtsein bedeutet. Diese Auffassung ist jedoch im Gesamtkontext seiner Phänomenologie der Imagination alles andere als plausibel. Im vierten Teil von Das Imaginäre (‚Das imaginäre Leben‹) stellt sich Sartre nun die Aufgabe zu beschreiben, welche Rolle das Imaginäre im menschlichen Leben spielt und welcherart das Verhalten gegenüber dem Imaginären ist.
2. 5. Das Verhalten gegenüber dem irrealen Objekt Der Akt der Imagination ist »ein magischer Akt« (Im 197); er stellt eine Art »Beschwörung« dar, mit dem etwas, das begehrt wird, aber gar nicht da ist, in »Besitz« genommen werden soll (vgl. Im 197). Folgende Passage gibt sehr gut wieder, was Sartre hiermit meint: »In diesem Akt ist immer etwas Herrisches und Kindliches, eine Weigerung, die Entfernung, die Schwierigkeiten zu berücksichtigen. So wirkt das ganz kleine Kind in seinem Bett durch Befehle und Bitten auf die Welt ein. Diesen Befehlen des Bewußtseins gehorchen die Objekte: sie erscheinen. Doch sie haben eine ganz besondere Existenzweise, die wir zu beschreiben versuchen werden« (Im 197). Als Irreales ist das Objekt zwar gegenwärtig, zugleich ist es aber auch »unerreichbar« (Im 198); ich kann es nicht berühren oder verrücken bzw. genaugenommen kann ich dies zwar tun – »aber unter der Bedingung, es auf irreale Weise zu tun« (Im 198). Diese Haltung wirkt auf mich zurück, denn ich muß mich in diesem Fall selbst »irrealisieren« (Im 198), d. h. darauf »verzichten, mich meiner eigenen Hände zu bedienen, um zu Phantasiehänden Zuflucht zu nehmen, die dem Gesicht irreale Schläge erteilen werden« (Im 198). zur passiven Synthesis, 371) und den wiedervergegenwärtigten Erinnerungen besteht »ein gewaltiger phänomenologischer Unterschied« (Zeitbewußtsein, 404): »In der Wiedererinnerung ›erscheint‹ uns ein Jetzt […]. Dieses Jetzt ist nicht ›wahrgenommen‹, d. h. selbst gegeben, sondern vergegenwärtigt« (ebd., 400) – und nicht, wie in Sartres sonderbarer Formulierung, »gegenwärtig-gegeben in der Vergangenheit« (Im 285) Wenn die Erinnerung wirklich etwas ›gibt‹, also einen rezeptiven Aspekt hat, wenn sie mich in der Vergangenheit »als reales Ereignis zur Ruhe gesetzt (à la retraite) erwartet« (Im 285), dann ist sie – entgegen allen Intentionen Sartres – nichts anderes als eine wiederauflebende Wahrnehmung. So scheint es, als verfiele Sartre nun selbst der Immanenz-Illsuion.
Das Verhalten gegenüber dem irrealen Objekt
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Um die Beziehung zwischen dem menschlichen Handeln und den irrealen Objekten zu klären, unterscheidet Sartre zwei Schichten in der vorstellenden Haltung: »die primäre oder konstituierende Schicht – und die sekundäre Schicht, das, was man Reaktion auf die Vorstellung zu nennen pflegt« (Im 216).170 Wir können auf das Objekt, das wir konstituieren, reagieren, indem wir es lieben, hassen usw. – und obwohl diese Gefühle nicht zum affektiven Analogon gehören, sind sie doch in der Einheit desselben Vorstellungsbewußtseins gegeben. »Es gibt also Intentionen, Bewegungen, ein Wissen, Gefühle, die sich zusammensetzen, um die Vorstellung zu bilden, und Intentionen, Bewegungen, Gefühle, Wissensformen, die unsere mehr oder weniger spontane Reaktion auf das Irreale repräsentieren« (Im 217). Die konstituierenden und primären Elemente werden durch die Konstitution des Vorstellungsobjekts »absorbiert« (Im 217) und sind nichts anderes als dessen noetisches Korrelat. Im Unterschied zu den Elementen der Reaktion sind sie »nicht frei« (Im 217); sie werden nicht als sie selbst gesetzt, sondern das Bewußtsein richtet sich »durch sie hindurch« (Im 217) auf das Objekt als Vorstellung. Nach Sartre gehört zur Konstitution der Vorstellung eine körperliche Beteiligung bzw. ein gewisser Anteil an »Pantomime«: Es kommt nicht zur Konvergenz der Augen, weil sich das irreale Objekt nähert, sondern diese Konvergenz »mimt« (Im 218) das Herannahen des Objekts. In seiner Erzählung Das Zimmer beschreibt Sartre, wie die Hauptfigur Ève versucht, an den Wahnvorstellungen ihres Ehemannes Pierre zu partizipieren und gleich ihm, Statuen zu sehen, die auf sie zufliegen. Hierbei engagiert sich der gesamte Körper: »Instinktiv neigte sich ihr Körper nach links, wie um einer unangenehmen Berührung auszuweichen, wie um einen schweren und unbeholfenen Gegenstand vorbeizulassen. […] sie versuchte aus der Beklemmung, die ihre rechte Seite lähmte, einen neuen Sinn, einen Tastsinn zu machen. In ihrem Arm, in ihrer Seite und ihrer Schulter fühlte sie ihr Vorbeifliegen« (Das Zimmer, 73). Die affektive Beteiligung ist wie jene des Körpers keine Reaktion, sondern erst die Konstitution des furchterregenden irrealen Objekts: »›Ich habe Angst vor den Statuen‹, dachte sie. Das war eine gewaltsame und blinde Bejahung, eine Beschwörungsformel: mit aller Gewalt wollte sie an ihre Anwesenheit glauben« (Das Zimmer, 73). Das für die Vorstellungssynthese notwendige Wissen stammt in diesem Beispiel natürlich aus den Erzählungen Pierres: »Ève wußte, daß sie bösartig aussahen und daß rund um ihre Augen Wimpern aus dem Stein wuchsen; aber sie konnte sie sich schlecht vorstellen« (Das Zimmer, 73). 170
Analog hierzu läßt sich innerhalb der Wahrnehmung der konstitutive Wahrnehmungsakt von den »affektiven oder ideo-motorischen Reaktionen« unterscheiden (Im 216 f.).
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Trotz seiner Folgenlosigkeit darf das Irreale Sartre zufolge nicht als bloßes »Epiphänomen« mißverstanden werden: Wenn ich ein Brathähnchen als Vorstellung konstituiere, so habe ich zwar schon vorher Hunger, aber es erfolgt noch kein Speichelfluß, ebenso kommt es trotz des sexuellen Verlangens erst infolge der Konstitution einer sexuellen Szene zur Erektion. Vor dem Auftauchen des Vorstellungsbewußtseins sind das Begehren und der Hunger unbestimmt und ohne spezifische Intentionalität (vgl. Im 224). Es ist also nicht von der Hand zu weisen, daß Hunger und sexuelles Begehren, indem sie in eine Vorstellung integriert werden, »eine bedeutende Modifikation erlitten haben […]. Sie haben sich konzentriert, präzisiert und an Intensität zugenommen« (Im 220). Das Wissen, das sich in der Vorstellungssynthese mit der Affektivität verbindet, ermöglicht, wie es heißt, eine genauere Intentionalität, wodurch sich das Begehren auf ein Objekt »außerhalb seiner selbst« (Im 220) richtet und sich infolgedessen seiner selbst bewußt wird: »Der Akt, durch den sich das Gefühl seiner genauen Natur bewußt wird, sich begrenzt und definiert, dieser Akt ist der gleiche wie der, durch den es sich ein transzendentes Objekt gibt« (Im 220; vgl. auch Im 115; TE 60–65).171 Eine Reaktion auf ein irreales Objekt liegt hingegen dann vor, wenn mit einem neuen Gefühl oder einem neuen Urteil auf ein schon gebildetes irreales Objekt geantwortet wird. »Zum Beispiel kann ich eine Vorstellung hervorrufen, die von sich aus keine starke affektive Ladung hat, und ich kann mich gegenüber diesem irrealen Objekt entrüsten oder erfreuen. Gestern zum Beispiel hat eine anmutige Geste Annies ein Zärtlichkeitsgefühl in mir hervorgerufen. Zweifellos kann meine Zärtlichkeit, sich erneuernd, die Geste ganz mit Affektivität beladen irreal wiederentstehen lassen. Auch kann ich sowohl die Geste als auch die Zärtlichkeit irreal wiederentstehen lassen, die beide ihren Zeitpunkt und ihre ›Abwesenheit‹ behalten. Aber es ist auch möglich, daß ich die Geste reproduziere, um die Zärtlichkeit wiederentstehen zu lassen« (Im 224 f.). Am gestrigen Abend hat die reale charmante Geste meines Gegenübers eine emotionale Bewegung evoziert, die völlig unerwartet gewesen ist. Gerade deshalb produziere ich das Objekt als Vorstellung, um dieses Gefühl, an das ich mich erinnere und welches als eine Art von »Virtualität im Objekt« (Im 226) existiert, wiederaufleben zu lassen.172 Für Sartre folgt daraus, »daß das 171
Nach Scheler hat die Vorstellungstätigkeit in einer für Sartre natürlich inakzeptablen »Determination vegetativer Reizvorgänge« von den Trieben die Aufgabe erhalten, »ursprüngliche Objekte von der Wesens- und Wertart zu schaffen, die – wären sie real – geeignet wären, diese Triebe zu befriedigen« (Erkenntnis und Arbeit, 353). Welche Funktion hat aber eine solche Gaukelei der Vorstellungstätigkeit für die Triebstruktur des Menschen? Die Vorstellungen, so könnte man vermuten, lenken sozusagen die Suche nach ihrem realen Pendant, das die Befriedigung gewährt. 172 Cabestan hat auf die Nähe dieses Beispiels zu Prousts Madeleine-Episode hingewiesen (ebd., 25).
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reproduzierte Objekt schon nicht mehr ganz dasselbe ist wie das, was man reproduzieren will« (Im 226). Denn die Geste, die ich gestern wahrgenommen habe, hat erst nach einiger Zeit meine affektive Bewegung hervorgerufen, und erst von da an erschien sie auch als etwas, das meine Zärtlichkeit hervorbringt. Dagegen gehört beim reproduzierten irrealen Objekt diese Eigenschaft von Anfang an zu ihm.173 Die Verbindung von Affektivität und Objekt ist mir bereits vertraut, und ich lasse das Objekt von Anfang an mit seiner von mir vorhergesehenen Fähigkeit entstehen, bestimmte Gefühlsregungen hervorzubringen. Im Falle des Irrealen strenge ich mich geradezu an, um »eine solche Wirkung zu mimen« (Im 226). Aber es steht fest, daß das Irreale mich nicht affizieren kann; das Gefühl ist vielmehr »Aktivität« und »Anspannung« (Im 226), insofern die Zärtlichkeit sich hier nicht »an der unerschöpflichen Tiefe des Realen« (Im 226 f.) bereichern kann:174 »Unser Verhalten gegenüber dem Objekt kann es ebensowenig erreichen, es wirklich bestimmen, wie dieses uns seinerseits berühren kann: denn es ist im Himmel des Irrealen, unerreichbar« (Im 227). Sartre faßt die Differenz zwischen den Emotionen, die reale und denjenigen, welche irreale Objekte intendieren, in der Gegenüberstellung von 173
Sartre hebt hervor, daß das irreale Objekt die erwünschten Gefühle natürlich strenggenommen nicht erzeugen kann, da es keine »kausale Wirkung« (Im 226) ausübt. Welchen Sinn dieser Hinweis Sartres hat, leuchtet allerdings nicht ein, denn seiner Bewußtseinskonzeption zufolge kann natürlich auch das Wahrgenommene nicht auf kausale Weise Gefühle hervorrufen. 174 Man kann sich fragen, ob das Fehlen der Fülle des Wahrnehmungsobjekts der einzig plausible Grund für eine solche Modifikation sein muß. Die Veränderung des Gefühls muß ihren Grund nicht allein in der Irrealität seines Objekts haben, ebenso wäre es denkbar, daß der Versuch der Wiederholung eines Gefühls hierfür ausschlaggebend ist: Denn auch wenn ich statt das betreffende Objekt irreal zu erzeugen, es vielmehr noch einmal als reales wahrnehmen will, um dieses Gefühl zu erregen, so würde sich möglicherweise ein ganz ähnlicher Sachverhalt beobachten lassen. Ich versuche in diesem Moment aktiv gegenüber dem Wahrnehmungsobjekt Zärtlichkeit zu empfinden, während diese Emotion sich gestern unerwartet einstellte und mich überwältigte. Dann gilt auch in diesem Fall, was Sartre über das Gefühl gegenüber dem Irrealen sagt: »Ich bekräftige, daß ich zärtlich bin, ich weiß, daß ich es sein muß, ich realisiere in mir die Zärtlichkeit« (Im 226). Wenn ich genau das Gefühl von gestern wiederfinden will, so weigere ich mich angesichts einer erneuten Betrachtung des Realen, mich auf eine andere als die gestrige Weise affizieren zu lassen: Ich strenge mich an, in ihm nichts anderes zu sehen, als ich gestern in ihm gesehen habe. Man kann aber dennoch den Verdacht hegen, daß ein solcher Umgang mit dem Realen den Versuch darstellt, es zu irrealisieren, indem, um in Sartres Beispiel zu bleiben, die gegenwärtige reale Geliebte zum Analogon der erinnerten Geliebten als Vorstellung wird – obwohl es sich um dieselbe Person handeln kann (aber nicht muß). Insofern wäre Sartre dann zuzustimmen, wenn er die spezifische Gefühlsmodifikation als eigentümlich für die Imagination beschreibt: Auf diese Erörterung trifft zu, was er über den Grund für die Unvorhersehbarkeit des Realen durch das Irreale schreibt: Man betrachtet »das, dessen Fülle unendlich ist, mittels Schemen von wesensmäßiger Armut« (Im 234, Fußn. 1).
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»Gefühl als Leidenschaft« und »Gefühl als Aktion« (Im 227).175 Einerseits sind die ›Gefühle als Aktion‹ »eher gespielt als gefühlt« (Im 226), andererseits soll sich bei ihnen trotzdem »kein Mangel an Echtheit« (Im 227) finden. Am Beispiel der Liebe beschreibt Sartre ausführlich, wie sich das Gefühl verändert, wenn es nicht mehr ein reales, sondern ein irreales Objekt intendiert. Wenn die Geliebte fortgeht, verändert sich das Wesen meiner Gefühle für sie. Auch wenn ich jede Veränderung bestreite und weiterhin von Liebe spreche, liebe ich Annie – die der Leser schon aus Sartres Roman Der Ekel kennt (vgl. E 154–174) – nicht mehr auf dieselbe Weise, wie ich es getan habe, als sie noch da war. Die Leidenschaft folgte dem realen Objekt, darum war sie immer neu, sie überraschte mich fortwährend: »(J)eden Augenblick mußte ich sie erneuern, mich ihr wieder anpassen: sie lebte von Annies Leben selbst« (Im 228 f.). Die geliebte reale Person ist »unerschöpflich« (Im 229), und insofern sie in jedem Moment mein Wissen von ihr überschreitet, verlangt sie beständig neue »Bemühungen um Annäherung« (Im 230). Das Irreale verliert diesen Reichtum, es ist nur, was ich schon über es weiß (Quasi-Beobachtung); und in dem Maße, in dem der »fremde(n) Charakter der Geliebten« (Im 230) verschwindet, erleidet das Gefühl gegenüber der irrealen Geliebten eine »wesensmäßige Umkehrung« (Im 229): Jegliche Entwicklung ist ausgeschlossen, es stagniert und wird abstrakt, denn seine Tiefe, seine Fülle und sein Reichtum kamen von dem realen Objekt. Von jetzt an ruft nicht das Objekt das Gefühl, sondern umgekehrt das Gefühl das irreale Objekt hervor, das darum nurmehr das »Korrelat meiner Gefühle« (Im 229) für Annie ist. Infolgedessen ist nun das Gefühl »niemals mehr […], als was es ist« (Im 229). Es erleidet eine »radikale Verarmung« (Im 230), und korrelativ wird auch Annie als Vorstellung immer banaler. Indem die Liebe ihre Konkretion verliert, wird sie allgemein und entwickelt sich zum Typischen hin: »Nüchtern, scholastisch, abstrakt, einem irrealen Objekt zugewandt, das selbst seine Individualität verloren hat, entwickelt sie sich langsam auf die absolute Leere hin« (Im 230). Mit großer Erwartung fiebert man nun den Briefen entgegen, nicht wegen der Neuigkeiten – es sei denn man hat bestimmte Befürchtungen oder Hoffnungen –, sondern vielmehr weil sie real und konkret sind. Ich erhalte das Briefpapier, die Schrift, das Parfum, die nun das schwindende affektive Analogon bereichern und gestatten, eine etwas ›realere‹ Annie zu intendieren. Die Verarmung des Liebesgefühls hat den paradoxen Effekt, daß das irreale Objekt gerade aufgrund seiner zunehmenden Banalisierung viel mehr mit dem eigenen Begehren übereinstimmt als es die reale Annie jemals konnte. Kommt Annie zurück, so wird »diese ganze formale Konstruktion« (Im 231) zusammenbrechen und nach einer mehr oder weniger langen »Wiederanpassungsperiode« (Im 231) weicht das degradierte Gefühl wieder dem 175
Vgl. Cabestan, ebd., 25 u. 45.
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realen Gefühl: »Vielleicht wird man einen Moment lang die Gefälligkeit und Einfachheit Annies als Vorstellung vermissen« (Im 231). Ausgehend von diesen Betrachtungen, lassen sich nun zwei nicht aufeinander reduzierbare Gefühlsklassen, die wahren und die imaginären Gefühle, unterscheiden. Sartre will jedoch nicht sagen, daß letztere selbst irreal sind; entscheidend ist nur, daß es ihre Objekte immer sind (vgl. Im 231).176 Diese Gefühle charakterisiert Sartre als »degradiert, karg, abgehackt, krampfhaft, schematisch« (Im 231). In meiner Phantasie kann ich über meinen Feind herfallen, ihn beleidigen oder verprügeln. Während das irreale Objekt ausschließlich erscheint, um eine Objektivierung des Hasses zu ermöglichen, bringt das reale und als solches unberechenbare Objekt das Gefühl aus der Fassung, da es sich niemals auf das streng korrelative und ganz auf das Gefühl zugeschnittene Haßobjekt reduzieren läßt, das die Imagination bietet.177 Die Wut kann verfliegen oder das reale Verhalten meines Gegenübers unerwartet Sympathie in mir wecken. »(A)n diesen Mann aus Fleisch und Blut, ganz lebendig, neu, unberechenbar, ist der Haß nicht angepaßt«. Denn er bezieht sich auf »ein genau auf sein Maß zugeschnittenes Phantom, das seine genaue Antwort, sein Sinn war« (Im 231). Da die imaginären Aktionen wesensmäßig karg und schematisch sind, haben sie nur die Konsequenzen, die ich ihnen zugestehe. Der imaginäre Feind wird unter meinen Schlägen nicht bluten oder nur so sehr, wie ich es will.178 Angesichts des realen Feindes wird mir bewußt, daß das Blut real sein wird, und »das allein wird genügen, mich aufzuhalten« (Im 232).179 Selbst wenn die reale Situation meinen Imaginationen so nahe wie nur möglich kommt, so bleibt doch ein fundamentaler Wesensunterschied: »Nicht das Ereignis überrascht mich, sondern die Veränderung des Universums« (Im 232). »Wenn ich trotz allem die geplante Aktion ausführe, geschieht das meistens deshalb, weil ich in Verlegenheit geraten bin und keine andere Möglichkeit habe. Oder auch aus einer Art Eigensinn, der die Augen verschließt und 176
Daß Gefühle irreale Objekte intendieren, ohne sich selbst zu irrealisieren, widerspricht allerdings Sartres sonstigen Ausführungen (vgl. Im 198, 216, 243). Vgl. Cabestan, ebd., 45: »Prévenons immédiatement un possible malentendu: ce que Sartre appelle sentiment imaginaire ne désigne pas un sentiment irréel pour un objet irréel mais, à la différence de l’amour irréel d’un personnage romanesque tel quel le Swann de À la Recherche du temps perdu, est dit imaginaire ici le sentiments réel pour un objet irréel. En d’autres termes, Sartre oppose les sentiments vrais pour des objets réels et les sentiments réels, qui ne sont donc pas eux-mêmes l’objets d’une conscience imageante, que nous éprouvons avec les objets irréels que nous imaginons«. 177 Vgl. Fowler, ebd., 267 f.; vgl. Cabestan, ebd., 45. 178 Die unwillkürlichen Vorstellungen (vgl. Im 38 f.) bzw. jene, die willkürlichen Modifikationen (vgl. Im 187 f., 211–214) widerstreben, werden an dieser Stelle offensichtlich nicht mehr berücksichtigt. 179 Vgl. Fowler, ebd., 265.
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nicht auf die unerwartete Änderung Rücksicht nehmen will. Daher jene unnachgiebigen und starren Verhaltensweisen der Leute, die ›sagen, was sie sagen müssen‹, ohne ihren Gesprächspartner anzusehen, um den Bereich des Imaginären nicht völlig aufzugeben, bevor sie sich zu sehr engagiert haben, um zurückweichen zu können« (Im 232). Sartre unterscheidet auf der Grundlage dieser Erörterungen zwei Persönlichkeiten, die sich in jedem Menschen finden. Das reale und das imaginäre Ich schließen korrelativ jeweils zwei »völlig unreduzierbare Arten von Objekten, von Gefühlen und Verhaltensweisen« (Im 232) ein.180 Da das Reale und das Imaginäre nicht koexistieren können, verschwindet das imaginäre Ich, sobald wir Kontakt mit der Realität aufnehmen und das reale Ich erscheint: »Es gibt imaginäre Sadisten oder Masochisten, Gewalttätige in der Imagination« (Im 232). Je nachdem, ob die Individuen ein imaginäres oder ein reales Leben favorisieren, lassen sie sich in diese zwei Kategorien einordnen. In den Studien über Baudelaire, Genet und Flaubert beschreibt Sartre die Genese von Menschen, die das Irreale dem Realen vorziehen, und zeigt die Gründe für diese Entwicklung vor allem auch im Zusammenhang mit dem Verhältnis zum Anderen auf. Was bedeutet aber, fragt Sartre nun, die ›Bevorzugung des Imaginären‹? Der Schizophrene oder der ›krankhafte Träumer‹, die als Beispiele herangezogen werden, beabsichtigen nicht nur die Öde des realen Daseins durch schönere, verlockendere irreale Objekte, durch Luxus und Schönheit zu »ersetzen« (Im 233), wobei sie etwa möglichst danach strebten, die Irrealität ihrer Vorstellungen zu ignorieren. Sie bevorzugen das Irreale nicht trotz, sondern, wie Sartre erklärt, gerade aufgrund seiner Irrealität: »Man wählt nicht nur diese oder jene Vorstellung, man wählt den imaginären Zustand mit allem, was er enthält, man flieht nicht lediglich den Inhalt des Realen (Armut, enttäuschte Liebe, Fehlschläge usw.), man flieht gerade die Form des Realen, seinen Präsenzcharakter, die Art der Reaktion, die es von uns verlangt, die Unterordnung unserer Verhaltensweisen unter das Objekt, die Unerschöpflichkeit der Wahrnehmungen, ihre Unabhängigkeit, die Entwicklungsart unserer Gefühle« (Im 233). Der Schizophrene liebt das berechenbare, ebenso starre wie karge und »scholastische« (Im 233) Leben, und der krankhafte Träumer, der sich vorstellt, er wäre ein König, will kein realer König sein – nicht einmal dann, so erläutert Sartre, wenn seiner Allmacht keine Grenzen gesetzt wären und alle seine Wünsche erfüllt würden.181 Denn das Reale ist immer auf einer anderen Existenzebene, die von mir verlangt, mich ihr anzupassen: Ich wünsche, daß Annie zurückkehrt, die ersehnte Annie ist nichts anderes als 180
Vgl. Cabestan, ebd., 27; Fowler, ebd., 265. Ganz ähnlich spricht Fink im Zusammenhang mit dem Bildbewußtsein von einer Ich-Spaltung (ebd., 77). 181 Vgl. Cabestan, ebd., 27.
Das Verhalten gegenüber dem irrealen Objekt
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das Korrelat meiner Wünsche – aber wer bestenfalls zurückkehrt, ist die reale Annie, die immer mehr ist, als ich wünsche. Diese reale Annie mit ihrer Unvorhersehbarkeit überragt das Gefühl, das nach ihr verlangt hat, »nach allen Seiten« (Im 234), und sie ist darum ganz und gar nicht diejenige, nach der es dem ›krankhaften Träumer‹ verlangt; er weigert sich – oder ist vielleicht schon außerstande –, seine Gefühle einem wirklichen Objekt anzupassen und umzulernen. D. h. der Schizophrene teilt mit dem Idealisten, so wie Sartre letzteren versteht, die Vorliebe für eine Welt, in der sich das Sein auf das Erkannt-sein – und damit auf die Subjektivität – reduzieren läßt. So schreibt Sartre in Wahrheit und Existenz: »Es ist nicht wahr, daß der Schizophrene den Traum bevorzugt, weil er in ihm als Millionär erscheint, als Herrscher usw. Er zieht die Welt des Traums vor, weil das Sein in ihr nur genau in dem Maß ist, wie es enthüllt wird: er zieht die Armut des Seins vor, auch weil das Sein ein minderes Sein ist, das sich sofort in Subjektivität auflöst« (WE 98). Die Welt, in der der Träumer lebt, vollzieht sich ganz nach seinen Wünschen; es handelt sich um eine erstarrte Welt der Zeremonien und unentwegten Wiederholungen.182 »(D)ie Gefühle des krankhaften Träumers [sind] förmlich und geronnen; sie kommen immer mit der gleichen Form und Etikette wieder; der Kranke hatte reichlich Zeit zur Verfügung, sie zu konstituieren; nichts in ihnen ist dem Zufall überlassen, sie würden nicht die geringste Änderung dulden. Korrelativ sind die Züge der irrealen Objekte, die ihnen entsprechen, für immer festgelegt. So kann der Träumer im Requisitenmagazin die Gefühle wählen, die er anlegen will, und die ihnen entsprechenden Objekte, so wie der Schauspieler seine Kostüme wählt: heute wird es der Ehrgeiz sein, morgen das Liebesverlangen. Allein die ›wesenhafte Armut‹ der Objekte als Vorstellung kann das Gefühl gefügig befriedigen, ohne es jemals zu überraschen, zu enttäuschen oder zu lenken« (Im 234).183 Insofern die irrealen Objekte nur meine Launen widerspiegeln, verschwinden sie, sobald ich genug von ihnen habe. Es gibt keine anderen als die erwünschten Folgen. Weit davon entfernt, sich durch Fülle und Reichtum gegenüber einer 182
Diese starren Rituale der psychisch Kranken sind letztlich eine Folge des Wesensgesetzes der Quasi-Beobachtung. Vgl. Fowler, ebd., 268: »Unless images were of a different order from perceptions, unless they lacked the essential objectivity and precision of what is perceived, unless they were free to combine in every conceivable manner, there would be no originality of thought, no creation of new and fruitful arrangement«. 183 Es scheint, als würden die irrealen Objekte dazu einladen, »jedem Weltzwang zu entkommen, sie scheinen sich als eine Art Negation der Bedingung des In-der-Welt-Seins […] darzubieten, als eine Anti-Welt« (Im 215). Im Schlußteil der thematisierten Schrift zeigt sich jedoch ganz im Gegenteil die notwendige Verbindung des Imaginären mit dem In-der-Welt-Sein.
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2. Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft
monotonen realen Welt auszuzeichnen, ist die Welt des Schizophrenen »eine karge und kleinliche Welt, in der sich die gleichen Szenen unermüdlich bis ins kleinste Detail wiederholen, begleitet von demselben Zeremoniell, in der alles im voraus geregelt, vorhergesehen ist; in der vor allem nichts entkommen, widerstehen oder überraschen kann« (Im 234 f.).184 Sartre nennt als Beispiel den von Reverchon-Jouve und Jouve beschriebenen Fall einer Träumerin, die ihre Phantasien sogar durch die Lektüre von Büchern bereichern wollte.185 »Mit einem Wort, wenn der Schizophrene sich so viele Liebesszenen vorstellt, geschieht das nicht nur deswegen, weil seine reale Liebe enttäuscht worden ist: sondern vor allem, weil er nicht mehr fähig ist zu lieben« (Im 235). Sartre hat nun beschrieben, wie die Intention eines irrealen Objekts sich auf das reale Gefühl auswirkt. Wenn die abwesende Geliebte vorgestellt wird, so fungiert die Liebe als affektives Analogon in der konstituierenden Schicht. Zugleich wirkt die Konstitution des Imaginären aber auch auf das Gefühl zurück: Auf jener Schicht, die der konstituierenden nachgeordnet ist, reagiert das Gefühl auf das irreale Objekt, indem es mehr und mehr verarmt. Das Schematischwerden der Liebe als Reaktion auf die Irrealität ihres Objekts müßte sich dann wiederum, so kann man an Sartre anknüpfend vermuten, 184
So klagt auch der Protagonist in Dostojewskis Erzählung Helle Nächte ganz im Sinn der Sartreschen Ausführungen: »Es kommen Augenblicke, in denen ich solch eine Seelenangst empfinde, solch einen Gram … In diesen Augenblicken will es mir scheinen – und ich fange schon an, daran zu glauben –, daß ich niemals mehr fähig sein werde, ein wirkliches Leben zu beginnen. Denn ich habe schon oft die Empfindung gehabt, als hätte ich jedes Gefühl verloren und jede Aufnahmefähigkeit der Sinne in allem, was Wirklichkeit, was wirkliches Leben ist! weil ich mich schließlich selbst verflucht habe! weil meinen phantastischen Nächten auch schon Augenblicke der Ernüchterung folgen, die so furchtbar sind! Und währendessen hört man, wie rings um einen die Menschenmassen lärmend im Lebensstrudel sich drehen, man hört und sieht, wie Menschen leben – wirklich leben, in der Wirklichkeit und im Wachen leben; man sieht, daß ihr Leben nicht nach ihrer Willkür entsteht, daß ihr Leben nicht wie ein Traum zerflattert, daß ihr Leben sich ewig erneuert und ewig jung ist und keine Stunde der anderen gleicht, während die schreckhafte Phantasie, diese unsere Einbildungskraft, so trostlos und verzagt und bis zur Gemeinheit einförmig ist« (ebd., 793). Und Xaver Zürn in M. Walsers Roman Seelenarbeit erklärt schließlich: »Er konnte sich nicht mehr für voll nehmen. Sobald einmal die Einbildung eine größere Rolle spielt als die Wirklichkeit, ist es aus« (ebd., 253). 185 Vgl. Reverchon-Jouve/Jouve, Moments d’une Psychanalyse, 356, zit. n. Im 235, Fußn. 1: »Zu Beginn des Krieges (1915), im Alter von 11 Jahren, hatte sich Fräulein H. immer mehr an eine einzige Träumerei geklammert, die sich nach und nach systematisiert, eine bestimmte Vielfalt von Elementen gruppiert hatte, indem sie zugleich immer härter und strenger wurde; eine Träumerei, an der sie ihr Interesse durch alle Arten von Nachforschungen in den Lexika und Zeitschriften aufrechterhielt, sobald es ihr an Phantasie fehlte […]. Ihr Leben war dem Träumen so fatal verfallen, daß sie, abgesehen von den Stunden, die sie träumend im Bett verbrachte, in die Bibliotheken ging, um neue Elemente zu finden, die sie benötigte, um das Gewebe der Träume zu bereichern, zu vergrößern«.
Die Halluzination als »Gegen-Spontaneität«
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auf das affektive Analogon der konstituierenden Schicht auswirken, wodurch das hervorgebrachte Objekt noch abstrakter und leerer wird. Insofern mit jeder erneuten Vorstellungskonstitution ein immer abstrakteres Gefühl in das affektive Analogon eingeht und korrelativ ein um so leereres Objekt evoziert, auf welches schließlich die Liebe auf der zweiten Schicht mit immer größerer Verarmung reagiert, entsteht eine Art von Teufelskreis.186
2. 6. Die Halluzination als »Gegen-Spontaneität« (Im 249) Wenn Taine die Vorstellung als schwächere Wahrnehmung versteht, hat er, wie Sartre bemerkt, keinerlei Probleme mit den Phänomenen der Halluzination, da für ihn im Grunde jede Vorstellung bereits eine Halluzination und Wahrnehmung wiederum »›eine wahre Halluzination‹« (Im 236) ist, deren Charakter erst im nachhinein durch eine Kohärenzüberprüfung geklärt wird. Taine hat also von Hume eher das umgekehrte Problem geerbt zu verstehen, wie Wahrnehmung und Imagination überhaupt unterschieden werden können. Sartre dagegen muß sich nun fragen, ob es sich bei der Halluzination »tatsächlich […] um eine Vorstellung [handelt], die man nicht mehr als eine Vorstellung erkennt« (Im 236).187 Jemand, der halluziniert, hält offensichtlich eine Vorstellung für eine Wahrnehmung. Nach dem vierten Grundcharakteristikum ist das Irreale jedoch immer das »Korrelat einer unmittelbaren Spontaneitätsintuition«; das imaginierende Bewußtsein wird sich unmittelbar und präreflexiv seiner »schöpferischen Aktivität« (Im 237) bewußt. Daraus ergibt sich für das Problem der Halluzination eine Herausforderung der bewußtseinstheoretischen Voraussetzungen der Imaginationslehre Sartres, die sich durch die folgende Fragestellung erfassen läßt: »(W)ie kann der Kranke an die Realität einer Vorstellung glauben, die sich durch ihr Wesen als ein Irreales gibt?« (Im 241).188 Um eine Korrektur der bewußtseinstheoretischen Konzeption zu 186
Ist die Verarmung des Gefühls aber wirklich eine Folge der Konstitution des Irrealen oder genügt hierfür nicht auch schon die bloße Abwesenheit der Geliebten, ohne daß das Imaginäre hierbei eine Rolle spielen würde? In diesem Fall wären Sartres veranschaulichende Erläuterungen kein geeignetes Beispiel, um die Reaktion des realen Gefühls auf irreale Objekte aufzuzeigen. 187 Vgl. Cabestan, ebd., 27 f. 188 Für Husserl stellt das Phänomen der Halluzination schlichtweg deswegen kein Problem für seine Bewußtseinsauffassung dar, da er Halluzinationen wie auch »Illusionen« und »Traumerscheinungen« zu den »Wahrnehmungsauffassungen« rechnet. Eine Phänomenologie der Phantasien, Bilder und Erinnerungen kann deshalb die Halluzination wie auch den Traum außer acht lassen (vgl. Phantasie, Bildbewußtsein und Erinnerung, 5). Volonté erklärt hierzu: »Phänomenologisch betrachtet existiert so etwas wie eine ›Halluzination‹ gar nicht. Sie ist kein phänomenologischer Bestand. Keine Erfahrung gibt sich deskriptiv als ›Halluzination‹«. In der natürlichen Einstellung ist die Halluzination ein Tatbestand der
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2. Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft
vermeiden, die seiner Phänomenologie der Einbildungskraft zugrundeliegt,189 sucht Sartre den Grund für die Täuschung weniger in der »Primärstruktur der Vorstellung« (Im 242) als vielmehr in einer »radikale(n) Umkehrung der Bewußtseinshaltung gegenüber dem Irrealen« (Im 242), die als »Schwächung des Sinnes für das Reale« (Im 242) bzw. als »Desintegration« (Im 247) gekennzeichnet wird. Bei einem desintegrierten Bewußtsein kommt es zu einer »Rebellion der Spontaneität« (Im 247), weil in einem solchen »Dämmerzustand« (Im 250) keine »persönliche Synthese« die kontinuierliche und sinnvolle Entwicklung der Gedanken steuert. Ein »Beachten oder Begreifen von Möglichkeiten als solchen« (Im 250) ist unmöglich, d. h. jedes einmal erfaßte »Teilsystem« (Im 247) wird nicht mehr als möglich erwogen, sondern sogleich verwirklicht (vgl. Im 247).190 Ein Bewußtsein im Zustand der Desintegration kann seine Objekte nicht mehr auf Distanz halten und begünstigt das Auftauchen des halluzinatorischen Objekts, welches korrelativ seinem Wesen nach »antithematisch« (Im 250) ist. Jeder Denkversuch vollzieht sich dann als »das Denken dieses dämmerhaften Zustandes« (Im 251) und nicht als ein Denken über diesen Zustand. Die augenblickliche Halluzination ist also keine ›falsche‹ Erfahrung, sondern eben überhaupt keine Erfahrung, da hierzu ein aufmerksames Bewußtsein erforderlich wäre. Infolge des Schrecks angesichts des Phänomens reißt sich das Bewußtsein aus dem Zustand der Desintegration, und diese Rückkehr des thematischen Bewußtseins führt sogleich zum Verschwinden des halluzinierten Objekts. Insofern das Subjekt nun auf sein soeben vergangenes Bewußtsein zurückblickt, wird das Phänomen der Halluzination erst durch die unmittelbare Erinnerung vervollständigt, die nun nachträglich eine Setzung vornimmt. Nach Sartre kann die Erinnerung nur zwischen irrealen und realen Objekten unterscheiden, wenn das jeweilige Objekt bereits im Moment seines aktuellen Erscheinens als real oder irreal gesetzt worden ist:191 empirischen Psychologie, für dessen Einschätzung die Intersubjektivität relevant ist: »Ein in sich geschlossener Wahrnehmungsverlauf eines Menschen wird dann als Halluzination ausgelegt, wenn alle anderen Menschen ihn für illusionär halten, obwohl er sich selbst als eine perzeptive Auffassung deutet. Da aber in der Phänomenologie die Erkenntnis der Erlebnisse des anderen gar keine Evidenz gewinnen kann [vgl. hierzu Husserl, Cartesianische Meditationen, 139 – Anm. J. B.], gibt sich dem phänomenologischen Bewußtsein die betreffende wirkliche Halluzination immer nur als schlichte Wahrnehmung, als normale Selbstgebung eines Gegenstandes« (Volonté, ebd., 188). 189 Vgl. Im 241: »(E)s ist unwichtig, ob das Bewußtsein ›krankhaft‹ ist oder nicht; es ist eine Wesensnotwendigkeit, daß das irreale Objekt als irreal konstituiert wird, die Spontaneität des Bewußtseins ist, wie wir oft gesagt haben, eins mit dem Bewußtsein dieser Spontaneität, und man kann folglich das eine nicht ohne das andere zerstören«. 190 Es soll hierbei kein mechanistischer Automatismus, sondern eine »Gegen-Spontaneität« (Im 249) vorliegen (vgl. Im 247). 191 Diese expliziten Setzungen müssen »(n)atürlich« keineswegs »artikulierte Urteile« sein (vgl. Im 253, Fußn. 1).
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»Die Halluzination impliziert eine brüske Reaktion des Bewußtseins auf das partielle System durch eine brüske Konzentration mit brüsken Wiedererscheinen der thematischen Einheit. Bei dem unerwarteten und absurden Erscheinen des irrealen Objekts muß eine Überraschungs- oder Schockwelle das Bewußtsein durchlaufen, es kommt zu einem Erwachen, einer Neugruppierung der Kräfte, fast so, wie wenn ein plötzliches Krachen den Schläfer unerwartet aufweckt. Das Bewußtsein wird alarmiert, es orientiert sich, ist bereit zu beobachten, aber das irreale Objekt ist natürlich verschwunden, das Bewußtsein findet sich gegenüber nur eine Erinnerung« (Im 252).192 Die Antwort auf die Frage, wie das Bewußtsein die Halluzination mit der Wahrnehmung verwechseln kann, wenn es doch alles Irreale als irreal und alles Reale als real setzt, lautet also, daß für die Dauer des Erscheinens des halluzinierten Objekts überhaupt »keine Setzung von Irrealität« (Im 253) erfolgt. Der Irrtum entsteht nicht im Augenblick der Halluzination, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Person über das vergangene Ereignis nachdenkt oder spricht. Um die Selbstdurchsichtigkeit des Bewußtseins nicht zu gefährden, wird der Ort der Täuschung vom aktuellen Bewußtsein auf die Erinnerung verlagert. Zwar vermeidet Sartre hierdurch die Annahme einer aus cartesianischer Sicht skandalösen, weil falschen, irrtümlichen Bewußtseinssetzung. Aber seine eigene alternative Beschreibung dieses Phänomens bringt nichtsdestotrotz auf ihre Weise das theoretische Fundament ins Wanken: Sartre charakterisiert das halluzinierende Bewußtsein als eine »unpersönliche Spontaneität« (Im 251),193 weil es die »Abwesenheit des Subjekts« einschließt und darum »weit […] entfernt« von der Subjekt-Objekt-Unterscheidung liegt: »(W)ir haben es hier mit einem dritten Existenztyp zu tun, den zu charakterisieren es uns an Ausdrücken fehlt« (Im 252).194 Die gewissenhafte Be192
Sartre berichtet von seinen eigenen Meskalinerfahrungen: »Ich habe bei einer Meskalin-Injektion, die ich mir hatte geben lassen, ein kurzes halluzinatorisches Phänomen feststellen können. Es hatte genau diesen lateralen Charakter: jemand sang in einem Nebenzimmer, und als ich die Ohren spitzte, um etwas zu hören – indem ich dadurch aufhörte, vor mich hin zu sehen –, erschienen drei parallele kleine Wolken vor mir. Dieses Phänomen verschwand natürlich, sobald ich versuchte, es zu erfassen. Es war nicht mit dem vollen klaren Bewußtsein vereinbar. Es konnte nur flüchtig existieren und gab sich übrigens auch so; diese drei kleinen Nebel boten sich meiner Erinnerung unmittelbar nach ihrem Verschwinden in einer Weise dar, die etwas zugleich Unbeständiges und Geheimnisvolles hatte, das, wie mir scheint, der Existenz dieser freigewordenen Spontaneitäten nur an den Rändern des Bewußtseins entsprach« (Im 249 f.). 193 Eher verwirrend als hilfreich ist diese Wendung Sartres allerdings deswegen, weil schon in »Die Transzendenz des Ego« das präreflexive unmittelbare Bewußtsein als unpersönliche Spontaneität bestimmt wird. Der Unterschied besteht darin, daß das unmittelbare Bewußtsein zwar sein Objekt, aber nicht sich selbst setzt, während das halluzinierende Bewußtsein weder sich selbst noch sein Objekt setzt. 194 Diesen dritten Existenztyp schließt seine Philosophie jedoch im Grunde von Anfang
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2. Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft
schreibung der Phänomene führt also im Grunde, wie Sartre selbst zugibt und dennoch unerörtert läßt, zu einer Infragestellung des kategoriellen Rahmens. Wenn es Bewußtseinsformen gibt, die ihr Objekt nicht setzen, ist das Irreale ebensowenig immer das »Korrelat einer unmittelbaren Spontaneitätsintuition« (Im 237), als wenn das Bewußtsein falsche Setzungen vornehmen würde. Gegen das vierte Grundcharakteristikum des Imaginären – jedes imaginierende Bewußtsein setzt sein Objekt als irreal – verstößt ein imaginierendes Bewußtsein, das sein Objekt gar nicht setzt, ebenso sehr wie jenes, das sein Objekt als real setzt. Die Spontaneität des Bewußtseins ist in einem desintegrierten Bewußtsein nicht das Bewußtsein der Spontaneität. Und wenn man tatsächlich »das eine nicht ohne das andere zerstören« kann (Im 241), so wäre an dieser Stelle von Sartre eine Revision seiner Bewußtseinstheorie zu erwarten. Im übrigen stellt sich die Frage, worauf der erwähnte schockartige Charakter der Halluzination beruht. Wie kann von einem »unerwarteten und absurden Erscheinen des irrealen Objekts« gesprochen werden, wie kann es zu einer »Überraschungs- oder Schockwelle« und zu einer »brüske(n) Konzentration« des Bewußtseins kommen (s. o.), wenn die Halluzination nicht die gewohnte Erfahrungskohärenz durchbricht, die Sartre als Unterscheidungskriterium vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Taine zuvor abgelehnt hat?
Exkurs: Merleau-Ponty und die Halluzination Angesichts der Erörterung der Halluzination kommt Sartre zur Annahme eines Bewußtseins, das einen dritten Existenztyp – mit den anderen Existenztypen sind wohl das setzende, konzentrierte Bewußtsein und das Ding gemeint – realisiert (vgl. Im 252), zu dem sich jedoch keine weitergehenden Erläuterungen finden. Dieses fragliche Halluzinationsbewußtsein wird, wenn überhaupt, nur negativ im Kontrast zum ›wachen‹, aufmerksamen Bewußtsein definiert. Wenige Jahre später versucht nun Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), die intellektualistische Bewußtseinskonzeption, welche sich vor allem bei Descartes und Husserl findet, dadurch in Verlegenheit zu bringen, daß er sie mit dem Phänomen der Halluzination konfrontiert. Auf diesem Weg scheint er konsequent auszuführen, was sich bei Sartre nur angedeutet findet. Merleau-Ponty schließt sich zunächst – wenn auch ohne explizite Erwähnung – Sartre an, insofern er bestätigt, daß die Kranken zwischen ihren Halluzinationen und ihren Wahrnehmungen unterscheiden können.195 Entgegen an aus: »Es gibt ein ontologisches Gesetz, daß es nur zwei Existenztypen gibt: Existenz als Ding der Welt und Existenz als Bewußtsein« (TE 211). 195 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 385 f.
Die Halluzination als »Gegen-Spontaneität«
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der gängigen These empiristischer Provenienz kann die Halluzination also »kein sinnlicher Inhalt«196 sein. Aber folgt daraus, daß der Intellektualismus recht behält, wenn er die Halluzination rationalistisch »als Urteil, als Interpretation oder als Annahme«197 versteht? Der Halluzinierende sieht und hört nicht, aber er kann auch nicht zu sehen und zu hören glauben. Wie könnte ein solcher Glaube möglich sein, wenn kein sinnlicher Inhalt vorliegt und das cogito das Objekt zudem selbst konstituiert: Es ist »schlechterdings aussichtslos«198 verstehen zu wollen, wie ein vom Bewußtsein konstituiertes Objekt dieses Bewußtsein selbst täuschen soll, wenn es zugleich auch objektiv erkannt wird. Der Intellektualismus, dessen Vorzug darin besteht, den »Wesensunterschied zwischen Wahrnehmung und Halluzination«199 geltend gemacht zu haben, unternimmt wie der Empirismus eher eine Konstruktion, statt eine Beschreibung des Erlebens der Halluzination, und deswegen bleibt beiden Konzeptionen die Halluzination unverständlich. Der Empirismus scheitert, da die Kranken Halluzination und Wahrnehmung unterscheiden können und erstere darum kein sinnlicher Gehalt sein kann; der Intellektualismus versagt, weil die Kranken die Halluzination nicht als wahr setzen und sie darum keine Interpretation oder ein falsches Urteil sein kann. Der Empirismus kann nicht den Unterschied, der Intellektualismus nicht den Betrug erklären.200 Zur Halluzination, »so wie sie für sich selbst ist«,201 erklärt Merleau-Ponty, habe ich keinen direkten Zugang. Sie ist entweder ein vergangenes Phänomen meines Bewußtseinsflusses, an das ich mich erinnere, oder sie ist ein aktuelles Phänomen, das ich jedoch bei einem Anderen beobachte. Seine visuellen und auditiven Erlebnisse nenne ich Halluzinationen, sobald ich sie selbst weder sehen noch hören kann, d. h. sobald sie nicht in der »stabilen intersubjektiven Welt«202 stattfinden. Auch dem Wahrnehmenden sind natürlich nicht alle möglichen Erfahrungen zugänglich, dennoch sind sie in seinem aktuellen 196
Merleau-Ponty, ebd., 386. Ebd., 386. 198 Ebd., 388. 199 Ebd. 200 Vgl. ebd., 387 f. Der Empirismus sucht nach einer Erklärung der Halluzination, indem er sie auf physiologische Störungen z. B. jener Nervenzentren zurückführt, welche für gewöhnlich einer Reizung unterliegen, wenn dieselben Objekte nicht halluziniert, sondern wahrgenommen werden. Der Intellektualismus stützt sich statt dessen auf eine bestimmte Bewußtseinskonzeption, nach der die »Wahrheit oder Unwahrheit einer Erfahrung« mit Gewißheit und ohne jegliche Gefahr einer Täuschung erkannt wird. Die Halluzination ist jedoch weder ein sinnlicher Inhalt noch eine falsche Setzung. Die Vermutung ist wohl gerechtfertigt, daß mit dieser Intellektualismus-Kritik letztlich auch Sartre gemeint ist. Hierbei muß allerdings bedacht werden, daß letzterer eine Setzung des irrealen Objekts im halluzinatorischen Bewußtsein generell in Abrede stellt. 201 Ebd. 202 Ebd., 390. 197
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Wahrnehmungsfeld »vorgezeichnet oder angezeigt«,203 und in diesem Sinne ruft jede Standortveränderung eine »sinnliche Antwort«204 hervor, die ich zuvor ausgehend von dem urpräsenten Kern meiner Wahrnehmung protentional intendieren konnte. Das halluzinatorische Phänomen gehört jedoch nicht zur Wahrnehmungswelt: »(E)s gibt keinen wohlbestimmten Weg von ihm zu den sämtlichen anderen Erfahrungen des halluzinierenden Subjekts«.205 Darum ist die Halluzination ein »privates Schauspiel«, das »auf einer anderen Bühne als der der vertrauten Welt«206 stattfindet. Mit deutlicher Affinität zu Sartre erklärt Merleau-Ponty: »Im Falle eines Phantasma geht die Initiative zu seiner Bildung von uns aus, und nichts antwortet ihr von außen«.207 Die Halluzination »ist nicht in der Welt, sondern ›vor‹ ihr«;208 sie eine Art von »Überlagerung«.209 Dies soll, so Merleau-Pontys Erklärung, daran liegen, daß der Leib desjenigen, der halluziniert, nicht länger in das »System der Erscheinungen« eingefügt sei, weswegen jede Halluzination »zunächst Halluzination des eigenen Leibes«210 sei. Diese Feststellung korrespondiert mit Sartres Ausführungen: Zwar thematisiert dieser nicht das Analogon der Halluzination, aber aus seinen bisherigen Untersuchungen läßt sich schließen, daß vor allem auch motorische Bewegungen und kinästhetische Empfindungen an der Bildung des halluzinatorischen Objekts beteiligt sind.211 Da unser Leib nach Merleau-Ponty nichts geringeres ist als unsere realisierte »Situation in einer bestimmten physischen und humanen Umwelt«,212 korreliert das Auftauchen der Halluzination mit einer »Entpersönlichung« und einer »Störung des Körperschemas«,213 bei der die Wahrnehmungswelt ihre »Ausdruckskraft«214 verliert. Analog hierzu spricht Sartre von Wahrnehmungsapathie und Desintegration, die die Halluzination begleiten bzw. ihre Voraussetzung bilden. Die Verwandlung der Welt des Kranken beschreibt Merleau-Ponty auf folgende Weise: »Das Dasein des Kranken ist ein dezentriertes, es vollzieht sich nicht mehr im Umgang mit einer herben, widerständigen, ungefügigen, uns ignorierenden Welt, sondern erschöpft sich in der isolierten Konstitution einer fiktiven Umwelt«.215 Aber er fügt hinzu, 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 391. Ebd., 391. Ebd., 390. Ebd., 391. Vgl. auch die Beschreibungen in Sartres Erzählung Das Zimmer, 72 f. Merleau-Ponty, ebd., 391. Ebd. Ebd., 394. Ebd.
Die Halluzination als »Gegen-Spontaneität«
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eine solche Fiktion könne nur deswegen als wirklich erscheinen, weil »die Wirklichkeit selbst auch dem normalen Subjekt in einer analogen Leistung zur Begegnung kommt«.216 Auch die Wahrnehmung soll, wie aus dem obigen Zitat hervorgeht, letztlich ›in einer analogen Leistung‹ – d. h. offensichtlich in der Art einer Konstitution – dem Subjekt begegnen. Trotzdem handelt es sich dann um eine Konstitution einer Welt, die ›widerständig‹, ›ungefügig‹ ist und ›uns ignoriert‹ (s. o.). ›Konstitution‹ ist einmal das Verhältnis zu etwas, das wir erst »erbauen«,217 ein anderes Mal ist sie das Verhältnis zu etwas, das uns ignoriert und uns widersteht. Wünschenswert wäre es, zu erfahren, was das Gemeinsame in beiden Fällen ist. Obwohl der Halluzinierende, wie Merleau-Ponty vorher betont, dem Phänomen nicht glaubt, obwohl es »keine Wahrnehmung« ist, behauptet er nun: Die Halluzination »gilt als Wirklichkeit für den Kranken«.218 Wäre sie eine intellektuelle Leistung, so könnte sie niemals die Wahrnehmung verdrängen und »für den Kranken wirklicher […] sein als seine eigenen Wahrnehmungen«.219 Erklärungsbedürftig ist an Merleau-Pontys Darstellung allerdings, warum der Kranke einerseits nicht an seine Halluzination glaubt, sie andererseits trotzdem für ihn als Wirklichkeit erscheinen kann. Sartre würde zwar ebenfalls sagen, daß die Halluzination erscheint,220 daraus folgt aber für ihn nicht, daß sie als Wirklichkeit erscheint. Sowohl Wahrnehmung wie auch Halluzination werden auf dieselbe Urfunktion zurückgeführt – dies geschieht mit der Begründung, daß nur auf diese Weise verständlich wird, wieso sich die Halluzination als wirklich setzen und die Wahrnehmung verdrängen kann: »Halluzination und Wahrnehmung [sind] Modalitäten ein und derselben Urfunktion […], kraft deren wir um uns herum eine Umwelt bestimmter Struktur disponieren und kraft deren wir uns bald inmitten der Welt, bald an deren Rande situieren«.221 Den objektivierenden Akten, »durch die ich vor mir einen Gegenstand setze, in seinem Abstand, in einem bestimmten Verhältnis zu den anderen Gegenständen und mit beobachtbaren bestimmten Charakteren, allen Wahrnehmungen im eigentlichen Sinne also liegt tragend zugrunde eine tiefere Funktion, ohne deren Vollzug den wahrgenommenen Gegenständen der Index der Realität selbst fehlte, so
216
Ebd. Ebd., 393. 218 Ebd., 394. 219 Ebd. 220 Damit grenzt er sich von Janet ab, der die Halluzination »auf den von Überzeugung begleiteten Bericht« des Kranken reduziert (vgl. Im 239). Alain würde sich Janet hier vermutlich anschließen (vgl. Im 144 f.). 221 Merleau-Ponty, ebd. 217
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wie er beim Schizophrenen fehlt, und kraft deren sie erst für uns zählen und gelten«.222 Den setzenden Akten liegt eine fundamentale Funktion voraus, die den Wahrnehmungen den Realitätsindex verleiht, der der Halluzination fehlt. Merleau-Ponty bezeichnet diese Funktion auch als »Urglauben« oder als »Urmeinung«,223 in deren Bereich »die halluzinatorische Illusion möglich« sein soll, die einerseits, wie es vage heißt, niemals einer Wahrnehmung gleichkommt und doch in der Lage ist, sich an ihre Stelle zu setzen. Es lassen sich also zwei Wahrnehmungsbegriffe unterscheiden: Die »Wahrnehmungen im eigentlichen Sinne« (s. o.) sind die objektivierenden Akte, durch die ich einen ›fertigen‹ Gegenstand setze, den ich beobachte und über den ich urteile. Wenn Merleau-Ponty von der Unterscheidung von Halluzination und Wahrnehmung spricht, so ist offenbar dieser Wahrnehmungsbegriff gemeint. ›Wahrnehmung‹ im zweiten Sinne meint die vorobjektive und vorprädikative Sphäre der Phänomene, die Welt in statu nascendi bzw. die genannte Urfunktion, die der Aktintentionalität zugrundeliegt. Das trügerische Phänomen der Halluzination, folgert Merleau-Ponty, verlangt, um verständlich zu sein, nach einer Preisgabe der »apodiktische(n) Gewißheit der Wahrnehmung« sowie der völligen Selbsttransparenz des Bewußtseins.224 Halluzinationen kann es nur geben, wenn das Bewußtsein sich der Konstitution einer Illusion nicht bewußt ist. Um der Halluzination zu erliegen, muß der Kranke die wahre Welt »vergessen oder verdrängen«225 und in den Bereich des Urglaubens – d. h. der vorprädikativen Wahrnehmungen – zurückkehren, in dem eine »ursprüngliche Indistinktion von Wahrem und Falschem«226 herrscht. Merleau-Pontys Betrachtungen zur Halluzination rücken von der cartesianischen Konzeption eines selbstdurchsichtigen Bewußtseins, wie sie sich bei Sartre findet, deutlich ab und scheinen damit eher dem fraglichen Phänomen gerecht zu werden. Dennoch bleiben schließlich offene Fragen – dies liegt nicht zuletzt auch daran, daß Merleau-Pontys ›dritter Weg‹ zwischen Empirismus und Intellektualismus vor allem durch Bilder und Metaphern umkreist wird, die nicht unbedingt Klarheit und Verständlichkeit in die Sache bringen.227 Man kann sich zudem fragen, ob Merleau-Ponty das Problem letztlich nicht nur einfach verschiebt: Die Frage lautet nun nicht mehr, wie die setzenden Akte des Bewußtseins Wahrnehmung und Halluzination unterscheiden, sondern was die Urfunktion, die der objektiven Welt vorausliegt und sie begründet, dazu bringt, der Wahrnehmung den Realitätsindex zuzusprechen 222 223 224 225 226
Ebd., 394 f. Ebd., 395. Ebd. Ebd., 396. Ebd.
Der Traum
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und ihn der Halluzination zu versagen (s. o.). Ein weiteres Problem ergibt sich: Wenn die Halluzination nur in der vorobjektiven Landschaft stattfindet, in der Wahrnehmung und Halluzination noch nicht deutlich geschieden sind, d. h. die erwähnte ›Indistinktion von Wahrem und Falschem‹ vorliegt, und wenn die Trennung erst auf der objektiven Ebene stattfinden kann (wobei andererseits die objektive Ebene die Halluzination ausschließt), wie kommt es dann, daß die Kranken, wie Merleau-Ponty selbst in seiner Kritik am Empirismus betont, die Wahrnehmung von der Halluzination unterscheiden können? Kann Merleau-Ponty am Ende noch erklären, warum die Kranken diese Distinktion vornehmen können? Und kann er dies besser als der Empirismus? Casey hat die schroffe Trennung von Imaginärem und Realem, wie sie sich bei Sartre findet, als Intellektualismus kritisiert. Anstelle einer solchen »Scylla of a schismatic dualism of the real and the imaginary« finde sich in Merleau-Pontys Gegenentwurf nun »the Charybdis of a perceptual monism«:228 Für dieses »opposite extreme«, ist »imagination a part […] of perception: The alienation between the imaginary and the real is overcome at the price of a systematic subordination of imagining to perceiving«.229
2. 7. Der Traum Noch mehr als die eher pathologische Ausnahmeerscheinung der Halluzination stellt der Traum auf den ersten Blick die von Sartre als ebenso spontan wie gewiß behauptete Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Imagination in Frage.230 Eine reflexive Setzung des Traums als Wahrnehmung würde natürlich die Reflexion als unbezweifelbares Erkenntnisfundament in Frage stellen. Daher beeilt sich Sartre zu versichern: Die real vollzogene Reflexion setzt den Traum als das, was er ist und vernichtet ihn damit, wohingegen sie durch ihre Setzung die Wahrnehmung »bestätigt und verstärkt« (Im 257).231
227
Merleau-Ponty würde darauf jedoch erwidern, daß gerade die Exaktheit und Klarheit der Begriffe und damit die vermeintlich völlige Transparenz der Phänomene deren konstitutive Zweideutigkeit verdecken und damit dem objektiven Denken das Wort reden würde. Der Preis des dritten Weges liegt in der Hinnahme von Paradoxien und partiellen Unbestimmtheiten. 228 Casey, ebd., 157. 229 Casey, ebd.. 230 So gehen z. B. Descartes und Kant davon aus, daß der Traum für eine Wahrnehmung gehalten wird (vgl. Descartes, Meditationen, 16 f.; Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 497; vgl. zu letzterem auch Mörchen, Die Einbildungskraft bei Kant, 29). 231 Vgl. IF 4, 55: »(W)enn ich mir im Traum sage, daß ich träume, denke ich nicht über meinen Traum nach, ich träume, daß ich nachdenke«. Sollte es mir dennoch gelingen, eine reale Reflexion zu vollziehen, würde ich nach Sartre sogleich aufwachen (vgl. Im 256).
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2. Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft
Um Klarheit in diese Zusammenhänge zu bringen, charakterisiert Sartre zunächst den spezifischen Setzungscharakter des unreflektierten Traumbewußtseins als eine Form des Glaubens. Die Wahrnehmung zeichnet sich im Unterschied dazu durch ein Wissen aus: Die Evidenz der Wahrnehmung »ist die Präsenz des Objekts als solchen selbst für das Bewußtsein; es ist die ›Erfüllung‹ der Intuition« (Im 260). Der Glaube ist hier Sartre zufolge ebenso überflüssig wie unmöglich. Für den Glauben im allgemeinen und den Traum im besonderen ist es dagegen wesentlich, daß sich die intentionalen Objekte niemals als Präsenzen geben, ihre Intuition ist von keiner Evidenz begleitet (vgl. Im 268; SN 156 f., 166 f.).232 Aber diese Privation, die in ihren intentionalen Zusammenhängen von Sartre nicht ausführlich ausgewiesen wird, wird erst auf der Ebene der Reflexion als solche erkannt. Während sich der Glaube dem reflexiven Bewußtsein »als bloße subjektive Bestimmung ohne äußeres Korrelat« (SN 157) enthüllt, ist das unreflektierte unmittelbare Bewußtsein ohne Zweifel und Skepsis: Es glaubt seinem Objekt schlichtweg (Im 258). Genau wie die Halluzination vollzieht der Traum, der an seine Objekte glaubt, nach Sartre also keine falschen Wahrnehmungsauffassungen, ganz im Gegenteil ist er außerstande, überhaupt irgendetwas wahrzunehmen. Dies soll auch der Grund sein, warum im Traum all jene Empfindungen, welche zwar stark genug sind, bewußt zu werden, aber nicht stark genug sind, ein Erwachen herbeizuführen, nicht als sie selbst, sondern als Analogon geträumter Objekte erfaßt werden (vgl. Im 260–262).233 Die Desintegration ist hier so weit geführt, daß das träumende Bewußtsein wesenhaft jeglichen »Begriff der Realität verloren« (Im 263) hat. Darum ist der Traum »die vollkommene Verwirklichung eines geschlossenen Imaginären« (Im 263), aus dem kein Weg herausführt.234 Der Glaube des träumenden Bewußtseins wird nun genauer definiert als »Faszination ohne Existenzsetzung« (Im 268). Das Traumgeschehen zeichnet sich nach Sartre durch den Charakter der Fatalität aus,235
232
Vgl. Cabestan, ebd., 31. Siehe hierzu ganz ähnlich Fink, ebd., 64 f. 234 Entgegen Freuds Erklärungen soll nach Sartre die Unfähigkeit, »irgendein Reales in seiner Realitätsform zu erfassen« (Im 267), der Grund für den Traumsymbolismus sein. Ob dieser Gedanke so schlüssig ist, ist allerdings fraglich. Warum produziert der reale Wunsch im Traum einen Gegenstand, der das eigentliche Desiderat lediglich symbolisiert und nicht einfach das Gemeinte auf irreale Weise? Selbst wenn man Sartre die Unmöglichkeit wahrzunehmen zugesteht, so bleibt doch die Frage, warum die Verwandlung ins Imaginäre zugleich die Verwandlung in einen anderen Gegenstand bedeutet. Um sein eigenes Beispiel aufzugreifen: Wenn die Wahrnehmungsintention ausgeschlossen ist, dann folgt daraus lediglich, daß mir das rote Licht der Sonne, das durch meine Augenlider dringt, als irreales Sonnenlicht gegeben ist, damit ist aber nicht begründet, warum es im Traum etwas anderes repräsentieren muß, also z. B. »als für Blut stehend aufgefaßt« (Im 261) wird. 235 Vgl. Flynn, ebd., 433 f.; Baladie, ebd., 58. 233
Der Traum
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womit gemeint ist, daß das träumende Bewußtsein sich in einer Welt ohne Möglichkeiten befindet (vgl. Im 269; SN 837; WE 98, 129 f.). Möglichkeiten kann es seiner Ansicht nach nur in der Realität und nicht in der irrealen Welt geben,236 denn die Konzeption einer Möglichkeit bedeutet innerhalb des Traums deren unmittelbare Realisierung als Vorstellung.237 Darum ist die irreale Welt des Traums fatalistisch bzw. eine »Welt ohne Freiheit« (Im 270). Der Versuch des Voraussehens oder Konzipierens gerät unweigerlich in den Sog des Irrealen und wird zum Teil der Geschichte: »Ich kann mich nicht hindern, kein anderes Ende erdenken, ich bin ohne Ruhe, ohne Zuflucht, gezwungen, mir die Geschichte zu erzählen: es gibt kein ›Umsonst‹« (Im 269 f.). So sagt sich der Träumende nicht etwa, »ich hätte einen Revolver in der Hand haben können, sondern auf einmal hat er einen Revolver in der Hand. Doch wehe ihm, wenn ihm in dem Augenblick ein Gedanke kommt, der im Wachzustand heißen würde: ›Und wenn der Revolver Ladehemmung hätte!‹ Dieses ›wenn‹ kann im Traum nicht existieren: dieser rettende Revolver hat in genau dem Moment, in dem man sich seiner bedienen will, plötzlich Ladehemmung« (Im 270; vgl. IF 4, 55 f.; TE 314 f.). Diese Unfähigkeit, Möglichkeiten als Möglichkeiten zu verstehen, die dazu führt, jeden Gedanken auf imaginäre Weise ohne Umschweife zu veranschaulichen, ist für Sartre auch schon konstitutiv für das Halluzinationsbewußtsein (vgl. Im 247) und gilt in noch höherem Maße für das Traumbewußtsein, das jeglichen Sinn für das Reale verloren hat. Aus diesem Grund kann auch keine Rede von einem »Erfassen der geträumten Welt als Realität« (Im 279) sein.238 Das Traumbewußtsein verwechselt nicht Wahrnehmung und Imagination, weil es überhaupt nichts mehr als wahrgenommen bzw. als real setzen kann:239 So ist der Traum »keineswegs die für die Realität gehaltene Fiktion, er ist die Odyssee eines Bewußtseins, das durch und gegen sich selbst dazu verurteilt ist, nur eine irreale Welt zu konstituieren« (Im 279).240 Alles in 236
Vgl. Kuehl, ebd., 223 f. Anders als Sartre ordnet Warnock in ihrer Erörterung seiner Imaginationslehre die Möglichkeiten dem Bereich des Imaginären und nicht der realen Welt zu (ebd., 329). 237 Nur die reflexive Erkenntnis der Imagination, die im Traum jedoch ausgeschlossen ist, würde eine Distanz zwischen Konzeption und Realisierung von Vorstellungsobjekten erlauben (vgl. Im 269). 238 Vgl. Cabestan, ebd., 47. 239 Aber selbst wenn es sich nur um ein Glaubensphänomen handelt, so liegt hierin doch immerhin, daß der Träumer an seine Objekte glaubt und nicht etwa, daß er nicht an sie glaubt. Kann ich aber ohne die Kategorie des Realen überhaupt noch an etwas glauben? Meint ›an etwas glauben‹ nicht letztlich ›an die Realität von etwas glauben‹? 240 Ein Erwachen kommt zustande, wenn sich das Reale aufdrängt und entweder wegen seiner Intensität oder der »Persistenz bestimmter Maßregeln durch den Schlaf hindurch« (Im 278) nicht als Analogon konstituiert werden kann. Weiterhin kann der Traum beendet
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2. Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft
allem will Sartre darauf hinaus, daß auch die Magie der Faszination, der der träumende Mensch unterliegt, letzten Endes nur eine Version der Spontaneität des Bewußtseins ist.241 Bei einer strengeren Lesart stellen jedoch Halluzination und Traum selbst dann das vierte Grundcharakteristikum in Frage, wenn sie ihre irrealen Objekte nicht als real setzen. Es bleibt, daß beide eben auch keine expliziten Irrealitätssetzungen vornehmen, und damit gilt jene zu Anfang proklamierte Gesetzmäßigkeit nicht mehr universell, nach der jedes imaginierende Bewußtsein sein Objekt als irreal – bzw. sich selbst nicht-thetisch als schöpferisch – setzt.
2. 8. Imagination und Freiheit Im Anschluß an die phänomenologischen Beschreibungen des Imaginären stellt Sartre im Schlußkapitel von Das Imaginäre in Kantischer Perspektive die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Imagination: »Was muß das Bewußtsein im allgemeinen sein, wenn es zutrifft, daß eine Vorstellungsbildung immer möglich sein muß?« (Im 281)242 Wäre die Einbildungskraft nur eine »kontingente Bereicherung« des Wesens ›Bewußtsein‹, d. h. also keine essentielle Bestimmung, so wäre ein zur Imagination unfähiges Bewußtsein denkbar. Stellt die Einbildungskraft dagegen eine konstitutive Struktur dar, dann ist dem Bewußtsein wesentlich, die Imagination jederzeit ausführen zu können.243
werden, wenn die reale Angst, die den Traum »provoziert« (Im 278), so stark wird, daß die »Verzauberung« des Bewußtseins abgebrochen und die reale Reflexion ermöglicht wird: »Ich werde mir bewußt, daß ich Angst habe, und gleichzeitig, daß ich träume« (Im 278). 241 Vgl. Ricoeur ebd., 172 sowie Waldenfels, ebd., 78: »Durchgängig zeigt sich das Bestreben, die Spontaneität und Einheit des Bewußtseins trotz aller Degradierungs- und Desintegrationserscheinungen, die selbst noch das Ich ins Imaginäre hineinziehen, als unhintergehbar zu erweisen. Es gibt keine Spontaneität, die ›einer Schattenzone entspringt, ohne ihrer selbst bewußt zu sein‹, mit anderen Worten: es gibt kein Unbewußtes«. Interessant wäre in diesem Zusammenhang ein Vergleich von Sartres ›Faszination‹ mit Finks ›Versunkenheit‹ (siehe vor allem Fink, ebd., 65). 242 Wiesing hat den Verdacht geäußert, daß es Sartre letztlich in Das Imaginäre eher um die Entwicklung einer bestimmten Bewußtseinskonzeption und weniger um das Studium des Imaginären gehe: »Das Bild erfüllt für Sartre den Zweck, eine bestimmte Bewußtseinsart analysieren zu können, ist aber nicht selbst das Objekt des theoretischen Interesses« (ebd., 261). Weder Sartre noch auch Husserl will Wiesings Ansicht nach »mit seinen Überlegungen einen Beitrag zur Kunst- oder Werkästhetik leisten, sondern zur Bewußtseinstheorie« (ebd., 275). 243 Es ist dabei völlig gleichgültig, ob das Bewußtsein tatsächlich jemals die Imagination vollzieht. Geltungs- und Tatsachenfragen sind hier genau auseinanderzuhalten (vgl. TE 40 f.).
Imagination und Freiheit
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Das Bewußtsein ist Sartres Ausführungen zufolge offensichtlich in der Lage, Objekte zu konstituieren und zu setzen, die gegenüber der Gesamtheit des Realen einen »gewissen Nichts-Charakter« (Im 287) aufweisen: »(D)er negative Akt« ist, wie sich schon früher gezeigt hat, »für die Vorstellung konstitutiv« (Im 287). Worauf richtet sich nun diese Negation? Die Imagination beruht gerade in der Fähigkeit des Bewußtseins, einen Abstand zur Totalität der Realität einzunehmen, bzw. »sich davon frei [zu] machen« (Im 288). Es handelt sich hier, wie Sartre fortfährt, um zwei komplementäre Negationen: Indem ich von einem Objekt verneine, daß es der Realität angehört, verneine ich das Reale, in dem Maße, in dem ich dieses Objekt setze: Das Bewußtsein »muß die Welt als ein Nichts in bezug auf die Vorstellung setzen können« (Im 289). Um zur Vorstellung befähigt zu sein, ist es erforderlich, daß das Bewußtsein sich der Realität entziehen bzw. eine Distanz zu ihr einnehmen kann. »Wenn überhaupt ein Bewußtsein denkbar wäre, das nicht vorstellte, müßte man es verstehen als im Seienden unablösbar festgeleimt und ohne Möglichkeit, etwas anderes als das Seiende zu erfassen« (Im 293 f.). Die regressive Analyse, die – ausgehend vom Konkreten, dem imaginierenden Bewußtsein – nach den Bedingungen der Möglichkeit der Imagination fragt, führt auf diesem Weg zur allgemeinen Struktur jeden Bewußtseins: die Freiheit.244 Die Studie über die Einbildungskraft gipfelt also in einem Freiheitsbeweis: »So hat die Irrealitätssetzung uns die Negationsmöglichkeit als ihre Bedingung erwiesen, diese ist also nur durch die ›Nichtung‹ der Welt als Totalität möglich, und diese Nichtung hat sich uns als die Kehrseite eben der Freiheit des Bewußtseins enthüllt« (Im 289; vgl. SG 560).245 Kurz, nur »weil er transzendental frei ist, stellt der Mensch vor« (Im 293). Das Bewußtsein überschreitet nach Sartres Auffassung das Reale und konstituiert auf diese Weise eine Welt, wobei diese Konstitution mit einer Distanznahme bzw. einer Negation zusammenfällt.246 »So genügt es, die Realität als ein synthetisches Gesamt setzen zu können, um sich als frei im Verhältnis zu ihr zu setzen, und dieses Überschreiten ist die Freiheit selbst, denn es wäre nicht möglich, wenn das Bewußtsein nicht frei wäre« (Im 290). Aber ein solches Überschreiten des Realen ist keineswegs beliebig oder willkürlich. Eine Vorstellung ist nicht einfach die negierte Welt, »sie ist immer die von einem bestimmten Gesichtspunkt aus negierte Welt, genaugenommen die, die erlaubt, die Abwesenheit 244
Vgl. Sartres Kriegstagebücher: »Dank der Freiheit können wir imaginieren, das heißt die Gegenstände der Welt sowohl nichten wie thematisieren« (T 334). Vgl. ganz ähnlich auch Fink, ebd., 51–53. 245 Vgl. Cabestan, ebd., 49. 246 Vgl. Flynn, Sartre and Marxist Existentialism, 5: »In a series of rough equivalencies typical of many Sartrean ›demonstrations‹, he links Husserlian world-constitution and Heideggerian transcendence (dépassement) with his own ›nihilation‹ to reveal the nature of imagining consciousness«.
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2. Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft
oder Nichtexistenz des Objekts zu setzen, das man ›als Vorstellung‹ präsentifizieren wird« (Im 290). Das Überschreiten des Realen, um eine Welt zu konstituieren, »kann und muß zunächst durch die Affektivität oder durch die Aktion geschehen«. In diesem Sinne »erscheint ein toter Freund als ein Irreales auf dem Hintergrund eines affektiven Erfassens des Realen als in dieser Hinsicht leerer Welt« (Im 291).247 Darum ist die Situation keine reine und abstrakte Möglichkeitsbedingung des Imaginären im allgemeinen, sondern die »konkrete und genaue Motivation des Erscheinens dieses besonderen Imaginären« (Im 291).248 Die mannigfaltigen unmittelbaren Weisen, das Reale als Welt zu erfassen, bezeichnet Sartre als »›Situationen‹« (Im 291). Die »wesentliche Bedingung« (Im 291) der Vorstellungen, so hat sich nun gezeigt, ist ein Bewußtsein in Situation bzw. als ›In-der-Welt-Sein‹. Von hier aus wird »die Verbindung des Irrealen mit dem Realen« (Im 291) deutlich: Auch wenn ich in diesem Augenblick keine Vorstellung evoziere, so neigt, wie Sartre ausführt, jedes Erfassen des Realen als Welt »von sich aus« (Im 291) zur Produktion imaginärer Objekte, da die Welt notwendigerweise immer von einem bestimmten Gesichtspunkt aus genichtet wird: »(J)ede konkrete und reale Situation des Bewußtseins in der Welt geht mit Imaginärem schwanger, insofern sie sich immer als ein Überschreiten des Realen darbietet« (Im 293). Die Einbildungskraft ist demzufolge keine beliebige Bereicherung, sondern »eine wesentliche und transzendentale Bedingung des Bewußtseins« (Im 295): Darum ist es »ebenso absurd, ein Bewußtsein zu denken, das nicht vorstellte, wie ein Bewußtsein, das nicht das cogito vollziehen könnte« (Im 295).249 In jedem Moment hat das Bewußtsein die Möglichkeit, ein Imaginäres zu konstituieren, weil es immer in Situation und immer frei ist. Sartre nimmt eine Unterscheidung zwischen einem impliziten Imaginären im Wahrnehmungsakt und dem expliziten ›eigentlichen‹ Imaginären im Vorstellungsakt vor. Wenn der abwesende Freund die gegenwärtige Situation definiert, also dasjenige ist, auf das hin das 247
Auch bei Freud verweist die Phantasietätigkeit letztlich auf die Mangelstruktur des Realen, die durch sie eine irreale Erfüllung erfahren soll: »Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit« (»Der Dichter und das Phantasieren«, 173 f.). Vgl. auch Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, 148: »Die kritische Funktion der Phantasie liegt in ihrer Weigerung, die vom Realitätsprinzip verhängten Beschränkungen des Glücks und der Freiheit als endgültig hinzunehmen, in ihrer Weigerung, zu vergessen, was sein könnte«. 248 Aus diesem Grund ist Caseys Behauptung, die Hervorbringung des Irrealen bei Sartre sei »wholly unmotivated« nicht zutreffend (ebd., 145). 249 Vgl. Cabestan, ebd., 49: »(L)es conditions de possiblité de l’imagination […] coincident avec celle du cogito et avec l’essence même de la conscience: la liberté. […] Ceci ne signifie pas que la conscience imagine en permanence mais que la conscience peut toujours adopter une attitude imageante«; vgl. auch Flynn, ebd., 4.
Imagination und Freiheit
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Seiende überschritten wird, so ist er der »implizite Sinn des Realen« (Im 294). Der eigentliche Akt der Imagination besteht nun darin, diesen impliziten Sinn zu explizieren, mit anderen Worten, »das Imaginäre für sich zu setzen« (Im 294). Insofern impliziert also auch schon das realisierende Bewußtsein ein Überschreiten auf ein bestimmtes vorstellendes Bewußtsein, »das wie die Kehrseite der Situation ist und im Verhältnis zu dem sich die Situation definiert« (Im 294).250 Häufig wird in der Forschung Sartres schroffe Gegenüberstellung von Imagination und Wahrnehmung für überspitzt und letzten Endes für nicht haltbar befunden.251 Es mag gute Gründe für eine saubere Unterscheidung dieser beiden Gegebenheitsweisen geben, allerdings, so erklärt Wiesing,252 weite sich die Distinktionsleistung in diesem Fall zu einer starren Opposition aus, die keine Übergänge mehr kennt. Von hier aus scheint z. B. kaum nachvollziehbar, wie die Literatur, die ebenfalls zum Imaginären gerechnet wird (vgl. den folgenden Abschnitt) als Engagement, d. h. als Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit aufgefaßt werden kann.253 Wenn die jeweilige Situation mit ihren Mängeln, ihren Wünschen und Zielen jedoch gerade »die konkrete und genaue Motivation des Erscheinens dieses besonderen Imaginären« (Im 291, vgl. auch 97) ist, so befindet sich die Phantasie keineswegs im Elfenbeinturm. Keine Vorstellung ist also weltlos, sie entsteht, wie Sartre erklärt, »immer nur auf einem Hintergrund von Welt und in Verbindung mit dem Hintergrund« (Im 291). »(L)a conscience, d’une part, ne peut imaginer que sur fond de monde et, d’autre part, qu’elle doit être libre pour pouvoir imaginer«.254 Ist Freiheit die Bedingung der Möglichkeit der Einbildungskraft, so ist zugleich aber auch das Gegebene, von dem sich das vorstellende Bewußtsein losreißt und auf dessen Mangel es antwortet, immer schon vorausgesetzt: »(W)enn das Bewußtsein sich etwas vorstellt, so reißt es sich vom Realen los, um etwas zu suchen, das nicht da ist oder das nicht existiert« (SF 28).255 Während Sartre zuvor einer radikalen Trennung von Imagination und Wahrnehmung das Wort geredet hat (vgl. bes. Im 191 f.), so betont er nun
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Solange noch keine explizite Setzung vollzogen wird, bleiben Überschreitung, Nichtung und Freiheit zwar wirksam, aber sie offenbaren sich noch nicht. Erst »(d)as Erscheinen des Imaginären vor dem Bewußtsein ermöglicht es, das Nichten der Welt als dessen wesentliche Bedingung und primäre Struktur zu erfassen« (Im 293). 251 Vgl. z. B. Waldenfels, ebd., 78 f.; Casey, ebd., 157; Lesch, ebd., 103. 252 Wiesing, ebd., 267. 253 Dies ist ja die zentrale These in Sartres Manifest des literarischen Engagements Was ist Literatur? 254 Cabestan, ebd., 36. 255 Vgl. Flynn, »The role of the image in Sartre’s aesthetic«, 433: »Of course, we cannot sacrifice the world completely or the image would vanish as well. Absence presupposes presence; derealization reality«.
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vielmehr in den Schlußfolgerungen seiner Studie die wechselseitige Abhängigkeit dieser Bewußtseinshaltungen: »Es kann kein realisierendes Bewußtsein ohne vorstellendes Bewußtsein geben und umgekehrt« (Im 295). Wenn sich die Vorstellung immer in engem Kontakt mit der Realität vollzieht, kann ohne Vorbehalte nicht mehr von einem starren Gegensatz zweier vollkommen getrennter Bewußtseinseinstellungen gesprochen werden, da doch die Situation erst die Konstitution des Irrealen motiviert und es eine Tendenz des Realen selbst zur Irrealität gibt, bzw., wie Sartre schreibt, die reale Situation des Menschen »mit Imaginärem schwanger« (Im 293) geht.
2. 9. Imagination und Ästhetik I Die Resultate der phänomenologisch-psychologischen Studie über die Einbildungskraft werden nun in den Schlußbetrachtungen konsequent auf die Ästhetik übertragen.256 Sartre selbst gibt von vornherein zu, »nicht das gesamte Problem des Kunstwerks [zu] behandeln« (Im 296). Vielmehr werden Beispiele aus der Malerei, der Schauspielerei und schließlich der Musik erörtert, um die Zentralthese zu belegen, daß jedes Kunstwerk »ein Irreales« (Im 296) sei. So widerspricht Sartre auch gleich zu Beginn seiner Betrachtung eines Porträts Karls VIII. dem Gemeinplatz, nach dem der Künstler zuerst eine Idee oder Vorstellung habe, die er dann schließlich auf der Leinwand realisiere (Im 297): Seiner Gegenthese zufolge findet kein Übergang vom Imaginären zum Realen statt; der Maler realisiert keine Vorstellung, sondern er irrealisiert ein bestimmtes Material, d. h. er konstituiert ein Analogon, so daß der Rezipient über diese Materie der Vorstellung das Objekt der Vorstellung erfassen kann. Statt von einer Realisierung wäre also eher von einer »Objektivierung« des Imaginären zu sprechen (Im 297). Die Leinwand und das Öl sind das reale Material, das Analogon des Kunstwerks, der gemalte Peter ist das Irreale, d. h. das ›eigentliche‹ Kunstwerk:257 »So muß das Gemälde als ein materielles Ding verstanden werden, das von Zeit zu Zeit (jedesmal, wenn der Betrachter die vorstellende Haltung einnimmt) von einem Irrealen heimgesucht wird […], das eben das gemalte Objekt ist« (Im 297).258 Das 256
Wie Kohut bemerkt, sind diese wenigen dem Kunstwerk gewidmeten Seiten »trotz ihrer Kürze als Entwurf einer Ästhetik zu betrachten« (Was ist Literatur?, 25). 257 Vgl. ganz ähnlich Ingardens Unterscheidung zwischen dem realen Gemälde und dem »›Bild‹ als Gegenstand unserer ästhetischen Betrachtung« (Untersuchungen zur Ontologie der Kunst, 139). Während das Bild »keine Realität« ist und daher weder einen Geruch hat noch einen realen Raum einnimmt (ebd., 163), ist das Gemälde »ein aus diesem oder jenen Stoff (Holz, Leinwand usw.) gebildetes reales Ding« (ebd., 207) 258 Hier zeigt sich, was auch noch für die Beschreibungen in späteren Schriften zur Ästhetik gilt: Sartre »betrachtet das Kunstwerk an dem Zeitpunkt, da es gelesen, gesehen,
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Gemälde als reales Ding kann stärker oder schwächer beleuchtet sein, es ist raum-zeitlichen Umwelteinflüssen ausgesetzt, seine Farbe kann abbröckeln, und es kann – anders als das imaginäre Objekt – zerstört werden. »(W)enn das Gemälde verbrennt, ist es nicht Karl VIII. als Vorstellung, der verbrennt, sondern einfach das materielle Objekt, das als Analogon für die Manifestation des vorgestellten Objekts dient« (Im 288). Anders als das materielle Analogon ist das imaginäre Objekt keinerlei Beleuchtungsmodifikationen ausgesetzt, denn die Beleuchtung eines Gesichts hat der Maler endgültig bestimmt, so wie, um ein Beispiel aus einem späteren Essay heranzuziehen, Giacometti seine Plastiken in ihrer Entfernung vom Betrachter absolut festlegt, d. h. eine »absolute Distanz« schafft: »Er verleiht seinen Gipsfiguren eine absolute Distanz, wie der Maler den Gestalten auf seiner Leinwand. Er schafft seine Gestalten ›auf zehn Schritt‹ oder ›auf zwanzig Schritt‹, und was man auch tun mag, in dieser Entfernung bleiben sie […]. Einer Plastik von Giacometti kann man sich nicht nähern. Man darf nicht erwarten, daß diese Brust hier desto plastischer wird, je näher man ihr kommt: Sie wird sich nicht ändern, und man wird beim Gehen den seltsamen Eindruck haben, auf der Stelle zu treten. Die Spitzen dieser Brust erahnen wir, wir erraten sie, wir werden sie im nächsten Augenblick sehen; ein Schritt weiter oder zwei, und wir erahnen sie immer noch; nochmals einen Schritt weiter – und alles schwindet wieder: übrig bleibt nichts als die Falten des Gipses« (SA 17). Die Entfernung zu diesem Granitblock, der als Analogon fungiert, ist meßbar; ich kann sie variieren bzw. mich dem Block nähern. Aber den Abstand zwischen mir und Ganymed auf dem Sockel kann ich nicht verändern, da es »keine wirkliche Entfernungs-Beziehung gibt, und zwar deshalb, weil er nicht existiert« (SA 14).259 Die nächste Kunstform, an der Sartre seine Konzeption durchspielt, ist die Schauspielerei. Für den Schauspieler ist der ganze Körper das Analogon einer irrealen Person: Die Rolle realisiert sich nicht im Schauspieler, sondern vielmehr irrealisiert sich nach Sartre der Schauspieler in seiner Rolle (Im 300), indem er z. B. »alle seine Gefühle, Kräfte, Gebärden als Analoga der Gefühle und Verhaltensweisen Hamlets« (Im 300) verwendet.260 gehört wird« (Kohut, ebd., 25). Er nimmt also schon hier eine rezeptionsästhetische Perspektive ein. 259 Nach Sartre kann der Künstler auch ein falsches Verständnis seiner Tätigkeit haben, insofern er sich über die grundlegenden Eigenschaften des Imaginären nicht im Klaren ist: »Die Bildhauer haben diese elementaren Wahrheiten nicht erkannt, weil sie in einem dreidimensionalen Raum an einem richtigen Marmorblock arbeiteten, und obwohl das Produkt ihrer Kunst ein imaginärer Mensch war, glaubten sie ihn in einer wirklichen Ausdehnung zu schaffen« (SA 15). 260 Sartre sucht damit eine Vermittlung zwischen der Forderung, der Schauspieler müsse seine Rolle intensiv ›leben‹ – wie sie etwa im zwanzigsten Jahrhundert von Stanislawski
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2. Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft
Die Musik scheint dagegen auf den ersten Blick eine Kunstform zu sein, die nichts mit der Irrealität zu tun hat. Um seine Grundthese zu stützen, überträgt Sartre die Unterscheidung zwischen dem imaginären Kunstwerk und seinem realen Analogon auf das Verhältnis der Symphonie zu ihrer Aufführung. »(O)b der Dirigent in Ohnmacht fällt, ob ein Brand im Saal ausbricht und das Orchester plötzlich aufhört zu spielen«, so wird lediglich »die Aufführung der Symphonie unterbrochen« (Im 302). Das eigentliche Musikwerk, zu deren Manifestation die Aufführung dient,261 ist imaginär und darum unerreichbar für reale Vorkommnisse. Die realen Töne bzw. die jeweilige Aufführung, die sich datieren läßt und in der universellen Zeit abläuft, dienen als Analogon, damit sich die 7. Symphonie durch sie manifestiert. Also ist für Sartre auch die Musik das Korrelat eines imaginierenden Bewußtseins, das die realen Töne als Analogon erfaßt.262 Daß die Symphonie letztlich von einer schlechten Aufführung unangetastet bleibt, mag noch überzeugen, allerdings wird Sartres These einer Unabhängigkeit des Kunstwerks von seinem realen Analogon spätestens hinsichtlich der Malerei völlig unhaltbar. Was bleibt von dem Bild, wenn die realen Farben auf der Leinwand in Flammen aufgehen?263 erhoben wird – und jener u. a. bereits von Diderot vertretenen Ansicht, der Schauspieler müsse ganz im Gegenteil seine Rolle kontrollieren und daher permanent eine Distanz zu ihr einnehmen (siehe hierzu Kaelin, An existentialistic aesthetic, 78–82): Die Darstellung wird gelebt – aber auf imaginäre Weise. 261 Sicher kann ich auch wünschen, Toscaninis Interpretation von Beethoven zu hören. Aber dies ist für Sartre nichts weiter als ein Sonderfall »am Rande der ästhetischen Betrachtung« (Im 301). 262 Sartre überprüft seine Kunstkonzeption nicht an der Architektur, und SchmidtSchweda bezweifelt, ob es ihm gelungen wäre, zwischen dem bloßen Stein als Material und dem Bauwerk als eigentlichen Kunstwerk zu differenzieren (Werden und Wirken des Kunstwerks, 75). Vgl. hierzu jedoch Ingardens Unterscheidung zwischen dem Gebäude als realem Ding und dem architektonischen Werk als rein intentionaler Gegenständlichkeit: ebd., 257–315, bes. 264, 273, 279. 263 Casey und Bossart kritisieren völlig zu Recht die Irrelevanz des Analogon in Sartres Kunsttheorie: Sartre »ignores the fact that the physical object is essential to the work of art, that it situates the viewer by its presence in real space«. Daher müsse an der »inseparability« des Kunstwerks »from its physical existence« festgehalten werden (Bossart, ebd., 45; vgl. Casey, ebd., 154). Man könnte Sartres Abwertung des Analogon im übrigen durchaus auch als Selbstwiderspruch ansehen: Wenn das Analogon (z. B. das Wissen) unverzichtbar für die Konstitution der image mentale ist, warum soll dann nicht auch das Analogon des Kunstwerks unverzichtbar für die genuine Kunsterfahrung sein? Diese Abwertung ergibt sich also keineswegs zwangsläufig aus den bisherigen Weichenstellungen der Sartreschen Theorie der Einbildungskraft. In späteren Werken hebt Sartre hingegen selbst die Abhängigkeit der Irrealisierung von einem realen Gegenstand hervor: »Der Gegenstand ist Träger der Irrealisierung, aber die Irrealisierung verleiht ihm seine Notwendigkeit, weil er sein muß, damit sie stattfindet« (IF 2, 147 f.; vgl. auch schon SG 30, 602). Insofern das Gemälde für Ingarden ein »unentbehrliches Seinsfundament« des Bildes ist (ebd., 207; vgl. auch ganz ähnlich Fink, ebd., 74), führt eine Vernichtung des Gemäldes konsequent auch zur Vernich-
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Sartre unterscheidet nun ferner zwischen dem ästhetischen und dem sinnlichen Genuß. Letzterer ist das »Vergnügen der Sinne« (Im 298) z. B. anläßlich bestimmter Rottöne.264 Im Unterschied dazu wird der ästhetische Genuß niemals von realen, wahrnehmbaren Sachverhalten hervorgerufen, sein Gegenstand ist immer irreal. Von daher rührt, daß es der ästhetischen Haltung gleichgültig ist, ob der schöne Gegenstand existiert oder nicht. Sartres Ansicht nach ist dies die Erklärung für das interesselose Wohlgefallen bei Kant und die erlösende Aufhebung des Willens in der Kunstrezeption bei Schopenhauer.265 Indem der französische Phänomenologe das Imaginäre als alleinigen Gegenstand des ästhetischen Genusses proklamiert, schließt er die Naturschönheit aus: »(D)as Reale«, so heißt es, ist »niemals schön« (Im 303; vgl. SN 361).266 In seinem philosophischen Hauptwerk, Das Sein und das Nichts, beschreibt Sartre die Schönheit als einen »Wert«, der sich im Realen nur implizit »über die Unvollkommenheit der Welt« (SN 361) ankündigt. Da sich das Schöne nur auf das Imaginäre, das Gute allein auf das Reale (bzw. auf reale Verhaltensweisen) bezieht, fordert Sartre eine strikte Trennung von Ästhetik und Moral (vgl. Im 303), hinsichtlich der er sich auch auf Kant berufen kann.267 Allerdings versagt Sartre ihm die Gefolgschaft, insofern dietung des Bildes. Einerseits betont Ingarden die »Isolierung des Bildes von der realen Umgebung« (ebd., 216) und erklärt, daß das Musikwerk im Unterschied zu seiner »Ausführung« weder unterbrochen, noch durch eine schlechte Interpretation tangiert werde (ebd., 12 f.; vgl. auch ebd., 39, 42), andererseits gibt er zu, daß durch das »Altern« des Gemäldes auch das Bild in Mitleidenschaft gezogen werde – und insofern sei auch dieses letztlich »ein historisches Gebilde, das eine bestimmte Lebenslänge und Lebensgrenze hat« (ebd., 211). Um auf Sartres Beispiele zurückzukommen: In gewisser Hinsicht kann also auch der irreale Karl VIII. verbrennen und die 7. Symphonie unterbrochen werden. 264 Diese Unterscheidung korrespondiert mit Kants Abgrenzung des Schönen vom Angenehmen (vgl. Kritik der Urteilskraft, §§ 3, 7). Während z. B. das Konzert oder das Gemälde schön ist, gehören Töne oder Farben zum Angenehmen, das auf einem bloßen Privatgefühl beruht: »Dem einen ist die violette Farbe sanft und lieblich, dem anderen tot und erstorben. Einer liebt den Ton der Blasinstrumente, der andere den von Saiteninstrumenten« (ebd., 49). Für Ingarden sind hingegen auch die Farben ästhetisch wertvoll (ebd., 168, 172, 193). 265 Vgl. Kant, ebd., 41; Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, 283 f. 266 Vgl. Baladie, ebd., 63. 267 Vgl. Kant, ebd., 66. Nach Kant darf bei einer ästhetischen Beurteilung z. B. eines Palastes die moralische Entrüstung keine Rolle spielen, daß dieses Gebäude nur die »Eitelkeit der Großen« befriedigt und das Produkt der Ausbeutung des Volkes ist. Gefragt ist nur, »ob diese bloße Vorstellung des Gegenstands in mir mit Wohlgefallen begleitet sei« (ebd., 40 f.). Wie de Beauvoir in ihren Memoiren berichtet, hat sich Sartre selbst nicht immer an die auch von ihm geforderte Trennung gehalten: »Als wir nachts auf einer Straße an der Seine zurückfuhren, hielten wir an einem Aussichtspunkt, von wo man auf der anderen Seite des Flusses die beleuchteten Fabriken von Grand-Couronne sah. Unter dem schwarzen Himmel glichen sie einem erstarrten Feuerwerk. ›Wie schön‹, sagte Pagniez. Sartre rümpfte die Nase: ›Das sind Fabriken, in denen Leute Nachtschicht machen.‹ Pagniez beharrte
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ser eine enge Wechselbeziehung zwischen dem Schönen in Kunst und Natur geltend macht: »Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht«.268 Sartre scheint eher an Hegel anzuknüpfen, der die Naturschönheit dem Kunstschönen unterordnet.269 Obwohl Sartre in seinen Betrachtungen zur Ästhetik anders als im vorherigen Abschnitt nun wieder stärker die Differenz zwischen Imagination und Realität betont, und damit genaugenommen die Naturschönheit ausschließt, soll es dennoch möglich sein, auch gegenüber der Realität eine ästhetische Haltung einzunehmen. Naturschönheit wäre somit das Korrelat einer ästhetischen Haltung gegenüber der Realität.270 Hierbei handelt es sich um eine distanzierende Betrachtungsweise, in der reale Erlebnisse als Analogon ihrer selbst fungieren:271 »Diese Vorstellung kann rein und einfach das Objekt ›selbst‹ sein, neutralisiert, genichtet, wie wenn ich eine schöne Frau betrachte oder das Töten in einem Stierkampf; sie kann auch das unvollständige und verworrene Erscheinen dessen sein, was es durch das hindurch, was es ist, sein könnte, wie wenn der Maler die Harmonie zweier kräftigerer, lebhafterer Farben durch die realen Flecke erfaßt, die er auf der Leinwand antrifft« (Im 304).272 Grundsätzlich schließen jedoch Schönheit und physisches Besitzstreben, gleich welcher Art, aneinander aus. Das in der ästhetischen Haltung betrachtete reale Objekt ist »außerhalb unserer Reichweite; daher jenes schmerzliche Desinteresse ihm gegenüber«. Sartre folgert hieraus: »(I)n diesem Sinne kann man sagen: die extreme Schönheit einer Frau tötet das Begehren, das man nach ihr hat« (Im 304).273
ungeduldig darauf, daß es trotzdem schön sei; nach Sartres Meinung gab er sich aus Unwahrhaftigkeit einer Täuschung hin. Arbeit, Müdigkeit, Ausbeutung: was ist daran schön?« (In den besten Jahren, 176). 268 Kant, ebd., 159. 269 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, 14: »(U)m soviel der Geist und seine Produktionen höher steht als die Natur und ihre Erscheinungen, um soviel auch ist das Kunstschöne höher als die Schönheit der Natur« (vgl. auch ebd., 13). 270 Vgl. Howells, ebd., 21. 271 Im Abschnitt über den Traum bedeutete dagegen die Irrealisierung des Sonnenlichts, das die Augenlider durchdringt, nicht allein, daß das Sonnenlicht als Irreales erscheint, sondern daß es als ein anderer Gegenstand als in der Wahrnehmung erscheint. Dies scheint jedoch nun nicht mehr als notwendig für die Irrealisierung, weswegen diese dann kaum noch als Erklärung der Traumsymbolik fungieren kann. 272 Ingarden bezweifelt, daß für jedes Wahrnehmungsobjekt eine ästhetische Betrachtung möglich ist (ebd., 280). Vgl. zur ästhetischen Einstellung auch Geigers Gegenüberstellung von ästhetischem Genuß und Genuß am Schönen (Beiträge zu einer Phänomenologie des ästhetischen Genusses, 64 f., siehe auch ebd., 76, 79, 104). 273 Vgl. zu diesem Beispiel Schiller, Ästhetische Erziehung, 513. Schmidt-Schweda be-
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Kohut zieht die Summe aus Sartres bisherigen Ausführungen zur Ästhetik: »Sartres Ästhetik – wie sie sich in diesem Werk [gemeint ist Das Imaginäre – Anm. J. B.] darstellt – erweist sich somit als eine Theorie des l’art pour l’art«.274 Neben der Trennung des Guten vom Schönen, die jede moralische Bewertung der Kunst oder durch die Kunst ausschließt, erfolgt eine zusätzliche Engführung des Bereichs des Schönen durch den Ausschluß des Naturschönen bzw. des Realen.275 Ein ästhetischer Standpunkt, der weiter von einer Theorie der engagierten Literatur entfernt wäre, ist kaum denkbar.276 Auch Danto macht auf den Gegensatz zur späteren Literaturtheorie in Was ist Literatur? aufmerksam: »Diese hyperästhetische, preziöse Auffassung von Kunst und künstlerischem Schaffen klingt nicht nur, sie ist himmelweit von der Auffassung entfernt, die wir bisher im allgemeinen für die Auffassung Sartres gehalten haben«.277
Exkurs: Sartre und Ingarden Ein Vergleich zwischen Sartre und Ingarden bietet sich aus folgenden Gründen an: Beide Phänomenologen beschäftigen sich mit einem Untersuchungsfeld, in dem die Phänomene sich in ihrer Existenz als seinsrelativ zum erkennenden Bewußtsein erweisen. Und beide vollziehen – es liegt auf der Hand, hier einen Zusammenhang zu vermuten – eine Kritik an Husserls idealistischer Erkenntnistheorie,278 indem sie gegenüber den (keineswegs in Abrede gestellten) Konstitutionsleistungen des Bewußtseins die Unabhängigkeit der realen Dinge – Ingarden spricht von Seinsautonomie, Sartre von Transphänomenalität279 – behaupten. Ingarden ist derjenige Phänomenologe, der sich sicher am ausführlichsten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Thema des Kunstwerks auseinandergesetzt hat. In seinen Erläuterungen zur Seinsweise merkt zutreffend: »Die Umwandlung einer wahrgenommenen Welt in eine imaginäre Welt charakterisiert also nicht im besonderen das künstlerische Schaffen, sondern bezeichnet eine mögliche Einstellung des Menschen zur Welt« (ebd., 24). 274 Kohut, ebd., 27. 275 Zwar kann ich auch zur Realität eine ästhetische Einstellung einnehmen, was allerdings bedeutet sie zu irrealisieren, d. h. sie also gar nicht mehr als Realität zu erfassen. 276 Vgl. Kohut, ebd., 28. 277 Danto, ebd., 42. 278 Vgl. Schopper, Das Seiende und der Gegenstand, 35: »Ingardens kunstphilosophische Arbeiten [legen] den Grund zur Zurückweisung von Husserls Idealismus«. Wie Ingarden selbst erklärt, stehen die Motive, die ihn zur Untersuchung des literarischen Kunstwerks bewogen haben, mit dem philosophischen Idealismus-Realismus-Problem in Zusammenhang (Das literarische Kunstwerk, XII). 279 Vgl. zum Begriff der ›Transphänomenalität‹ das folgende Kapitel.
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der Kunstgegenstände, die in mancher Hinsicht Sartres Gedanken vorwegnehmen, unternimmt Ingarden eine Abgrenzung der künstlerischen Werke von den realen Gegenständen.280 Den Werken der Kunst kommt, so lautet der Befund, keinerlei »Seinsautonomie«281 zu. Anders als die reale »Ausführung des Musikwerks« ist »das Musikwerk, als Objekt der ästhetischen Erfassung […] selbst kein reales Vorkommnis und kein realer Gegenstand«.282 Es handelt sich – und dies gilt für alle Kunstformen – um ein schematisches Gebilde, d. h. um ein Gebilde, das »in gewissen Grenzen offengelassen und variierbar«283 ist, also nicht das dem Realen zugehörige »allseitige(s) eindeutige(s) Bestimmtsein«284 besitzt. Das Kunstwerk – »welcher Grundart auch immer« – ist nach Ingarden ein rein intentionaler Gegenstand; er »zeichnet sich durch eine prinzipielle, aus keiner Kunst zu verbannende Seinsrelativität aus, nämlich durch die Relativität auf die schöpferischen Akte des Künstlers«.285 »Rein intentional« ist für Ingarden »eine Gegenständlichkeit, welche durch einen Bewußtseinsakt bzw. eine Mannigfaltigkeit von Akten oder schließlich durch ein Gebilde (z. B. Wortbedeutung, Satz), das die verliehene Intentionalität in sich birgt, vermöge der ihnen immanenten […] Intentionalität in einem übertragenen Sinne ›geschaffen‹ wird und in den genannten Gegenständlichkeiten den Ursprung ihres Seins und ihres gesamten Soseins hat«.286 Ingarden weist genau wie Sartre eine immanentistische Deutung dieser Phänomene zurück: »Die rein intentionalen Gegenständlichkeiten sind den entsprechenden und überhaupt allen Bewußtseinsakten gegenüber in dem Sinne ›transzendent‹, daß kein reelles Element (oder Moment) des Aktes ein Element der rein intentionalen Gegenständlichkeit ist und umgekehrt«.287 Auch zu den anderen Grundcharakteristiken des Imaginären, die Sartre aufgestellt hat, lassen sich Parallelstellen bei Ingarden nachweisen: Während die Wahrnehmung passiv gegenüber ihrem Gegenstand ist, d. h. die reine Intention nicht auf diesen einwirken kann,288 sich der Wirklichkeit »unterwirft« und jeden »schöpferi-
280
Es findet sich keinerlei Hinweis darauf, daß Sartre Ingarden zur Kenntnis genommen hat, und umgekehrt kann Ingarden zur Zeit der Abfassung seiner kunstphilosophischen Studien keine Schriften Sartres gekannt haben. In einer nachträglich hinzugefügten Fußnote erwähnt er Sartre nur beiläufig und ohne jeden Kommentar in einer Aufzählung mit anderen Autoren (vgl. Untersuchungen zur Ontologie der Kunst, 207, Fußn. 42a). 281 Ingarden, ebd., 19. 282 Ebd., 36 f. 283 Ebd., 101. 284 Ebd., 157. Natürlich findet sich beim Kunstwerk deshalb auch keine »mikroskopische Struktur« (ebd., 292). 285 Ebd., 267. 286 Ingarden, Das literarische Kunstwerk, 121 f. 287 Ingarden, ebd., 123. 288 Vgl. Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt II/1, 192.
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schen Zusatz ausschließt«,289 können wir in der Vorstellung die Gegenstände »so ›ausmalen‹, wie es uns gerade beliebt«.290 Dem Bereich der Phantasie attestiert Ingarden eine »unbeschränkte(r) Freiheit«.291 Da es den rein intentionalen Gegenständen an jeglichem An-sich-sein fehlt, werden diese Gegenstände »wie flüchtige Träume mit diesem Akt selbst vorübergehen«.292 An Sartre erinnert auch der Hinweis, daß die rein intentionale Gegenständlichkeit – wie Ingarden am Beispiel einer literarischen Figur demonstriert – »in sich eigentlich ein Nichts« ist.293 Sartres Quasi-Beobachtung scheint ferner mit Ingardens Erörterung der Unbestimmtheitsstellen zu korrespondieren: »Der rein intentionale Gegenstand weist in seinem Gehalte diejenigen und nur diejenigen Eigenschaften bzw. Momente auf, die in dem ihn intentional entwerfenden Intentionsgebilde (dem Meinungsakt, dem sprachlichen Text und dgl. mehr) festgelegt werden«.294 »Seine Konstitution hält mit dem Vollzug der ihm zugehörigen, ihn schaffenden Akte Schritt, aber er geht nicht ein Haar darüber hinaus«, während der seinsautonome Gegenstand das Bewußtsein »›transzendiert‹«, insofern seine Eigenschaften »in keiner endlichen Erkenntnis erschöpfbar sind«.295 Da die »vollkommene Immanenz der Bestimmtheit einer Gegenständlichkeit die wesentliche Bedingung ihrer Seinsautonomie«296 ist, wird die Schöpfung eines Romanautors ganz im Gegenteil immer seinsheteronom bleiben. Das bedeutet, der Romanheld »kann keine anderen Eigenschaften, keine anderen, eigenen, durch sich selbst erwählten Schicksale haben als diejenigen, die ihm zugewiesen sind«.297 Da der »dichterische schöpferische Bewußtseinsakt […] keinen seinsautonomen Gegenstand schaffen«,298 kann, bleibt der Dichter »›machtlos‹ schöpferisch«.299 Wie später zu zeigen sein wird, würde Sartre diese These bestreiten, insofern das schriftstellerische Produkt durch das Hinzukommen des Lesers Objektivität und damit Unabhängigkeit vom Bewußtsein des Künstlers gewinnt. Aus den referierten Bestimmungen der rein intentionalen Gegenständlichkeit folgt umgekehrt für die Realität: Ein Gegenstand ist »real«, wenn 289 290 291 292
Ingarden, ebd., 193. Ebd., 202. Ebd., 228. Ebd., 204; vgl. Galewicz, »Das Problem des Seinsstatus der gegenständlichen Sinne«,
13. 293
Ingarden, ebd., 215. Ebd., 221. 295 Ebd., 223. 296 Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt I, 81. Der seinsautonome Gegenstand ist »in jeder Hinsicht seines Soseins […] eindeutig vollbestimmt« (Der Streit um die Existenz der Welt II/1, 219). 297 Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt I, 86. 298 Ebd., 85. 299 Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt II/1, 216. 294
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wir ihn »als von den Bewußtseinsakten seinsunabhängig betrachten«.300 Die seinsheteronome Gegenständlichkeit hat ihr Seinsfundament »außerhalb ihrer selbst«, wohingegen eine Gegenständlichkeit seinsautonom genannt wird, wenn sie »in sich selbst ihr Seinsfundament hat«.301 Ingarden gibt folgendes Beispiel: Wenn wir die Augen schließen, so haben wir »nicht das Gefühl, als ob auch die Kugel selbst zu existieren aufhörte, wie die visuelle Erscheinung zu existieren aufhört«.302 Daß die seinsautonomen Gegenständlichkeiten nicht ›rein intentional‹ sind, besagt natürlich nicht, daß sie ›nicht intentional‹ bzw. nicht Gegenstand eines intentionalen Bewußtseins sein können – was widersinnig wäre –, sondern daß sie »›auch intentionale‹« Gegenständlichkeiten sind.303 Für sie ist das »Betroffensein« durch die Intentionalität »ganz zufällig«.304 Real ist demnach bei Ingarden – ebenso wie bei Sartre – dasjenige, das nicht, um zu sein, erscheinen bzw. intentional gegenständlich sein muß. Die Rede von rein intentionalen Gegenständlichkeiten setzt letztendlich die Klärung des konstitutiven Gegensatzes, also des Realitätsbegriffs, voraus; mit anderen Worten: Der phänomenologische Zugang zu den spezifischen Gegebenheiten der Kunst kann ihre Spezifität nur dann herausstellen, wenn er durch eine Ontologie gestützt wird. Diese Auffassung einer seinsautonomen Realität, die Sartre in Das Sein und das Nichts teilt, führt auch bei Ingarden zu einer kritischen Absetzung von Husserls idealistischer Erkenntnistheorie. Waldenfels schreibt über das Verhältnis zwischen Husserl und Ingarden: »Der freundschaftliche, ein Leben lang andauernde Kontakt mit Husserl schloß einen Sachstreit keineswegs aus, wie Husserls Briefe an Ingarden […] und zahlreiche Äußerungen Ingardens, so etwa die kritischen Bemerkungen im Anhang der Cartesianischen Meditationen, bezeugen. Bei diesem Streit, der um Idealismus und Realismus kreiste, ging es um die Frage, ob der Konstitution des Sinnes eine ›Seins-Autonomie‹ realer und idealer Gegenstände entspreche oder nicht. Husserls nie völlig durchgeklärter Konstitutionsbegriff gab dem Streit reichliche Nahrung. Während Husserl den Streit durch den Wechsel verschiedener Einstellungen beizulegen suchte, pochte Ingarden auf einer grundlegenden Eigenständigkeit der Dinge, die er bis in das Sinnesmaterial hinein verfolgte; eine strikte Trennung von Ontologie und Erkenntnistheorie war die Folge. Ingarden erwies sich als der scharfsinnigste Vertreter einer ›ontologischen‹ oder ›realistischen‹ Phäno-
300
Ingarden, Untersuchungen zur Ontologie des Kunstwerks, 261. Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt I, 79. 302 Ingarden, Untersuchungen zur Ontologie der Kunst, 151. 303 Ingarden, Das literarische Kunstwerk, 122. vgl. Der Streit um die Existenz der Welt II/1, 199–201, 206–210. 304 Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt I, 83. 301
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menologie, die in dem großen Werk Der Streit um die Existenz der Welt (erste polnische Fassung 1947/48, deutsche Fassung 1964/65) ihren systematischen Ausdruck fand«.305 Zwar fehlt den intentionalen Gegenständen, die den Bereich der Kunst ausmachen, der Seinscharakter der Realität, dennoch schließt sich Ingarden – obwohl er die »bahnbrechende Rolle« der Abhandlung Conrads würdigt306 – keineswegs dessen These von der Idealität des ästhetischen Gegenstands an.307 Entgegen Conrads Ansicht ist es »nicht zulässig, von einem und demselben Gegenstand zu behaupten, er sei ideal und er entstehe in einer bestimmten Zeit aus realen Ursachen«. Und die Entstehung des Kunstwerks »in einer bestimmten Zeit und aus schöpferischen Tätigkeiten seines Schöpfers kann aber nicht bezweifelt werden«.308 Für Ingarden kann, wie sich hinzufügen läßt, das Kunstwerk als rein intentionale Gegenständlichkeit allein schon deswegen keine Idealität sein, weil Idealitäten wie auch Realitäten eben seinsautonom sind309 – »(h)insichtlich der Seinsautonomie« besteht also »zwischen dem Idealsein einer reinen Qualität (Röte an sich) und einem realen Ding, das die Konkretisation dieser Qualität in sich birgt und infolgedessen – in dem besonderen Falle – ›rot ist‹, kein Unterschied«.310 Besteht also letztlich ein Konsens zwischen Sartre und Ingarden in der Auffassung des Kunstwerks als ein Irreales? Die gestellte Frage muß im Blick auf Ingardens Buch über das literarische Kunstwerk verneint werden. Ingarden klopft dort letztlich auch die Ansicht, das Kunstwerk sei ein Imaginäres, darauf hin ab, ob sie in der Lage ist, die »Einzigartigkeit und Identität«311 des Werkes zu garantieren. Seiner Ansicht nach ist dies offenbar die Grundvor-
305
Waldenfels, Einführung in die Phänomenologie, 28. – Sartre wie auch Ingarden mißdeuten Intentionalität als eine Existenzweise des Gegenstands, bzw. als existentielle Abhängigkeit des intentionalen Gegenstands vom Bewußtsein (vgl. das folgende Kapitel sowie Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt I, 12, Anm. 12). Husserl hat die Unterstellung, seine Erkenntnistheorie leugne die reale Existenz der Welt, entschieden in Abrede gestellt (vgl. Ideen I, 120). 306 Vgl. Ingarden, Untersuchungen zur Ontologie der Kunst, 151, Fußn. 11. Vgl. Conrads Gegenüberstellung zwischen der Symphonie als Idealität und ihrer Aufführung als »reale(m) Naturobjekt« (»Der ästhetische Gegenstand«, 77 u. 451). Siehe zu Conrad auch: Haardt, Husserl in Rußland, 45–53. 307 Ingarden, ebd., 40. 308 Ingarden, Untersuchungen zur Ontologie der Kunst, 11; vgl. auch Das literarische Kunstwerk, 8. An anderer Stelle betont Ingarden jedoch selbst die Zeitlosigkeit der Kunstwerke (vgl. Der Streit und die Existenz der Welt I, 254). 309 Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt I, 80. Vgl. auch Galewicz, ebd., 17. 310 Ingarden, ebd., 81; vgl. auch Im 302 f. 311 Ingarden, Das literarische Kunstwerk, 14.
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aussetzung eines adäquaten Kunstverständnisses, wobei zu erwähnen wäre, daß gerade diese Grundvoraussetzung in der Weiterentwicklung der auch von ihm selbst inaugurierten phänomenologischen Rezeptionsästhetik entschieden in Abrede gestellt wird.312 Man könnte, so beginnt Ingarden seine Ausführungen, der Ansicht sein, daß die »Gegenstände der Gedanken und Vorstellungen des Autors […] – also gewisse Personen und Sachen, deren Schicksale im Werke geschildert werden – […] das Wesentliche im Aufbau des literarischen Werkes« darstellen. Und diese Gegenstände, durch die »zwei literarische Werke radikal voneinander« unterschieden sind, sind selbst »nichts Ideales, sondern […] Gestaltungen der freien Phantasie, pure ›Vorstellungsgegenstände‹ des Autors«.313 Was in diesem Fall die erwähnte »Einheit und Einzigartigkeit« gegenüber der Vielfalt der Lektüren sichern soll, ist »die Identität dieser ›Vorstellungs-Gegenstände‹«.314 Ingarden hat es jedoch, nachdem die Weichen einmal so gestellt sind, ausgesprochen leicht, eben diese ›Identität der Vorstellungsgegenstände‹ mit dem Hinweis auf ihre Seinsrelativität zu den jeweiligen Bewußtseinserlebnissen zu bezweifeln.315 Wenn literarische Werke als Vorstellungsgegenstände beschrieben würden, so wäre es, wie betont wird, nicht nur »unmöglich, daß der Leser die vom Autor konzipierte ›Vorstellungsgegenständlichkeit‹ erfassen, sondern auch, daß der Autor sie als dieselbe mehrmals vorstellen könnte«.316 Es ist jedoch strittig, ob die Hervorbringung irrealer Sachverhalte in der Lektüre wirklich ein Vorgang ist, bei dem diese Gegenstände, wie es Ingarden unterstellt, »in diesen Erlebnissen allein ihren Grund haben«.317 Seine Kritik unterscheidet, wie zunächst auffällt, nicht zwischen image mentale und image physique: Daß das literarische Kunstwerk nach Sartre nur als image physique aufgefaßt werden kann, impliziert, daß es sich auf ein vom Rezipienten unabhängiges Analogon, eben den vom Autor verfaßten Text, stützt. Die spezifische Textgestalt existiert unabhängig von der Lektüre – und darum läßt sich das Werk nicht auf die Erlebnisse des Lesers reduzieren. Insofern die Lektüre zwar ein Schaffen, aber wie es später in Was ist Literatur? heißt, aufgrund der Vorgaben des Autors, ein durchaus »gesteuertes Schaffen« (WiL 40) ist, kann Ingardens Einwand weitgehend entkräftet werden. Ingarden glaubt, daß die behauptete Irrealität des literarischen Werkes ein völliges Absehen von der 312
Vgl. Iser, Der Akt des Lesens. Vgl. zur Kritik Isers an Ingarden: »Die Appellstruktur der Texte«, 250 f., Anm. 6; Eagleton schließt sich dieser Kritik an und weist darüberhinaus nach, daß der Vorwurf Isers genaugenommen auch noch ihn selbst trifft (Einführung in die Literaturtheorie, 47 f.). 313 Ingarden, Das literarische Kunstwerk, 14. 314 Ingarden, ebd. 315 Ebd., 15 f. 316 Ebd., 16. 317 Ebd.
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vom Autor vorgesehenen Textstruktur dieses Werkes impliziert. Seine Kritik beruht jedoch auf einer Engführung des Vorstellungsbegriffs: Ingarden bezeichnet als ›Vorstellung‹ nur diejenige, die Sartre ›reine Vorstellung‹ nennt. Dieser kennt jedoch, wie bereits dargelegt wurde, auch die sogenannten ›äußeren Vorstellungen‹, die images physiques, welche eine sinnliche, und damit auch dem Anderen zugängliche Materie einschließen. Ingarden spricht selbst von sogenannten ›abgeleiteten intentionalen Gegenständlichkeiten‹, die ihr Seinsfundament nicht unmittelbar in einem Bewußtseinsakt haben, sondern in den Sätzen eines Textes.318 Sofern nicht nur das literarische Kunstwerk, sondern auch alle anderen Kunstformen ein solches materielles Seinsfundament besitzen, kann die Kunst insgesamt diesem Bereich der ›abgeleitet rein intentionalen Gegenständlichkeiten‹ zugeschlagen werden.319 Die Analogie wird hier deutlich: So wie Sartres images physiques anders als die images mentales eine intersubjektive Identität durch ihre Verankerung in der allgemein zugänglichen realen Welt (der Text, die Farben und Formen der Leinwand, der Körper des Schauspielers oder Imitators, die Linien der Zeichnung usw.) besitzen, gilt dasselbe für Ingardens ›abgeleitet rein intentionale Gegenständlichkeiten‹ im Unterschied zu den ›rein intentionalen‹.320 Jene ›abgeleitet rein intentionalen Gegenständlichkeiten‹ sind z. B. in dauerhaften Sprachgebilden fixiert und damit nicht mehr an den zeitlichen Vollzug eines Bewußtseinsaktes gebunden. Hierdurch bewahren sie eine »relative Unabhängigkeit«321 von diesen Akten: »Als rein intentionale bleiben die durch die Bedeutungseinheiten ›geschaffenen‹ Gegenständlichkeiten seinsheteronom und seinsabhängig, aber diese ihre Seinsrelativität weist direkt auf die den Bedeutungseinheiten immanente Intentionalität und erst mittelbar auf diejenige der Bewußtseinsakte zurück«.322 Bringt man die Terminologie beider Denker zusammen, so wird ersichtlich, daß dieselben Sachverhalte aufgrund derselben Qualitäten sowohl als ›abgeleitet rein intentionale Gegenstände‹ wie auch als images physiques aufgefaßt werden können. Es gibt also, wie sich mit Sartre als Entgegnung auf Ingardens Einwand zeigen läßt, ›Vorstellungsgegenstände‹, die ein intersub318
Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt I, 86. In den Untersuchungen zur Ontologie des Kunstwerks fällt dieser Begriff zwar nicht explizit, aber aus den Beschreibungen der verschiedenen Kunstformen geht eindeutig hervor, daß sie alle in einem materiellen Seinsfundament verankert sind. Daher ist der Schluß zulässig, die Werke der Kunst generell als ›abgeleitet rein intentionale Gegenständlichkeiten‹ zu begreifen. 320 Trotz ihrer Aktdependenz wahren, wie Galewicz, bemerkt, die abgeleitet rein intentionalen Gegenständlichkeiten intersubjektive Identität (ebd., 18). 321 Galewicz, ebd., 16. Ingarden spricht von »intersubjektive(r) Objektivität« (Der Streit um die Existenz der Welt II/1, 205). 322 Ingarden, Das literarische Kunstwerk, 131. 319
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jektives Fundament besitzen – und darum kann das Kunstwerk als ein Imaginäres verstanden werden, ohne daß aus dieser Bestimmung die Reduktion auf die jeweiligen Bewußtseinserlebnisse des Lesers oder des Autors folgen würde.
3. DIE RÜCKKEHR IN DIE HÖHLE PLATONS: DER ONTOLOGISCHE BEWEIS In der kritischen Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition in Die Imagination hat sich gezeigt, daß Sartre zufolge die Kohärenz als Unterscheidungskriterium zwischen Imagination und Wahrnehmung unzulänglich ist. Wenn ›real‹ für Sartre nicht dasjenige ist, was sich kohärent in den Erfahrungskontext eingliedern läßt, so bleibt ihm als Gegenpol zum Imaginären nach Carnap nur der sogenannte ›metaphysische Realitätsbegriff‹, der Realität mit Subjektunabhängigkeit identifiziert. Und tatsächlich ist dieser Begriff in der frühen Schrift von der ersten Seite an präsent (vgl. TE 97 f.). Jenes An-sich-sein wird nun in Husserls phänomenologischer Reduktion ausgeschaltet, während es für Sartre ganz im Gegenteil unentbehrlich für die Differenz zwischen Wahrnehmungs- und imaginären Objekten ist (vgl. TE 236). Die Phänomene, denen sich die transzendentale Phänomenologie zuwendet, charakterisiert Husserl selbst als »irreal«, denn gereinigt werden sie von allem, »was ihnen Realität und damit Einordnung in die reale ›Welt‹ und eine reale Welt überhaupt verleiht«.1 Indem der naive bzw. natürliche Glaube eingeklammert wird, »daß unabhängig vom Bewußtsein eine ›Welt‹ existiert«,2 will Husserl die Abhängigkeit der natürlichen Welt von den konstitutiven Vollzügen des transzendentalen Bewußtseins nachweisen.3 Das transzendentale Bewußtsein konstituiert die Welt, und die Aufgabe der Phänomenologie besteht, wie Husserl erklärt, darin, aufzuklären, »wie das Ego in sich […] ›Anderes‹, ›Objektives‹ konstituiert, und so überhaupt alles, was für es je im Ich als Nicht-Ich Seinsgeltung hat«.4 Es ist vor allem diese Behauptung, daß reale Objekte letztlich aus der Subjektivität hervorgehen, die für Sartre völlig inakzeptabel ist, weil er diesen Vorgang als creatio ex nihilo interpretiert. Innerhalb seines eigenen Denkens trifft diese Beschreibung ausschließlich auf das irreale Objekt zu, insofern dieses vom Bewußtsein »erzeugt und bewahrt« (Im 32) wird. Das Imaginations-, nicht aber das Wahrnehmungsbewußtsein ist für Sartre »schöpferisch« (Im 34). Eine Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Imagination, die, wie der französische Phänomenologe zu beteuern nicht müde wird, auf der Ebene des unmittelbaren Bewußtseins ständig mit Gewißheit erfolgt, ist so gesehen nach der Durchführung der Epoché
1
Husserl, Ideen I, 6. Vgl. zur phänomenologischen Reduktion: ebd., §§ 30–32. Damast, ebd., 12. 3 Husserl, Cartesianische Meditationen, 61; vgl. die kritischen Bemerkungen Ingardens in Cartesianische Meditationen, 209. 4 Husserl, ebd., 118. 2
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3. Die Rückkehr in die Höhle Platons: Der ontologische Beweis
unmöglich nachzuvollziehen.5 Diese enthüllt also nicht ›die Sachen selbst‹, sondern sie verdeckt sie vielmehr. Die Differenz zwischen Wahrnehmung und Imagination, die bei Sartre einen so fundamentalen Status einnimmt, kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn die Dinghaftigkeit bzw. die Subjektunabhängigkeit des Wahrgenommenen verteidigt wird, d. h. wenn dieses nicht kraft der Epoché auf sein Erkannt-sein reduziert und damit dem Imaginären gleichgesetzt wird.6 Im folgenden Kapitel kommt nun die ontologische Position von Das Sein und das Nichts in den Blick, wobei deutlich werden soll, daß das Fundament der phänomenologischen Ontologie Sartres als Antwort auf jene offene Fragen gelesen werden kann, die sich aus der kritischen Erörterung der phänomenologischen Reduktion ergeben haben. Die Wendung von der Phänomenologie zu einer phänomenologischen Ontologie bzw. zu einer eher realistischen Erkenntnistheorie7 ergibt sich konsequent aus der Absicht, Imagination und Wahrnehmung qualitativ und trennscharf zu sondern – eben dies, so lautet sein Vorwurf, kann dem Idealismus Husserlscher Prägung nicht gelingen. Der ontologische Beweis, den Sartre zu Beginn von Das Sein und das Nichts durchführt, reißt sozusagen »die Barrieren der phänomenologischen Reduktion« (TE 237) ein, und knüpft hiermit implizit an den Schlußteil von Die Imagination an, in dem Sartre diskutiert, ob die Phänomenologie Husserls den Anforderungen einer Theorie der Einbildungskraft gerecht werden kann. Die Wiederaufnahme der dort erörterten Problematik ist augenscheinlich – auch wenn Sartre an keiner Stelle explizit auf diesen Zusammenhang zwischen den beiden Schriften hinweist. Das philosophische Hauptwerk bietet in seiner Einleitung einen Lösungsvorschlag, wie auf dem Boden der Phänomenologie das Wahrgenommene so aufgefaßt werden kann, daß es nicht lediglich den Status eines Gegenstands einnimmt, dessen esse sich auf das percipi beschränkt.8 Von Interesse ist bei diesen Erörterungen weniger die Frage, ob Sartres Husserl-Kritik oder der Versuch, auf dem Boden der Phänomenologie
5
Bezeichnenderweise zählt Sartre die Neutralitätssetzung – »das heißt sein Objekt nicht als existierend setzen« (Im 29) – zu den vier Setzungscharakteren der Imagination. 6 In kritischer Absicht hat hierauf auch Gadamer in seiner Diskussion der Problemgeschichte der Ästhetik hingewiesen: »Alle diese Begriffe wie Nachahmung, Schein, Entwirklichung, Illusion, Zauber, Traum setzen den Bezug auf ein eigentliches Sein voraus, von dem das ästhetische Sein unterschieden sei« (Wahrheit und Methode, 89). 7 Natürlich ist diese Ontologisierung, der An-sich-Charakter, in Die Imagination von der ersten Seite an vorausgesetzt und nicht erst das Resultat dieser Untersuchung. 8 Sartre ist im Grunde von dem Problem umgetrieben, das Russel pointiert auf die folgende Weise zum Ausdruck bringt: »Gibt es einen Tisch, dem bestimmte Eigenschaften unabhängig von mir zukommen und der weiterexistiert, wenn ich ihn nicht betrachte, oder ist der Tisch nur ein Produkt meiner Einbildungskraft, ein Traumtisch in einem sehr langen Traum?« („Die Existenz der Materie«, 18).
Phänomenologische Reduktion als Zurückweisung
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einen realistischen Standpunkt einzunehmen, wirklich plausibel ist. Vielmehr soll der Zusammenhang zwischen der frühen Studie über die Einbildungskraft Die Imagination und dem philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts aufgezeigt werden. In dem Vortrag »Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis«, 1947 vor der Société Francaise de Philosophie gehalten (vgl. EH 216–264), beschreibt Sartre die phänomenologische Reduktion als ein Heraustreten aus der platonischen Höhle: »Wir ähneln ein wenig den Philosophen, die man aus Platons Höhle gezogen hat und die dann nicht mehr in die Höhle zurückkehren wollten« (EH 224).9 Bleibt man in diesem Bild, so erscheint der ontologische Beweis als die zu fordernde Rückkehr in diese Höhle – mehr noch: er ist auch die Bedingung jeglichen Engagements, von dem in Sartres Schriften so häufig die Rede ist, insofern man »in Wirklichkeit gerade in der Höhle denken und handeln« (EH 224) muß, aus der der Idealismus sich zurückziehen will.10
3. 1. Phänomenologische Reduktion als Zurückweisung noumenaler Realitäten Sartre lehnt Husserls Position nicht grundsätzlich ab; ganz im Gegenteil erachtet er es anscheinend als notwendig, sich zu Beginn auf den Boden der Phänomenologie zu stellen, um von dort aus deren Selbstüberschreitung in Richtung auf eine Ontologie vorzunehmen, die jedoch phänomenologisch fundiert bleibt. Mit dem ersten Satz von Das Sein und das Nichts11 lobt Sartre zunächst die phänomenologische Reduktion als »einen beachtlichen Fortschritt« des modernen Denkens (SN 9). Der »Monismus des Phänomens« 9
Dagegen hat Sartre in der »Transzendenz des Ego« Husserl noch gegen den Idealismus-Vorwurf der »Theoretiker der äußersten Linken« (TE 91) verteidigt. Intentionalität und phänomenologische Reduktion sind für Sartre die einander entgegengesetzten Bestrebungen der Phänomenologie: Während die Intentionalität in die Welt hineinführt, erscheint die Reduktion als gegenläufige Bewegung, die diese Welt auf ein bloßes Korrelat des Bewußtseins reduziert und damit die ursprüngliche antiidealistische Tendenz wieder preisgibt. 10 Auch Scheler interpretiert Husserls phänomenologische Reduktion auf diese Weise und ordnet ihn in eine Traditionslinie mit Buddha und Platon ein (Die Stellung des Menschen im Kosmos, 52). Scheler selbst zählt sich eher zu den Denkern, welche »immer wieder zurück zur Wirklichkeit und ihrem Jetzt-Hier-Sosein« zurückzukehren versuchen, »um sie besser zu machen« (ebd., 55 f.). 11 Schon die im Untertitel von Das Sein und das Nichts (›Versuch einer phänomenologischen Ontologie‹) verwendete Selbstcharakterisierung als ›phänomenologische Ontologie‹ klingt für einen Phänomenologen wie eine contradictio in adjecto. Sartre scheint durch diese Benennung zu unterstellen, »daß die Welt genau so sei, wie sie sich durch die Strukturen des Bewußtsein enthüllt« (Danto, ebd., 52).
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3. Die Rückkehr in die Höhle Platons: Der ontologische Beweis
(SN 9) erlaubt vor allem die Beseitigung des Dualismus von Sein und Erscheinung, mit dem Sartre sich offensichtlich auf das Verhältnis von Noumenon und Phaenomenon in Kants Erkenntnistheorie bezieht.12 Geht man von der Annahme noumenaler Realitäten aus, so ist die Erscheinung »›das, was nicht das Sein ist‹« (SN 10). Im Kapitel über die ›Transzendentale Ästhetik‹ in der Kritik der reinen Vernunft erklärt Kant »daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden, und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können«. Aus diesem Grund bleibt uns völlig unbekannt, »(w)as es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge«.13 Selbst wenn sich unsere Erkenntnis nicht auf den Gegenstand an sich, sondern auf den Gegenstand in der Anschauung bezieht, bleibt »die Sicherheit der Erfahrungserkenntnis unangetastet«:14 »Was gar nicht am Objekte an sich selbst, jederzeit aber im Verhältnisse desselben zum Subjekt anzutreffen und von der Vorstellung des ersteren unzertrennlich ist, ist Erscheinung, und so werden die Prädikate des Raumes und der Zeit mit Recht den Gegenständen der Sinne, als solchen, beigelegt, und hierin ist kein Schein«.15 Von Schein kann nach Kant erst dann die Rede sein, wenn ich das Verhältnis der Gegenstände zum Subjekt außer acht lasse und die Eigenschaften, welche erscheinen, den Dingen an sich beilege.16
12
Vgl. zur Definition von Noumenon und Phaenomenon: Kritik der reinen Vernunft, A 249; zur Kritik an Sartres Auffassung des Kantischen Noumenon: Damast, ebd., 45, 47. 13 Kant, ebd., B 59/A 42. 14 Ebd., B 56/A 39. 15 Ebd., B 70. 16 Vgl. Ebd., B 70. Unter Berücksichtigung, daß das Ding an sich das ›wahre Korrelatum’ der Erscheinung ist (vgl. B 45/A 30), läßt sich die Frage stellen, was hieraus für das Verhältnis von Imagination und Wahrnehmung folgen würde. Sicher darf ich nach Kant nicht behaupten, der Gegenstand an sich sei rot; wenn es jedoch nicht um bestimmte Eigenschaften, sondern um das Sein selbst geht, so muß doch zumindest erlaubt sein zu sagen, daß das Ding an sich existiert. Es wäre dann der bestehende oder fehlende Bezug zum Ding an sich, der über Existenz oder Nicht-Existenz einer Erscheinung – und damit über Wahrnehmung oder Imagination – entschiede. Im Falle der Wahrnehmung verhält es sich so, daß »die Sinne etwas bloß vorstellen, wie es erscheint«, wobei dieses »Etwas […] auch an sich selbst ein Ding« (ebd., A 249) ist. Kant geht davon aus, »daß der Erscheinung etwas entsprechen müsse, was an sich nicht Erscheinung ist« (ebd., A 251), während die Imagination – so könnte geschlossen werden – dann als eine Erscheinung ohne Bezug auf ein Ding an sich anzusehen wäre.
Phänomenologische Reduktion als Zurückweisung
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Das Phänomen, so wie Husserl und Heidegger es Sartre zufolge beschrieben haben, ist relativ-absolut: Absolut ist es, insofern es nicht wie die Erscheinung bei Kant »über seine Schulter hinweg ein wahres Sein« anzeigt, »das seinerseits das Absolute wäre« (SN 10), vielmehr ist es »absolut sich selbst anzeigend« (SN 11; vgl. SN 277). Wenn alle Realität das Korrelat einer Sinngebung ist, kann es Husserl zufolge keine Realität geben, die nicht konstituiert, d. h. nicht in der Erfahrung gegeben wäre. Husserl grenzt seine Form des Idealismus von derjenigen Kants ab, da dieser »mindestens als Grenzbegriff die Möglichkeit einer Welt von Dingen an sich glaubt offen halten zu können«.17 Wenn die Existenz noumenaler Realitäten zurückgewiesen wird, ist das »sinnlich erscheinende Ding, das die sinnlichen Gestalten, Farben, Geruchs- und Geschmackseigenschaften hat, […] nichts weniger als ein Zeichen für ein anderes, sondern gewissermaßen Zeichen für sich selbst«.18 Auch Heidegger kommt Sartres Deutung der Absolutheit des Phänomens entgegen, wenn er das Phänomen als »das Sich-an-ihm-selbst-zeigende«19 bestimmt und es vom »Schein« – in dem etwas gezeigt wird, wie es an ihm selbst nicht ist – wie auch von der »Erscheinung« – in der sich etwas meldet, was sich an sich selbst nicht zeigt – abgrenzt.20 Als relativ gilt Sartre dagegen das Phänomen, weil es »seinem Wesen nach jemanden voraussetzt, dem etwas erscheint« (SN 10).21 Insofern das Phänomen wesensmäßig auf eine Subjektivität verweist, der es erscheint, ist es eine »›relative Existenz‹«, während das ›Sein‹ als Gegenbegriff dagegen als dasjenige bestimmt ist, das »auch unabhängig von der Beziehung auf eine Subjektivität besteht, d. h. etwas, das ›wirklich‹ ist«.22 Wie sich gezeigt hat, dient die Phänomenologie – vor allem Husserls, aber auch Heideggers – Sartre zunächst dazu, die Annahme eines Noumenon hinter den Phänomenen auszuschließen. Offenbar wird hiermit Husserl gegen Kant gewendet: Die Erscheinung ist »keinem Sein mehr entgegengesetzt«, sondern »hat ihr eigenes Sein« (SN 14). Die Frage nach dem Sein des Phänomens, die für Sartre trotz aller phänomenologischen Reduktion »ein legitimes Problem« (SN 14)
17
Husserl, Cartesianische Meditationen, 118. Husserl intendiert einen »Idealismus, der nichts weiter ist als in Form systematischer egologischer Wissenschaft konsequent durchgeführte Selbstauslegung jedweden Seinssinnes, der für mich, das ego, eben soll Sinn haben können« (Pariser Vorträge, 33). 18 Husserl, Ideen I, 113. 19 Heidegger, Sein und Zeit, 31. 20 Heidegger, ebd., 28–31. Vgl. zur möglichen Kritik aus Husserlscher und Heideggerscher Perspektive an Sartres Auslegung der Phänomenologie: Damast, ebd., 53 f. 21 Es weist allerdings nicht die »doppelte Relativität« (SN 10) der Erscheinung Kants auf. 22 Damast, ebd., 10.
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3. Die Rückkehr in die Höhle Platons: Der ontologische Beweis
darstellt, markiert nun den Übergang von der Phänomenologie zur Ontologie bzw. zu einer ontologisch fundierten Phänomenologie.
3. 2. Die Nicht-Reduzierbarkeit des Seins des Phänomens auf das Seinsphänomen Natürlich steht völlig außer Frage, daß es Phänomene nur für und durch ein Bewußtsein gibt, und nachdem die Epoché die Realität auf die Erscheinung begrenzt hat, ist es legitim zu sagen, daß das Phänomen »ist, wie es erscheint« (SN 17). Der Schritt liegt nahe zu erklären, »daß das Sein der Erscheinung sein Erscheinen« ist (SN 17). Auch das Sein selbst, so fährt Sartre fort, erscheint in bestimmten Situationen. Als »Mittel des unmittelbaren Zugangs« zu diesem »Seinsphänomen« (SN 14) nennt Sartre – wohl unter impliziter Bezugnahme auf Heidegger – die Langeweile sowie den Ekel, den er selbst in seinem Debütroman Der Ekel beschrieben hat. Die »Ontologie« ist in diesem Sinne »die Beschreibung des Seinsphänomens […], wie es sich manifestiert, das heißt ohne Vermittlung« (SN 14). Auf dem Boden der phänomenologischen Reduktion stellt sich nun die Vorfrage an jede Ontologie, ob das Sein des Phänomens ebenfalls nur ein Phänomen ist, das somit relativ in bezug auf eine Subjektivität bestehen würde. Wenn das Sein des Phänomens identisch mit dem Seinsphänomen ist, dann läßt sich auch das Sein im Berkeleyschen Sinne auf sein Phänomen-sein reduzieren, d. h. es ist selbst nur, weil es erscheint.23 Wenn jede Gegebenheit nach einer Voraussetzung verlangt, die selbst wieder nur eine Gegebenheit ist, so käme man unweigerlich zu einem regressus in infinitum. Das Seinsphänomen ist nicht »die Bedingung jeder Enthüllung«, sondern selbst ein »Enthülltes«, »eine Erscheinung«. Und als solches benötigt es »seinerseits ein Sein […], auf dessen Grundlage es sich enthüllen könnte« (SN 16).24 Das Sein des Phänomens läßt sich nicht auf das Seinsphänomen reduzieren, sondern verlangt im Gegenteil gerade nach einer von der Bedingung der Gegebenheit unabhängigen Grundlage (vgl. SN 16). Mit Sartres Worten, das Phänomen des Seins »ist ein Ruf nach Sein«; es »verlangt die Transphänomenalität des Seins« (SN 16).25 Natürlich soll der 23
Wichtig ist hierbei: Es besteht zwischen dem Phänomen des Seins und dem Sein des Phänomens keine Unterscheidung hinsichtlich irgendeiner sachlich-inhaltlichen Bestimmung, sondern nur hinsichtlich ihres Status gegenüber der Subjektivität (Vgl. Damast, ebd., 124). G. Seel faßt den Unterschied zwischen dem Phänomen des Seins und dem Sein des Phänomens in die Termini esse apparens und esse subsistens (ebd., 78). 24 Vgl. Betancourt, ebd., 40; Damast, ebd., 140–142. 25 Vgl. G. Seel, ebd., 79: Das ontische Fundament des Phänomens »aber kann nicht Phänomen sein, kann sich nicht darin erschöpfen zu erscheinen, es muß existierendes Sein (esse subsistens) sein. Sartre unterscheidet also a) ein Sein, das im Seinsphänomen erscheint,
Die Nicht-Reduzierbarkeit des Seins
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Begriff ›transphänomenal‹ nicht – wie die Präposition nahezulegen scheint – zum Ausdruck bringen, daß das Sein jenseits des Phänomens ist, denn dann wäre es doch wieder mit dem Noumenon identisch.26 Die Transphänomenalität meint vielmehr: Obwohl es sich zum Phänomen »koextensiv« (SN 17) verhält, existiert das Sein nicht nur, weil es (dem Bewußtsein) erscheint. Es ist transphänomenal, insofern es »über die von ihm [über die Befragung des Seinsphänomens – Anm. J. B.] gewonnene Erkenntnis hinausgeht und sie begründet« (SN 17). Anders gesagt, das Sein ist nicht hinter der Erscheinung, es ist aber auch nicht nur Erscheinung. Sein muß nicht, um zu sein, erscheinen.27 Möglicherweise kommt das Seinsphänomen nur deswegen ins Spiel, weil für den Phänomenologen Sartre die phänomenale Gegebenheit der letzte Rechtsgrund einer phänomenologischen Ontologie ist.28 Während es jedoch bei den inhaltlichen Bestimmungen in der Regel ausreichend ist, auf der Ebene dessen zu verbleiben, was erscheint, kann Sartre sich nicht mit der Feststellung begnügen, daß die Subjektunabhängigkeit erscheint. Insofern diese Bestimmung etwa das Produkt konstitutiver Vollzüge der Subjektivität wäre, müßte sie als trügerisch angesehen werden: Anders als im Falle der erscheinenden Farbe, der erscheinenden Form usw., ist hier die Frage unumgänglich, ob die Subjektunabhängigkeit wirklich ist oder nur erscheint. Eine nur erscheinende Farbe wäre immer noch eine Farbe, wohingegen eine nur erscheinende – also vom Subjekt konstituierte – Subjektunabhängigkeit keine Subjektunabhängigkeit mehr wäre.29 Wie sich bilanzierend feststellen läßt, versucht Sartre, zwei mögliche Mißverständnisse des Verhältnisses zwischen Sein und Phänomen abzuwehren: Auf Kant soll die These zurückgehen, nach der das Sein hinter dem Phäno-
und b) ein Sein, das, ohne selbst zu erscheinen, alles Erscheinen ontisch fundiert«. Wenn G. Seel hervorhebt, daß das unter b) gefaßte Sein nicht erscheint, gerät er allerdings in die Gefahr, Noumenalität und Transphänomenalität zu verwechseln. Vgl. auch ebd., 80. 26 Vgl. Hartmann, ebd., 13. 27 Vgl. Betancourt, ebd., 40. Allerdings ist Damast zuzustimmen, wenn er erklärt, daß Sartre an keiner Stelle in Das Sein und das Nichts wirklich sagt, was man sich unter dem Phänomen des Seins wirklich vorzustellen hat (ebd., 107). 28 Siehe auch Husserl, VI. Logische Untersuchung, 765: »Phänomenologie besagt demgemäß die Lehre von den Erlebnissen überhaupt und, darin beschlossen, auch von allen in Erlebnissen evident ausweisbaren, nicht nur reellen, sondern auch intentionalen Gegebenheiten«. 29 So erklärt G. Seel, daß der Inhalt eines Phänomens »immer eine subjektbezogene Größe, eine Eigenschaft oder ein Komplex von Eigenschaften, eine Seinsweise, ein Wesen und dergl.« sei, und »(d)ies gilt auch für das Seinsphänomen. Aber dessen Inhalt ist gegenüber möglichen anderen Inhalten dadurch ausgezeichnet, daß er eine Forderung, ein Verweis auf eine nicht-logische, nicht inhaltliche Größe ist. Die Seinsweise, die das Seinsphänomen enthüllt, ist die ›Transphänomenalität‹ des Seins (esse subsistens), d. h. die Unabhängigkeit des Seins von den Bedingungen des Erscheinens« (ebd., 80).
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3. Die Rückkehr in die Höhle Platons: Der ontologische Beweis
men sei und infolgedessen die ›wahre‹ Welt unerreichbar für unser Erkenntnisvermögen. Zurückzuweisen ist aber ebenfalls der Versuch einer Reduktion des Sein auf die Phänomenalität, welcher Berkeley und Husserl zugeschrieben wird.30 Da Husserl kein Noumenon kennt und die Subjektunabhängigkeit des Seins nicht begründet, reduziert es sich bei ihm auf die Gegebenheit also auf ein bloßes Bewußtseinskorrelat.31 Sartre lehnt hingegen jede Identität von Sein mit Setzung, bzw. ›erscheinen‹, ›erfaßt-‹ oder ›gesetzt-sein‹ entschieden ab. Im Gegensatz zu derartigen Positionen, die letztlich für ihn nur Variationen des Berkeleyschen Satzes ›esse est percipi‹ darstellen, sucht er nach einer ontologischen – und nicht epistemischen – Grundlage der Phänomene.32
3. 3. Das Sein des percipiens ist transphänomenal Trotz der phänomenologischen Reduktion gibt es, wie Sartre fortfährt, auch für Husserl ein Sein, das sich nicht auf das Phänomen-sein reduziert – und dies ist das Sein des transzendentalen Bewußtseins. Während Husserl jeder Art von Realität nur eine ›relative‹ bzw. phänomenale Existenz zugesteht, ist das transzendentale Bewußtsein absolut, insofern es der Ursprung allen Sinns und nicht selbst das Produkt einer Sinngebung ist. Für Sartre bedeutet dies: »(D)as Bewußtsein war da, bevor es erkannt wurde« (SN 435). Husserl erklärt: »Das jeweilig wirklich erlebte Erlebnis gibt sich, neu in den reflektierenden Blick tretend, als wirklich erlebtes, als ›jetzt‹ seiend; aber nicht nur das, es gibt sich auch als soeben gewesen seiend; und sofern es unerblicktes war, eben als solches, als unreflektiert gewesenes«.33 Insofern das Bewußtsein nicht die Reflexion, also die Selbsterkenntnis benötigt, um zu existieren, ist es nach Sartre ein transphänomenales Sein. Das Bewußtsein erkennt, aber es 30
Husserl lehnt allerdings den Vergleich mit Berkeley ab: Wenn das esse des Gegenstands sein percipi sei, so gilt dieser Satz »nichts weniger als im Berkeleyschen Sinne […], da das percipi das esse hier ja nicht als reelles Bestandstück enthält« (Ideen I, 230). Wie er an anderer Stelle erklärt, gilt das ›esse est percipi‹ Berkeleys für die immanente, nicht aber für die transzendente Wahrnehmung (Analysen zur passiven Synthesis, 292) Zu fragen wäre, ob diese Einschränkung der Formel wirklich genügt, um einen Zusammenfall von Einbildung und Wahrnehmung, wie ihn schon Kant beklagt hat (siehe Kritik der reinen Vernunft, B 274–279), zu verhindern, denn das Phantasienoema ist für Husserl ja auch nicht reell immanent (vgl. Ideen I, 50). 31 Vgl. auch die Diskussion der Vorwürfe Sartres an Husserl bei Damast, ebd., 152 f. 32 Vgl. auch Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt I, 86: »Es gilt aber das ontologische Gesetz, daß jede seinsheteronome Gegenständlichkeit letzten Endes […] auf eine seinsautonome Gegenständlichkeit zurückverweist, in welcher ihr Seinsfundament liegt«. 33 Husserl, Ideen I, 162 f.; siehe auch Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 119. Vgl. auch schon Fichtes Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, 10.
Das Sein des percipiens ist transphänomenal
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ist »erkennende(s) Sein […], insofern es ist, und nicht insofern es erkannt ist« (SN 19). Selbst wenn »die Erkenntnis das Maß des Seins ist«, so muß doch zugestanden werden, daß zumindest »die Erkenntnis selbst ist« (EH 229). Selbstverständlich kann das Bewußtsein jederzeit auch sich selbst erkennen, aber seine Existenz unterliegt nicht dieser Bedingung: »(E)s ist in sich selbst etwas anderes als eine zu sich selbst zurückgewandte Erkenntnis« (SN 19). Anders gesagt, es ist nicht »unmittelbar reflexiv« (EH 217). Nach dem Prinzip der Intentionalität ist jedes Bewußtsein »Setzung eines transzendenten Objekts« (SN 19)34: »Das Bewußtsein ist setzend, insofern es sich transzendiert, um ein Objekt zu erreichen, und es erschöpft sich in eben dieser Setzung: alles, was es an Intention in meinem aktuellen Bewußtsein gibt, ist nach draußen gerichtet, auf den Tisch« (SN 19 f.). Ohne zugleich Bewußtsein davon zu haben, daß es Bewußtsein von dem Tisch ist, wäre es ein »unbewußtes Bewußtsein« (SN 20). Dies ist für Sartre jedoch »absurd« (SN 20).35 Selbst wenn ich nicht durch den reflexiven Akt danach trachte, mein Erkennen zu erkennen, impliziert die Erkenntnis »notwendigerweise das Bewußtsein zu erkennen« (EH 230). Während der Gegenstand der Reflexion das reflektierte Bewußtsein ist, ist sich das präreflexive Cogito zwar seiner selbst bewußt, aber es ist nicht das thetische Objekt einer Erkenntnis.36 Führt man in das unmittelbare Bewußtsein die Subjekt-Objekt-Dualität, bzw. das Erkenntnisverhältnis »erkennend-erkannt« (SN 21), ein, so geraten wir in den infiniten Regreß: Ein drittes Glied wird erforderlich, damit der Erkennende selbst wieder zum Objekt der Erkenntnis werden kann, und es kommt zu folgendem Dilemma: »(E)ntweder bei irgendeinem Glied der Reihe: Erkanntes – erkanntes Erkennendes – erkanntes Erkennendes des Erkennenden usw. stehenbleiben«. In diesem Fall stürzt »die Totalität des Phänomens ins Unerkannte, das heißt, wir stoßen immer auf eine ihrer selbst nicht bewußte Reflexion als letztes Glied – oder wir behaupten die Notwendigkeit eines infiniten Regresses (idea ideae ideae usw.), was absurd ist« (SN 21; vgl. EH 231). Um den infiniten Regreß zu vermeiden, muß der Erkenntnisbezug aufgegeben und das Bewußtsein als ein »unmittelbarer und nicht kognitiver Bezug von sich zu sich« (SN 21) aufgefaßt werden.37 Darum 34
Vgl. Husserl, Ideen I, §§ 34, 36. Vgl. Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 106. 36 Hartmann, ebd., 23, erklärt: »Der Gedanke, daß das Bewußtsein sich gegeben sein müsse, da es sonst unbewußt sei, hat eine gewisse Überzeugungskraft. Einerseits glauben wir, unsrer selbst ›innezusein‹, andererseits wird damit das Bewußtsein zu einem zweiten Gegenstand neben dem unmittelbaren, auf den wir gerichtet sind, was unsere normale Erfahrung nicht bestätigt. Die Annahme einer Reflexion, um dies ›funktionale‹ Selbstbewußtsein zu erklären, scheint daher einerseits gefordert, andererseits ausgeschlossen«. 37 Vgl. Husserl, ebd., 107: »Sagt man: jeder Inhalt kommt nur zum Bewußtsein durch einen darauf gerichteten Auffassungsakt, so erhebt sich sofort die Frage nach dem Bewußt35
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3. Die Rückkehr in die Höhle Platons: Der ontologische Beweis
ist für Sartre »jedes objektsetzende Bewußtsein […] gleichzeitig nicht-setzendes Bewußtsein von sich selbst« (SN 21). So zähle ich etwa ohne setzendes Bewußtsein meiner Tätigkeit die Zigaretten in einer Schachtel. Aber diese Addition ist nicht unbewußt, denn auf die Frage, was ich dort tue, kann ich jederzeit antworten, daß ich zähle. Und diese Antwort bezieht sich nicht nur auf das aktuelle, der Reflexion zugängliche Bewußtsein, sondern auch auf die vergangenen Bewußtseine, die nicht reflektiert wurden und darum »in meiner unmittelbaren Vergangenheit für immer unreflektiert sind« (SN 22; vgl. EH 233, 261). Um jegliche idealistische Fehldeutung zu umgehen, setzt Sartre die Präposition ›von‹ in der Formulierung ›das nicht-setzende Bewußtsein (von) sich‹ in Klammern. Hierdurch soll deutlich gemacht werden, daß in diesem Verhältnis der Zweiheit keine Erkenntnis- bzw. keine Subjekt-Objekt-Beziehung vorliegt. Das Bewußtsein (von) ist kein neues Bewußtsein gegenüber dem Bewußtsein vom Tisch, vielmehr muß man es verstehen, »als den einzig möglichen Existenzmodus für ein Bewußtsein von etwas« (SN 23; vgl. EH 231–233).38 So kommt das Bewußtsein nicht später als Eigenschaft zur Freude hinzu, sondern »die Freude hat das Bewußtsein als besondere Seinsweise« (EH 235). Mit dieser Konzeption einer transphänomenalen Seinsdimension des Bewußtseins hat Sartre nun ein Sein erfaßt, das der Bedingung der Erkenntnis entgeht; dies ist jedoch nicht das Sein des Phänomens, sondern das Sein des Bewußtseins: Es stellt sich nun die Frage, ob dieses Sein genügt, um das Sein der Erscheinung als Erscheinung zu begründen. Damit ist zugleich auch nach der Bedeutung des Konstitutionsgedankens Husserls gefragt. Handelt es sich bei der Konstitution um eine creatio ex nihilo oder enthüllt die transzendentale Subjektivität vielmehr etwas, das unabhängig von ihr besteht, wenn es sich auch nicht unabhängig von ihr zeigt. Kurz, meint ›Konstitution‹ Schöpfung oder Enthüllung? Im Grunde versucht Sartre also herauszufinden, ob die transzendental-phänomenologische Subjektivität göttliche Züge aufweist.
3. 4. Das Sein des percipi und das Dilemma des Kreationismus Das Bewußtsein, wie es soeben beschrieben wurde, ist »die ontologische Grundlage der Erkenntnis, das erste Sein, dem alle anderen Erscheinungen erscheinen, das Absolute, zu dem jedes Phänomen relativ ist« (SN 28). Dies
sein, in dem dieser Auffassungsakt, der doch selbst ein Inhalt ist, bewußt wird, und der unendliche Regreß ist unvermeidlich«. 38 Vgl. Husserl, ebd., 70: »Der Fluß des immanenten zeitkonstituierenden Bewußtseins ist nicht nur, sondern so merkwürdig und doch verständlich geartet ist er, daß in ihm notwendig eine Selbsterscheinung des Flusses bestehen und daher der Fluß selbst notwendig
Das Sein des percipi und das Dilemma des Kreationismus
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ist nach Sartres Deutung das »Gebiet der Husserlschen Phänomenologie« (SN 28). Im folgenden geht er nun der Frage nach, ob es das Bewußtsein ist, das dem Phänomen sein Sein verleiht. Seiner Ansicht nach muß es zumindest ein Sein des Phänomens geben, »insofern es wahrgenommen wird« (SN 29). Selbst wenn ich den Tisch auf subjektive Impressionen reduziere, so steht er dennoch dem erkennenden Bewußtsein gegenüber; er gibt sich mit dem Sinn ›Objektivität‹ und ›Transzendenz‹ und muß daher mehr sein als ein Komplex von Ansichten, die das Bewußtsein synthetisiert (vgl. SN 29). Jener Gegebenheit des percipi als Transzendenz korrespondiert im übrigen die nicht-thetische Selbstgegebenheit des Wahrnehmungsbewußtseins als Passivität, welche Sartre im Zusammenhang mit dem vierten Grundcharakteristikum des Imaginären – Spontaneität und Kreativität – erörtert hat (vgl. Im 32). Wenn das Bewußtsein wirklich schöpferisch ist, so Sartres Grundgedanke, erfaßt es sich selbst ebensowenig als passiv wie das Objekt als ›subjektunabhängig‹: Was immer es hervorbringt, kann nur Imaginäres sein, das nicht wirklich ›ist‹ – dieser Gedanke nimmt bereits das zentrale Argument für die Relevanz des Lesers in Was ist Literatur? vorweg.39 Aber selbst wenn man einräumt, daß das percipi als ›nicht zum Subjekt gehörig‹ erscheint, so zeichnet es sich nichtsdestotrotz durch Relativität aus. Es setzt jemanden voraus, dem es erscheint. Insofern das Phänomen ein percipi ist, ist es zudem passiv: Es ist ein Wahrgenommenes. »Relativität und Passivität, das wären die charakteristischen Strukturen des esse, insofern dieses sich auf das percipi reduzierte« (SN 29). Sartre fragt nun genauer nach dem Sinn von ›Passivität‹. ›Passiv‹, so erklärt er, ist dasjenige, das eine Modifikation erleidet, dessen Ursprung – sei es »Grund« oder »Schöpfer« – es nicht ist (vgl. SN 29 f.). Aber wenn etwas passiv eine Veränderung durch einen anderen Ursprung erleidet, dann muß dieses ›etwas‹ doch wenigstens existieren. Das Sein geht also entweder der Passivität voraus, da es schon sein muß, um z. B. das Wahrgenommen-sein zu erleiden, oder aber das Sein ist selbst passiv, es ist »ein empfangenes Sein« (SN 30) im Sinne einer Schöpfung aus dem Nichts.40 Wenn das Sein von einer Subjektivität – und sei dies auch eine göttliche – hervorgebracht wird, so ist es ohne jede Subjektunabhängigkeit »an ihm selbst nur Nichts« (SN 31) und darum letztlich nur »ein intrasubjektiver Seinsmoim Fließen erfaßbar sein muß. Die Selbsterscheinung des Flusses fordert nicht einen zweiten Fluß, sondern als Phänomen konstituiert er sich in sich selbst«. 39 Wenn Gernhardt dichtet: »Hat auch der Schein sein Sein/ und seinen Sinn/Muß ihm nur Sein verleihn« (Gernhardt, Gedichte, 146), so würde Sartre ihm widersprechen: Dem Schein kann sein Urheber kein Sein im strengen Sinn verleihen; dies vermag allein der Rezipient – d. h. derjenige, der den von einem anderen hervorgebrachten Schein liest oder betrachtet. 40 Vgl. Damast, ebd., 212; Hartmann, ebd., 14; Schuppener, ebd., 79 f.
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3. Die Rückkehr in die Höhle Platons: Der ontologische Beweis
dus« (SN 40).41 In einer solchen Subjektivität könnte es nach Sartre »nicht einmal die Vorstellung [représentation] einer Objektivität geben, und folglich könnte sie sich nicht einmal mit dem Willen affizieren, Objektives zu schaffen« (SN 40). Entweder hat das Geschaffene keinerlei Selbständigkeit – wie etwa innerhalb einer creatio continua –, dann löst es sich »in der göttlichen Subjektivität« (SN 40) auf,42 oder es ist sein eigener Träger ohne »die geringste Spur der göttlichen Schöpfung« (SN 40). Das Sein wäre dann »selbst wenn es erschaffen worden wäre, durch die Schöpfung unerklärbar, denn es übernimmt sein Sein jenseits derselben« Dies ist für Sartre aber »gleichbedeutend mit der Aussage, daß das Sein unerschaffen ist« (SN 40).43 Der Gedanke einer Konstitution als creatio ex nihilo verträgt sich daher nicht mit den Gegebenheiten der Erfahrung: Eine Schöpfung wäre dem Bewußtsein immanent und könnte dann nicht als etwas erscheinen, das ›objektiv‹, ›transzendent‹, also gerade nicht das Bewußtsein ist.44 Die ontologische Selbständigkeit der Wahrnehmungsobjekte schließt sowohl die Auffassung der Transzendenz als immanenten Seinssinn eines transzendentalen weltkonstituierenden Subjekts wie auch die Vorstellung eines schöpferischen Gottes aus, der in Sartres Perspektive zu einer tragischen Figur wird: »Das Drama des absoluten Schöpfers, wenn er existierte, wäre die Unmöglichkeit, aus sich herauszukommen, denn seine Schöpfung könnte nur er selbst sein: woher nähme sie denn ihre Objektivität und ihre Unabhängigkeit, da ihre Form und ihre Materie von mir sind« (SN 1011). So kann »der Schöpfer […] nicht einmal die Illusion haben, daß er aus seiner Subjektivität herauskommt« (SN 31). Da das Objektive nicht in der Weise einer creatio ex nihilo aus dem Subjektiven hervorgehen kann, läßt sich das esse des Phänomens nicht auf sein percipi bzw. das Sein des percipi nicht auf das Sein des percipiens reduzieren: »Das transphänomenale Sein des Bewußtseins kann nicht das transphänomenale Sein des Phänomens begründen« (SN 33).45 Berkeleys Formel – esse est percipi – trifft also 41
Vgl. Betancourt, ebd., 51; Hartmann, ebd., 14, 17. Vgl. SN 423: »Wenn Gott Ich ist und wenn er der Andere ist, was garantiert mir dann meine eigne Existenz? Wenn die Schöpfung creatio continua sein soll, bleibe ich immer in der Schwebe zwischen einer besonderen Existenz und einer pantheistischen Verschmelzung im Schöpfer-Wesen [l’Être Créateur]«. Siehe zu den Affinitäten zwischen Sartres und Descartes’ Gottesbegriff: EH 114. 43 Vgl. zu Sartres Atheismus auch den popularisierenden Vortrag »Der Existentialismus ist ein Humanismus«, wo erklärt wird, daß die Existenz der Essenz nur deshalb vorausgeht, weil der Mensch keine Schöpfung eines Gottes ist: »Der Mensch, wie ihn der Existentialist versteht, ist nicht definierbar, weil er zunächst nichts ist. Er wird erst dann, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Folglich gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, sie zu ersinnen« (EH 120; vgl. auch EH 94). 44 Vgl. Damast, ebd., 216. 45 Nach Hengelbrock ist Sartres Verdikt, das Sein könne nicht aus dem Bewußtsein hervorgehen, ein »nicht hinterfragte(s) Element eleatischer Ontologie« (ebd., 56). Das Ver42
Der ontologische Beweis
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weder auf den ontologischen Status des Bewußtseins noch auf den der Phänomene zu.46
3. 5. Der ontologische Beweis Zwar bleibt Husserls Definition des Bewußtseins als Transzendenz »seine wesentliche Entdeckung« (SN 35), aber indem er das intendierte Sein auf ein Phänomen-sein reduziert, verkennt er nach Sartres Ansicht das »Wesensmerkmal« (SN 35) der Intentionalität.47 Dagegen versucht der französische Philosoph nachzuweisen, daß das Bewußtsein durch seine eigene Verfassung ontologisch ist bzw. daß »das Bewußtsein als ›ontologischer Beweis‹ der Existenz eines An-sich dienen kann« (SN 873).48 Das Problem der Transzendenz wird erst dann verständlich, wenn die Frage nach dem Sein des Phänomens geklärt ist.49 Der sogenannte ontologische Beweis, der sich aus »dem prähältnis von Schöpfung und Realität wird auch von Conrad-Martius diskutiert: Für sie ist die Halluzination ein ›immanent Hinfälliges‹ oder ›immanent Abhängiges‹, während die »Realentität« als »das immanent Unabhängige oder immanent sich selbst Begründende und Behauptende« bestimmt wird (Realontologie, 185). Geht man nun davon aus, daß Gott die Dinge nicht nur erschafft, »sondern sie auch im Dasein erhält« (creatio continua) und das Geschaffene anderenfalls »in das Nichts, aus dem es kam, zurücksinken« würde, so erweist sich trotz der Bestimmung der »Realentität als in sich und mit sich selbst fundierte« diese doch als abhängig vom Schöpfer. Conrad-Martius stellt daraufhin dieselbe Frage wie auch Sartre: »Muß man sagen, daß damit eben das Geschaffene aufhören würde, reales Sein in dem echten und vollen Sinne darzustellen?« (ebd., 185) Wäre also die Welt nicht auch etwas ›immanent Hinfälliges‹? Conrad-Martius sieht sich, um am Schöpfungsgedanken festhalten zu können, veranlaßt, zwischen der creatio continua und der »immanenten Abhängigkeit« einen wesentlichen Unterschied zu behaupten: »Die Idee des Schaffens impliziert gerade die Herausführung oder Setzung in ein eignes (in sich selbst fundiertes) und damit erst eigentliches ›Dasein‹; das immanent Hinfällige kann nur produziert, nicht aber geschaffen werden« (ebd., 186). Die ›Realentität‹ ist immanent autonom, aber nicht transzendent autonom (wie allein Gott). Die Scholastik hat diesen Unterschied, wie Conrad-Martius hinzufügt, »in den Termini ›per se‹ und ›a se‹ prägnant fixiert« (ebd., 186, Fußn. 1). 46 Vgl. Damast, ebd., 216 f. 47 Vgl. zum Problem der Transzendenz bei Husserl vor allem Cartesianische Meditationen, § 40 f.: »Wie komme ich aus meiner Bewußtseinsinsel heraus, wie kann, was in meinem Bewußtsein als Evidenzerlebnis auftritt, objektive Bedeutung gewinnen« (ebd., 116). 48 Vgl. zur Parallelität mit den Gottesbeweisen Anselms von Canterbury und Descartes’: Hartmann, ebd., 18–20; Damast, ebd., 221–227, 239, 256. 49 Nimmt man wie Husserl an, daß die »wirklich objektivierenden Intentionen […] die leeren Intentionen« (SN 34) seien, welche sich über »die anwesende und subjektive Erscheinung« (SN 34) auf die ganze Reihe der Erscheinungen richten, so könnte das Sein des Phänomens aus dem Bewußtsein hervorgehen und sich dennoch als transzendent geben, weil die unendliche Reihe der Aspekte das Bewußtsein überschreitet und niemals absorbiert werden könnte: »(I)hre Abwesenheit verleiht ihnen das objektive Sein«
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3. Die Rückkehr in die Höhle Platons: Der ontologische Beweis
reflexiven Sein des percipiens« (SN 33) ergibt, weist eine apagogische Struktur auf: Er führt zwei sich ausschließende Alternativen vor und zeigt, daß eine von ihnen widersprüchlich ist.50 Husserls Intentionalität – alles Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas –, läßt sich, so erklärt Sartre, auf zweierlei Weise interpretieren: Entweder 1. das Bewußtsein konstituiert das Sein des Objekts oder 2. das Bewußtsein ist »in seiner tiefsten Natur Bezug zu einem transzendenten Sein« (SN 33). Nach Sartre hebt sich die erste sozusagen idealistische Auslegungsmöglichkeit auf, da sich herausgestellt hat, daß das Subjekt nicht der Schöpfer der Objektivität sein kann.51 Schöpfung bzw. Konstitution und Transzendenz schließen sich aus.52 Das Bewußtsein konstituiert nicht sein Objekt, sondern vielmehr verlangt die Gegebenheit des Wahrgenommenen als ›objektiv‹ bzw. ›transzendent‹, »daß das Sein dessen, was erscheint, nicht lediglich existiert, insofern es erscheint«. Das Sein des Phänomens ist also ein »transphänomenale(s) Sein«, das »selbst an sich« (SN 37) ist.53 Natürlich ist das transphänomenale Sein des Phänomens kein noumenales Sein, das sich hinter dem Phänomen verbirgt. Das An-sich ist kein Ding an sich, sondern die unerschöpfliche Fülle der phänomenalen Gegebenheiten.54 Die Reduk(SN 34). Sartre insistiert jedoch darauf, daß jede dieser Ansichten »schon für sich ganz allein ein transzendentes Sein« (SN 35) und nicht lediglich eine »subjektive impressive Materie« (SN 35) sei. Die Realität kann, so betont er nachdrücklich, niemals aus einer subjektiv-impressiven Materie entspringen: »(N)ie wird das Objektive aus dem Subjektiven hervorgehen noch das Transzendente aus der Immanenz, noch das Sein aus dem Nicht-sein« (SN 35; vgl. Hartmann, ebd., 10). Vgl. zur berechtigten Kritik an Sartres Auseinandersetzung mit Husserls Wahrnehmungstheorie: Damast, ebd., 248–251. Danto ist offensichtlich der fälschlichen Ansicht, daß Sartres eigener ontologischer Beweis nichts anderes vollzieht als die Ableitung der Objektivität aus dem Innenhorizont (ebd., 58 f.). 50 Vgl. Hartmann, ebd., 12,17. 51 Nach Betancourt handelt es sich hierbei nicht um eine Deduktion des Seins aus dem Bewußtsein, sondern um den Nachweis, daß das Bewußtsein ein von ihm verschiedenes Sein erfordert (ebd., 52). 52 Die erste Interpretationsmöglichkeit führt, wie schon der vorangegangene Abschnitt gezeigt hat, zum Solipsismus (vgl. G. Seel, ebd., 16). 53 An sich zu existieren bedeutet für einen Gegenstand: »seine Existenz muß sich von selbst fortwährend erneuern« (SN 989). 54 Wenn man wie Schwappach in ihrer »Systematischen Kritik der Grundlagen von Sartres L’être et le néant« Noumenalität und Transphänomenalität permanent verwechselt (vgl. z. B. ebd., 270 f., 275) und glaubt, daß Sartre »auf dem Sein an sich jenseits der Vorstellung« beharre (ebd., 278), so ergibt sich daraus fast zwangsläufig auch der Vorwurf der Zusammenhanglosigkeit von Für-sich und An-sich (ebd., 271, 274), der jedoch übersieht, daß das Bewußtsein qua Intentionalität für Sartre nichts als eben dieser Bezug, dieser Zusammenhang, ist. Es wundert dann auch kaum noch, wenn schließlich auch noch die Konzeption »eines allein auf die Reflexionsidentität beschränkten Bewußtseins« (ebd., 282) unterstellt wird. Ferner hält ihm Schwappach – in diametraler Entgegensetzung zu den in der vorliegenden Arbeit referierten Ergebnissen – die »Überbetonung des Wissens vor dem Sein« (ebd., 284) vor und moniert, Sartre habe übersehen, »daß ein beliebig iterierbares Wissens-
Der ontologische Beweis
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tion des Seins auf die Subjektivität ist damit ausgeschlossen: »Das Sein ist unverdaulich« (WE 84). Da das Bewußtsein nicht schöpferisch sein kann, muß es als »erschlossene Erschließung eines Seins« aufgefaßt werden, »das es nicht selbst ist und das sich als bereits existierend darbietet, wenn es es offenbart« (SN 36). Eine reine Subjektivität, die zuerst und unabhängig vom Phänomen auftauchen würde, würde »verschwinden« (SN 36);55 das Bewußtsein qualifiziert sich durch die Beziehung auf ein Transzendentes, »andernfalls ist es nichts« (SN 36).56 Sartres Weg führt also von der Erscheinung zum Sein, genauer: zur Entdeckung zweier Transphänomenalia. Der ontologische Beweis stellt heraus, daß die Transphänomenalität des Bewußtseins die Transphänomenalität des Phänomens verlangt.57 Das Sein ist also entweder noumenal, dann fallen wir erneut in die Repräsentationstheorie zurück (vgl. SN 333), entweder eine Schöpfung aus dem Nichts, die sich jedoch als unvereinbar mit dem Bewußtsein herausstellt, oder es ist transphänomenal: (N)ichts von dem, was ich sehe, kommt von mir, es gibt nichts außerhalb dessen, was ich sehe oder sehen könnte« (SN 398).58 Wenn das Bewußtsein schöpferisch wäre, würde sich sein Gegenstand niemals als unabhängig geben. Und das Sein des Phänomens kann nur als unabhängig erscheinen, wenn es auch eine ontologisch vom Bewußtsein unabhängige Grundlage besitzt. Insofern es nicht nur ist, weil es erscheint, ist es ein Sein.59 Das Wahrgenommene ist daher kein Imaginäres.
monopol selbst sein muß« (ebd., 284). Sartre selbst sagt nichts anderes, ja eben dies ist ja gerade sein Argument gegen den Phänomenismus. Schwappachs Fehlinterpretationen beruhen nicht nur auf der Verwechslung von Transphänomenalität und Noumenalität, sondern ebenso auf der letztlich Sartre vorzuwerfenden begrifflich unklaren Doppeldeutigkeit von Sein als Unabhängigkeit von der Erkenntnis – eine Bestimmung, die sowohl das Fürsich wie auch das An-sich betrifft – und Sein als Opazität, wodurch allein das An-sich qualifiziert wird. Die Differenzierung zwischen Noumenalität und Transphänomenalität droht auch da zu verwischen, wo Frank (Das individuelle Allgemeine, 42) und G. Seel (ebd., 79) nahelegen, daß das Transphänomenale nicht erscheinen kann. 55 Der Begriff ›reine Subjektivität‹ hat für Sartre ebensowenig Sinn wie der Begriff ›reine Objektivität‹ (vgl. SN 546). 56 Vgl. Damast, ebd., 261: »Ein Bewußtsein von nichts im radikalen Verstande wäre ja Bewußtsein (von) nichts und also selbst nicht(s)«; vgl. auch Hengelbrock, ebd., 52. 57 Vgl. Betancourt, ebd., 51. 58 Problematisch wird der zweite Teil der Äußerung im Zusammenhang mit der Fremderfahrung: Die Subjektivität des Anderen ist gerade dasjenige, was mir nicht gegeben sein kann (siehe das siebte Kapitel). 59 Vgl. Damast, ebd., 235. Russel hat seinen realistischen Standpunkt nahezu mit denselben Worten wie Sartre formuliert: »Die Fähigkeit, andere Dinge zu kennen als sich selbst, ist die Haupteigenschaft des Bewußtseins. Bekanntschaft mit Gegenständen besteht wesentlich aus einer Beziehung zwischen dem Bewußtsein und etwas anderem als dem Bewußtsein« (»Der Idealismus«, 39).
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3. Die Rückkehr in die Höhle Platons: Der ontologische Beweis
Sartre hat nun »den Standpunkt einer ontologisch fundierten Phänomenologie erreicht«.60
3. 6. Die Beschreibung des Seinsphänomens und der Dualismus von Für-sich und An-sich Der nun folgende Abschnitt wendet sich Sartres Beschreibung des Seinsphänomens zu und thematisiert den Dualismus zwischen dem Sein des Bewußtseins (Für-sich) und dem Sein des Phänomens (An-sich), der das Resultat der ontologischen Fundierung der Phänomenologie in der Einleitung von Das Sein und das Nichts ist. Im sechsten Abschnitt der Einleitung unternimmt Sartre eine »Aufklärung des Sinns des An-sich-seins« (SN 39) auf der Grundlage einer Beschreibung des Seinsphänomens.61 Das Seinsphänomen erscheint, sobald das Sein des Phänomens »auf den Sinn dieses Seins« (SN 38) hin in den Blick genommen wird. Der ontologische Beweis soll dabei als Rechtsgrund für alle Einsichten fungieren, die aus dem Seinsphänomen gewonnen werden.62 Im Unterschied zum Roman Der Ekel gilt »diese Aufklärung des Sinns des Seins nur für das Sein des Phänomens« (SN 38) und nicht für das Sein des Bewußtseins. Das Sein, so erklärt Sartre, ist ohne Bezug zu sich; es ist mit sich selbst angefüllt. Dies soll die Formel zum Ausdruck bringen: »(D)as Sein ist an sich« (SN 42). An dieser Stelle meint ›An-sich-sein‹ offenbar nicht mehr Selbständigkeit oder Unabhängigkeit in bezug auf die erkennende Subjektivität, sondern ›innere Undifferenziertheit‹: »Tatsächlich ist das Sein sich selbst opak, eben weil es von sich selbst erfüllt ist« (SN 42). Diesen Sachverhalt artikuliert auch die zweite Formel: »(D)as Sein ist das, was es ist« (SN 42). Das Identitätsprinzip der analytischen Urteile wird regionalontologisch auf das Sein der Phänomene beschränkt, bzw. es wird »ein regionales synthetisches Prinzip des Seins«, das die »Opazität des 60
Damast, ebd., 269. Hartmann bezeichnet Sartres Ontologie als »Ontologie der Intentionalität« (ebd., 33, 113). Thyssen würdigt in seinem Aufsatz »Vom Gegebenen zum Realen« Sartres Ansatz zunächst als »die durchgeführteste existenzphilosophische Erkenntnismetaphysik« (ebd., 171); rätselhaft bleibt hier jedoch nicht allein die Qualifizierung als »fortgeschrittenste Form einer nichtrealistischen [? – Hinzufüg. J. B.] Erkenntnistheorie« (ebd., 72), sondern auch der kritische Einwand, daß »in der Sartreschen Auffassung kein echtes Begegnen mit selbständigen Nichtichen« stattfinde, da alles »in gleicher Weise in die Apriorität des Für-sich hineingezogen« sei (ebd., 163). Im übrigen ist auch völlig unverständlich, warum Thyssen, der sich primär für den Übergang vom Gegebenen zum Realen interessiert, mit keinem einzigen Wort den ontologischen Beweis thematisiert. 61 Vgl. Hartmann, ebd., 16. 62 Vgl. G. Seels berechtigten Hinweis: »Das im Seinsphänomen unmittelbar Gegebene wäre schon am Beginn der Erörterung fixierbar gewesen; dazu hätte es keines ›ontologischen Beweises‹ bedurft« (ebd., 83 Fußn. 10).
Die Beschreibung des Seinsphänomens
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An-sich-seins« (SN 43, 165) hervorhebt.63 Es ist eine »volle Seinspositivität«, in der jede Alterität oder Veränderung undenkbar ist: Insofern es sich darin erschöpft, es selbst zu sein, gibt es weder Innen noch Außen, kein Werden und keine Zeitlichkeit innerhalb des Bereichs des An-sich-sein (vgl. SN 43). Das dritte Merkmal lautet: »(D)as An-sich-sein ist« (SN 43). Damit hebt Sartre den kontingenten Charakter des Seins hervor. Notwendigkeit gibt es ausschließlich innerhalb der »Verbindung der ideellen Aussagen« (SN 44): »Das äußert das Bewußtsein – in anthropomorphen Begriffen –, wenn es sagt, das Sein sei zu viel (de trop), das heißt, daß es das Sein absolut von nichts ableiten kann, weder von einem anderen Sein noch von einem Möglichen, noch von einem notwendigen Gesetz«. Pointiert fügt Sartre hinzu: »Ungeschaffen, ohne Seinsgrund, ohne irgendeinen Bezug zu einem anderen Sein, ist das Ansich-sein zu viel für alle Ewigkeit« (SN 44).64 Dies sind die drei Merkmale des Seins der Phänomene, die die »vorläufige Untersuchung« (SN 44) des Seinsphänomens zutage bringt.65 Infolge der vorherigen Betrachtungen lassen sich »zwei absolut voneinander getrennte Seinsbereiche« (SN 39) unterscheiden: »das Sein des präreflexiven Cogito und das Sein des Phänomens« (SN 39).66 Mit dem Hinweis darauf, daß das Sein des Phänomens keinen kausalen Einfluß auf das Bewußtsein ausübt, will Sartre den Realismus abwehren, während die Unabhängigkeit des Seins gegenüber dem Bewußtsein eine antiidealistische Stoßrichtung verfolgt (vgl. SN 322). Handelt es sich also wirklich um »zwei geschlossene Totalitäten ohne mögliche Kommunikation« (SN 40)? Über die Lösung dieses Problems, welche »jenseits von Realismus und Idealismus« (SN 40) gesucht werden muß, geben die ›Schlußfolgerungen‹ von Das Sein und das Nichts nähere Auskunft: Sartre fragt sich hier selbst, ob er nicht »in einen 63
In diesem Zusammenhang erwähnt Sartre erstmals die Formel, die für das Bewußtsein geltend gemacht wird: Das Für-sich ist nicht, was es ist, und ist, was es nicht ist (vgl. SN 42 u. passim). Siehe zur regionalen Beschränkung des Identitätsprinzips auch Betancourt, ebd., 62 f.; Flynn, Marxist existentialism, 6. 64 Die Kontingenz ist gerade die Kehrseite von Nichtableitbarkeit und Transphänomenalität (vgl. Lutz-Müller, ebd., 75). Die dritte Bestimmung des An-sich-seins ist jedoch auch für das Für-sich gültig (vgl. SN 173–181, 839 f.) und kann daher nicht als wesentliches Spezifikum des An-sich-seins in Anspruch genommen werden. 65 Vgl. zur Nähe zu Parmenides’ Seinsbegriff, auf die auch schon Hartmann (ebd., 35) und G. Seel (ebd., 83) hingewiesen haben: Fragm. 8, in: Capelle (Hg.), Die Vorsokratiker, 166–168. Vgl. auch Hegels Bestimmung des reinen Seins in der Wissenschaft der Logik: Die objektive Logik, 47; zum Verhältnis zwischen Sartre und Hegel siehe Hartmann, ebd., 35–38; G. Seel, ebd., 83–87; Lutz-Müller, ebd., 66. 66 Vgl. Flynn, »The role of the image in Sartre’s aesthetic«, 431: »Though Sartre shares Heidegger’s opposition to any two-substance ontology, he preserves a dualism of consciousness/thing by the simple expedient of making consciousness nonsubstantial and prepersonal while defining it functionally as the ›nihilation of being‹«.
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3. Die Rückkehr in die Höhle Platons: Der ontologische Beweis
unüberwindlichen Dualismus« (SN 1055) geraten ist. Allerdings erscheint dieser Dualismus – der wohl am häufigsten angeführte Kritikpunkt gegen Sartres Philosophie – weniger schroff, wenn man sich vor Augen hält, daß die Ablehnung jeglicher Substanzialität sowie die ontologische Deutung der Intentionalität das Für-sich-sein ausschließlich als Beziehung zum An-sich-sein bestimmen. Wenn das Bewußtsein nichts als Enthüllung des Seins ist, dann ist es paradoxerweise zwar absolut und unreduzierbar,67 zugleich aber auch vollkommen abhängig vom Sein. »Es wurde nicht negativ die Unabhängigkeit des Seins der Weltphänomene vom Bewußtsein bewiesen, sondern positiv die Abhängigkeit des Bewußtseins von einem fundierenden Sein, das es nicht selbst ist«.68 So kann in diesem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis das Fürsich nur in Bezug auf das An-sich gedacht werden, aber das An-sich selbst »bedarf keines Für-sich, um zu sein« (SN 1063; vgl. SN 323).69 Das Für-sich ist in diesem Sinn ein Glied des dualen Verhältnisses und zugleich das duale Verhältnis selbst: »(D)as Für-sich und das An-sich sind durch eine synthetische Verbindung vereinigt, die nichts anderes ist als das Für-sich selbst« (SN 1055); anders gesagt: »Das Für-sich ist die Grundlage […] jeder Beziehung, es ist die Beziehung« (SN 635).70 Außerhalb dieser Beziehung zum An-sich hat das Für-sich keinerlei Realität: Gerade weil es keine »autonome Substanz« besitzt, weil es fundamental auf das andere seiner selbst, das An-sich, verweist, erübrigt sich die Frage, wie das Für-sich aus sich heraus zum An-sich gelangt. Im Vergleich hierzu ist Descartes’ res cogitans für Sartre eine »substantialistische Illusion« (SN 180). Die denkende Substanz ist nur ein An-sich, dem das Für-sich als »Attribut« (SN 180) zugehört. Tatsächlich ist das Für-sich »ursprünglich keine Substanz«, sondern ausschließlich die »Beziehung zu einem Draußen« (SN 326). Mit anderen Worten: »Wenn das Cogito notwendig aus sich herausführt, wenn das Bewußtsein ein schlüpfriger Abhang ist, auf dem man sich nicht niederlassen kann, ohne sofort nach draußen auf das An-sichsein zu rutschen, so deshalb, weil es als absolute Subjektivität durch es selbst
67
Es ist absolut, insofern die Beziehung zum An-sich selbst kein An-sich ist bzw. nicht von diesem determiniert sein kann. Darum ist das Für-sich paradoxerweise ein »›unselbständiges‹« bzw. ein »nicht-substantielles Absolutes« (SN 1058). 68 G. Seel, ebd., 26; vgl. Damast, ebd., 260, 264 f.; ; Frank, ebd., 43; Lutz-Müller, ebd., 69; Schuppener, ebd., 81. 69 Für das An-sich ist die Existenz des Für-sich unwesentlich und kontingent. Insofern keine wechselseitige Abhängigkeit vorliegt, ist die Versöhnung in einer Hegelschen Synthese ausgeschlossen (vgl. SN 197, Fußn.). 70 Vgl. Lutz-Müller, ebd., 75. Vgl. auch SN 1066 f.: »(I)ch bin sowohl eines der Glieder der Beziehung als auch die Beziehung selbst. Ich erfasse das Sein, ich bin Erfassen des Seins, ich bin nur Erfassen des Seins; und das Sein, das ich erfasse, stellt sich nicht gegen mich, um mich meinerseits zu erfassen; es ist das, was erfaßt wird. Nur fällt sein Sein keineswegs mit seinem Erfaßtwerden zusammen«.
Phänomenologische Reduktion als Zurückweisung
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keine Seinssuffizienz hat, es verweist zunächst auf das Ding«. Und außerhalb dieser »Notwendigkeit, enthüllende Intuition von etwas zu sein«, gibt es »kein Sein für das Bewußtsein« (SN 1056). Im Unterschied dazu kennt das An-sich-sein »keine Alterität: es setzt sich nie als anderes als ein anderes Sein; es kann keinerlei Bezug zu dem andern unterhalten« (SN 43). Insofern das Für-sich relativ zum Sein ist, kann zwar von einem »ontologischen Vorrang(s) des An-sich vor dem Für-sich« (SN 1058) gesprochen werden. Andererseits gibt es wiederum erst durch das Auftauchen des Für-sich das Sein: »Der Phänomencharakter geschieht dem Sein durch das Für-sich« (SN 1059), und dieses Ereignis stellt »eine totale Umwälzung« (SN 1056) des An-sich dar. Es wird zur »Welt« (SN 1056), d. h. die Enthüllung macht, »daß es Sein gibt, ich ziehe das Sein aus seiner Nacht« (WE 58). Auf diese Weise wird es »vermenschlicht und verweltlicht (T 431).71 Es ist also erforderlich, Welt und An-sich zu unterscheiden: Die Welt »ist das An-sich für das Für-sich« (T 431). Während das Für-sich als Intentionalität das Ansich voraussetzt, setzt die Phänomenalität des An-sich das Für-sich voraus. Das Sein ist also für seine Bestimmungen, jedoch nicht für sein Sein auf das Für-sich angewiesen.72 Es hat sich also gezeigt: An-sich und Für-sich stehen »nicht in Juxtaposition« (SN 1062) zueinander: »Ganz im Gegenteil, das Für-sich ist ohne das An-sich so etwas wie ein Abstraktum: es könnte ebensowenig existieren wie eine Farbe ohne Form oder ein Ton ohne Tonhöhe und Klangfarbe; ein Bewußtsein, das Bewußtsein von nichts wäre, wäre ein absolutes nichts [rien]« (SN 1062). Deshalb muß von einer »interne(n) Beziehung« zwischen Für-sich und An-sich ausgegangen werden. Ersteres existiert »in apriorischer Einheit mit dem An-sich« (SN 1062), durch das es sich erst »polarisiert und definiert« (SN 1062). Da das Für-sich wiederum macht, »daß es An-sich gibt« (SN 1063), besteht darüber hinaus eine Abhängigkeit des Phänomens vom Für-sich: »Das Phänomen An-sich ist ohne das Bewußtsein ein Abstraktum, nicht aber sein Sein« (SN 1063).73 Daher hat das Phänomen sowohl an der Dimension des An-sich wie an der des Für-sich Anteil (vgl. SN 1063). Diese Überlegungen sollen im fünften Kapitel angesichts der Frage nach Sartres Konstitutionsbegriff weiter vertieft werden.
71
Zu den Realisierungen des »Es gibt« gehören Weltlichkeit, Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Qualität, Quantität und Utensilität (vgl. SN 399). 72 Vgl. Lutz-Müller, ebd., 74. 73 Das Konkrete ist »die synthetische Totalität […], von der das Bewußtsein wie das Phänomen nur Artikulationen bilden« (SN 322 f.). In seiner Isolierung betrachtet ist das Bewußtsein ebenso »abstrakt« wie die Phänomene, »insofern sie als Phänomene nicht existieren können, ohne einem Bewußtsein zu erscheinen« (SN 323).
4. DIE DIFFERENZ VON WAHRNEHMUNG UND IMAGINATION ALS BEDINGUNG DER FREIHEITSKONZEPTION In den anschließenden Überlegungen soll gezeigt werden, daß der ontologische Beweis, der erst durch die Zurückweisung des subjektiven Idealismus die trennscharfe Unterscheidung von Imagination und Wahrnehmung garantieren soll, auf diese Weise auch die Voraussetzung von Sartres Freiheitskonzeption ist.1 So erscheint zwar die Freiheit in Das Imaginäre als Negation der Realität und hierdurch in eins auch als Möglichkeitsbedingung der Imagination, wenn Sartre erklärt, daß der Mensch nur imaginieren kann, weil er frei ist. Dennoch ist er nur frei, weil er auch wahrnehmen kann – d. h. nach Sartre: sich auf subjektunabhängige Entitäten beziehen kann, die ihre Existenz nicht dem Willen des Subjekts verdanken. Die Freiheit wäre für einen Menschen unmöglich, der ausschließlich in einer irrealen Welt lebte, deren esse sich auf das percipi reduzierte. Das Verhältnis von Freiheit und Situation soll nun in seinen Grundzügen, so weit es für die Fragestellung dieser Arbeit relevant ist, erörtert werden. Sartre versucht im vierten Teil von Das Sein und das Nichts eine nicht-idealistische Freiheitskonzeption zu entwickeln, die den grundlegenden Einsichten des ontologischen Beweises verpflichtet ist und erkennen läßt, daß das Für-sich nur frei ist, wenn es keinerlei göttliche Züge aufweist bzw. zu seinem intentionalen Gegenstand kein schöpferisches Verhältnis unterhält. Der wichtigste Einwand gegen die Freiheit beruht im allgemeinen darauf, so erklärt Sartre zu Beginn seiner Überlegungen, die Ohnmacht des Menschen geltend zu machen. So ist jedes einzelne Leben auch immer die »Geschichte eines Scheiterns« (SN 833): »Der Widrigkeitskoeffizient der Dinge«,2 schreibt Sartre,
1
Den Zusammenhang zwischen Sartres ontologischem Beweis bzw. der Widerlegung des subjektiven Idealismus und seinem Freiheitsbegriff hat auch schon Damast gesehen (ebd., 218). 2 Sartre übernimmt den Begriff ›Widrigkeitskoeffizient‹ von Bachelard, L’eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matière, Paris 1942, zit. n.. SN 574 f. Dieser Widerstand ist nach Ansicht des französischen Phänomenologen spezifisch für Wahrnehmungsobjekte und ausgeschlossen bei imaginären Objekten, die ihren Ursprung in der Subjektivität haben. Der Gedanke, daß gerade der Widerstand das erkenntnistheoretische Kriterium des Realsein ist, findet sich auch schon bei Dilthey, auf den Sartre allerdings nicht Bezug nimmt (vgl. »Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht«). Vgl. Danto, ebd., 59: »Dies, man bitte das zu beachten, ist ein traditionelles Kriterium der Realität […]. Was real ist, hängt nicht vom Willen ab«.
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4. Die Differenz von Wahrnehmung und Imagination
»ist so, daß es Jahre der Geduld bedarf, den geringsten Erfolg zu erreichen. Außerdem muß man ›der Natur gehorchen, um sie beherrschen zu können‹, das heißt, ich muß mein Handeln in die Maschen des Determinismus einfügen« (SN 833). Der Mensch wird bedingt »durch das Klima und das Land, die Rasse und die Klasse, die Sprache, die Geschichte der Kollektivität, der er angehört, die Vererbung, die individuellen Umstände seiner Kindheit, die angenommenen Gewohnheiten, die großen und kleinen Ereignisse seines Lebens« (SN 833).3 Kurz, es gibt die »Faktizität des Für-sich« (SN 832): Ich kann weder wählen, groß zu sein, wenn ich klein bin, oder körperlich unversehrt, wenn ich einarmig bin.4 Gäbe es diese Faktizität nicht, so »könnte das Bewußtsein seine Bindungen an die Welt wählen, so wie die Seelen im ›Staat‹ ihre Lebensweisen wählen«. Ich könnte also darüber entscheiden, »›als Arbeiter oder als Bürger geboren zu werden‹« (SN 179). Trotzdem ist der Widrigkeitskoeffizient der Dinge kein Argument gegen die Freiheit, denn er erscheint erst infolge der freien Setzung eines Zwecks: Der Felsblock, der zu schwer für mich ist, um ihn wegzuschieben, ist andererseits bestens dazu geeignet, um von ihm aus die Landschaft zu betrachten. Nicht die Dinge beschränken also die Freiheit, vielmehr bringt die Freiheit erst die Zwecke hervor, in bezug auf die die Dinge sich als nützlich oder hinderlich herausstellen können: »Wenn der Fels selbst sich als ›zu schwierig zu besteigen‹ enthüllt, und wenn wir auf die Besteigung verzichten müssen, so hat er sich ja nur deshalb als ein solcher enthüllt, weil er ursprünglich als ›besteigbar‹ aufgefaßt worden war; es ist also
»Die Realität dieser Tasse besteht darin, daß sie da ist und daß sie Ich nicht ist. Wir können das so wiedergeben, daß die Reihe ihrer Erscheinungen durch eine Regel verbunden ist, die nicht von meinem Gutdünken abhängt« (SN 12). Vgl. auch EH 206 f.: »Denn das Wirkliche ist das, was für eine Subjektivität undurchdringlich ist: es ist dieses Stück Zucker, von dem ich erwarte, wie Bergson sagt, das es sich auflöst, oder, wenn man lieber will, es ist der Zwang für ein Subjekt, eine derartige Erwartung zu leben«. An diesem Realitätsverständnis wird auch in neuerer Zeit noch festgehalten; siehe z. B. Lenk: »Realität wird also als sich sperrende ›primäre‹ Widerständigkeit gegen eine interpretationale Variierbarkeit aufgefaßt« (Interpretation und Realität, 18). 3 Nach Sartre können natürlich nur körperliche Eigenschaften vererbt werden; die Annahme von ererbten Charaktereigenschaften würde dem Grundgedanken seiner Philosophie, die die Existenz der Essenz vorausgehen läßt, widersprechen, vgl. vor allem auch SN, 4. Teil, 1. Kap., 1. Abschn. u. 2. Kap., 1. Abschn; wie der ontologische Beweis ist auch die Priorität der Existenz gegenüber der Essenz an eine atheistische Position gebunden, siehe hierzu vor allem EH 119 f. Der spätere Sartre gesteht der biologisch-physiologischen Faktizität allerdings einen größeren Raum zu, vgl. vor allem IF 1, 58 f.; KDV 575. 4 Vgl. SN 173: »(M)ein Freund Pierre ist, existiert; er ist, insofern er in einer Lage erscheint, die er nicht gewählt hat, insofern Pierre französischer Bürger von 1942 ist, Schmitt Berliner Arbeiter von 1870 war; er ist, insofern er in eine Welt geworfen ist, einer ›Situation‹ ausgeliefert ist, er ist, insofern er reine Kontingenz ist«.
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unsere Freiheit, die die Grenzen konstituiert, denen sie in der Folge begegnen wird« (SN 834; vgl. EH 207; KDV 89).5 So gibt es zwar ein »unnennbares und undenkbares Residuum« (SN 835), welches sich dem An-sich zuordnen läßt und besagt, »daß in einer durch unsere Freiheit erhellten Welt der eine Fels geeigneter für die Besteigung ist als der andere« (SN 835).6 Aber auch dieses Residuum stellt keine Grenze der Freiheit dar, sondern vielmehr soll es nach Sartre erst diesem »rohen An-sich als solchem« (SN 835) zu verdanken sein, daß die Freiheit »als Freiheit auftaucht« (SN 835) – der Einwand des ›gesunden Menschenverstandes‹ wird also umgekehrt.7 In diesen Ausführungen offenbart sich die trennscharfe Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Imagination als Voraussetzung des existentialistischen Freiheitsbegriffs: Insofern eine Handlung eine Realisierung einschließen kann, muß »a priori« (SN 835) eine Unterscheidung zwischen Entwurf und Realisierung eines Zwecks bestehen. Denn würde sich etwas allein schon dadurch realisieren, daß ich es plane, »dann steckte ich in einer Welt ähnlich der des Traumes, wo das Mögliche sich in keiner Weise mehr vom Realen unterscheidet« (SN 835):8 Wenn meine Ziele »durch rein willkürliches Wünschen erreicht werden könnten, wenn es genügte zu wünschen, um zu erhalten, und wenn keine definierten Regeln den Gebrauch der Utensilien bestimmten, könnte ich nie in mir den Wunsch vom Willen, das Erträumen vom Handeln, das Mögliche vom Wirklichen unterscheiden« (SN 579). Nimmt man an, daß die Konzeption die Realisation notwendig einschließt, so wird jeder Entwurf unmöglich (vgl. SN 579). Die Freiheit verschwindet, sobald »die Unterscheidung zwischen dem bloßen Wunsch, der Vorstellung, daß ich wählen könnte, und der Wahl beseitigt ist« (SN 835). Sartre nivelliert die Unterscheidung von Wählen und Handeln:9 Eine Wahl ohne Handlungsansatz wäre für ihn lediglich ein Wunsch. Realisiert sich der Gegenstand, sobald ich ihn konzipiere, ja, sobald er mir einfällt, dann kann ich ihn nicht wählen, sogar nicht einmal mehr wünschen. Hier ließe sich jene Fatalität auffinden, die nach Sartre für die Welt des Traumes kennzeichnend ist.10 Frei bin ich, wenn der gewählte Zweck »ein Gegenstand« ist, »der noch nicht existiert« (SN 835) bzw. der zukünftige Zustand 5
Vgl. Töllner, Sartres Ontologie und die Frage einer Ethik, 460; Betancourt, ebd., 234–
238. 6
Vgl. ganz ähnlich Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, 32. Vgl. Betancourt, ebd., 238. 8 In diesem Fall wäre auch ein Scheitern des Entwurfs unmöglich. 9 Sartres Auffassung seines eigenen Freiheitsbegriffs steht also konträr zur kritischen Einschätzung, die Merleau-Ponty abgegeben hat: »Eine Freiheit dieser Art wird niemals zu dem, was sie tut. Sie ist niemals ein Tun« (Die Abenteuer der Dialektik, 237). 10 Die imaginäre Welt des Traumes ist »eine Welt ohne Freiheit: sie ist auch nicht determiniert, sie ist die Kehrseite der Freiheit, sie ist fatal« (Im 270). 7
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realer Dinge, die mich gegenwärtig von seiner Realisierung trennen. Möglichkeiten und damit Freiheit gibt es nur, wenn eine ontologische Autonomie der Realität bzw. der Vorrang des subjektunabhängigen An-sich vor dem Für-sich besteht. Das An-sich hebt die Freiheit nicht auf; »der Widrigkeitskoeffizient der Dinge und ihr Hindernis-Charakter (verbunden mit ihrem Utensil-Charakter)«11 ist ganz im Gegenteil »unentbehrlich« (SN 836) für die Freiheit. »Denn nur der Widerstand eines Realen erlaubt es, das, was möglich ist, von dem zu unterscheiden, was ist, und darüber hinaus zu entwerfen, was das Mögliche ist. Hier wie überall geht das Reale dem Möglichen voraus. Die Welt des Traums, die imaginär ist, erlaubt diese Unterscheidung nicht, denn im Traum erhält das, was konzipiert wird, von der Konzeption selbst eine geträumte Existenz« (T 218).12 Es gibt »in einer imaginären Welt keinen Traum von Möglichkeiten, da die Möglichkeiten eine reale Welt voraussetzen, von wo aus sie als Möglichkeiten gedacht werden« (Im 269). Paradoxerweise ist das träumende Bewußtsein ein »Opfer seiner Allmacht« (T 218), das nur aufwachen kann, wenn das Reale in seinen Traum einbricht: »Es ist die Welt, die das von seinen eigenen Träumen, von seiner totalen Freiheit durchdrungene Bewußtsein befreit« (T 219): Was für den Träumer gilt, der »durch seine absolute Macht gefesselt« (T 218) ist, trifft nach Sartre letztlich auch auf Gott zu, für den es, wie im vorherigen Kapitel deutlich wurde, aufgrund der creatio continua keine seinsunabhängigen Gegenstände – also auch keine Wahrnehmung – geben kann: Wenn einem göttlichen Geist »die bloße Konzeption genügt, um intuitiv den Gegenstand zu erzeugen, wenn er auf keinen Trägheitswiderstand stößt, wenn zwischen Konzeption und Verwirklichung kein zeitlicher Abstand liegt, dann träumt Gott« (T 218 f.). Insofern er gleich dem Träumer in seiner fatalistischen Welt unverzüglich realisieren muß, was er konzipiert, kommt »(d)ie göttliche Allmacht […] einer totalen Knechtschaft gleich« (T 219).13 Sartre will damit 11
Wenn Sartre von der Utensilität der Dinge spricht (vgl. vor allem SN 369–372), so wird hier natürlich der Einfluß Heideggers deutlich; vgl. zu Zeug und Zuhandenheit: Heidegger, Sein und Zeit, §§ 15 f. 12 Vgl. zur Beschreibung der Möglichkeit auch SN 204: »Das Mögliche läßt sich […] nicht auf eine subjektive Realität reduzieren. Es geht auch nicht dem Realen oder dem Wahren voraus. Es ist vielmehr eine konkrete Eigenschaft schon existierender Realitäten. Damit der Regen möglich ist, muß es Wolken am Himmel geben«. Das Mögliche kommt erst durch das Auftauchen des Für-sich in die Welt, aber es offenbart sich als Korrelat des Engagements an den Dingen selbst. Deshalb ist es ein Irrweg, wenn der wissenschaftliche Blick aus den Möglichkeiten »die reinen subjektiven Ergebnisse unserer logischen Berechnung und unserer Unwissenheit« (vgl. SN 204, 365, 370) macht. Die Möglichkeiten sind ursprünglich gerade nicht das Denken der Möglichkeiten, sondern objektive Strukturen der Dinge, die uns unser Engagement widerspiegeln: »das zu-trinkende-Getränk, die-zuleistende-Hilfe, der zu-vernichtende-Schädling usw.« (SN 309). 13 Vgl. T 219: »Sollte ein Geist mir die Macht verleihen, meine Wünsche sofort zu er-
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offensichtlich sagen, daß Gott nicht frei ist, weil er in einem permanenten Traumzustand gefangen ist. Daraus ergibt sich: Nur ein endliches Bewußtsein (d. h. ein solches, dem unabhängige Dinge gegenüberstehen) ist imstande, wahrzunehmen, und nur ein solches Bewußtsein, für das eine »unmittelbare Verwirklichung« seiner Entwürfe daher »unmöglich« (T 219) ist, kann frei genannt werden.14 Der freie Entwurf impliziert den Widerstand »als das Prinzip seiner Natur« (T 219). Insofern der »Abstand zwischen dem Ziel und der Konzeption des Zieles« notwendig ist, kann es Freiheit nur geben, »wenn die ganze Welt sich zwischen mein Bewußtsein und seine Zwecke schiebt« (T 219).15 Wenn der Zweck die Mittel hervorbrächte, so daß diese »nur durch den Zweck und für den Zweck existierten« (WE 128) und sich demnach, wie es so häufig ersehnt wird, durch eine rückhaltlose Gefügigkeit auszeichneten, so hätten sie wie das imaginäre Objekt in der Quasi-Beobachtung nur die Beziehungen zur Welt, die der Zweck ihnen vorschriebe. Ein Widerstand wäre undenkbar, insofern eben der Zweck nicht lediglich die Seienden in ihrer Mitteltauglichkeit erhellen würde, sondern seine Mittel schöpferisch »ex nihilo« (WE 129) hervorbrächte: »Wenn es jedoch genügt, ihn [den Zweck – Anm. J. B.] zu entwerfen, damit er sich verwirklicht, bedeutet das, daß wir im Reich des Wünschens sind, oder auch der Einbildungskraft. Nicht der Arbeit« (WE 129). Das Begehren bringt hier notwendig die Wahl mit sich und der bloße Einfall fällt mit der Realisierung zusammen. Wenn ich jedoch weder entscheiden kann, zu verzichten, die Realisierung aufzuschieben oder ein besseres Mittel zu verwenden, wird die Möglichkeit grundsätzlich »unmöglich«: »Ich bin dazu verurteilt, die Verwirklichung dessen zu sehen, was ich denke, kurz gesagt, ich gehe von der freien zur gefesselten Welt des Traums über: wenn es genügt, daß ein Mögliches als möglich konzipiert wird, damit es wirklich wird, dann gibt es keine Unterscheidung mehr zwischen möglich und wirklich; wir befinden uns in einer Welt, wo ein Mögliches schicksalhaft wirklich ist und wo umgekehrt die Wirklichkeit immer auf der Ebene des Möglichen bleibt« (WE 129 f.). füllen, dann schlafe ich ein, da ich sie nicht auf Distanz halten, nicht verhindern kann, daß sie in Erfüllung gehen. Das haben alle Märchenerzähler dunkel geahnt, die uns tragisch endende Geschichten über erfüllte Wünsche erzählen«. Die Behauptung, daß Gott in einer imaginären Welt lebt, hat für Damast »selbstverständlich nur illustrativen Wert. Sachlich gesehen macht sie keinen Sinn, weil der Begriff der ›Einbildung‹ seine Bedeutung ja gerade aus dem Gegensatz zur ›Wahrnehmung‹ gewinnt« (ebd., 219, Fußn. 25). 14 Sehr emphatisch erklärt Sartre in der Mallarmé-Studie: »(S)ich erfahren, sich aufs Spiel setzen, sich durch Entdeckung der Dinge entdecken, sich durch Veränderung der Welt verändern, das ist leben. Was gibt es Besseres? Ich würde es ablehnen, ein Gott zu sein, wenn man es mir vorschlüge« (M 126). 15 Vgl. Damast, ebd., 219.
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Hier sind natürlich Zweifel angebracht. Der weltflüchtige Tagträumer beabsichtigt zwar, dasjenige wahr werden zu lassen, was er sich wünscht, bedeutet dies aber auch, daß er jene Möglichkeiten eintreten läßt, die er befürchtet? Eine solche These mag für den Teilbereich des Traumes eines schlafenden Menschen noch zutreffend sein, übertragen auf den Gesamtbereich des Imaginären mutet sie eher kontraintuitiv an. Sartres Argument funktioniert nur, wenn einerseits zwischen Erwägung/Konzeption und Wunsch nicht unterschieden wird, beide Begriffe dem der Wahl entgegensetzt sind und man andererseits annimmt, ein absolutes Subjekt16 müsse zwanghaft wie der Träumer alles realisieren, was ihm in den Sinn kommt. Für den Freiheitsbegriff aus Das Sein und das Nichts ist nun weiterhin der Umstand wesentlich, daß frei zu sein keineswegs bedeutet, immer zu erreichen, was man gewollt hat, vielmehr versteht Sartre Freiheit als »Autonomie der Wahl« (SN 836). Frei sein heißt, »›sich dazu bestimmen, durch sich selbst zu wollen‹« (SN 836) – der Erfolg ist bei einer solchen Definition also kein Kriterium. Allerdings muß hierbei immer berücksichtigt bleiben, daß sich die Wahl nur dann von Wunsch und Traum unterscheiden kann, wenn sie einen »Realisierungsbeginn« (SN 837) einschließt. In diesem Sinne wird auch noch in Der Idiot der Familie hervorgehoben, daß der Haß ohne Handlungsansatz »nur ein Haßtraum« ist (IF 1, 251, vgl. auch IF 1, 255 f.). Zwar ist, wie Sartre erklärt, selbst der Sklave in Ketten noch frei (vgl. SN 837), aber hierbei will er seinen Freiheitsbegriff deutlich in Abgrenzung von der ›inneren Freiheit‹ z. B. der Stoiker oder Bergsons verstanden wissen, welche die »Unabhängigkeit des inneren Lebens und des Herzens« angesichts äußerlicher Zwänge betont.17 In Was ist Literatur? moniert Sartre in ideologiekritischer
16
Ein absolutes Subjekt wäre der Mensch in seiner Traumwelt oder Gott in der – für den Menschen – realen Welt. 17 Sartre versucht einen Freiheitsbegriff zu entwickeln, auf den Marcuses Kritik des bürgerlichen Freiheitsbegriffs – die Sartre allerdings nicht gekannt haben dürfte – in dem frühen Essay »Über den affirmativen Charakter der Kultur« nicht zutreffen würde. Die Auffassung der inneren Freiheit kritisiert Sartre im Grunde auf ganz ähnliche Weise (siehe ausführlich EH 196–202) wie Marcuse die sogenannte ›intelligible Freiheit‹ (vgl. Marcuse, ebd., 91). Letzterer präsentiert hierbei – allerdings in einem etwas anderen Zusammenhang – eine Gegenüberstellung, die recht gut wiedergibt, worin Sartre den Unterschied zwischen der ›inneren Freiheit‹ und seiner eigenen Freiheitsauffassung sehen würde: »Die Person ist nun [in der affirmativen Kultur – Anm. J. B.] nicht mehr ein Sprungbrett für den Angriff auf die Welt, sondern eine geschützte Rückzugslinie hinter der Front« (ebd., 92). Die Betonung der Freiheit führt bei Sartre generell nicht zu einer Entmoralisierung von Unrechtsstrukturen: »(D)er Gefangene ist immer frei zu fliehen, allerdings riskiert er sein Leben, wenn er den Stacheldraht überwindet; ist sein Kerkermeister deshalb weniger schuldig?« (JF 82). Obwohl die Freiheit der Grundzug des menschlichen Daseins ist, wird die Forderung einer konkreten Befreiung keineswegs überflüssig: »Dennoch ist es dieser freie Mensch, der befreit werden muß durch Erweiterung seiner Wahlmöglichkeiten. In
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Absicht die Haltung jener unaufrichtigen Schriftsteller, die »sich ihre Komplizenschaft mit den Unterdrückern durch ihre Behauptung verhehlen, daß man auch in Ketten frei bleiben kann, wenn man Geschmack am Innenleben hat« (WiL 62). Natürlich weiß Sartre, daß der Gefangene nicht frei ist, sein Gefängnis jederzeit zu verlassen, und ebenso ist es für ihn selbstverständlich eine »belanglose Binsenweisheit« (SN 837), daß er seine Begnadigung oder seine Flucht wünschen kann. Anläßlich der Angriffe vor allem marxistischer Provenienz auf seinen Freiheitsbegriff antwortet Sartre in dem Artikel »Zum Existentialismus – eine Klarstellung«: »Man nennt uns Sozialverräter: mit diesem Freiheitsbegriff hindern Sie den Menschen, seine Ketten abzuschütteln. Was für ein Blödsinn! Wenn wir sagen, daß ein Arbeitsloser frei ist, so wollen wir damit nicht sagen, daß er tun und lassen kann, was er will, und sich augenblicklich in einen reichen und friedlichen Bürger verwandeln. Er ist frei, weil er immer wählen kann, ob er sein Los in Resignation hinnimmt oder sich dagegen auflehnt« (EH 96 f.).18 bestimmten Situationen ist nur für Alternativen Raum, deren eine der Tod ist. Wir müssen es so weit bringen, daß der Mensch unter allen Umständen das Leben wählen kann« (MD 168 f.). 18 Betancourts Kritik, Sartre bleibe auf der Stufe von Das Sein und das Nichts letztlich doch »in einer idealistischen Grundeinstellung gefangen«, zielt auf den Umstand, daß tatsächlich »keine Situation [denkbar ist], in der die Faktizität eine derartige Beschaffenheit hätte, daß sie die Freiheit des Fürsich aufzuheben vermag« (ebd., 267). Die Freiheit erscheint hier im Grunde unempfindlich gegenüber den historischen Gegebenheiten, bzw. die Transzendenz kann nicht durch die Faktizität geschwächt werden (vgl. hierzu besonders den politischen Aufsatz »Die Republik des Schweigens«, 37 f.). Die Frage stellt sich dann, ob Sartre nicht doch nur eine neue Variante der inneren Freiheit entwirft (vgl. Betancourt, ebd., 271; ganz ähnlich auch Merleau-Ponty, ebd., 176 f., 191 f.). Wie de Beauvoir bekennt, hielt sich Sartre durchaus in den dreißiger Jahren an »das Rezept der alten Stoiker« (ebd., 21): »(W)ir klammerten uns an das Bild der Kantschen Taube: die Luft, die ihr Widerstand leistet, hemmt nicht ihren Flug, sie trägt sie. Das Bestehende erschien uns als Werkstoff unserer Anstrengungen, nicht als ihre Voraussetzung: wir glaubten von nichts abhängig zu sein« (ebd., 17). Allerdings notiert Sartre bereits am 6. März 1940 in seinen Tagebüchern: »Verstanden habe ich, daß die Freiheit nichts mit dem stoischen Verzicht auf Liebe und Güter zu tun hat. Im Gegenteil, sie setzt eine tiefe Verwurzelung in der Welt voraus, und jenseits dieser Verwurzelung ist man frei« (T 524). Die Erklärung, daß der Mensch die Faktizität immer transzendiert, kann letztlich – zumindest auf der Textgrundlage des philosophischen Hauptwerks – auch einfach so gelesen werden, daß damit nicht gemeint ist, der Mensch könne sich immer von seiner Faktizität befreien, sondern er gebe ihr lediglich immer einen Sinn, den die Faktizität nicht determinieren könne. In der Kritik der dialektischen Vernunft erklärt Sartre, warum selbst die vollkommene Knechtschaft noch Freiheit voraussetzt: »(E)s trifft zu, daß selbst der Sklave in der schlimmsten Unterdrückung die Synthese des praktischen Feldes vollziehen kann und muß und sei es, um seinem Herrn besser zu gehorchen« (KDV 612, Fußn. 1). Vgl. auch ebd., 780: »Denn der Zwang schaltet die Freiheit nicht aus (außer durch Liquidierung der Unterdrückten). Er macht sie zu ihrer Komplizin, indem er ihr keinen anderen Ausweg als den Gehorsam läßt«. Eine weitere
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Freiheit in Sartres Sinne bedeutet, »daß er [der Gefangene – Anm. J. B.] immer frei ist, auszubrechen zu versuchen (oder sich befreien zu lassen) – das heißt, was auch seine Lage sein mag, er kann seinen Ausbruch entwerfen und sich selbst über den Wert seines Entwurfs durch einen Handlungsbeginn unterrichten« (SN 837).19 Der Sklave in Ketten ist »frei, sie zu zerbrechen; das bedeutet, daß eben der Sinn seiner Ketten ihm im Licht des Zwecks erscheint, den er gewählt hat: Sklave bleiben oder das Schlimmste wagen, um sich von der Knechtschaft zu befreien« (SN 944):20 »Diese Freiheit darf man sich nicht als metaphysisches Vermögen der menschlichen ›Natur‹ vorstellen, sie ist auch weder ein Freibrief, zu tun und zu lassen, was man will, noch irgendeine innere Zuflucht, die uns auch in Ketten erhalten bliebe« (MD 167 f.). In diesem Zusammenhang zeigt sich einmal mehr die grundlegende Bedeutung der Faktizität, insofern »die Reichtümer und das Lebensniveau des Herrn« (SN 944) keineswegs die Gegenstände der Entwürfe des Sklaven sind; vom Besitz des Herrn kann er nur träumen: »(S)eine Faktizität ist so, daß die Welt ihm mit einem anderen Gesicht erscheint und daß er andere Probleme zu stellen und zu lösen hat; vor allem muß er sich grundlegend auf dem Gebiet Passage liest sich dagegen wie eine Revision der soeben erörterten Passage aus Das Sein und das Nichts: »Man unterstelle uns vor allem nicht die Behauptung, daß der Mensch in allen Situationen frei sei, wie es die Stoiker behaupteten. Wir wollen genau das Gegenteil sagen: nämlich daß alle Menschen Sklaven sind […]. Das heißt, daß jeder Mensch gegen eine Ordnung kämpft, die ihn real und materiell in seinem Körper aufreibt und die er durch eben den Kampf, den er individuell gegen sie führt, zu erhalten und zu verstärken hilft« (KDV 354). Wenn das Individuum seine Realität verbessert, so hat es nur das präformierte Sein »unter geringfügig anderen Umständen verwirklicht« (KDV 352): »Irgendein Arbeiter verläßt eine Fabrik, in der die Arbeitsbedingungen schlecht sind, um in eine andere zu gehen, wo sie etwas besser sind. Er bestimmt damit nur die Grenzen, zwischen denen sein Status einige Variationen zuläßt (die selbst von den allgemeinen Produktionsbedingungen herrühren: Bedarf an Arbeitskräften, Lohnerhöhung in einem bestimmten Sektor usw.), aber er bestätigt gerade dadurch sein allgemeines Schicksal als das eines Ausgebeuteten […]. Der Arbeiter kann also die Aktualisierung des Urteilsspruchs variieren, aber ihn nicht überschreiten« (KDV 353). In der Genet-Studie heißt es lapidar: »(D)er Gefangene ist nur noch ein Ding, das vom Menschen träumt« (SG 297). 19 Etwas polemisch könnte allerdings die Frage an Sartre gerichtet werden, warum der Sklave lieber sein Leben aufs Spiel setzen sollte als seine ›innere Freiheit‹ zu genießen. S. a. die kritischen Bemerkungen Merleau-Pontys, ebd., 236–238. 20 Selbst angesichts des Zwangs durch Folter, die für den Widerstandskämpfer Sartre zur Zeit der Abfassung von Das Sein und das Nichts eine reale Gefahr darstellte, muß seiner Ansicht nach die Kapitulation aufgrund der Schmerzen bzw. »die Unmöglichkeit, in der bestimmten Richtung weiterzumachen, frei konstituiert werden« (SN 873). In Sartres Theaterstück Die Fliegen äußert sich Ägist besorgt über Orest, der das Bewußtsein seiner Freiheit gewonnen hat: »Er weiß, daß er frei ist. Dann genügt es nicht, ihn in Ketten zu legen. Ein freier Mensch in einer Stadt ist wie ein räudiges Schaf in einer Herde. Er wird mein ganzes Königreich verseuchen und mein Werk zerstören. Allmächtiger Gott, worauf wartest du, um ihn zu zerschmettern?« (Die Fliegen, 163).
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der Sklaverei wählen und gerade dadurch diesem dunklen Zwang einen Sinn geben« (SN 944). Der Entwurf ist demnach auch dadurch von der Träumerei unterschieden, als er sich auf Möglichkeiten und Handlungsalternativen bezieht, die sich unmittelbar aus meiner Situation ergeben und deshalb auch einen Realisierungsansatz nicht ausschließen.21 Sartre bestimmt die Freiheit als »Bezug zum Gegebenen« (SN 841). Insofern jedes Mögliche »immer nur die Veränderung einer gegebenen Situation« (T 219) ist, erscheint die Freiheit als »ein minderes Sein, das das Sein voraussetzt, um sich ihm entziehen zu können« (SN 840). »(M)an bricht nicht aus einer Kerker aus, in dem man nicht eingesperrt war« (SN 841). Die Freiheit ist also schon beim frühen Sartre Engagement und Befreiung und kein kontemplatives Überfliegen oder ein ›freies Innenleben‹. Sie ist keine unverbindliche Träumerei, sondern »Anspruch auf Wagnis« (WE 130). In der Schrift Wahrheit und Existenz fügt Sartre jedoch hinzu, daß andererseits auch eine absolut feindliche Welt, die die Realisierung meiner Entwürfe unerbittlich verweigert, nur »einen verschwommenen Traum von Möglichem« und »nicht mal einen vorstellbaren Zweck« (WE 130) zuließe: »Wenn die Wirklichkeit immer günstig ist, wenn sie immer feindselig ist, gibt es nur noch den Traum« (WE 130). Hier zeichnet sich ein Paradigmenwechsel des Imaginationsverständnisses ab, insofern als die transphänomenale Welt zum »Traum« wird, wenn das Handeln des Menschen sich als unmöglich erweist. Irrealisierung liegt nicht nur in den Fällen vor, in denen Objekte intendiert werden, die sich auf den Akt des Intendierens reduzieren, sondern auch dann, wenn der Mensch zwar reale, d. h. transphänomenale Objekte intendiert, aber seine Handlungsdimension blockiert ist. Das Imaginäre steht hier nicht wie bisher im Gegensatz zur Wahrnehmung, sondern zur menschlichen Praxis. Dieses neue Verständnis erhält im späteren Werk zunehmend an Gewicht und führt zu erheblichen Widersprüchen und Unklarheiten, da Sartre niemals explizit deutlich macht, daß sein Imaginationsverständnis spätestens von Was ist Literatur? an äquivok ist. In den späteren Kapiteln dieser Arbeit soll die Weiterentwicklung des Imaginationsbegriffs, die Sartre sozusagen unter der Hand vornimmt, ausführlich expliziert werden.
21
Anders gesagt, die gegenwärtige Situation entscheidet darüber, welche Option Entwurf und welche Träumerei ist. Sartre will offenbar darauf hinaus, daß ich erst dann entwerfen könnte, mir den Besitz des Herrn anzueignen, wenn mir die Befreiung geglückt ist. Eine allzu weit entfernte Zielperspektive, die durch keine momentan mögliche Umgestaltung der Faktizität eingeholt werden kann, überläßt mich dem Bereich des Imaginären.
5. REALISMUS UND KONSTITUTION
Im folgenden soll nun überprüft werden, ob Bubners Kritik zutreffend ist, Sartre falle durch die Durchführung des ontologischen Beweises in der Einleitung von Das Sein und das Nichts hinter den phänomenologischen Forschungsstand in einen naiven Realismus zurück.1 Als Ausgangspunkt sei hier die ursprünglich von Gurwitsch unter Rückgriff auf gestaltpsychologische Erkenntnisse formulierte Kritik der Konstanzhypothese gewählt. Mit dieser Zurückweisung der postulierten Konstanz zwischen physikalisch meßbarem Reiz und Phänomen, der sich auch Merleau-Ponty und Waldenfels angeschlossen haben, ist im Grunde auch der Realismus bzw. das An-sich-sein der Wirklichkeit in Frage gestellt.2 Die Aufgabe besteht darin zu zeigen, daß Sartres Position eine zunächst widersprüchlich anmutende Zwischenstellung einnimmt, insofern er zwar die Subjektunabhängigkeit des Seins betont, andererseits aber dennoch davon ausgeht, daß das Phänomen ein Produkt konstitutiver Vollzüge ist und es prinzipiell unmöglich ist, das ›rohe An-sich‹ unabhängig von jeder Deutung zu erfassen. Husserl unterscheidet innerhalb der Wahrnehmung die Empfindungsmaterie, d. h. die visuellen, auditiven, taktilen usw. Sinneseindrücke von den Intentionen bzw. den Noesen, die jene erfassen, deuten und apperzipieren und auf diese Weise das Wahrnehmungsnoema konstituieren: »Ich sehe ein Ding, z. B. diese Schachtel, ich sehe nicht meine Empfindungen«.3 So können wir unterschiedliche Empfindungen haben und doch denselben Gegenstand wahrnehmen (z. B. derselbe Baum wird einmal von vorne und dann wieder von hinten gesehen) oder umgekehrt eine unterschiedliche Wahrnehmung bei identischer Empfindung erhalten (z. B. sehe ich dort nur unverständliche Striche, wo ein anderer Bedeutungen erkennt, weil er die chinesischen Schriftzeichen lesen kann).4 Husserls dualistische Wahrnehmungstheorie hält also an der Identität der Sinnesdaten gegenüber wechselnden apperzeptiven Deutungen – und damit an der Konstanzhypo1
Siehe Bubner, Phänomenologie, Reflexion und Cartesianische Existenz, 34–38. Vgl. Gurwitsch, »Phänomenologie der Thematik und des reinen Ich«, 297: »Mit der Aufhebung der ›Konstanzannahme‹ ist, wenn man die Thesen der Gestalttheorie in erkenntnistheoretischer Intention weiterdenkt, nicht nur die Welt der Reize, die Dingwelt, aufgegeben, sondern m. E. darüber hinaus die ganze Sphäre des Transzendenten, der gesamte Bestand an Objektivitäten, mit denen man es in ›natürlicher Einstellung‹ zu tun hat«; s. a. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 50, 70. 3 Husserl, V. Logische Untersuchung, 396. 4 Vgl. Husserl, ebd., § 14. 2
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5. Realismus und Konstitution
these – fest.5 Demgegenüber zeigen die Experimente der Gestaltpsychologie,6 daß es keine selbständige hyletische Schicht gegenüber der ›höheren Schicht‹ des Noemas gibt: »Es ist nicht so, daß eine Summe von Tönen da ist, zu denen noch ein neues Element hinzukommt, die Melodie, und daß jeder dieser Töne genau so, wie er im melodischen Zusammenhang ist, auch außerhalb desselben, für sich genommen, da wäre; sondern was dieser Ton ist, bestimmt sich nach dem melodischen Zusammenhang, und nur innerhalb eines solchen Zusammenhangs ist er überhaupt da und das, was er ist. Der (objektiv) gleiche Ton ist als Ton der einer Melodie nicht das, was er als Ton einer anderen Melodie ist, und für sich genommen, außerhalb eines melodischen Zusammenhangs ist er wieder etwas anderes. […]. Das unmittelbar Gegebene, das phänomenologische Urmaterial, ist nur als gestaltet und strukturiert gegeben. Sinnlose Daten, Hyletisches im strengen Sinne, gibt es überhaupt nicht«.7 Daraus folgt für Gurwitsch, daß die Unterscheidung zwischen hyletischen und noematischen Schichten hinfällig wird und jederzeit nur ›beseelter Stoff‹ gegeben ist. Wenn ich auf das hyletische Material zurückgehe, so konstituiere ich lediglich ein neues Noema: »Jedes reelle Vorkommnis des Bewußtseins ist eine Noese, der als ihr intentionales Korrelat das zugehörige Noema entspricht«.8 In diesem Sinne gibt es auch für Waldenfels »keine absoluten, kontextunabhängigen Daten« gibt, »sondern wir bewegen uns in verschiedenen Kontexten, so daß die Dinge ihr Aussehen ändern«.9 Der Rückfall in einen naiven Objektivismus, den Bubner unterstellt, droht der phänomenologischen Ontologie Sartres vor allem dann, wenn sich feststellen läßt, daß sein epistemologischer Ansatz aufgrund seiner realistischen Grundzüge den Gedanken einer Konstitution der Wahrnehmung aufgeben muß. Im folgenden soll jedoch gezeigt werden, daß auch für Sartre das Ansich-sein bzw. die objektiven Dinge keineswegs am Anfang der Wahrneh5
Vgl. Gurwitsch, Das Bewußtseinsfeld, § 40. So hat z. B. Köhler nachgewiesen, daß Hühner nicht auf einen absoluten Reiz, sondern auf eine Relation zwischen einem hellerem und einem dunklerem Grau reagieren (vgl. Nachweis einfacher Strukturfunktionen beim Schimpansen und beim Haushuhn). Vgl. ferner das bekannte Beispiel von Müller-Lyer, bei dem zwei Linien, die objektiv gleich lang sind, durch Hinzufügung von Hilfslinien ungleich erscheinen oder Kippfiguren wie der Jastrowsche Hasen-Enten-Kopf, mit dem sich auch Wittgenstein beschäftigt (siehe Philosophische Untersuchungen, 520 ff.). 7 Gurwitsch, »Phänomenologie der Thematik und des reinen Ich«, 355 f. 8 Gurwitsch, ebd., 357. 9 Waldenfels, Das leibliche Selbst, 59 f. Einfache Daten stehen nicht am Ursprung der Wahrnehmung, sondern sind vielmehr das Resultat einer nachträglichen Abstraktion, siehe ebd., 62: »Anders als der Empirismus annimmt, steht am Anfang nicht das Einfache, sondern ein artikulierter Zusammenhang«. 6
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mung stehen. Wir erwerben nicht zunächst passiv ein bestimmtes Wahrnehmungsmaterial, das dann sozusagen in einem zweiten Schritt in einer aktiven Interpretation eine konstitutive Formung erfährt.10 Zunächst scheint jedoch Bubners Vorwurf insofern begründet als sich bereits in Das Imaginäre das imaginierende Bewußtsein als schöpferisch erfaßt, während das Wahrnehmungsbewußtsein seiner selbst als passiv inne wird (vgl. Im 32).11 Die Passivität der Wahrnehmung bedeutet allerdings nicht, daß die Erkenntnisinstanz im Falle der Wahrnehmung sinnliche Eindrücke ohne jegliche Eigenleistung passiv empfängt oder widerspiegelt, denn das An-sich kann, wie Sartre betont, »keineswegs auf das Bewußtsein einwirken« (SN 322). Jedoch ist das Bewußtsein außerstande zu entscheiden, ob dieser Baum vor ihm groß oder klein, belaubt oder kahl usw. ist, noch untersteht es generell seiner Willkür, was sich für Dinge in seinem Wahrnehmungsfeld präsentieren. Und hierin liegt für Sartre die Passivität des Wahrnehmungsbewußtseins. Nichtsdestotrotz ist das Phänomen von meinem Handlungsentwurf abhängig: »(I)ch kann nicht machen, daß diese Rinde nicht grün ist, aber es hängt von mir ab, ob ich sie als rauhes-Grün oder als grüne-Rauheit erfasse« (SN 350). Es hängt von mir ab, ob sich der Felsen als zu schwierig erweist, beiseite gerollt zu werden oder ob er sich als bestens geeignet erweist, um durch seine Besteigung die Landschaft zu bewundern. Das Erscheinen des Phänomens hat durchaus seinen Grund in den konstitutiven Vollzügen des Bewußtseins; diese Konstitutionsleistung besitzt jedoch zugleich ihr Korrektiv an dem An-sich-sein, welches sie entweder bestätigt oder widerlegt. Schon das Sehen ist »keine passive Betrachtung«, sondern ein »Handeln«. »Überzeugt, daß das Etwas ein Baum ist, erzeuge ich den Baum auf dem Etwas, so wie für Kant eine Linie wahrnehmen sie ziehen heißt. Das bedeutet, ich mime das Sehen des Baums, ich halte jedes Element des Sehens in einer Organisation von Baum fest. Ich erzeuge das, was ist. Wenn das Ansich sich als Baum sehen läßt, bedeutet das: es organisiert sich unter meinen Augen als solcher, es antwortet auf die Fragen, die mein Auge an es richtet, mein Bemühen, diese dunkle Masse ›als Äste zu sehen‹, ist von Erfolg gekrönt, und plötzlich entsteht eine Gestalt, die ich nicht mehr auflösen kann. So kann ich, wenn ich den Hut im Vexierbild gefunden habe, nichts 10
Die sog. ›Gefäßtheorie der Wahrnehmung‹, die sich bei Locke und letztlich auch bei Kant findet (vgl. Lenk, ebd., 29–31,48), geht davon aus, daß Inhalte zunächst passiv ›einströmen‹ und dann in der Folge vom Verstand – sozusagen erst im Übergang von der Perzeption zur Apperzeption – bearbeitet werden, während sowohl gestaltpsychologische als auch phänomenologische Ansätze die Position vertreten, daß bereits auf der Stufe der sinnlichen Wahrnehmung eine Organisation und Strukturierung stattfindet. 11 Waldenfels, bezieht sich wohl auf diese Stelle, wenn er in seiner Diskussion von Das Imaginäre Sartre »einen sehr stumpfen Realitätsbegriff« attestiert, der »den Deutungscharakter der Wahrnehmung zu wenig berücksichtigt« (Phänomenologie in Frankreich, 79).
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anderes mehr als den Hut sehen. Die in meinem Handeln aufgetauchte Gestalt erhebt sich plötzlich gegen mich, unzerstörbar« (WE 46).12 Das Sein ist eine »Antwort« und damit relativ zu den Fragen des Subjekts; zugleich ist es aber auch »autonom« und »unabhängig« (WE 46), insofern die Erkenntnis das Erzeugen eines Gegenstands ist, der unabhängig vom Erzeugen existiert. Mit anderen Worten, anders als das imaginierte Objekt kann das Sein es ablehnen, als Baum gesehen zu werden; es ist durchaus imstande, meinen Antizipationen zu widerstreiten. Immer antwortet das Sein auf Fragen – und auch sein Schweigen ist eine Antwort –, aber »es antwortet nur auf Fragen« (WE 47). Die Wahrheit des Objekts erscheint ausschließlich im Licht eines Entwurfs:13 »Der Entwurf wird also schrittweise komplizierter, der Zweck nähert sich und gliedert sich auf, die Fragen vervielfachen sich in dem Maß, wie die Sichten oder die Intuitionen sich vervielfachen. Die Gesamtheit der verifizierten Antworten des Objekts bilden seine Wahrheit: natürlich seine Wahrheit im Licht dieses Entwurfs. Andere Entwürfe würden gemeinsam mit den ersten Wahrheiten andere auftauchen lassen, denn das Objekt liefert keine anderen Wahrheiten als die, die ihm abgefragt werden (es kommt zwar vor, daß die Antwort über die Frage hinausgeht, doch das geschieht 12
Die Betonung des An-sich-sein versteht sich nicht nur als Korrektur an Husserls Reduktion des Seins auf das Phänomen, sie wendet sich letztlich auch gegen Heideggers Auffassung der Zuhandenheit als Seinsart des Zeugs (vgl. Sein und Zeit, 69, 71): »(W)as Heidegger nicht gesehen hat, ist, daß die Unendlichkeit der Welt überall über ihre Zuhandenheit hinausgeht« (T 114). Diese Aussage macht natürlich nur dann Sinn, wenn man annimmt, daß Sartre in den hier zitierten Tagebüchern ›Welt‹ noch im Sinne von Ansich-sein gebraucht. In Das Sein und das Nichts versteht er das Seiende als »Utensil-Ding« (SN 370), womit er einerseits Heideggers Ausführungen übernimmt, andererseits an der Nichtreduzierbarkeit des Seins auf die Wahrnehmung oder den ›besorgenden Umgang‹ festhält. Damit unterstellt er Heidegger im Grunde eine idealistische Auffassung des Zeugs: »(D)as Ding, insofern es in der ruhigen Seligkeit der Indifferenz ruht und zugleich von ihm zu erfüllende Aufgaben anzeigt, die ihm das ankündigen, was es zu sein hat, ist das Instrument oder das Utensil« (SN 369 f.). Darum ist das Ding »keineswegs zunächst Ding und danach erst Utensil; es ist keineswegs zunächst Utensil und enthüllt sich danach erst als Ding: es ist Utensil-Ding« (SN 370). Heidegger würde jedoch generell in Abrede stellen, daß »Zuhandenheit ontologisch in Vorhandenheit fundiert ist« (Sein und Zeit, 71). Ob dies als Kritik an Sartre sozusagen avant la lettre gelesen werden kann, hängt von der Frage ab, ob Heidegger mit ›Vorhandenheit‹ das Wahrnehmungskorrelat oder das subjekt-unabhängige An-sich-sein meint. Sartre würde sicher zustimmen, daß die Utensilität nicht in Wahrnehmung fundiert ist bzw. daß kein Primat der Wahrnehmung besteht (vgl. SN 366), aber für ihn setzen sowohl Wahrnehmung wie auch Handeln die ek-statische Beziehung des Für-sich zu einem subjektunabhängigen Sein, dem An-sich, voraus (vgl. SN 323). In seiner Diskussion der Intersubjektivitätstheorie Heideggers äußert Sartre ebenfalls den Idealismus-Vorwurf (vgl. SN 451 f.). 13 Vgl. EH 207: »Damit sich die Wirklichkeit enthülle, muß ein Mensch gegen sie kämpfen«.
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im Rahmen vorher festgelegter Fragestellungen; und in diesem Fall ist die Antwort eher der Hinweis auf neue zu stellende Fragen)« (WE 47 f.). Jede Handlung ist für Sartre eine Erkenntnis, so wie umgekehrt jede Erkenntnis einem Handlungsentwurf eingegliedert ist.14 Die Welt »kann sich nur in Handlungsentwürfen und durch sie enthüllen« (SN 571). Und dies gilt ebenfalls für das »Nur Verweilen bei der Wissenschaft« (WE 34), denn selbst wenn der wissenschaftliche Blick eine »Verweigerung praktischer Benutzung des Gegenstandes« bedeutet, schließt er dennoch Antizipationen (vgl. WE 34), zumindest den »Entwurf, zu entdecken«, ein (WE 35): »Der Physiker stellt eine Hypothese auf und stellt seine Versuchsanordnung zusammen. Wir sehen nichts, das wir nicht zunächst vorausgesehen haben« (WE 34). So ist in bestimmten Gesellschaftsformen »die Enthüllung der Wahrheit stillgelegt« (WE 42), solange die Tradition das Handeln fixiert. Und erst ein Aufbrechen des Traditionskreises würde neue Erfahrungen erlauben (vgl. WE 42): »Man kann einen Gegenstand unmittelbar betrachten, man wird ihn nicht sehen, wenn er nicht in einer Verhaltensperspektive gegeben ist« (WE 42). Wahrheit wird nicht empfangen, sie muß erarbeitet werden: »Weil das Kind nichts tut, weiß es nichts, und es lernt in dem Maß, wie es handelt« (WE 42). Wenn es der Entwurf ist, der die Dinge enthüllt, so vollzieht sich das Erhellen des Seins vom Nicht-Sein aus: »(I)ch verstehe den Zustand Frankreichs, meiner politischen Partei, meiner konfessionellen Gruppe, indem ich davon ausgehe, wie ich ihn gern hätte, wie ich entwerfe, ihn werden zu lassen. Anders gesagt, das Nicht-Sein greift unmittelbar als Struktur der Wahrheit oder Erhellen des Seins ein« (WE 42 f.).15 14
Wie bei Sartre ist auch bei Gehlen die Erkenntnis immer in Handlungszusammenhänge eingebettet: »Erkenntnis kann Phase der Handlung sein, sie kann vorgängig Motiv oder nachträglich Resultat der Handlung sein, sie kann sogar als eigene, funktionalisierte und selbstgenügsam gewordene Lebensform Ersatz der Handlung sein: bezogen auf diese bleibt sie immer« (Der Mensch, 186). So folgert auch ein aktueller Autor wie Lenk aus dem Forschungsstand der Quantentheorie: »Jedes Erkennen ist abhängig von Strukturkonstitutionen und Weltzugriffen im Sinne des handelnden und entwerfenden Wesens Mensch«. Darum ist das »Erkennen […] stets handlungsgebunden« (ebd., 247 u. 253). 15 Den Gedanke einer Enthüllung der Welt durch die Praxis hat Sartre nicht nur von Heideggers Sein und Zeit, vor allem § 15, übernommen, sondern er ist hierin auch von Saint-Exupérys Roman Wind, Sand und Sterne (frz. Terre des hommes) beeinflußt worden. Das Flugzeug erweist sich bei Saint-Exupéry als ein »Wahrnehmungsorgan« für den Piloten (vgl. WiL 183 f.; KDV 480 f.). Simone de Beauvoir erinnert sich in ihren Memoiren: »Sartre war sehr angetan, von Wind, Sand und Sterne von Saint-Exupéry, den er mit der Philosophie Heideggers in Verbindung brachte. Indem er die Welt des Fliegers beschreibt, überwindet auch Saint-Exupéry den Gegensatz zwischen Subjektivismus und Objektivität. Er zeigt, wie die verschiedenen Wahrheiten sich im Spiegel der verschiedenen Techniken enthüllen,
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Sobald das Für-sich auftaucht, präsentiert sich die Welt »als Anzeige auszuführender Handlungen«, die wiederum auf andere Handlungen verweisen usw. So erscheint die Welt »als Korrelat der Möglichkeiten, die ich bin«; sie ist »die riesige Skizze all meiner möglichen Handlungen« (SN 571) bzw. die »Skizze einer zukünftigen Welt« (SN 393). Letztere wird also »in ihrem gegenwärtigen Zustand nur von der Zukunft her erkannt« (T 220): »Die Optionen, das ist die reale Zukunft als Sinn meiner Gegenwart« (T 224).16 Wir nehmen wahr, um zu verändern, und wir entwerfen diese Veränderung ausgehend vom Wahrnehmungsobjekt (vgl. T 219). Dieser Zirkel ist für Sartre unhintergehbar. Ohne Handlungsentwurf kann es nach Sartre kein Phänomen geben, alles würde in der Nacht des undifferenzierten An-sich verbleiben: »Ein Fenster als geschlossen wahrzunehmen ist nur in einem Akt möglich, der über das Fenster die geregelte Möglichkeit, es zu öffnen, entwirft. Ohne diesen Akt wäre das Fenster weder geschlossen noch geöffnet: es wäre überhaupt nichts« (T 220).17 Ohne das Für-sich versinkt die Welt in der Indifferenz des An-sich bzw. bleibt sie »eine Fülle, die ist, was sie ist, ein dicker Brei«, denn erst durch die Freiheit »gibt es unterschiedliche Dinge, weil die Freiheit die Negation hineingetragen hat« (T 334). Und diese Negation ist die »kategoriale Rubrik, die die Anordnung und Aufteilung der großen Seinsmassen in Dinge leitet« (SN 83). Ohne das An-sich wird hingegen das Für-sich imaginär und seine Handlung zur Träumerei: »Aber umgekehrt könnte es ohne das gegenwärtige Geschlossensein des Fensters nur das nichtende Bild eines geöffneten Fensters geben oder – im Fall des magisch erfüllten Wunsches – das magische Auftauchen eines geöffneten Fensters, das nicht Ding wäre, da es keinen Widerstand leisten könnte (es wird nach meinem Belieben sich vernichten oder sich schließen), und das das Bewußtsein nicht von seiner Immanenz befreien kann« (T 220).18
die ihnen ihr Geheimnis nehmen, und wie dabei dennoch jede die ganze Realität ausdrückt, keine den anderen gegenüber einen Vorrang einnimmt. Er ließ uns in allen Einzelheiten an dieser Metamorphose der Erde und des Himmels teilnehmen, die ein Pilot am Steuer seiner Maschine erlebt. Es war die bestmögliche, konkreteste, überzeugendste Illustration zu Heideggers Thesen« (ebd., 372; vgl. auch ebd., 445). 16 Vgl. Lutz-Müller, ebd., 249. 17 Ohne das Für-sich, d. h. ohne das Bezugszentrum, das ich bin, würde die Welt verschwinden, insofern alle Verweise indifferent bzw. äquivalent würden: »Karthago ist ›delenda‹ für die Römer, aber ›servanda‹ für die Karthager. Ohne Beziehung zu diesen Zentren ist es nichts mehr, es erhält wieder die Indifferenz des An-sich, denn die beiden Gerundive heben sich auf« (SN 571). 18 Es wird allerdings nicht klar, was der Unterschied zwischen dem ›nichtenden Bild‹ und dem ›magischen Auftauchen‹ eines geöffneten Fensters sein soll.
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Die Eigenschaften der Dinge, die Sartre durch Gerundive zum Ausdruck bringt (das zu öffnende Fenster, die zu putzenden Fensterscheiben), sind Korrelate nicht-thetischer Entwürfe, aber sie geben sich als »Strukturen der Welt: Potentialitäten, Abwesenheiten, Utensilitäten« (SN 571).19 So enthält die Situation zwar universale Strukturen, dennoch muß sie »als das einzelne Gesicht begriffen werden, das die Welt uns zukehrt, als unsere einmalige und persönliche Chance« (SN 945; vgl. SN 192).20 In diesem Sinne ist jedes Faktum der Welt »nie« ein »rohes und an-sich Existierendes«, vielmehr erscheint es immer »als Motiv« (SN 843), als ergriffene oder verpaßte Gelegenheit, weil es durch einen Zweck erhellt wird. Die Situation ist, wie Sartre erklärt, ein »gemeinsames Produkt der Kontingenz des An-sich und der Freiheit« (SN 843); sie ist von doppeldeutigem Wesen, insofern als der Beitrag der Freiheit nicht vom dem des rohen Existierenden differenziert werden kann: »Daher ist es unmöglich, in jedem einzelnen Fall zu bestimmen, was der Freiheit und was dem rohen Sein des An-sich zukommt. Das Gegebene an sich als Widerstand oder als Hilfe enthüllt sich nur im Licht der ent-werfenden Freiheit« (SN 844).21 So wie nach Gurwitsch die Empfindungsdaten niemals ohne jegliche noematische Strukturierung und Organisation erfaßt werden können, so ist es nach Sartre unmöglich, das rohe An-sich jenseits aller Sinnstiftung durch die Handlungsentwürfe zu gewärtigen.22 Ebenso wie nach Gurwitsch Husserls 19
Vgl. Lutz-Müller, ebd., 194 f. Nach Sartre veranschaulicht Kafkas Parabel Vor dem Gesetz sehr gut, was unter der Situation zu verstehen ist. Die Antwort des Türhüters, auf die Frage des Mannes vom Lande, warum denn in all den Jahren niemand außer ihm Einlaß verlangt habe, lautet, daß der Eingang nur für den Mann vom Land bestimmt gewesen sei und nun – im Augenblick seines Todes – geschlossen werde (Sämtliche Erzählungen, 131 f.). Nach Sartre wäre die Antwort dahingehend zu ergänzen, »daß zudem jeder sich zu seinem eigenen Eingang macht« (SN 945). 21 »Diese Gesamtheit in der Welt mit ihrer doppelten umgekehrten Bestimmtheit – es gibt nur deshalb ein Schauspiel hinter der Tür zu sehen, weil ich eifersüchtig bin, aber meine Eifersucht ist nichts anderes außer der bloßen objektiven Tatsache, daß es hinter der Tür ein Schauspiel zu sehen gibt – nennen wir Situation. Diese Situation spiegelt mir zugleich meine Faktizität und meine Freiheit; anläßlich einer bestimmten objektiven Struktur der mich umgebenden Welt, weist sie mir meine Freiheit in Form von frei zu erledigenden Aufgaben zu« (SN 468 f.). Vgl. auch SN 326: »Selbst eine auf der Ebene des Unreflektierten erfaßte Freude ist nichts anderes als die ›gespiegelte‹ Anwesenheit bei einer heiteren und offenen Welt voller glücklicher Aussichten«. Sartre würde daher Scheler zustimmen, wenn dieser schreibt: »Und immer ordnet sich das praktisch Unwesentliche dem Wesentlichen schon in der Art der Gegebenheit selbst – nicht erst durch eine Wahl am Gegebenen – gleichsam automatisch unter« (Der Formalismus in der Ethik, 155; vgl. Schelers Milieutheorie: ebd., 153–162). 22 Entgegen der Konstanzhypothese gibt es keine wahrnehmbare Differenz zwischen einer ›neutralen Summe von Ereignissen‹ und einer ›Summe der Ereignisse in einer be20
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dualistische Schichtung der Wahrnehmung in Hyle und Noema obsolet ist, schließen Sartres Darlegungen auch eine dualistische Schichtung der Wahrnehmung in An-sich und Phänomen aus. Seine phänomenologische Ontologie stellt jegliche vorkonstitutive Gegebenheit einer bereits fertigen objektiven Welt in Abrede. So ist die Situation weder subjektiv noch objektiv. Das rohe An-sich wird in Freiheit qualifiziert, aber es läßt nicht jede Qualifizierung zu. Der Felsen, der sich im Licht meiner freien Wahl, ihn zu besteigen, als ›nicht besteigbar‹ enthüllt, erscheint erst aufgrund der Freiheit als ein Dieses vor dem Welthintergrund, aber meine Freiheit kann nicht wählen, »ob der zu besteigende Fels sich für die Besteigung eignet oder nicht« (SN 843 f.). Dies bleibt für Sartre der Anteil des An-sich, d. h. »des rohen Seins des Felsens« (SN 844). Es ist jedoch »unmöglich, a priori zu entscheiden, was beim Hindernischarakter eines einzelnen Existierenden dem rohen Existierenden und was der Freiheit zukommt. Denn was für mich Hindernis ist, wird es für einen anderen nicht sein« (SN 844). Ein absolutes Hindernis gibt es demnach für Sartre nicht: Der Fels wird keinerlei Hindernis darstellen, wenn ich auf jeden Fall den Aufstieg wagen will; er wird mich jedoch zum Aufgeben zwingen, wenn mir dieser Aufstieg nicht um jeden Preis wichtig ist (vgl. SN 844). Es ist also die Welt mit ihren Widrigkeitskoeffizienten, die mich über meine Zwecke und die Haltung zu ihnen unterrichtet. Aber ich werde niemals genau wissen, ob die Welt mich in dieser Situation eher über mich selbst (meine Willensstärke, meine Fähigkeiten, meine körperliche Verfassung usw.) oder über sich belehrt (ihre Widrigkeit, ihr Entgegenkommen, die Regeln ihrer Beherrschbarkeit usw.). Wenn ich den Felsen nicht zur Seite rollen kann, weiß ich nie genau, ob ich zu schwach bin oder der Felsen zu schwer ist.
stimmten Bedeutung‹. Sartre will vielmehr, wie auch Töllner feststellt, darauf hinaus, »daß das Vorhandene dem Für-sich nie als solches, quasi neutral, erscheint und erst dann eine Bedeutung erhält. Nein: das Vorhandene erscheint stets als durch die von dem Für-sich gewählten Ziele erhellt (éclairé) und steht als solches erneut in der Freiheit des Für-sich. Es ist jede Sekunde erneut in die Freiheit gestellt, aber nicht als etwas Neutrales, sondern als etwas schon durch vorherige Ziele erhelltes« (ebd., 462 f.; vgl. auch Danto, ebd., 91–95). Unvereinbar ist dieser Gedanke allerdings mit Sartres These, daß es ein Phänomen des Seins gebe, bzw. daß das An-sich selbst als Korrelat des Ekels erscheine (vgl. Im 303; SN 14, 597, 604, 606, 628 f. sowie Sartres Debütroman Der Ekel, vor allem 144–153). Denn das reine Sein bzw. das ›bloße Datum‹ könnte nur »außerhalb jeder Wahl« erfaßt werden, d. h. hierfür müßte das Für-sich aufhören ein Für-sich zu sein (vgl. SN 843). Das reine An-sich begegnet annäherungsweise nur durch radikalen Verzicht auf jegliches Handeln – so weit dies überhaupt möglich ist. Diese Überlegung soll an späterer Stelle erneut aufgegriffen werden, wenn Sartres zweiter Imaginationsbegriff – Imagination als Gegenpol zur Praxis – z. B. im Ausgang von der ästhetischen Einstellung erläutert wird.
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»Bei gleichem Wunsch nach einer Besteigung ist der Fels leicht zu besteigen für einen athletischen Bergsteiger, schwer für einen andern, einen schlecht trainierten Anfänger mit schwächlichen Körper. Aber der Körper enthüllt sich seinerseits nur in bezug auf eine freie Wahl als gut oder schlecht trainiert. Weil ich da bin und weil ich aus mir das gemacht habe, was ich bin, enthüllt der Fels in bezug auf meinen Körper einen Widrigkeitskoeffizienten. Für den Rechtsanwalt, der in der Stadt geblieben ist und der, den Körper unter seiner Anwaltsrobe verborgen, sein Plädoyer hält, ist der Fels weder schwer noch leicht zu besteigen: er ist in die Totalität ›Welt‹ eingeschmolzen, ohne im geringsten aus ihr herauszuragen« (SN 845). Es steht fest, daß der Felsen nur widerständig sein kann, wenn die Freiheit ihn in eine Situation integriert, »deren allgemeines Thema die Besteigung ist« (SN 844). Der kontemplative Spaziergänger erfaßt ihn als schön oder häßlich, aber nicht als besteigbar oder unbesteigbar.23 Solange ich geistigen Arbeiten nachgehe, keinerlei Sport treibe, wird sich mir mein Körper nicht als schwächlich enthüllen, weil es dann keinen Entwurf gibt, der ihn auf diese Weise qualifiziert, bzw. ihn als trainiert oder untrainiert entdeckt. In gewisser Hinsicht bin ich es also erst, der meinen Körper als schwächlichen wählt, wenn ich ihn mit Schwierigkeiten konfrontiere. Insofern wir Wahl sind und »sein für uns uns wählen« (SN 581) heißt, erscheint auch unserer eigener Körper immer nur im Lichte eines Entwurfs und niemals seine reine »Kontingenz […] als solche« (SN 581): »Selbst jene Behinderung, an der ich leide, habe ich eben damit, daß ich lebe, übernommen, ich überschreite sie auf meine eigenen Entwürfe hin, ich mache aus ihr das für mein Sein notwendige Hindernis, und ich kann nicht behindert sein, ohne mich als behindert zu wählen, das heißt, die Art zu wählen, in der ich meine Behinderung konstituiere (als ›unerträglich‹, ›demütigend‹, ›zu verheimlichen‹, ›allen zu offenbaren‹, ›Gegenstand des Stolzes‹, ›Rechtfertigung meiner Mißerfolge usw. usw.)« (SN 581). Die Faktizität der Freiheit bestimmt Sartre als »das Gegebene, das sie zu sein hat und das sie mit ihrem Entwurf erhellt« (SN 846). Hierzu zählt Sartre neben meinem Körper vor allem auch meine Vergangenheit, welche zwar meine gegenwärtigen Handlungen nicht determinieren, jedoch ihrerseits ebensowenig eliminiert wie willkürlich verändert werden kann: Die Vergangenheit ist »unabänderlich« (SN 856). Unveränderlich ist z. B. die Tatsache, daß ich mit fünf Jahren Keuchhusten gehabt habe (vgl. SN 859). Aber ich kann mich an diesen Keuchhusten immer nur im Rahmen eines Entwurfs erinnern, der seine Bedeutung konstituiert. Und es ist, wie Sartre betont, auch in diesem Fall ausgeschlossen, »die rohe unveränderliche Existenz von dem veränderlichen Sinn zu unterscheiden, den sie enthält« (SN 859). Wenn ich sage ›Ich 23
Vgl. Scheler, ebd., 159.
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habe mit fünf Jahren Keuchhusten gehabt‹, so greife ich auf den Kalender »als Markierungssystem meiner individuellen Existenz« (SN 859) zurück, und damit übernehme ich eine »ursprüngliche Position gegenüber dem Sozialen« (SN 859 f.): Dazu gehört der »entschiedene(n) Glaube(n) an die Beziehungen, die die Dritten aus meiner Kindheit machen – und das gewiß mit Respekt oder Zuneigung gegenüber meinen Eltern, die ihren [der Übernahme – Anm. J. B.] Sinn bildet« (SN 860): Sartre erklärt: »Die rohe Tatsache selbst ist: Aber was kann sie sein außerhalb der Zeugnisse Anderer, ihres Datums, der fachlichen Bezeichnung der Krankheit – der Gesamtheit von Bedeutungen, die von meinen Entwürfen abhängen?« (SN 860) Die rohe Existenz ist notwendig und unveränderlich, zugleich aber stellt dieses Faktum ein »ideale(s) und unzugängliche(s) Ziel einer systematischen Erklärung aller in eine Erinnerung eingeschlossenen Bedeutungen dar« (SN 860). Die Freiheit wählt ihren Zweck in bezug zu einer Vergangenheit, aber diese ist, was sie ist, nur in der Beziehung zum gewählten Zweck (vgl. SN 859). So ist auch das Faktum meiner Geburt niemals »roh«; ich bin verantwortlich für meine Geburt, da ich sie immer nur in einem freien Entwurf enthülle, der ihr einen Sinn verleiht: »(I)ch schäme mich, geboren zu sein, oder ich wundere mich darüber, oder ich freue mich darüber, oder ich behaupte, indem ich versuche, mir das Leben zu nehmen, daß ich dieses Leben als schlecht erlebe und annehme« (SN 954). Daraus zieht Sartre den Schluß: »Also wähle ich in gewissem Sinn, geboren zu sein« (SN 954; vgl. zum Faktum meiner Geburt auch SN 269–271). In all diesen Beschreibungen hat sich herausgestellt: Die Freiheit ist »Nichtungs- und Wahlvermögen und setzt damit die Faktizität voraus, aber ohne die Freiheit wäre die Faktizität nicht enthüllt und besäße keinerlei Sinn« (SN 856). Hier offenbart sich das »Paradox der Freiheit: es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch die Freiheit. Die menschliche-Realität begegnet überall Widerständen und Hindernissen, die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse haben Sinn nur in der freien Wahl und durch die freie Wahl, die die menschliche-Realität ist« (SN 845 f.).24 Die menschliche Situation setzt also nicht nur die Freiheit, sondern in demselben Maß auch das An-sich-sein voraus. Als Negation des An-sich würde sich die Freiheit »(o)hne dieses An-sich, das ich negiere«, schlichtweg »in Nichts
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In der französischen Übertragung von Heideggers Sein und Zeit wird ›Dasein‹ mit ›réalité-humaine‹ übersetzt. Sartre arbeitet nun mit diesem Begriff, und zwar auch dann, wenn nicht von Heidegger die Rede ist, ferner verwendet er ›Dasein‹ auf deutsch und ›êtrelà‹ in einem nicht Heideggerschen Sinn. T. König, der eine Neuübersetzung von L’être et le néant vorgenommen hat, ist daher zu dem Entschluß gekommen, ›réalité-humaine‹ nicht mit ›Dasein‹ zu rückübersetzen, sondern mit ›menschliche-Realität‹.
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auflösen« (SN 873). Sartre greift hier erneut auf das Fundament zurück, das der ontologische Beweis sichern sollte: »Wenn es nämlich Bewußtsein von etwas gibt, muß dieses ›etwas‹ ursprünglich ein reales, das heißt dem Bewußtsein nicht relatives Sein haben« (SN 873). Dies gilt auch für das Handeln: Insofern ich handle, bin ich auf Dinge angewiesen, deren Existenz von meinem Handeln »unabhängig« (SN 874) ist. Die Freiheit wählt, ja erschafft ihren Sinn, nicht aber ihr Sein.25 Die Frage, ob das Zu-schwer-sein des Felsens ein Ansich oder ein Phänomen ist, läßt sich folgendermaßen beantworten: Es ist ein An-sich, insofern es in einem Handlungsentwurf als Eigenschaft des Felsens erscheint, die sich meiner Willkür entzieht. Es ist ein Phänomen, insofern sich diese Eigenschaft nur in Abhängigkeit von einem solchen Handlungsentwurf enthüllt. So ist es unmöglich, die Faktizität »in ihrer rohen Nacktheit zu erfassen, da alles, was wir von ihr finden, schon übernommen und frei konstruiert ist« (SN 179).26 Realität ist also nicht als subjektiver Entwurf, sondern vermöge des subjektiven Entwurfs gegeben. Von hier aus ließe sich Sartres phänomenologische Ontologie als Zurückweisung der Alternative zwischen Realismus und Antirealismus bzw. als Variante eines moderaten Realismus verstehen. Es bedarf eines bestimmten Entwurfs, damit eine Qualität der Welt erscheint, eine bestimmte Frage also, auf die das An-sich antwortet. Die Qualität erscheint nur relativ zu diesem Entwurf, aber die Rede vom An-sich besagt, daß diese Qualität nicht das Erzeugnis des Entwurfs ist. Die Dinge antworten auf Entwürfe, indem sie entsprechende Qualitäten zeigen oder auch nicht zeigen. Diese sind zwar unabhängig von der Praxis des Für-sich, aber sie können nur innerhalb dieser Praxis erkennbar werden. Insofern es sich um (subjektrelative) Phänomene handelt, ist die Wirklichkeit nur von 25
Vgl. Betancourt, ebd., 234: »Der Mensch verleiht den Dingen ihr Sein nicht, […] er schafft die Welt nicht, wohl aber konstituiert er sie als einen Sinn- und Bedeutungszusammenhang«. Es gibt also »zwischen der Freiheit und dem Gegebenen keine gegenseitige Ausschließung. Zwischen den beiden gibt es vielmehr so etwas wie eine gegenseitige Abhängigkeitsdialektik« (ebd., 241; vgl. auch Biemel, ebd., 116). 26 Deswegen ist das Korrelat des Für-sich bei Sartre nicht, wie Merleau-Ponty unterstellt, das »reine(n) Sein-an-sich« (Die Abenteuer der Dialektik, 170). Sartre wird eine nicht-situierte Freiheit und eine völlig »wurzellose(n) Initiative« der Aktion zugeschrieben (ebd., 128, 130, 166). Seiner Philosophie mangle es generell, so fährt Merleau-Ponty fort, an jeglicher Vermittlung zwischen Bewußtsein und An-sich oder Entwurf und Faktizität (ebd., 170 f., 175, 185, 229, 242). Zwar sei die Situation ein solches »Mittelding«, aber letztlich bleibe auch sie nur ein Konstitut (vgl. ebd., 165, 171). Die bisherigen Ausführungen haben jedoch gezeigt, daß sich die Situation Sartre zufolge nicht auf das Für-sich reduzieren läßt, sondern gleichermaßen dem An-sich zugehört. Während Flynn erklärt, daß Merleau-Pontys Einwände auf die Kritik der dialektischen Vernunft nicht mehr zutreffend ist (vgl. »Merleau-Ponty and the Critque of Dialectical Reason«), soll hier die These vertreten werden, daß auch Sartres frühe Philosophie in weiten Teilen gegenüber diesen Vorwürfen resistent ist.
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den Bedingungen ihrer Erkennbarkeit her zu erfassen, insofern es sich um (subjektunabhängiges) An-sich handelt, kann die Wirklichkeit nicht auf ihre Erkanntheit reduziert werden.27 Führt Sartres Ansatz letztlich nicht doch wieder zu der Unterstellung einer unzugänglichen Realität ›hinter‹ den erkennbaren Phänomenen? Man darf jedoch nicht aus dem Sachverhalt einer Nichtreduzierbarkeit der Realität auf die Erkenntnis auf eine Unerkennbarkeit der Realität schließen. Eine solche Folgerung setzt neben die endliche aspekthafte Erkenntnis insgeheim das Postulat einer absoluten Erkenntnis aus einer quasi göttlichen Perspektive, als deren Schwundstufe das aspekthafte Erkennen dann zu begreifen wäre. Nach M. Seel ist der Begriff der absoluten Erkenntnis »mit der erforderlichen Bestimmtheit von Erkenntnissen nicht vereinbar«: »Haltlos ist daher auch die Annahme einer ursprünglichen Verfassung von Objekten, wie sie unabhängig von unseren oder anderen erkennenden Zugängen wären. Denn diese Verfassung ist selbst eine Bestimmtheit, die nur aus der Möglichkeit von Bestimmungen gedacht werden kann. Hinter den Dingen und Prozessen, wie wir sie im Alltag und in der Wissenschaft mit Hilfe vielfältiger Konstruktionen kennen, ist überhaupt nichts. An und von ihnen aber lässt – oder ließe – sich vieles Weitere erkennen; das ist alles«.28 27
Vgl. zur Vereinbarkeit von Realismus und Interpretationismus: Lenk, ebd., 84–86 sowie Röd, Erfahrung und Reflexion, 178–182. Die genannten Autoren stimmen dahingehend mit Sartre überein (auf den sie sich allerdings nicht beziehen), daß sie einerseits die Annahme einer unmittelbaren und deutungsfreien Grunderfahrung zurückweisen, zugleich aber von einer von Deutungen unabhängigen Wirklichkeit ausgehen. Aber diese aus pragmatischen Gründen unterstellte Realität als Widerpart des Verhaltens ist nach Lenk selbst wiederum ein »Interpretationskonstrukt« (ebd., 251–258), ohne daß damit der Realismus – in einer moderaten Form – aufgehoben wäre (ebd., 256 f.). Das An-sich ist sozusagen der Grenzbegriff von etwas, das nicht mehr gedeutet wird. Mit anderen Worten, die Deutungsabhängigkeit bezieht sich auf die Erfahrung und nicht auf die Existenz der Dinge – und nur dann bleibt für Sartre die Unterscheidbarkeit von Wahrnehmung und Imagination gewährleistet. Nach Lenks sperriger Terminologie wären zwar sowohl die Objekte der Wahrnehmung wie auch jene der Imagination »Interpretationskonstrukte«. Aber während das Imaginationsobjekt ein ›Interpretationsprodukt‹ ist, versteht Lenk den Wahrnehmungsgegenstand als ›Interpretationsimprägnat‹, da er in Auseinandersetzung mit etwas von unserem Zutun Unabhängigen konstituiert wird (vgl. Lenk, ebd., 11, Fußn. 1). Um die Annahme einer solche Unabhängigkeit bzw. des An-sich zu rechtfertigen, führt Röd ein Argument an, das strukturell identisch mit Sartres ontologischem Beweis ist: »Ich erfahre Gegenstände, und da die Gegenstände zwar von Deutungen abhängig sind, diese Deutungen aber etwas voraussetzen, das ihnen zugrunde liegt und daher als dem Subjekt vorgegeben zu betrachten ist, ist etwas vom Subjekt Unabhängiges anzuerkennen. Kurz: Etwas wird als Interpretiertes erfahren, also gibt es eine Wirklichkeit an sich« (Röd, ebd., 181). 28 M. Seel, »Der Konstruktivismus und sein Schatten«, 122. – Bestimmte Formulierungen Sartres scheinen zwar ein solches absolutes Erkennen zu unterstellen – vgl. z. B.: »Nur
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Auf Sartres Phänomenbegriff trifft also entgegen der dualistischen Tendenzen seiner Philosophie zu, was Waldenfels die »signifikative Differenz« nennt und als eine Grundformel der Phänomenologie beschreibt: Die Bedeutung oder der Sinn, in dem das Gegebene gemeint ist, »ist objektiv und subjektiv zugleich, objektiv, sofern es einen Aspekt der Sache meint und über die individuelle Situation hinausweist, subjektiv, sofern immer jemand im Spiel ist, der die Sache gerade so und nicht anders meint, sie aber auch anders meinen könnte«.29 Es gibt einen »wechselseitigen Überschuß; wir meinen mehr, als uns wirklich gegeben ist, uns ist mehr gegeben, als wir ausdrücklich meinen«.30 Aus diesem Grund kann von einer »offenen Dialektik« der Erfahrung die Rede sein, die »Züge eines Dialogs« aufweist: »Wir sind der Wirklichkeit nicht völlig ausgeliefert, können sie aber ebensowenig in unsere Vorstellungen und Vorhaben einzwängen und dingfest machen«.31 Die Grundformel der Phänomenologie lautet daher nicht ›etwas ist‹, sondern ›etwas erscheint als etwas‹; die Realität erscheint immer in einer Bedeutung: »Diese signifikative Differenz stellt eine Grunddifferenz dar, hinter die wir nicht zurückgehen und die wir nicht aus anderem herleiten können, weil jeder derartige Versuch sie schon voraussetzt«.32 So wie die Bedeutung sich nicht – wie Spielarten des Empirismus und des Positivismus glauben – auf die Realität, auf ein rein Gegebenes reduziert, läßt sich die Realität nicht – wie Varianten des Idealismus und des Konstruktivismus meinen – auf ein rein Gemachtes zurückführen: »Die Irreduzibilität der signifikanten Differenz besagt also, daß die Erfahrung immer schon gedeutete und verarbeitete Erfahrung ist. Die Tatsachen, also das, was unserem Erkennen gegeben ist und was sich unserem Tun ergibt, sind immer schon bedeutsame Tatsachen«.33 Die Analogie zwischen Waldenfels’ und Sartres Phänomenbegriff fällt bei aller unterschiedlichen Terminologie ins Auge. Sartres Betonung der Nichtreduzierbarkeit des An-sich wie auch des Für-sich scheint zwar einerseits auf einen schroffen Dualismus hinauszulaufen, es wäre jedoch erwägenswert, ob dieses Insistieren auf der Nichtreduzierbarkeit nicht gerade gegen jeglichen Monismus die Ambivalenz der Phänomene, d. h. ihren Status als ›signifikative Differenz‹ bzw. als ›Einheit in der Differenz‹ garantiert. Nur wenn zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenen unterschieden werden kann, ist die Gott oder ein Kieselstein« kennen »die jungfräuliche Materie« (KDV 193) –, allerdings haben solche Äußerungen wohl eher einen illustrativen Wert, denn, wie sich gezeigt hat, kann Gott nach Sartre nur imaginieren und niemals erkennen, da letzteres das An-sich voraussetzt, welches sich einem Schöpfergott entziehen muß. 29 Waldenfels, »Abgeschlossene Wesenserkenntnis und offene Erfahrung«, 86. 30 Waldenfels, ebd., 90. 31 Ebd., 93. 32 Waldenfels, »Möglichkeiten einer offenen Dialektik«, 129 f. 33 Waldenfels, ebd., 130.
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5. Realismus und Konstitution
signifikative Differenz eine signifikative Differenz. Um deren dualistische Auflösung zu vermeiden, muß das Moment der Vermittlung, um eine monistische Auflösung zu vermeiden, das Moment der Differenz, d. h. die Nichtreduzierbarkeit der Vermittlungsglieder aufeinander, betont werden. Nur wenn das An-sich vorausgesetzt wird, ist der freie Entwurf für Sartre »die Macht des Bewußtseins, sich selbst zu entgehen« (T 220). Das bedeutet umgekehrt: »Jede Immanenz ist Traumzustand« (T 220). D. h. jede philosophische Position, die die Welt auf ein Bewußtseinskorrelat, auf subjektive Empfindungen, Ideen usw. reduziert, fixiert nach Sartre die Subjektivität in einem Traumzustand. Nach den referierten Darlegungen wird klar, daß Merleau-Pontys wie auch Leschs Kritik, Sartres Freiheitsbegriff sei »nicht verstrickt […] in die Schwierigkeiten der realen Welt, sondern in Opposition zu ihr als Negat entwickelt«,34 offensichtlich auf einer Fehlinterpretation beruht. Ganz im Gegensatz zu dieser Behauptung wird Sartre vielmehr überhaupt nicht müde, von Anfang an die Situiertheit der Freiheit hervorzuheben: Der Gesichtspunkt ist eine »ontologische Notwendigkeit« (SN 548); es gibt schon für den frühen Sartre keine gesichtspunktlose Erkenntnis, sie ist immer engagiert, d. h. in einem bestimmten Verhältnis zur Welt (vgl. SN 547): »(D)as Für-sich ist frei, aber in Bedingtheit« (SN 895). Aufgrund ihrer Situiertheit ist die Freiheit »wie das Meer immer wieder neu; sie ist nichts andres als die Bewegung, durch die man sich ständig losreißt und befreit. Es gibt keine gegebene Freiheit; man muß sich den Leidenschaften, der Rasse, der Klasse, der Nation abgewinnen und mit sich die andren Menschen gewinnen. Aber was zählt ist in diesem Fall die besondere Gestalt des Hindernisses, das ausgeräumt, des Widerstands, der überwunden werden muß, sie gibt in jeder Situation der Freiheit ihr Gesicht« (WiL 56).
34
Lesch, ebd., 99.
6. IMAGINATION UND ÄSTHETIK II
Sartre hält die deutliche Trennung von Wahrnehmung und Imagination für eine unmittelbare und apodiktische Gegebenheit des Bewußtseins, der jede theoretische Untersuchung der Imagination gerecht werden muß. Descartes und Hume sowie die gesamte Tradition der positiven Psychologie handeln dieser phänomenalen Evidenz zuwider, indem sie das imaginäre Objekt als ein schwächeres Ding bzw. als wiederauflebende Wahrnehmung begreifen. Husserls phänomenologische Reduktion nimmt hingegen in Sartres Interpretation dem Wahrgenommenen seinen Realitätscharakter – und damit auch seine Dinghaftigkeit bzw. Subjektunabhängigkeit –, wodurch das zentrale Unterscheidungskriterium zwischen Wahrnehmung und Imagination nivelliert wird. Da Husserls Philosophie auf diese Weise in spiegelbildlicher Umkehrung der philosophischen und psychologischen Tradition das Wahrgenommene gleich dem Imaginären als ein esse auffaßt, das sich auf das percipi reduziert, erlaubt auch sie nicht, der unmittelbar gegebenen Trennung von Imagination und Wahrnehmung Rechnung zu tragen. Indem nun der ontologische Beweis die Subjektunabhängigkeit des Wahrnehmungsobjekts aufdecken will, scheint er zunächst Husserls Idealismus zu korrigieren: Intentionalität als Wesenszug des Bewußtseins besagt, daß das Bewußtsein sich jederzeit auf ein Objekt richtet, und ihre ontologische Interpretation verlangt zudem, daß das Bewußtsein in jedem Fall Bezug zu einem unabhängig von ihm existierenden Sein – also eben einem An-sich-sein – ist. Genau dieses Ergebnis fundiert nachträglich Sartres Auffassung des Wahrnehmungsgegenstands in Die Imagination und Das Imaginäre – und damit auch mittelbar die Eigengesetzlichkeit seines Gegensatzes: des imaginären Objekts. Aber wenn dieses Resultat für jedes intentionale Objekt gültig sein soll, so ist von nun an auch das imaginäre Objekt, für das nach Sartre ja durchaus die Formel esse est percipi wesensmäßig gültig sein muß, als ein transphänomenales Sein zu verstehen. Mit dem Spezifikum des Imaginären gerät auch der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Imagination erneut ins Wanken. Hartmann liest die Einleitung von Das Sein und das Nichts zwar nicht vor dem Hintergrund der Imaginationsproblematik, aber dennoch wirft auch er die naheliegende Frage auf, ob der ontologische Beweis letzten Endes nicht »zu viel« leistet, wenn dank ihm nun ausnahmslos jedes Phänomen »sein Ansichsein« hat: »Gibt es keine Täuschung? Läßt sich die Täuschung transzendent interpretieren? Wie steht
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6. Imagination und Ästhetik II
es mit der immanenten Dimension, der Vorstellungen und Gedanken, Urteile usw. zuzuordnen wären?«1 Hinsichtlich der Täuschung fällt eine Entgegnung auf diesen Einwand noch leicht. Die Täuschung hat nach Sartre insofern ein An-sich-sein als sie kein Imaginäres ist, sondern die falsche Interpretation eines realen, also tatsächlich wahrgenommenen Gegenstands; sie fügt sich einer Existenzsetzung hinzu (vgl. TE 180; Im 30 f.). Dennoch wird Sartres gesamte Beschreibung des imaginären Bereichs fragwürdig, wenn jedes intentionale Objekt transphänomenal bzw. ein An-sich ist. Die eidetische Beschreibung des imaginären Objekts zu Beginn von Das Imaginäre hat auf der Grundlage der für Sartre apodiktischen und unbezweifelbaren Reflexion die vier wesentlichen Charakteristiken dieses phänomenalen Gegenstandsbereichs zutage gefördert: Hierbei wurde das Imaginäre u. a. als ein Nichts2 und als das Korrelat eines schöpferischen Bewußtseins in Anschlag gebracht, wohingegen der ontologische Beweis jede Kreation des Bewußtseinsobjekts radikal ausschließt. Was könnte Sartre, der sich dieses Problems offenbar selbst nicht bewußt geworden ist, auf diesen berechtigten Einwand entgegnen? Das aufgezeigte Dilemma läßt sich nur dann auflösen, wenn auch das imaginierende Bewußtsein ein Bezug zu einem An-sich ist und dennoch die Beschreibungen des imaginären Objekts zutreffend sind, die es als ein Nichts, als Schöpfung, eben als ein nicht-transphänomenales Sein qualifizieren, das verschwindet, wenn es dem Bewußtsein nicht erscheint. Die imaginierende Intentionalität müßte also eine doppelte Struktur besitzen. Aufschluß verspricht hier der bereits erörterte Schlußteil von Das Imaginäre: Um die Abwesenheit oder Nicht-Existenz der irrealen Objekte zu setzen, muß ich, wie Sartre gezeigt hat, in demselben Akt die reale Welt erfassen als eine solche, in der z. B. der abwesende Peter »nicht augenblicklich und für mich gegenwärtig […] sein kann« (Im 290). Insofern die Vorstellung »Negation der Welt unter einem bestimmten Gesichtspunkt« ist, kann sie »immer nur auf einem Hintergrund von Welt und in Verbindung mit dem Hintergrund erscheinen« (Im 291). Das dargestellte Problem wird durch diese Überlegungen nur dann gelöst, wenn kein zeitliches Nacheinander besteht, sondern das Vorstellungsbewußtsein in ein und demselben – sozusagen als mehrstufig anzusehenden – Akt zugleich Erfassen und Nichten des Realen und Erscheinenlassen des Imaginären ist. Innerhalb der Imaginationssynthese behält, wie Sartre selbst erklärt, »(j)edes vorstellende Bewußtsein […] die Welt als genichteten Hintergrund des Imaginären bei« (Im 295), d. h. sie wird als ein unverzichtbarer Bestandteil der Imagination integriert. Die Wahrnehmungswelt ist in der imaginierenden Haltung zwar nicht als solche gesetzt, sie stellt jedoch das Fundament bereit, auf 1
Hartmann, ebd., 21; vgl. auch ebd., 19. Ein ›Nichts‹ zu sein bedeutet bei Sartre, wie sich gezeigt hat, keine Subjektunabhängigkeit bzw. keine ontologische Selbständigkeit zu besitzen (s. o.). 2
Das literarische Kunstwerk als Appell an die Freiheit des Lesers
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das sich die Imagination in jedem Augenblick bezieht. Und auf diese Weise ist auch die Imagination (Vorstellung von Peter) Bezug zu einem An-sich (Erfahrung der Welt als einer solchen, in der Peter mir fehlt). Das imaginierende Bewußtsein läßt sich zwar nach wie vor nicht auf das wahrnehmende Bewußtsein reduzieren, aber es erweist sich in dieser, von Sartre selbst zwar nahegelegten, aber nicht explizit erklärten Sichtweise als ein fundierter Akt.3 Eine weitere Problemstellung wird sich als richtungsweisend für den weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit herausstellen. Ricœurs Kritik zielt nicht nur auf das vorherrschende Paradigma von Original und Abbild,4 sondern vor allem auch auf die Quasi-Beobachtung, nach der das Imaginäre uns nichts Neues lehren kann. Insofern das Kunstwerk ein Imaginäres ist, gilt dasselbe auch für das Kunstwerk im allgemeinen und die Literatur im besonderen: »But is not this poverty of the image a feature of the image of the absent, which is not applicable to fiction? Is not this poverty the counterpart of the richness of the original? We shall see that fiction does not share this poverty of the image of an absent object, but rather produces new meaning capable of generating a metamorphosis of reality«.5 Wenn die Kunst zum Bereich des Imaginären gehört, dann gilt auch für sie ausnahmslos das Wesensgesetz der Quasi-Beobachtung.6 Aber die sich daraus ergebenden Konsequenzen, denen zufolge etwa ein Roman uns nichts Neues mitteilen, ja uns nicht einmal überraschen könnte, sind offenkundig völlig absurd: Die Quasi-Beobachtung ist ohne Zweifel mit der Lektüreerfahrung eines Romans grundsätzlich unvereinbar, und man muß sowohl Ricœur als auch Bossart, dessen Kritik mit derjenigen Ricœurs übereinstimmt, an dieser Stelle recht geben.7 »If Sartre were correct, each of us would be trapped in the web of his own subjectivity, and our aesthetic appreciation would be limited to those images which each could supply to himself unaided by the artist, his analogon or anyone else«. Wir könnten keine neuen Erfahrungen machen, »if our images contain only our own contributions and if all learning in these matterns is impossible?«8 Es stellt sich hier jedoch die Frage, ob Ricœur,
3
Vgl. zum Verständnis des ›fundierten Akts‹ Husserls VI. Logische Untersuchung. Vgl. Ricœur, ebd., 168 f. 5 Ebd., 171. 6 Es hat sich allerdings bei der Besprechung von Das Imaginäre bereits herausstellt, daß die Quasi-Beobachtung als allgemeine Bestimmung schon im Fall des Porträts oder des Fotos Schwierigkeiten bereitet (s. o.). 7 Die Quasi-Beobachtung ist nur insofern für den Bereich der Kunst gültig, als die Gegenstände, die in ihr aufzufinden sind, wie Ingarden sagen würde, im Unterschied zu den ›auch intentionalen Gegenständlichkeiten‹ der Wahrnehmung keine Vollbestimmung aufweisen, sondern schematische Gebilde sind (vgl. Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt II/1, 67, 219; ders., Das literarische Kunstwerk, 266). 8 Bossart, ebd., 44. 4
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6. Imagination und Ästhetik II
dessen kritische Ausführungen sich einerseits auf Das Imaginäre beschränken und andererseits am Beispiel der Literatur als Teilbereich des Imaginären durchgespielt werden, in Anbetracht seiner Einwände nicht doch gerade jene Schrift hätte beachten müssen, in der Sartre das Thema der Literatur ausführlich behandelt.9 Anhand der Studie Was ist Literatur? wäre zu überprüfen, ob Ricœurs Kritik, die ja gerade das Spezifikum der literarischen Rezeption gegen die vermeintliche Allgemeingültigkeit der Quasi-Beobachtung als eidetischem Charakteristikum der Imagination ins Feld führt, immer noch zutreffend ist. Kann dies verneint werden, weil Sartres Literaturtheorie eine Weiterentwicklung seiner Imaginationslehre auszumachen erlaubt, so wäre wiederum zu überprüfen, ob der spätere Standpunkt noch vereinbar mit demjenigen aus Das Imaginäre ist oder ob hier nicht vielmehr ein deutlicher Bruch vollzogen wird, den Sartre selbst allerdings nicht explizit kenntlich macht. Um an die fraglichen Thesen anzuknüpfen, bietet sich vor allem der zweite Teil von Was ist Literatur? an, der der Frage nach dem ontologischen Status des literarischen Textes gewidmet ist und damit in engem Zusammenhang auch mit der Thematik der Einbildungskraftslehre steht: Sartres »aesthetic is basically a corollary to his theory of image«10 – und dies gilt nicht nur für die kursorische Ästhetik, welche im Anhang von Das Imaginäre entwickelt wird, sondern gleichermaßen auch für die Literaturtheorie.
6. 1. Das literarische Kunstwerk als Appell an die Freiheit des Lesers Die Frage ›warum schreiben?‹, die im zweiten Teil von Was ist Literatur? gestellt wird, führt – ausgehend von einem der zentralen Beweggründe der Kunstproduktion – zum Verhältnis des Autors und des Werks zum Rezipienten, dem Sartres Literaturtheorie ein außerordentlich großes Gewicht beimißt. Auf die Bedeutung von Sartres phänomenologischer Beschreibung der Konstitutionsakte des Lesens für die Rezeptions- und Wirkungsästhetik ist in der Sekundärliteratur immer wieder hingewiesen worden. Sartre gilt als einer der »Initiatoren der Rezeptionsästhetik«:11 »Jean-Paul Sartre brach in Qu’est9
Ricœur gibt mit Blick auf Die Imagination und Das Imaginäre selbst zu: »I am not claiming that these two works express his [Sartres – Anm. J. B.] complete thought on the subject«, aber, so fügt er hinzu, die genannten Schriften »contain his explicit theory in psychological and philosophical terms« (ebd., 168). 10 Flynn, »The role of the image in Sartre’s aesthetic«, 439. 11 Roloff, »Von der ›psychanalyse existentielle‹ zur Sozialgeschichte der Literatur«, 116, s. a. Schmitt, »Mensch und Sprache«, 41; Frank, Das individuelle Allgemeine, 352; Frank, »Das Individuum in der Rolle des Idioten«, 98; Grimm, »Der Idiot der Familie als Herausforderung der Literaturgeschichtsschreibung«, 109.
Das literarische Kunstwerk als Appell an die Freiheit des Lesers
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ce que la littérature (1948) der Rehabilitierung des Lesers, mit L’imaginaire (1940) der Phänomenologie der Leistungen des vorstellenden Bewußtseins die Bahn«.12 Kohut sieht dieses Kapitel als Zusammenführung verschiedener Motive in Sartres Denken: »Der nun folgende Beweisgang ist ein Stück Existentialphilosophie, in dem sich Gedanken aus L’être et le néant, L’imaginaire und La Nausée mischen«.13 Sartres Argumentationsgang stützt sich offensichtlich auf seine phänomenologische Ontologie, die die Transphänomenalität des Wahrgenommenen behauptet. Selbst wenn dieser Begriff in Was ist Literatur? an keiner Stelle auftaucht, bildet die Priorität des Seins vor dem Bewußtsein dennoch den Ausgangspunkt seiner Erörterungen. Dieser Standpunkt wird vorausgesetzt, ohne noch einmal expliziert zu werden: »(W)enn wir wissen, daß wir die Detektoren des Seins sind, so wissen wir auch, daß wir nicht dessen Produzenten sind« (WiL 36). Zwar fügt der Mensch dem Sein die Enthüllungsdimension hinzu, aber die Welt ist subjektunabhängig; sie hat vor mir bestanden und wird nach mir bestehen bleiben: »So verbindet sich unsere innere Gewißheit, ›enthüllend‹ zu sein, mit jener andren, gegenüber dem enthüllten Ding unwesentlich zu sein« (WiL 36). Gegenüber seinen imaginären Bewußtseinskorrelaten, so fährt Sartre fort, kann sich der Künstler allerdings wie jeder Mensch wesentlich fühlen – und dies ist für Sartre »(e)ines der Hauptmotive des künstlerischen Schaffens« (WiL 36).14 Auch Roquentin wendet sich im Roman Der Ekel der Kunst zu, um der Kontingenz zu entgehen (vgl. E 198 f.). In der künstlerischen Schöpfung artikuliert sich der Wunsch, gegenüber der Welt notwendig zu sein, denn gegenüber seinem Werk ist der Künstler wesentlich, weil er es hervorbringt und die Existenz des Werks darum von ihm abhängt. Nur im Verhältnis zwischen Künstler und Werk geht das Objektive aus dem Subjektiven hervor. Hier taucht jedoch sogleich das folgende Dilemma auf: Da man nicht gleichzeitig enthüllen und hervorbringen kann, ist nun zwar der Künstler wesentlich gegenüber seinem Produkt, aber letzteres wird dafür unwesentlich gegenüber der künstlerischen Tätigkeit – und dies, so läßt sich hinzufügen, gerade weil es sich auf die Subjektivität reduziert, d. h. keine Objektivität aufweist: »So bietet sich in der Wahrnehmung das Objekt als das Wesentliche und das Subjekt als das Unwesentliche; dieses erstrebt die Wesentlichkeit im Schaffen und erhält sie, aber dann ist es das Objekt, das das Unwesentliche wird« (WiL 37). Der Begriff einer seinsautarken Schöpfung ist für Sartre also nach wie vor widersprüchlich.15 Das Verhältnis hat sich um12
Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 24. Kohut, ebd., 104. 14 Offenbar gibt es also noch andere »Hauptmotive«, die Sartre allerdings demjenigen, das für seine Gedankenführung relevant ist, nicht unterzuordnen versucht. 15 Auf dieser, wie man es nennen könnte, generellen Skepsis gegenüber jeder Form von 13
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6. Imagination und Ästhetik II
gekehrt: Mangels Objektivität und Unabhängigkeit ist das geschaffene Werk unwesentlich. Es ist nurmehr eine Quasi-Beobachtung,16 die sich ohne das vorstellende Subjekt ins Nichts auflöst.17 Insofern es vom Subjekt abhängig bleibt, ist sein Sein »ein intrasubjektiver Seinsmodus« (SN 40) des Schöpfers. Je klarer das Bewußtsein unserer produktiven Aktivität ist, um so weniger ist es möglich, das Geschaffene zugleich zu enthüllen, denn hierzu wäre es erforderlich, das eigene Werk mit den Augen eines anderen zu betrachten. Für den Handwerker, der nach bestimmten allgemeinen Techniken und Normen seine Werkzeuge fabriziert, bewahrt das fertiggestellte Resultat seine Fremdheit und Objektivität. Für den Künstler gilt dies nicht, weil er sich nach Sartre nicht an bestimmten konventionellen Verfahren orientiert, sondern die Regeln seiner Tätigkeit selbst erfindet (vgl. IF 4, 205, 272). Der Schaffensprozeß ist etwas anderes als die bloße Anwendung von Regeln: »Wenn wir selbst die Regeln der Produktion, die Maße und die Kriterien hervorbringen und wenn unser schöpferischer Elan aus dem tiefsten Innern unseres Herzens kommt, dann finden wir immer nur uns selbst in unserem Werk: wir sind es, die die Gesetze erfunden haben, nach denen wir es beurteilen; es ist unsere Geschichte, unsere Liebe, unsere Heiterkeit, die wir darin wiedererkennen […]; die Resultate, die wir auf der Leinwand oder auf dem Papier erhalten haben, scheinen uns niemals objektiv; wir kennen die Verfahren zu gut, deren Wirkungen sie sind« (WiL 37). Im Gegensatz zum Schuster, der natürlich seine Schuhe selbst tragen kann, kann der Schriftsteller sein Werk nicht selbst lesen: »Ohne Erwartung, ohne Zukunft, ohne Unkenntnis keine Objektivität« (WiL 38).18 Er bleibt – gleich dem Schöpfergott und aus demselben Grund (s. o.) – in der »Sackgasse seiner eigenen Subjektivität«,19 weil er die Wörter kennt noch bevor er sie niederschreibt. Sartre spricht hier analog zur Quasi-Beobachtung von einer »Quasi-Lektüre« (WiL 38). Während die Lektüre des Lesers von Hypothesen, Prognosen, Hoffnungen und Enttäuschungen Vaterschaft, beruht u. a. der Atheismus der Halbwaise Sartre (vgl. W 14–16), die Grundlage seiner phänomenologischen Ontologie und schließlich die Privilegierung des Rezipienten in seiner Ästhetik (vgl. auch IF 1, 377). Auch in seinem Freiheitskonzept, nach dem der Mensch sich selbst schafft und entwirft, kommt diese Haltung zum Ausdruck (vgl. EH 94 f.). 16 Auch dieser Begriff taucht in dem Literaturessay, der sich nicht unbedingt an ein philosophisch geschultes Publikum wendet, nicht auf, wird jedoch der Sache nach vorausgesetzt. 17 Vgl. Frank, Das individuelle Allgemeine, 353–355. 18 »Erwartung«, »Zukunft« und »Unkenntnis« kann es nur im Bereich der Wahrnehmung geben, denn nur »das Wahrnehmungsobjekt übersteigt dauernd das Bewußtsein« (Im 25); »es gibt immer und in jedem Augenblick mehr, als wir sehen können; um den Reichtum meiner augenblicklichen Wahrnehmung auszuschöpfen, wäre eine unendliche Zeit erforderlich« (Im 24). 19 Schmidt-Schweda, ebd., 28.
Das literarische Kunstwerk als Appell an die Freiheit des Lesers
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begleitet ist, findet der Schriftsteller nur sein eigenes Wissen, seine eigenen Wünsche und seine eigene Unentschiedenheit wieder.20 Da der Schriftsteller nie über seine Subjektivität hinaus gelangt, kann er zwar die Wirkung eines geschickt plazierten Adjektivs einschätzen, aber, wie Sartre versichert, nicht wirklich empfinden (vgl. WiL 38). Erst nach vielen Jahren, wenn der Autor sein Werk fast vergessen hat, gewinnt es für ihn einen »Schein von Objektivität« (vgl. WiL 38 f.).21 Zur Lösung des Dilemmas, daß das Werk zugleich geschaffen und unabhängig vom Künstler sein muß, um eine objektive Hervorbringung22 darstellen zu können, bringt Sartre einen neuen entscheidenden Faktor ins Spiel. Der literarische Gegenstand existiert, wie nun erklärt wird, ausschließlich in der Lektüre, und er verschwindet, sobald sie beendet ist: »Außerhalb ihrer gibt es nur schwarze Striche auf dem Papier« (WiL 37).23 Sartre formuliert nun den Kerngedanken des zweiten Teils von Was ist Literatur? Man schreibt nicht für sich selbst: »Kunst gibt es nur für und durch andre« (WiL 39). »(W)enn ein Phantasma allein von meiner Subjektivität abhängt, bleibt es in bezug auf mich, auf mein Gutdünken relativ, und wenn ich meine Aufmerksamkeit von ihm abwende, verschwindet es: aber wenn es mir gelingt, es allen aufzuzwingen, dann kann und muß es von jedem beliebigen gebildet werden. Es erfordert zwar noch eine konstituierende Subjektivität, aber diese wird beliebig: es kann ebensogut Ihre wie meine sein, wir sind austauschbar, ich habe keine privilegierte Macht mehr über mein Bild […]. Don Juan und Don Quijote haben nie eine historische Existenz gehabt: doch ich weiß genau, daß diese Figuren nicht von mir abhängen: wenn ich
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Vgl. Danto, ebd., 46. Vgl. auch Valéry, »Literatur«, 293. – Großzügiger klingt Sartre in einem Beitrag zu einem Podiumsgespräch von 1964, der unter dem Titel »Was kann Literatur?« abgedruckt wurde: »Wenn ich meinen Satz niederschreibe, kenne ich ihn zum Teil im voraus, ich kann ihn also nicht sehen; da ich ihn nicht sehen kann, kann ich nicht wissen, wie er sich tatsächlich ins Werk einfügt. In acht Tagen werde ich es wissen können, denn in acht Tagen werde ich Abstand gewonnen haben, werde ich Leser sein; aber jetzt kann ich keine wahre Erfahrung davon haben« (WkL 79). So gesehen erweist sich Schmidt-Schwedas Vorwurf, warum solle der Autor schreiben, wenn er sein eigenes Werk »niemals« selber erfahren kann, als übertrieben (ebd., 30). Aber in dem Maß, wie Sartre zugibt, daß auch der Autor sein eigener Leser werden kann, nimmt natürlich die Relevanz des Appellcharakters und mithin des gesamten Argumentationsgangs deutlich ab (s. u.). 22 Eine solche ›objektive Hervorbringung‹ eines Subjekts wird durch den ontologischen Beweis zwar radikal ausgeschlossen, dies gilt allerdings – und diese Pointe enthüllt sich, wenn man Das Sein und das Nichts und Was ist Literatur? vor dem Hintergrund der Imaginationsproblematik in Beziehung setzt – nur für den Bereich des einzelnen Bewußtseins, nicht aber für die soziale Sphäre. 23 Anders als Danto meint, blieben vom Werk ohne den Leser also nicht einmal »nur Worte« (ebd., 47). 21
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6. Imagination und Ästhetik II
nicht mehr an sie denke, setzen sie ihre Existenz fort, weil andere an sie denken oder denken könnten, so wie dieser Tisch weiterhin existiert, wenn ich meinen Blick von ihm abwende« (SG 651). Der Leser ist »Mitarbeiter, ja Schöpfer zweiten Grades« (WkL 79).24 Erst durch den Leser wird der Schaffensprozeß beendet, denn er garantiert den Übergang vom Subjektiven zum Objektiven: »(D)er Künstler ist ein Gott, der die Menschen braucht« (SG 748). »(D)er Autor schreibt eine Partitur, aber erst der Leser wird dieses Konzertstück aufführen; was der Autor hier macht, entgeht ihm immer, während der, der das Buch nimmt, es nicht kennt, jeden Satz als eine neue Erfahrung aufnimmt und ihn folglich in seiner konkreten Wahrheit erfassen kann, offensichtlich der Leser ist« (WkL 79). Während der ontologische Beweis eine Schöpfung bestreitet, bei der das Objektive aus der Subjektivität des Schöpfers hervorgeht, so scheint Sartres Literaturtheorie davon auszugehen, daß eine derartige Schöpfung möglich ist, sofern nur eine zweite schöpferische Subjektivität ins Spiel kommt, die dem Erschaffenen, das in der Sphäre der ersten Subjektivität verbleibt, den Sprung in die Objektivität erlaubt, ohne daß es aufhörte, imaginär zu sein. Dieses Imaginäre ist objektiv, nicht weil es subjektunabhängig wäre, sondern weil es von zwei Subjektivitäten abhängig ist – und darum immer mehr ist, als jeder einzelnen von ihnen erscheint. Sartre korrigiert offensichtlich seine Position aus Das Imaginäre, wenn er erklärt, daß die Lektüre sich durch »eine Synthese aus Wahrnehmen und Schaffen« (WiL 39) – d. h. also durch ein Miteinander von Wahrnehmung und Imagination – konstituiert.25 24
Dieser Gedanke findet sich auch schon in der deutschen Frühromantik z. B. bei Novalis: »Der wahre Leser muß der erweiterte Autor seyn. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niedern Instanz schon vorgearbeitet erhält« (»Vermischte Bemerkungen und Blüthenstaub«, 470, Nr. 125). Sartre und Iser als einer der Hauptvertreter der Rezeptionsästhetik begreifen das literarische Werk generell so, wie Eco speziell die historische Form des sogenannten ›offenen Kunstwerks‹ versteht (Das offene Kunstwerk, 47, 57). Der Leser ist nach Sartre und Iser schon dann aktiv und konstitutiv, wenn er über einem unveränderlichen, vom Autor vorgegebenen Analogon das literarische Werk durch die Lektüre vollendet. In dem Sinne sind alle Kunstwerke – auch die für Eco ›geschlossenen Kunstwerke’ früherer Epochen – offen. Die ›radikal offenen‹ Kunstwerke in Ecos Sinne wären in Sartres Sprache so zu beschreiben, daß der Rezipient schon auf der Ebene der Hervorbringung des materiellen Analogons schöpferisch beteiligt wird (vgl. Eco, ebd., 41; vgl. ebd., 43–46, die Ausführungen zu Mallarmés Livre). 25 Diese Schlußfolgerung vereinfacht natürlich auch. Sartre spricht im Kunstkapitel von Das Imaginäre so gut wie gar nicht von der Literatur; an einer früheren Stelle dieses Buchs beschreibt er sie dagegen als Synthese von Imagination und Bedeutung (vgl. Im 113). Aber aus der Perspektive der Literaturtheorie erscheint jede Kunstform – welche immer auch ein materielles Analogon einschließt – einem sowohl wahrnehmenden, wie auch imaginierenden Bewußtsein. Im Falle der images physiques schließt die Imagination die Wahrnehmung ein, wie die Bedeutungsintention, die sich auf die Schriftzeichen auf dem Blatt Papier richtet, die Wahrnehmung integriert.
Das literarische Kunstwerk als Appell an die Freiheit des Lesers
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Und dies »gilt in unterschiedlichem Grad für die Haltung des Betrachters gegenüber den andren Kunstwerken (Gemälde, Sinfonien, Statuen usw.)« (WiL 39). Im Unterschied zum Subjekt-Objekt-Verhältnis der Wahrnehmung oder der Imagination im Sinne der image mentale zeichnet sich die Kunstrezeption dadurch aus, daß in ihr sowohl Subjekt als auch Objekt wesentlich sind: Das Objekt ist wesentlich, weil es seinen eigenen Gesetzen gehorcht, weil man es beobachten kann, und weil es Gegenstand von Überraschungen und Mutmaßungen sein kann. Es gehorcht nicht nur dem Willen des Rezipienten. Das Subjekt ist wesentlich, insofern das transzendente Objekt nur erscheint, solange der Akt des Lesens dauert.26 Aus diesem Grund hängt das Buch von der Kompetenz desjenigen ab, der sowohl enthüllt als auch schafft: »Wenn er in bester Verfassung ist, wird er über die Wörter hinaus eine synthetische Form projizieren, von der jeder Satz nur noch eine partielle Funktion sein wird: das ›Thema‹, das ›Sujet‹ oder der ›Sinn‹« (WiL 39). Sartre operiert hier wie am Anfang von Was ist Literatur? (s. u.) mit dem Begriffspaar Sinn (sens) und Bedeutung (signification). Es gibt, wie man aus Sartres vagen Äußerungen schließen kann, einen allgemeinen Sinn, von dem aus die Bedeutung eines jeden Wortes erhellt wird. Dieser ›Sinn‹ – Sartre benutzt offenbar synonym auch den Begriff ›literarischer Gegenstand‹ (l’objet littéraire) (vgl. WiL 39) – ist in der Sprache selbst nicht signifizierbar, aber er realisiert sich über dieses Medium; seinem Wesen nach ist er »Schweigen« (silence): Jeder Satz ist mit seiner Bedeutung die Teilfunktion einer übergeordneten synthetischen Form. »Es geht um Intentionen, die so speziell sind, daß sie außerhalb des Gegenstands, den die Lektüre erscheinen läßt, keinen Sinn behalten können; sie sind es jedoch, die dessen Dichte ausmachen und ihm sein besonderes Gesicht geben«. Sie sind nicht einfach »unausgedrückt«, sondern »schlechthin das Unausdrückbare« (L’inexprimable) (WiL 40). Auch wenn dieses »Unausdrückbare« – der Sinn, der an diese ›Wortmaterie‹ und die jeweiligen Konstitutionsleistungen des Lesers gebunden ist – in keinem Lektüreaugenblick wirklich greifbar ist, durchtränkt es jede Zeile des Buches; es ist überall und nirgends. Sartre nennt folgende Beispiele: »(D)ie Qualität des Wunderbaren in Le grand Meaulnes, der Babylonismus in Armance, der Grad an Realismus und Wahrheit in der Mythologie Kafkas« (WiL 40).27 28 Der Sinn bzw. das ästhetische Objekt ist nicht der Text selbst, sondern der 26
Vgl. T. König, »Sartres Begriff des Engagements«, 47: »Erst der Leser kann während der Lektüre Subjekt und Objekt miteinander verbinden, denn im Lesen schafft er etwas, was es ohne ihn nicht gibt, und zugleich wird sein Schaffen durch das Kunstwerk gesteuert«. 27 Es handelt sich um Romane von Alain-Fournier und Stendhal (vgl. WiL 40 Fußn a des Übersetzers T. König). 28 Vgl. die metaphysischen Qualitäten bei Ingarden, Das literarische Kunstwerk, 310– 319.
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6. Imagination und Ästhetik II
Leser muß diesen Sinn erst »erfinden«.29 Sartre spricht hier von ›Erfindung‹ statt von ›Wiederentdeckung‹ oder ›Enthüllung‹, um zu betonen, daß die Arbeit des Lesers ebenso neuartig und ursprünglich wie die Tätigkeit des Autors ist30: »(V)or allem, wenn ein Gegenstand niemals vorher existiert hat, kann es weder darum gehen, ihn wieder zu erfinden, noch, ihn zu entdecken« (WiL 40). Da der Schriftsteller selbst das fragliche ›Schweigen‹ »niemals gekannt« (WiL 40) hat,31 gilt es für den Leser, diesen Sinn über die geschriebenen manifesten Gegebenheiten des Textes hinausgehend zu erfinden. Dabei wird er zwar vom Autor gelenkt, aber dessen Vorgaben muß er selbständig in einen sinnstiftenden Zusammenhang bringen: »Mit einem Wort, Lektüre ist gesteuertes Schaffen« (›création dirigée‹; WiL 40; vgl. SG 770). Insofern die Lektüre nicht nur einfach ein Schaffen, sondern ein gesteuertes Schaffen ist,32 kann der ›literarische Gegenstand‹ sich nicht auf die Bewußtseinsakte des Lesers reduzieren, obwohl er nur ist, wenn er gelesen wird. Der Umstand, daß das Werk zwar Vorgaben für den Leser bereithält, die Lektüre zwar ein gesteuertes, aber trotz allem doch ein Schaffen ist, hat folgende Konsequenzen. Indem das Werk einen Objektstatus erlangt, liefert es sich damit zugleich einem fremden Sinn aus, seine Sinngehalte alterieren in der Rezeption unkontrollierbar. Gerade deswegen steht der Autor vor seinem eigenen Buch schließlich »wie Moses vor dem Gelobten Land« (WkL 79); kurz, sein Werk ist auch für ihn selbst objektiv. Unter Anleitung der Wörter liest und schafft der Leser in eins, wobei ihm Sartre zufolge klar ist, daß Lektüre und Schaffensprozeß grenzenlos vertieft werden können. »So ist für den Leser alles noch zu tun und doch alles bereits getan; das Werk existiert nur auf der genauen Ebene seiner Fähigkeiten« (WiL 41). Weil die Auslegung unabschließbar
29
Vgl. Trabant, »Literatur als Zeichen und Engagement«, 230: »Der Wortlaut ist ein signifiant zu einem Inhalt, den der Leser erfinden muß. Der Text sagt den Sinn nicht«. Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch bei Iser. Analog zu Sartres ›Schweigen‹ ist bei ihm die Rede von einer ›Negativität‹, die im Text selbst nicht formuliert und ausgesprochen ist, aber den »Konstitutionsgrund des Gesagten« (Der Akt des Lesens, 348) darstellt (vgl. vor allem ebd. 348–355). Trabant ordnet das Schweigen, angeregt von Sartre, in sein eigenes semiotisches Modell ein (ebd., 238 f.). 30 Vgl. WkL 74: »Bedeutet das, daß ich bestimmt sein werde, das literarische Werk, seine Bedeutungen wiederzuerwecken? Dann wäre meine Tätigkeit rein passiv, wie die von Kindern, die eine Figur ausschneiden, indem sie einer punktierten Linie folgen«. In diesem Fall wäre der Mensch, wie Sartre fortfährt, wie beim Fetischcharakter der Ware in das Kunstwerk entfremdet (vgl. ebd.). 31 Diese Bemerkung verstößt offensichtlich gegen das Prinzip der Quasi-Beobachtung. 32 Bogumil ist der Ansicht, man müsse gegen die Rezeptionsästhetik betonen, daß die Lektüre »eben doch gelenkte Creatio ist« (»Sartre und die Verweigerung der Poesie«, 43). Aber zumindest Sartre und Iser behaupten ja gar nichts anderes. Vgl. hierzu auch Eco, ebd., 30, 55.
Das literarische Kunstwerk als Appell an die Freiheit des Lesers
215
ist, erscheint dem Leser »das Werk unerschöpflich und opak wie die Dinge« (WiL 41). Sartre geht wie Kant davon aus, daß dem ästhetischen Gegenstand kein Begriff adäquat sein kann.33 Vollendet sich die künstlerische Produktion erst in der Lektüre, dann ist der Künstler auf den Leser angewiesen, der beenden muß, was er begonnen hat. Jedes literarische Werk, so folgert Sartre, ist deshalb ein »Appell« (vgl. WiL 41): »Schreiben heißt an den Leser appellieren, daß er die Enthüllung, die ich mittels der Sprache unternommen habe, zur objektiven Existenz übergehen lasse« (WiL 41). Da das Auftauchen des Kunstwerks in der Lektüre ein »absoluter Anfang« (WiL 41) ist, der sich nicht aus früheren Gegebenheiten ableiten oder erklären läßt, ist die Leistung des Lesers ein freier Akt und dasjenige, woran der Autor appelliert, die »Freiheit des Lesers« (WiL 41; vgl. auch SWL 23). Dieser Gedanke ist nicht das Resultat einer Moral, die vorschriebe, den Leser nicht als Mittel, sondern als Zweck anzusehen. Vielmehr entspringt er einer erkenntnistheoretischen Einsicht, der Sartre allerdings eine ethische Wendung verleiht. Gewöhnliche Werkzeuge appellieren niemals an die Freiheit, sie bieten sich vielmehr an, ihr zu dienen. Das Kunstwerk appelliert jedoch an den Leser, es zu vervollständigen, d. h. es appelliert als Zweck und nicht als Mittel. Die Imagination wird, wie Sartre gegen Kant geltend macht, nicht lediglich einem freien Spiel überlassen, sondern sie erfüllt eine konstitutive und schöpferische Funktion, da ohne sie das Kunstwerk nicht existieren könnte. Das Kunstwerk hat keinen Zweck – darin stimmt er Kant zu –, aber der Grund dafür ist, daß es selbst ein Zweck ist, der sich dem Leser als zu erfüllende Aufgabe bzw. als Appell anbietet. Darum erscheint in der Lektüre die Freiheit des Lesers »als schöpferische Tätigkeit, das heißt […] sie begreift sich als konstitutiv für den ästhetischen Gegenstand« (WiL 50). Die Bestimmung als ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹34 gibt also »nicht über den Appell Aufschluß, der aus der Tiefe jedes Gemäldes, jeder Statue, jedes Buches erklingt«. Kant ist der Ansicht, »daß das Werk zuerst tatsächlich existiert und danach gesehen wird«; tatsächlich existiert es jedoch nur, »wenn man es anschaut«, und zunächst ist es »reiner Appell, reines Verlangen nach Existenz« (WiL 42). Im Grunde kritisiert Sartre also, daß Kant von einem transphänomenalen Seinsstatus des Kunstwerks ausgeht, für das die Rezeption nicht wesentlich ist. Ein solches Kunstwerk wäre nicht irreal.
33
Kant, Kritik der Urteilskraft, §§ 35, 49, 57 Anm. Nach Kant entdeckt der Betrachter/Leser eine Zweckmäßigkeit im Kunstwerk, auf die er kein begehrendes Interesse richtet: »Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird« (Kritik der Urteilskraft, 77). 34
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6. Imagination und Ästhetik II
Nur weil der Autor auf den Leser als sein dialektisches Korrelat der Schöpfung angewiesen ist, läßt sich das Werk als Appell an die Freiheit des Lesers und als Selbstzweck definieren.35 Sartre betont, daß der Autor nicht auf die Leser einwirken will, sondern an ihre Freiheit appelliert (vgl. WiL 122).36 Damit ist per se der Versuch ausgeschlossen, durch das Hervorrufen heftiger Emotionen wie Angst oder Wut diese Freiheit zu überwältigen. Zwar sind solche Tricks durchaus beliebt, weil sie auf bewährte Mittel zurückgreifen können, aber ein solches Verfahren ist auch immer Anlaß für Kritik gewesen. Das Buch wird dann zum Mittel, das Haß oder Angst hervorruft. Infolgedessen ist die Freiheit des Lesers entfremdet und seine eigentliche Aufgabe, einen absoluten Zweck hervorzubringen, tritt in den Hintergrund: »Der Schriftsteller darf nicht zu erschüttern versuchen, sonst befindet er sich im Widerspruch mit sich selbst; wenn er etwas verlangen will, so darf er die zu erfüllende Aufgabe nur vorschlagen« (WiL 43; vgl. SWL 25). Dies ist für Sartre der Grund, warum für das Kunstwerk immer ein ästhetischer Abstand gefordert wurde. Mit dem ›L’art pour l’art‹ hat dies seiner Ansicht nach nichts zu tun. Sartre spricht vielmehr von »Behutsamkeit« und – nach einer Wendung Jean Genets – von der »Höflichkeit des Autors gegenüber dem Leser« (WiL 43). Dennoch ist umgekehrt auch die Affektivität des Lesers unentbehrlich und sinnstiftend: »Durchaus mit Gefühlen schafft man den ästhetischen Gegenstand neu; wenn er rührend ist, erscheint er nur über unsere Tränen; wenn er komisch ist, wird er am Lachen erkannt« (WiL 43). Darum verlangt der Schriftsteller vom Leser »das Geschenk seiner ganzen Person, mit ihren Leidenschaften, ihren Vorurteilen, ihren Sympathien, ihrem sexuellen Temperament, ihrer Werteskala« (WiL 44). Seinerseits verlangt der Autor nun, daß der Leser das Vertrauen erwidert und einen komplementären Appell an ihn richtet, in dem er die Freiheit des Autors anerkennt. Hierin gründet eine weitere entscheidende Differenz zum Naturschönen, welches Sartre aufgrund seines atheistischen Standpunkts ablehnt (vgl. WiL 45). Da sich nichts an einem sinnlichen Schauspiel von sich aus als von einem Schöpfer gewollt darbietet, kann nach Sartre die Naturschönheit niemals an unsere Freiheit appellieren. Die Farbe des Grases ist das Resultat biologischer Gesetze oder geographischer Konstanten und keines göttlichen Willens. Der Schein von Zweckmäßigkeit legt zwar nahe, das Gesehene wie ein Kunstwerk zu betrachten und in der Gesamtheit des Laubs, der Formen und Farben eine beabsichtigte Ordnung zu vermuten. Aber diese 35
Vgl. Kohut, ebd., 108. Vgl. T. König, ebd., 48: »(E)s steht dem Leser frei – sofern er die Fähigkeit dazu erworben hat – das gesteuerte Neuschaffen des Kunstwerks, bei dem er seine ganze Person einbringen muß, zu unternehmen, es ist sein freier Entschluß«; darin liegt nach Brunkhorst der Unterschied zu bloßer Propaganda (vgl. »Sartres Theorie des Intellektuellen«, 420). 36
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Illusion eines Appells verflüchtigt sich aufgrund der Beliebigkeit der Verbindungen: Die Natur lenkt und steuert nicht, und das Sein geht immer der Zweckmäßigkeit voraus – mit anderen Worten, es ist kontingent: »(W)ir bleiben allein, wir sind frei, diese Farbe mit jener andren oder einer dritten zu verknüpfen, den Baum und das Wasser oder den Baum und den Himmel oder den Baum, das Wasser und den Himmel miteinander in Verbindung zu bringen. Meine Freiheit wird Laune; je mehr ich neue Beziehungen herstelle, desto mehr entferne ich mich von der illusorischen Objektivität, die mich herausforderte; ich träume über bestimmte Motive, die von den Dingen vage skizziert sind, die natürliche Realität ist nur noch ein Vorwand für Phantasien« (WiL 46).37 In der jeweiligen Beurteilung des Naturschönen zeigt sich, wie Lesch feststellt, »die größte Diskrepanz zwischen Sartre und Kant«.38 Für Sartre ist die Natur nur ein Feld mechanistischer Kausalketten, die ebenso deterministisch wie kontingent sind. Da die Naturschönheit keinem göttlichen Zweck entspringt, kann sie kein Appell an den Betrachter sein. Hinter Kants Zweckmäßigkeit der Natur stehen dagegen Vorstellungen von Organizismus und Naturteleologie.39 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Sartre gegen Kant erstens einwendet, daß das Werk nur in der Rezeption existiert und zweitens das Naturschöne in Abrede stellt oder zumindest für unzulänglich erklärt.40 Der zweite Einwand zeigt die enge Verbindung der Ästhetik Sartres mit seinem existentialistisch-atheistischem Weltbild. Für diesen Atheismus versucht der ontologische Beweis eine philosophische Begründung zu liefern und gibt damit auf diesem Wege auch der Ästhetik ihre spezifische Prägung. Ein Objekt entgeht nur dann der allgemeinen Kontingenz, wenn es seinen Ursprung in einer Subjektivität hat, d. h. wenn der Wert das Sein hervorbringt.41 Aber einen solchen Legitimationszusammenhang lehnt Sar37
Jemand, der unentwegt den realen Gegenständen der Welt eine Zweckmäßigkeit und einen auf ihn bezogenen Appell unterstellte, befände sich wie Handkes Josef Bloch in Die Angst des Tormanns beim Elfmeter in einem pathologisch-paranoiden Universum: »Buchstäblich war alles, was er sah, auffällig. Die Bilder kamen einem nicht natürlich vor, sondern so, als seien sie extra für einen gemacht worden. Sie dienten zu etwas« (ebd., 87). 38 Lesch, ebd., 328, Anm. 32. 39 Vgl. Kant, ebd., 239, 294. 40 Diese Haltung entspricht seiner kulinarischen Bevorzugung des Kuchens, bei dem Geschmack, Form und Farbe ausdrücklich gewollt sind, d. h. ihren Ursprung in der menschlichen Freiheit haben, gegenüber dem Obst, das kontingent ist. So erklärt er im Gespräch mit Simone de Beauvoir: »Wenn ich nämlich Lust habe, etwas Süßes zu essen, esse ich lieber etwas, was von Menschen gemacht ist, einen Kuchen, eine Torte. Dabei ist das Aussehen, die Zusammensetzung, sogar der Geschmack vom Menschen gewollt und durchdacht worden. Obst dagegen hat einen zufälligen Geschmack« (de Beauvoir, Die Zeremonie des Abschieds, 429). 41 Siehe Howells, ebd., 17: »Sartre’s emphasis on purpose as the essential element of
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6. Imagination und Ästhetik II
tre mit jeder religiösen Welterklärung für die Realität ab, um sie allein dem Imaginären bzw. der Kunst als ausschließlichen Bereich objektiver Irrealitäten vorzubehalten.42 Der Autor garantiert die Sinnhaftigkeit, und der Leser, der die Objektivität des Werks stiftet, weiß, daß nichts kontingent, sondern alles ausdrücklich gewollt ist, während Naturschönheit ohne dieses Moment des ›gesteuerten Schaffens‹ »simply in the eye (or mind) of the beholder«43 liegt. Dagegen schreitet der Leser eines Romans »in Sicherheit vorwärts«. Und »(s)o weit er auch gehen kann, der Autor ist immer weiter gegangen als er« (WiL 46). Alles in allem erweist sich die Lektüre also als »ein Pakt der Hingabe zwischen Autor und Leser« (WiL 47). Hier besteht anders als in Hegels Herr-Knecht-Beziehung ein Verhältnis wechselseitigen Anerkennens und Vertrauens, das letztlich ja darauf beruht, daß das Kunstwerk imaginär ist und zu seiner Konstituierung auf den Prozeß der Rezeption angewiesen ist.44 In Sartres Auffassung des Autor-Leser-Verhältnisses liegt allerdings ein deutlicher Widerspruch vor: Zunächst wird erklärt, daß der Leser erfindet, daß er einen Gegenstand schafft, den der Autor »niemals gekannt« (WiL 40) hat, weswegen man eben auch nicht von einer Wiederentdeckung oder einer bloßen Enthüllung sprechen könne. Inwiefern kann noch von einer Erfindung die Rede sein, wenn der Leser die Garantie hat, daß jede seiner Sinnstiftungen vom Autor, der schon »immer weiter gegangen« (WiL 46) ist, ausdrücklich gewollt ist und ihren Ursprung in dessen Freiheit hat? Einerseits soll der Leser erfinden und nicht wiederentdecken, andererseits ist alles schon zuvor ausdrücklich ›gewollt‹, bzw. hat seinen Ursprung in der Subjektivität des Autors, weswegen der Leser das Werk niemals ausschöpfen kann. Sartre vertieft in seinen Ausführungen auch die bereits in den Schlußfolgerungen von Das Imaginäre zur Sprache gekommene enge Korrelation zwischen Realität und Imagination. Das Kunstwerk beschränkt sich, wie es beauty appears in many ways as the corollary of his belief in the contingency of the natural world: only man can have purpose and in so far as a work of art may contain elements which are not fully purposeful it betrays the reader who is seeking an alternative to contingency«. 42 Sartre hat sich in seiner Autobiographie Die Wörter selbstkritisch über diese Übertragung religiöser Kategorien auf den Bereich der Ästhetik lustig gemacht. Er steht damit jedoch in einer bestimmten literarischen Tradition, die er selbst in seiner Flaubert-Studie analysiert hat. Siehe hierzu Kapitel 11. 43 Howells, ebd., 17. 44 Vgl. Koch, »Sartres Ästhetik«, 161; Biemel, ebd., 29; Ch. König, ebd., 44: »Durch die Koppelung von Schöpfung und Enthüllung als Vergegenständlichungstätigkeit kann Sartre davon schreiben, daß der Autor einen Appell an die Freiheit des Lesers richtet. Umgekehrt setzt die Konstruktion von textuellen Beziehungen – sofern sie nicht willkürlich sein sollen – die Annahme voraus, daß diese vom Autor entworfen und realisiert wurden: der Leser stützt sich auf die Freiheit des Autors«.
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nun heißt, nicht allein auf die erzählten, gemalten und skulptierten Gegenstände. Es gibt einen außerästhetischen Bezug; die dargestellten Gegenstände erscheinen vor dem Hintergrund der Welt: »Im Hintergrund der Abenteuer von Fabrice sind das Italien von 1820, Österreich und Frankreich und der Himmel mit seinen Gestirnen, die der Abbé Blancès befragt, und letztlich die ganze Erde« (WiL 48 f.).45 Das schöpferische Unternehmen zielt über die wenigen produzierten und reproduzierten Dinge, wie Sartre nun erklärt, auf eine Aneignung der ganzen Welt. Das Kunstwerk präsentiert die Welt so wie sie ist, aber als ob sie ihren Ursprung in der menschlichen Freiheit hätte.46 Korrelativ präsentiert sich dem Leser die Welt – »wie sie über Imaginarien angezielt wird« (WiL 50) – als ein Wert, »das heißt [als] eine der menschlichen Freiheit gestellte Aufgabe« (WiL 50). Eine solche »ästhetische Modifikation des menschlichen Entwurfs« (WiL 50), welche offenbar die in Das Imaginäre noch radikal getrennten Sphären der Kunst und der Realität vermittelt, besagt: Insofern das Kunstwerk für den Leser ein Zweck und eine Aufgabe ist und es gleichzeitig die außerästhetische Welt integriert, wird auch die reale Welt Wert und Aufgabe der Freiheit des Lesers. Wenn die Realität ins Imaginäre integriert wird, wird die Verantwortung für das Imaginäre (Bewußtsein von Spontaneität und Kreativität) durch den Zusammenfall von Enthüllung und Schöpfung zur Verantwortung gegenüber der Realität. Aufgrund seiner Beteiligung am Schaffensprozeß ist der Leser nun auch für die Ungerechtigkeiten in der von ihm geschaffenen Welt verantwortlich (vgl. WiL 52). Der immense moralische Anspruch, den Sartre seiner Literaturtheorie zumutet, kommt in der Beschwörung des ›Reichs der Zwecke‹ zum Ausdruck, von dem bei Kant die Rede ist47: »(W)enn es [das literarische Universum – Anm. J. B.] nicht wahrhaft das Reich der Zwecke ist […], so muß es zumindest eine Etappe auf es hin sein, mit einem Wort, es muß ein Werden sein« (WiL 52). Ungerechtigkeiten sollen darum als aufzuhebende und vor allem aufhebbare Mißstände und keineswegs als unabdingbare Naturgesetze vorgeführt werden. Da Enthüllung gleichzeitig Veränderung impliziert, erscheint auch ein imaginärer Gegenstand um so realer und lebendiger, je mehr man geneigt ist, ihn zu verändern (vgl. WiL 51). Die Romanwelt gewinnt ihr höchstes Maß an Dichte und Lebendigkeit, wenn »die schöpferische Enthüllung des Lesers« gleichzeitig auch »imaginäres Engagement im Handeln«
45
Sartres kursorische Ausführungen könnten durch Isers Beschreibungen gestützt werden, in denen er entwickelt, wie der literarische Text einen Bezug zu seiner außerästhetischen Umwelt aufbaut, indem er aus ihr Elemente herausgreift und damit implizit zugleich auch die jeweiligen Sinnsysteme, zu denen diese Elemente gehören, aufruft (vgl. Iser, ebd., 114–143). 46 Vgl. auch die Memoiren von Simone de Beauvoir, In den besten Jahren, 119. 47 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 433.
220
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(WiL 51) ist: »Indem zur Realität die Schilderung ihrer Möglichkeiten durch Kritik von der Zukunft (Entwurf) her addiert wird […], wird sie vollständiger, realer«.48 Ein Schriftsteller, der im Namen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung schreibt, ist, wie erklärt wird, ein unmöglicher Fall. »Denn sobald ich erfahre, daß meine Freiheit unlöslich an die aller andren Menschen gebunden ist, kann man von mir nicht verlangen, daß ich sie dazu verwende, die Unterdrückung einiger von ihnen zu billigen« (WiL 53; vgl. MRT 132). Niemals kann man daher »einen guten Roman zum Lobe des Antisemitismus schreiben« (WiL 53). Die Unterdrückung seiner Leser bedroht gleichzeitig auch den Schriftsteller selbst in der Ausübung seiner Kunst: »Einen Schmied wird der Faschismus in seinem Menschsein treffen, aber nicht notwendig in seinem Beruf: einen Schriftsteller trifft er in beidem, mehr noch im Beruf als im Leben« (WiL 54). Literatur ist darauf angewiesen, daß sich die wechselseitige Anerkennung der Freiheit nicht nur im Imaginären vollzieht, sondern daß »auch in der realen Welt das Streben nach Freiheit eine Chance hat«49: Da man nicht »für Sklaven« schreibt, ist die »Kunst der Prosa […] mit dem einzigen System solidarisch, wo die Prosa einen Sinn behält: mit der Demokratie« (WiL 54). Sobald die Demokratie bedroht ist, ist es auch die Prosa und umgekehrt. Wenn die Gefährdung der Demokratie allzu groß wird, muß der Schriftsteller seine Ohnmacht einsehen, im Namen der Literatur auf die Literatur verzichten und »zum Soldaten der Demokratie«50 werden. »Es kommt der Tag, wo die Feder gezwungen ist, innezuhalten, und dann muß der Schriftsteller zu den Waffen greifen« (WiL 54 f.). Der moralische Imperativ avanciert auf diesem Wege zum ästhetischen Maßstab: Gute Romane wenden sich an die Freiheit, schlechte an die Unfreiheit. Obwohl Sartre auch hier wieder erklärt (vgl. dazu schon Im 303), daß Literatur bzw. Ästhetik und Moral »zwei ganz verschiedene Dinge« (WiL 52) seien, zeigt sich hier die Schnittstelle: Wir »erkennen im Kern des ästhetischen Imperativs den moralischen Imperativ« (WiL 52). Aus der Wesensbeschreibung der Literatur lassen sich moralische Postulate folgern. Im Grunde ist, wie Lesch zutreffend bemerkt, der gesamte zweite Teil des Literaturessays »nichts anderes als der Versuch einer schrittweisen Begründung dieser Kernthese«.51 Brunkhorst erklärt: »Wenn es eine Brücke gibt, die die getrennten Reiche des Ästhetischen und des Moralischen verbindet, ohne doch ihre moderne Autonomie zu verletzen, dann, das ist Sartres Pointe, kann einzig und allein der für die Autonomie beider Sphären selbst noch konstitutive Begriff 48 49 50 51
Ch. König, ebd., 38. T. König,, ebd., 50. Kohut, ebd., 111. Lesch, ebd., 222.
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der Freiheit die Konstruktion tragen«.52 Die Beziehung, die über das Kunstwerk zur Welt hergestellt wird, scheint allerdings höchst problematisch. Dem literarischen Werk wird, wie Kohut bemerkt, nicht nur zwischen Autor und Leser, sondern auch zwischen Autor und Welt bzw. Leser und Welt eine Mittlerposition zugetraut, »die nur schwer mit der Definition des Kunstwerks als Zweck zu vereinbaren ist«.53 Offenbar gibt es auch zwei Freiheitsbegriffe, mit denen Sartre permanent operiert: Erstens die Freiheit, die jeweils vom Leser oder Autor anerkannt wird, und zweitens, jene, die es erst zu verwirklichen gilt. Im vorherigen Kapitel ist allerdings schon deutlich geworden, daß die Freiheit als Wesensbestimmung die konkrete Befreiung des Menschen nicht überflüssig macht. Alles in allem wirkt jedoch Sartres Argumentationsweg recht eilfertig und ist nur wenig überzeugend. Es hat sich bei der Erörterung des zweiten Teils von Was ist Literatur? gezeigt, daß die Imaginationen des Künstlers, die subjektive Hervorbringungen sind und wie die Schöpfungen Gottes unweigerlich in der Sphäre der Subjektivität verbleiben, durch das Auftauchen einer zweiten Subjektivität, nämlich des Rezipienten, einen objektiven Status erhalten. Der Einwand liegt nahe, daß die Literatur in dem Maße, wie ihr nun Objektivität zugesprochen werden soll, ihren irrealen Status einbüßt, wodurch in letzter Konsequenz das Imaginäre wieder unter das Wahrgenommene bzw. Reale subsumiert werden könnte. Hierauf ließe sich mit Sartre antworten, daß das literarische Werk zwar objektiv ist, insofern es nicht (ausschließlich) von demjenigen abhängt, der es hervorgebracht hat, aber insofern es nur durch und in der Lektüre entsteht, kann es nicht transphänomenal genannt werden. Nur weil zwei Subjektivitäten an seiner Produktion beteiligt sind, kann das imaginäre Objekt, einerseits zwar objektiv – d. h. ein Objekt der Enthüllung mit unerwarteten Aspekten – andererseits aber keineswegs transphänomenal sein, insofern es nicht ist, wenn es nicht gelesen wird. Die Lektüre ist nicht restlos der Subjektivität des Lesers unterworfen, weil der Text als materielles Analogon ihre Willkür durch Vorgaben kontrolliert. (Darum spricht Sartre auch von ›gelenktem Schaffen‹.) Auf diese Weise kann Sartre die Literatur den kritischen Einwürfen Ricœurs und Bossarts (s. o.) zum Trotz dem Imaginären zurechnen – allerdings bleiben deren Einwände insofern wirksam, als die QuasiBeobachtung als vermeintliches Wesensgesetz des Imaginären zumindest für den Teilbereich des intersubjektiven bzw. objektiven Imaginären aufgegeben werden muß. Kurz, die Literatur (wie jede Kunst) ist zwar imaginär, aber sie gibt sich nicht in einer Quasi-Beobachtung. Der Bereich der objektiven Gegenstände ist nun nicht länger identisch mit dem Bereich der Transphänomenalität. Alles Transphänomenale ist objektiv, aber nicht alles Objektive ist 52 53
Brunkhorst, ebd., 421. Kohut, ebd., 112.
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transphänomenal, insofern auch das Imaginäre, das ein Wahrnehmungsobjekt als materielles Analogon einschließt (also die images physiques) hierzu gehört. Die Objektivität ist anders als Dinglichkeit oder Transphänomenalität ein Gegenbegriff zur image mentale, nicht aber zum Imaginären schlechthin. Während ›Transphänomenalität‹ als ontologischer Begriff die phänomenologische Ebene überschreitet – dieser Begriff definiert nach Sartre geradezu den Bereich der Ontologie –, verbleibt der Begriff ›Objektivität‹ auf der Ebene der Phänomenologie. Charakterisiert ist damit ein Gegenstand, der das Bewußtsein überragt, es überrascht und enttäuscht, insofern er sich nicht in einer Quasi-Beobachtung gibt. Es gibt objektive imaginäre Objekte – also solche, die sowohl erschaffen als auch enthüllt werden; wenn sich allerdings herausstellen sollte, daß Sartre von transphänomenalen Irrealitäten spricht, so würde der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Imagination nicht länger aufrechtzuerhalten sein.
6. 2. Das Auftauchen eines neuen Imaginationsparadigmas in der Gegenüberstellung von Poesie und Prosa Wie sich herausgestellt hat, ist für den zweiten Teil von Was ist Literatur? der Gegensatz des vom Autor erschaffenen Objekts zum Wahrnehmungsobjekt von entscheidender Bedeutung. Der gesamte Argumentationsgang, welcher die Relevanz des Lesers für die Konstitution des literarischen Gegenstands entwickelt, stützt sich auf den in Das Imaginäre ausführlich erörterten Gegensatz zwischen dem Wahrgenommenen und dem Imaginären, dessen Grundcharakteristiken gerade in disjunktiver Abhebung zu denen des Wahrnehmungsobjekts dargestellt werden.54 Während gegenüber dem realen wahrgenommenen Objekt der Mensch unwesentlich ist, da er nur enthüllt, was auch unabhängig von ihm existiert (vgl. WiL 36), hält er dagegen das von ihm erschaffene imaginäre Objekt im Sein, d. h. jenes existiert nur, insofern er es erschafft, und aus diesem Grund ist der Autor wesentlich gegenüber diesem Gegenstand (vgl. WiL 36). Da beim imaginären Objekt das Erscheinen niemals das Wissen des konstituierenden Subjekts übersteigt, reduziert sich das Imaginäre gemäß dem Prinzip der Quasi-Beobachtung auf die schöpferische Subjektivität: Der Autor findet nur wieder, was er selbst hineingelegt hat; er hat keinen wirklich objektiven, d. h. von ihm unabhängig 54
Vgl. die Qualitäten des Wahrnehmungsobjekts: Anwesenheit, Reichtum bzw. Erscheinungs- und Beziehungsmannigfaltigkeit, Subjektunabhängigkeit/Transphänomenalität, präreflexives Bewußtsein der Passivität mit denen des Vorstellungsobjekts: Nicht-Existenz oder Abwesenheit, wesenhafte Armut, ein ›Nichts‹, insofern es sich auf sein Erscheinen reduziert, präreflexives Bewußtsein von Spontaneität und Kreativität (vgl. Im 21–35).
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existierenden Gegenstand erschaffen (WiL 37–39). Der Produktionsprozeß bleibt unvollständig, solange nicht der Leser als Mitschöpfer auftaucht, an den das literarische Werk appelliert, damit er den kreativen Prozeß vollendet und es in den Rang eines objektiven Gegenstands erhebt. Kurz, der Andere ist erforderlich, damit das Nicht-Wahrgenommene objektiv wird. Bevor vor diesem Hintergrund das Imaginäre im Horizont der Intersubjektivitätsproblematik thematisiert wird, soll zunächst der erste Teil von Was ist Literatur? vorgestellt werden, der den Unterschied zwischen Poesie und Prosa bzw. den Sonderstatus der Prosa gegenüber allen anderen Künsten untersucht. Dieser Anfangsteil der Literaturtheorie Sartres ist insofern von besonderem Interesse als hier erstmals innerhalb seiner Schriften eine Konzeption entwickelt wird, die gegenüber dem bisherigen Verständnis des Imaginären als Gegenpol zum Wahrgenommenen einen deutlichen Bruch markiert. Sartres 1947 entstandener Essay Was ist Literatur? ist eine Antwort auf die heftigen Vorwürfe und Debatten, mit denen die Kritiker auf den programmatischen Gründungsartikel seiner Zeitschrift »Vorstellung von Les Temps Modernes« reagierten (vom 1. 10. 1945), in dem Sartre vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der Résistance die Verantwortlichkeit des Schriftstellers für seine Epoche proklamiert (vgl. MD 156–170). Sartre antwortet auf die Vorwürfe, er propagiere eine Herabwürdigung der Literatur auf eine bloß politische Tendenzliteratur mit einer phänomenologischen Befragung des Wesens der Literatur: »(D)a die Kritiker mich im Namen der Literatur verurteilen, ohne jemals zu sagen, was sie darunter verstehen, ist es die beste Antwort, die Kunst des Schreibens ohne Vorurteile zu untersuchen« (WiL 12). Sartre grenzt zunächst allgemein das sprachliche Kunstwerk von den nicht-sprachlichen Künsten ab und unterscheidet in einem zweiten Schritt innerhalb der sprachlichen Kunst das literarische bzw. prosaische vom poetischen Werk. Nach dieser zweimaligen negativen Bestimmung folgt die positive Bestimmung der Literatur bzw. Prosa als Engagement.55 Sartres eigenem Selbstverständnis zufolge liefert er nur den Versuch einer theoretischen Begründung dessen, was Literatur seiner Meinung nach immer schon praktiziert habe.
55
Merks-Leinen charakterisiert Sartres Begriff des Engagements auf folgende Weise: »Engagement bezeichnet die Haltung eines Menschen, der sich der Zugehörigkeit zur Gesellschaft und seiner Zeit bewußt ist und von daher nicht die Position des reinen Zuschauers einnimmt, sondern sein Denken und Handeln in den Dienst einer bestimmten Sache stellt, um so zur Lösung politischer oder sozialer Probleme aktiv und verantwortlich beizutragen« (ebd., 10).
224
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6. 2. 1. Die nicht-sprachlichen Künste Entgegen der Ansicht einiger »ganz Schlaue(r)« (WiL 11) beabsichtigt Sartre keineswegs für die übrigen Kunstarten wie Malerei, Musik usw. ebenfalls ein Engagement einzuklagen. Der erste Teil von Was ist Literatur? dient vor allem der Aufgabe, die Sonderstellung der Prosa zu entwickeln. Mit dem Kriterium der Materie sollen die Künste so radikal unterschieden werden, daß eine einzige engagierte Kunst zum Vorschein kommt. Die Materie der Kunst ist entweder Zeichen (signe) oder Ding (chose): »(M)it Farben und Tönen arbeiten ist etwas anderes als sich durch Wörter ausdrücken«. Dies liegt daran, daß Töne, Farben und Formen »keine Zeichen« sind, »sie verweisen auf nichts, was ihnen äußerlich ist« (WiL 13), und haben daher keine Bedeutung (signification). Unter Berufung auf Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung nuanciert Sartre dieses Verdikt.56 Zwar ist keine Empfindung oder Qualität so rein, daß sie sich auf sich selbst reduzieren läßt: »Aber der verborgene kleine Sinn [le petit sens obscur], der sie als leichte Heiterkeit, zaghafte Traurigkeit bewohnt, bleibt ihnen immanent oder flimmert um sie herum wie ein Hitzedunst; er ist Farbe oder Ton«. Mit anderen Worten, »das Apfelgrün« läßt sich nicht »von seiner sauren Heiterkeit unterscheiden« (WiL 13). Ein Zeichen dagegen verweist auf ein anderes Ding, mit dem es durch Konvention verbunden ist (vgl. auch schon Im 43). Während die weißen Rosen Treue bedeuten, gibt es auch bestimmte farbliche oder klangliche Qualitäten, die Traurigkeit nicht bedeuten, sondern traurig sind. Der Unterschied liegt vor allem darin, daß man das Zeichen stillschweigend übergeht: »Aber wenn nach allgemeiner Übereinkunft weiße Rosen für mich ›Treue‹ bedeuten, so habe ich ja aufgehört, sie als Rosen zu sehen: mein Blick dringt durch sie hindurch und meint jenseits von ihnen jene abstrakte Tugend; ich vergesse sie, ich achte nicht auf ihre samtige Schwellung, auf ihren süßlich modrigen Geruch« (WiL 13 f.). Genau in dieser Hinsicht unterscheidet sich meine – in diesem Fall signifizierende – Haltung aber von derjenigen des Künstlers, der Farben und Töne nicht als Sprache bzw. als Zeichen, sondern als Gegenstände ansieht:57 »(D)iese Gegenstand-Farbe will er auf seine Leinwand bringen, und die einzige Veränderung, die er an ihr vornehmen wird, ist, daß er sie in einen imaginären Gegenstand verwandelt« (WiL 14). Man kann jedoch einwenden, das gemalte Bild spiegele die emotionale Verfassung des
56
Sartre bezieht sich wahrscheinlich auf folgende Seiten aus Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung: 23, 28, 44, 75 f. 57 Sartre schränkt jedoch ein: Dies gelte »(z)umindest im allgemeinen«, denn »Größe und Irrtum« der Malerei Klees bestehe darin, daß sie versuche, zugleich »Zeichen und Gegenstand« zu sein (WiL 14, Fußn. 1); vgl. ganz ähnlich auch Merleau-Pontys Darstellung der Kleeschen Malerei (»Das Auge und der Geist«, 37).
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Künstlers, denn es sind natürlich bestimmte Motive, die ihn veranlassen, eher Gelb als Violett auszuwählen. Dennoch drücken Farben Angst oder Freude nicht so aus, wie es Wörter vermögen: »Jenen gelben Riß am Himmel über Golgatha hat Tintoretto nicht gewählt, um die Angst zu bedeuten noch um sie hervorzurufen; er ist Angst und gelber Himmel zugleich« (WiL 14). Er ist eine Angst, die Ding geworden, die zu einem Riß am Himmel geworden ist, und dadurch auch die Grundmerkmale der Dinge – Sartre nennt »Undurchlässigkeit«, »Ausdehnung«, »blinde Dauer«, »Äußerlichkeit« und »Unendlichkeit von Beziehungen […] mit den andren Dingen« (WiL 14) – annimmt. Darum läßt sich diese Angst nicht mehr aus dem Riß wie bei einem Zeichen herauslesen. Sartre differenziert also zwischen dem »kleinen verborgenen Sinn« (WiL 13) oder einer »Seele«, die z. B. die Komposition eines Gemäldes bewohnt (vgl. WiL 14), und der konventionellen Bedeutung, die das Zeichen charakterisiert. Diese Unterscheidung ist in dem literaturtheoretischen Traktat noch ungenau und wird kaum begrifflich streng durchgehalten – Sartre spricht z. B auch von der »Bedeutung einer Melodie« (WiL 15).58 In der fünf Jahre später veröffentlichten Studie über den Skandal-Schriftsteller Jean Genet, die den Titel Saint Genet, Komödiant und Märtyrer trägt, erklärt Sartre weitaus genauer den Unterschied zwischen Sinn (sens) und Bedeutung (signification) in seinem kunsttheoretischen Denken: »Die Dinge bedeuten nichts. Dennoch hat jedes von ihnen einen Sinn. Unter Bedeutung ist eine bestimmte konventionelle Beziehung zu verstehen, die aus einem anwesenden Gegenstand den Stellvertreter für einen abwesenden macht; unter Sinn verstehe ich das Partizipieren einer anwesenden Realität in ihrem Sein an dem Sein anderer Realitäten, anwesenden oder abwesenden, sichtbaren oder unsichtbaren, und stufenweise am Universum. Die Bedeutung wird dem Gegenstand von außen durch eine bestimmte Intention verliehen, der Sinn ist eine natürliche Qualität der Dinge« (SG 476). Hier ist eine gewisse Doppeldeutigkeit zu bemerken, denn der Künstler verwendet erstens natürliche Gegenstände, die schon vor der künstlerischen Bearbeitung einen Sinn haben. Andererseits schafft er zweifellos auch zusätzlichen Sinn durch Komposition und Irrealisierung des Materials, durch die es zum Analogon eines Kunstwerks wird. Auf welche Weise sich dieser ›künstliche‹ Sinn mit dem vorherigen ›natürlichen‹ verbindet, wird von Sartre nicht geklärt. Der Sinn in Musik und Malerei ist viel enger als ein Gedanke auf der Ebene der Bedeutungen an die jeweilige Materie gebunden. Man kann diese nicht austauschen, ohne den Sinn zu verändern; der Sinn ist eine Bedeutung, die sich nicht von ihrem Bedeutungsträger lösen läßt, bzw., die dem Gegenstand 58
Vgl. Howells, ebd., 10.
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sozusagen »innewohnt« (PP 25). In seinem Essay Der Künstler und sein Gewissen (PP 15–31) über den Komponisten René Leibowitz (1950) nennt Sartre die Musik eine »nicht-bedeutende Kunst«. Darum gebe es auch keine »Sprache der Musik« (PP 22). Die Klangstruktur selbst ist unausschöpflich; man kann ihr keine Unterscheidungen zumuten, denn hierfür müßte sie gewisse Wortkommentare dezidiert ausschließen und andere anziehen (vgl. PP 23). Darum läßt die Musik unterschiedliche, ja sogar widersprüchliche Kommentierungen zu. Infolgedessen ist ein musikalisches Engagement undenkbar, es sei denn ein beigefügter Text – also ein der eigentlichen Komposition fremdes Element – engt die Rezeption des Musikstücks ein: »Man braucht nur den Text zu wechseln, und eine Hymne auf die russischen Gefallenen von Stalingrad wird zu einer Grabrede auf die Deutschen, die in dieser Schlacht gefallen sind« (PP 23). Für Sartre ist es diese Mehrdeutigkeit der imaginären Gegenstände der Malerei, der Musik usw., die ein Engagement dieser Kunstformen ausschließt. Der Künstler »schafft ein imaginäres Haus auf der Leinwand und nicht ein Zeichen von einem Haus«. Und dieses Haus »bewahrt die ganze Mehrdeutigkeit der realen Häuser« (WiL 15).59 Der Maler, der ein Elendsquartier auf der Leinwand hervorbringt, präsentiert, wie Sartre fortfährt, dieses nicht als Symbol oder Zeichen für soziale Ungerechtigkeit, sondern als Ding. Die Gefühle sind auf der Leinwand in ihrer ganzen Undifferenziertheit und Widersprüchlichkeit. Der Betrachter kann darin sehen, was er will: »(M)eint man denn, daß Picassos Guernica, jenes Meisterwerk, ein einziges Herz für die spanische Sache gewonnen hat? Und dennoch wird etwas gesagt, das man nie ganz und gar verstehen kann und das auszudrücken es einer Unendlichkeit von Wörtern bedürfte. Picassos lange Harlekine, mehrdeutig und ewig, von einem unentzifferbaren Sinn heimgesucht, untrennbar von ihrer krummen Magerkeit und den verwaschenen Rauten ihrer Trikots, sind eine Emotion, die Fleisch geworden ist und vom Fleisch aufgesogen wurde wie die Tinte vom Löschblatt« (WiL 15 f.). Dies ist für Sartre das Schicksal jeder Emotion, die sich nicht den Wörtern anvertraut, sondern sich in imaginären Gegenständen manifestiert. Man kann darum von den nicht-sprachlichen Künsten kein Engagement fordern (vgl. WiL 16). Jedes Engagement ist ausschließlich an die Vermittlung von Bedeutungen gebunden, die Sartre zufolge nur in den Wörtern stattfindet. Wer sich für Töne und Farben als Material seiner künstlerischen Tätigkeit entscheidet, kann innerhalb seiner Werke keine eindeutige Stellungnahme zur außerästhetischen Wirklichkeit abgeben. Nach Leschs Auffassung übertreibt Sartre allerdings die nicht-referentielle Struktur des nicht-sprachlichen Kunstwerks, was sich gerade in seinem Kommentar zu Picassos Guernica äußere: »(W)er wollte leugnen, daß der Betrachter vor einem Werk wie ›Guernica‹ in eine 59
Vgl. Merks-Leinen, ebd., 19.
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visuelle Kommunikation verwickelt wird, die auch vor jeder Versprachlichung politische Betroffenheit erreicht?«60 Sartre würde jedoch Lesch entgegnen, daß diese Betroffenheit nur dadurch erzielt werde, daß Picasso seinem verstörenden Gemälde den Namen ›Guernica‹ und damit auch eine bestimmte politische Bedeutung gegeben habe. Es findet hier eine Kommentierung statt, die bezeichnenderweise über ein Wort – also in Sartres Sinne ein Zeichen – erfolgt, welches eben die Mehrdeutigkeit der gemalten Gebilde soweit einschränkt, daß das Bild als politische Stellungnahme gelesen werden kann. Ein solches Engagement auf der Ebene der Kommentierung des Kunstwerks lehnt Sartre jedoch ab: »Nun darf der Künstler für das Publikum nicht der Kommentar zu seinem Werk sein: wenn die Musik sich engagiert, muß allein im Klangobjekt, so wie es sich unmittelbar unserem Ohr darbietet, ohne Hinweise auf den Künstler oder frühere Traditionen, das Engagement in seiner intuitiven Realität zu spüren sein […]: wenn man die Musik als nicht-bedeutende Kunst gewaltsam zum Ausdruck vorherbestimmter Bedeutungen verwendet, verfälscht man sie« (PP 24). Sartre schränkt das generelle Verdikt hinsichtlich der Unmöglichkeit eines Engagements in den nicht-sprachlichen Künsten allerdings mit dem diffusen Zusatz ein, sie könnten dies »zumindest nicht in derselben Art« (WiL 13) leisten. Im Leibowitz-Essay erwägt er beiläufig, ob ein musikalisches Engagement nicht auch auf der Ebene des Sinns möglich wäre, ohne allerdings zu einem Resultat zu kommen (vgl. PP 26).
6. 2. 2. Die Poesie – Wörter als Dinge Der Schriftsteller geht nun zwar mit Wörtern, d. h. also mit Bedeutungen, um. Sartre trifft jedoch auch noch innerhalb der sprachlichen Kunst eine Unterscheidung. Die Sprache kann auf zweierlei Weise Materie der Kunst sein: »(D)as Reich der Zeichen ist die Prosa; die Poesie steht auf der Seite der Malerei, der Skulptur, der Musik« (WiL 16). Die poetische Haltung liegt jenseits der alltäglichen utilitären Sprachverwendung. Sie nimmt die Wörter als Dinge und nicht als Zeichen (vgl. WiL 17). Sartre geht hier von einer Ambiguität des Sprachmaterials aus: Entweder ist das Wesentliche die Bedeutung (die Inhaltsebene), in diesem Fall durchdringt man die Sprache »wie eine Scheibe« (vgl. WiL 17) und zielt auf den gemeinten Sachverhalt. Oder man wendet die Aufmerksamkeit der Realität dieses Zeichens selbst zu (die Ausdrucksebene) und betrachtet es als Ding: Es gibt dann keine Unterordnung eines mit Stillschweigen übergangenen Namens unter das benannte Ding, sondern eine Priorität der Ausdrucksebene gegenüber der Inhaltsebene.61 »Der Mensch, 60 61
Lesch, ebd., 211. Vgl. Orth, »Gibt es einen phänomenologischen Zugang zur Literatur?«, 11 f.
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der spricht, ist jenseits der Wörter beim Gegenstand; der Dichter ist diesseits davon« (WiL 17). Er will nicht den Blick auf bestimmte Dinge in der Welt lenken, sondern mit den Wörtern etwas schaffen, das den Dingen ähnlich ist, das ebenfalls Ding ist. Behandelt der Dichter die Wörter außerhalb ihres Werkzeugcharakters wie der Maler seine Farben, so folgt daraus nicht der Verlust der konventionellen Bedeutung, denn nur sie allein erlaubt, die Wörter von bloßen Geräuschen oder wirrem Gekritzel zu unterscheiden. Aber diese Bedeutung ist nicht mehr das Bezeichnete, sondern sie wird zu einer Eigenschaft des Wort-Dings: Der Dichter »verwandelt […] die Bedeutung der Wörter in einen Sinn« (SG 477). Die Bedeutung geht ins Wort ein, sie wird von dessen auditiven, graphischen und visuellen Eigenschaften »aufgesogen, verdichtet, vermindert« (WiL 17). So sieht der Poet im Wort nicht das »Zeichen [signe] eines Aspekts der Welt«, sondern »das Bild [image] eines dieser Aspekte« (WiL 18; vgl. Im 137–141). In diesem Sinne entscheidet sich der Dichter für gewisse Wortbilder aufgrund ihrer Ähnlichkeit z. B. mit einem Baum, was schließlich so weit gehen kann, daß er nicht unbedingt die Wörter auswählt, die in der gewöhnlichen Sprachverwendung den Baum bezeichnen (vgl. WiL 18).62 Die poetische Haltung nimmt an der »Ökonomie der Wörter« eine Akzentverschiebung vor, durch die der Wortkörper der Welt ähnlich wird: »Sein Klang, seine Länge, seine männlichen und weiblichen Endungen, sein visueller Aspekt geben ihm ein Gesicht aus Fleisch und Blut, das die Bedeutung eher darstellt [représente] als ausdrückt [exprime]« (WiL 18). Da das poetische Wort keine utilitäre Funktion mehr einnimmt, muß sich der Dichter nicht für eine der Bedeutungsimplikationen entscheiden, sondern jede einzelne bietet sich als eine materielle Qualität dar, die mit den anderen verschmilzt: »Florence ist Stadt und Blume und Frau, sie ist Blume-Stadt und Frau-Stadt und Blume-Mädchen alles zugleich. Und der merkwürdige Gegenstand, der auf diese Weise erscheint, besitzt die Flüssigkeit von fleuve (Fluß), den sanften rotbraunen Glanz von or (Gold) und gibt sich schließlich mit décence (Dezenz) hin und verlängert durch die fortgesetzte Abschwächung des stummen e unendlich seine Entfaltung voller Vorbehalte« (WiL 18).63 62
Vgl. Biemel, ebd., 25; Mulatris, ebd., 165 f.; Schmitt, ebd., 29; Schulten, »Jean-Paul Sartres regressiv-progressive Methode des Verstehens«, 72 Anm. 8. 63 Friedrich schreibt über die moderne Dichtung: »Von Novalis bis Poe und Baudelaire war das Verfahren durchdacht worden, den lyrischen Text nicht nur aus Themen und Motiven entstehen zu lassen, sondern auch, ja vielleicht ausschließlich, aus den Kombinationsmöglichkeiten der Sprachtöne und aus den assoziativen Schwingungen der Wortbedeutungen« (Die Struktur der modernen Lyrik, 91). Er fügt hinzu, daß durch die Behandlung der Sprache »ein schwebender, unbestimmter Sinn« evoziert werde, »dessen Rätselhaftigkeit weniger von den Kernbedeutungen der Worte verkörpert wird als vielmehr von ihren Klangkräften und semantischen Randzonen« (ebd., 50). Im folgenden wird deutlich,
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Gerade indem die Intentionalität, die weltbezogene Zeichenhaftigkeit, außer Kraft gesetzt und damit der gewöhnliche Funktionszusammenhang ausgeschaltet wird, enthüllt sich eine Fülle von üblicherweise übergangenen Sinngehalten. Natürlich spielen hier auch individuelle Faktoren der jeweiligen Biographie des Lesers eine große Rolle: »Für mich ist Florence auch eine bestimmte Frau, eine amerikanische Schauspielerin, die in den Stummfilmen meiner Kindheit spielte und von der ich alles vergessen habe, außer daß sie lang wie ein langer Ballhandschuh war und immer ein wenig matt und immer keusch und immer verheiratet und unverstanden und daß ich sie liebte und daß sie Florence hieß« (WiL 18). Das poetische Wort ist für Sartre ein Mikrokosmos. Und wenn der Dichter mehrere dieser Mikrokosmen aneinanderfügt, so komponiert er weniger einen Satz, sondern er schafft einen imaginären Gegenstand: »Die Dinge-Wörter gruppieren sich nach magischen Harmonie- und Disharmonieassoziationen wie Farben und Töne, sie ziehen sich an, sie stoßen sich ab, sie verbrennen sich, und ihre Assoziation bildet die wirkliche poetische Einheit, die der Gegenstand-Satz ist« (WiL 19). Sartre veranschaulicht diesen Gedanken am Beispiel eines Verses aus Mallarmés Gedicht Brise marine: »Mais, ô mon coeur, entends le chant des matelots!« (vgl. WiL 19).64 Dieses ›Mais‹ am Anfang des Satzes verbindet nicht diesen Vers mit dem vorherigen, sondern es durchtränkt alle folgenden Wörter des Satzes mit einer vorbehaltenden Qualität, so wie Gedichte, die mit einem ›Und‹ beginnen, den sich anschließenden Versen die Eigenschaft einer Folge verleihen. Der Satz hat, wie Sartre erklärt, einen Geschmack des Vorbehalts oder des Einwands: Der Dichter »macht reale Eigenschaften des Satzes daraus; dieser wird ganz und gar Einwand, ohne daß er Einwand gegen etwas Bestimmtes ist« (WiL 20). Die Zusammenstellung der Wörter dient als Bild dieser affektiven Nuance. Der Grund für das Schreiben eines Gedichts kann zwar eine Leidenschaft, moralische Entrüstung oder politische Betroffenheit sein, aber der Dichter selbst erkennt seine Gefühle in dem Gedicht nicht mehr wieder: Sie durchdringen sich mit den Wörtern und verwandeln sich derart, daß sie sich durch Bedeutungen nicht mehr wiedergeben lassen. Als materielle Dinge sind Wörter wie Farben und Töne mehrdeutig: »Das Wort, der Ding-Satz, unerschöpflich wie die Dinge, übersteigen das Gefühl, das sie hervorgerufen hat« (WiL 21). Da die Dichter in gewisser Hinsicht immer ›zu viel‹ sagen, ist jegliche politische Stellungnahme und jedes Engagement in der Dichtung ausgeschlossen (vgl. WiL 20 f.). Sartre schränkt also die allumfassende Forderung eines literarischen Engagements, wie sie in der »Vorstellung der Temps daß auch Sartre selbst die Poesie, so wie er sie beschreibt, als eine historische Kategorie begreift. 64 Vgl. Mallarmé, Sämtliche Dichtungen, 34.
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Modernes« ausgesprochen wird, erheblich ein. Man muß zwischen ›nichts als Literatur‹ und ›engagierter Literatur‹ unterscheiden. Würde der Dichter seine Poesie engagieren, so müßte er sie als Instrument benutzen, was zur Zerstörung der Poesie führte. In einer längeren Fußnote fügt Sartre einige Bemerkungen hinzu, die den Ursprung der poetischen Haltung aufklären sollen. Während ich in der utilitären Perspektive des Alltags eine Handbewegung ausführe, um nach einem Gegenstand zu greifen, wird in der Poesie die Handlung zum Selbstzweck: »Die Vase ist da, damit das Mädchen bei ihrem Füllen die anmutige Geste hat, der Trojanische Krieg, damit Hektor und Achilles sich jenen heldenhaften Kampf liefern« (WiL 21). Die menschlichen Zwecke werden ebenso wie die reale Welt eingeklammert, sie werden unwesentlich. Auch wenn Sartre an dieser Stelle die Folgen dieser Umkehrung noch nicht erläutert, wird schon hier augenfällig: Wenn Troja nur belagert wird, damit Achilles und Hektor einander als gewaltige Helden gegenüberstehen können, wenn das Mädchen nur Wasser holt, um eine anmutige Geste zu machen, so erscheinen alle Ereignisse ausschließlich als ein ästhetisches Schauspiel. Die ästhetische Einstellung thematisiert Sartre ausführlich in der Flaubert-Studie (vgl. Kapitel 10). An dieser Stelle findet auch eine historische Einordnung statt, bei der das 19. Jahrhundert zum entscheidenden Wendepunkt wird. Die bisherigen Erläuterungen, die den Anschein einer Wesensbeschreibung der Poesie hervorriefen, also offenbar literarische Konstanten aufzeigen wollten, werden nun in einen relativ genau definierten historischen Kontext eingebettet: Die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft bringt die Dichter dazu, den Erfolg als bürgerlich abzulehnen (vgl. WiL 22). Sie identifizieren ihn mit der Mittelmäßigkeit der utilitären Kollektivität und besingen das Scheitern, um die Autonomie der Poesie zu wahren. »Unter Poesie versteht er [Sartre – Anm. J. B.] dabei ausdrücklich die moderne Lyrik, die gegen den alles umfassenden Utilitarismus des siegreichen Bürgertums das Scheitern der instrumentellen Sprache setzt und auf diese Weise die Sprache dem utilitaristischen Zugriff entzieht«.65 Die Poesie ist also durchaus Anfechtung, aber eine solche, die den Erfolg verweigert, weil sie nicht an eine Verbesserung der bestehenden Verhältnisse glaubt: »Wenn man also absolut vom Engagement des Dichters sprechen will, so können wir sagen, daß es jemand ist, der sich engagiert zu verlieren. Das ist der tiefe Sinn jenes Pechs, jenes Fluchs, auf die er sich immer beruft und die er immer einem Eingriff von außen zuschreibt, während es seine tiefste Wahl ist, nicht die Folge, sondern die Quelle seiner Poesie« (WiL 23). Es ist damit deutlich geworden, daß Sartre nicht die Dichtung als ahistorische Konstante beschreibt, vielmehr ist die »Abgrenzung der Literatur gegenüber 65
T. König, »Sartres Begriff des Engagements«, 43 f.
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einer nicht-engagierten Poesie […] auf die zeitgenössische Poesie [bezogen], deren Ansätze man bei Baudelaire sehen kann«.66 Es gibt für Sartre also auch »andre Formen der Poesie« (WiL 23). So ist z. B. für Barthes, der hier direkt an Sartre anzuknüpfen scheint, die »klassische Poesie« nur »eine ornamentale Version der Prosa«.67
6. 2. 3. Die Prosa – der Handlungscharakter der Sprache Der Prosaist oder Schriftsteller, wie Sartre ihn in eigenwilliger Begriffsverwendung auch nennt68, bedient sich der Sprache, um etwas mitzuteilen, er nimmt also die Haltung der utilitären Sprachverwendung ein. Sartre fügt der ursprünglichen Veröffentlichung von Was ist Literatur? in den Temps Modernes (Nr. 17–22, Februar bis Juli 1947) in der Buchausgabe von 1948 einige erläuternde Fußnoten hinzu. In der deutschen Übertragung von Georg Brenner wurden alle diese Fußnoten weggelassen. Sie tauchten erst 1982 in der Neuübersetzung von Traugott König wieder auf.69 Sartre begegnet besonders in der längeren Fußnote 5 möglichen Einwänden, die ihm idealtypische Vereinfachungen unterstellen könnten. Die Entgegensetzung von Poesie und Prosa ist nicht absolut, wird hier erklärt, denn tatsächlich existieren nur unreine Mischformen: »Wenn der Prosaist die Wörter allzusehr verhätschelt, zerbricht das eidos ›Prosa‹ und wir fallen in den Galimathias«. Wenn der Poet hingegen »erzählt, erklärt oder lehrt, wird die Poesie prosaisch«. Es handelt sich nach Sartre »um komplexe, unreine, aber genau umschriebene Strukturen« (WiL 24). Sartres Position ist also ›geschmeidiger‹, als es zunächst den Anschein hat: Ihm ist durchaus klar, daß das Prosawort nicht nur Zeichen, 66
Merks-Leinen, ebd., 12. Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, 42. – Friedrich beschreibt die moderne Poesie als »Feindin der realen Welt« (ebd., 203): »Der Unterschied zu früherer Lyrik liegt also darin, daß das Gleichgewicht zwischen Aussageinhalt und Aussageweise durch das Übergewicht der letzteren beseitigt ist« (ebd., 149). Die Abkehr von der Welt geht einher mit der Weigerung, eine Bedeutung zu vermitteln: »Für solches Dichten ist nicht die Welt real, sondern einzig das Wort. Daher wird von den modernen Lyrikern auch immer wieder betont: Das Gedicht bedeutet nicht, sondern ist« (ebd., 183). 68 Sartre differenziert nicht die Kategorie ›Schriftsteller‹ (écrivain) in Prosaist (prosateur) und Poet (poète), sondern ›Schriftsteller‹ ist synonym mit ›Prosaist‹ und der ›Poet‹ ihm gegenübergestellt. 69 Dies trifft auch auf die soeben berücksichtigte Fußnote zu, in der die Bestimmungen der Poesie historisiert werden. – Dahlhaus sieht Sartres Aussagen durch die hinzugefügten Fußnoten »wesentlich modifiziert«: »So hat schon z. T. die fehlende Kenntnis des vollständigen Essays zu einer problematischen Rezeption im Hinblick auf diese wichtige Unterscheidung [gemeint ist das Oppositionspaar Poesie und Prosa – Anm. J. B.] geführt« (ebd., 86). 67
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das Wort der Dichtung nicht nur Ding ist: »So wird jedes Wort gleichzeitig seines klaren gesellschaftlichen Sinns und bestimmter dunkler Anklänge, ich würde sagen: seiner Physiognomie wegen benutzt« (WiL 24). Merks-Leinen übergeht diese Fußnote, obwohl sie sich auf die Originalausgabe stützt, und geht davon aus, daß Literatur bei Sartre ausschließlich praktischen Interessen dient und keinen imaginären Status im strengen Sinne hat.70 was z. T. auch daher rührt, daß sie sich auf den ersten Teil dieses Essays beschränkt. Auf diese Weise gerät Merks-Leinen die Differenz zwischen der Alltagsprosa, die nur Bedeutungen vermittelt, und der literarischen Prosa, die wie die Poesie ebenfalls imaginäre Objekte konstituiert, aus dem Blick.71 Obwohl Sartre konzediert, daß es nur Mischtypen gibt, läßt sich doch jedes sprachliche Werk einer dieser beiden Kategorien zuordnen. Er besteht also auf dem deutlichen Unterschied zwischen Prosa und Poesie, da nur dann ein Engagement begründet werden kann (WiL 24).72 Eine weitere Differenzierung verlegt nun die Trennung von Ding und Zeichen in die Sprache selbst und begründet die Sonderstellung der Prosa. Vorausgesetzt ist dabei immer die problemlose Gleichsetzung von Wort und Zeichen, denn Sartres Auffassung der Prosa, die das Engagement aus der Bezeichnung ableitet, steht und fällt mit der These eines glasklaren Zeichens ohne Vieldeutigkeit und Eigengesetzlichkeit. Die Prosa ist für Sartre wesensnotwendig die einzige bedeutende Kunst, also die einzige, die nicht mit Gegenständen, sondern mit Gegenstandsbezeichnungen umgeht. Da es ihre Aufgabe ist, einen Gegenstand, einen Begriff oder eine Idee adäquat zu bezeichnen, ist sie zunächst vor allem ein Werkzeug: »Die Sprache ist ein besonderes Moment des Handelns und außerhalb seiner nicht verständlich« (WiL 25). Sartres Argumentationsgang läßt sich
70
Vgl. z. B. Merks-Leinen, ebd., 59 f. Wie Haardt dagegen erklärt, weist Sartre der Prosaliteratur »eine Mittelstellung zwischen Poesie und außerkünstlerischer Sprachverwendung« zu: Die »literarisch-künstlerische Form der Weltenthüllung« unterscheidet sich »von derjenigen in Alltag und Wissenschaft, sofern sie über den Entwurf imaginärer Objekte vermittelt ist« (»Von den bloßen Worten zu den Sachen selbst«, 338). Daß die literarische Prosa wie die Poesie imaginäre Objekte konstituiert, anstatt sich, wie die rein pragmatische Prosa über Bedeutungen leerintentional auf die Welt zu richten (vgl. Im 47), wird allerdings erst im zweiten Teil von Was ist Literatur? deutlich. 71 Gerade weil die literarische Prosa imaginäre Objekte hervorbringt, die anders als die konventionellen Zeichen innerhalb der Sphäre der Subjektivität des Autors verbleiben, bedarf es des Lesers, der sie erst als Objekte erfassen kann. Während der erste Teil von Was ist Literatur? also die Prosa von den übrigen Künsten absondert, trennt der zweite Teil dieser Schrift die literarische Prosa, die Objekte erschafft, welche ohne den Leser keine Selbständigkeit erlangen, von der Alltagsprosa. Von da an sind die Bestimmungen der Prosa, die Sartre aufführt, literaturspezifisch. Ausführlicher wird die Gegenüberstellung von Alltagsprosa und literarischer Prosa in Das Imaginäre behandelt (vgl. vor allem Im 108 f.). 72 Kohut bemerkt hierzu treffend: »Sartre weiß um die Komplexität der Erscheinungen, aber er übergeht sie um seines Zieles willen« (ebd., 102).
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folgendermaßen zusammenfassen: Sprechen ist handeln, handeln ist enthüllen und enthüllen ist verändern (vgl. EH 188; WE 33; SN 569 f.). Erkennen und Handeln sind, wie sich schon im fünften Kapitel gezeigt hat, untrennbar: »Das Erhellen des Seins geschieht also vom Nicht-sein aus: ich verstehe den Zustand Frankreichs, meiner politischen Partei, meiner konfessionellen Gruppe, indem ich davon ausgehe, wie ich ihn gern hätte, wie ich entwerfe ihn werden zu lassen« (WE 42 f.). Und das Handeln selbst besitzt, wie Sartre in seiner üblichen zuspitzenden Art formuliert, einen revolutionären Aspekt: »Das Handeln, was es auch sei, verändert das, was ist, im Namen dessen, was noch nicht ist«. Insofern es unweigerlich die »alte Ordnung« zerbricht, »ist es eine permanente Revolution« (SG 44). In diesem Sinne ruft ein Wort eine Veränderung hervor, indem es eine bestimmte Situation bezeichnet und damit transparent macht. Sartre macht auf all die Handlungen und Verhältnisse aufmerksam, die stillschweigend übergangen, absichtlich ignoriert und unbeachtet bleiben: »(W)ir tun etwas, wir sehen es uns nicht tun« (SWL 21). Zerrt die Benennung die verschwiegenen Tatsachen ans Licht, so wird ihrem Urheber gegen seinen Willen ihre Bedeutung und seine Verantwortlichkeit vor Augen geführt: »Die Sprache nimmt in gewisser Weise jede Unschuld und konfrontiert die Person zugleich mit ihrer Verantwortlichkeit« (SWL 21).73 Niemand bemerkt die Unterdrückung der Farbigen, vielleicht nicht einmal sie selbst, bis jemand mit einer Benennung darauf hinweist. Das verantwortliche Individuum erkennt, was es tut und ihm wird klar, daß auch die anderen es beurteilen: »(S)eine flüchtige Geste, die es vergaß, als es sie machte, fängt riesig zu existieren an, für alle zu existieren, sie integriert sich in den objektiven Geist, sie gewinnt neue Dimensionen, sie wird vereinnahmt« (WiL 26; vgl. SG 35; MD 121). Die Literatur bringt also Öffentlichkeit hervor.74 Wenn der Prosaist handelt, indem er durch das Wort enthüllt, ist es legitim, ihn zu fragen, warum er über dieses schreibt und nicht über etwas anderes, warum er also lieber diesen Aspekt der Welt verändern will als jenen: »Warum willst du lieber die Beschaffenheit der Briefmarken verändern als die Art, wie in einem antisemitischen Land der Jude behandelt wird?« (SWL 22). Der Schriftsteller, wie Sartre ihn sich wünscht, ist jemand, der gewählt hat, einen bestimmten Aspekt der Welt zu enthüllen, damit die Menschen ihm gegenüber ihre volle Verantwortung einsehen. Er verschreibt sich der Aufklärung; seine Funktion liegt darin, dafür zu sorgen, daß niemand gegenüber der Welt in Unkenntnis bleibt und sich für unschuldig halten kann: »Der ›engagierte‹ Schriftsteller weiß, daß Sprechen Handeln ist: er weiß, daß Enthüllen Verändern ist und daß man nur enthüllen kann, wenn man verändern will« (WiL 26). Zusam73
Vgl. Biemel, ebd., 27. Vgl. Knapp, »Sprache und Politik bei Sartre«, 137; sowie Merks-Leinen, ebd., 71; Orth, ebd., 15. 74
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menfassend läßt sich also über das Verhältnis der Kunstformen zum Engagement feststellen: »(D)ie Literatur, und nur sie, ist engagierte Kunst, alle übrigen Künste, und zu ihnen gehört auch die Poesie, schließen das Engagement in sich aus«.75 Dies folgt aus der Entscheidung des Künstlers für ein bestimmtes Material oder für die Art der Behandlung dieses Materials. Allerdings ergibt sich die Forderung des Engagements aus dem Sachverhalt, daß die Prosa eine Form des Handelns ist.76 Da diese Forderung aus der Struktur des Handelns hergeleitet wird, ist sie im Grunde nicht spezifisch für die Prosa, sondern läßt sich mit demselben Recht auf alle Bereiche ausdehnen, in denen menschliches Handeln erfolgt. Danto faßt den entscheidenden Unterschied zwischen Poesie und Prosa prägnant zusammen: »Der Poet gebraucht die Worte in einer für Poeten, die ›engagiert‹ sein wollen, gerade falschen Weise, während der Prosaist sie so gebraucht, daß er überhaupt nur engagiert sein kann«.77 Trotzdem gibt es natürlich auch in der Prosa verschiedene Schreibweisen: »Man ist nicht Schriftsteller, weil man gewählt hat, bestimmte Dinge zu sagen, sondern weil man gewählt hat, sie auf eine bestimmte Weise zu sagen« (WiL 28). Sartre gibt zu, daß der Stil den Wert der Prosa ausmacht, aber bei einem wirklich gelungenen Werk bleibt er, seiner Ansicht nach, »unbemerkt« (vgl. WiL 28). Entgegen der Ansicht vieler Stilisten geht »bei guten Autoren« (WiL 29) die Wahl des Sujets derjenigen des Stils voraus. Der Stil entwickelt sich deswegen weiter, weil auch die Literatur immer wieder neue Fragen stellt: Ein bestimmtes Weltbild und aktuelle gesellschaftliche Probleme lassen den Künstler neue Techniken und neue Erzählweisen entwickeln, die diesen Themen angemessen sind. Die zeitgenössischen Schriftsteller haben andere Verfahren als Racine oder Saint-Évremonds, weil die Sprache des 17. Jahrhunderts ungeeignet ist, um über Lokomotiven oder das Proletariat zu schreiben: »Danach werden uns die Puristen vielleicht untersagen, über Lokomotiven zu schreiben. Aber die Kunst ist niemals auf der Seite der Puristen gewesen […]. Man weiß genau, daß reine Kunst und leere Kunst ein und dasselbe sind und daß der ästhetische Purismus nur ein brillantes Verteidigungsmanöver der Bürger des vorherigen Jahrhunderts war, die sich lieber als Philister denn als Ausbeuter entlarvt sehen wollten« (WiL 29).
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Merks-Leinen, ebd., 59. Siehe auch Mulatris, ebd., 256: »Saisir le langage comme action, c’est découvrir toute sa dimension fondamentalement éthique«. 77 Danto, ebd., 43. 76
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6. 2. 4. Die widersprüchliche Auffassung des Imaginären in Was ist Literatur? Vergleicht man die Ausführungen im ersten und zweiten Teil von Was ist Literatur? miteinander, so fällt eine deutliche Widersprüchlichkeit in der Auffassung des Imaginären bzw. des Kunstgegenstands ins Auge: Wenn poetische Werke imaginär sind,78 wie können sie dann dem Prinzip der QuasiBeobachtung zum Trotz vieldeutig sein, ja sogar an den Grundeigenschaften der Dinge teilhaben? Wie kann der Autor in dem von ihm selbst hervorgebrachten poetischen Gegenstand seine Gefühle nicht mehr wiedererkennen, weil das Ding-Wort und der Ding-Satz »unerschöpflich wie die Dinge« sind und sie »das Gefühl, das sie hervorgerufen hat«, in jedem Fall »übersteigen« (WiL 21)?79 In völligem Widerspruch zum Prinzip der Quasi-Beobachtung zeigt Sartres Florence-Beispiel, daß das poetische Wort, also das Wort, demgegenüber keine utilitäre, sondern eine imaginierende Haltung eingenommen wird, einen ungeheuren, vom Autor kaum zu kontrollierenden Reichtum an Sinngehalten offenbart (vgl. WiL 18).80 Ebenso dürfte der gelbe Riß am Himmel in Tintorettos Gemälde nach dem Erkenntnisstand von Das Imaginäre und dem zweiten Teil von Was ist Literatur? niemals mehr sein, als der Künstler von ihm weiß. Aber jener gelbe Riß ist statt dessen, wie es heißt, »eine Ding gewordene Angst, eine Angst, die in einem gelben Riß am Himmel umgeschlagen ist und damit von den Eigenqualitäten der Dinge überzogen, behaftet mit ihrer Undurchlässigkeit, mit ihrer Ausdehnung, ihrer blinden Dauer, ihrer Äußerlichkeit und jener Unendlichkeit von Beziehungen, die sie mit den anderen Dingen unterhalten; das heißt sie ist keineswegs mehr ablesbar« (WiL 14). Wenn die Kunst dem Imaginären zugehört, wie kann dann ein künstlerischer Gegenstand, der doch aufgrund dieser Zugehörigkeit dem Prinzip der Quasi-Beobachtung unterstehen und sich daher durch »eine Art wesenhafter Armut« (Im 24) auszeichnen müßte, trotzdem an der »Unend78
Die Beschreibungen des Wortes in der Imagination in Das Imaginäre (vgl. Im 137– 141; siehe auch 106–113) und die des Wortes in der Poesie in Was ist Literatur? (vgl. WiL 17–20) bringen trotz unterschiedlicher Akzentuierung dieselben Merkmale zutage. 79 Vgl. WiL 21: »(W)enn der Dichter seine Leidenschaften in sein Gedicht eingehen läßt, so erkennt er sie bald nicht mehr wieder: die Wörter ergreifen sie, durchdringen sich damit und verwandeln sie: sie bedeuten sie nicht, nicht einmal in seinen Augen. Die Emotion ist Ding geworden, sie hat jetzt die Opazität der Dinge«. 80 In seinem Essay zur Dichtung Ponges erklärt Sartre, daß all diese semantischen Nuancen ihren Ursprung nicht in der Intention des Autors, sondern in der Geschichte des Wortes haben (vgl. MD 111). Der Dichter ist dann jedoch nicht nur der Schöpfer, der Wortobjekte produziert, sondern ebenfalls ein Entdecker, der empfänglich für jene von ihm unabhängigen Sinnesdimensionen ist und diese schließlich nach eigenem Ermessen organisiert und komponiert. Entgegen Sartres Verdikt kann also auch der Autor »gleichzeitig enthüllen und hervorbringen« (WiL 36).
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lichkeit von Beziehungen« teilhaben, die Dinge miteinander unterhalten?81 Wie kann das »imaginäre(s) Haus«, das der Künstler auf der Leinwand erschafft, »die ganze Mehrdeutigkeit der realen Häuser« (WiL 15) bewahren? Diese Mehrdeutigkeit und Dinghaftigkeit geht so weit, daß der Künstler selbst sich nicht mehr in seiner Schöpfung wiedererkennen kann (vgl. WiL 21). Inwiefern kann es aber dann andererseits zugleich möglich sein, daß – wie es dann im zweiten Teil von Was ist Literatur? heißt – »wir immer nur uns selbst in unserem Werk« finden (WiL 37), und »die Resultate, die wir auf der Leinwand oder auf dem Papier erhalten haben, […] uns niemals objektiv« erscheinen: »(W)ir kennen«, wie Sartre hier erklärt, »die Verfahren zu gut, deren Wirkungen sie sind« (WiL 37). Wie passen diese Überlegungen zu der These, das Kunstwerk sei nicht auf die Subjektivität des Künstlers zu reduzieren, da er sich in dem Geschaffenen selbst nicht mehr wiederfinde? Wozu bedarf es aus dieser Sicht noch des Lesers, der doch erst der Garant der Objektivität sein soll? Warum sollte der Künstler also »verzweifeln« (WiL 39), wenn auch schon ohne das Hinzukommen des Rezipienten sein eigenes Werk – sei es die durch die Farbe undurchdringlich gewordene Angst, sei es das poetische Wort als »Mikrokosmos« (WiL 19) – unausschöpflich ist, bzw. seine Freuden und Ängste durch ihre materielle Verkörperung in Farben, Tönen oder Ding-Wörtern eine Unendlichkeit an semantischen Implikationen entfalten? Liegt die Lösung möglicherweise in der Annahme, die konstitutive Relevanz des Lesers gelte nur für die Prosa? Man könnte vermuten, daß die Prosa allein durch den Leser, alle übrige Kunst jedoch schon durch ihre Materie objektiv sei. Sartre selbst scheint jedoch im zweiten Teil nicht von einer solchen Einschränkung auszugehen, denn er erklärt z. B.: »(D)ie Resultate, die wir auf der Leinwand […] erhalten haben, scheinen uns niemals objektiv« (WiL 37) – und bedürfen daher, wie sich hieraus schließen läßt, des Betrachters, um Objektivität zu gewinnen.82 Aber wenn sie »niemals objektiv« (s. o.) sind, wie können sie dann die Emotion des Künstlers, die das Motiv des Schaffensprozesses ist, mit den »Eigenqualitäten der Dinge« (WiL 14) überziehen? Sind sie nicht objektiv, dann können sie auch keine Vieldeutigkeit entfalten, und folglich wäre jede Kunstform für ein Engagement geeignet. Ist dagegen auch das prosaische Werk aufgrund seiner Materie vieldeutig, kann es – unter Sartres Prämisse, daß Vieldeutigkeit und Engagement sich ausschließen – allerdings überhaupt kein Engagement innerhalb der Kunst geben. Man kann also festhalten: Der 81
Diese Unendlichkeit ist ein Grundzug der realen Wahrnehmungsdinge und dürfte daher im Bereich der Imagination gar nicht anzutreffen sein (vgl. Im 24). 82 Weiterhin soll auch die Rezeption von Gemälden, Sinfonien und Statuen eine »Synthese von Wahrnehmen und Schaffen« (WiL 39) sein. Nicht allein die Rezeption prosaischer Werke hat also einen schöpferischen Zug.
Das Auftauchen eines neuen Imaginationsparadigmas
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erste Teil betont ein zentrales Charakteristikum der Objektivität, die Vieldeutigkeit, um ein Engagement der nicht-bedeutenden Künste auszuschließen, der zweite Teil leugnet gerade die Objektivität – und zwar auch bei den nichtbedeutenden Künsten –, um die Wichtigkeit des Lesers herauszustellen.83 Problematisch sind die Ausführungen im ersten Teil der Literaturtheorie, da sie offenkundig jenes von Sartre selbst proklamierte adäquate Verständnis des Imaginären unterlaufen, das an eine trennscharfe Abgrenzung zum Realen bzw. Wahrgenommenen gebunden ist. Andererseits trägt diese Abweichung bestimmten Unstimmigkeiten Rechnung, die schon bei der Erörterung der systematischen Theorie der Einbildungskraft in Das Imaginäre zutage getreten sind.84 Der Bereich der image physique im allgemeinen und derjenige der Kunst im besonderen kann schon deshalb nicht unter das Gesetz der Quasi-Beobachtung fallen, weil sein Analogon bzw. seine Materie ein Objekt der Wahrnehmung (z. B. die Farben in der Malerei, die Töne in der Musik) oder ein sprachliches Zeichen mit einer konventionellen, also subjektunabhängigen Bedeutung und Bedeutungsgeschichte ist. Aufgrund des physischen Charakters seines Analogons bewahrt das Kunstwerk gleich welcher Art immer auch eine gewisse Unabhängigkeit vom Bewußtsein des Künstlers. Dieser erschafft und ist doch überrascht von der sinnlichen Materialisierung seiner Schöpfung. Die gleiche Ambivalenz läßt sich auch am Beispiel des Lesers illustrieren, der streng nach den Grundprinzipien von Sartres Lehre der Einbildungskraft das Gelesene mit dem präreflexiven Selbstbewußtsein von Kreativität und Spontaneität erfassen müßte. Nun ist der Leser zwar zweifellos kreativ und schöpferisch, dennoch begreift Sartre sein imaginierendes Bewußtsein bzw. seine Lektüre aufgrund der Vorgegebenheiten seitens des Autors als ein »gesteuertes Schaffen« (WiL 40 – Hervorhebung von J. B.) bzw. als eine »Synthese aus Wahrnehmen und Schaffen« (WiL 39). Es gibt hier ein imaginäres Objekt, das nicht unabhängig von der Lektüre existiert und dennoch wie das
83
Hier tut sich noch ein weiteres Problem auf, das an dieser Stelle allerdings nur kurz umrissen werden soll: Die Kunst ist nach dem zweiten Teil ein Ausweg aus der Kontingenz, weil in ihr alles seinen Ursprung in der Subjektivität des Künstlers hat. Wenn jedoch die Materie der Kunst einen solchen letztlich ja unkontrollierbaren Reichtum aufweist, der z. B. im Fall der Poesie auch von Sedimenten der historischen Wortverwendungen herrührt (vgl. MD 111), so liegt die Frage nahe, ob die Kontingenz hierdurch nicht wieder auf den Bereich der Kunst übergreift. 84 Gilt das Gesetz der Quasi-Beobachtung universell für den Bereich der Imagination, d. h. nicht nur für die image mentale, sondern auch für die image physique, deren Analogon ein Objekt der Wahrnehmung ist, dann ist die von Sartre selbst in einem anderen Zusammenhang erwähnte Erfahrung, daß ich auf einem Foto Eigenschaften einer Person entdecke, die ich an ihr noch nicht kannte (Im 45), im Grunde ausgeschlossen: Eine image physique dürfte mich nichts lehren.
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Wahrnehmungsobjekt enthüllt werden muß, d. h. dessen Eigenschaften die Spontaneität des Lesers nicht willkürlich hervorbringen kann. Während im zweiten Teil von Was ist Literatur? die Kunst sich erst auf der Ebene ihrer Rezeption dem vermeintlich universellen Prinzip der Quasi-Beobachtung entzieht,85 zeigt der erste Teil dieser Schrift, daß die Kunst schon vor aller Rezeption allein aufgrund ihrer Materie die Subjektivität des Künstlers übersteigt. Der zweite Teil will jedoch ganz im Gegensatz hierzu die Notwendigkeit des Lesers für den künstlerischen Schöpfungsprozeß dadurch erweisen, daß er das Kunstobjekt zunächst wie eine image mentale, also wie ein Imaginäres beschreibt, das keinerlei Rückhalt in der intersubjektiv zugänglichen Welt hat (vgl. bes. WiL 36 f.). Das Fundament der Beweisführung ist hier die Unselbständigkeit und die Reduzierbarkeit der Schöpfung auf die Subjektivität des Künstlers. Dessen Schöpfung ist jedoch etwas anderes als die image mentale, also z. B. eine Blume, die ich mir in diesem Moment vorstelle: Der Künstler malt, schreibt usw., kurz, er materialisiert seinen Traum.86 Wie nun der erste Teil der Literaturtheorie lehrt, weist sein Produkt schon dank seiner Materie die Grundcharakteristiken der Dinge auf und kann daher als objektiv angesehen werden, d. h. die Objektivität des Kunstwerks ist nicht erst auf die Konstitutionsleistungen des Rezipienten angewiesen. Überflüssig scheint die Aufgabe des Lesers auch schon aus dem Blickwinkel bestimmter Äußerungen in Das Imaginäre zu sein: In gewisser Hinsicht ist die Tätigkeit des Autors trotz Sartres gegenteiliger Darstellung (vgl. WiL 37) mit der des Handwerkers durchaus vergleichbar, denn das Analogon seiner Vorstellungen ist das Zeichenmaterial, welches seine eigenen Gesetze hat – u. a. »jene Mechanismen, nach denen Laute und Sätze sich anordnen« (Im 139) – und daher zum schöpferischen Bewußtsein in einem Verhältnis der »Exteriorität« (Im 139) steht. Aus diesem Grund kann die Sprache uns über unsere Gedanken etwas lehren (vgl. Im 139),87 wie auch die Gedanken und Emotionen in den anderen Kunstformen durch ihre materielle Verkörperung in Farben, Formen, Lichtverhältnissen und Tönen dem Künstler fremdartig und überraschend
85
Das vom Rezipienten gelesene Werk ist irreal und dennoch objektiv: Es überrascht seinen Leser, er erfährt etwas Neues – und deswegen kann die Lektüre keine Form der Quasi-Beobachtung sein. 86 Bereits nach den Ausführungen im Schlußteil von Das Imaginäre ist eigentlich klar, daß das Analogon des Kunstwerks sich immer im außerpsychischen Bereich befindet. Ohne sinnliche Manifestation könnte die Kunst niemals ein Publikum finden. 87 In Das Sein und das Nichts erklärt Sartre, daß »man sein Denken objektiv durch die Sprache kennenlernt, während man es denkt, um es in die Sprache einfließen zu lassen« (SN 476). Die Fremdheit der Sprache zeigt sich auch in dem folgenden ›Allerweltsphänomen‹: »(J)eder von uns kennt dieses Abenteuer: die Wörter verschlucken unser Denken, bevor wir Zeit hatten, es zu erkennen. Wir hatten eine vage Absicht, wir umreißen sie durch Wörter, und plötzlich sagen wir etwas ganz anderes als das, was wir sagen wollten« (EH 56).
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erscheinen können. In dem Maße als der Autor nicht restlos »die Regeln der Produktion, die Maße und die Kriterien« (WiL 37) selbst hervorbringt, wird allerdings die Relevanz des Rezipienten für den künstlerischen Produktionsprozeß – zumindest auf der von Sartre bisher gelieferten argumentativen Grundlage – wieder eingeschränkt.
6. 2. 5. Die Imagination als Gegenpol zur Wahrnehmung oder als Gegenpol zur Praxis Es hat sich in diesem Abschnitt gezeigt, daß der Gegensatz zur Imagination im ersten Teil der Literaturtheorie nicht die Wahrnehmung, sondern vielmehr die Praxis ist – und dies ist der Grund für die eklatanten Widersprüche, die beim Vergleich der ersten beiden Teile von Was ist Literatur? nachgewiesen werden können. Die Poesie wird in Opposition zur Praxis verstanden (vgl. WiL 21). Die Sprache, welche sich außersprachlichen Zwecken verweigert, enthüllt einen Reichtum (vgl. das Florence-Beispiel), der in der alltäglichen Praxis verdeckt ist. Sie fungiert hier nicht als Zeichen, sondern als »Evokation von Bildern« (WkL 78). Wenn das Imaginäre jedoch nicht durch seine strenge Opposition zum Wahrgenommenen konzipiert wird, dann stellt der erwähnte Reichtum des Kunstobjekts keinen Widerspruch mehr dar. Er ist vielmehr gerade das Korrelat einer Einklammerung der Praxis. Nach diesem Verständnis des Imaginären ist das Gedicht nicht deswegen imaginär, weil es sich auf die Subjektivität des Autors reduziert. In diesem Fall wären ja die Behauptungen, der Autor könne seine eigenen Gefühle in diesem Gedicht nicht mehr wiedererkennen, und das poetische Wort unterhalte wie die realen Dinge eine Unendlichkeit von Beziehungen zu anderen Dingen,88 unvereinbar und widersinnig (zumindest im Rahmen von Sartres Denken). Das Gedicht ist aber nach dem neuen Paradigma, das das Imaginäre als Abwendung von der Praxis versteht, vielmehr deswegen imaginär, weil die Sprache, die es manifestiert, nicht der Praxis dient. Infolgedessen ist die Eigenständigkeit des Bereichs der Phantasie keineswegs gefährdet, wenn das Irreale Eigenschaften aufweist, die eigentlich dem Bereich der Wahrnehmung zugehören. Tendiert man nun allerdings zu der soeben dargelegten Auffassung, taucht sogleich ein neues
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Der mögliche Hinweis, eine solche Teilhabe an der Grundcharakteristik der realen Dinge sei erst das Resultat der Beteiligung des Lesers, ist unzutreffend: Die Objektivität der Schöpfung des Autors ergibt sich aus seinem verwendeten Material (Farben, Töne, Ding-Wörter), und nicht aus den Konstitutionsleistungen des Lesers. Wäre die Vieldeutigkeit im übrigen erst das Resultat der Lektüre, dann müßte gezeigt werden, warum die Objektivierungsleistung des Lesers bei der Prosa das Engagement erlaubt, bei den anderen Künsten hingegen ausschließt.
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Problem auf: Während die Poesie imaginäre (Sprach-)Objekte konstituiert, richtet sich die literarische Prosa »über Imaginarien« (WiL 50) auf die reale Welt. Wird die Imagination aber als Zurückweisung der Praxis verstanden, so ist nicht mehr einzusehen, wie die Prosa ohne Widerspruch gleichzeitig sowohl Praxis und Engagement, als auch Konstitution von ›Imaginarien‹ sein kann. Eine Lösung bietet möglicherweise die Weiterentwicklung der Literaturtheorie in Sartres späterem Denken, die nicht mehr von einem disjunktiven, sondern von einem dialektischem Verhältnis zwischen Poesie und Prosa ausgeht. Im Blick auf Was ist Literatur? lautet jedoch das Fazit, daß die den ersten beiden Teilen zugrunde liegenden Imaginationskonzeptionen einander wechselseitig ausschließen. Beide stellen auf unterschiedliche Weise den oben aufgeführten Einwand Ricœurs in Frage,89 wobei sie sich allerdings auf gründlichere Weise auch noch gegenseitig in Frage stellen. Das in Sartres Untersuchungen bisher nur andeutungsweise aufgetretene Verständnis des Imaginären als Gegenpol zur Praxis wird im literaturtheoretischen Traktat nicht genauer erläutert. Die wenigen Hinweise bleiben ergänzungsbedürftig. Sartre hat diese Fortführung seiner Konzeption der Einbildungskraft in Saint Genet, Komödiant und Märtyrer, vor allem aber in Der Idiot der Familie ausführlicher entwickelt. Es läßt sich feststellen, daß Sartres Imaginationskonzept von Was ist Literatur? an mehrdeutig ist, ohne daß er seine Imaginationsbegriffe explizit definiert, geschweige denn voneinander abgrenzt.
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Vgl. zu Ricœurs Kritik Kap. 6. 1. Der erste Teil von Was ist Literatur? weist die Materie der Kunst als Grund für Subjektunabhängigkeit, Reichtum an Sinngehalten, kurz: Objektivität auf, der zweite Teil führt ihren objektiven Charakter auf das Hinzukommen des Rezipienten zurück, durch dessen konstitutive Lektüre die Vorstellungen des Autors seiner subjektiven Sphäre entrissen und in die objektive Welt eingegliedert werden.
7. BLICK, AN-SICH-FÜR-SICH-SEIN UND ROLLE
Es soll nun der Versuch gemacht werden, den Phänomenbereich der Imagination in die Intersubjektivitätslehre Sartres einzuordnen. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird sich mehr und mehr herausstellen, daß das Imaginäre innerhalb von Sartres Denken eine fundamentale Rolle für die Intersubjektivität spielt – auch wenn dies bei der Lektüre der Untersuchungen zum Für-Andere-sein in Das Sein und das Nichts noch nicht unmittelbar ins Auge fällt. Dennoch wird hier bereits die Grundlage für die irreale Dimension des Sozialen entwickelt. Einstweilen kann als Impetus noch auf die Rezeptionstheorie aus Was ist Literatur? zurückgegriffen werden: Wenn durch das Auftauchen des Anderen bzw. des Kunstrezipienten eine Objektivierung der Phantasien des Künstlers hervorgebracht wird, die ansonsten in dessen subjektiver Sphäre verblieben, bietet sich, um einen Einstieg in die Problematik zu finden, die Frage an, ob der Andere auch auf mich selbst bzw. auf meine Subjektivität oder mein Selbstverhältnis einen vergleichbaren Einfluß hat. Spielt das Imaginäre auch jenseits des künstlerischen Bereichs eine Rolle innerhalb der sozialen Sphäre? In diesem Kapitel taucht das Imaginäre dabei ausschließlich im Sinne des ersten Imaginationsbegriffs – Imagination als Gegenpol zur Wahrnehmung – auf. Die folgenden Darlegungen referieren zunächst Sartres Gedanken zur Intersubjektivtität, durch die dem Subjekt eine neue Existenzdimension, nämlich jene der Objektivität, verliehen wird, und setzen diese Einsichten in einen Zusammenhang mit Sartres Wertlehre, nach der der Mensch eine – letztlich niemals gelingende – Synthese von An-sich und Für-sich bzw. Objekt und Subjekt anstrebt. Beide Themenkomplexe finden dann schließlich in seiner Rollentheorie zusammen, die sich u. a. aus dem Kapitel über die Unaufrichtigkeit entwickeln läßt: Angesichts des Faktums, daß ich Objekt für den Anderen bin, kann ich versuchen, das aufgrund der Nichtungsstruktur des Bewußtseins unmögliche An-sich-für-sich-sein zu realisieren, indem ich das Objekt, das ich aus ontologischen Gründen nicht sein kann, zu spielen versuche, damit der Andere mich so sieht, wie ich gesehen werden will. Auf diesem Weg trachtet das Für-sich schließlich auch danach, die Kontingenz zu überwinden und seine eigene Existenz durch den Anderen legitimieren zu lassen.
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
7. 1. Das Erblicktwerden durch den Anderen Den Ausgangspunkt bildet zunächst Sartres Abschnitt über den Blick im dritten Teil von Das Sein und das Nichts. Der ursprüngliche Andere, die fremde Subjektivität, darf, so heißt es dort, nicht wie in Husserls Cartesianischen Meditationen vermittelt durch seinen wahrnehmbaren und meinem eigenen ähnlichen Körper als von mir konstituiert aufgefaßt werden.1 Der Andere kann prinzipiell überhaupt nicht innerhalb der Wahrnehmungswelt erscheinen, denn alles, was dort vorkommt, ist kein Subjekt, sondern Objekt für mich. Sartre will hiermit ausschließen, daß der Andere auf Leistungen meines konstituierenden Bewußtseins reduziert werden kann (vgl. SN 425–429). Er geht in der Frage nach dem Sein des Phänomens ebenso wie in der Frage nach dem Sein des Anderen vom Bewußtsein aus und versucht, jeweils zu einem Sein vorzudringen, das unabhängig vom Erkanntsein (durch dieses Bewußtsein) existiert. »Man begegnet dem Anderen, man konstituiert ihn nicht« (SN 452). Auf diese Weise soll die Andersheit des Anderen geltend gemacht werden, welche eine Konstitution mit den Mitteln des mir Eigenen ausschließt: Wenn das Für-sich den Anderen erkennen könnte, wie er ist, d. h. wie er sich selbst erkennt, dann wäre er nicht mehr der Andere, sondern ich selbst (vgl. SN 427).2 Zwar ist der Mensch, den ich von meinem Fenster aus auf der Straße entlanglaufen sehe, für mich ein Objekt – d. h. »eine Modalität der Anwesenheit Anderer bei mir« ist also sicherlich die »Gegenständlichkeit« (SN 457). Aber, so erklärt Sartre, diese Erfahrung des Anderen ist nicht die erste und fundamentale Begegnung mit dem Anderen. Denn was die Wahrnehmung uns vermittelt, ist immer bezweifelbar (vgl. SN 453, 455) – wohingegen gezeigt werden soll, daß die Fremdexistenz absolut gewiß ist (vgl. SN 453 f.).3 Die Wahrnehmung des Anderen, welche 1
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, §§ 42–62. Da eine wirkliche Erkenntnis des Anderen nur möglich wäre, wenn ich ihn in der, wie Sartre sagt, »Interiorität« erfassen könnte, kommt dem Solipsismus ein gewisses Recht zu, was auch Merleau-Ponty zugibt (vgl. Phänomenologie der Wahrnehmung, 408). Siehe auch Haardt, »Michail Bachtin – ein Phänomenologe der Intersubjektivität?«, 222: »Sein Gesichtskreis [gemeint ist der Gesichtskreis des Anderen – Anm. J. B.] bzw. Horizont und der meinige fallen immer auseinander, fielen sie zusammen, wären wir ein und dieselbe Person«. 3 Daß die Existenz des Wahrnehmungsobjekts (nicht dessen Sinn) bestritten werden kann, ist im Rahmen von Sartres phänomenologischer Ontologie eigentlich unplausibel: Wenn die Existenz des Bewußtseins für Sartre wie für Descartes durch die Reflexion als absolut gewiß nachgewiesen wird und dieses Bewußtsein für Sartre wiederum nichts anderes als ein Bezug zu einem unabhängig von ihm existierenden Sein ist, dann muß dieses Sein – dem ontologischen Beweis zufolge – ebenso gewiß wie das Bewußtsein sein, das Gegenstand der Reflexion ist. Möglicherweise will Sartre mit seinen vagen Formulierungen aber nur darauf hinaus, daß dieses wahrgenommene Objekt zwar unbezweifelbar da ist, aber 2
Das Erblicktwerden durch den Anderen
243
immer täuschen kann, verweist auf ein fundamentales Gewahrwerden, in dem er nicht lediglich ein bloßes Wahrnehmungsobjekt ist, sondern als »›leibhaftige Anwesenheit‹« (SN 457) entdeckt wird. Schon der Objekt-Andere ist nicht nur etwas innerhalb meiner Welt, das ich dort zwischen den anderen Objekten einordnen kann. Vielmehr ist er selbst ein Zentrum, das Beziehungen zu den Dingen unterhält. Alle Dinge meiner Welt erhalten einen neuen Sinn, da sie in die Welt des Anderen eingegliedert werden, ohne daß die Weise dieser Eingliederung von mir erkannt werden könnte (vgl. SN 461 f.). Die Dinge stehen nicht nur meinen eigenen Sinnzuweisungen zur Verfügung, sondern wenden dem fremden Bewußtsein eine geheime Seite zu, die mir verschlossen ist. »So ist plötzlich ein Gegenstand erschienen, der mir die Welt gestohlen hat« (SN 462).4 Um auf diese Weise zu erscheinen, muß bereits der Objekt-Andere mehr als ein harmloses Objekt wie der Baum sein. Der fundamentale ursprüngliche Andere, den Sartre bis jetzt nur beschworen hat, ist jedoch seiner Ansicht nach nicht der, den ich sehe, sondern »grundsätzlich der […], der mich ansieht« (SN 465). Der Objekt-Andere erweist sich als derivativer Modus: Um den Objekt-Anderen als Anderen zu erkennen, muß ich schon das Erlebnis des Subjekt-Anderen gemacht haben. Sartre erklärt: »Das ›Vom-Andern-gesehen-werden‹ ist die Wahrheit des ›Den-Andern-sehens‹« (SN 464). Und diese Erfahrung des Gesehenwerdens durch den Anderen läßt sich weder von meinem Subjekt-Sein noch vom Objekt-sein des Anderen ableiten (vgl. SN 464 f.).5 Insofern das Erblicktwerden durch den Anderen der Wahrnehmung des (Objekt-)Anderen vorausgeht und sie bedingt, ist das Innewerden des Anderen als Subjekt »der eigentliche Typus meines Für-Andere-seins« (SN 458). Einen Blick (regard) zu erfassen bedeutet allerdings nicht, ein Blick-Objekt in der Welt zu erfassen bzw. einen Blick anzublicken, sondern Bewußtsein davon zu erlangen, daß ich angeblickt werde.6 Für Sartre gilt, »daß ich nicht Objekt für ein Objekt sein kann« (SN 464). Der Blick bringt die Augen, die ihn manifestieren, zum Verschwinden. Mit anderen Worten, solange ich mich als erblickt erfahre, können die Augen des Anderen für mich nicht der Gegenstand einer These sein, weswegen mir objektivierende Aussagen über den Anderen in dieser Haltung generell unmöglich sind. »Ganz im Gegenteil, statt den Blick an den Objekten, die ihn manifestieren, wahrzunehmen, erscheint mein Erfassen eines auf mich gerichteten Blicks keinesfalls sicher ist, daß dieses Objekt auch den Sinn ›anderer Mensch‹ zu Recht besitzt – solange es für mich primär ein Objekt bleibt. Dies wäre eine benevolente Interpretation, nach der die Fremderfahrungslehre Sartres mit seiner Erkenntnistheorie vereinbar wäre. 4 Vgl. Theunissen, Der Andere, 202. 5 Das Für-Andere-sein ist keine »Wesensnotwendigkeit« (SN 506 f.) des Für-sich, sondern eine kontingente Faktizität (vgl. SN 452, 536 f., 905). Allerdings wäre ein Für-sich ohne Für-Andere-sein kein Mensch (vgl. SN 401, 506, vgl. KDV 464). 6 Vgl. Ziegler, Anerkennung und Nicht-Anerkennung, 60 f.
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
auf dem Hintergrund der Zerstörung der Augen, die ›mich ansehen‹: wenn ich den Blick erfasse, höre ich auf, die Augen wahrzunehmen: sie sind da, sie bleiben im Feld meiner Wahrnehmung als reine Präsentationen, aber ich mache davon keinen Gebrauch, sie sind neutralisiert, aus dem Spiel, sie sind nicht mehr Objekt einer These […]. Nie können wir Augen, während sie uns ansehen, schön oder häßlich finden, ihre Farbe feststellen. Der Blick des Andern verbirgt seine Augen, scheint vor sie zu treten« (SN 466). Der fundamentale Andere ist kein Objekt, sondern dasjenige, durch das ich Objekt werde: »(I)nsofern ich für den Andern bin, enthüllt sich mir der Andre als das Subjekt, für das ich Objekt bin« (SN 619). Sartres berühmt gewordenes Beispiel ist das des Voyeurs, der eine Szene durch ein Schlüsselloch beobachtet (vgl. SN 467–469). Solange ich auf der Ebene des präreflexiven Cogito sozusagen selbstvergessen durch ein Schlüsselloch sehe, habe ich Bewußtsein von den meine Neugier weckenden Dingen und keinerlei Selbsterkenntnis: Ich bin meine Neugier, aber ich erkenne sie nicht. Wenn ich nun plötzlich Schritte höre, verändert sich die Situation schlagartig. Ich erfahre mich als vom Anderen gesehen. Den ursprünglichen Subjekt-Anderen erfahre ich also nicht in der Erkenntnis, die immer Objekte intendiert, sondern, wie es bei Sartre heißt, in der Scham (honte): »Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieses oder jenes tadelnswerte Objekt zu sein, das heißt, mich in diesem verminderten, abhängigen und erstarrten Objekt, das ich für den Andern bin, wiederzuerkennen. Die Scham ist Gefühl eines Sündenfalls, nicht weil ich diesen oder jenen Fehler begangen hätte, sondern einfach deshalb, weil ich in die Welt ›gefallen‹ bin, mitten in die Dinge« (SN 516).7 Scham ist in eins die »Anerkennung« (reconnaissance) (SN 406, 471, vgl. auch KDV 113) einer fremden Freiheit als Freiheit und als Andersheit sowie die Übernahme meines Objektstatus, d. h. meines Für-Andere-seins: »Ich erkenne an, daß ich bin, wie Andere mich sehen« (SN 406).8 Ich weiß, daß ich da draußen in der Welt des Anderen bin, daß dieser Andere mich sieht und mich beurteilt – und insofern der Andere einerseits der Andere und andererseits eine Freiheit ist, wird sich dieses Urteil meiner Erkenntnis immer entziehen (vgl. SN 473).9 Das Für-Andere-sein ist für das Für-sich eine »neue Existenz7
Vgl. Danto, ebd., 119 f.; Theunissen, ebd., 206. Sartres »Versuch, einen sozialontologischen Vorrang des ›Anerkennens‹ vor dem ›Erkennen‹ nachzuweisen«, ist vor allem von Honneth gewürdigt worden: »Es ist diese Kritik am Paradigma des ›Erkennens‹, die die besondere Herausforderung und ungebrochene Aktualität der Intersubjektivitätslehre Sartres ausmacht; in dem Versuch, die Gewißheit über die Existenz anderer Personen nicht mehr auf erkenntnistheoretischem Wege zu begründen, berührt sie sich mit den Ansätzen von Heidegger und Wittgenstein« (»Erkennen und Anerkennen«, 76). 9 Vgl. Haardt, ebd., 222. 8
Möglichkeit einer durch den Anderen vermittelten Selbsterkenntnis
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dimension« (SN 483). Ich bin mein eigenes Sein – aber ich bin es nicht für mich, sondern für den Anderen. Scham ist die »Wahrnehmung meiner selbst als Natur«, wobei »diese Natur mir entgeht und als solche unerkennbar ist« (SN 474): »(E)rblickt werden heißt sich als unerkanntes Objekt von unerkennbaren Beurteilungen, insbesondere von Wert-Beurteilungen, erfassen« (SN 481). In seiner Studie über den Dichter Baudelaire schreibt Sartre: »Die ›Tyrannei des menschlichen Antlitzes‹ wäre weniger zu fürchten, wenn nicht in jedes dieser Gesichter zwei Späheraugen gepflanzt wären. Überall sind Augen und hinter jedem Augenpaar wohnt ein Bewußtsein, das ihn sieht, das sich seiner schweigend bemächtigt und ihn verschluckt. Und das bedeutet, daß er klassifiziert, verpackt und mit einer Aufschrift versehen, die er nicht kennt, in den Herzen anderer wohnt« (B 92). Die Anderen sind bei Sartre Richter, deren Gesetze, nach denen sie mich beurteilen, ich nicht kenne. So bin ich »Objekt für alle anderen lebenden Menschen, unter Millionen von Blicken in die Arena geworfen und mir selbst millionenmal entgehend« (SN 503). Aufgrund ihres ›Draußen-seins‹ kann ich keine Intuition dieser »Entfremdungsdimension« (SN 904) haben; die menschliche Realität spürt in der Scham nur »daß alles, was sie unternimmt, immer eine Seite hat, die sie nicht gewählt hat« (SN 905). Diese »Kehrseite« entgeht mir »grundsätzlich« (SN 479), weil sie »für den andern ist« (SN 478). Jetzt als Objekt eines anderen Subjekts erhalte ich entgegen der ontologischen Bestimmung des Für-sich eine Identität: »Ich, der ich, insofern ich meine Möglichkeiten bin, das bin, was ich nicht bin, und nicht das bin, was ich bin, jetzt bin ich also jemand« (SN 475). Aber insofern diese Dimension für den Anderen ist, weiß ich weder, »was für einer ich bin, noch, welches mein Platz in der Welt ist, noch, welche Seite diese Welt, in der ich bin, dem Andern zuwendet« (SN 483). Für mich allein könnte ich niemals grob, sympathisch, häßlich, schön, geistreich usw. sein. Baudelaires Versuche einer Selbstergründung sind keine Spezifität dieses Dichters; in ihnen offenbart sich ein Grundzug der conditio humana: »Kann man jemals sich selbst berühren, sich selbst sehen? Diese unveränderliche und einzigartige Wesensart, die er sucht, wird vielleicht nur in den Augen der Anderen offenbar […]. Und da seine ›Natur‹ ihm entgeht, wird er versuchen, sie in den Augen der Anderen zu fassen bekommen« (B 30).
7. 2. Die Möglichkeit einer durch den Anderen vermittelten Selbsterkenntnis Insofern ich mich selbst als freundlich oder dumm, rücksichtsvoll oder ungeschickt beurteile, habe ich den Anderen schon vorausgesetzt, denn nur weil der Andere mich beurteilt, kann ich mich selbst beurteilen, mir also selbst
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
zum Objekt werden (vgl. SN 406).10 Nur der Andere soll mich nach Sartre lehren können, wer ich bin (vgl. SN 486).11 Wenn der Andere auch »die notwendige Bedingung jedes Gedankens [ist], den ich mir über mich selbst zu machen versuche« (SN 488) und ich seine »Vermittlung […] brauche, um das zu sein, was ich bin« (SN 516), so darf hierin dennoch keine Assimilation gleich der Hegels vermutet werden: Der »Skandal der Pluralität der Bewußtseine« (SN 442) ist laut Sartre nicht auflösbar, und deswegen gibt es auch keinen übergeordneten Gesichtspunkt gegenüber meinem eigenen und dem fremden Gesichtspunkt (SN 621, vgl. SN 456, 537, 544–548).12 Das Sein des Anderen muß »jeder von seiner eigenen Interiorität aus« (SN 442) erfassen: »(D)er Andere ist nicht für sich, wie er mir erscheint, ich erscheine mir nicht, wie ich für den Andern bin; ich bin ebenso unfähig, mich für mich zu erfassen, wie ich für den Andern bin, wie das, was der Andere für sich ist, von dem Gegenstand-Anderen aus zu erfassen, der mir erscheint« (SN 440). Die problemlose Perspektivübernahme von der nicht nur Hegel, sondern auch Mead ausgeht, ist von daher ausgeschlossen.13 Das Problem, welches hier auftaucht und vorerst nur angerissen werden soll, ist folgendes. Sartre grenzt sich von Hegel ab, dessen Annahme einer Erkennbarkeit des anderen Bewußtseins als ›epistemologischer Optimismus‹ abgelehnt wird (vgl. SN 436). Das Objekt-Ich, das mit dem Für-Andere-sein identisch ist (vgl. SN 513),14 ist mir einerseits unzugänglich – ich weiß nicht, wie der Andere mich
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Dies hat Waldenfels ganz ähnlich gesehen: »(A)lle Selbstkritik hat bereits etwas von einer internalisierten Fremdkritik« (»Die Verschränkung von Innen und Außen im Verhalten«, 68). Vgl. auch Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 32: »Meine Einstellung auf mich selbst ist ein typischer ›Spiegelreflex‹ auf Einstellungen des Anderen zu mir«. 11 Im Kommentar zu seinem Theaterstück Geschlossene Gesellschaft erklärt Sartre: »Wenn wir über uns nachdenken, wenn wir versuchen, uns zu erkennen, benutzen wir im Grunde Kenntnisse, die die andern über uns schon haben. Wir beurteilen uns mit den Mitteln, die die andern haben, uns zu unserer Beurteilung gegeben haben. Was ich auch über mich sage, immer spielt das Urteil andrer hinein. Was ich auch in mir fühle, das Urteil andrer spielt hinein« (ebd., 61). Vgl. auch Theunissen, ebd., 209. 12 Vgl. auch Sartres Hegel-Kritik SN 436–442 sowie hierzu auch Kampits, Sartre und die Frage nach dem Anderen, 63–76. Hieraus folgt für die Erzähltheorie Sartres Absage an den auktorialen Erzähler, mit der u. a. dem Schriftsteller Francois Mauriac der Prozeß gemacht wird: »(D)er Romancier ist keineswegs Gott« (MD 31; vgl. WiL 174–177). 13 Hauck sieht die Leistung Sartres gerade darin, das Augenmerk auf die grundsätzliche Fremdheit des Anderen gerichtet zu haben, »dessen Magie auf tiefere Bedeutungsstrukturen als diejenigen eines gemeinsamen Welthorizontes hinzuweisen scheint« (Fragen nach dem Anderen, 36). 14 Sartre scheint sich im übrigen selbst nicht entscheiden zu können, ob das Objekt-Ich an-sich (SN 473) oder weder an-sich noch für-sich, sondern eine dritte Existenzdimension ist (SN 513).
Möglichkeit einer durch den Anderen vermittelten Selbsterkenntnis
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sieht15 –, andererseits soll ich zugleich aber trotzdem durch die Erfahrung des Erblicktwerdens in der Lage sein, zu versuchen, mich mit den Augen eines Anderen zu sehen: »(M)an hat schon seit langem gesagt, daß der Andere mich lehrt, wer ich bin« (SN 492). Wie soll dies jedoch möglich sein, wenn ich mir den fremden Gesichtspunkt und deshalb auch mein Objekt-Ich, das nur der Andere sieht, nicht aneignen kann, eine Synthese zwischen meinem und dem fremden Bewußtsein entgegen Hegels Auffassung ausgeschlossen ist? Was bedeutet es also, wenn erklärt wird, ich werde durch den Anderen auch für mich zu einem Objekt, über das ich nachdenken und dem ich Eigenschaften zuschreiben kann? Unterstellt wird damit nichts geringeres, als daß ich nun doch wieder den mir unmöglichen Standpunkt des Anderen einnehmen und mich mit seinen Augen sehen könnte. Bedeutet dies aber nicht den erneuten Rückfall in den ›epistemologischen Optimismus‹? Es wird an späterer Stelle deutlich werden, daß auf diese Weise der Bereich des Imaginären ins Spiel kommt. Einstweilen sollen die Hinweise gesammelt werden, die Sartres Text selbst für dieses Problem zur Verfügung stellt: Seiner Ansicht nach bleibt mir vor allem der Weg über die Sprache, wenn ich in Erfahrung bringen will, was der Andere über mich denkt (vgl. SN 477, 623).16 Hierbei verwenden wir in einer analogen Gleichsetzung die Wörter, die unseren Körper-für-Andere bezeichnen, auch für unseren Körper, wie er für uns selbst ist (SN 623). Das Erfassen des eigenen Objekt-Ichs stützt sich also auf ein Wissen, das von der Sprache herrührt: »(I)ch benütze instrumentelle Begriffe, die vom Anderen zu mir kommen«. Und mit Hilfe dieser Begriffe versuche ich mich in der Selbsterkenntnis, wobei ich »in der Reflexion meinem Körper gegenüber den Gesichtspunkt des Andern einnehme« (SN 625). So ist für Sartre z. B. mein Charakter eine Gegebenheit, die ausschließlich auf der Ebene des Für-Andere-seins und darum »nur als Erkenntnisobjekt für den Andern« (SN 614) existiert. Die Sprache verweist auf die Intuition des Anderen, über die sie mich vermittels ihrer Bedeutungen über meine persönlichen Eigenschaften, meinen Berufsstand usw. unterrichtet (vgl. SN 907), ohne daß ich hierdurch eine Intuition dieser Eigenschaften gewinnen könnte: »Für mich bin ich ebensowenig Lehrer oder Kellner, wie ich schön oder häßlich, Jude oder Arier, geistreich, vulgär oder vornehm bin« (SN 907). Bei diesen Merkmalen handelt es sich um »vollkommen reale Existenzen« (SN 907), die
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Siehe auch Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, 89: »In dem, was ich für Andere bin, bleibe ich mir auf immer fremd«. 16 Honneth hat in seinem Aufsatz »Kampf um Anerkennung« offenbar nur den Abschnitt über den Blick berücksichtigt und gelangt daher zu dem voreiligen Schluß: »Sartre […] schließt eine solche Möglichkeit der sprachlichen Fortsetzung einer durch den Blickkontakt eröffneten Interaktion scheinbar völlig aus« (ebd., 173).
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
Sartre dennoch als »Unrealisierbare« (irréalisables) (SN 907) bezeichnet, da diejenigen, für die diese Merkmale »real gegeben« sind, sie nicht sein können, und diejenigen, die durch sie qualifiziert werden, sie nicht erkennen können. Der Andere hat die Intuition meines Objekt-Ich, aber er ist es nicht, ich bin es, aber mein Objekt-Ich kann nicht Gegenstand meiner Intuition sein. Wenn man mir mitteilt, daß ich vulgär bin, so kann ich dieses Attribut nur in dem Maße auf mich anwenden, als ich intuitiv die Vulgarität beim Anderen irgendwann einmal erkannt habe. Ich kann mich also erinnern, welchen Eindruck ein vulgärer Mensch macht, aber »ich kann die Bedeutung dieses Worts nicht mit meiner Person in Verbindung bringen« (SN 908; vgl. zum Unrealisierbaren auch T 411–413). Aber nicht nur die Sprache, sondern auch bestimmte Verhaltensweisen können mir bedeuten, was für ein Sein die Anderen mir verleihen. Sartre selbst erwähnt in diesem Zusammenhang nur Fälle, in denen ich als Objekt abgewertet werde. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum ich nicht in dem Verhalten des Anderen auch z. B. als Objekt der Bewunderung konstituiert werden könnte. »Ich erfahre und erdulde es [das Für-Anderesein – Anm. J. B.] in den Beziehungen und durch die Beziehungen, die ich zu den anderen unterhalte; in ihren Verhaltensweisen und durch ihre Verhaltensweisen mir gegenüber; ich begegne diesem Sein am Ursprung von tausend Verboten und Widerständen, auf die ich in jedem Augenblick stoße: weil ich ein Minderjähriger bin, habe ich dieses oder jenes Recht nicht – weil ich ein Jude bin, bin ich in bestimmten Gesellschaften bestimmter Möglichkeiten beraubt usw.« (SN 902).17
7. 3. Die Objektivierung des Anderen Wenn ich nun meinerseits versuche, den Anderen zu objektivieren, so liegt hierin der Versuch, den Subjektstatus wiederzuerlangen und mein Sein dadurch vom Für-Andere-sein zu befreien, indem ich den Anderen als Sein für mich konstituiere (vgl. SN 483).18 In diesem Fall leugne ich zwar nicht sein Bewußtsein, aber ich erfasse es als objektive Eigenschaft eines Objekts, die sich mir entzieht: Das »Bewußtsein-als-Objekt […] ist eine Eigenschaft dieses ›Innern‹ neben anderen, vergleichbar einem lichtempfindlichen Film im Innenraum eines Fotoapparats« (SN 517). Auf der alltagsweltlichen Ebene 17
Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch die folgende Passage: »(I)ch situiere mich auch als Europäer in bezug auf Asiaten oder Neger, als alter Mann in bezug auf junge Leute, als Richter in bezug auf Delinquenten, als Bürger in bezug auf Arbeiter usw. usw.« (SN 501). 18 Diese Option steht natürlich niemals am Anfang des sozialen Verhältnisses. Insofern hier mein Objekt-sein meinem Subjekt-sein immer vorausgeht, ist die Objektivierung des Anderen immer nur eine »Reaktion« (SN 517). Vgl. Kampits, ebd., 138.
Gewißheit des Subjekt-Anderen und des Objekt-Anderen
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reagiere ich auf mein Beurteiltwerden damit, daß ich den Anderen beurteile, um sein Urteil zu entschärfen. Dies hat zur Folge, daß seine Urteile über mich nurmehr Äußerungen seiner subjektiven Eigenschaften bzw. seiner geistigen Unzulänglichkeit sind. In jedem Fall ist das Mich-Anblicken eines Objekt-Subjekts eine relative Qualität; es ist ein Bild von mir, das mir völlig gleichgültig sein kann (vgl. SN 517). Der Objekt-Andere ist also durchaus noch eine Transzendenz, aber er ist keine transzendierende, sondern eine von mir transzendierte Transzendenz (vgl. SN 521). Dennoch bleibt der Andere »ein explosives Instrument« (SN 529), bei dem die Gefahr besteht, daß er jederzeit mich selbst objektiviert und damit seinen Subjektstatus zurückgewinnt. Entweder kann ich also als Reaktion auf das Angeblicktwerden versuchen, den Anderen meinerseits zu objektivieren, um seinen Sinngebungen zu entgehen und seine bedrohliche Subjektivität unter Kontrolle zu bekommen.19 Oder ich erkenne den Richterspruch des Anderen an und übernehme meine Objektivität (vgl. SN 636–638). Diese zweite Reaktionsweise soll in ihrem Zusammenhang mit der Dimension des Imaginären an späterer Stelle untersucht werden.
7. 4. Gewißheit des Subjekt-Anderen und Wahrscheinlichkeit des Objekt-Anderen Nun kann ich jederzeit glauben, daß ich angeblickt werde, ohne daß dies tatsächlich zutrifft. Wird damit nicht auch der Blick nur noch wahrscheinlich? Sartre hebt hervor: Unbezweifelbar ist nur der Subjekt-Andere, der mich anblickt, der von mir gesehene Andere als Dieser oder Jener ist immer nur wahrscheinlich. Das Erblicktwerden kann deshalb nicht von dem Objekt abhängen, das den Blick manifestiert: »Es ist also in jedem Fall unmöglich, meine Gewißheit des Subjekt-Andern auf den Objekt-Andern zu übertragen und umgekehrt die Evidenz der Erscheinung des Subjekt-Andern von der konstitutionellen Wahrscheinlichkeit des Objekt-Andern her abzuschwächen« (SN 496). Der Blick läßt gerade den Träger verschwinden, er bedeutet dessen Vernichtung als Objekt. Daraus folgt: »(G)ewiß ist, daß ich erblickt werde; nur wahrscheinlich ist, daß der Blick an diese oder jene innerweltliche Anwesenheit gebunden ist« (SN 497). Als Irrtum erweist sich nur die Faktizität des konkreten Anderen, also die zufällige und individuelle Verbindung des Subjekt-Anderen mit einem Objekt in meiner Welt, nicht aber mein generelles Objekt-sein-für-Andere. Man sollte also nicht von einem historischen 19
Nach Theunissen fällt Sartres Versuch einer Überwindung der Transzendentalphilosophie hierdurch in das transzendentalphilosophische Schema zurück (vgl. ebd., 226 f.).
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
und konkreten Ereignis, sondern eher von einem permanenten »Zustand des Erblicktwerdens« (SN 498) reden. Infolge der »Allgegenwart des Andern« ist die »Objektivität meines Da-seins eine konstante Dimension meiner Faktizität« (SN 620)20 – und zwar unabhängig davon, ob jemand in diesem Zimmer ist oder nicht. Das konkrete empirische Faktum des individuellen Objekt-Anderen ist gegenüber der Gewißheit des Blick-Anderen sekundär; es steht zum SubjektAnderen, der niemals Objekt wird, in einem Bedingungsverhältnis und kann als nur Wahrgenommenes immer der Täuschung und dem Irrtum unterliegen: Der konkrete Andere ist bestenfalls wahrscheinlich. Mit dem Verlust der innerweltlichen Vorhandenheit büßt der als weltjenseitig aufgefaßte ungreifbare Blick-Andere auch seine Konkretisation, seine Körperlichkeit sowie seine Individualität ein. Er bietet sich weder als Einheit noch als Vielheit dar, d. h. er ist mit Sartres Worten eine »pränumerische Realität« (SN 505). Der ursprüngliche Subjekt- oder Blick-Andere ist pränumerisch, allgemein, undifferenziert und überindividuell. Sartre eignet sich an dieser Stelle einen Terminus von Heidegger an: »Für diese pränumerische und konkrete Realität ist die Bezeichnung ›man‹ angebrachter als für einen Unauthentizitätszustand der menschlichen-Realität«. Wo immer ich auch bin, fortwährend »erblickt man mich« (SN 505).21 Hier stellt sich jedoch die Frage, auf welche Weise ich ein erscheinendes Objekt mit dem Subjekt-Anderen, den ich nur in der Scham erfahren habe, identifiziere. Nach Sartre ist »die Konvergenz der Augen in meine Richtung« zwar nur »eine bloße Mahnung« bzw. lediglich ein »Anlaß, mein Erblicktwerden zu realisieren« (SN 497). Aber wie wird die Konvergenz der Augen überhaupt dazu? Warum erkenne ich in diesem Objekt – ein Mensch, dessen Augen sich auf mich richten – den Subjekt-Anderen wieder (und nicht etwa in einem anderen Objekt, z. B. in einem Baum)? Kurz, wie wird aus diesem Objekt, die Erfahrung des Angeblicktwerdens vorausgesetzt, ein Objekt-Anderer? Diese Frage scheint wiederum in die Nähe von Husserls Konstitutionsproblematik zu führen.22 20
Vgl. Hoche, »Bemerkungen zum Problem der Selbst- und Fremderfahrung bei Husserl und Sartre«, 184. 21 Unverständlich ist hier allerdings, warum Sartre dieses ›man‹, den mich anblickenden Subjekt-Anderen, der nie objektiviert werden kann, in diesem Passus eine konkrete Realität nennt. 22 Geht das Angeblicktwerden der Erfahrung des Objekt-Anderen voraus, so ergibt sich hier eine Möglichkeit einer Anknüpfung an Schelers Intersubjektivitätstheorie. Scheler erklärt, daß wir nicht zunächst von einer unbeseelten Körperwelt – etwa die Primordialsphäre, von der Husserl später in den Cartesianischen Meditationen spricht – ausgehen, um nachträglich in einer höheren Schicht des konstitutiven Prozesses der Wahrnehmung etwa aufgrund einer Ähnlichkeit mit dem Eigenleib bestimmte Körper zu ›beseelen‹. Vielmehr lehrt der Animismus von Kindern oder Naturvölkern, daß Lernen in diesem Bereich als »zunehmende Ent-seelung« und nicht als »Be-seelung« anzusehen ist (Wesen und Formen
Auseinandersetzung mit der Sartre-Rezeption
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7. 5. Auseinandersetzung mit der Sartre-Rezeption Theunissen hat in Sartres Fremderfahrungslehre das Auseinanderklaffen von »überindividuellem Apriori« und »ontologisch irrelevanter Empirie«23 moniert. In dieser Verteidigung der »Unbezweifelbarkeit auf Kosten der Faktizität«24 sehen Theunissen und Kampits verständlicherweise einen Selbstwiderspruch Sartres zu den von ihm aufgestellten Ansprüchen an eine Theorie der Fremdexistenz. Die Faktizität fällt restlos auf die Seite des Objekt-Anderen. Der konkrete Andere, der gesucht werden soll, ist immer nur der Objekt-Andere, während Sartre zuvor im Zusammenhang seiner hier nicht referierten Kritik der Intersubjektivitätstheorien Hegels, Husserls und Heideggers proklamierte, der Subjekt-Andere habe »die Natur eines kontingenten und unreduzierbaren Faktums« (SN 452). »Tatsächlich müßte gezeigt werden, daß ›das Mit-Pierre-sein‹ oder ›das Mit-Annie-sein‹ eine konstitutive Struktur meines Konkret-seins ist« (SN 448 f.). Wo bleibt also die »konkrete und unbezweifelbare Anwesenheit dieses oder jenes konkreten Andern« (SN 455), die Sartre eigenen Aussagen zufolge entdecken wollte? Theunissen kritisiert zu Recht, daß von »dieser anfänglichen Absicht Sartres […] in den jetzt erörterten Passagen tatsächlich nicht mehr die Rede«25 ist. Es müßte aufgewiesen werden, daß ich jetzt in diesem Augenblick für einen individuellen Anderen unbezweifelbar Objekt bin, aber Sartre gelangt entgegen seinen eigenen Intentionen nur dahin zu zeigen, daß ich überhaupt gesehen werde – allerdings genaugenommen von niemanden: Der Blick-Andere »ist das Licht, in dem ich mich sehe, aber gerade darum keiner, den ich selber sehe«.26 Für die grundsätzliche Anwesenheit des Subjekt-Anderen bleibt das geschichtliche Faktum nebensächlich; sie ist die Allgegenwart eines allgemeinen Anderen, der unablässig und immer da ist und steht, wie schon oben erwähnt,
der Sympathie, 233; ganz ähnlich auch Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 301; Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, 227; Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, 179 f.). In die Sprache Sartres übertragen, ließe sich der Gedanke folgendermaßen entfalten: Angesichts des ursprünglichen Erlebens des Angeblicktwerdens erscheint zunächst jedes Objekt der Erkenntnis auch als Objekt-Anderer. Erst in einem späteren Lernvorgang würde dann deutlich, bei welchen Objekten diese Annahme zu Recht besteht: Der ObjektBaum kann nicht blicken, er kann nicht umschlagen in einen Subjekt-Anderen, wohingegen der Objekt-Andere plötzlich als Objekt verschwinden und in der Scham als Subjekt auftauchen kann – und aus diesem Grund ist der Objekt-Andere ein Objekt-Anderer. 23 Theunissen, ebd., 227; vgl. hierzu auch Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, 90 f. 24 Theunissen, ebd., 228; vgl. Kampits, ebd., 134. 25 Theunissen, ebd., 229. 26 Ebd., 208; vgl. Verweyst: »Sartre scheint zu meinen, daß eine Person als Individualität schon die Macht des reinen Blicks verliert« (Das Begehren der Anerkennung, 173).
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
in einem Bedingungsverhältnis zum Anderen, der als individuelles konkretes Faktum in der Wahrnehmung gegeben und darum nur wahrscheinlich ist (vgl. SN 502). Kurz, der konkrete Andere ist nicht gewiß, der ursprüngliche Andere ist nicht individuell. Wenn man Theunissens kritische Sicht durch eine phänomenologische Überprüfung ergänzt, wird das erwähnte Problem um so deutlicher: Warum ist die Scham am intensivsten, wenn ich sehe, daß Andere anwesend sind, genaugenommen also Objekt-Andere? Wenn der Subjekt-Andere immer anwesend ist und der Objekt-Andere mich nicht anblicken kann, warum schäme ich mich dann vor einem Menschen, der mir gegenüber sitzt, während die Scham sich doch erheblich in Grenzen hält, wenn ich alleine bin? Sartre unterläuft jedoch die Deutung Theunissens, indem er Beispiele aufführt, in denen ein individueller Anderer mich anblickt. Seine phänomenologischen Beispielanalysen stehen dabei häufig im Widerspruch zu den starren dualistischen Voraussetzungen, nach denen ich nicht Objekt für ein Objekt sein kann und die letztendlich verantwortlich für die Trennung von allgemeinem Subjekt-Anderen und individuellem Objekt-Anderen sind. So erklärt Sartre, es sei »nicht zu bezweifeln«, daß »ich jetzt als Objekt für einen Deutschen existiere« (SN 503). Die nationale Zugehörigkeit ist aber nichts anderes als eine objektive Qualität eines Objekt-Anderen. Sartre unterscheidet weiterhin Subjekt-Thérèse und Objekt-Pierre bzw. Subjekt-Pierre und Objekt-Thérèse (vgl. SN 500), d. h. auch hier ist der Blick nicht pränumerisch, sondern er läßt sich mit Individuen identifizieren. Ich erkenne, daß mein Verfolger eine Waffe trägt und die Hand am Klingelknopf hat, während er nach mir sucht. Aber diese Eigenschaften, die meine Situation gerade so bedrohlich machen, kann ich ihm nur zuschreiben, insofern ich ihn sehe, d. h. insofern er Objekt-Anderer ist (vgl. SN 476). Ferner erwägt Sartre: »(W)enn der Andere für mich Objekt ist, während er mich anblickt, dann bin ich in Gefahr, ohne es zu wissen« (SN 668). Die Gleichzeitigkeit von Subjekt- und Objekt-Anderen zeigt sich auch in Sartres Beispiel der Galeerensklaven, die »vor Wut und Scham ersticken, weil eine schöne geschmückte Frau ihr Schiff besucht, ihre Lumpen sieht, ihre Mühsal und ihr Elend« (SN 723). Das Schamgefühl ist hier um so größer, weil der Andere bestimmte Qualitäten (›schön‹, ›weiblich‹, ›sozial höhergestellt‹) aufweist, die ihm nur als Objekt-Anderem zukommen können, zugleich aber dem Urteil des Subjekt-Anderen sein Gewicht geben. Noch deutlicher als in der theoretischen Abhandlung thematisiert Sartre in Geschlossene Gesellschaft den Blick-Anderen als Individuum: Garcin ist Ines’ Urteil wichtiger als dasjenige Estelles und zwar insofern er Ines bestimmte Eigenschaften wie ›scharfsinnig‹, ›umsichtig‹ zuschreibt, aufgrund derer ihm ihr Urteil relevant erscheint. Hierzu muß er Ines jedoch vorher als Objekt erfaßt haben, das bestimmte Eigenschaften haben kann, und weil diese Beurteilung zu ganz bestimmten Resultaten geführt hat, ist ihm nun umgekehrt Ines’ Beurteilung seiner Person wichtig:
Auseinandersetzung mit der Sartre-Rezeption
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»Es ist nicht gleichgültig, um wessen Blick (Urteil) wir kämpfen. Garcin kann mit Leichtigkeit Estelle davon überzeugen, daß er gut gehandelt hat, aber weil sie dumm ist und nicht urteilen kann, ist ihm damit nicht gedient, er ist auf Ines verwiesen […]. Es kommt also nicht darauf an, einfach das Urteil irgendeiner Person günstig ausfallen zu lassen, sondern das der Person, an der uns gelegen ist«.27 Auf der Grundlage dessen, was ich über Garcin, Ines oder Estelle weiß, d. h. aber auf der Grundlage der Objektivierung dieser Anderen, kann ich versuchen, mich mit den Augen Garcins oder Ines’ oder Estelles zu sehen und werde jeweils ein unterschiedliches Bild von mir selbst gewinnen, das natürlich aufgrund der Andersheit des Anderen immer nur einen präsumptiven und vorläufigen Charakter hat. Alle diese überzeugenden phänomenologischen Beschreibungen, die Sartre bietet, sind unter der Voraussetzung der streng dualistischen Grundsätze seiner Ontologie im Grunde ausgeschlossen. Es lassen sich generell eher Gründe für die Annahme finden, daß der SubjektAndere, der mich anblickt, individuell sein muß: In einer Gesprächsrunde kann mich ein Zuhörer für geistreich, ein Anderer jedoch zur selben Zeit für einen selbstgefälligen Angeber halten, der letztlich nur ›heiße Luft‹ von sich gibt. Das Urteil ist nicht einheitlich. Sartre selbst erklärt entgegen der pränumerischen und allgemeinen Auffassung des Subjekt-Anderen, daß ich »Millionen von Blicken« ausgesetzt bin und »mir selbst millionenmal entgehend« (SN 503) existiere. Wie Sartre selbst beim Verhältnis von imaginärem Objekt und realer Welt (vgl. Im 290–295) von einem Thema-Horizont- bzw. Figur-HintergrundVerhältnis ausgeht, so läßt sich angesichts der Einwände Theunissens und Kampits wie auch angesichts der Divergenz zwischen dualistischer Ontologie und phänomenologischer Beschreibung möglicherweise eine Lösung finden, indem man auch das Verhältnis zwischen Objekt-Anderem und Subjekt-Anderem als eine solche Thema-Horizont-Struktur beschreibt: Der SubjektAndere erscheint vor dem Horizont des Objekt-Anderen, der nicht mehr Gegenstand einer These ist bzw. dessen Augen vor dem Blick verschwinden (s. o.). Objektiviere ich dagegen den Anderen, so ist der Objekt-Andere das Thema vor dem Horizont des Subjekt-Anderen, der mich als fundamentaler Bezug den Objekt-Anderen erst als Objekt-Anderen erfassen läßt.28 Der 27
Biemel, ebd., 58. Diesen Umstand hat auch Ziegler hervorgehoben (ebd., 72). Diese Interpretation scheint sich zwar nicht mit Sartres Erklärung, der Objekt-Andere verweise nur auf sich selbst (SN 528), in Übereinstimmung bringen zu lassen, andererseits hat er zuvor selbst hervorgehoben, daß »meine Wahrnehmung des Andern als Gegenstand […] ihrem Wesen nach auf ein fundamentales Erfassen des Andern verweist, wo der Andere sich mir nicht als Gegenstand, sondern als ›leibhaftige Anwesenheit‹ entdecken wird« (SN 457). Eine Interpretation Sartres müßte sich also ohnehin für eine der einander widersprechenden Äußerungen entscheiden. 28
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
pränumerische allgemeine Subjekt-Andere ließe sich in dieser Sichtweise als die Verselbständigung des Subjekt-Anderen von dem Hintergrund des Objekt-Anderen auffassen: Dies wäre ein verinnerter Blick-Anderer, der gleich dem Über-Ich Freuds oder dem generalisierten Anderen Meads ständig und ohne Auftauchen eines individuellen, konkreten Objekt-Anderen anwesend sein könnte. Der Andere objektiviert also nicht nur meine künstlerischen Schöpfungen und gliedert sie in die objektive Welt ein, er tut dasselbe auch mit mir selbst. Nach Sartres düsterer Beschreibung des Blickes müßte es ein zentrales Anliegen des Für-sich sein, diesem Blick bzw. dem eigenen Objektstatus, jener »Gefahr« (SN 482), jenem ›Sündenfall‹ (SN 516), dem »Tod meiner Möglichkeiten« (SN 476, 477, 487), der erlebten Scham usw. usf. unbedingt zu entrinnen.29 Von hier aus ist gar nicht zu verstehen, warum jemand nicht den Ausweg wählt, seinerseits den Anderen zu objektivieren, sondern versucht, die fremde Subjektivität zu assimilieren, indem er sich bemüht, ihr zu gefallen. Die Feindseligkeit des Blickphänomens ist vor allem auch von Waldenfels kritisiert worden: »Warum gerade der distanzierende oder gar feindliche und nicht der teilnehmende Blick?«.30 Es stimmt, daß Sartre zur Veranschaulichung seiner Theorie ausschließlich Beispiele wählt, in denen der Blick des Anderen mich abschätzig beurteilt. Die Frage ist nur, ob die Einseitigkeit der Beispiele nicht zu einer Engführung der Theorie in der Sicht der Interpreten geführt hat. Der Blick des Anderen ist, bei näherem Hinsehen, eher unheimlich als feindlich, weil ich nicht weiß, was ich für ein Objekt bin. Diese »ontologische(n) Unsicherheit«31 schließt aber nicht aus, daß die Objektivierung sogar erfreulich für mich sein kann und mir positive Eigenschaften zugeschrieben werden. »Das Kind spürt die Magie des Blicks, der es bald in ein süßes Engelchen, bald in ein Scheusal verwandelt«.32 Auf der ontologischen Ebene handelt es sich, wenn man unbedingt will, um eine Entwürdigung, da ich als reines Subjekt mich plötzlich als Objekt wiederfinde. So viel sei Sartre bzw. den Interpreten, die die Negativität seiner Blicktheorie bekla-
29
Der Sinn des Für-Andere-seins ist nach Sartre der Konflikt (vgl. SN 638, 747). Es geht wesentlich um Besitz und Unterwerfung: »Während ich versuche, mich vom Zugriff des Andern zu befreien, versucht der Andere, sich von meinem zu befreien; während ich danach trachte, den Andern zu unterwerfen, trachtet der Andere danach, mich zu unterwerfen« (SN 638). Garcin ruft daher auch in Geschlossene Gesellschaft verzweifelt aus: »(D)ie Hölle, das sind die andern« (ebd., 59). Danto präzisiert: »(D)ie Hölle ist keine Feuergrube, in der einen die Teufel zwicken, sie besteht aus einer Konversation ohne Hoffnung, in der die Seele eines jeden erbarmungslos bloßgelegt wird und sich die Identität eines jeden als Geisel in den Händen derjenigen befindet, die ihn geistig gefangenhalten« (ebd., 116). 30 Waldenfels, ebd., 90. 31 Ziegler, ebd., 84. 32 De Beauvoir, Das andere Geschlecht, 336.
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gen, zugestanden. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig auch für die ontische Ebene, daß die Objektivierung mich immer herabwürdigt. Denn selbst der bewundernde oder zustimmende Blick würde eine Variante der Objektivierung darstellen. In derselben Weise wie Waldenfels hält auch Honneth Sartre vor, er kenne nur den verdinglichenden und nicht den freundlichen, aufmunternden usw. Blick.33 Dies liegt in erster Linie daran, daß für Sartre der Blick nicht zwei Augen sind, die sich – mit unterschiedlichen Ausdruck – auf mich richten, sondern das Erleben meiner selbst als Objektivität. Honneth stellt es dagegen so dar, als seien die Augen des Anderen der Blick, und glaubt, sofern der Blick in Das Sein und das Nichts immer verdinglichend ist, Sartres Analyse sei reduktionistisch.34 Nach dieser Auffassung sei darum für den Angeblickten »die spezifische Bedeutung« des Blicks des Anderen letztlich »belanglos«.35 Insofern diese kritische Deutung sich nicht auf Sartres Definition des Blicks einläßt, übersieht sie, daß es nach der Beschreibung des Für-Andere-seins ganz im Gegenteil hochgradig von Belang ist, was für ein Objekt ich bin, als was der Andere mich also einschätzt. Und wenn Honneth fordert, die Intersubjektivitätstheorie müsse eine genauere Qualifizierung des Blicks zulassen, da nur dann die beteiligten Subjekte sich »in ihrem handlungsleitenden Selbstverständnis bekräftigt oder hinterfragt, ermutigt oder kritisiert sehen« und »auf der Basis ihres jeweiligen persönlichen Selbstverständnisses ihrerseits positiv oder negativ auf die in einem Blick enthaltene Deutung ihrer selbst reagieren«36 könnten, so rennt er bei Sartre hiermit offene Türen ein. Es ist nicht zutreffend, daß Sartre blind ist für den »Bedeutungsreichtum, in dem wir Blicke erfahren können«.37 Liest man z. B. das Drama Geschlossene Gesellschaft als Illustration der Fremderfahrungstheorie von Das Sein und das Nichts, so geht es hier nicht, wie Sartre unterstellt wird, um »die Erhaltung der puren Transzendenz des Für-sich«, sondern gerade um den von Honneth geforderten »Kampf um Anerkennung des Selbstverständnisses, das Subjekte von sich aus in jene Interaktionen miteinbringen«.38 Garcin fordert von den Anderen eben nicht: Sieh mich nicht an bzw. objektiviere mich nicht – als ginge es ihm um die ›reine‹, d. h. hier eigenschaftslose ›Transzendenz des Für-sich‹. Statt dessen verlangt er: Sieh mich als das Objekt, als das ich
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Honneth, »Kampf um Anerkennung«, 171. Honneth, ebd., 77. Honneth und Waldenfels verwenden in ihrer Kritik die gewöhnliche Bedeutung von ›Blick‹ und spielen diese dann gegen Sartres Verwendung dieses Ausdrucks aus, die jedoch eine andere explizit formulierte und daher theorieinterne Bedeutung in Anspruch nimmt. 35 Ebd., 79. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd., 80. 34
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gesehen werden will. Es scheint, daß Sartre Honneths eigenen Vorstellungen näher steht als dieser glaubt, wenn Garcins Sorge nicht darin liegt, für den Anderen ein Objekt zu sein, sondern für den Anderen ein negativ besetztes Objekt zu sein. »Zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung seiner Identität, seiner Sich-Selbst-Gleichheit bzw. umgangssprachlich gesagt, ›um mit sich selbst ins Reine zu kommen‹, muß ein jeder um die Anerkennung und damit um ein günstiges Bild in den Augen der Anderen kämpfen«.39 Genau deshalb fleht Garcin Ines und Estelle in Geschlossene Gesellschaft an: »Tausend Leute wiederholen, daß ich ein Feigling bin. Aber was sind schon tausend? Wenn es eine Seele gäbe, eine einzige, die mit all ihren Kräften versichert, daß ich nicht geflohen bin, daß ich nicht geflohen sein kann, daß ich Mut habe, daß ich anständig bin, ich … ich bin sicher, dann wäre ich gerettet! Willst du an mich glauben?«40 In einem neueren Aufsatz hat Honneth den Sachverhalt der sozialen Unsichtbarkeit behandelt, die als eine gravierende Form der Mißachtung verstanden werden kann.41 Wendet man Sartres Konzeption auf diesen Sachverhalt an, so wird offenkundig, daß der Andere mich durch Nichtbeachtung nicht von meinem Objekt-sein befreit, sondern mich dadurch auf eine bestimmte Weise objektiviert: Ich erlebe mich als ein verächtliches Objekt, das nicht wert ist, beachtet zu werden. Jemanden nicht zu sehen, erscheint dann mit Sartres Worten nur als ein bestimmter Modus, ihn anzusehen. Nicht gesehen zu werden bedeutet also nicht, nicht erblickt zu werden. Zwar taucht der freundliche Blick, wie Waldenfels und Honneth bemerken, in Sartres phänomenologischen Beispielbeschreibungen nicht auf,42 aber seine Theorie schließt ihn deswegen noch lange nicht aus. Im freundlichen Blick erlebe ich mich als jemand, der vom Anderen mit positiven Eigenschaften besetzt wird, so daß ich zufrieden bin mit dem Objekt, das der Andere in
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Ziegler, ebd., 71. Ziegler verfehlt in seiner Darlegung allerdings die Radikalität des Sartreschen Ansatzes: Es geht nicht nur um Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Identität, sondern Identität kommt überhaupt nur durch das Angeblicktwerden zustande. 40 Sartre, Geschlossene Gesellschaft, 52. 41 Honneth, »Unsichtbarkeit«. 42 Simone de Beauvoir spricht dagegen von der Objektivierung des Kindes unter dem »wohlwollenden Blick« der Eltern (Das andere Geschlecht, 336, 337). Abgesehen von der Flaubert-Studie, von der im nächsten Kapitel die Rede sein soll, finden sich auch in Sartres früheren Dichterbiographien Passagen, in denen der Blick des Anderen wohlwollend und Schutz gewährend ist: So wie Baudelaire sich ständig beim Betreten von Orten öffentlichen Lebens von Freunden begleiten läßt, um sich angesichts der bedrohlichen Blicke der Menge »aufsaugen zu lassen von vertrauten Augen, einem harmlosen Bewußtsein, das ihn vor jedem fremden Bewußtsein in Schutz nimmt« (B 93), flieht das Kind Mallarmé Sartre zufolge »gegen alle in den Blick seiner Mutter« (M 116).
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mir sieht.43 In moralphilosophischer Fragestellung wäre dann von hier aus zu überlegen, ob nicht auf der Grundlage von Sartres Theorie des Für-Andereseins – entgegen dem negativen Grundton, der seine phänomenologischen Beschreibungen durchdringt – eine friedliche Koexistenz möglich wäre, wenn ich bereit bin, den Anderen so zu sehen, wie er gesehen werden will, während er wiederum mich so sieht, wie ich gesehen werden will.44 Sartre beschreibt beispielsweise in der Flaubert-Studie durchaus einen solchen sozialen Sachverhalt, der sich aus seiner Perspektive als Wechselseitigkeit der Komödie bezeichnen ließe. Bei bürgerlichen Empfängen und Abendgesellschaften ist »alle Welt […] Zuschauer von jedem« (IF 3, 608), und jeder trachtet danach, das Urteil des Publikums »durch Zeichen, Symbole, durch Mimik und Rezitation« (IF 3, 608) zu beeinflussen, um die Figur zu präsentieren, als die er anerkannt werden will. Hier geht es um eine intersubjektive Konstitution von imaginären Wesen, wohingegen die Realität eines Menschen ausschließlich in seiner Praxis liegt (IF 3, 608). Die Wechselseitigkeit der Komödie liegt darin, daß jeder sich von der Komödie des Anderen überzeugen läßt, um den Anderen um so leichter von seiner eigenen Komödie überzeugen zu können: »So kann jeder seine persona wählen, sie ständig äußern, sich bis zum Ende an sie halten, alle anderen werden sie – als Gegenleistung – als sein reales Sein nehmen« (IF 3, 609). Dabei ist es für Sartre im übrigen nicht generell ausgeschlossen, daß man auch aufrichtig spielt, also ein »Schauspieler seiner selbst ist, der die Aufrichtigkeit soweit wie möglich treibt« (IF 3, 653; vgl. IF 3, 651). ›Aufrichtigkeit‹ bedeutet hier keinen Abbruch der Darstellung, sondern lediglich das Bestreben, nur diejenigen Überzeugungen, Haltungen, Empfindungen usw. darzustellen, die das reflektierende Bewußtsein des Schauspielers in seinem reflektierten Bewußtsein in evidenter Gegebenheit inventarisieren würde. Olschanski hat darauf hingewiesen, daß das Erleben der Scham ein den beiden Akteuren gemeinsames Wertesystem voraussetzt, da der Schockcharakter des Erblicktwerdens seiner Ansicht nach nur plausibel ist, »wenn mein Tun nicht nur gegen eine Norm verstößt, die ich eigentlich akzeptiere, sondern wenn ich gleichzeitig davon ausgehen muß, daß auch der Andere sie anerkennt und – blickend – ihre Anerkennung einfordert, bzw. einen Verstoß gegen sie tadelt«.45 Dieser Hinweis ist zwar sehr gut nachvollziehbar, führt 43
Siehe als Beispiel einer anteilnehmenden und mitleidigen Objektivierung ferner Sartres Roman Der Aufschub, 109 f. 44 Verhält es sich so, daß ich den Anderen gleichzeitig anblicke und mich von ihm erblickt spüre, so läßt sich eine gewisse – zwar theoretisch in Das Sein und das Nichts noch ausgeschlossene (vgl. SN 486), aber unter der Hand in den phänomenologischen Beschreibungen ins Spiel gebrachte – Wechselseitigkeit konstatieren, die Sartre in der Kritik der dialektischen Vernunft so beschreibt, daß Personen sich gegenseitig als Subjekt anerkennen und damit in eins akzeptieren, Objekt für den Anderen zu sein (vgl. KDV 119). 45 Olschanski, Phänomenologie der Mißachtung, 87.
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
aber möglicherweise dazu, das Themenfeld des Für-Andere-seins durch die Priorität moralischer Kategorien allzusehr zu verengen.46 Ist der Blick des Anderen nicht viel elementarer als das Vertrautwerden mit dem Normensystem einer Gesellschaft, so daß umgekehrt nicht eher das Gewicht des Wertesystems darauf beruht, daß der Andere mich anblickt? Genügt nicht für das Schamerlebnis, daß ich weiß, daß der Andere mich beurteilt – auch wenn mir die Kriterien seiner Beurteilung unbekannt sind? Verweyst hat gegen den allgemeinen Vorwurf der Negativität hervorgehoben, daß es Sartre gerade hierdurch gelingt, die Relevanz des Anderen in aller Brisanz herauszustellen: »Ich meine nun, daß man Sartre immer ein bißchen zu sehr in die Ecke eines ›haltlosen‹ Negativismus rückt, wenn man seine Schamauffassung und gar die Blicktheorie im Ganzen als eine Art ontologische Verewigung verdinglichender Praktiken deutet. Man versperrt sich damit den Weg zu einer ungeheuer wichtigen und wie ich meine stimmigen Ansicht Sartres: daß nämlich die Scham in ihrem ›reinen‹, ›ursprünglichen‹ Sinne die passivisch erlittene Evidenz meiner Abhängigkeit vom Anderen ist, und das heißt, daß ich in einem primären Sinne die Bedeutsamkeit des Anderen durch die Scham erfahre. Und in diesem Sinne hat jede später erlebte Schamsituation, so selten diese auch vorkommen mag, geradezu den Sinn, ein Subjekt vor der falschen Illusion zu bewahren, es sei ein vom Anderen unabhängiges Wesen. Gerade in ihrem plötzlichen Durchbrechen meiner alltäglichen Coolness und Souveränität macht die Scham ›mir‹ deutlich, wie tief ich affiziert bin vom Anderen, wie sehr der Sinn meiner Existenz von den Anderen ›getragen‹ wird«.47 Es ist genau der Schockcharakter des Blickerlebnisses, der mir die Einsicht ermöglicht, »daß die Möglichkeit einer sinnvollen Existenzführung letztlich von der Kontingenz abhängt, daß ich von Anderen angenommen werde – oder eben nicht«.48 Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Trotz der permanenten Unsicherheit, die der objektivierende Blick mit sich bringt, bin ich außerstande, auf das Urteil und die Anerkennung der Anderen zu verzichten, »weil ich überhaupt erst in der Auseinandersetzung mit den Anderen und im Rückblick von deren Blick mein Ich gewinne«.49 Damit scheint das Problem allerdings nur verschoben. Denn nun drängt sich die Frage auf, warum ich denn überhaupt ein Ich, eine Identität gewinnen will? Mit der 46
Eine ähnliche Ansicht vertritt auch Danto, ebd., 130. Verweyst, ebd., 178 f.. 48 Ebd., 179. Theunissen zählt »zu den größten sozialphilosophischen Verdiensten Sartres, einsichtig gemacht zu haben, daß die Erfahrung des auf mich gerichteten Anderen sich wesensmäßig unterscheidet vom Erlebnis des Mitmenschen, der sich mit Dingen beschäftigt« (ebd., 200 f.). 49 Ziegler, ebd., 65. 47
Das An-sich-für-sich als Verwiesenheit auf Objektivität
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Beantwortung dieser Frage wird sich der folgende Abschnitt beschäftigen, der den Zusammenhang der Intersubjektivitätslehre Sartres mit seiner Theorie des Wertes und der Kontingenz nachzuweisen versucht.
7. 6. Das An-sich-für-sich als Verwiesenheit auf Objektivität Berücksichtigt man Sartres Wertlehre in diesem Zusammenhang, so läßt sich zeigen, daß die durch die Konfrontation mit dem Anderen verliehene Objektivitätsstruktur bereits mit den unmittelbaren Strukturen des auf dieser abstrakten Ebene noch solipsistisch verstandenen Für-sich korrespondiert. Es besteht eine grundlegende Tendenz jeden Bewußtseins in Richtung auf das An-sich-für-sich, das von Sartre auch als Wert oder Entwurf, Gott zu sein, beschrieben wird.50 Das Für-sich entwirft zu sein, was es gewählt hat, zu sein. Es strebt die Objektivierung an, indem es An-sich (Sein) und Für-sich (Wahl) miteinander synthetisieren will, um als gewähltes Sein zu existieren. »(D)as Für-sich entwirft, als Für-sich zu sein, ein Sein, das das sei, was es ist« (SN 971). Die Verwiesenheit des Für-sich auf den Wert besteht in dem Entwurf, wie das An-sich »nach dem Modus der Identität« (SN 188) zu existieren.51 Dieses verfehlte An-sich ist aber nicht die Faktizität, sondern »ein An-sich, das sich selbst sein eigener Grund wäre« (SN 971). So ist das Ansich-für-sich »das Ideal eines Bewußtseins, das Grund seines eigenen Ansich-seins wäre durch das bloße Bewußtsein, das es von sich selbst gewönne« (SN 971). Wenn das Sein, das ich bin, ist, weil es sein soll bzw. gewählt worden ist, so wäre die Kontingenz überwunden. Das Für-sich wäre eine Existenz de jure (vgl. SN 1052). Wenn ich also »die Vermittlung des Andern« benötige, »um das zu sein, was ich bin« (SN 516), so kommt im Grunde das Angeblicktwerden dem Entwurf auf das An-sich-für-sich entgegen: »Es kommt uns also so vor, als ob der andre für uns eine Funktion erfüllt, zu der wir unfähig sind und die uns doch obliegt: uns sehen, wie wir sind« (SN 623). Unter diesem Blickwinkel, so könnte man – über Sartre hinausgehend – schließen, begrüßt das Für-sich seine Objektivierung. Der Andere soll damit als Vermittlung zwischen mir und meinem An-und-für-sich-sein fungieren, jenes Seins, das ich gleichzeitig wählen und sein will. 50
Die Begriffe ›Sich‹, ›An-sich-für-sich‹, ›Gott‹ und ›Wert‹ können als Synonyme betrachtet werden (vgl. SN 987, EH 242). Das Sich ist dasjenige, für das das Für-sich ist (vgl. SN 196). 51 Gemeint ist mit diesem An-sich natürlich nicht ein bestimmtes Seiendes, sondern eine Seinsweise: Das Für-sich entwirft nicht, ein Kugelschreiber zu sein, sondern als Für-sich will es Für-sich sein wie der Kugelschreiber Kugelschreiber ist. Es wäre daher hilfreich an diesen Stellen, wo Sartre mit dem An-sich eine Seinsweise meint, das An-sich als Synonym für Identität zu betrachten.
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
Das An-sich-für-sich ist jedoch aufgrund von Sartres ontologischen Grundthesen unmöglich: Die Totalität eines Für-sich, das nach dem Modus des An-sich existiert, »kann von Natur aus nicht gegeben sein, da sie in sich die unvereinbaren Eigenschaften des An-sich und Für-sich vereinigt« (SN 191). Würde sich das Für-sich als An-sich realisieren, so würde es aufhören, als Für-sich zu existieren. Niemals eignen dem Menschen daher Eigenschaften auf dieselbe Weise wie den Dingen.52 Mit anderen Worten, das Für-sich bleibt für immer unvollständig, also eine »detotalisierte Totalität« (SN 1022) und ist daher »von Natur aus unglückliches Bewußtsein ohne mögliche Überschreitung des Unglückszustands« (SN 191). Einerseits ist dieses widersprüchliche Sein unrealisierbar, andererseits kann »das Bewußtsein […] nur als in dieses Sein engagiert existieren, von dem es rundherum umschlossen ist und von dessen Schein-Anwesenheit es durchdrungen ist« (SN 191). Die Wertstruktur des Für-sich-seins führt zum Schicksal eines permanenten »vergeblichen Hinter-sich-her-Rennens« (SN 274): »Jede menschliche-Realität ist eine Passion, insofern sie entwirft, zugrunde zu gehen, um das Sein zu begründen und zugleich damit das An-sich zu konstituieren, das als sein eigener Grund der Kontingenz entgeht, das ens causa sui, das die Religionen Gott nennen«. Darum »ist die Passion des Menschen die Umkehrung der Passion Christi, denn der Mensch geht als Mensch zugrunde, damit Gott geboren werde«. Insofern sich die Gottesidee jedoch als »widersprüchlich« erweist, ist der Mensch »eine nutzlose Passion« (SN 1052; vgl. auch SN 971 f., 1069).53 Die menschlicheRealität ist ein »Paradox«, ein »Konflikt ohne Synthese« (M 165) oder »ein unmöglicher Traum« (M 182). Sartre erwägt in diesem Zusammenhang die Frage, ob nicht durch die Setzung der Freiheit als Wert die Herrschaft der Werte beendet werden könnte. Freiheit als Wert oder als Zweck wäre »als Seinsideal das Das-sein-was-es-nicht-ist und das Nicht-das-sein-was-es ist« (SN 1072). Zwar spricht Sartre dem Wert »Irrealität« (SN 195) zu, da er »jenseits des Seins« (SN 195) liegt, zugleich betont er jedoch den Unterschied zum Imaginären: Der Wert sei keine Imagination, da diese immer Nichts sei, wohingegen der Wert »eminent Sein« sei, und dieses Sein »muß existieren, das heißt, man muß ihm begegnen, aber diese Begegnung muß eins sein mit der Wahl, die das Für-sich trifft« (SN 1023 f.).54 Auch in den Tagebüchern macht Sartre die
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In gewisser Hinsicht sind also nur die Heiligen aus Holz oder Marmor die ›wahren Heiligen‹. 53 Dieser Entwurf, Gott zu sein, darf nach Sartre nicht als Wesen des Menschen verstanden werden, das seine Freiheit in Frage stellt. Selbst wenn der Sinn der Begierde auch immer der Entwurf, Gott zu sein, ist, so konstituiert dieser Sinn diese Begierde nicht, vielmehr ist sie immer »eine besondere Erfindung ihrer Zwecke« (SN 972). 54 Vgl. dagegen die Genet-Studie, wo Sartre betont, daß der Wert das ist, was sein soll;
Das An-sich-für-sich als Verwiesenheit auf Objektivität
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Differenz zwischen dem Unrealisierbaren und dem Imaginären geltend. Vage wird darauf hingewiesen, daß es durchaus Wege gebe, dieses Unrealisierbare von Anderen auf »›imaginäre‹ Weise« realisieren zu lassen« (T 412). Einer dieser Wege sei die Kunst (vgl. T 412). Der Unterschied zum Imaginären soll darin bestehen, daß das Unrealisierbare zwar »außer Reichweite«, aber nichtsdestotrotz dennoch »real« sei und die Anderen »es nach dem realisierenden oder dem imaginären Modus fassen« (T 412) können. An einer anderen Stelle in Das Sein und das Nichts ist Sartre deutlicher: Das Schöne ist seiner Ansicht nach ebenfalls ein Unrealisierbares (vgl. SN 361), wobei aus dieser Behauptung nun allerdings gefolgert wird, daß der Mensch das Schöne in der Welt nur »nach dem imaginären Modus« (SN 361) realisieren könne.55 Wenn das Schöne unrealisierbar ist und deswegen nur imaginär verwirklicht werden kann, so müßte analog auch der Wert aufgrund seiner Unrealisierbarkeit nur auf imaginäre Weise zur Erfüllung gelangen, wenngleich er als fundamentale Motivation natürlich real ist. Da die Synthese von An-sich und Für-sich aus der Perspektive von Sartres Philosophie unmöglich zu realisieren ist, stellt sich die Frage, ob diese ebenso fundamentale wie unausweichliche56 Wertverwiesenheit der menschlichen-Realität57 nicht eine wesentliche Motivation für irrealisierende Verhaltenweisen ist. Dieser Gedanke soll im folgenden näher entfaltet und an Beispielen veranschaulicht werden.
»er ist niemals das, was ist. Also steht er im Gegensatz zum Faktum wie das Nicht-sein zum Sein« (SG 578). 55 Es ist in diesem Kontext nicht ganz klar, ob sich die zweite Behauptung ›Das Schöne kann nur nach dem imaginären Modus realisiert werden‹ in Form einer Schlußfolgerung aus der ersten Behauptung ›Das Schöne ist ein Unrealisierbares‹ ergibt oder einfach nur eine Ergänzung ohne logischen Zusammenhang darstellt. 56 Auch hier ist Sartre nicht eindeutig: Einerseits erklärt er die Wertstruktur des Bewußtseins für unausweichlich (vgl. SN 191), andererseits legt er nahe, daß es möglich sei, ihr zu entgehen (vgl. SN 1071 f.). 57 Nach Sartre ist das Für-sich mit seinem Auftauchen in der Welt wertbezogen; der Wert ist keineswegs primär das Objekt eines reflexiven Bewußtseins bzw. das Objekt einer Erkenntnis. Auf der unreflektierten Ebene erscheint die unrealisierbare Verschmelzung »als transzendentes Anzeigen einer idealen Struktur des Objekts« (SN 360, vgl. auch 698–700). Der Wert kündigt sich also korrelativ als Dimension des intentionalen Objekts an, und hier liegt für Sartre die Quelle der Schönheit: »Die Schönheit stellt somit einen idealen Zustand der Welt dar, als Korrelat einer idealen Realisierung des Für-sich, wo sich das Wesen und die Existenz der Dinge einem Sein als Identität enthüllen würden, das, in eben dieser Enthüllung, mit ihm selbst in der absoluten Einheit des An-sich verschmelzen würde« (SN 361). In der Angst entdeckt sich die Freiheit als »die einzige Quelle des Wertes«; sie ist das Sein, »durch das die Werte existieren« (vgl. SN 1071). Dennoch ist die Haltung der Angst nicht das unmittelbare Verhältnis zur Werthaftigkeit des Für-sich-seins (vgl. SN 107).
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
7. 7. Assimilation der fremden Freiheit als Versuch, eine Daseinsberechtigung zu gewinnen Die Faktizität des Für-sich – z. B. »Mitglied einer nationalen Kollektivität, einer Klasse, einer Familie« (SN 901) usw. – ist die im Entwurf auf den Wert hin übernommene Kontingenz. Das Für-sich wählt, was es ist, um zu sein, was es zu sein gewählt hat. Dieser Versuch mißlingt, weil es niemals mit seinem Gewähltworden-sein identisch sein kann. Um ein An-sich zu sein, bedarf es des Anderen, jenem »unüberwindbaren Skandal« (SN 797), der »das Geheimnis meines Seins« besitzt und allein »weiß, was ich bin« (SN 636). So bleibt mir nur, das, was ich für mich nicht sein kann, für den Anderen zu realisieren. Bereits zuvor wurde erwähnt, daß Sartre zwei alternative Handlungsmöglichkeiten des Für-sich angesichts des Blick-Anderen beschreibt: Ich kann den Anderen meinerseits objektivieren oder meine Objektivität auf mich nehmen. Im ersten Fall negiere ich das Sein, das er mir verleiht, indem ich ihm eine Objektivität verleihe, welche »meine Objektivität für den Anderen zerstört« (SN 636). Die zweite Möglichkeit besteht darin, die Freiheit des Anderen, die »Grund meines An-sich-seins« (SN 636) ist, zu »assimilieren« (SN 636).58 Ich will mich hierbei paradoxerweise ihrer bemächtigen, ohne ihren Freiheitscharakter zu zerstören. Wäre diese Absicht von Erfolg gekrönt, dann, so meint Sartre, »wäre ich mir selbst mein eigener Grund« (SN 636). Dies kann mir jedoch nur gelingen, indem ich mir selbst gegenüber den Gesichtspunkt des Anderen einnehme (vgl. SN 639). Problematisch ist der Versuch der Assimilation natürlich, weil ich auf eine Freiheit nicht so einwirken kann wie auf die Dinge, um sie zum Mittel meines Zwecks zu machen: »(W)as ich auch tue – lächeln, versprechen, drohen -, nichts kann die Zustimmung auslösen, ich weiß, daß das freie Urteil, das ich verlange, immer jenseits ist, ich spüre es in meinen Verhaltensweisen selbst, die nicht mehr den Arbeitscharakter haben, den sie in bezug auf die Dinge behalten, und die für mich selbst in dem Maß, wie ich das freie Urteil an den Andern binde, nur einfache Präsentationen sind, die darauf warten, als gefällig oder ungefällig, ehrlich oder unehrlich usw. konstituiert zu werden, und zwar durch eine Wahrnehmung, die immer jenseits aller meiner Anstrengungen, sie hervorzurufen, liegt« (SN 144). Die Assimilation der fremden Freiheit geht für Sartre in jedem Fall mit einem »Verführungsunternehmen« (SN 650) einher. Um dem Anderen zu gefallen, d. h. um das Sein, das von mir unerkannt draußen für den Anderen existiert, in meinem Sinne positiv zu beeinflussen, kann ich versuchen, mei58
Wenn Sartre an dieser Stelle von ›Assimilation‹ spricht, so bedeutet diese Wendung keine Rückkehr zur Hegelschen Synthese, denn dieser Versuch einer Assimilation des Anderen ist immer zum Scheitern verurteilt.
Assimilation der fremden Freiheit als Versuch
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nen Körper-für-Andere »zu erreichen, zu beherrschen, ihn als Instrument zu benutzen – denn er bietet sich auch dar als Instrument in einer Welt –, um ihm die angebrachte Gestalt und Haltung zu geben« (SN 622). Der Wunsch, »einen schönen Körper, harmonische Muskeln ›zu haben‹«, gehört zur Begierde, »sich sein eigenes Für-Andere-sein objektiv anzuzeigen« (SN 996). Ein anderes Beispiel, das Sartre erwähnt, ist die Liebe, in der meine Faktizität ein »Recht« (SN 649) wird. In der Liebe besteht für mich als den Geliebten das Ideal, daß der Andere »gewählt hat zu sein, um meine Objektheit und meine Faktizität zu begründen« (SN 649): »Während wir, bevor wir geliebt wurden, beunruhigt waren von dieser ungerechtfertigten, nicht zu rechtfertigenden Protuberanz, die unsere Existenz war, während wir uns als ›zu viel‹ fühlten, fühlen wir jetzt, daß diese Existenz in ihren kleinsten Einzelheiten von einer absoluten Freiheit übernommen und gewollt wird, deren Bedingung sie gleichzeitig ist – und daß wir uns selbst samt unserer eignen Freiheit wollen. Das ist der Grund für die Liebesfreude, wenn sie existiert: uns gerechtfertigt fühlen, daß wir existieren« (SN 649 f.). Wenn dieses Ideal der Liebe realisierbar wäre – was Sartre jedoch letztlich in Abrede stellt (vgl. SN 656–660) – , dann »verliert der Blick des Anderen und dadurch die Objektivierung durch ihn seine ganze Bedrohlichkeit und verleiht im Gegenteil dem Geliebten jene Seinssicherheit, die aus der verläßlichen und bedingungslosen Anerkennung durch den Anderen erwächst«.59 Von daher erscheint auch die Identifikation mit einer gesellschaftlichen Funktion als Versuch, »seine eigne Existenz als vor der Kontingenz gerettet« (SN 839) anzusehen. Ein Mensch trachtet danach, sich zu legitimieren, indem er z. B. »in sich selbst nur den ›Präsidenten des Appellationsgerichts‹, den ›Departementsschatzmeister‹« (SN 839) sieht. Eine solche »durch ihren Zweck legitimierte Existenz wäre Existenz de jure, nicht de facto« (SN 839). Strenggenommen kann ein solches Unternehmen jedoch nur mißlingen, denn die Freiheit könnte nur dann ihr eigener Grund sein, wenn ihr Zweck »auf die Existenz selbst zurückkommen [würde], um sie auftauchen zu lassen« (SN 839): »(D)as Für-sich zöge sich selbst aus dem Nichts, um den Zweck zu erreichen, den es sich setzt« (SN 839). Insofern die Freiheit jedoch »nicht Herrin über die Tatsache, daß es eine Freiheit gibt, die sich das, was sie ist, durch ihren Zweck anzeigen läßt« (SN 839), sein kann, kann sie auch »durch den Zweck, den sie setzt, nicht über ihre Existenz entscheiden« 59
Ziegler, ebd., 81. Lippitz glaubt, Liebe sei nach Sartre ein »Ausbruch aus dem mich entfremdenden Objekt-sein, das der Andere, mich erblickend, mir antut« (»Das Werden des Ich«, 224). Dies ist jedoch ein offensichtliches Mißverständnis: Der Entwurf der Liebe zielt ganz im Gegenteil darauf, ein geliebtes Objekt im Blick des Liebenden zu sein. Aus der Objektheit wird hier nicht ausgebrochen, sondern der Geliebte gefällt sich in ihr.
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
(SN 839). Um sich selbst zu wählen, müßte die Freiheit vor ihrer eigenen Existenz existieren. Da dies absurd ist, ist die Freiheit nur zu verstehen als »Nichtung eines Seins, das sie ist« (SN 841); sie ist »ursprünglich Bezug zum Gegebenen« (SN 841), eben jener Faktizität, die sie voraussetzen muß, um sie überschreiten zu können. Während auf der Stufe von Das Sein und das Nichts die – hier letztlich dennoch zum Scheitern verurteilte – Legitimation durch den Anderen bestenfalls meine Objektivität erreicht, wohingegen ihm mein Für-sich entgeht, ist der Gedanke einer Legitimation auf der Stufe von Der Idiot der Familie weitreichender. Einerseits wird sie nicht als gänzlich unmöglich konzipiert, andererseits hängt nun zudem auch mein Subjektcharakter von der Valorisierung durch den Anderen ab. In diesem Sinne kann dann auf der Stufe von Sartres Spätphilosophie davon gesprochen werden, daß das Für-sich selbst konstituiert wird, d. h. der Andere konstituiert nicht nur meine Faktizität, sondern auch meine Transzendenz – und darin liegt eine radikale Weiterentwicklung gegenüber der früheren Philosophie.
7. 8. Assimilation der fremden Freiheit durch die Komödie (comédie) Um eine wesentliche Bedingung des Wertes, mein An-sich bzw. meine Objektdimension, hervorzubringen, ist das Für-sich auf den objektivierenden Blick des Anderen angewiesen. Wenn ein Für-sich nur als Für-Andere-sein an-sich sein kann, erweist sich die Verwiesenheit auf den Wert letztendlich als Verwiesenheit auf Intersubjektivität. Zwar kann ich den Wert nicht realisieren, aber ich kann ihn irreal inszenieren. Ich muß mir zum einen vorstellen, was der Andere in mir sieht, und zum anderen dieses mir niemals wirklich gegebene An-sich als von mir hervorgebracht und als vom Für-sich erlebtes vorstellen. Dies illustriert Sartre anhand von Lucien, der Hauptfigur seiner Erzählung Die Kindheit eines Chefs: »(E)r dachte oft mit einem Anflug von Erregung an das Bild, das Berthe sich von ihm machen mußte« (Die Kindheit eines Chefs, 214). Aus dem bisher Gesagten wird natürlich deutlich, daß dieses Unternehmen bestenfalls annäherungsweise gelingen kann. Wenn Sartre erklärt, daß der Wert auch bei der Wahrnehmung des Objekt-Anderen (vgl. SN 199) erscheint und in diesem Sinne von einem »objektive(n) Begegnen der Werte in der Welt« (SN 199) spricht, so kann dies folgendermaßen expliziert werden: Der Andere zeigt durch seine Handlungsweisen, auf welche Weise er das An-sich-für-sich erreichen will. Der Wert ist hierbei die regulative Idee, die seine einzelnen Aktionen organisiert: Man sieht dem guten wie auch dem schlechten Schauspieler an, daß er den Hamlet darstellen will, so wie man einem Menschen die angestrebte Außenwirkung ansieht, gleichgültig, ob sein Versuch erfolgreich ist oder mißlingt. So erklärt etwa Nietzsche, daß
Assimilation der fremden Freiheit durch die Komödie
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er niemals einen ›großen Mann‹, sondern nur »den Schauspieler seines eignen Ideals« sieht.60 Der Umstand, daß der Wert objektiv dem Anderen begegnen kann, macht denjenigen, der diesen Wert realisieren will, zum Schauspieler seines An-sich-für-sich-seins. Bei Sartre selbst finden sich verstreute Hinweise für einen Zusammenhang von Wertbezogenheit und Für-Andere-sein, ohne daß er dem einen systematischen Stellenwert für seine Theoriebildung einzuräumen scheint. Es wird erklärt, daß ich den Anderen benutze, »um endlich die detotalisierte Totalität, die ich bin, zu totalisieren, um den offenen Kreis zu schließen und endlich zu machen, daß ich Grund meiner selbst bin« (SN 667). Eher verwirrend scheint in diesem Zusammenhang eine andere Passage, in der davon die Rede ist, daß »unter den tausend Weisen, auf die sich das Für-sich von seiner ursprünglichen Kontingenz loszureißen versuchen kann, eine ist, die in dem Versuch besteht, sich durch Andere als Existenz de jure anerkennen zu lassen« (SN 839). Verwirrend ist hier der Zusatz, daß es ›tausend Weisen‹ gebe, wobei Sartre nicht einmal eine einzige andere Möglichkeit erwähnt und im Rahmen seiner phänomenologischen Ontologie eine solche auch nicht denkbar ist: Es gibt für das Für-sich nur durch den Anderen die Möglichkeit, den Status eines An-sich-seins zu erreichen, und daher kann die Begierde nach An-sich-sein nur den Weg über den objektivierenden Blick des Subjekt-Anderen nehmen. So wie die Lektüre des Rezipienten das literarische Werk erst objektiviert (vgl. WiL 38 f.), erhält auch das Für-sich eine Identität erst durch den Blick des Anderen. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um Sein im Sinne von Transphänomenalität, denn meine Identität setzt den Blick voraus wie der literarische Text die Lektüre. Daher dürfte genaugenommen nur von Objektivität und nicht von einem An-sich gesprochen werden. Aufgrund seiner Wertbezogenheit verfolgt das Für-sich zwar die Intention, eine Identität zu gewinnen, aber seine ontologische Struktur erlaubt ihm, eine solche Identität nur auf imaginäre Weise und vor dem Blick des Anderen zu verwirklichen. Mit anderen Worten, der Mensch macht sich zum Schauspieler – und dies hat nicht nur den negativen Grund, das unausweichliche Verhängnis der Objektivierung durch den Blick wenigstens in bestimmten Grenzen kontrollieren zu können, sondern auch den positiven Grund, durch den Anderen eine Daseinsberechtigung zu erhalten.61 Da das Für-sich nicht sein kann, muß es spielen zu sein – und hierzu benötigt es den Anderen bzw. seinen objektivierenden Blick, der in diesem Zusammenhang weniger eine Bedrohung darstellt, sondern eine – natürlich zweifelhafte – Erlösung aus der ausweglosen Situation bedeutet, in die die menschliche-Realität durch das Wertdilemma gerät. Aus dieser Sicht erscheint die Begegnung mit dem Anderen schon auf der Stufe von Das Sein und das Nichts in einem weniger 60 61
Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aph. 97. Vgl. Verweyst, ebd., 194.
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
düsteren Licht. Setzt man sie mit der Wertphilosophie Sartres in Verbindung, dann lassen sich ihr durchaus positive Züge abgewinnen. Im Zusammenhang mit seinen Erläuterungen zur Unaufrichtigkeit beschreibt Sartre das Verhalten eines Kaffeehauskellners, der eifrig umherläuft, eilig auf die Gäste zuläuft, auf bestimmte Art und Weise sich verbeugt, spricht, aufmerksam die Bestellung entgegennimmt, das Tablett balanciert usw.: »Man braucht ihn nicht lange zu beobachten, um sich darüber klarzuwerden: er spielt Kellner sein« (SN 139 f.). Das Kellner-sein läßt sich nur durch das Schauspiel realisieren. In dieser »Zeremonie« gleicht er etwa auch dem Kaufmann, der sich den Erwartungen der Kundschaft gemäß verhält: »(E)s gibt den Tanz des Lebensmittelhändlers, des Schneiders, des Auktionators, durch den sie sich bemühen, ihre Kundschaft davon zu überzeugen, daß sie weiter nichts sind als ein Lebensmittelhändler, ein Auktionator, ein Schneider« (SN 140).62 Niemals kann nach Sartre der Kellner, der Soldat usw. unmittelbar so Kellner oder Soldat sein, wie das Tintenfaß Tintenfaß oder das Glas Glas ist. Dies liegt nicht daran, daß ich mich weigerte, es zu sein, sondern weil es, wie Sartre erklärt, sowohl für mich selbst wie für die Anderen63 nur eine »Vorstellung« ist.64 Ich kann dieses Sein nicht sein; »ich kann nur spielen es zu sein, das heißt mir einbilden, daß ich es sei« (SN 141).65 Auch wenn ich gewissenhaft die Funktion des Kellners erfülle, so kann ich es »nur in neutralisierter Weise sein, so wie der Schauspieler Hamlet ist, indem ich mechanisch die typischen Bewegungen meines Berufs mache und mich über diese zum Analogon genommenen Bewegungen als imaginären Kellner betrachte«
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Gerade der zeremonielle Charakter der sozialen Verhältnisse um ihn herum führt Sartre als Kind die eigene Kontingenz vor Augen: »Ich lebte im Unbehagen: im gleichen Augenblick, da ihre Zeremonien mich erkennen ließen, daß nichts ohne Grund existiert und daß jeder, der Größte wie der Kleinste seinen festen Platz im Universum besitzt – verflüchtete sich meine Daseinsberechtigung; plötzlich entdeckte ich, daß ich überhaupt nicht mitzählte, und schämte mich meiner aus dem Rahmen fallenden Gegenwart in dieser geordneten Welt« (W 66). 63 Daß nicht nur ich, sondern auch der Andere meine Vorstellung als Vorstellung versteht, wird zwar von Sartre häufig in seinen literarischen Werken vorgeführt, innerhalb seiner Ontologie stellt sich allerdings die Frage, ob diese Einsicht verallgemeinerbar ist bzw., ob ihr ein systematischer Stellenwert zukommt, denn der Andere erscheint mir durchaus auch als ein reales Objekt mit realen Eigenschaften, während ich für mich umgekehrt niemals ein reales Objekt mit realen Eigenschaften sein kann. So wie nur der leidende Andere wirklich objektiv leidet (vgl. SN 193), müßte auch der Andere als Kellner der ›wahre‹ Kellner sein. 64 Vgl. im Original: »je ne puis l’être qu’en représentation« (L’être et le néant, 99). 65 Gisi gibt Sartres Position zu schwach wieder, wenn er erklärt, daß das Bemühen um Identität »zum Spiel werden kann« (Der Begriff Spiel im Denken J.-P. Sartres, 17 – Hervorhebung J. B.): Das Bemühen um Identität muß sich vielmehr nach Sartre notwendig als Spiel bzw. als Schauspiel vollziehen.
Assimilation der fremden Freiheit durch die Komödie
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(SN 141). Der explizite Verweis auf Das Imaginäre in einer Fußnote (vgl. SN 141) zeigt, daß die Rede vom Imaginären oder vom Analogon hier nicht zufällig auftaucht oder im umgangssprachlichen Sinne gemeint ist, sondern im Zusammenhang mit der erwähnten Schrift verstanden werden soll. Realisiert werden soll das An-sich-sein des Kellners, aber immer ist es letztlich allein meine freie Entscheidung, ob ich meine beruflichen Pflichten erfülle oder es riskiere, entlassen zu werden. So bin ich einerseits immer »ein Jenseits meiner Stellung«, andererseits bin ich dennoch in gewisser Hinsicht ein Kellner – denn keineswegs könnte ich mich Diplomat oder Journalist nennen. Aber ich bin es nicht als an-sich, sondern »nach dem Modus, das zu sein, was ich nicht bin« (SN 142). Auf der Ebene des Für-sich ist der Charakter nur ein »Selbstentwurf« (SN 947); lediglich für den Anderen, der mich objektiviert, bin ich cholerisch, mutig, hinterhältig. Meine charakterlichen Eigenschaften erfahre ich erst durch den Blick des Anderen, insofern haben sie »nur als Erkenntnisobjekt für den Andern eine bestimmte Existenz« (SN 614; vgl. auch SN 948). Das Für-sich selbst erfaßt seinen Charakter nur, »wenn es sich reflexiv vom Gesichtspunkt des Andern aus bestimmt« (SN 614), während er ursprünglich auf Seiten des Für-sich »nichts andres ist als die Summe unserer Eide (der Eid, sich reizbar, starrsinnig, treu zu zeigen usw.)« (MRT 45). Man hat diese Eigenschaften nicht, sondern man verpflichtet sich, sie weiterhin zu manifestieren, d. h. in der einmal gewählten Rolle zu verbleiben.66 Klotter und Reutter referieren Sartres Subjektmodell auf folgende Weise: »Zwecke, Eigenschaften etc. sind nicht Tatsachen, die wie physikalische Ursachen bestimmte determinierte Wirkungen zur Folge haben können, sondern Ziele, die in einem gegebenen Moment als Überschreitung einer bestimmten Realität immer neu hervorgebracht werden. Der Choleriker ist nicht auf die gleiche Weise cholerisch, auf die die Erde rund ist: Er ist cho-
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Die Charaktereigenschaft ist für Sartre immer nur – und darin bleibt er den Ausführungen in »Die Transzendenz des Ego« treu – eine permanente Struktur, die retrospektiv ausgehend von erinnerten Bewußtseinsakten konstituiert wird: »Der Mensch, der sich für erregbar hält, konstatiert im Grunde nur, daß er sich oft erregt hat« (B 104). Mein Wesen ist dasjenige, was gewesen ist, und von dem mich meine Freiheit, die mir jede Seinsweise der Identität radikal versagt, unentwegt losreißt: »Was ich bin, war ich, da meine jetztige Freiheit die Natur, die ich erworben habe, stets in Frage stellt« (B 104 f.). Darin unterscheidet sich Sartres Position auch von derjenigen Löwiths, nach dem das Zusammensein mit einem anderen, mich – in der jeweiligen ›verhältnismäßigen Bedeutung‹ – zu einem anderen macht, als ich es eigentlich an sich bin (vgl. Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, 169 f.). Anders als Sartre unterstellt Löwith damit eine eigentliche authentische Individualiät hinter und unabhängig von den verhältnismäßigen Bedeutungen. Für Sartre gibt es jedoch kein wahres Ich hinter den Rollen, sondern genaugenommen konstituiert sich das Ich nur über die Rollen.
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
lerisch, weil er sich in jedem Augenblick seiner Wut auf sich als Wütenden hin entwirft«.67 Aus dem Blickwinkel der vorliegenden Arbeit kann diese zutreffende Darstellung durch drei Punkte ergänzt werden, die das Fazit des Kapitels über den Blick, den Wert und die Imagination darstellen: 1. Um cholerisch zu sein, bedarf das Für-sich des Anderen: »So wie ich für Andere existiere, existiere ich auch für mich selbst«. Daraus folgt: »Meine Identität hängt somit zutiefst von den Anderen ab«.68 Danto erläutert: »Ich kann mich selbst nur als Kellner auffassen, insoweit ich als Kellner für andere existiere oder existieren kann. In dem Maße aber, in dem ich für sie als ein Kellner existierte (oder auch für mich selbst, wenn ich mich von außen betrachte), werden meine Freiheit und meine Identität zu Gefangenen der Freiheit und Identität anderer. Das, was jeder von uns anstrebt – was anzustreben in unserer Natur als Menschen begründet liegt – ist, die ›Begründung‹ unseres eigenen Seins zu sein; und hier nun entdecken wir, daß unsere Begründung in der Freiheit eines anderen liegt«.69 2. Daraus ergibt sich, daß das Für-sich, sofern es sich als cholerisch entwirft, für diesen Anderen eine Komödie inszenieren muß – hier kommt das erste Mal die Dimension des Imaginären ins Spiel. Mein Körper und seine Aktivitäten werden zum Analogon, um ein bestimmtes An-sich-sein erscheinen zu lassen. 3. Um dieses z. B. Cholerisch-sein, das das Für-sich für den Anderen ist, für sich selbst – so weit dies überhaupt möglich ist – als gelungenen Entwurf zu erfassen, muß es sich selbst aus der Perspektive des Anderen zu sehen versuchen, d. h. es muß, insofern der Andere eben der Andere ist, imaginieren, was dieser Andere in ihm sieht.70 Damit taucht das Imaginäre ein zweites Mal auf. Man muß also eine Identität darstellen, damit die Anderen sie widerspiegeln (vgl. IF 3, 605); man muß andere überzeugen, um mittels ihrer von der eigenen Identität überzeugt zu sein (vgl. IF 3, 607). So ist für Flaubert seine Rolle »jenes ›Er‹, das die Anderen ihm als sein intimstes Sein widerspiegeln müssen, wenn er die geeigneten Gesten findet, sie zu überzeu-
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Klotter/Reutter, »Ansätze einer historisch-philosophischen Biographieforschung: Sartre und Foucault«, 138. 68 Ziegler, ebd., 64. 69 Danto, ebd., 131; siehe hierzu auch Dandyk, Unaufrichtigkeit, 111. Danto problematisiert an dieser Passage nicht, wie ich ›mich von außen betrachten‹ kann, wenn ich für mich nicht Objekt sein kann und mir meine Objektivierung durch den Anderen in ihrem Sinn immer entgeht. 70 Indem ich als Objekt für Andere existiere, erschaffe ich mich zwar im An-sich-sein, aber ich habe niemals die Intuition dessen, was ich erschaffe (vgl. SG 851). Aufgrund der Unerreichbarkeit dessen, was ich für den Anderen in seiner Andersheit bin, führt der Versuch, den Standpunkt des Anderen einzunehmen, um zu erfahren, was ich für ihn bin, in den Bereich des Imaginären (vgl. auch MRT 93).
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gen« (IF 3, 603). Nach Sartre kann jemand eine Selbstinszenierung vor dem Spiegel vollziehen, um sich »draußen als Subjekt und drinnen als Objekt« (IF 2, 36) zu fühlen und im Spiegel den Gegenstand zu sehen, »der er für alle ist« (IF 2, 36). Aber selbst wenn er auch beabsichtigt, »sich gesehen zu sehen, um sich in der Sicht der Anderen korrigieren zu können« (IF 2, 38), wird er niemals sein Objekt-sein erfassen, und der Grund für dieses Mißlingen sind die körperlichen Doppelempfindungen: »(W)enn mein Daumen meinen Zeigefinger berührt, so ist keiner dieser beiden Finger für den anderen wirklich ein Gegenstand, weil jeder von ihnen zugleich berührt und berührt wird, fühlt und gefühlt wird, aktiv und passiv ist; ebenso kann ich im Spiegel nicht mein Lächeln oder das Hochziehen meiner Augenbrauen sehen, ohne zugleich das Bewußtsein zu haben, es für die Widerspiegelung meines Gesichts zu wollen und zu machen; folglich sehe ich niemals einen Menschen, der mir zulächelt, sondern das Spiegelbild, das von den Muskelkontraktionen herrührt, die ich absichtlich herbeiführe. Nicht, daß man von einem Spiegelbild nichts lernen könnte: man wird in ihm in gewissem Maße das beobachten, was sich auf das Innerweltlich-sein bezieht (das heißt auf die Beziehungen zur Umgebung); das In-der-Welt-sein niemals. Die Figur, die wir sehen, die sich gehorsam unseren Entscheidungen fügt und unsere Bewegungen reproduziert, während wir sie machen, ist in ihrer Komplexeinheit ein Quasi-Objekt« (IF 2, 38). Das Spiegelbild ist also nur eine Quasi-Beobachtung, weil es ihm wie dem literarischen Text vor dem Auftreten des Anderen als Leser an Objektivität mangelt. Mein eigenes Verhalten kann ich nur auf Fotos oder in einem Film beobachten – und dies liegt daran, daß ich diese Gesten im Moment des Beobachtens nicht mehr vollziehe (vgl. IF 2, 38, Fußn. 16). Die von Sartre ungeklärte Frage, ob ich nun infolge des Angeblicktwerdens mich selbst aus der Perspektive eines Anderen sehen kann oder ob man diese Annahme aufgrund der radikalen Andersheit des Anderen als Rückfall in den von Sartre selbst beanstandeten ›epistemologischen Optimismus‹ Hegels zurückweisen muß, kann mit dem Hinweis auf die imaginierende Haltung beantwortet werden. Der Andere ist mir nicht gegeben, ich kann nicht wissen, was ich für ihn für ein Objekt bin, aber ich kann es mir vorstellen. Aufgrund der Andersheit ist mir das andere Für-sich und mein Für-Andere-sein nur auf imaginäre Weise zugänglich. Hierfür fungieren die wahrgenommenen Eigenschaften des Objekt-Anderen als Analogon, um auf dieser Basis seinen unerreichbaren Blick und in eins meine Objektivität für ihn zu imaginieren.71 71
Daß solche Versuche natürlich hochgradig unsicher sind, spricht nicht gegen ihre Möglichkeit. Als wahrgenommene Eigenschaften des Anderen, die signifikant für seine Einschätzung meiner Person sind, ließe sich etwa das von Honneth angeführte körpergebundene und expressive Ausdrucksverhalten, Gesten, Mimik, Sprache, Tonfall usw. verste-
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
Auf diese Weise erhält der Blick-Andere seine Individualität zurück. Da ich X kenne, versuche ich abzuschätzen, worauf er achtet und was ich folglich für ihn für ein Objekt bin und wie ich meine Rolle zu gestalten habe. Für Y, von dem ich weiß, daß er andere Präferenzen hat, muß ich etwas anderes darstellen, wenn ich seine positive Würdigung bzw. eine für mich schmeichelhafte Objektivierung hervorrufen will.72 Insofern jede objektive Eigenschaft, die die Anderen mir zuschreiben, vor allem wiedergibt »was ich in bezug auf sie bin« (SG 57), lassen sich zwei Momente unterscheiden: »(I)ch und mein Zeuge in der Beziehung dieser beiden Glieder« (SG 57). Insofern die jeweilige Eigenschaft »ursprünglich eine Beziehung zum anderen« (SG 58) darstellt, ist sie nicht nur von mir, sondern ebenfalls von der subjektiven Disposition des jeweiligen Anderen abhängig. Gerade deswegen kann mich der eine als intelligent einschätzen, während der Andere mich für dumm hält. Wenn das »›Vom-Anderen-gesehen-werden‹ die Wahrheit des ›Den-Andern-sehens« (SN 464) ist, so wird auf der konkreten Ebene verständlich, warum meine Einschätzung des Anderen von Anfang an davon abhängig ist, wie ich mir vorstelle, daß er mich einschätzt. Da meine Identität sich nur auf der Ebene meines Für-Andere-seins befinden kann, existiert sie nur als eine Vielfalt, insofern ich ein Für-Peter-sein, ein Für-Paul-sein, ein Für-Mary-sein usw. bin. Die von Sartre nicht entwickelten Konsequenzen seiner Intersubjektivitätstheorie berühren sich somit mit den postmodernen Konzepten eines multiplen Selbst.73 Voraussetzung für all diese Überlegungen ist natürlich, daß die durch Sartres konkrete Beispielbeschreibungen ohnehin unterlaufene radikale Trennung von Subjekt-Anderen und Objekt-Anderen revidiert wird, indem sie als gestaltpsychologisches ›Kippphänomen‹, also als Figur-Hintergrund-
hen, das die Art der Interaktionsbeziehung qualifiziert (vgl. Honneth, »Unsichtbarkeit«, passim). 72 Vgl. zur wesentlichen Rollenstruktur der sozialen Begegnung auch Löwith, ebd., 51: »Die Mitmenschen begegnen nicht als eine Mannigfaltigkeit für sich seiender ›Individuen‹ sondern als ›personae‹ die eine ›Rolle‹ haben, nämlich innerhalb und für ihre Mitwelt, aus der heraus sie sich dann selbst personhaft bestimmen« (vgl. auch ebd., 99 f.). Jeder Mensch erscheint nicht als absolute singuläre Bedeutung bzw. als isolierte Individualität, sondern er läßt sich nur aus seinen Verhältnissen zu anderen – also in der jeweiligen Rolle, »welche ihm durch sein Verhältnis zum andern schon eo ipso erteilt ist« (ebd., 78) – verstehen. Daher spricht Löwith von »›verhältnismäßige(r)‹ Bedeutsamkeit« (ebd., 52): »Und indem somit ein jeder sich selbst in Rücksicht auf einen andern bestimmt oder be-deutet, ist eines jeden Sein und Verhalten prinzipiell zweideutig« (ebd., 71 f.). Sein Verhalten muß darum einerseits immer von ihm selbst her und andererseits vom spezifischen Anderen her gedeutet werden – andernfalls wäre die Deutung, wie Löwith erklärt, nicht »wahrhaft ›objektiv‹«, sondern »willkürlich eindeutig« (ebd., 71). 73 Vgl. zur jüngeren Forschungsliteratur zum Problem der Subjektivität: Harald Wenzel, »Gibt es ein postmodernes Selbst?«; Welsch, »Identität im Übergang«; Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Kap. 9.
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bzw. Thema-Horizont-Verhältnis betrachtet wird. Auf diese Weise wird verhindert, daß die Dualität von Subjekt-Anderem und Objekt-Anderem, für die durchaus einiges spricht, sich in einem Dualismus verfestigt. Anstelle der Frage, ob nun der Subjekt-Andere dem Objekt-Anderen oder umgekehrt der Objekt-Andere dem Subjekt-Anderen vorausgeht, wäre statt dessen auch im Sinne der gestalttheoretischen Korrekturen angesichts der Kritik Theunissens eher von einer Reversibilität dieser beiden Dimensionen auszugehen. Setzt man den Anderen als Subjekt und den Anderen als Objekt auf zwei grundverschiedenen Seinsebenen an, so ist im übrigen auch gar nicht nachvollziehbar, wie mir der Objekt-Andere im Gespräch – denn nur mit ihm, dem Individuum, das ich hören und sehen kann, bin ich imstande zu sprechen – mitteilen kann, was der Subjekt-Andere über mich denkt. Indem das Für-sich zum Schauspieler wird, wandelt sich der Blick vom Richter zum Publikum:74 Aus dem Bewußtsein, das spricht, denkt, handelt und träumt, wird eine ›aus diesem fabrizierte imaginäre Persönlichkeit‹ (vgl. SüS 254). Hierdurch steht der Charakter, wie Sartre erklärt, im Zusammenhang mit der Wertbezogenheit des Für-sich: »Der Charakter ist sogar häufig das, was das Für-sich zu vereinnahmen versucht, um das An-sich-für-sich zu werden, daß zu sein es vorhat« (SN 948). Und so, wie ich spielen muß, ein Kellner zu sein, muß ich vor den Anderen z. B. auch spielen, ein guter und respektabler Mensch zu sein – und dasjenige, »was ein Mensch schützt und verteidigt und worin er seine Gefühle investiert, ist eine Idee von sich selbst; Ideen sind aber nicht verletzbar durch Tatsachen und Dinge, sondern nur durch Kommunikationen«,75 da es immer dem Anderen obliegt, meinen imaginären Selbstentwurf anzuerkennen und ihn – wie der Leser das literarische Werk – auf die Ebene der Objektivität zu erheben. Darum gilt für Sartre, was Berger und Luckmann später für die soziale Welt festgehalten haben: »Wir leben nicht nur in derselben Welt, wir haben beide teil an unser beider Sein«.76 Wichtig ist, bei Sartres philosophischem Menschenbild vor allem auf folgenden Sachverhalt hinzuweisen: Der Schein liegt nicht darin, daß der Mensch vorgibt, ein bestimmtes Sein zu sein, und in Wirklichkeit ein anderes Sein ist, sondern er ist überhaupt kein Sein. Daher ist die imaginäre Figur strengge74
Das Publikum ist natürlich genaugenommen immer noch ein Richter. Goffman, Interaktionsrituale, 51; vgl. auch Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, 248: »Da es sich um eine gesellschaftliche Identität handelt, wird sie in ihrer Beziehung zu anderen verwirklicht. Sie muß von anderen anerkannt werden, um jene Werte zugeschrieben zu bekommen, die wir ihr gerne zugeschrieben sehen möchten«. Pointiert schreiben Berger und Luckmann: »Ehefrau, Kinder und Sekretärin versichern feierlich und täglich neu, daß man ein Mann von Gewicht oder ein hoffnungsloser Versager ist« (ebd., 161). Zur grundsätzlichen Übereinstimmung von Goffman und Sartre, vgl. Ashworth, »›L’enfer, c’est les autres‹: Goffman’s Sartrism« sowie Ziegler, ebd., 65 f., 72. 76 Berger/Luckmann, ebd., 140. 75
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
nommen auch keine Täuschung, sondern der ernsthafte bis zuweilen sogar verzweifelte Versuch etwas zu realisieren, dessen Realisierung aufgrund der ontologischen Bestimmung des Menschen unmöglich ist. So sinniert Mathieu in Sartres Roman Zeit der Reife: »(V)ielleicht muß man wählen: nicht zu sein oder das, was man ist, zu spielen«. Er kommt zu dem Schluß: »›(M)an wäre von Natur aus verfälscht‹« (Zeit der Reife, 185).77 In diesem Buch findet sich auch ein Beispiel, wie die menschliche-Realität versucht, ihr Sein zu erfassen, indem sie sich selbst gegenüber den Standpunkt des Anderen – und zwar eines konkreten Anderen – einzunehmen versucht: Mathieu »sah […] sich mit Ivichs Augen, und ihn graute vor sich selbst« (Zeit der Reife, 86 f.; vgl. auch ebd., 71).78 Und auch Lucien, die Hauptfigur in Sartres Erzählung Die Kindheit eines Chefs weiß, daß die Introspektion wenig hilfreich ist, wenn man in Erfahrung bringen will, wer man ist: »Den wahren Lucien – das wußte er jetzt – mußte man in den Augen der anderen suchen, im furchtsamen Gehorsam von Pierrette und Guigard, in der hoffnungsvollen Erwartung all dieser Wesen, die für ihn heranwuchsen und reiften, dieser jungen Lehrlinge, die seine Arbeiter werden würden, der Einwohner von Férolles, groß und klein, deren Bürgermeister er eines Tages sein würde« (Die Kindheit eines Chefs, 244).79 77
Vgl. auch Hugo in Die schmutzigen Hände, 92: »Merkt euch: Ein Familienvater ist nie ein richtiger Familienvater. Ein Mörder ist nie ein richtiger Mörder. Sie spielen, versteht ihr? Aber ein Toter, der ist wirklich tot. Sein oder nicht sein, nicht? Ihr versteht, was ich meine. Es gibt nichts, was ich sein könnte, außer ein Toter mit sechs Fuß Erde über dem Kopf. Ich sage euch, es ist alles Theater. […] Und auch das ist Theater. Alles! Alles, was ich euch jetzt sage. Ihr glaubt vielleicht, ich sei verzweifelt? Überhaupt nicht: ich spiele Verzweiflung. Kommt man da raus?« 78 Vgl. auch die Rede Keans in Sartres gleichnamigem Theaterstück, in der noch einmal auf anschauliche Weise deutlich wird, daß wir uns nur die Qualitäten zuschreiben können, die der Andere anerkennt: »Siehst du, wir sind drei Opfer. Du bist weiblich geboren; er ist zu hoch geboren; ich zu niedrig: Das Ergebnis ist, daß du deine Schönheit durch die Augen anderer genießt und daß ich mein Genie in ihrem Applaus entdecke; er ist wie eine Blume: damit er sich als Prinz fühlen kann, muß man an ihm riechen. Schönheit, Königswürde, Genie: ein und dasselbe Trugbild. Du hast recht: wir sind nur ein Abglanz« (Kean, 146 f.). Ein weiteres Beispiel sei aus Sartres Autobiographie zitiert: »Meine Wahrheit, meinen Charakter und meinen Namen hatten die Erwachsenen in der Hand; ich hatte gelernt, mich mit ihren Augen zu sehen; ich war ein Kind, ein Monstrum, das sie mit Hilfe ihrer eigenen Sorgen fabrizierten. Waren sie nicht da, so hinterließen sie ihren Blick, der eins wurde mit dem Licht; ich lief und hüpfte herum unter diesen Blick, der mir meine Natur eines vorbildlichen Enkels aufzwang, der mir meine Spielsachen und das Universum schenkte« (W 63; vgl. zu Inszenierungen und Zeremonien vor allem auch: W 19 f., 53–55, 63–66). 79 Vgl. hierzu auch Gisi, ebd., 10. – Besonders problematisch wird das Für-Andere-sein natürlich, wenn mehrere Personen das Für-sich gleichzeitig objektivieren, vor denen es verschiedene Rollen spielt: »Sie saßen ihm aufmerksam und streng gegenüber; sie hatten sich beide ein persönliches Bild von Mathieu gemacht und verlangten beide, daß er diesem ähnelte. Nur waren diese beiden Bilder nicht vereinbar« (Zeit der Reife, 177; vgl. auch ebd., 233). Diesen prekären Sachverhalt behandelt auch Löwith, ebd., 84 ff.
Die Begierde zu sein als Grundlage der imaginären Dimension
273
In deutlicher Entsprechung zu Sartres Ausführungen versucht Simone de Beauvoir, sich dem Phänomen des Alterns zu nähern. Zunächst erklärt sie offenbar unter dem Einfluß von Sartres Frühschrift »Die Transzendenz des Ego«: Da mein Ego als ein transzendentes Objekt nicht in meinem Bewußtsein lebt, können wir es nur vermittels eines Bildes anzielen. »Wir versuchen uns vorzustellen, wie wir in der Sicht der anderen sind«.80 Solange die Anerkennung durch die Anderen garantiert wird, ist das Bild ausreichend, »uns unserer Identität zu versichern«:81 Kinder, die »genug Liebe erhalten«, »sind zufrieden mit diesem Widerschein ihrer selbst, den sie in den Worten und dem Verhalten ihrer Nächsten entdecken; sie gleichen sich ihm an und bedienen sich seiner wiederum«.82 Die Identitätskrise, von der die Psychiater reden, taucht auf, sobald Für-sich und Für-Andere auseinanderklaffen. So fühlt sich der gealterte Mensch »alt aufgrund der anderen, ohne entscheidende Veränderungen erfahren zu haben; innerlich ist er nicht einverstanden mit dem Etikett, mit dem man ihn versehen hat – er weiß nicht mehr, wer er ist«.83 Mit anderen Worten: »Das Alter ist ein dialektischer Bezug zwischen meinem Sein in den Augen anderer, so wie es sich objektiv darstellt, und dem Bewußtsein meiner selbst, das ich durch das Alter gewinne«. Alt geworden »ist der andere in mir, […], das heißt jener, der ich für die anderen bin: Und dieser andere – bin ich«.84
7. 9. Die Begierde zu sein als Grundlage der imaginären Dimension Die bisherigen Überlegungen, nach denen der Mensch das durch die Wertstruktur erstrebte Sein nur irreal verwirklichen kann, erhalten zusätzliches Gewicht innerhalb des Sartreschen Denkens durch die Grundkategorien des Für-sich, unter denen sich alle Verhaltensweisen des Menschen subsumieren lassen sollen (SN 751). Nach Sartre können die Begierden der menschlichenRealität in die Grundkategorien des Habens, Handelns und des Seins eingeteilt werden: Wir begehren entweder, etwas zu besitzen, etwas zu tun oder »jemand zu sein« (SN 988). Ich will ein Gemälde besitzen, ein Buch schreiben, einen Spaziergang machen, ich schmücke mich, um schön zu sein, bilde mich, um gelehrt zu sein usw.: »So erscheinen uns auf den ersten Blick die drei großen Kategorien der konkreten menschlichen Existenz in ihrer ursprünglichen Beziehung: Handeln, Haben, Sein« (SN 988). Sogleich stellt Sartre jedoch die 80 81 82 83 84
Beauvoir, Das Alter, 374. Beauvoir, ebd., 374. Ebd. Ebd., 374 f. Ebd., 364.
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
Reduzierbarkeit des Handelns auf die anderen beiden Begierden fest: »Die drei Kategorien ›Sein‹, ›Handeln‹, ›Haben‹ reduzieren sich also hier wie überall auf zwei: das ›Handeln‹ ist rein transitiv«. Letztlich ist jede Begierde also »Begierde, zu sein, oder Begierde, zu haben« (SN 996). Man handelt also nach Sartre niemals, um zu handeln, sondern um zu haben oder um zu sein. Aber auch bei dieser Zweiteilung bleibt es schlußendlich nicht, denn im folgenden wird auch die Begierde, zu haben, für transitiv erklärt – und somit läßt sich alles Handeln schließlich auf die Begierde, zu sein, zurückführen (vgl. SN 1008). Insofern man also auch nur hat, um zu sein, gibt es im Grunde lediglich eine einzige Grundkategorie allen Handelns: »›Handeln‹ und ›Haben‹ als Hauptkategorien der menschlichen-Realität reduzieren sich unmittelbar oder mittelbar auf den Entwurf, zu sein« (SN 1060). Diese Begierde, zu sein, ist der Entwurf, dem Für-sich »unvermittelt die Würde eines An-sich-Für-sich zu verleihen« (SN 1024), während die Begierde, zu haben, zwar ebenfalls den Wert realisieren, dies jedoch vermittels der Welt erreichen will. Daher sollen diese beiden Begierden niemals getrennt auftauchen: »(M)an findet keine Begierde, zu sein, die sich nicht um eine Begierde, zu haben, verdoppelt und umgekehrt; im Grunde handelt es sich um zwei Richtungen der Aufmerksamkeit hinsichtlich eines selben Zwecks oder, wenn man so will, um zwei Interpretationen ein und derselben grundlegenden Situation, von denen die eine dem Für-sich das Sein ohne Umweg zu verleihen sucht, während die andere den Zirkel der Selbstheit herstellt, das heißt zwischen das Für-sich und sein Sein die Welt einschiebt« (SN 1024 f.). Die Wertverwiesenheit, die im Widerspruch zur Seinsverfassung des Menschen steht, ist die fundamentale Motivation des Imaginären. Zielt jeder Entwurf des Menschen darauf ab, sich selbst als ein bestimmtes Sein zu konstituieren, das er jedoch niemals wirklich sein kann, dann besitzt jede reale Handlung eine Tendenz zum Imaginären: Operieren heißt zwar, real die Tätigkeiten des Arztes auszuführen und damit auch reale Veränderungen in der Welt hervorzurufen. Aber insofern ich dies in letzter Konsequenz nur tue, um Arzt zu sein (oder etwa ein ›Guter Mensch‹ im Dienste der Menschheit), gleite ich ins Imaginäre über. Dasselbe gilt natürlich innerhalb von Sartres Philosophie dann auch für jeden Besitz: Ich will also nur darum etwas haben, um derjenige zu sein, der es hat. Ob ich in der Tat nur Reichtümer besitzen will, um ein reicher Mann zu sein, scheint nicht unbedingt plausibel,85 allerdings soll im Rahmen der Aufgabenstellung dieser Arbeit der Nachweis genügen, wie aufgrund von Sartres philosophischen Grundthesen eine Auffassung des Menschen vorgelegt wird, die auf implizite Weise – und ohne daß Sartre selbst es in Das Sein und das Nichts thematisiert – beständig den Horizont des Ima85
Vgl. auch die Kritik von Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich., 99 f.
Die Begierde zu sein als Grundlage der imaginären Dimension
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ginären eröffnet. In einem Interview aus den sechziger Jahren hat der französische Philosoph erklärt: »Der Mensch gleicht entweichendem Gas, er strebt hinaus ins Imaginäre« (SüS 176). Ein weiterer intertextueller Bezug stützt die These, daß Sartre das Imaginäre als Wahrheit des menschlichen Handelns verstehen müßte. In seiner Biographie über Jean Genet wird erklärt, daß dieser Schriftsteller mit krimineller Laufbahn von Kindheit an gestohlen hat, um der Dieb zu sein. Und gerade darum kann man jeden seiner Diebstähle als »poetischen Akt« (SG 116) bezeichnen. Poetisch ist dieser Akt, weil es sich hierbei um eine Geste und nicht um eine Handlung handelt: »Eine Handlung, die man ausführt, um zu sein, ist nicht mehr eine Handlung, sie ist eine Geste« (SG 119). Anders gesagt: »Die Geste ist die Objekt gewordene Tat« (SG 506), also eine Tat, die das Wesen enthüllen soll (SG 133); und ihre »innere Substanz« ist der Blick der Anderen (vgl. SG 507). Wenn aber nach Das Sein und das Nichts letztlich jede menschliche Handlung ein Sein hervorbringen will, dann ist jede menschliche Handlung aufgrund der Wertverwiesenheit ein poetischer Akt: »(M)an kann nur im Imaginären sein wollen, was man ist« (SG 960). Andererseits ist völlig unklar, wie ausgerechnet jener Akt, der auf das Sein zielt, ästhetisch, d. h. imaginär (vgl. SG 158) sein sollte, wenn zugleich die Imagination und gerade auch die Geste das Nichts dem Sein vorzieht (vgl. SG 29). Wenn Sartres Ontologie die menschliche-Realität auf diese Weise beschreibt, so nähert sie sich der ästhetischen Einstellung an, die er selbst in Was ist Literatur? als eine Haltung beschreibt, in der die unternommenen Tätigkeiten nur einen Vorwand für die Ausführung anmutiger Bewegungen darstellen (WiL 21–23). »(D)urch die Geste steigt eine exemplarische Persönlichkeit in jeden von uns herab« (SG 518). Sartres phänomenologische Ontologie sieht die Menschen also im Grunde aus der Perspektive des Künstlers: Zwar spielt der Entwurf, der die Realität verändert, in seinem Denken eine immense Rolle, aber sobald er behauptet, daß alle menschlichen Handlungen »Beschwörungstänze« (SG 377) sind, die letztlich dazu dienen, das Sein zu manifestieren, so wird die das Wesen manifestierende Geste zur Wahrheit des Handelns. Eine »vollkommene Übereinstimmung von Handlung und Wesen« (SG 159) ist jedoch für Sartre einer der Hauptaspekte der Schönheit. Und insofern die Schönheit in der Realität zwar »fortwährend angezeigt«, zugleich jedoch »unmöglich« ist, kann die Schönheit ebenso wie das Wesen nur »nach dem imaginären Modus« (SN 361) realisiert werden. Mit anderen Worten, die Wahrheit jeder menschlichen Aktion liegt im Imaginären.
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
7. 10. Die Faktizität oder das subjektunabhängige Eigengewicht der Rolle Bei Sartre läßt sich durchaus auch ein Verständnis für den konventionellen Charakter der Rolle nachweisen – jene Faktizität, an der die Realisierung der Rolle, sofern sie auf Anerkennung durch den Anderen stoßen soll, nicht vorbeikommt. Zwar wähle ich, was ich bin, aber um dies zu sein, muß ich mich an bestimmten Vorgegebenheiten orientieren, d. h. auch wenn ich nicht sein kann, sondern spielen muß, muß ich doch wissen, wie ich den Kellner oder den geistreichen Plauderer zu spielen habe, damit der Andere mich als Kellner oder geistreichen Plauderer sieht. Das bedeutet, ich muß »die typischen Bewegungen meines Berufs« (SN 141) kennen. Und selbst Gefühle besitzen natürlich einen konventionellen Ausdruck (vgl. M 100 f.). Daher gilt für jede Tätigkeit vor anderen Menschen, was Sartre über den Schriftsteller schreibt: »Was auch immer die Partie sein mag, die er spielen will, er muß sie von der Vorstellung her spielen, die die anderen von ihm haben« (WiL 63). Es hängt von der Faktizität ab, die meine Situation konstituiert, daß ich zwar Kellner spielen muß, um Kellner zu sein, gleichzeitig aber nicht durch ein entsprechendes anderes Schauspiel ein Diplomat- oder Matrose-sein realisieren kann. Es ist, wie Sartre schreibt, dieses »unfaßbare Faktum meiner Lage«, welche »die realisierende Komödie von der bloßen Komödie trennt« (SN 179) und erstere zu etwas macht, das Austin einen »legitimen Schwindel« nennen würde.86 Anders als der Künstler, der »die Regeln der Produktion, die Maße und die Kriterien« (WiL 37) selbst hervorbringt, muß sich der gewöhnliche Mensch bei seiner Selbstschöpfung in viel stärkerem Ausmaß an Konventionen und Gebrauchsanweisungen halten. Es ist erforderlich, sich die Eigengesetzlichkeit der Rolle vor Augen zu halten, denn ich beherrsche nicht nur mehr oder weniger souverän die Rolle, sondern die Rolle ist vielmehr auch etwas, das mich beherrscht und das von mir Besitz ergreift. Sobald ich eine Handlung beginne, gerate ich nach Sartre in die Rolle eines stereotypen Akteurs, der korrelativ zur begonnenen Handlung definiert ist: »Jede meiner Handlungen wird dadurch, daß sie sich der Passivität des Seins einschreibt, ein Drehkreuz, dessen gebieterische Trägheit in mir seinen Menschen definiert, mit anderen Worten, seinen Sklaven, den anderen, der ich sein muß, um es in Bewegung zu setzen und in Bewegung zu halten« (SWL 130). Sartre bringt ein Beispiel aus seiner eigenen Erfahrung: Als er sich bereit erklärt, für Gorz’ Autobiographie ein Vorwort zu schreiben, setzt sich »gleich oberhalb des Papiers ein unsichtbares kleines Karussell in Bewegung«. Und dieses Karussell ist »das Vorwort als literarische Gattung« (SWL 130), welches korrelativ eine bestimmte Person, den Autor des Vorworts, hervorbringt, nämlich 86
Zit. n. Bourdieu, »Die verborgenen Mechanismen der Macht«, 86.
Die Faktizität oder das subjektunabhängige Eigengewicht der Rolle
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»einen schönen sanften alten Herrn, ein Mitglied der Akademie« (SWL 130). Zwar ist Sartre realiter kein Mitglied der Akademie, aber er wird es auf irreale Weise für die Dauer der Verfassung des Vorworts, in der der irreale Spezialist, nach dem das Vorwort verlangt, von ihm Besitz ergreift: »Er hat sich in die Person hineinversetzt und ist der transparente-und-entzückte-ältere-Kollege geworden: er hat das Vorangehende geschrieben mit den Fingerspitzen einer schmalen weißen Hand, die meine breite Hand führte, er läßt seine Saugfäden in mich hinab, er saugt meine Wörter und meine Gedanken ein und schöpft daraus seine altmodische Eleganz« (SWL 130 f.). Sartre erklärt, daß ihn bei jedem literarischen Genre entsprechende »Vampire« (vampires) erwarten, die sich zwischen ihn selbst und das zu realisierende Produkt schieben. Ein solcher »Eindringling« (SWL 131) kann nach der Aktion verschwinden, er kann sich aber auch genauso gut in dem jeweiligen Subjekt etablieren. Sartre erwähnt einen ihm bekannten Maler, der hin und wieder nicht umhin konnte, sich »völlig durch das ruhmvolle Wesen [zu] verzehren, das er für andere darstellte« (SWL 132). Im Gespräch mit einem älteren Herrn, der wie er ein Emigrant war, vergaß er zunächst völlig Ruhm und Genie: Übrig blieben zwei miteinander redende Menschen, die dasselbe Schicksal, die Verbannung, miteinander teilen. Sobald es dem älteren Herrn jedoch versehentlich unterlief, nicht zu dem Menschen, sondern zu dem berühmten Maler zu sprechen, wurde der ›Große Mann‹ auf den Plan gerufen: »(D)a man den Unvergleichlichen Künstler sehen wollte, hatte er sich gefügt, hatte er seinen Körper und seine Stimme diesem Anderen geliehen, der nicht einmal sein persönlicher Parasit ist, der zur gleichen Zeit ein gutes Tausend Personen von Peking über Moskau und Paris bis Valparaiso vampirisiert, und er hatte ihn mit seinem eigenen Mund sprechen hören, mit jener schrecklichen Sanftheit, die ausdrückte: ›Aber nein, das will gar nichts heißen, ich bin nichts, ich bin nicht mehr als Sie, ich habe Glück gehabt, das ist alles.‹« (SWL 133).87 Dies zeigt sich auch an weniger exzentrischen Beispielen als dem bisher genannten aus dem Bereich der Prominenz: »(D)ie Bereitschaftstasche und der Kranke machen aus einem zerfahrenen dicken Mann den Doktor, diesen engelgleichen Diktator, aufgeklärten Despoten, der gegen uns unser Heil
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Vgl. SüS 235: »Begegnet man aber einem Herrn, der schon ›der‹ Chaplin oder ›der‹ Strohheim ist, dann sieht man nur das, was er gewohnheitsmäßig durchscheinen läßt, und man hat nur die Rolle vor sich. Er spielt sie nicht – sie hat von ihm Besitz ergriffen« (SüS 235). Die Rolle läßt sich aufgrund einer gewissen Autosuggestibilität nicht auf die bewußten Entscheidungen reduzieren und verselbständigt sich. Goffman schreibt hierzu: »Anerkannte Eigenschaften und ihre Beziehung zum Image machen aus jedem Menschen seinen eigenen Gefängniswärter; dies ist ein fundamentaler sozialer Zwang, auch wenn jeder Mensch seine Zelle gerne mag« (Interaktionsrituale, 15).
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
betreibt und dessen Anordnungen, dessen Ermahnungen, dessen anbetungswürdige Strenge wir gierig erwarten« (SWL 131).
7. 11. Die gesellschaftlich-historische Dimension der Rolle als vorgeburtliches Schicksal Die Rolle entgeht mir nicht nur durch ihren konventionellen Charakter bzw. die allgemeingültigen Vorschriften, nach denen ich mich richten muß, um als Kaffeehauskellner, Matrose, Rechtsanwalt usw. zu gelten. Sie ist nicht nur etwas, das ich notwendig in Kauf zu nehmen habe, sobald ich mich für eine bestimmte Handlung entschieden habe; vielmehr ist sie auch insofern unabhängig von mir, als ich nicht immer souverän und willkürlich entscheide, welche Rolle mir aus der Vielfalt an zur Verfügung stehenden Rollenangeboten zukommt. Diese Rollen erwarten uns bereits bei der Geburt; unsere Eltern definieren unsere Persönlichkeit, sie erklären uns, was wir sind bzw. was wir ihrer Ansicht nach darzustellen haben: »Man hat von uns ›er‹ gesagt, Jahre bevor wir ›ich‹ sagen konnten« (SWL 135). Dies ist das gewöhnliche Verhältnis des Kindes zu den Erwachsenen: »(E)s erfährt sich durch ihren Blick« (SG 18).88 Der Prozeß der Primärsozialisation wird von Sartre als ein äußerst gewaltsamer Vorgang beschrieben: »Kaum aus einem Bauch heraus, wird jedes Menschenkind mit jemand anderem verwechselt; man stößt, man reißt es mit Gewalt in seine Persönlichkeit« (SWL 136). Es ist die »Entwöhnung«, die dem Kind enthüllt, »daß es in den Augen der anderen ein Anderes ist und daß es in die ›Persona‹ wird schlüpfen müssen, die die Erwachsenen für es vorbereitet haben« (M 115). »Meistens ist es der an Groll und Galle bereits gestorbene Vater, der sich mit einer neuen Chance aus dem Bauch seiner Mutter hervorkommen sieht. Aber es kann auch sein, daß es der Onkel ist. Oder aber eine Kopfgeburt, ein Prinzip, eine Tugend oder ein Amt. Jedenfalls wird das Kind niemals es selbst in Person sein: die Fürsorge seiner Eltern lehrt es, sich als Verkörperung oder Replik zu fühlen, kurz als Anderer als es selbst« (M 98).89 88
Vgl. SG 85: »Der Blick der Erwachsenen ist eine konstituierende Gewalt, die ihn in konstituierte Natur verwandelt hat«. 89 Franz, die Hauptperson aus Sartres Theaterstück Die Eingeschlossenen von Altona, sagt über das Verhältnis zu seinen Vater: »(D)ie ersten Gedanken, die entstehen, sind seine. Wissen Sie, warum? Er hat mich nach seinem Bild geschaffen« (ebd., 75). Und in Umkehr von Sartres Freiheitslehre fügt er hinzu: »Aber ich wähle nie, meine Liebe. Ich werde gewählt. Neun Monate vor meiner Geburt hat man die Wahl meines Namens, meines Berufs, meines Charakters und meines Schicksals getroffen« (ebd., 79). Kafkas Kindheit scheint genau der Beschreibung Sartres zu entsprechen: »Wenn der Vater (bei der Mutter ist es entsprechend) ›erzieht‹, findet er z. B. in dem Kind Dinge, die er schon in sich gehaßt hat
Die gesellschaftlich-historische Dimension der Rolle als Schicksal
279
In jedem Fall sind wir zunächst Objekte in den Augen der Anderen, und auf diesem Weg weist uns die Gesellschaft über die Familie »eine Situation, ein Sein, einen Komplex von Rollen zu; die Widersprüche der Geschichte und die sozialen Kämpfe bestimmen im voraus den Charakter und das Schicksal der künftigen Generationen« (SWL 135). In Anbetracht dessen, daß jeder nur ein »geraubtes Kind« (SWL 136) ist, fragt sich auch Sartre, ob es noch legitim ist zu sagen, daß Ich dieses oder jenes getan habe. Seiner Ansicht nach herrscht hier eine stillschweigende Übereinkunft, nach der die anderen dieses ›Ich‹ bestätigen, unter der Bedingung, daß auch wir ihnen glauben (vgl. SWL 136). Wenig überzeugend sind allerdings seine Ausführungen, wie Gorz sich von seinen Vampiren befreit und zu Recht ›Ich‹ zu sagen lernt. Gorz entdeckt sich selbst nach Sartre in seinem Handeln und erklärt nun: »Ich mache dieses Buch, ich suche mich, ich schreibe« (SWL 153). Besinnt man sich auf den Anfang dieses Essays, wo Sartre über den gediegenen und feinfühligen älteren Herrn schreibt, jenes Mitglied der Akademie, das ihn bewohnt, sobald er das Vorwort für seinen jungen Schriftstellerkollegen schreibt, und nimmt man zudem erstens die Ausführungen in Das Sein und das Nichts zum Wert und zur Unaufrichtigkeit und zweitens jene aus dem Traktat über die »Transzendenz des Ego« hinzu, so scheint es fraglich, ob Gorz sich wirklich von den Vampiren befreit und sein ›wahres‹ Ich findet oder ob er nicht eher einen Vampir gegen einen anderen Vampir – der ihm jedoch möglicherweise persönlich näher steht – ausgetauscht hat.90 Gegenüber den verstreuten, eher essayistischen und mitunter auch widersprüchlichen Äußerungen im Vorwort zur Gorz-Autobiographie werden die Erläuterungen in der Kritik der dialektischen Vernunft zum sogenannten ›Eid‹ (serment), der den Fortbestand einer sozialen Gruppe sichern soll, eher philosophischen Ansprüchen auf Begründbarkeit und Kohärenz gerecht.91 Auf und nicht überwinden konnte und die er jetzt bestimmt zu überwinden hofft, denn das schwache Kind scheint ja mehr in seiner Macht als er selbst, und so greift er blindwütend, ohne die Entwicklung abzuwarten, in den werdenden Menschen, oder er erkennt z. B. mit Schrecken, daß etwas, was er als eigene Auszeichnung ansieht, und was daher (daher!) in der Familie (in der Familie!) nicht fehlen darf, in dem Kinde fehlt, und so fängt er an, es ihm einzuhämmern, was ihm auch gelingt, aber gleichzeitig auch mißlingt, denn er zerhämmert dabei das Kind« (Kafka, Briefe 1902–1924, 345 f.). 90 Sartre unterscheidet recht vage zwischen den Vampiren, die sich tageweise oder monatsweise in uns niederlassen, und jenem nur »selten sichtbare[n] Gast«, der »unser ältester Mieter ist« (SWL 133). Dieser ist allerdings nicht der authentische wahre Kern unseres Wesens, etwa das ›wahre Ich‹ hinter allen Rollen bzw. hinter allen Vampiren, sondern selbst ein Vampir. Mit anderen Worten, auch das Ich muß gespielt werden, wir sind es nicht, insofern wir gerade ein Für-sich sind. 91 Vgl. Gisi, ebd., 162 f.; Hartmann, ebd., 147–151. – Olschanski moniert in seiner Diskussion der Sozialphilosophie Sartres dessen vorwiegend praktisch-zweckhafte Auffassung der Gruppe, die seiner Ansicht nach blind ist für »das selbstzweckhafte Gut gemeinsamen
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
eine detaillierte Erörterung des Problems der Gruppe kann im Rahmen der vorliegenden Fragestellung verzichtet werden. In seinem zweiten philosophischen Hauptwerk unterscheidet Sartre innerhalb der sozialphilosophischen Kategorie des Eides verschiedene Formen vom expliziten Schwören bis »zur impliziten Annahme des Eides als schon existierende Wirklichkeit der Gruppe (durch diejenigen zum Beispiel, die in der Gruppe geboren sind und unter ihren Mitgliedern aufwachsen)« (KDV 446). Mit dem Eid verpflichtet sich der Einzelne im Verhältnis zur Gruppe und den anderen Gruppenmitgliedern der Gleiche zu bleiben und niemals der Andere zu werden (vgl. KDV 448). Gegen die »Alteritäts- oder Exterioritätsvielfalt« (KDV 447) oder einfach gesagt, gegen die Gefahr einer Auflösung der Einheit der Gruppe in die Vielheit ihrer Mitglieder bedeutet der Eid eine »durch die Freiheit hervorgebrachte Trägheit« (KDV 446), mit der ich eine »Bürgschaft gegen mich selbst« (KDV 449) übernehme: Ich erkläre, daß ich mich jetzt wie auch künftig den Regeln der Gruppe gemäß verhalten werde. In der Erhaltung der Gruppe durch den Eid liegt für Sartre der »Beginn der Menschlichkeit« (KDV 464).92 Dieser Beginn hat eine »imperative Natur« (KDV 464) und impliziert die wechselseitige Anerkennung der Gruppenmitglieder: »(W)ir sind die Gleichen, weil wir zum selben Zeitpunkt aus dem Schlamm herausgekrochen sind, und zwar der eine durch den anderen vermittels aller anderen; wir sind also, wenn man will, eine besondere Art, die durch eine plötzliche Mutation in einem bestimmten Moment aufgetaucht ist, aber unsere spezifische Natur vereinigt uns, insofern sie Freiheit ist«. Unser »gemeinsames Wesen« ist darum keine »identische Natur« in jedem einzelnen, »sondern im Gegenteil, die vermittelte Wechselseitigkeit der Bedingtheiten« (KDV 464 f.). Gegenüber den fast ausschließlich pejorativen Darstellungen der Primärsozialisation, die in seinen dichterbiographischen Büchern93 vor allem aus der Sicht des ungeliebten Außenseiters vorgenommen werden, weist die soeben zitierte Passage darauf hin, daß Sartre die soziale Gruppe mit ihren Reglementierungen nicht nur als bloße Repression und Vergewaltigung eines Individuums ansieht, sondern der Eingliederung in den Sozialverband in weiten Teilen auch positive Züge abgewinnen kann. Der Eid schränkt nicht lediglich meine Lebens« (ebd., 365). Die soziale Beziehung als Selbstzweck hat z. B. Löwith in seiner Sozialphänomenologie weitaus stärker als Sartre oder Heidegger hervorgehoben: »Was Ich und Du verbindet und wozu sie beisammen sind, ist kein gemeinsames Besorgen, sondern das sind sie selbst […]. Ihr Miteinandersein ist – äußerlich betrachtet – ›zweck-los‹, weil es schon selbst Zweck, ›Selbstzweck‹ ist« (ebd., 57; vgl. zur Kritik an Heidegger ebd., 80 f.). 92 Mit der These, der Mensch werde erst durch gesellschaftliche Vermittlung zum Menschen, liegt Sartre auf einer Linie mit Goffman (ebd., 53) und vor allem Mead (ebd., 174, 232, 239). 93 Vgl. neben dem Vorwort zu Gorz’ Der Verräter (SWL 122–156) die Bücher über Genet und Flaubert.
Die gesellschaftlich-historische Dimension der Rolle als Schicksal
281
Freiheit ein, ganz im Gegenteil ist die durch den Eid verbürgte »freie gemeinsame Praxis« die »Bedingung meiner eigenen Freiheit« (KDV 453), die außerhalb der Gruppe zwar nicht verschwindet, aber dennoch entfremdet ist.94 Gegenüber der antagonistischen Intersubjektivitätstheorie in Das Sein und das Nichts stellt die fusionierende Gruppe eine »nicht-entfremdete, gelingende Sozialität«95 dar. Nur insofern die individuelle Aktion gemeinsame Aktion wird, entgeht sie der Entfremdung innerhalb der praktisch-inerten Materie (vgl. KDV 462). Innerhalb der Gruppe besteht ein Band der Brüderlichkeit: »Wir sind Brüder, insofern nach dem schöpferischen Akt des Eides wir unsere eigenen Söhne sind, unsere gemeinsame Erfindung« (KDV 465). Gisi hebt hervor: »Diese Brüderlichkeit ist die grundlegende menschliche Beziehung, weil sie in Gegenseitigkeit jeden sich selbst in seiner Eigenart mit seinen Rechten und Pflichten als Gruppenmitglied entstehen läßt, derart, daß jeder durch die Gruppe und durch sich selbst zu sich kommt«.96 In der Gruppe wie in der Familie besteht die Brüderlichkeit in einem Ensemble wechselseitiger Verpflichtungen, die sich von dem jeweiligen Kontext und den Zielen der Gruppe her definieren (vgl. KDV 465). Liebe und Freundschaft sind dieser Vereidigung nachgeordnet und setzen sie als ihre Basis voraus. Diese Gefühle sind nach Sartre »eine dialektische und praktische Bereicherung, […], eine freie Spezifizierung dieser ersten Struktur, das heißt der Struktur des praktischen und lebendigen Status der Vereidigten« (KDV 466). Jeder einzelne bringt die Gruppe hervor, indem er sich durch den Eid als gemeinsames Individuum (individu commun) hervorbringt. »Das gemeinsame Individuum ist tatsächlich durch seinen Eid mit einer richterlichen Macht über das organische Individuum (in ihm selbst und bei den Anderen) ausgestattet. Die für immer durch sein Anderer-sein freiwillig eingeschränkte Freiheit ist Macht eines jeden über alle in dem Maße, wie sie in jedem akzeptierte Verstümmelung ist« (KDV 469). Das organische Individuum gibt sich durch den Eid auf, »damit das gemeinsame Individuum als bereichernde Einschränkung des Feldes der Möglichkeiten existiere« (KDV 482). Von einer ›bereichernden‹ Einschränkung kann Sartre sprechen, da der Eid nicht nur negativ ist, sondern das gemeinsame Individuum Recht, Macht und Funktion erhält und in der Ausbildung durch die Gruppe Fähigkeiten erwirbt, über die das organische Individuum nicht verfügt. Insofern jedes Individuum vereidigt ist, sobald es in einer vereidigten 94
Es würde zu weit führen, die Entfremdungstheorie sowie den Zusammenhang von Praktisch-Inertem, Kollektiv und Gruppe in der Kritik der dialektischen Vernunft ausführlich zu erörtern. Es genügt der Hinweis, daß die Entfremdung darin besteht, daß die Praxis als »Überschreitung des Seins« sich in eine Überschreitung verwandelt, »die durch das zu überschreitende Sein schon überschritten ist« (KDV 253). 95 Hartmann, Sartres Sozialphilosophie, 134. 96 Gisi, ebd., 163.
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
Gruppe auftaucht, ist nicht nur der Eid eine Geburt, sondern die Geburt ist selbst schon ein Eid (vgl. KDV 516 f.). Der Zusammenhang von Geburt und Eid wird von Sartre vor allem im Zuge der Erörterung der Institution bzw. der institutionalisierten Gruppe (groupe institutionalisé) thematisiert. Von einem solchen institutionellen Status einer Gruppe spricht Sartre dann, wenn sich eine »systematische Selbstdomestikation des Menschen durch den Menschen« (KDV 641) etabliert. Indem jeder auf sich selbst und auf jeden vermittels aller anderen einwirkt, erschafft die Gruppe den »institutionaliserten Menschen« (homme institutionalisé) (KDV 641): »Die Institution bringt ihre Handelnden hervor (Organisatoren und Organisierte), indem sie sie im voraus mit institutionellen Bestimmungen affiziert, und umgekehrt identifizieren sich die institutionalisierten Handelnden in ihren Beziehungen gelenkter Alterität ihrerseits mit dem praktischen System der institutionellen Beziehungen, insofern es sich notwendig in einem Komplex bearbeiteter Gegenstände anorganischen Ursprungs eingeprägt hat« (KDV 642).97 Die Institution ist »stereotypisierte Praxis« (KDV 642), und gerade in dieser Stereotypie liegt häufig ihre Effektivität. Hartmann bringt die Differenz auf den Punkt, die Sartre zwischen der institutionalisierten Gruppe »als System erstarrter Beziehungen« (KDV 639) und den anderen in der Kritik der dialektischen Vernunft erörterten Formen der Gruppe geltend macht: »Die zur Äußerlichkeit gewordene Gruppe hat ihre Innerlichkeit in der Autorität als Zentrum: die Reziprozität ist ersetzt durch Zentralismus und Verkehr der Einzelnen – oder der Untergruppen – nicht miteinander, sondern über das Zentrum«.98 Hier kommt Sartre nun auch wieder auf die Fatalität der Rolle zu sprechen, die uns mit unserer Geburt widerfährt. Jeder Einzelne ist durch den Eid der Komplize der Institution, aber ebenso ist er auch »schon ihr Opfer, bevor er geboren wurde« (KDV 642). Sartre führt aus: »Sie waren nämlich noch nicht einmal geboren, als die frühere Generation schon ihre institutionelle Zukunft als ihr äußeres und mechanisches Schicksal bestimmt hatte, das heißt als Unüberschreitbarkeitsbestimmungen [déterminations d’indépassabilité] (oder als Bestimmungen ihres Seins). Die militärischen, staatsbürgerlichen, beruflichen Verpflichtungen usw. bilden im voraus eine Unüberschreitbarkeit im Innern eines jeden (wenn er in der Gruppe geboren wird)« (KDV 642). Das Sein des Arbeiters oder des Unternehmers ist »in einer kapitalistischen Gesellschaft durch schon abgeschlossene, schon kristallisierte Arbeit präfabriziert« (KDV 250). Diese vergangene Arbeit begegnet den Menschen als Forderung und schafft eine »unüberschreitbare Zukunft« (KDV 250).99 Diese 97 98 99
Vgl. ganz ähnlich auch Berger/Luckmann, ebd., 58. Hartmann, ebd., 158. Es handelt sich um eine Tätigkeit, die mit ›Trägheit‹ beschwert ist, ohne ihre we-
Die gesellschaftlich-historische Dimension der Rolle als Schicksal
283
Position stellt natürlich eine Korrektur gegenüber der früheren existentialistischen Philosophie Sartres dar, die die »apriorische Existenz der Wesenheiten« (KDV 246) leugnete. Hingegen erklärt Sartre nun auf der Stufe der Kritik der dialektischen Vernunft, daß man sich nur zum Bourgeois macht, weil man es schon ist. In dieser Zugehörigkeit läßt sich natürlich die Faktizität aus Das Sein und das Nichts mit stärkerer Gewichtung und ausgeprägterer Konkretisierung wiedererkennen. Jede meiner Tätigkeiten ist Verbürgerlichung, weil meine objektive Realität als Bürger festgelegt ist durch »die kristallisierte Praxis der früheren Generationen« (KDV 247).100 Die Geburt ist ein Eid, »und die Eide sind eine Übernahme der institutionellen Trägheit mit der die anderen das Kind in Form einer freien Verpflichtung, die Institutionen zu verwirklichen, affiziert haben« (KDV 642). Durch den Eid, der ihn an die Institution bindet, wird dem Einzelnen ein ›Er‹ bzw. ein bestimmter (oder mehrere) typisierter Vampir101 zugewiesen. Nicht von ungefähr erinnert der schauspielerische Aspekt des Menschen, der die Institution repräsentiert, an die Beschreibung des Kaffeehauskellners in Das Sein und das Nichts: Für Sartre realisiert der Institutions-Mensch – er denkt hier vor allem an das Beispiel des militärischen Befehlshabers – seine institutionelle Macht »durch seine Mimik und sein Kostüm« (KDV 640), bzw. er offenbart »sich durch Zeremonien und bekannte Tänze als Institutions-sein« (KDV 641). Die Legitimität seiner ausgeübten Macht stützt sich »auf seine Institutionalität, das heißt auf die Trägheit und die totale Opazität der in ihm Gegenwart gewordenen Alterität der besonderen Institution und, vermittels ihrer, der Gruppe als gemeinsamer Praxis« (KDV 640). Der Arbeitgeber in den Kolonien mißhandelt die einheimischen Arbeiter, weil dies als Kolonialherr schließlich üblich ist. Der individuelle Kolonialherr wird also vampirisiert durch jenes Er, »der Andere, jene entfliehende sentlichen Momente hierdurch einzubüßen: Die Praxis »bleibt eine Überschreitung des materiellen Seins auf eine noch nicht existierende Reorganisierung des Feldes hin. Aber die passivisierende Annullierung modifiziert sie von der Zukunft her zur Vergangenheit hin im erstarrten Rahmen der Forderung. Die zu verwirklichende Zukunft ist ja schon als mechanische Trägheit hergestellt in der Art, in der das vergangene Sein sich überschreiten läßt« (KDV 250 f.). Das, was hier zu überschreiten wäre, ist selbst eine Praxis, die sich in einem Sein eingeprägt hat und ihre Bedeutung als Sein realisiert (vgl. KDV 251). 100 Vgl. Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, 54: Die Klasse verselbständigt sich gegenüber den Individuen, »so daß diese ihre Lebensbedingungen prädestiniert vorfinden, von der Klasse ihre Lebensstellung und damit ihre Persönliche Entwicklung angewiesen bekommen, unter sie subsumiert werden«. 101 Von ›Vampiren‹ spricht Sartre in der Kritik der dialektischen Vernunft allerdings nicht. Dieser Begriff wird hier beibehalten, um den sachlichen Zusammenhang zwischen dem Essay über Gorz, der in weiten Teilen an die Reflexionen zur Unaufrichtigkeit in Das Sein und das Nichts erinnert, und dem zweiten systematischen Hauptwerk mit seiner Theorie der gesellschaftlichen Praxis hervorzuheben.
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7. Blick, An-sich-für-sich-Sein und Rolle
und unrealisierbare Person, die sich der Kolonialherr nennt« (KDV 773, Fußn. 1). Der geschlagene Arbeitnehmer wiederum reagiert auf die Mißhandlungen durch den Arbeitgeber, insofern sie sich über seine Person auf den Kolonialisierten – »eine ebensowenig realisierbare Person wie der Kolonialherr selbst« (KDV 774, Fußn. 1) – richten.102 Er verhält sich anders, wenn er als individuelle Person geschlagen wird. Es stehen sich also nicht zwei Individuen unvermittelt gegenüber, vielmehr wirkt sich die gesellschaftliche Vermittlung zwischen diesen Personen auf eine Weise aus, daß sich beide als Andere, als Vampire in ihrer institutionellen Eigengesetzlichkeit mit mehr oder weniger streng institutionell fixierten Bestimmungen gegenüberstehen. Insofern diese Anderen zwar die Praxis konstituieren, aber dennoch unrealisierbar sind, läßt sich sagen, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse die interagierenden Subjekte irrealisieren. Die Eigengesetzlichkeit dieser institutionellen Typen kann so weit gehen, daß sie das reale Individuum weitgehend in den Hintergrund drängen: »(W)enn es das serielle Verhalten der Kolonialherren ist, ihren Diener zu schlagen, und wenn irgendein Kolonialherr den seinen nicht schlägt, so ist es die serielle und inerte Wahrheit seiner Beziehung zu ihm, ihn zu schlagen, der Andere, der schlägt, zu sein« (KDV 774, Fußn. 1).103
102
Die Überlegungen Sartres lassen sich folgendermaßen weiterdenken: Nach der bisherigen Darstellung spricht nichts gegen die Annahme, daß im Netzwerk komplexer sozialer Verhältnisse eine Mannigfaltigkeit institutioneller Vampire das einzelne Individuum bewohnt. Um in Sartres Beispiel zu bleiben: Wenn die Person geschlagen wird, insofern sie der Andere als unrealisierbarer Kolonialisierter ist, wird sie anders auf die Schläge reagieren, als wenn diese sich an den Anderen als Mitglied einer Religionsgemeinschaft, oder an den Anderen als Mitglied der Familie usw. richten. Das jeweilige Verhalten orientiert sich dann in der jeweiligen Situation daran, welcher meiner imaginären Personen durch das Verhalten des Anderen gemeint ist. 103 Gisi hat mit einigem Recht mit Blick auf das Beispiel des Fließbandarbeiters bezweifelt, ob man wirklich jede soziale Funktion als Schauspiel fassen kann (ebd., 101). Sartre würde hier einerseits darauf hinweisen, daß der Fließbandarbeiter angesichts seines Vorgesetzten ein bestimmtes kodifiziertes Verhalten an den Tag legen muß: das Verhalten jenes Anderen als unrealisierbaren Arbeiter. Andererseits ließe sich der idealtypische Akteur, eben der Vampir, anführen, der korrelativ zur jeweiligen Tätigkeit als Typus des Bauern, Fließbandarbeiters usw. auftaucht. Im übrigen ist für Sartre die Rolle dann keine Komödie, wenn sie »die Verinnerung eines objektiven Systems verlangt« und deswegen mit »Mühsal« verbunden ist, d. h. wenn der Anteil der Praxis die Komödie überwiegt: »Das ganze System wird beherrscht von einem verdoppelten Ziel, das man durch Verhaltensweisen unmittelbar zu verkörpern versucht, dem sich aber vor allem durch eine Reihe realer Unternehmungen nähern muß (Wettbewerbe, Examina, Doktorarbeiten)« (IF 1, 115 f.). Hieraus erklärt sich Sartres Vorbehalt gegenüber dem Rollenbegriff der Kulturanthropologen (vgl. KDV 642). Cummings scheint diese Differenzierung zu übersehen (»Role-playing: Sartre’s Transformation of Husserl’s Phenomenology«, 57 f.).
8. REALISIERENDE ODER IRREALISIERENDE INTERSUBJEKTIVE KONSTITUTION DES SUBJEKTS
Im vorherigen Kapitel ist bei der Behandlung des Verhältnisses zwischen Intersubjektivität und Imagination wiederholt auf Sartres Flaubert-Studie Der Idiot der Familie Bezug genommen worden, wobei vorgreifend bereits eine tiefgehende Umwandlung nicht nur der Intersubjektivitäts-, sondern korrelativ auch der Subjekttheorie Sartres angekündigt wurde, auf die auch Olschanski in seiner Untersuchung Phänomenologie der Mißachtung, die sich an Honneths Anerkennungskonzeption orientiert, aufmerksam gemacht hat: »(D)ie beispiellose Akribie, mit der er [Sartre – Anm. J. B.] hier dem Werdegang Gustave Flauberts nachgeht, führt ihn zu Einsichten in die intersubjektiven Konstitutionszusammenhänge von Subjektivität, die über das hinausgehen, was er in seinen bisherigen Schriften darstellte und konzeptualisierte«.1 Diese Weiterentwicklung der Intersubjektivitätskonzeption steht in enger Wechselwirkung mit einer gleichzeitigen Vertiefung der Imaginationsproblematik, in deren Folge – um nur ein Beispiel zu nennen – der Begriff ›irreal‹ zu einem Attribut wird, das bestimmte zwischenmenschliche Beziehungen qualifiziert. Wie beim Verhältnis der Phänomenologie der Imagination zur phänomenologisch-ontologischen Erkenntnistheorie von Das Sein und das Nichts bietet sich nun die Frage an, ob nicht gerade das vielschichtige Sujet des Imaginären innerhalb von Sartres Denken zum Impuls wird, in eins mit der Erforschung dieses Themenfeldes ebenfalls die mit diesem verschränkte Lehre des Für-Andere-seins fortzuentwickeln und neue Einsichten auch in diesem Bereich zutage zu fördern. Sozusagen als Einleitung in die Problematik sei an eine Passage aus Das Imaginäre erinnert, in der Sartre hervorhebt, man müsse in jedem Menschen »zwei getrennte Persönlichkeiten«, nämlich das »imaginäre Ich« und das »reale Ich«, unterscheiden (vgl. Im 232). Von daher könne man dann die Individuen in Kategorien einteilen, je nachdem, ob sie das Imaginäre oder das Reale favorisieren (vgl. Im 233). Im Anschluß an diese Differenzierung widmen sich die folgenden Seiten von Das Imaginäre dann eher der Frage, welche Bedeutung die (hier wie auch später als pathologisch interpretierte) Wahl des Imaginären hat bzw. welche Vorzüge das Irreale gegenüber dem Realen aufweist. Etwa dreißig Jahre später nimmt Sartre schließlich in Der Idiot der Familie implizit diesen Faden wieder auf, indem er die Biographie einer Person verfaßt, die er als ›imaginären Menschen‹ proklamiert. Dabei interessiert er sich in seiner 1
Olschanski, ebd., 377.
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8. Realisierende oder irrealisierende Konstitution des Subjekts
Rekonstruktion der entwicklungspsychologischen Genese eines Menschen, der immer das Irreale dem Realen vorziehen wird, zunächst vor allem für die subjektunabhängigen Dispositionen, die für eine solche Wahl bestimmend sind.2 Die Antwort, warum jemand entweder ein reales praktisches oder ein irreales passives Leben führt, sucht Sartre in einem spezifischen Verhältnis zum Anderen in den allerersten Phasen der Primärsozialisation. Irrealisierung ist von nun an nicht mehr nur eine Manifestation meiner Freiheit, eine Haltung, die ich aus freien Stücken einnehme, sie ist auch etwas, das mir vom Anderen geschieht. Auch die realisierende Haltung ist von daher abhängig von der sozialen Begegnung – und hierin liegt eine deutliche Revision der frühen Subjektphilosophie aus Das Sein und das Nichts. Das Für-sich ist in der Flaubert-Studie nicht mehr allen sozialen Beziehungen vorweg; es ist nicht mehr bereits vor der Begegnung eine ›fertige‹ Existenz, sondern es wird erst in der Begegnung.3 Mit anderen Worten, es gibt für den späten Sartre »keinen selbständigen Ursprung des Subjekts«4 mehr. In diesem Zusammenhang einer Theoriekonzeption, welche von einer intersubjektiven Konzeption der Subjektivität5 ausgeht und Anklänge an die Dialogphilosophie zu offenbaren scheint, räumt Sartre, wie sich herausstellen wird, nun auch der Sprache eine größere Bedeutung ein.6 Gerade das Verhältnis zur Sprache wird zum Indikator für das fundamentale Verhältnis zum anderen Menschen, wobei auf diesem Weg das Begriffspaar Poesie/Prosa jetzt auch für den außerästhetischen 2
Streng nach der Doktrin des Existentialismus gibt es natürlich in dem Maß, als es keine Konstitution des Subjekts – gemeint ist natürlich der genitivus obiectivus – gibt, auch keine subjektunabhängigen Dispositionen eines Entwurfs. Auch hieran läßt sich ermessen, wie sehr Sartre sich von seiner frühen philosophischen Position entfernt hat. Seine spätere Position ist geprägt von der »Einsicht, daß die Freiheitsmöglichkeiten des einzelnen in den für ihn unverfügbaren Bedingungen primärer Intersubjektivität gründen« (Olschanski, ebd., 383, vgl. auch ebd., 416 sowie Wannicke, ebd., 101). 3 Vgl. Olschanski, ebd., 397: »Obwohl Sartre auch hier mit seiner Beschreibung einer deformierten Konstitution der Praxisstrukturen seinen ›negativistischen‹ Zugang zur Intersubjektivitätsproblematik beibehält, wird doch deutlich, in welch grundsätzlicher Weise er nun – entgegen seinen früheren Überlegungen – die Praxisfähigkeit und die ihnen entsprechenden Freiheitsmöglichkeiten in gelingenden Formen von Intersubjektivität fundiert«. 4 M. Frank, »Archäologie des Individuums«, 268. 5 In Das Sein und das Nichts werde ich zwar erst durch mein Für-Andere-sein zum Menschen (vgl. SN 506), und man kann daher wie auch bei Husserl von einer »intersubjektiven Konstitution des Menschen« (Theunissen, ebd., 217) sprechen. Dies betrifft aber nicht den Bereich der Subjektivität, der in seinen Strukturen vom Anderen unangetastet bleibt: Konstituiert wird das Für-Andere-sein, nicht das Für-sich (vgl. hierzu SN 910–914). 6 Sevenich, bemerkt hierzu: »Sartre bindet programmatisch Werk und Schreiben Flauberts an die Entwicklung seiner Person innerhalb des primären sozialen Kontextes, der Familie. Hierbei gewinnt die Begründung der Sprache als gesellschaftliche Eingliederungstechnik und persönlichkeitskonstituierender Faktor zentrale Bedeutung« (»Wechselseitigkeit durch das Wort«, 341).
Rekonstruktion der archaischen Grundlagen der Sensibilität
287
Bereich Anwendung findet: Was sich für Sartre in »Schwarzer Orpheus« für die Situation der Schwarzen und in Saint Genet für den homosexuellen und kriminellen Outcast zeigt, gilt auf der Stufe von Der Idiot der Familie für jede poetische Tätigkeit:7 Die poetische Sprachverwendung als Kunstform wurzelt in jedem Fall in einem falschen – irrealen, weil praxislosen – Verhältnis zur Sprache, das seinerseits wiederum in einem ›schlechten‹8 – irrealen, weil durch Versagen von Anerkennung geprägten – Verhältnis zum Anderen seinen Ursprung hat. Poesie ist zunächst also für Sartre eine pathologische und erst sekundär eine ästhetische Kategorie.
8. 1. »Rekonstruktion der archaischen Grundlagen der Sensibilität (sensibilité)« (IF 1, 54) – Valorisierung oder Nicht-Valorisierung durch die Säuglingspflege Mit seinen Überlegungen zur Sozialbeziehung setzt Sartre im ersten Band von Der Idiot der Familie ausgesprochen tief an: Er rückt die Primärsozialisation bzw. die Mutter-Kind-Dyade in den Vordergrund seines Interesses, um zu zeigen, daß bereits hier die entscheidenden Weichen für den künstlerischen Werdegang Flauberts – und mithin für ein irreales Leben – gestellt werden.9 Die Säuglingspflege entscheidet, in welchem Maß das Reale oder das Irreale für ein menschliches Leben bestimmend wird. Die Relevanz, die hier den frühesten Erfahrungen beigemessen wird, zeigt sich schon in Sartres Gleichsetzung des Wesens eines Menschen mit seiner Kindheit (vgl. IF 1, 70). Dabei ist er sich durchaus im klaren, daß seine Rekonstruktion der ersten Lebensjahre Gustave Flauberts eine »Fabel« ist und »(n)ichts beweist, daß es sich so verhielt« (IF 1, 140). »(I)ch erfinde« (IF 1, 141), gibt er unumwunden zu. Da es keine dokumentierten Fakten gibt, gerät die Verständnishypothese zur Verallgemeinerung, und Sartre ist notgedrungen zum »Schematisieren« gezwungen: »(M)ein Bericht bezieht sich auf Säuglinge im allgemeinen, nicht auf Gustave im besonderen« (IF 1, 140).10 Selbst wenn seine Erklärungen falsch sein sollten, so müßten sie seiner Ansicht nach trotzdem in dem von ihm definierten Bereich des Mutter-Kind-Verhältnisses widerlegt werden. Für die Fragestellung dieses Kapitels ist diese Verallgemeinerung kein Manko, 7
Insofern für den späten Sartre das poetische Sprachverhältnis auch die literarische Prosa fundiert, gelten diese Bestimmungen für jede Literatur, wenn nicht für jede Kunstform. 8 An späterer Stelle wird auch nach dem Maßstab zu fragen sein, der es gestatten soll, normativ soziale Beziehungen als ›gut‹ oder ›schlecht‹ zu bestimmen. 9 Vgl. Neppi, Le babil et la caresse, 105: »Le lien primitif à la mère est l’un des grands thèmes du Flaubert«. 10 Vgl. hierzu auch Müller-Lissner, ebd., 77.
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8. Realisierende oder irrealisierende Konstitution des Subjekts
sondern gerade ein Vorzug, da sich die Überlegungen Sartres genau aus diesem Grund als Theorieentwurf der Genese einer Subjektivität mit allgemeingültigem Anspruch verstehen lassen, dessen Erklärungskraft sich nicht auf einen spezifischen Einzelfall beschränkt.11 In diesem Sinne sind es bestimmte verallgemeinerbare Faktoren, die die intersubjektive Konstitution des Subjekts gelingen oder mißlingen lassen. Im ersten Fall gewinnt die Person ein aktives und reales Verhältnis zur Welt, im zweiten Fall ist sie passiv und zieht das Irreale vor. Sartre erklärt in einem Interview: »Ich stelle die Konstitution der Person keineswegs als nur für Flaubert spezifisch hin, es geht in Wahrheit um uns alle. Und die Konstitution besteht ja darin, von dem her, was ich das konstituierte Sein nenne, mit erwarteten Rollen, Verhaltensweisen, eine Person zu schaffen« (WkL 157). Das Kind Gustave erfährt nach Sartre in seinen ersten zwei Lebensjahren eine ›kalte Säuglingspflege‹, für die zweierlei Gründe angegeben werden. Nach der Geburt von Achille bringt Caroline Flaubert zwei weitere Jungen zur Welt, die jedoch kurz nach der Geburt wieder sterben, dann folgt Gustave, ein Jahr später wiederum ein männliches Kind, das wenige Monate später der Tod ereilt. Aufgrund der hohen Säuglingssterblichkeit in der Familie Flaubert gilt Gustave von Anfang an als »ein Totgeborener« (IF 1, 135), dessen Pflege eher »provisorisch« (IF 1, 136) ist. Hinzu kommt, daß sich die Mutter nach der Geburt von Achille, dem Erstgeborenen und väterlichen Erben, zu dem sie sich gegenüber dem pater familias verpflichtet fühlte, sehnlichst eine Tochter wünschte (vgl. IF 1, 133, 90 f.). Während für gewöhnlich der Säugling als »hilflose Gegenwart«, gleichzeitig aber auch als »prächtigste Zukunft« (IF 1, 135) gilt, läßt die Mutter Gustave zwar alle erdenkliche Pflege zukommen, wartet aber dennoch »auf das Unvermeidliche« (IF 1, 135). Nach Sartre sind es nun gerade die zukünftigen Jahre, welche ein Kind »individualisieren«, »noch bevor sie erlebt werden« (IF 1, 135). Hier findet sich erneut der schon aus dem Gorz-Vorwort und der Kritik der dialektischen Vernunft vertraute Gedanke, daß die Eltern dem Kind einen Charakter auferlegen und sein Schicksal besiegeln: »Von daher kommt man auf es zu, beobachtet, beurteilt man es; wird es in der Lage sein, der Zukunft zu begegnen, die man ihm bereitet? Die Erfordernisse von morgen sind die Schemata von heute, die Leitideen, die die Eltern lenken werden; man wird damit beginnen, den Menschenkindern, und das geschieht oft zu früh, einen Charakter zu geben, der in Wirklichkeit nichts anderes ist als die Summe dessen, was seine Eltern für sie voraussehen« (IF 1, 135).12 11
Vgl. auch Wannicke, ebd., 106. Sartre verfällt üblicherweise in einen sarkastischen Ton, wenn er den Vorgang beschreibt, wie Neugeborene von den Eltern einen Charakter auferlegt bekommen, der ei12
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Sartre stellt sich nun auf der Basis von erhaltenen Briefen und sonstigen Dokumenten vor, daß Caroline Flaubert »eine Gattin aus Berufung, eine Mutter aus Pflicht war« (IF 1, 137). Sie erledigte ihre mütterlichen Aufgaben gewissenhaft, geschickt und pünktlich, aber sie war nicht das, was man eine »liebenswürdige Mutter« (IF 1, 137) nennen könnte. Es bedurfte für den Säugling keiner aggressiven Ausbrüche, niemals war es nötig zu schreien. Pünktlich wurde er ernährt und gewickelt, dennoch war er, wie Sartre sich vorstellt, schon vor der Entwöhnung aufgrund der erlebten Gleichgültigkeit »frustriert«: »Mangel an Zärtlichkeit ist für die Liebesqualen, was Unterernährung für den Hunger ist« (IF 1, 137). Das »Liebesbedürfnis« sei Sartre zufolge von Geburt an vorhanden,13 und zwar zu einer Zeit, in der der Andere noch gar nicht erkannt wird. Dennoch ist dieser Andere »diffus vom ersten Tag an da, weil ich durch meine passive Erfahrung der Alterität mich selbst entdecke« (IF 1, 137, Fußn. 22). Diese Entdeckung vollzieht sich, indem der Andere mich bewegt, mich hin und her trägt und meine Bedürfnisse auf eine bestimmte Weise befriedigt. Die Familie wird auf der elementarsten Ebene des Atmens, Saugens und Verdauens erlebt (vgl. IF 1, 53): »In diesen Momenten muß das Kind, das sich durch und für die diffuse Alterität entdeckt, sich in einem Milieu der Freundlichkeit [dans un milieu externe et interne d’affabilité] begreifen können« (IF 1, 137, Fußn. 22). Auch wenn die Bedürfnisse von diesem Baby selbst herrühren, gewinnt es »das erste Interesse, das es mit seiner Person verbindet […], aus der Pflege, deren Gegenstand es ist« (IF 1, 137, Fußn. 22). Der physische Kontakt mit der Mutter ist hier von entscheidender Relevanz: »Das heißt, es entdeckt sich nicht nur durch seine Selbsterforschung und seine ›doppelten Empfindungen‹,[14] sondern es erfährt seinen Körper durch äußere Berührungen, dadurch, daß er gedrückt, gestreift, gestoßen wird, oder durch eine sachverständige Vorsicht: es lernt seine Glieder als gewalttätig, freundlich, schief, gehemmt oder frei kennen, je nach der Gewalttätigkeit oder Freundlichkeit der Hände, die es wecken« (IF 1, 57).15 Hierbei »verinnert es die mütterlichen Rhythmen und Arbeiten
nerseits persönlichen Vorlieben, andererseits den Erfordernissen der sozialen Verhältnisse geschuldet ist. Wenn er Gustaves Schicksal beschreibt, so wird im folgenden allerdings deutlich, daß er diesen Vorgang nicht nur einseitig pejorativ, sondern eher ambivalent einschätzt. 13 Sartre spricht auch von der »Kindesliebe« bzw. von der »orale(n) Phase der Sexualität« die von der Geburt an auf die Begegnung des Anderen verweist (vgl. IF 1, 140). 14 Während Sartre in Das Sein und das Nichts die Doppelempfindung noch bezweifelt (SN 541), hat er diese Ansicht – möglicherweise unter dem Einfluß von Merleau-Ponty – in Saint Genet (SG 699) und in Der Idiot der Familie offensichtlich revidiert (vgl. neben der oben zitierten Passage auch IF 2, 52). 15 Fütterung und Reinigung sind also nicht bloß technische Vorgänge, sondern sie vermitteln Affektivität und Valorisierung und formen die Subjektivität des Kindes, wie zu
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als erlebte Eigenschaften seines eigenen Körpers« (IF 1, 57), wodurch die eigene Mutter schließlich »zur pathetischen Struktur der Affektivität« (IF 1, 58) wird. Mutterliebe ist Sartre zufolge weniger ein Gefühl als ein Verhältnis, das das Kind sich selbst gegenüber manifestiert (vgl. IF 1, 57). Wird es von der Mutter geliebt, so enthüllt sich ihm »sein Gegenstand-sein als ein Geliebt-sein«, und »als absolutes Ziel [but absolut] gewohnheitsmäßiger Operationen« wird es zu einem »Wert« (IF 1, 137, Fußn. 22).16 Die »Valorisierung [valorisation] des Säuglings« (IF 1, 137, Fußn. 22) ist abhängig von der »Zärtlichkeit«, die die Mutter ihm entgegenbringt: »(W)enn die Mutter mit ihm spricht, so erfaßt es die Absicht vor der Sprache; wenn sie ihm zulächelt, erkennt es den Ausdruck noch vor dem Gesicht.[17] Seine kleine Welt wird gekreuzt von Sternschnuppen, die ihm
zeigen sein wird (vgl. Wannicke, ebd., 103). Siehe auch Neppi, ebd., 106: »Ce sont donc les mains de l’Autre qui l’éveillent à lui-même. Il est, du moins, à la naissance, ce qu’Autrui le fait être«. 16 Wie in Das Sein und das Nichts ist der Andere also primär kein Objekt der Erkenntnis, sondern ich werde seiner gewahr, indem ich mich als von ihm objektiviert erlebe. Diese Objektivierung ist aber auf dieser fundamentalen Ebene des Mutter-Säuglings-Verhältnisses nicht visueller, sondern taktiler Art. Insofern der Blick in Das Sein und das Nichts als dasjenige definiert wird, durch das ich meine Objektivität und die Existenz einer fremden Subjektivität erfasse, läßt sich auch die Berührung, so wie sie hier beschrieben wird, als Blick verstehen. Der Blick ist in diesem Fall nicht dasjenige, was sich vor die Augen des Andern, sondern dasjenige, was sich z. B. vor seine Hände schiebt. Bevor die ObjektHände des Anderen erkannt werden, erfahre ich mich selbst als ein Objekt, das durch die – liebevollen, geschickten, fahrlässigen, gleichgültigen oder groben – Berührungen dieser Hände konstituiert wird. Während der visuelle Blick mich nur spüren läßt, daß ich objektiviert werde, scheint der taktile Blick mir jedoch zugleich auch zu vermitteln, als was ich objektiviert werde: Sind die Berührungen sanft oder grob, erfasse ich mich als geliebtes oder ungeliebtes Kind. Ich bekomme also buchstäblich zu spüren, was der Andere in mir sieht. Schon aus diesem Grund wäre der Versuch fragwürdig, den taktilen Blick-Anderen gleich dem visuellen Blick-Anderen als allgemeine und unpersönliche Struktur zu erfassen, womit – unter Berücksichtigung, daß die Stufe des taktilen Blick-Anderen sicher früher als die des visuellen Blick-Anderen ist – die Gefahr einer strikten Trennung von apriorischem abstraktem Subjekt-Anderen und nur wahrscheinlichem konkreten Objekt-Anderen im Grunde gegenstandslos wird. Gegenüber dem Blick, der mich ansieht, erlaubt der Blick, der mich auf vielfältige Weise berühren kann, eine Differenzierung des Subjekt-Anderen, die schon dort stattfindet, wo ich durch die Berührung als Objekt konstituiert werde. Der visuelle Blick dagegen läßt sich nur dann spezifizieren, wenn ich die Augen ansehe, das heißt aber den Blick-Anderen in einen Objekt-Anderen verwandle. Der Vorwurf von Waldenfels, Sartre halte hinsichtlich der Fremderfahrung am »Primat des Sehens« fest (Phänomenologie in Frankreich, 90), ist unzutreffend für die Weiterentwicklung der Intersubjektivitätstheorie in Der Idiot der Familie – und zwar nicht nur, weil Sartre jetzt auch einen taktilen Blick kennt, sondern vor allem weil er nun – wie im folgenden noch deutlich werden soll – die Kommunikation in ihrer Relevanz für die Genese der Subjektivität geltend macht. 17 Die Überzeugung von der Priorität des Ausdrucks findet sich bereits in Max Schelers
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Zeichen geben und deren Bedeutung vor allem darin liegt, daß sie ihm die mütterlichen Verhaltensweisen zueignen. Dieses Ungetüm ist ein absoluter Monarch, immer Zweck, niemals Mittel. Wenn ein Kind einmal in seinem Leben, mit drei Monaten, mit sechs Monaten, dieses Glück des Stolzes genießen kann, ist es ein Mensch: ein ganzes Leben lang wird es diese höchste Wollust zu herrschen weder wieder heraufbeschwören noch vergessen können. Aber bis in sein Mißgeschick hinein wird es eine Art religiösen Optimismus bewahren, der auf der abstrakten und ruhigen Gewißheit seines Wertes fußt. Auch im Elend ist er noch ein Privilegierter« (IF 1, 137 f., Fußn. 22).18 Dies wäre für Sartre das Ideal einer gelingenden Primärbeziehung, vor dem sich Gustaves Misere negativ abheben läßt: »Das Kind wird gewaschen, gestillt und versorgt, ohne Hast, aber auch ohne überflüssige Gefälligkeit. Vor allem, die ängstliche und kalte Mutter lächelt nicht oder kaum, plappert nicht« (IF 1, 138). Die beflissene, aber kalte Säuglingspflege seitens der Mutter durchdringt das Kind, wie es heißt, als eine »objektive Verneinung« und ruft eine »Verarmung des Lebens« hervor: »ein organisches Elend und eine Art Unwirklichkeit mitten im Erlebten« (IF 1, 138). Da er aufgrund des Mangels an liebevollem Umgang eher Objekt als »Bestimmung« der mütterlichen Fürsorge ist, das Mittel, das Caroline dazu dient, gewissenhaft ihre Mutterpflichten zu erfüllen (vgl. auch IF 1, 90, 94 f.),19 entdeckt er niemals, »daß er von Fleisch und Wesen und Formen der Sympathie, 233: »Aus diesen und ähnlichen Tatsachen folgern wir, daß ›Ausdruck‹ sogar das Allererste ist, was der Mensch an außer ihm befindlichen Dasein erfaßt, und daß er irgendwelche sinnliche Erscheinungen zunächst nur soweit und insofern erfaßt, als sich seelische Ausdruckseinheiten in ihnen ›darzustellen‹ vermögen«. Scheler beruft sich hier einerseits auf die Studien der Gestaltpsychologen Köhler und Koffka und andererseits auf die Untersuchungen der Kinderpsychologen Shinn und Stern (vgl. ebd., 232 f.). Es lassen sich Hinweise dafür finden, daß sich Sartre durchaus für Scheler interessiert hat und möglicherweise auch mit Wesen und Formen der Sympathie vertraut gewesen ist: In einem Brief vom 1. Oktober 1939 bittet er Simone de Beauvoir um die Zusendung dieser Schrift (Briefe an Simone de Beauvoir 1, 341). Später in Fragen der Methode, 46, erklärt Sartre, daß er Scheler – der in einem Atemzug mit Husserl, Heidegger und Jaspers als Wegmarken seiner philosophischen Sozialisation genannt wird – erstmals 1933 gelesen habe, wobei er allerdings nicht angibt, mit welchen Werken dieses deutschen Phänomenologen er sich beschäftigt hat. 18 Vgl. Winnicotts Omnipotenzthese in dem Aufsatz »Ich-Integration in der Entwicklung des Kindes«, 73 f. 19 Flauberts Mutter »überspielt […] gerade die kommunikativen mit den technisch-instrumentellen Anteilen des Betreuungshandelns« (Olschanski, ebd., 391). Mit Kants Unterscheidung von Mittel und Zweck bzw. Sache und Person (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten , 428 f.) läßt sich der beschriebene Sachverhalt folgendermaßen fassen: Da die Mutter ihn strenggenommen als Sache und nicht als Person behandelt, bleibt Flauberts Personenstatus tatsächlich in gewisser noch zu erläuternder Weise ›unterentwickelt‹. Sein
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Blut und für andere höchstes Ziel ist« (IF 1, 138). Und dies hat die erwähnte Unwirklichkeit des Erlebens zur Folge – ein Ausdruck, den Sartre an dieser Stelle durchaus mit Bedacht gewählt hat, wie sich im folgenden an seinem systematischen Stellenwert innerhalb der Konzeption von Der Idiot der Familie zeigen wird. Da Gustave keine »Valorisierung« (IF 1, 137, Fußn. 22) erlebt hat, ist für ihn die Umgebung nur ›jene finstere und kalte Konsistenz‹, die »Heidegger das Nur-Vorhandensein genannt hat« (IF 1, 138). Mit anderen Worten, die ›Zuhandenheit des Seienden‹20 erscheint nur einem geliebten und darum zur Praxis befähigten Menschen. Das praktische Weltverhältnis scheint für Sartre gleichsam erst aus der liebevollen Anerkennung herauszuwachsen, die es voraussetzt. Die Erfüllung des Liebesanspruchs eines geliebten Kindes »kompensiert und überschreitet« nicht nur »seine Fügsamkeit eines handhabbaren Dinges« (IF 1, 138), sie ist mehr noch bereits »die rudimentäre Form des Entwurfs und folglich des Handelns« (IF 1, 138). Entscheidend ist hier die Befriedigung des Liebesbedürfnisses und nicht die Befriedigung der eher physiologischen Bedürfnisse (Ernährung, Körperpflege usw.), an der es Gustave ja im Gegensatz zur ersteren nicht mangelt. Würden seine Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, so würden sie nach Sartre von sich aus »aggressiv« werden und ihr »eigenes Recht« (IF 1, 139) hervorbringen. Die gewissenhafte pünktliche, aber lieblose Pflege bringt dagegen eine passive Haltung hervor, in der das Kind weder revoltieren kann, noch zur Kommunikation aufgefordert wird. Gustave hat niemals Hunger, da das Kind pünktlich von seiner aufmerksamen und kalten Mutter versorgt wird, weswegen keine Revolte »den magischen Kreis der Passivität durchbrechen« (IF 1, 139) kann.21 Indem die »Mutterliebe« die »objektive Kategorie der Alterität« fixiert, definiert sie die »Grenzen« wie die »Intensität« der Begegnung des Anderen (IF 1, 141). Insofern die Säuglingspflege der Mutter Gustave nicht der Alterität »aufgeschlossen« (IF 1, 140) hat, fehlen ihm sowohl der Wunsch wie auch die Fähigkeit zur Kommunikation: »Gustave ist unmittelbar durch die Gleichgültigkeit der Mutter bedingt; er begehrt allein; sein erster Geschlechts- und Nahrungstrieb zu einem ernährenden Körper hin wird ihm nicht durch eine Zärtlichkeit widergespiegelt [réfléchi]« (IF 1, 141). Ihm steht keine »als Mutter erkannte Form«22 gegenüber, jene »unbestimmte Masse Leben lang bleibt er der Idiot der Familie, und seine Beziehungen zu anderen Menschen gestalten sich nicht als Wechselseitigkeit gleichberechtigter Subjekte, sondern er strebt nach feudalen Verhältnissen, in denen er der Vasall eines Herrn ist, wobei diese Haltung durchaus auch eine Affinität zum Masochismus hat (vgl. IF 1, 484). 20 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 15. 21 Vgl. Améry, »Die Wörter Gustave Flauberts«, 1201; Olschanski, ebd., 403; Schulten, Jean-Paul Sartres ›L’idiot de la famille‹, 75. 22 Die Übersetzung von ›forme‹ (L’idiot de la famille I, 140) mit dem deutschen Wort ›Form‹ bringt den gestaltpsychologischen Kontext des französischen Ausdrucks zum Ver-
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von Sanftheiten«, die mit ihm kommuniziert und sich etwa über ein Lächeln des Kindes als Erwiderung freut. Caroline erwartet von ihm lediglich, »daß er ein gut funktionierender Verdauungsdarm ist: nicht mehr« (IF 1, 141). Fehlt die Zuneigung des Anderen, so wird sie als »Unmöglichkeit, sich zu lieben« realisiert:23 »(D)as Fehlen der Mutterliebe wird in ihm direkt als fehlende Selbstliebe empfunden« (IF 1, 150). Jenes objektive »Schlechtgeliebtsein« wird »ein Grundverhältnis zu anderen« und die »subjektive Wahrheit seiner Existenz« (IF 1, 150). Als eine »reine Rezeptivität vor jedem Wunsch und jedem Mittel zur Kommunikation« (IF 1, 140) ist er im »Pathetischen eingeschlossen, das heißt in dem, was erlitten, aber nicht ausgedrückt wird« (IF 1, 140).24 Die aktive Emotion besitzt immer eine kommunikative Struktur: Sie ist von Anfang an »öffentlich« (IF 1, 140) und strebt z. B. als »Drohung« oder als »Bitte« von sich aus zu einer Verlängerung durch die »Praxis« (vgl. IF 1, 140). Dagegen ist die passive Emotion »privat« (IF 1, 140) und lähmend, sie ist »keine Signifikation«, sondern »eine Regression aus der Welt der Signifikanten und der Signifikate« (IF 1, 140). Die Unfähigkeit zu Kommunikation und Praxis wirkt sich auch auf die Zeitlichkeit des Kindes aus: Gustaves Erleben ist durch ein elementares Gefühl der Sinnlosigkeit geprägt, da es der zukunftsorientierten teleologischen Struktur entbehrt, die mit der Praxis einhergeht. Das nicht-valorisierte Leben ist Kontingenz, d. h. eine »ziellose Existenz« (IF 1, 147; vgl. IF 1, 180). Für den »passiv Handelnden bietet sich die Zukunft nämlich niemals als etwas dar, was zu tun, sondern immer als etwas, was zu erleiden ist« (IF 1, 604). Die vegetative Dauer ersetzt die Bewegung der Handlung (vgl. IF 3, 504). Immer wird er sich »für machtlos gegenüber seinem eignen Leben« (IF 1, 605) halten. Denn ein Leben hat nur dann ein Ziel, wenn die Elternliebe dem Kind »seine Existenz als Bewegung auf ein Ziel« (IF 1, 142) hin enthüllt. Und diese zielorientierte Bewegung nimmt ihren Weg von der vergangenen Liebe des Schöpfers zur zukünftigen Liebe – »Erwartung des Anderen, Mission, Glück, zeitliche Ekstasen« (IF 1, 143): »(E)in Kind muß ein Mandat
schwinden. ›forme‹ gibt bei Sartre höchstwahrscheinlich den Gestaltbegriff Wertheimers, Köhlers und Koffkas wieder. Auch Paul Guillaume spricht von »La psychologie de la forme«. Siehe sein gleichnamiges Buch, das die Gestaltpsychologie in Frankreich bekannt gemacht hat (vgl. T. Königs Nachwort zu Das Sein und das Nichts: SN 1087). 23 Vgl. ganz ähnlich Knapp, Narzißmus und Primärbeziehung, 231 f. 24 Sartre räumt anders als in seiner frühen Philosophie den »organischen Veranlagungen« (IF 1, 59) einen gewissen Stellenwert für die Subjektivität des Menschen ein: »(D)ie Beschaffenheit des Nervensystems – in Verbindung mit dem ›Temperament‹ – kann die passiven Regungen und die Selbstaufgabe erleichtern, ja sogar hervorrufen« (IF 1, 58; vgl. auch IF 1, 50). Welche Verhaltensweisen der Betreuungsperson in dieser Phase der Subjektgenese förderlich sind, hängt letztlich auch von der »körperlichen Konstitution« (IF 1, 59) des Säuglings ab. In jedem Fall muß der Entwurf im Anschluß die Faktizität – bestehend
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zu leben haben: die Eltern sind die Mandanten; eine Liebesgunst fordert es dazu auf, die Barriere des Augenblicks zu überschreiten: man erwartet es im folgenden Augenblick, man betet es in ihm schon an, alles ist vorbereitet, um es mit Freuden in ihm zu empfangen« (IF 1, 141). Unter der Devise ›Lebe, um uns glücklich zu machen, damit wir dich unsererseits glücklich machen können‹ erscheint dem geliebten Kind die Zukunft als Mission. Selbst wenn die Familie später auseinanderfällt, ist das Kind unter glücklichen Umständen »in seiner alltäglichen Verzeitlichung durch eine teleologische Notwendigkeit gekennzeichnet« (IF 1, 142).25 Sartre stellt von hier aus generalisierende Formeln wie ›Das Leben hat einen Sinn‹ oder ›Das Leben hat keinen Sinn‹ oder ›Das Leben hat nur den Sinn, den wir ihm geben‹ in Abrede, denn unsere Ziele, der Sinn oder Unsinn unseres Lebens, werden als Realitäten offenbar, »die älter sind als dieses Bewußtwerden, älter vielleicht als unsere Geburt und im menschlichen Universum vorgefertigt« (IF 1, 142). Es ist die menschliche Gesellschaft, durch die dem Individuum der Sinn geschieht. Sofern die »Valorisierung des Säuglings durch die Liebe« (IF 1, 142) völlig fehlt, zu spät erfolgt oder auf schlechte Weise geschieht, wird das erlebte Leben als Unsinn konstituiert26 (non-sens humain) (vgl. IF I, 141). Jene Einsicht in die »Existenz ohne Daseinsberechtigung« (IF 1, 144), die das Schicksal der schlechtgeliebten Kinder ist, stellt natürlich für Sartre eine durchaus wahre Erkenntnis dar, insofern sie eine zentrale These seiner frühen existentialistischen Philosophie wieder aufnimmt. Und so erklärt auch der gealterte Sartre: »(D)as Sein des Hammers und die Existenz eines Menschen haben kein gemeinsames Maß; der Hammer ist da, um zu hämmern, der Mensch ist nicht ›da‹, er wirft sich in die Welt; als Quelle jeder Praxis ist seine eigentliche Realität die Objektivierung; das heißt, die Rechtfertigung jenes ›Wesens der Ent-fernung‹ ist immer retrospektiv: sie kommt aus der Ferne der Zukunft und der Horizonte auf es zurück, geht in der Zeit zurück von der Gegenwart zur Vergangenheit, niemals von der Vergangenheit zur Gegenwart« (IF 1, 144). Ist also das geliebte Kind lediglich das Opfer einer Täuschung? Mit anderen Worten, muß man all den ungeliebten Kindern gratulieren, daß sie so früh wie möglich von einem eklatanten Irrtum abgehalten werden? Scheint es nicht besser zu sein, sich möglichst frühzeitig an das Elend der Kontingenz zu gewöhnen als später buchstäblich aus allen Wolken zu fallen? Daran, daß die Existenz die Faktizität übernehmen muß, ohne sie begründen zu können, hält Sartre auch noch in seinem späteren Denken fest aus der organischen Veranlagung und den verinnerten Verhaltensweisen der Mutter – übernehmen und überschreiten (vgl. IF 1, 59). 25 Vgl. Neppi, ebd., 114: »L’amour de la mère est un doigt pointé vers l’avenir. Il est la force qui soulève les yeux de l’enfant et l’oblige à regarder au-delà de lui-même«. 26 Sartre fügt hinzu: »(D)ie erdrückende Mehrheit [sind] kaum geliebte Kinder« (IF 1, 143 f., Fußn. 23).
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(vgl. IF 1, 59). Dennoch sieht er sich veranlaßt, genauer zu differenzieren: Die genannten »ethisch-ontologischen Wahrheiten« dürfen sich erst nach einer vorherigen Täuschung offenbaren. In einer anfänglichen »glückliche(n) Entfremdung« sollte sich das Kind zunächst »für einen Mandatsträger halten« (IF 1, 144), d. h. »Ziel und Grund in der Einheit der Mutterliebe verwechseln« (IF 1, 144). Unsere Anwesenheit in der Welt ist verwunderlich, »wenn unsere erste Kindheit sie nicht (fälschlich) gerechtfertigt hat« (IF 1, 290). Hier handelt es sich um ein notwendiges, aber »falsche(s) Glück« (IF 1, 144) – später werden »die fremden Infiltrationen« (IF 1, 144) durch die »Bewegung der Negativität, des Entwurfs und der Praxis« (IF 1, 144) aufgehoben, wodurch die Entfremdung von der Angst abgelöst wird.27 Die anfängliche glückliche Entfremdung ist für Sartre offenbar ebenso notwendig und wünschenswert wie die spätere Aufhebung dieser Entfremdung durch das Selbstbewußtwerden der Freiheit: »(D)ie Wahrheit ist nur am Ende eines langen umherschweifenden Irrtums erkennbar: wird sie zuerst verabreicht, ist sie nur ein wahrer Irrtum« (IF 1, 144). Was jedoch auch nach der Einsicht in die Kontingenz allen Seins für das anfänglich glücklich entfremdete Individuum von dieser Entfremdung bleibt, ist – so läßt sich aus Sartres verstreuten Angaben schließen – nicht nur die Selbstliebe, sondern auch das Vermögen zu Praxis und Kommunikation, die einerseits abhängig von der Entfremdung sind, andererseits deren Aufhebung hervorbringen. Sartre müßte sich allerdings genauer darüber äußern, wie es möglich sein soll, die Kontingenz des eigenen Daseins in aller Schärfe zu erkennen und dennoch dank der erfolgten Valorisierung seinen »religiösen Optimismus« (IF 1, 138, Fußn. 22), »das beruhigende Bewußtsein von seinem Wert« (IF 1, 80), nicht zu verlieren. Seiner Ansicht nach ist das schlecht geliebte Kind, das sich als ungerechtfertigt empfindet, viel weiter von einer zutreffenden Einschätzung seiner Situation entfernt als »der kleine Privilegierte«, der seine Daseinsberechtigung für gesichert hält (vgl. IF 1, 144). Letzterem enthüllt sich das Leben als Praxis und Zeitlichkeit, wohingegen Gustave zum Objekt konstituiert wird. Mangel an Selbstliebe und Mangel an Praxisfähigkeit entspringen als zwei Seiten einer Münze derselben Quelle und verweisen auf die elementare Begegnung mit dem Anderen: »(O)hne besondere Mission ist er von Anfang an der Grundkategorien der Praxis beraubt« (IF 1, 145). Die frühkindliche Erfahrung wird sein ganzes Leben bestimmen (vgl. IF 3, 983). Pessimismus, 27
Simone de Beauvoir scheint anders als der späte Sartre Kontingenzerfahrung und Angst grundsätzlich als primär zu begreifen, und dementsprechend ist für sie die durch die Mutterliebe erhaltene Existenzberechtigung immer etwas nachträgliches: »(I)n fleischlicher Gestalt entdeckt es [das Kind – Anm. J. B.] die Endlichkeit, die Einsamkeit, das Geworfensein in einer fremden Welt. Es versucht, mit dieser Katastrophe fertig zu werden, indem es seine Existenz in einem Bild entfremdet, dessen Wirklichkeit und dessen Wert von anderen begründet werden« (Das andere Geschlecht., 336).
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Lebensekel, Langeweile des erwachsenen Gustave Flaubert sind das Produkt einer »Vorgeschichte«, also sozusagen eine Totalisierung des Familienlebens, so wie er es erlebt hat (vgl. IF 3, 893). Die Mutter konstituiert Gustave als passiv Handelnden (vgl. IF 1, 182), da sie ihm »nicht das Recht zu existieren gegeben« hat (IF 1, 339). Er bleibt für immer ein »Geschöpf des Zufalls […], ohne Ziel noch Grund« (IF 1, 346). Es bedarf also anders als in Das Sein und das Nichts nicht nur der Konstitutionsleistungen des Anderen um ein Objekt, sondern auch um ein Subjekt zu sein. Der Andere konstituiert nicht nur meine Sichtbarkeit, sondern auch mein Sehen: »So ist Gustave gemacht, aber nicht durch eine bewußte Erfahrung: durch einen Komplex von Prozessen, die der Erfahrung und der Bedingtheit vorausgehen« (IF 3, 893). Die »Erfahrung der menschlichen Beziehungen« (IF 1, 139) ist dem Kind nur möglich, wenn es als Subjekt, d. h. als Kommunikationspartner anerkannt bzw. valorisiert wird und nicht nur als Objekt der Pflege behandelt wird.28 Man kommt also nicht als Subjekt zur Welt, sondern man muß als Subjekt anerkannt werden. »(E)ine gewisse Kälte« hat »verhindert«, daß Flaubert »sich als Subjekt konstituierte«, bzw. seine Subjektivität bleibt »verkümmert« (IF 2, 210). Die seelische Vernachlässigung fällt stärker ins Gewicht als die körperliche Vernachlässigung, von der Sartre glaubt, daß der Säugling sie durch Aggressivität und Revolte wettmachen kann und hierdurch den Bannkreis der Passivität zu durchbrechen vermag (vgl. IF 1, 139).29 Zwar überschreitet auch Gustave das Gegebene (vgl. IF 1, 145) und realisiert sich »mit allen Dimensionen der Existenz« (IF 1, 148)30 – und insofern existiert die praktische Bewegung auch bei ihm: »(A)ber sie ist durch die konstituierte Passivität blockiert, verborgen, fehlgeleitet« (IF 1, 154).31 Die Überschreitung des Gegebenen, welche die menschliche-Realität definiert, erfolgt in diesem Fall erst nachträglich, d. h. nach der »Erfahrung der Schwerkraft«, wenn das Kind »die Gewohnheit angenommen hat, sich in sich selbst zu vergraben« 28
Daher trifft Zieglers Kritik, Sartre falle hinter das Niveau seiner Erkenntnis, daß die Anerkennung des Anderen erst das Selbst konstituiert, zurück, sobald er die Spontaneität des Für-sich sozusagen als Rückzugslinie hinter das Objekt-Ich in Sicherheit bringt (ebd., 92), zwar auf Das Sein und das Nichts, nicht aber auf Der Idiot der Familie zu. 29 Diesem Umstand, daß die Passivität primär eine Folge der fehlenden Valorisierung und weniger der Überfürsorglichkeit ist, wird Neppis Darlegung m. E. nicht gerecht (vgl. ebd., 110). 30 Wie Sartre zugibt, ist auch Gustave häufiger in der Welt des Unternehmens als in der passiven Einsamkeit (vgl. IF 1, 164). 31 Sartre markiert hier offensichtlich die Grenze dessen, was für ihn notwendige, also apriorische Bestimmung der menschlichen-Realität ist, und worin der Anteil der Sozialisation liegt. Die Passivität ist nicht die der Dinge, sondern muß eher als eine Art »gefesselte Praxis« verstanden werden, selbst die passiven Synthesen sind noch intentional (vgl. IF 1, 437). Im übrigen hält Sartre die konstituierte Passivität nicht für unüberwindlich (vgl. IF 3, 506 f.).
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(IF 1, 139). Von seinem ersten Jahr an durch die Säuglingspflege als passive Aktivität konstituiert (vgl. IF 3, 893), werden seine Ziele immer bloß ›subjektiv‹ bleiben, da sie nicht durch die Sozialität »objektiviert« (IF 1, 143) – und dies meint Sartre wohl gleichbedeutend mit ›valorisiert‹ – worden sind.32 Insofern ihn die Säuglingspflege mit »Derealisierung« geschlagen hat (IF 2, 79), werden sich seine Entwürfe immer durch eine gewisse Nutzlosigkeit auszeichnen: »(M)an wählt die Überschreitung des Gelebten, um einen schwachen Wert zu konsolidieren; aber die Schwäche oder das Fehlen der Valorisierung wird das Ziel, das ihn begründen soll, ruinieren« (IF 1, 143). Da seine Begierden nie valorisiert wurden, erkennt er ihnen auch selbst keinen Wert zu (vgl. IF 1, 427). Nur die Liebe des Anderen garantiert die »Objektivität des Wertes und der Mission« (IF 1, 143) und verleiht dem Kind Souveränität (vgl. IF 1, 317).33 Wie Honneth im Anschluß an die psychoanalytischen Objektbeziehungstheorien erklärt, muß sich das Subjekt in der »spannungsreichen Balance zwischen Verschmelzung und Ichabgrenzung«, durch die sich die Primärbeziehung auszeichnet, als geliebt und anerkannt erfahren: »Ein solcher Modus des Selbstvertrauens bildet die elementare Voraussetzung jeder Art von Selbstverwirklichung insofern, als er den einzelnen überhaupt erst zu derjenigen inneren Freiheit gelangen läßt, die ihm die Artikulation seiner eigenen Bedürfnisse erlaubt; dementsprechend repräsentiert die Erfahrung von Liebe, welche institutionelle Gestalt sie historisch auch immer genommen haben mag, den innersten Kern aller als ›sittlich‹ zu qualifizierenden Lebensformen«.34 Im Gegensatz zu Sartres phänomenologisch ausgewiesenem Anerkennungsbegriff übernimmt Honneth diese Kategorie ebenso wie seine Subjektkonzeption aus dem Denkens Hegels und Meads.
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Die Analogie zur Situation des Schriftstellers fällt ins Auge: So wie seine Tätigkeit darauf angewiesen ist, daß der Andere das Werk objektiviert, will generell jeder Entwurf objektiviert und damit anerkannt werden. 33 Trotzdem wird die durch Valorisierung souveräne Option als grundlegender Widerspruch erlebt: Insofern die Option des Mandatsträgers eine »freie Bestimmung durch sich selbst« ist, führt sie zur schon in Das Sein und das Nichts beschriebenen Angst (vgl. SN 91–116), insofern diese Option jedoch infolge der Valorisierung als »Rückverinnerung eines äußeren Dekrets« erlebt wird, erscheint sie als »die radikalste Entfremdung«. Diese Probleme sind für Sartre »von zweiter Instanz« (IF 1, 143, Fußn. 23) und daher denen nachgeordnet, die sich an der »Schwelle des Mensch-seins« abspielen, wenn ein Kind mit seiner fehlenden Daseinsberechtigung konfrontiert wird. 34 Honneth, Kampf um Anerkennung, 282.
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8. 2. Glaube und Wissen Sartre entwirft nun eine dialogische Theorie des Wissens, nach der der Mangel an Liebe nicht nur zu Passivität und Kontingenzerfahrung, sondern in eins entsprechend auch zu Autoritätshörigkeit und mangelhafter Wahrheitsfähigkeit führt (vgl. IF 1, 179 f.). Der Erkenntnisprozeß nimmt beim anderen Menschen seinen Ursprung. Jede sprachliche Bedeutung, jede Zeichenvermittlung erhebt einen Geltungsanspruch und fordert unser »Glaubenschenken«: »(I)n jedem gehörten Satz, in jedem Wort, das an mein Ohr dringt, entdecke ich eine souveräne Behauptung [affirmation], die auf mich abzielt, die verlangt, daß ich sie für mich übernehme« (IF 1, 164). Am Anfang des Erkenntnisprozesses steht für Sartre immer dieses Glaubenschenken als passives Moment des Vertrauens zu einem Anderen: »(D)ie Welt der Zeichen ist zunächst die des Glaubens« (IF 1, 164), welcher einerseits als »eine nichtwechselseitige soziale Beziehung« (IF 1, 167) bestimmt wird und andererseits nur »ein unvollständiges Moment in der Entwicklung des Wissens« darstellt (vgl. IF 1, 165). Indem ich in einem zweiten Schritt nun meinerseits souverän behaupte, was der Andere behauptet, überschreite ich nach Sartre den Glauben auf die Wechselseitigkeit des Wissens hin. Hierbei greife ich – »zwar nicht in jedem Fall, aber im Prinzip« (IF 1, 164) – auf sogenannte »Reduktoren« (IF I, 163) zurück, aufgrund derer ich Lügen und Irrtümer entlarve. Allerdings gibt es nach Sartre genaugenommen nur einen Reduktor, und dies ist die »unmittelbare(n) Evidenz« (IF 1, 163), welche als integrativer Bestandteil der Praxis bestimmt wird.35 »Die Evidenz ist ein Moment einer Praxis: ihre sich ergänzenden und untrennbaren Merkmale sind die freie Überschreitung des Objekts auf einen bestimmten Zweck hin und die unleugbare ›leibhaftige‹ Anwesenheit dieses Objekts in dem Vorgang, der versucht, es zum Mittel dieses Zwecks zu machen, als unüberschreitbare Bedingung des ganzen Unternehmens. Es offenbart sich als etwas, das innerhalb des praktischen Feldes verwandelt
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Der Begriff ›Evidenz‹ bezieht sich nach Husserl im ›erkenntniskritisch prägnanten Sinn‹ auf einen Akt der vollkommensten Erfüllungs- oder Deckungssynthesis: In der Evidenz ist der Gegenstand »nicht bloß gemeint, sondern, so wie er gemeint ist und in eins gesetzt mit dem Meinen, im strengsten Sinn gegeben« (VI. Logische Untersuchung, 651). In den Cartesianischen Meditationen sind hiermit solche »›Erfahrungen‹ [gemeint], in denen mir die betreffenden Sachen und Sachverhalte als ›sie selbst‹ gegenwärtig sind« (Cartesianische Meditationen, 15): »Für das Ich besagt das: nicht verworren, leer vormeinend auf etwas hinmeinen, sondern bei ihm selbst sein, es selbst schauen, sehen, einsehen« (ebd., 59). Gegenüber den Logischen Untersuchungen, die vor allem das Ideal der Bestätigung bzw. Adäquation betonen, hebt Husserl in den Cartesianischen Meditationen eher die Selbstgegebenheit des Gegenstands hervor (vgl. zur Problematik des Evidenzbegriffs auch Ströker, »Husserls Evidenzprinzip«).
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werden muß, aber auch als etwas, das selbst die Bedingungen und die Grenzen dieser Verwandlung bestimmt. Die Evidenz ist das Reale, das sich als Regulierung der Möglichkeiten offenbart« (IF 4, 54, Fußn. 46). Insofern Sartre Evidenz ferner bestimmt als »das harte Treffen auf ein Hindernis, das ein Unternehmen ablenkt und sich in seiner greifbaren Natur mit seinen scharfen Konturen aufzwingt« (IF 4, 378), scheint er sie mit dem Widrigkeitskoeffizienten aus Das Sein und das Nichts gleichzusetzen. Im Zuge dieser Evidenz »ergreift das Ding von mir Besitz, indem es sich darbietet, aber ich behaupte mich, indem ich es, ohne fremde Zutat entgegennehme« (IF 1, 163). Die Evidenz löst das Glaubenschenken ab und vollendet den Erkenntnisprozeß durch Überführung auf die Stufe des Wissens. Im Gegensatz zum Glauben ist dieses prinzipiell wechselseitig: Ich weiß nur das, was der Andere mir garantiert, aber umgekehrt bin ich es, der das Wissen anderer garantiert. Die Wahrheit wird nun ähnlich wie in dem Fragment Wahrheit und Existenz mit der »Praxis« in eins gesetzt, wobei Sartre allerdings noch stärker ihre intersubjektive Dimension hervorhebt: Sie ist »jene doppelte und komplexe Beziehung der Menschen untereinander vermittels ihrer Arbeit an der Welt und der Menschen zur Welt vermittels der (virtuellen oder realen) Wechselseitigkeit der menschlichen Beziehungen« (IF 1, 167). Erkenntnis beruht auf symmetrischen Beziehungen der Wechselseitigkeit; sie »ist unser gemeinsames Gut«, und dank der Anschauung und ihrer Prüfung kraft der Evidenz »ist sie meine eigene Erkenntnis« (IF 1, 163).36 Wenn Sartre an anderer Stelle erklärt, die Wahrheit sei ohne Ordnung, so ist damit nicht gemeint, sie sei nur im Chaos zu Hause, sondern vielmehr, daß ihr im Gegensatz zum Irrtum als »obersten Prinzip jeder hierarchischen Ordnung« (IF 1, 168) kein soziales Verhältnis der Über- und Unterordnung zu eigen sei. Der Glaube ist dagegen zutiefst »hierarchisch«, er orientiert sich an der sozialen Relevanz des Interaktionspartners und vollzieht sich eher als Wiederholung denn als Aneignung (vgl. IF 1, 168). Die Behauptung des Anderen – im weitesten Sinne alle sprachlichen Ausdrücke, die ich ja erst von ihm erhalte – und meine evidente Anschauung sind die beiden Quellen der Wahrheit. Indem die Relevanz der Sprache für die Erkenntnis geltend gemacht wird und das Problem der Wahrheit hierdurch von Anfang an keine Privatangelegenheit mehr ist, sondern innerhalb der öffentlichen Sphäre der Intersubjektivität situiert wird, grenzt sich Sartre von seinem früheren Denken ab, das die Erkenntnis als zweigliedrige und letztlich egologische Beziehung – hierin dem methodischen Solipsismus der Phänomeno36
Vgl. Sevenich, ebd., 351 f.: »Gemeint ist, daß ich die Behauptung des Anderen seiner Aufforderung gemäß übernehme, aber angesichts der Dinge und durch die Anschauung, die ich selbst von ihnen habe«.
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8. Realisierende oder irrealisierende Konstitution des Subjekts
logie Husserls verpflichtet – zwischen erkennendem Für-sich und erkanntem An-sich begreift (vgl. SN 324–336, 396–401). Durch den Intersubjektivitätsbezug manifestiert sich nun, wie in Der Idiot der Familie deutlich wird, die Wahrheit nicht nur in Form von sprachlichen Äußerungen, vielmehr ist auch keine dieser Aussagen ursprünglich, sondern immer in einen Kontext von vorherigen Aussagen eingebettet. Hierdurch wird der Anteil der Subjektivität – d. h. Evidenz und Praxis – jedoch keineswegs irrelevant: »Es geht tatsächlich immer nur um die Reaktivierung eines anderen Denkens; und meine Behauptung gewinnt ihre unendliche Kraft nur aus der Kette der Behauptungen, die ihr vorausgegangen sind und die sie tragen«. Trotzdem gilt: »(O)hne diesen Funken in jedem Denken, ohne dieses fiat, das gerade hier aufleuchtet, wenn es anderswo verlischt, könnte die Wahrheit nur sterben, wenn sie von einem Geist zum anderen übergeht; sie wäre dann für jeden von uns eine fremde Wahrheit« (IF 1, 165, Fußn. 24).37 Im Unterschied zu Das Sein und das Nichts legt die Flaubert-Studie in Ansätzen eine Konsens- und keine Korrespondenztheorie der Wahrheit vor.38 37
Anders als in seiner frühen Phase rückt Sartre mit dieser These in deutliche Nähe zu einem Philosophen wie Cassirer, den er an keiner Stelle seines Werks auch nur erwähnt. Für Cassirer ist die Erkenntnis aufs engste mit der Sprache verknüpft: »Auch in der Entwicklung des Kindes ist es unverkennbar, daß die Anschauung der Dingwelt nicht von Anfang an besteht, sondern daß sie gewissermaßen erst von der Sprachwelt aus erobert werden muß« (Philosophie der symbolischen Formen III, 140). Das Erwachen des »Symbolbewußtseins« manifestiert sich beim Kind in einem unstillbaren »›Namenhunger‹«, der im Grunde ein »Gestaltenhunger« bzw. ein Drang »nach gegenständlicher Anschauung« ist: »So fragt denn auch das Kind charakteristischerweise zunächst keineswegs, wie ein Ding heiße; sondern es fragt, was das Ding ist. Das Sein des Gegenstandes und sein Name schmelzen ihm völlig in eins zusammen; es hat am Namen und durch ihn den Gegenstand« (ebd., 141). Sartre versteht diesen Sachverhalt auf identische Weise, wenn er erklärt: »Sobald ein Kind einen Namen auf einen Gegenstand seiner Umgebung anwenden kann, setzt es nämlich die Benennung mit der Entdeckung des Seins gleich« (IF 1, 153). Indem Sartre nun ausgehend von einer anderen Fragestellung die Sprache wiederum auf das ursprüngliche Verhältnis zum Anderen zurückführt, von dem ich die Sprache erhalte, wird die Primärbeziehung in ihrer ganzen Abhängigkeit von kontingenten psychischen, aber auch kulturellen und historischen Faktoren bestimmend für die Entwicklung eines jeglichen menschlichen Erkenntnisvermögens. Die Relevanz dieser Überlegungen Sartres muß daher keineswegs auf den psychologischen Bereich beschränkt werden. Es sind durchaus Kulturen oder Epochen vorstellbar, in denen die gesellschaftlich bedingte Sozialisation eine Erkenntnisbeziehung zur Welt oder eine kommunikative Einstellung zu anderen Menschen generell beeinträchtigt. Umgekehrt tut sich die Frage auf, unter welchen historischen soziokulturellen Umständen Menschen zur vollen Entwicklung von Erkenntnis-, Kommunikations- und Praxisfähigkeit gelangen. Eine andere Frage ist natürlich, ob diese drei Kompetenzen wirklich, wie Sartre meint, von denselben Faktoren abhängig sind. 38 Diese These vertritt auch Olschanski (ebd., 406), und bereits Améry weist in seiner Rezension darauf hin: »So nebenbei gibt Sartre hier einen neuen gesellschaftlich bestimmten Begriff von Wahrheit, wenn er sagt, daß deren Unterpfand die Gegenseitigkeit sei.
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Der Weg von der Wahrscheinlichkeit des Glaubens zur Wahrheit des Wissens wird von Sartre folgendermaßen zusammengefaßt: »(I)ch übernehme die Behauptung des Anderen seiner Aufforderung gemäß, aber angesichts der Dinge, durch die Anschauung, die ich von ihnen habe. Damit verschwindet automatisch das Glaubenschenken: es weicht dem Handeln. Jetzt weiß ich: durch ein Ja, durch ein Nein, durch ein Vielleicht, das ich den Dingen abringe – oder durch ein Schweigen, das alle Hypothesen möglich macht –, habe ich die Wahrscheinlichkeit in Wahrheit verwandelt« (IF 1, 164).39 Dies ist für Sartre das »ideale Verfahren« der Wahrheitsfindung, das meistens jedoch aus empirisch-faktischen Gründen in dieser idealtypischen Reinheit nicht möglich ist (vgl. IF 1, 164). Ohne den Übergang in Praxis und Wissen, der durch das Korrektiv der Evidenz garantiert wird, bleibt dieser Prozeß in der »Welt der Zeichen, der Autorität, des Glaubenschenkens« (IF 1, 164) stecken. In dem beschriebenen intersubjektiven Vorgang der Wissensbildung erblickt Sartre offensichtlich eine grundlegende ethische Dimension der Erkenntnis bzw. der Evidenz, durch die ich mir fremdes Wissen zu eigen mache: »(D)ieser Akt instituiert die Person, aber er kann sich nur auf der Grundlage eines früher anerkannten Wertes vollziehen« (IF 1, 163). Die Erkenntnis des Subjekts setzt »ein absolutes Vertrauen des Subjekts in seine eigene Person« (IF 1, 163) voraus, dessen Ursprung in der Anerkennung durch den Anderen liegt. Ein Mensch hat nur dann die Fähigkeit, Gewißheiten auszubilden, wenn »er in seinen frühsten Jahren die ganze Liebe erfahren hat, die ein Kind braucht, um sich individualisieren und sich ein Ich bilden zu können, das etwas zu behaupten wagt« (WkL 155). Die Valorisierung erschließt also dem valorisierten Subjekt nicht nur Praxis und Kommunikation, sondern damit auch den Bereich des Intelligiblen.40 Mit seiner These einer Instituierung oder Valorisierung, durch die das Subjekt erst zu Praxis, Erkenntnis und Kommunikation befähigt wird bzw. sich erst in der sozialen Beziehung bildet, scheint sich Sartre einem anderen französischen Phänomenologen anzunähern. Bei Lévinas wie auch beim späten Niemand ist wahr als Subjekt« (ebd., 1200 f.). Allerdings bedarf es noch einer Präzisierung: Indem Sartre an der Evidenz festhält, die Heidegger als eine Neuformulierung der scholastischen Wahrheitsdefiniton – veritas est adaequatio rei et intellectus – interpretiert (Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, 69), scheint Sartre eher eine Vermittlung von Korrespondenz- und Konsenstheorie nahezulegen, bei der natürlich das Problem der Akzentuierung aufzuwerfen wäre. 39 Man kann nach Sartre zweifellos immer besondere Wahrheiten und Irrtümer verwechseln, aber niemals bezweifeln, daß es das Wahre im Gegensatz zum Irrtum gibt (vgl. IF 1, 167). 40 Es wäre also die Frage zu stellen, ob aus dem Blickwinkel der Ausführungen Sartres nicht die Ethik die Erkenntnistheorie als ›Erste Philosophie‹ ablösen würde.
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8. Realisierende oder irrealisierende Konstitution des Subjekts
Sartre der Flaubert-Studie taucht der Andere als derjenige auf, der »die Freiheit realisiert, statt sie zu verletzen«:41 »Die Entfaltung eines Denkens kann nur zu zweit geschehen«.42 Auch bei Lévinas eröffnet mir erst das Wort des Anderen den Zugang zur Erkenntnis der Welt. »Die Welt wird unser Thema – und dadurch unser Gegenstand –, weil sie uns angeboten worden ist; sie hat ihre Herkunft in einer ursprünglichen Unterweisung, die sogar der wissenschaftlichen Arbeit den Rahmen vorgibt und für die Wissenschaft erforderlich ist«.43 Wenn Sartre sich nach diesen allgemeinen Erwägungen wiederum dem Einzelfall Gustave Flaubert zuwendet, fügt sich sein recht schematischer Gedankengang folgendermaßen zusammen: Gustave glaubt; sein ganzes Leben hindurch bleibt er »ein Mensch des Glaubenschenkens« (IF 4, 30). Er überschreitet nicht das erste Moment des Wissens, weil er aufgrund der fehlenden Instituierung oder Valorisierung – beide Begriffe scheinen Synonyme zu sein – passiv ist, weswegen ihm die Grundkategorien der Praxis und des Sehens (vgl. IF 1, 166) und mithin das Verfügen über einen Reduktor (vgl. IF 1, 165) als Kontrolle der fremden Geltungsansprüche versagt sind. Die Säuglingspflege hat sein Verhältnis »zum Wort und zur Wahrheit« (IF 2, 81) zerstört. »(J)enen Lebensekel, jene Unmöglichkeit, irgend etwas anzufangen, jene Schwierigkeit, zu verneinen, zu bejahen, die ihm den Zugang zur Welt des Diskurses versperrt –, muß man, glaube ich, seine passive Konstitution nennen« (IF 1, 47). Infolgedessen verwendet Gustave die Bezeichnungen der Dinge nicht im Rahmen eines praktischen Entwurfs, und sein Verhältnis zur Wahrheit bleibt »embryonal« (IF 4, 53). Daher bleibt er in der Haltung des Glaubens gefangen, in der die Fremddarstellung erlitten wird und die »Feudalbeziehung« nicht zur »Wechselseitigkeit« des Wissens aufzusteigen vermag (IF 1, 160). Die Wahrheit ist unter diesen Bedingungen immer nur ›ein fremder Wille in uns‹ oder »eine fremde Wahrheit« (IF 1, 165, Fußn. 24) in Form einer »eingeführte(n) Behauptung, die in uns bleibt, ohne sich aufzulösen und ohne sich in unsere Behauptung zu verwandeln« (IF 1, 174). Ohne eigene Behauptung und ohne eigenen urteilenden Akt bleibt »das Autoritätsprinzip die einzige Begründung des Wissens« (IF 1, 161; vgl. IF 3, 706 f.). Einerseits ist der Glaube eine notwendige Vorstufe der Wahrheit, andererseits werden Glaube und Wahrheit als einander ausschließende Gegensätze gefaßt – von daher ist am Ende nicht klar, ob Gustave keinerlei Wahrheitsbezug hat oder ob ihm nur eine fremde Wahrheit zugänglich ist. Wird der Glaube zwar einer Wahrheit inne, die ihm aber immer fremd bleibt, oder darf man hier gar nicht erst von Wahrheit sprechen, weil Wahrheit Evidenz bzw. die aktive 41 42 43
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 141. Lévinas, ebd. bd., 129.
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Aneignung oder Zurückweisung der fremden Behauptung voraussetzt? Sartre scheint trotz aller Unklarheiten eher der letzten Alternative zuzuneigen, wenn er erklärt: »Das Glaubenschenken ist der Andere in mir; die Wahrheit ist der Gegenstand vor mir, die Sichtbarkeit, die die Entfremdung aufhebt, denn sie ist nur durch die freie Bestätigung des Ich und für diese möglich« (IF 1, 167). Was auf der Stufe des Glaubens nur gehorsam übernommen wird, wäre dann aber strenggenommen keine fremde Wahrheit, sondern gar keine Wahrheit. Denn es gibt, wie Sartre fortfährt, für den Glaubenden anstelle des Intelligiblen und der Evidenz nur »die pathetische Zustimmung« (IF 1, 166) als Ersatz der Wahrheitskriterien.44 Die folgende Frage bietet sich an: Bleibt denn für den Anderen seine vermeintliche Wahrheit nicht ebenfalls im Stadium des Glaubens und der Subjektivität, da der passive Mensch ihm nur ergeben glaubt und seine Behauptung nicht bestätigt? Diese Schlußfolgerung bestätigt in der Tat der folgende Satz und untermauert damit die These einer Affinität des Wahrheitsbegriffs zu einer Konsenstheorie der Wahrheit: »(I)ch werde niemals etwas wissen, was der Andere mir nicht garantiert, aber man muß hinzufügen, daß das Wissen anderer keine andere Garantie hat als mich selbst« (IF 1, 160). Von einer fremden Wahrheit könnte bestenfalls dann gesprochen werden, wenn der Andere sich mit einem Dritten über seine Behauptung verständigen würde und sie auf diesem Wege den Status einer Wahrheit erhalten hätte. Nur in diesem Fall kann der passiv konstituierte Mensch strenggenommen an eine fremde Wahrheit glauben – es bliebe allerdings der Vorbehalt, daß diese Wahrheit für ihn selbst niemals eine Wahrheit sein könnte.45 44
Siehe auch Sartres Illustration des Gegensatzes zwischen Glauben und Wahrheit am Beispiel des Theaterschauspielers (vgl. IF 1, 169–171). 45 Sartres Wahrheitsbegriff, der korrespondentistische Momente (z. B. Evidenz, ›leibhaftige Anwesenheit‹) und konsensualistische Momente (Verwiesenheit auf den Anderen, Diskursivität) ohne ausreichendes Problembewußtsein miteinander zu verknüpfen versucht, führt recht schnell zu Unklarheiten – nicht zuletzt auch durch die Anwendung auf den Einzel- und Sonderfall Flaubert. De facto kommt natürlich für jeden Menschen in seiner frühen Kindheit die Wahrheit zunächst vom Anderen und wird daher auch zunächst nur geglaubt. Wenn Wahrheit allerdings immer nur die ›Reaktivierung eines anderen Denkens‹ ist und meine Behauptung Gewicht erhält durch den Kontext der vorhergegangenen Behauptungen (vgl. IF 1, 165, Fußn. 24), warum ist dann die Tatsache, daß es für Gustave in der Einsamkeit keine Wahrheit gibt (vgl. IF 1, 162), für Sartre das Symptom einer unterentwickelten Erkenntnisfähigkeit? Dies müßte doch auch für jeden Menschen mit praktischem Weltverhältnis gelten. Welche Relevanz kommt bei Sartre der intersubjektiven Verwurzelung der Wahrheit zu? Räumt man ein, daß der ›praktische Mensch‹ im Gegensatz zum ›imaginären Menschen‹ in der Einsamkeit wahre Erkenntnisse hervorbringen kann, so bliebe – zumindest in dieser Hinsicht ist Sartre ja deutlich – die intersubjektive Verwurzelung der Wahrheit, insofern als Wahrheit nicht ohne Evidenz und Praxis möglich ist, welche ihrerseits auf die vormalige primärsozialisatorische Anerkennung durch den Anderen angewiesen sind. Aus dieser Perspektive, die allerdings das konsensualistische Moment in Sartres
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Natürlich gibt es auch für den zur Praxis fähigen Menschen Situationen, in denen der Glaube das Wissen ersetzt. Dies gilt immer dann, wenn ich mich auf jemanden berufe, der etwas gesehen hat, das ich nicht sehen konnte. Ich muß dann diesem Menschen glauben und vertrauen, da ich selbst die Evidenz nicht gehabt habe. Bei Gustave beruht das Fehlen der Evidenz jedoch auf dem »permanenten Fehlen(s) einer aktiven Intuition« (IF 1, 172). Der gewöhnliche Mensch glaubt, was er nicht sieht, aber er glaubt nicht, was er sieht, da er es weiß: Wird dagegen der Glaube »zum Prinzip der Wahrheit« (IF 1, 173), so wird »die Abwesenheit […] die normale Seinsweise« (IF 1, 173). Das vermeinte Sein wird hierdurch »Nicht-Sein« oder »Woanders-Sein« (IF 1, 173) – und infolgedessen verschwimmt für den nicht-valorisierten Menschen die Differenz von Realität und Imagination. Durch die Säuglingspflege seiner Mutter erhält Gustave eine passive Konstitution, die »zur gleichzeitigen Verminderung seiner Realität und der Realität« (IF 2, 23) führt: »Die Enthüllung des Realen ist ja ein Moment des Handelns: es offenbart sich dem Entwurf, der es überschreitet, zugleich als praktisches Feld und als permanente Bedrohung (Widrigkeitskoeffizient); seine Seinsweise ist Widerstand und Möglichkeit. Wenn die Wahrnehmung nicht mehr praktisch ist, schlägt sie in Imagination um. Oder, wenn man so will, der Unterschied zwischen dem, was analogon eines abwesenden – also neutralisierten und derealisierten – Gegenstands ist, und dem, was als bloßes Da-sein ohne irgendeine Verbindung mit unserer Existenz zu bestehen scheint, verringert sich. Insofern kann man sagen, daß der kontemplative Quietismus das Kontemplierte imaginarisiert« (IF 2, 23).46 Gustave ist für Sartre ein Kind, das »nur zur Hälfte real ist« (IF 1, 306). Real ist ein Kind nur dann, wenn die primäre Bezugsperson, also in der Regel die Mutter, »ihm durch eine Art fortgesetzter Schöpfung seine tiefe Realität gibt: es ist, weil sie es sieht, seine Wahrheit ist in ihr« (M 116).47 Die Welt des Wahrheitskonzeption relativiert, ist dann nicht jede einzelne Wahrheit auf intersubjektive Anerkennung angewiesen, sondern nur die prinzipielle Wahrheitsfähigkeit des Individuums. Der ›praktische Mensch‹ wäre somit – die vorherige Anerkennung einmal vorausgesetzt – imstande, für sich alleine wahre Einsichten hervorzubringen, ohne daß jede einzelne von ihnen durch den Anderen bestätigt werden müßte. Wenn Sartre allerdings insistiert: »(I)ch werde niemals etwas wissen, was der Andere mir nicht garantiert« (IF 1, 160), betont er den konsensualistischen Aspekt, und Flauberts Anomalie löst sich auf, da in diesem Fall auch der ›praktische Mensch‹ in der Einsamkeit keine Wahrheit kennt. 46 Diesen Gedanken formuliert Sartre auch schon in der Genet-Studie (vgl. SG 408 f.). 47 In der empirischen Forschung wird der von Sartre dargelegte Sachverhalt bestätigt, daß hinsichtlich des Selbstverhältnisses der Mangel an Valorisierung zum Realitätsverlust bzw. zur Irrealisierung des Menschen führt: »Der unmittelbarste Ausdruck von Selbstgefühl sind Gefühle, lebendig, wirklich, da zu sein« (Knapp, Narzißmus und Primärbeziehung, 84). Winnicott weist darauf hin, daß der Säugling auf eine angemessene Pflege seitens der Mutter angewiesen ist, um ein ›wahres Selbst‹ zu entwickeln, wobei er erklärt: »(N)ur das
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Glaubens ist für Sartre eine »Welt ohne Möglichkeiten« (IF 4, 55). Ohne Praxis derealisiert sich die Welt: »Das heißt, daß sein [Gustaves – Anm. J. B.] Verhältnis zum Baum, der auf der Straße auftaucht und hinter der Postkutsche entschwindet, seinem Wesen nach friedliche Koexistenz bleibt«. Der Baum bleibt »eine nutzlose Erscheinung, weil er sich ja keinerlei Praxis einfügt« (IF 4, 56). Sicher kann auch dem praktisch Handelnden ein Baum auf diese Weise erscheinen. Dies geschieht ohne Unterlaß, da der praktische Mensch die Realität – »als Zeughaftigkeit und als Widersetzlichkeit« (IF 4, 56, Fußn. 48) – von einem bestimmten Entwurf aus enthüllt. Die hinsichtlich eines bestimmten Zwecks irrelevanten innerweltlichen Gegenstände werden wahrgenommen, ohne bejaht, verneint und überschritten zu werden, und bleiben daher in einem Bereich »zwischen Realem und Irrealem« (IF 4, 56, Fußn. 48). Sartre nennt diese Gegenstände bloße »Erscheinungen« (IF 4, 56, Fußn. 48) bzw. ›Realisierbare‹ (IF 4, 57, Fußn. 48), um kenntlich zu machen, daß sie jederzeit durch einen entsprechenden Entwurf realisiert werden können. Jede einzelne Aktion spezifiziert und organisiert das praktische Feld, welches sich hierdurch »in seiner radikalen Realität« (IF 4, 56, Fußn. 48) darbietet, die auch den Akteur realisiert und seine Imaginationen in den Dienst der Realisierung stellt. Insofern die vernachlässigten Erscheinungen zum Möglichkeitsfeld gehören, erhalten auch sie als gegenwärtig nicht-signifikante Möglichkeiten einen »Realitätsindex« (IF 4, 56, Fußn. 48): »Mit andren Worten, der Entwurf schafft die Möglichkeiten, indem er das Reale enthüllt, aber die nicht benutzten Möglichkeiten verweisen diese Möglichkeitsstrukturen auf die Praxis selbst, indem sie ihr ankündigen, daß andre Mittel sie erwarten, wenn sie andre Zwecke wählt: dadurch offenbaren sich diese mit Schweigen übergangenen Gegenstände, die mich lediglich in meiner Freiheit bezeichnen, in ihrer Wahrheit: in das praktische Feld integriert, also indirekt an die Mittel gebunden, die ich gegenwärtig ins Werk setze, für mich indessen weder real noch irreal, bieten sie sich ständig als etwas Realisierbares dar« (IF 4, 56 f., Fußn. 48). Da Sartre Irrealität nun nicht mehr in Abgrenzung zur Wahrnehmung bzw. zur Transphänomenalität versteht, wird ebensowenig mit der Kategorie des ›Realisierbaren‹ wie mit derjenigen des ›Irrealen‹ notwendig die Transphänomenalität des Gegenstands in Abrede gestellt: Die »Faktizität« bzw. die »Verankerung« – beide Begriffe gebraucht der späte Sartre offenbar synonym – ist zwar »eine vom Entwurf ständig aufgehobene Kontingenz« (IF 4, 117),48 d. h. der Gegenstand situiert sich nicht selbst, sondern der Entwurf verleiht wahre Selbst kann sich real fühlen« (»Ich-Verzerrung in Form des wahren und des falschen Selbst«, 193). 48 Sartre bestimmt das Lebende – explizit genannt werden Mensch und Tier – als »aufgehobene Trägheit« (IF 4, 117, Fußn. 76).
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8. Realisierende oder irrealisierende Konstitution des Subjekts
ihm erst eine Situation im praktischen Feld. Dennoch bedeutet die Dinge zu situieren nicht, daß sie erschaffen werden: »(M)an entdeckt sie, wie sie sind und in ihren realen Verhältnissen, aber insofern dieses Beziehungsensemble vom Handelnden als praktische Umgebung begriffen wird. Die Entdeckung einer Erdölschicht ist sofort Situierung dieses Vorkommens in bezug auf die andren Vorkommen (die im Besitz andrer sind), auf die Transportmittel, auf die Bohrinstrumente, auf die Ausbeutungskosten (die zum großen Teil von den oben genannten Bestimmungen herrühren), auf die verfügbaren Kapitalien, auf die Wirtschaftskonjunktur usw. Gleichwohl hat das Vorkommen dieser Entdeckung nicht abgewartet, um da zu sein« (IF 4, 117, Fußn. 75). Aus Sartres Überlegungen läßt sich schließen, daß der Paradigmenwechsel von Imagination/Wahrnehmung zu Imagination/Praxis die bisherige eindeutige Priorität der Realität gegenüber der Imagination ebenso in Frage stellt wie deren säuberliche Trennung. Setzt nach dem frühen Sartre das Imaginäre noch den Horizont des Realen voraus, so wird nun das Kind erst durch die Anerkennung ›realitätstüchtig‹. Ein klares Bewußtsein des Scheines setzt den Realitätsbezug voraus, der vom anderen abhängt: Das nicht-thetische Bewußtsein der Irrealität erweist sich als abhängig von der Säuglingspflege (Vgl. IF 2, 277). Auf der ursprünglichen Stufe des menschlichen Weltverhältnisses, dem Glauben, gibt es für das Subjekt nur etwas vage ›Realisierbares‹, also ›reine Erscheinungen‹, die sich weder als real noch als irreal bestimmen lassen. Die Realität ist nicht mehr primär, sondern sie entspringt zusammen mit der Imagination einem vorgängigen Zustand der Ungeschiedenheit,49 wobei dieser Zwischenbereich auf der subjektiven Seite mit einer Haltung der Passivität und des Glaubens korreliert. Erst dank der Valorisierung durch den Anderen geht das Subjekt zur Stufe der Praxis und der Kommunikation über, wodurch die Entmischung des Realen und des Irrealen erfolgt. Solange ich nicht handle, bleibt meine Welt gegenüber dieser Differenz indifferent. Und meine realitätskonstituierende Handlungsfähigkeit ist wiederum abhängig von der Anerkennung, die ich durch Andere erfahre. Daher ist es nur konsequent, daß Sartre in seiner erkenntnistheoretischen Position – wenn auch nur auf kursorische Weise – von einer Korrespondenz- zu einer Konsenstheorie übergeht, sobald er in Abgrenzung zu seinem früheren Denken auf dem Umstand insistiert, daß die Zugangsweise des einzelnen Subjekts zur Welt bzw. zur ›Realität‹ sozial vermittelt ist. Noch eine weitere Revision ergibt sich, wenn das Imaginäre in Abgrenzung zur Praxis verstanden wird. Für den frühen Sartre ist die Realität der Bereich der Kontingenz, der man nur durch die Flucht ins Imaginäre – z. B. ins 49
Sartre scheint sich nun den Positionen Merleau-Pontys (vgl. Phänomenologie der Wahrnehmung, 395 f.) und Schelers (vgl. Erkenntnis und Arbeit, 350) anzunähern.
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künstlerische Universum – entrinnen konnte. Kontingenz und Imagination sind hier Gegenpole: Der reale Mensch ist kontingent, wohingegen der irreale Mensch, also z. B. die Romangestalt, ein Wesen ist, dessen Sein (vom Autor) gewollt ist, insofern ein Zweck es ins Sein ruft. Nur der irreale Mensch entgeht der Kontingenz – aber nur, weil er gar nicht existiert. In der FlaubertStudie wird dagegen die nicht-valorisierte Person, die im übrigen ein wirklich existierender Mensch ist, als irreal aufgefaßt, weil sie passiv ist und die Realitätskategorie sich nur der Praxis erschließt. Kontingenz – hier verstanden als Nicht-Valorisierung – und Imagination scheinen nun zusammenzufallen.
8. 3. Valorisierung als Verbalisierung bzw. Unfähigkeit zu Handeln als Leseschwäche Gustaves passive Konstitution eines »Kind(es) ohne Visum« (IF 1, 400) wirkt sich Sartre zufolge zunächst in anfänglichen Schwierigkeiten aus, Lesen und Schreiben zu erlernen. Zurückzuführen sind diese Lernschwächen demnach auf »eine schlechte Eingliederung des Kindes in das Sprachuniversum«, d. h. aber »in die soziale Welt, in seine Familie« (IF 1, 19 f., vgl. auch ebd., 233 f.). Das Verhältnis zur Sprache spiegelt das Verhältnis zum Anderen wider, von dem die Wörter ursprünglich zu mir kommen. Vor dem Lesenlernen merkt man nicht, daß er nur ein passives Sprachverhältnis verwirklicht, d. h. also genaugenommen nur gesprochen wird. Das Lesen jedoch verlangt die Praxis, für die das pathetische Kind nicht konstituiert ist (vgl. IF 1, 49). Als die Fibel aus ihm einen Menschen machen soll (vgl. IF 1, 361), offenbart sich seine Unzulänglichkeit:50 »(I)n der aktiven Welt des Diskurses entdeckt sich das Kind als passiv« (IF 1, 50). Das Lesenlernen ist die erste Praxis; es bedeutet demnach, zum ersten Mal ein praktisches Verhältnis zur Welt einzunehmen (vgl. IF 1, 368)51 und vor allem auch sein Verhältnis zu den Anderen zu modifizieren (IF 1, 367).52 Bei näherem Hinsehen steht für Sartre auch Gustaves auffällige Naivität in enger Verbindung zur passiven Konstitution. Ein Hausknecht namens Pierre amüsierte sich gelegentlich mit Gustave, indem er ihn aufforderte, in die Küche zu gehen und einmal nachzusehen, ob er, Pierre, dort sei – und das Kind ging tatsächlich zur Köchin und sagte: Pierre hat mir gesagt, ich
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Aus der Sicht der Kritik der dialektischen Vernunft läßt sich Gustaves Lernschwierigkeit als Komplikation auf der Ebene des Übergangs vom organischen zum gemeinsamen Individuum fassen. 51 Dennoch soll Gustaves Schwierigkeit, zu lesen, von der Schwierigkeit zu sprechen herrühren (vgl. IF 1, 26). 52 Vgl. Olschanski, ebd., 411.
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8. Realisierende oder irrealisierende Konstitution des Subjekts
soll nachsehen, ob er da ist (vgl. IF 1, 14–17). Diese beunruhigende Naivität ist nur eine weitere Äußerungsform, in der sich Gustaves »schlechtes Ausgangsverhältnis zur Sprache« (IF 1, 18) manifestiert. Generell ist auch die Naivität für Sartre »ursprünglich nur eine Beziehung zur Sprache« (IF 1, 18). Im Ausgang von diesen brieflich dokumentierten Vorkommnissen, die in Gustaves Familie den Verdacht auf Schwachsinn aufkommen ließen, versucht Sartre im folgenden eine phänomenologische Beschreibung des Verhältnisses, in dem Gustave zu sprachlichen Äußerungen steht, die sich an ihn richten. Da die Anomalität Gustaves, für den »Leben und Worte […] inkommensurabel« (IF 1, 25) sind, nur kontrastiv vor dem Hintergrund dessen deutlich wird, was als Norm des Sprachverhältnisses anzusehen ist, wendet sich Sartre, bevor er sich der ›Phänomenologie des schlechten Verhältnisses zur Sprache‹ widmet, zunächst weiterführenden sprachphilosophischen Reflexionen zu. Hierbei fällt auf, daß er – bis auf die einmalige Erwähnung Lacans (IF 1, 24)53 – sich weder auf empirische Forschungen noch auf theoretische Abhandlungen beruft und sich daher in keiner Weise innerhalb der Forschungstradition zu diesem Thema situiert. Sartre weist die Quellen – falls es welche gibt – seiner Position nicht aus. So findet sich z. B. auch an keiner Stelle ein im Grunde zu erwartender Hinweis darauf, ob Sartre de Saussure zur Kenntnis genommen hat. Anders als in Das Sein und das Nichts wird die Sprache nun »als konstitutives Moment der Bewußtseins- und Persönlichkeitsbildung«54 betrachtet. Es gibt für den Biographen Flauberts keine Kluft zwischen Natur und Kultur (vgl. IF 1, 34, 40), in dem Sinne, daß man von einer wie auch immer gearteten Inkommensurabilität von Erleben und Sprache bzw. von Intuition und Diskursivität ausgehen könnte. Wir sind »zugleich natürliche Kultur und kultivierte Natur« (IF 1, 37). Diskurs und Erleben durchdringen und verwandeln einander gegenseitig: »(D)ie Sprache, das bin ich (moi), und ich (je) bin die Sprache« (IF 1, 20). Das Sprechen ist »eine unmittelbare und spontane erlebte Erfahrung«; und umgekehrt weist schon das unmittelbare Erleben eine verbale Struktur auf und ist »niemals frei von Wörtern« (IF 1, 37) – auch wenn diese mitunter »unangemessen« (IF 1, 37)55 sein mögen. Wenn diese Verschränkung so weitreichend ist, daß selbst das Schweigen noch ein verba53
Vgl. zum Verhältnis Sartres zu Lacan: WkL 157, SüS 171. Vor allem Frank, »Das Individuum in der Rolle des Idioten«, 93, Sevenich, ebd., 343, 348 f. und Wannicke, ebd., 134–147, betonen die Bedeutung Lacans für Sartres Flaubert-Studie. 54 Sevenich, ebd., 342. 55 Hinsichtlich der Verbalisierung von Affekten erweist sich Sartres Sprachtheorie als »extrem optimistisch« (Wannicke, ebd., 146). Selbst das von Sartre zugestandene Gefühl der Unangemessenheit des Ausdrucks gegenüber dem Gefühl ändert nichts an diesem Sachverhalt. Das heißt, »daß nichts existiert, was nicht einen Namen verlangt, nicht einen Namen erhalten kann und nicht sogar durch das Versagen der Sprache negativ benannt ist« (IF 1, 38).
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ler Akt ist (vgl. IF 1, 40), dann kann es nicht die Rolle des Wortes sein, »das Schweigen der Natur in eine artikulierte Sprache zu übersetzen« (IF 1, 37). Mit anderen Worten, es gibt keine vorsprachliche Welt, die erst nachträglich sprachlich erfaßt werden müßte: »(S)o weit wir auch in unserer Vorgeschichte zurückgehen, kann nichts der Sprache vorausgehen« (IF 1, 48).56 Sprachvermögen und Entwurfstruktur der menschlichen Existenz sind miteinander verschränkt: Die »Grundlage des Signifizierens« ist bei jedem Menschen »die lebendige Überschreitung des Erlebten« (IF 1, 152). Der erlebte Körper und die Sinnstruktur vermischen sich (vgl. IF 1, 56), ja die Person hat »durch sich selbst die Struktur eines Zeichens« (IF 1, 54, 152). So tendiert die empfundene Zuneigung von sich aus zur Verbalisierung; sie verlangt – weit davon entfernt, eine Entfremdung durch die sprachliche Artikulation fürchten zu müssen – nach der Vertiefung ihrer Realität durch die Sprache (vgl. IF 1, 38). Wenn jedes Wort auf die Idee, also auf die Vielfalt seiner möglichen Synonyme überschritten wird, dann ist die Naivität unmöglich, denn die Sprache ist für Sartre nicht trügerisch; »(S)ie ist ich, insofern ich am ehesten ich selbst bin, wenn ich am weitesten weg bin, bei den anderen und unter den Dingen« (IF 1, 21). Das Sprechen ist ein »Akt«, obwohl das Bezeichnetwerden dem Bezeichnen vorausgeht: »(D)er Sinn geschieht dem Sprechenden, die Sprachstrukturen drängen sich auf, aber nichts wird ihn daran hindern, sie auf seine Weise zu übernehmen, indem er bejaht, verneint, sich vornimmt, dieses mitzuteilen, jenes zu verschweigen« (IF 1, 41 f.). Zwar geht beim Auftauchen des Kindes in der Welt der Sprache nichts der Sprache voraus, dennoch ist das sprechende Subjekt nicht nur ein determiniertes Moment des Sprachsystems. Vielmehr geht es durch »praktische Selbstbehauptung« »von der gesprochenen Seele zur sprechenden Seele« (IF 1, 48) über.57 Ein Kind »ist für von außen kommende Sinngehalte durchlässig, weil es selbst sinngebend ist (in der Bedeutung der deutschen Phänomenologen)« (IF 1, 25). Tritt das Wort an das Ohr des Kindes, so ist es »Gegenstand der normalen Operationen: Aufnahme,
56
Dennoch ist sich Sartre völlig darüber im klaren, daß das Wort zunächst etwas Äußerliches ist: »Das Wort ist schon für sich allein eine fertige Vorstellung, weil es sich außerhalb von uns durch seine Differenzen zu anderen Wörtern im verbalen Gesamtkomplex definiert« (IF 1, 630). 57 Vgl. Sevenich, ebd., 349 f.: »Sartre zeigt am Fall Flaubert, daß die Rede sein kann von einem ›Gesprochenwerden‹ des Menschen durch die Sprache: Da ich mich immer nur über vermittelte Bedeutungen ausdrücken kann, bin ich der, als den mich die Sprache nennen läßt. Da ich nur spreche, indem ich mich gleichzeitig Sprachkonventionen unterwerfe, spreche ich nicht mich unmittelbar selbst«. Aber in Sartres dialektischer Sprachtheorie geht das Gesprochenwerden mit der Praxis, dem Sprechen, einher: »(D)er Mensch kann nur, insofern er spricht, ›gesprochen werden‹ – und umgekehrt. Es gibt da eine dialektische Beziehung, die man heute gern vergißt« (IF 4, 223, Fußn. 150).
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Übernahme, Einreihung in eine Wortreihe als permanente Möglichkeit des Subjekts«. Und all diese Operationen »geschehen von selbst, wenn das Kind schon Sprache ist, oder, wenn man lieber will, Sprache sein heißt diese Operationen ständig in sich wiederholen« (IF 1, 25). Gustaves passive Konstitution hält ihn, wie im folgenden deutlich werden soll, längere Zeit im »Stadium der gesprochenen Seele« (IF 1, 48) fest: Seine Passivität hat sich »(w)ährend der allerersten Jahre« konstituiert, und zwar »auf jener tiefen Ebene, auf der das Erlebte, der Signifikant und das Signifikat nicht voneinander trennbar sind« (IF 1, 52).58 Im Fall Gustave Flaubert liegt seiner Deutung zufolge das Problem vor, Wörter als Zeichen zu verstehen. Jedes, auch das ›normale‹ – d. h. valorisierte – Kind, muß »das materielle Gewicht der Vokabel«, »den einschüchternden Druck, den sie auf den Angesprochenen ausübt, mit einem Wort ihre magische Kraft« von ihrem »reinen signifizierenden Wert« differenzieren (vgl. IF 1, 19).59 Gustave dekodiert die Nachricht, aber aufgrund der fehlenden Evidenz überprüft er niemals ihren Inhalt. Zur gewöhnlichen prosaischen Sprachverwendung ist es erforderlich, das Zeichen zugunsten des Dinges zu annullieren bzw. den Sinn von den Tönen abzulösen, um ihn »auf die hypothetischen oder apodiktischen Modi beziehen zu können« (IF 1, 23). Steht das Individuum in einem passiven Verhältnis zur Sprache, dann bleibt die vermittelte Idee unablösbar vom Sprachkörper wie der affektive Ausdruck von den Tönen einer Melodie (vgl. IF 1, 22). Der Sinn selbst gerinnt sozusagen in der Materie des sprachlichen Zeichens, und es kommt zu einer Verwechslung von Zeichen und Bedeutung, bei der die materielle Präsenz des Zeichens bereits die Wahrheit der Bedeutung garantiert bzw. an die Stelle der fehlenden Evidenz rückt. Gustave erfaßt die Wörter von außen wie Dinge, insofern er anstelle von Evidenz und Praxis dem Autoritätsprinzip verpflichtet bleibt (IF 1, 26). Kurz, da die Nicht-Valorisierung durch die Mutter ihn passiv konstituiert hat, ist auch sein Verhältnis zur Sprache passiv: »Spracherwerb, Wirklichkeitserfahrung und schließlich auch Personalisation vermitteln sich durch die Sprache, d. h. durch die Sprache des Anderen, die zunächst die der Eltern, der ersten Bezugspersonen ist«.60 Gustaves Haltung zur Sprache, innerhalb der der Signifikant als gehörtes reales Faktum nicht von »der realen Existenz des
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Die blockierte Wahrheitsfähigkeit ist schon allein deswegen zwangsläufig mit einem Sprachproblem verflochten, da ein Denken ohne Wörter für Sartre ausgeschlossen ist (vgl. IF 1, 20). 59 Vgl. IF 1, 26: »(D)ie Vokabeln sind zunächst sinnliche Realitäten; ihre Verbindungen werden draußen hergestellt – Ereignisse, Sitten und Gebräuche, Institutionen –, der Sinn kommt an dritter Stelle, er ist das genaue Resultat der ersten beiden Phasen, das aber an sich beliebig ist«. 60 Sevenich, ebd., 349.
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Signifikats« (IF 1, 23)61 unterschieden ist, wird als ›Magie‹ qualifiziert, womit Sartre ein Denken meint, »das durch die reale Anwesenheit seines Zeichens gefangen und verbürgt ist, aber zugleich erdrückt wird« (IF 1, 23). Unschwer erkennt man in dieser Gegenüberstellung von praktisch-prosaischer und magisch-poetischer Sprachverwendung die Betrachtungen aus Was ist Literatur? wieder. Der Unterschied zu der früheren Schrift besteht allerdings darin, daß Poesie und Prosa nun eine Differenz innerhalb der außerästhetischen Sprache markieren. Der poetische Sprachgebrauch ist in der Flaubert-Studie keine literaturspezifische Kategorie.62 Aufgrund der Nicht-Valorisierung gestaltet sich für Gustave die Eingliederung in die Welt der Sprache und des Diskurses als kompliziert und lückenhaft.63 Sofern die »Liebe gibt, erwartet, empfängt« (IF 1, 152), bringt sie eine wechselseitige Beziehung hervor, dank derer ein Individuum zu Kommunikation und Praxis befähigt ist, eben weil dies von ihm gewünscht wird. Ein solches Individuum ist nicht nur signifiziert, sondern auch signifizierend. Seine inneren Regungen sind für ihn selbst kommunizierbar. Fehlt dagegen die Liebe, dann kommt es zu keiner »wechselseitigen Bezeichnung« (IF 1, 152),64 und »das Kind [ist] Signifikat, ohne Signifikant zu sein« (IF 1, 152). »(M)an signifiziert ihm, was er ist« (IF 1, 153). 61
In einem Interview hat Sartre seinen Gebrauch der Begriffe ›Signifikat‹, ›Signifikant‹ und ›Signifikation‹ erläutert: »Ich definiere meine Sprache, die nicht notwendig die der Linguisten ist: dieser ›Stuhl‹ ist der Gegenstand, also die bezeichnete Sache [signifié]: sodann gibt es die Bedeutung [signification], das ist der logische Komplex, der durch Wörter konstituiert werden wird, die Bedeutung eines Satzes. Wenn ich sage ›dieser Tisch ist vor dem Fenster‹, so visiere ich eine bezeichnete Sache [signifié] an, die der Tisch ist, durch Bedeutungen [significations], die der Komplex der konstituierten Sätze sind, und ich betrachte mich selbst als Zeichenträger. Die Bedeutung [signification] ist das Noema, das Korrelat des Komplexes der hervorgebrachten vokalen Elemente […]. (D)ie Artikulation der Zeichenträger [signifiants] ergibt die Bedeutung [signification], die ihrerseits die bezeichnete Sache [signifié] anvisiert […], das alles auf Grund einer ursprünglichen Zeichenstiftung« (WkL 99). 62 Sartres Darstellung des Stadiums der ›gesprochenen Seele‹ zeigt deutliche Parallelen zu der von Piaget beschriebenen frühen Phase der kindlichen Entwicklung, in der »der Bedeutungsträger mit dem bezeichneten Gegenstand, das Denken mit dem Ding, an das man denkt, vermengt« wird (Das Weltbild des Kindes, 62). 63 Die Einfältigkeit Gustaves hat ihren Ursprung in der fehlenden Anerkennung, und umgekehrt erhält auch Achille, der ältere Bruder nicht deswegen das Vertrauen der Eltern, weil er intelligent ist, sondern er ist intelligent, weil er von Anfang an als ›Kronprinz‹ valorisiert wurde (vgl. IF 1, 116, 119). 64 Vgl. SG 70: »Die guten Leute geben die Namen, und die Dinge tragen sie. Genet ist auf der Seite der benannten Gegenstände, nicht auf der Seite derer, die sie benennen. Natürlich sind auch die anständigen Leute füreinander Gegenstände: man gibt mir Namen: ich bin dieser blonde Brillenträger, dieser Franzose, dieser Professor. Aber wenn ich benannt werde, benenne ich meinerseits. Benennend und benannt lebe ich also in der Wechselseitigkeit«.
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»So geschieht ihm die Sprache also von außen: die signifizierende Überschreitung ist die Operation des Anderen und vollendet sich durch eine Signifikation, die es von außen bestimmt […]; die Wörter sind Dinge, die der Fluß des Erlebten mit sich trägt; es wird viel Mühe haben, aus ihnen die lebendigen Instrumente seiner eigenen Überschreitung auf die Außenwelt hin zu machen, und das wird ihm niemals ganz gelingen, weil es von der mütterlichen Pflege passiv gemacht worden ist und weil Überschreitung und Entwurf – seine permanenten Handlungsmöglichkeiten – von Anfang an mit Stillschweigen übergangen worden sind. Sprechen ist Handeln; weil es erleidet, zwingt man ihm Namen auf, die es erlernt, ohne sich in ihnen wiederzuerkennen, das heißt: ohne sie für sich zu übernehmen« (IF 1, 152).65 Insofern die Sprache ihrem Wesen nach die »unauflösbare Wechselseitigkeit der Menschen« (IF 1, 21) ist, Gustave sich aber infolge seiner Konstitution nicht zu einer solchen Wechselseitigkeit aufschwingen kann, hat er Herren, aber keine Gesprächspartner (vgl. IF 1, 154).66 Für ihn ist die Bezeichnung der Gegenstände durch die Wörter – jene »Quartiermacher des Fremden« (IF 1, 153) – nicht sein eigenes Unternehmen, sondern eher eine »Unterwerfung«. »Seine Eltern zwingen ihn manchmal, sich mit den Zeichen zu bezeichnen, die sie ausgewählt haben: sag der Dame guten Tag, sag ihr, wie du heißt; wo tut es dir weh« (IF 1, 26). Wörter sind für ihn durch das Fehlen der praktischen Intention eher »Imperative als Aussagen« (IF 1, 23) – ein Geschenk, an das man glauben muß: »Die Sätze der Anderen behaupten sich in ihm, aber nicht durch ihn« (IF 1, 49). Wenn die Sprache ›von außen‹ erlebt wird und nur unter großen Schwierigkeiten die Wörter zu Instrumenten des Handelns werden, dann wird verständlich, warum Gustave die Welt zunächst nicht erkennt: Aufgrund fehlender Mutterliebe ist bei ihm der Prozeß blockiert, in dem ein Kind einen Namen auf einen Gegenstand anwendet und hierbei »die Benennung [nomination] mit der Entdeckung des Seins« (IF 1, 153) identifiziert. Ohne Valorisierung keine Evidenz und Praxis und damit primär kein prosaisches, sondern ein poetisches Sprachverhältnis – auf diese schematische Weise ließe sich Sartres Gedankengang zusammenfassen. Kommunikation und Erkenntnis beruhen nach Sartre auf einer vorherigen Anerkennung durch den Anderen, durch den das Individuum erst den 65
Umgekehrt gilt: »Man ist nicht wirklich einsam, solange die eigenen Gedanken mitteilbar sind« (SG 914). 66 Gustave haßt die soziale Wechselseitigkeit und lehnt aus diesem Grund auch als Erwachsener jegliche egalitaristischen Staatskonzeptionen wie Demokratie oder Sozialismus radikal ab (vgl. IF 1, 339). Er sehnt sich nach Hierarchien, da nur ein höhergestelltes Wesen seine Existenz rechtfertigen kann (vgl. IF 1, 339 f.): Mit anderen Wort, der ›Schlechtgeliebte‹ will der Vasall sein, der sich einem anbetungswürdigen Herrn in rückhaltloser Ergebenheit unterwirft, um der Kontingenz zu entrinnen (vgl. hierzu auch IF 2, 417).
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voll entwickelten Subjektstatus erlangt. Und da der Andere als derjenige auftaucht, der mich beurteilt, mich bejaht oder ablehnt, geht dieser Aspekt des Sozialverhältnisses dem Bereich der Verständnisorientierung bzw. der »auf gültiges Einverständnis abzielende(n) Kommunikation«67 voraus, an der Habermas gelegen ist. Wenn Kommunikation wie bei Habermas als ein »Prozeß der gegenseitigen Überzeugung« zu verstehen ist, »der die Handlungen mehrerer Teilnehmer auf der Grundlage einer Motivation durch Gründe koordiniert«,68 dann ist diese subjektkonstituierende Verständigung, wie sie sich in der primären Intersubjektivität vollzieht, im strengen Sinne keine Kommunikation, aber nach Sartres Darlegungen ist deutlich geworden, daß sie den Bereich der Kommunikation eröffnet und fundiert.69 Mit dem linguistic turn geraten die fundierenden Ereignisse der sozialen Begegnung, die das Verhältnis der Verständnisorientierung erst ermöglichen, aus dem Blick. Der Andere, so muß von Sartre ausgehend festgehalten werden, wird erst zum Kommunikationspartner, wenn er nicht als bloßes Objekt erfaßt, sondern als Subjekt valorisiert wird. Insofern jegliche Kommunikation den valorisierenden Blick voraussetzt, ist sie angewiesen auf diese fundierende Ebene. Ohne jenen ›wohlwollenden Blick‹70 habe ich nicht nur keine Kommunikationsrechte, sondern weitergehend auch gar nicht das Vermögen zur wechselseitigen Kommunikation.71 Während der »derealisierende Blick« (IF 2, 280) uns ins Imaginäre stürzen läßt, verleiht der wohlwollende Blick uns Realität und Praxisfähigkeit (vgl. IF 2, 425).72 67
Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns I, 525. Habermas, ebd., 525. 69 Anders als Wannicke glaubt (ebd., 100), ist für den späten Sartre nicht mehr nur die Literatur die Möglichkeit von Wechselseitigkeit und Kommunikation. 70 De Beauvoir, ebd., 336, 337. 71 Vgl. Olschanski, ebd., 403: »(I)ndem die affektiv zugewandte, zuverlässige Betreuung dem Kind eine zwang- und angstfreie, evaluativ positive Selbstbeziehung ermöglicht, befähigt sie es, in herrschaftsfreie und gleichberechtigte Anerkennungsverhältnisse einzutreten«. 72 Lippitz’ Kritik beruht auf dem Mißverständnis, Sartre verstehe Flauberts frühkindliche Misere nicht als mißlingende Primärsozialisation, sondern ganz im Gegenteil als deren Norm. So lautet dann der Vorwurf, Sartre stilisiere, »einen Sonderfall der Sozialität zum Normalfall hoch« (»Das Werden eines Ich«, 230). Lippitz bezweifelt, ob der Körper des Kindes wirklich nur, wie Sartre seiner Ansicht nach meint, ein »Objekt der Pflege« (ebd., 228) ist. Für den französischen Philosophen sei die Spontaneität und Freiheit des Subjekts angeblich »vorsozialer Natur« (ebd., 229) und daher letztlich unberührbar durch die Sozialität. Dies geht einher mit dem Mißverständnis, daß die Personalisation die Konstitution schlichtweg ausschaltet (ebd., 227), insofern als die Genese einer Subjektivität sich bei Sartre als »Absetzbewegung von der Sozialität« (ebd., 229) herausstellt. Lippitz zufolge behauptet Sartre, daß das Kind »keinen Anhalt und Stütze in einer sozialen Welt« (ebd., 229) finde, so als ob im ersten Band der Flaubert-Studie keinerlei Rede von der subjektund praxiskonstituierenden Wirkung der Valorisation sei. Lippitz folgert daher: »Eine Ge68
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Aber auch jenseits der Primärbeziehungen bleibt jede Kommunikation auf den valorisierenden Blick angewiesen: Wozu dienen mir die plausibelsten Argumente, die ich vorbringen könnte, wenn der Andere mich gar nicht als Gesprächspartner anerkennt, d. h. überhaupt gar nicht erst für Argumente offen ist. Kann ich gegenüber dem Anderen ein Argument dafür angeben, warum er meine Argumente als Infragestellung seiner Position ernsthaft in Erwägung ziehen sollte? So fragt etwa Polemarchos in Platons Politeia den Sokrates, ob er Leute überzeugen könne, die sich der argumentativen Auseinandersetzung schlichtweg verweigern.73 Hier geht es um eine Dimension der Intersubjektivität, die der Prozeß der Verständnisorientierung nicht einholen kann, da er vielmehr erst durch diese bedingt ist. Diese Stufe, die eine Theorie des kommunikativen Handelns überspringt, kommt gegenüber der Kommunikation nicht nur ein Eigenrecht, sondern, wenn man Sartre beim Wort nimmt, auch ein Vorrecht zu. Ob eine Interaktion zu universalisierbaren Ergebnissen kommt, unterliegt darum immer kontingenten Faktoren: Valorisierung ist eher die Bedingung und nicht das Produkt der Universalisierung. Ohnehin gerät, wie Waldenfels bemerkt, die Position allgemeingültiger Normen spätestens hier an eine Grenze, da sich emotionale Ansprüche gerade nicht universalisieren lassen: »Ansprüche, die in der Erfahrung auftreten, bleiben auf eine Weise asymmetrisch und irreversibel. Denn die Vergleichbarkeit entsteht erst, wenn ich aus der Anspruchssituation heraustrete und die Position eines Dritten einnehme, der Interessen schlichtet, Verträge schließt und Gleichheitsforderungen erhebt. Das Unvergleichliche ist und bleibt vorausgesetzt, selbst wenn es als solches verkannt wird. […] Elementare Ansprüche, Anforderungen und Anreize, wie sie etwa im Bereich von Eros und Freundschaft auftreten, lassen sich nicht universalisieren und totalisieren, da sie weder Form eines allgemeinen Gesetzes noch Teil eines Lebensganzen sind. […] So ist die mangelnde Zuwendung beklagbar, aber nicht einklagbar, es sei denn, sie sei schon eingefügt in einen bestimmten Aufgaben- und Lebensbereich wie Beratungsstelle, Nothilfe oder Fürsorgepflicht, doch dann haben wir es schon wieder mit Pflichten und Normen zu tun, die selber auf partieller Abwendung und Abschließung beruhen«.74 Nicht nur die fehlende Mutterliebe, sondern auch spätere Begegnungen der Nicht-Anerkennung führen zu einer Irrealisierung des Subjekts. So erklärt Sartre, daß in jedem Fall der »Ruf des Anderen« die »Realität einer Liebe« ausmacht (SG 512). Nur die erwiderte Liebe ist für Sartre eine wahre Lienealogie des Ich durch die Sozialität […] scheint außerhalb der Denkmöglichkeiten Sartres zu liegen« (ebd., 229). 73 Platon, Politeia, 327c. 74 Waldenfels, »Die Herkunft der Normen aus der Lebenswelt«, 146.
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be: »(S)ie ist ein Unternehmen zu zweit, bei dem das Gefühl eines jeden die Substanz des Gefühls des anderen ist […]; die Liebe, die der andere mir entgegenbringt, ist die Wahrheit meiner Liebe: bleibt meine Leidenschaft allein, wird sie Kult oder Phantasmagorie« (SG 512; vgl. SG 817). Wenn »die Liebe ihre Wahrheit im Blick des anderen findet« (SG 513), so macht nach Sartre die Gleichgültigkeit des Geliebten bzw. die Verweigerung der Wechselseitigkeit »die Liebe imaginär« (SG 513). Jede Zurückweisung der Wechselseitigkeit stellt eine »Nicht-Sozialisierbarkeit« dar, aus der die »Verbannung in sich selbst« (IF 2, 261) folgt. Dieselbe Wirkung entfalten nach Sartre auch solche Situationen, die die Praxis unmöglich machen. In jedem Fall ist es die Ohnmacht, die den Menschen irrealisiert: »(E)s gibt Situationen, die man nur erdulden kann, aber erdulden ist unmöglich, weil sich der Mensch durch das Handeln definiert; wenn das Handeln durch die Welt unterdrückt wird, verinnert und irrealisiert es sich, wird es gespielt; zur Ohnmacht verurteilt, wird der Handelnde Schauspieler« (SG 539). Sartres erweiterte Blicktheorie in Der Idiot der Familie ist nicht lediglich ein bloßer Gegenpol zur Auffassung der Sozialbeziehung als Kommunikation, sie leugnet – anders als es in Das Sein und das Nichts erscheinen mag – nicht die Möglichkeit der gelingenden Wechselseitigkeit und Kommunikation, aber sie erfaßt sie als fundiert in bestimmten Weisen des Blickens. Während Honneths Diktum, Sartres Blickanalyse sei im Grunde die Leugnung der Möglichkeit gelingender Kommunikation,75 für das philosophische Hauptwerk noch plausibel erscheinen mag, wird spätestens in Was ist Literatur? deutlich, daß Sartre weit davon entfernt ist, das Ideal einer zwanglosen Verständigung in Abrede zu stellen: Seine Darstellung des Autor-Leser-Verhältnisses entspricht einer idealen Kommunikationssituation, in der eine wechselseitige Anerkennung der Freiheit der Teilnehmer vorliegt und welche zudem das hehre Ziel verfolgt, die Freiheit auch in der faktischen Welt zu realisieren. Engagement versteht Sartre vor allem als Kommunikation, und sein Hauptvorwurf an die Adresse Baudelaires, Flauberts und der Surrealisten besteht letztlich darin, daß sie mit ihren Lesern nicht kommuniziert haben. Und entgegen dem pessimistischen Eindruck, den seine frühe Intersubjektivitätslehre erweckt, erklärt er programmatisch: Ich »mißtraue […] dem Unkommunizierbaren, das ist die Quelle jeder Gewalt« (WiL 217). Am deutlichsten kommt diese Überzeugung in einem Gespräch aus den siebziger Jahren zum Ausdruck, in der sich erneut der Gegensatz von Autorität, Irrealität und An-sich-für-sich auf der einen, und Kommunikation und Praxis auf der anderen Seite zeigt: »In der Tat ist das Schweigen insofern reaktionär, als es Weigerung, zu kommunizieren, ist, der Wunsch, aus Stein zu sein, an-und-für-sich zu sein, ein Seiendes zu sein, das wie eine Statue ist, das nicht antworten kann, weil es 75
Vgl. Honneth »Kampf um Anerkennung«, 166.
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das Schweigen in ihm ist, aber ein kompaktes, volles, steinernes Schweigen. Der Mensch aus Stein antwortet nicht. Und Schweigen ist genau das. Ein Vater zum Beispiel, der seinen Kindern nicht antwortet, wenn sie mit ihm sprechen, ist wirklich jemand, der sich als Vater setzt: ein Vater braucht seinen Kindern nicht zu antworten, er braucht nur seine Wünsche oder seine Begierden oder seine Befehle auszusprechen. Schweigen ist genau das. Die Kommunikation dagegen schließt notwendig Wahrheit und Fortschritt ein […]. Das gehört zusammen. Und es ist natürlich, Vertrauen in die Sprache zu haben […]. Es ist natürlich, beim Wort genommen zu werden, denn die Sprache trägt Wahrheit in sich. Daher kann man ja übrigens auch lügen, eben weil man die Sprache als wahrheitsträchtig ansieht« (SF 40 f.). Sartre zufolge ist »jede Sprache ein Recht auf den Anderen«, und »jeder Satz, selbst der rein informative Satz« fügt sich »als Frage, Aufforderung, Gebot, Annahme, Ablehnung usw. in das nicht endende Gespräch« ein, »das die Menschen seit Jahrtausenden führen« (IF 2, 26). Das bedeutet, »daß auf jede Bitte geantwortet wird, und sei es durch Schweigen, daß zwei x-beliebige Personen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, wenn sie zusammentreffen, ständig dialogisieren, auch wenn sie verbissen schweigen, weil sie ja notwendig, selbst in der vollständigsten Unbeweglichkeit, sehend und sichtbar sind, total signifizierend und total signifiziert« (IF 2, 26).
8. 4. Schauspielerei als Folge der Passivität Der passiv konstituierte Mensch ist für Sartre jemand, der nur existiert, wenn und solange er gesehen wird.76 Insofern die Nicht-Valorisierung ihn irrealisiert hat, kommt ihm nur durch die Anderen Realität (vgl. IF 2, 413) zu. Er versichert sich dessen, was er spürt, indem er es vorführt und in einem Gemisch aus Auslieferung und Erpressung die Zustimmung der Anderen erwirbt (vgl. IF 2, 29).77 Und gerade in diesem Vorgehen erblickt Sartre den Prototyp passiven Handelns, dessen Struktur er folgendermaßen charakterisiert: »Auf sich selbst einwirken, um auf die Anderen einzuwirken: für die Anderen ein bewegendes Schauspiel werden« (IF 2, 30). Hieraus resultiert bei Flaubert ein Vorrang des Objekts, das er für die Anderen ist, vor dem Subjekt, das er für sich ist.78 In einer Haltung, die als »Repräsentation« 76
Vgl. die Erörterungen zur Irrealität realer Menschen im folgenden Kapitel. Die Sprache wird imaginär, insofern der Satz ›ich leide‹ keine reale Information vermittelt, sondern »wie der Titel eines Gemäldes lediglich über das dargebotene Bild Auskunft« (IF 2, 30) erteilt. 78 Genauso verhält es sich auch bei dem zurückgewiesenen Waisenkind Jean Genet. Wie Gustave hält Genet das, was er für die Anderen ist, für die Realität und das, was er für sich ist, für einen Schein. Er opfert die innere Gewißheit dem Autoritätsprinzip. Insofern 77
Schauspielerei als Folge der Passivität
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(IF 1, 158) qualifiziert wird, spiegelt alles, was er tut, »den Anderen, was diese möchten, daß Gustave sei, oder was Gustave für sie sein möchte – zwei Ziele, die manchmal im Gegensatz zueinander stehen und manchmal eins sind« (IF 1, 158). Durch sein Spiel fordert er die Anderen auf, mit ihm zusammen »die Figur zu erfinden, die er in Form eines ego verinnert« (IF 1, 175). Von einem Erfolg dieses Unternehmens läßt sich dann reden, wenn er »sich durch die Begeisterung der anderen davon überzeugen [läßt], daß der Darsteller und seine großartige Figur eins sind und immer waren« (IF 1, 159). Gustave fordert die Anderen also genaugenommen auf zu leisten, was der Leser für den Schriftsteller leistet: »(I)ch kann nicht weitergehen, führt doch bitte die Arbeit zu Ende; euer Blick möge das unrealisierbare Bild, das ich für mich bin, in die reale Totalität verwandeln, die ich durch und für mich bin« (IF 2, 124).79 Er spielt das brave Kind, und sobald er glauben kann, daß die Anderen ihn für ein braves Kind halten, glaubt er es ebenfalls. Wenn ihn die anderen als die Person behandeln, die er gespielt hat, dann gewinnt er »außerhalb seiner in der Dimension des Anderen das objektive Sein […], das er ist, aber für sich selbst nicht realisieren kann« (IF 2, 31). Der einzige Weg, ›real‹ zu sein, liegt darin, daß der Andere seiner Vorführung glaubt. Da jedoch das Verhalten des Anderen undurchschaubar ist, kann er nur glauben, daß man ihm glaubt. Um dieses Seins, das er vor den Anderen spielt, als einer Wahrheit innezuwerden, wird Gustave schließlich versuchen, »sich mit ihren Augen zu beobachten« (IF 1, 158).80 Aufgrund seiner passiven Konstitution ist ihm sein eigenes Ego eher als Objekt des Glaubens und weniger als ein Korrelat der Reflexion gegeben,
er seine Evidenz für Lügen und die Hypothesen der Anderen für Gewißheiten nimmt, bezeichnet Sartre ihn als einen umgekehrten Descartes (vgl. SG 62). 79 Einige Beispiele seien hier stellvertretend für viele, die Sartre erörtert, erwähnt. In einem Brief an Louise Colet vom 13. 8. 1846 schreibt Flaubert: »Sag mir, wie ich Dir erscheine, in welcher Weise steht mein Bild vor Deinen Augen?« (zit. n. IF 2, 126). Vor den Seeleuten im Hafen spielt Flaubert den ›Kerl‹ – auch hier handelt es sich um ein Bild, das andere unter seiner Anleitung realisieren sollen, weil er es selbst nicht kann. Auch der Geschlechtsverkehr mit seiner Geliebten Louise Colet ist nach Sartre irrealisiert: Denn Flaubert ist »nur durch sein eignes Bild erregt, das zu realisieren er Louise zwingen will: in ihr macht er sich zum Lehnsherrn der Lust, zum Stier. Aber in der dritten Person, während seine Selbstheit versucht, in der erlebten Intimität seiner Geliebten, die ›ganz von Sinnen ist‹ aufzugehen« (IF 2, 128). 80 Sevenich erblickt hierin eine deutliche Parallele zu Lacan, für den das Ich ebenfalls eine »imaginäre Konstruktion« darstellt, eine »Fiktion, mit der man sich nachträglich identifiziert. Es geht demnach nicht auf Identitätserfahrung im klassischen Sinne zurück, sondern auf Identifikation mit der Person, die durch eine soziale und familiäre Designation konstituiert wird« (ebd., 348). Für Sartre, so läßt sich hinzufügen, ist die Selbsterkenntnis eine Schauspielerei vor sich selbst. Das Erkannte ist ein Objekt, eben das, was man für die Anderen ist (vgl. IF 3, 928).
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welche Sartres Ansicht nach dem Bereich der Erkenntnis zugehört. Ohne Reflexion und Wissen bleibt nur der Glaube, die Komödie bzw. die Notwendigkeit, »eine Rolle zu spielen« (IF 1, 172). Gustave ist der Schauspieler seiner selbst, weil er verurteilt ist zu glauben, ohne zu wissen. Er will sich so sehen, wie ihn die Anderen sehen, »weil er sein Anderer-sein für seine Wahrheit hält« (IF 1, 279).81 Selbst wenn die Umstände ihn zwingen, so wird aus Flaubert kein praktisch Handelnder, sondern vielmehr spielt er die Rolle des praktisch Handelnden gegen die konstitutierte Passivität; er kann nicht handeln, ohne zu übertreiben (vgl. IF 4, 65).82 Bevor er etwas fühlt, drückt er sich aus, »dann spielt er zu fühlen, was er ausdrückt« (IF 1, 172). Ein Gelingen liegt dann vor, wenn er wie der Schauspieler sein Publikum ›ansteckt‹: »(S)eine Liebe ist jetzt durch den Anderen imperativ in ihm bezeichnet; also existiert sie, sie ist bestätigt« (IF 1, 174). Jedoch darf ein wesentlicher Unterschied zwischen diesem Kind und dem Schauspieler nicht übersehen werden: Der Schauspieler braucht »das Publikum, um jener Hamlet zu sein, den er darstellt: allerdings weiß er genau, daß er es nicht ist« (IF 1, 175). Bei Flaubert liegt der Fall jedoch etwas anders: »Das Kind weiß nicht, daß es spielt, noch daß das ausgedrückte ego ihm kaum gehört« (IF 1, 175). Die Manifestationen sollen die Realität seiner Gefühle beweisen, aber dieser Ausweg verschlimmert nur die Krise: »(E)s ist ein Kampf gegen die konstituierte Irrealisierung durch eine noch tiefere Derealisierung« (IF 2, 29). Indem er sich irrealisiert, um das Bild eines realen Zustands zu konstituieren, vergrößert sich infolge dieser »Verkörperungszeremonie« (IF 2, 31) die Distanz zwischen Erleben und Ausdruck noch mehr: »(E)r will seine Realität auffangen – die in den Händen der Anderen ist –, um sie an und für sich zu sein, aber da sie niemals mit dem Erlebten übereinstimmt, erweist sich die Verkörperung zugleich als notwendig und als unmöglich, fühlt sich das Kind zutiefst irreal« (IF 2, 31). Das Kind ist »der Schauspieler seiner selbst«, und sein Erleben ist unwesentlich und »realitätslos« (IF 2, 31), da es nur dazu dient »in bearbeiteter Form der öffentlichen Vorführung seiner Figur zu
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»(N)ichts von dem, was ihm zustößt, ist wahr, bevor es von einem anderen geglaubt wird; indem Caroline seinen Erzählungen zuhört, verleiht sie ihnen eine Wahrheit« (IF 2, 86). 82 Gustave tut sich als Jurastudent schwer, er versteht nichts, weil er die Praxis ablehnt. Sein Lernprozeß besitzt nicht die Struktur des Handelns, sondern er besteht aus die »Praxis instituierende(n) Gesten«, insofern er die Rolle des Studenten spielt: erdulden, sitzen bleiben, nicht woanders hinsehen (vgl. IF 3, 1095). Aber selbst die Verneinung der Aktivität ist noch eine Aktivität bzw. eine Überschreitung (vgl. IF 4, 122). Da ›leben‹ für Sartre heißt, das Gegebene »durch subjektive Strukturen verinnern« (IF 4, 141), kann die menschlicheRealität paradoxerweise nur passiv sein, indem sie sich passiv macht (vgl. IF 3, 1089). Der Entwurfcharakter bzw. die Verzeitlichung ist unentrinnbar, weil er eine existentielle Struktur ist (vgl. IF 4, 123).
Die Wechselseitigkeit als ursprüngliches Verhältnis zum Anderen
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dienen« (IF 2, 31). Insofern seine Emotionen von Zeugen instituiert werden müssen, scheinen sie nur empfunden zu werden, »um dargestellt zu werden« (IF 2, 28). Indem die Wechselseitigkeit bzw. die Kommunikation durch die Vorführung ersetzt wird, fehlt einer solchen Sozialbeziehung »das ›Du‹ als Kennzeichen der Wechselseitigkeit« (IF 2, 125).
8. 5. Die Wechselseitigkeit als ursprüngliches Verhältnis zum Anderen Der frühe Sartre versteht die objektivierende Sozialbeziehung als Norm bzw. als ontologisches Schicksal. Wenn der späte Sartre nun Flauberts objektivierende Sozialbeziehungen – und zwar aufgrund ihres ausschließlich objektivierenden Charakters – als pathologisch proklamiert, so muß er zweierlei zugestehen: 1. daß es nicht-objektivierende Sozialbeziehungen gibt und 2. daß diese die Norm der Sozialbeziehung darstellen. Sartre ist diesen Ansprüchen dadurch gerecht geworden, daß er zumindest in Ansätzen einen valorisierenden Blick skizziert, der eine subjektkonstituierende Wirkung entfaltet und das Objekt der Pflege zu einem Kommunikationspartner generiert. Einerseits ist die Wechselseitigkeit abhängig vom ›wohlwollenden Blick‹, der als Aufruf zur Wechselseitigkeit zu verstehen ist, andererseits ist bei Sartre die Tendenz deutlich, das soziale Verhältnis nicht länger dem Subjekt-Objekt-Verhältnis – dem die Blicktheorie genaugenommen ja verpflichtet bleibt – unterzuordnen: »(D)ie grundlegende Beziehung zwischen den Menschen ist, sosehr sie auch verschleiert, pervertiert, entfremdet, verdinglicht sein mag, die Wechselseitigkeit« (IF 2, 178).83 Der ›wohlwollende Blick‹ objektiviert nicht, er konstituiert sein Gegenüber zwar, aber paradoxerweise nicht als Objekt, sondern als Subjekt. Es gibt also nicht nur die Schauspielerei, jenes Handeln, das vermittels der Objektivierung vor dem Blick des Anderen der Identitätsbildung 83
In der Genet-Studie erklärt Sartre, warum wir in den meisten Lebensbereichen »weder ganz und gar Objekte noch ganz und gar Subjekte« (SG 916) sind: »Wenn wir alle, in vollkommener Gleichzeitigkeit und Wechselseitigkeit, zugleich Objekte und Subjekte sein könnten, die einen für die anderen und die einen durch die anderen, oder wenn wir gemeinsam in einer objektiven Totalität versinken könnten oder wenn wir, wie im Kantschen Reich der Zwecke, niemals etwas anderes als Subjekte wären, die sich als Subjekte anerkennen, fielen die Trennungen fort; aber man kann nicht bis zum äußersten gehen, weder in der einen noch in der anderen Richtung: wir können nicht alle Objekte sein, es sei denn für ein transzendentes Subjekt, und wir können auch nicht alle Subjekte sein, es sei denn, wir unternähmen zuerst die unmögliche Auflösung jeder Objektivität; was die absolute Wechselseitigkeit betrifft, so ist sie durch die historischen Klassen- und Rassenbedingungen, durch die Nationalitäten, durch die gesellschaftliche Hierarchie verdeckt; ein Chef ist für seine Untergebenen niemals Objekt, oder er ist verloren; für seine Vorgesetzten ist er selten Subjekt« (SG 915 f.).
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8. Realisierende oder irrealisierende Konstitution des Subjekts
dient, sondern auch die Kommunikation, innerhalb der sich die Menschen wechselseitig als Subjekte gegenüberstehen. Allerdings besteht Flauberts Pathologie nicht nur in seiner Unfähigkeit zur Kommunikation, sondern Sartre bezeichnet auch den Prozeß seiner Selbstkonstitution im Blick des Anderen als pathologisch. Damit ist er nun die Antwort schuldig, warum Flauberts Verhalten auch im Bereich der Schauspielerei bzw. der Objektivierung defizitär ist, wenn doch ebenfalls die Identität des praktischen Menschen sich nur durch Selbstinszenierung und Angeblicktwerden verwirklicht.84 Flauberts soziale Handlungsweisen, die einem solchen Menschen eignen, der aufgrund einer mißlungenen Primärsozialisation nur einen reduzierten Subjektstatus entwickelt, waren für den frühen Sartre die Norm und keine Aberration. Sie stellten schlichtweg das Charakteristikum der conditio humana dar – jenes Seienden, das nicht sein kann wie die Dinge, sondern spielen muß, um zu sein und hierfür auf den objektivierenden Blick des Anderen angewiesen ist. Sobald der Andere mein Schauspiel anerkennt, wird das subjektiv Irreale zum objektiv Irrealen – wie das Kunstwerk durch den Leser objektiviert wird, ohne seinen irrealen Status zu verlieren. Wenn Flaubert aber nur tut, was jeder tut, verschwindet seine pathologische Besonderheit, weil sie auf jede menschliche Existenz zutrifft. Aber dann würde auch das valorisierte Kind sich wie Gustave verhalten, und die beschriebene defizitäre Säuglingspflege würde zugunsten einer invarianten ontologischen Bestimmung jegliche Erklärungskraft verlieren. Einen Hinweis auf eine mögliche Rechtfertigung des Sonderstatus Flauberts bietet die folgende Passage, in der genauer hervorgehoben wird, worin dessen Mangel besteht. Bei jedem Menschen, so erklärt Sartre in Anlehnung an seine frühe Schrift »Die Transzendenz des Ego«, ist das Ego »eine Bestimmung der Psyche« (IF 1, 177, Fußn. 27).85 Seiner Ansicht nach sind nun »bei den meisten von uns« Passivität und Aktivität bezüglich der Selbsterkenntnis im Gleichgewicht: Wir sind also sowohl Akt als auch Komödie bzw. Reflexion und Für-Andere-sein. Die Konstitution des Ego beruht auf einem »Sehen und Schwören« (IF 1, 177, Fußn. 27).86 Es gibt grundsätzlich zwei Informationsquellen der Selbsterkenntnis (vgl. SG 56). Unser »innerster Sinn« bzw. die Reflexion ermöglicht Erkenntnisse, die sich in Aussagen des folgenden Typs formulieren lassen: »Ich bin glücklich«; »Diese Person ist mir ange84
Vgl. SG 594: »(S)ind wir Richter, Abgeordnete, Ärzte, oder spielen wir, es zu sein? Der dickste Teig enthält eine Hefe aus Imaginärem«. 85 Sartre teilt eigenen Aussagen zufolge immer noch die Auffassung zur Psyche in seiner frühen Philosophie (WkL 157). 86 Das Sehen bezieht sich auf die Gegebenheiten des reflektierten Bewußtseins; geschworen wird Sartre zufolge dort, wo ich über diese Gegebenheiten hinaus eine Hypothek auf die Zukunft übernehme und die Permanenz dieser Gegebenheiten behaupte. Der Charakter ist für Sartre ein solcher Eid (vgl. IF 1, 177, Fußn. 27; s. bereits TE, II, A u. C).
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nehm«; »Ich habe Lust, dieses oder jenes zu tun« usw. Die Möglichkeit der Komödie taucht nicht auf der Ebene der Reflexion, sondern auf der Ebene des Für-Andere-seins, also der anderen Quelle der Selbsterkenntnis auf, in der »die äußere Wahrnehmung des Zeugen« (SG 57) sprachlich oder über die Interpretation von Gestik und Mimik vermittelt wird. Hier geht es um »die Einverleibung äußerer Eigenschaften – die nur dem Anderen zugänglich sind – und ihre Integration in dasselbe, mitten in der Immanenz transzendente Ich« (IF 1, 176). Beide Informationsquellen können sehr stark voneinander divergieren, so wie z. B. bei dem Kind Jean Genet, das den Diebstahl prinzipiell verurteilt, ihn aber nicht in den eigenen Handlungen wiedererkennt (vgl. SG 31). Eine gegenseitige Korrektur hält Sartre keineswegs für ausgeschlossen (vgl. SG 56). Da die reflexive Evidenz mich nicht lehren kann, als was der Andere mich sieht, vermag ich nur dank der Sprache von jenen Eigenschaften zu »wissen« (IF 1, 177, Fußn. 27), die ich für den Anderen besitze. An dieser Stelle von ›Wissen‹ zu reden, ist allerdings nicht stimmig, wenn das Wissen an die Evidenz gebunden ist. Denn diese ist allein schon deswegen ausgeschlossen, weil der Standpunkt des Anderen aufgrund seiner Andersheit mir nicht gegeben sein kann. Sartre selbst betont in dieser Textpassage: Das Ego ist »erfüllt von fremden Bestimmungen, die wir in ihrer abstrakten Bedeutung erfassen, aber nicht sehen können, denn sie können nur den Anderen erscheinen« (IF 1, 177, Fußn. 27). Damit müßte gegen Sartre festgehalten werden, daß die Möglichkeit der Evidenz und damit auch des Wissens wegfällt. Ich kann also an jene Eigenschaften, die der Andere mir vermittels der Sprache zuschreibt, nur glauben. Woher sollte ich auch wissen, ob der Andere wahrhaftig ist oder lügt? Indem ich die Bestimmungen meines Ego, die der Andere sprachlich artikuliert, zur Kenntnis nehme, verlasse ich den Bereich der Reflexion: Ich erinnere mich z. B. an meine Verhaltensweisen, die intelligent, freundlich, dumm oder feige genannt werden. Ich versuche, »sie mit den Augen des Anderen zu betrachten, sie zu beurteilen, als wenn ich selbst ein Anderer wäre« (IF 1, 177, Fußn. 27). Von hier aus kehre ich zur Reflexion zurück, indem ich über meine vergangenen Intentionen reflektiere und das fremde Urteil anhand der eigenen Intuitionen überprüfe. Entweder übernehme ich dann diese fremden Bestimmungen oder ich lehne sie ab. Mit anderen Worten, ich konstituiere schließlich mein Ego mit oder ohne diese fraglichen Charaktereigenschaften, die jedoch auch bei einer Annahme als »unrealisierbare Bedeutungen« (IF 1, 177, Fußn. 27) in mir bleiben. Die intuitive Ratifizierung durch die Reflexion stellt also offensichtlich nach Sartre keine Realisierung dieser Bedeutungen dar. Erst wenn ich dazu übergehe, mich zum Schauspieler zu machen, läßt sich seiner Ansicht nach von einem Versuch sprechen, jene unrealisierbaren Bedeutungen des Anderen – allerdings auf imaginäre Weise – zu realisieren (vgl. IF 1, 177, Fußn. 27).
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8. Realisierende oder irrealisierende Konstitution des Subjekts
Insofern die »Konstitution« oder »Konzentration« des Ego eine Aktivität ist, ist »die reflexive Egologie« ein »Bereich des Wissens und der Wahrheit« (IF 1, 177, Fußn. 27), womit natürlich Unwissen, Irrtümer und Unaufrichtigkeiten keineswegs ausgeschlossen sind. Genau dieser Aspekt fehlt bei Flaubert. Er übernimmt das Ego von den Anderen, ohne es in der Reflexion zu ratifizieren und zu verifizieren: »(E)r will es so, wie man es ihm anbietet, spielen und auf diese Weise ihre Forderungen bestätigen« (IF 1, 178, Fußn. 27). Außerstande, die Identitätsbildung über die Aktivität der Reflexion vorzunehmen, übernimmt der Blick der Anderen diese Aufgabe. Infolge von Nicht-Valorisierung und Passivität konstituiert sich das Ich Flauberts also ausschließlich über das Für-Andere-sein. D. h. Gustaves eigene Realität bleibt ihm fremd, und er kennt sein eigenes Ich nur vom »Hörensagen«: »Flauberts Selbst (Moi) ist fremdstämmig« (IF 1, 178, Fußn. 27). Flaubert schwört den Eid nicht selbst, sondern übernimmt ihn vom Anderen. Er wartet auf die Instituierung, da ihm das assertorische Urteil des praktisch Handelnden fehlt (vgl. IF 2, 28). Wenn die Mutterliebe dagegen einen Menschen als ein Subjekt instituiert hat, wird er zum Souverän, der die Anderen nicht benötigt, um seine Gefühle zu signifizieren – dennoch nimmt diese subjektive Gewißheit der Psyche nicht ihren Wahrscheinlichkeitscharakter (vgl. IF 2, 28; vgl. KDV 626).87 Aber die Wahrscheinlichkeit der Psyche wächst proportional zum Affirmationsvermögen, d. h. zu den Handlungsfähigkeiten des Subjekts. »Sicher ist, daß bei Flaubert das irreale Element total ist: der Unterschied zwischen Flaubert und einem andren – bei dem natürlich unweigerlich auch imaginäre Elemente in Erscheinung treten – besteht darin, daß Flaubert total imaginär hat sein wollen« (WkL 157). Wie hat man sich jedoch diesen von Sartre erwähnten Vorgang vorzustellen, in dem ich die mitgeteilten Eigenschaften mit eigenen Intuitionen vergleiche und gegebenenfalls ratifiziere? Selbst im Falle der einsamen Reflexion beurteile ich doch mein eigenes Verhalten vor dem Hintergrund eines allgemeinen gesellschaftlichen Wertesystems, von dem aus ich an mir Stärken, Schwächen, Tugenden, Neigungen, Begabungen usw. feststelle.88 Offensicht87
Gewiß ist, daß ich jetzt in diesem Moment wütend bin, nur wahrscheinlich ist, daß mir die psychische Eigenschaft des Jähzorns zukommt (vgl. »Transzendenz des Ego«). 88 Hierfür spricht auch die folgende Passage: »(D)ie Eltern haben ja sogar seine reflexive Sicht strukturiert; was die Reflexion im Reflektierten erfassen will, ist bereits in ihr und entscheidet darüber, was sie sehen kann und wie sie es sieht« (IF 3, 732). So kann etwa nach Sartre ein Bürger sich selbst als Bürger nur dann auffassen, wenn er sich »mit den Augen der anderen« (IF 3, 730) betrachtet, d. h. aber mit den Augen der anderen Klasse, also etwa der Adligen oder des Proletariats. Die Erkenntnis ist geprägt durch jenes »Bürgertum, das sie mit den Brüsten ihrer Mutter ernährt, mit ihren Händen geknetet hat, das mit ihren ersten Verhaltensweisen, den ersten gelernten Wörtern in sie eingedrungen ist. Die Dinge, die sich riesenhaft, sichtbar, anbietend vor uns aufrichten, sind auch hinter uns und in uns, sie
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lich verschwimmt die Grenze zwischen der Reflexion und dem imaginierenden Versuch, mich mit den Augen eines Anderen zu sehen. Reflexion und Für-Andere-sein sind nicht säuberlich getrennt. Die Reflexion, in der ich mich selbst beurteile – und zwar im Rückgriff auf verinnerte Kategorien, die mir in vergangenen Blicksituationen zuteil geworden sind –, fällt offenbar mit dem anonymen und allgemeinen Blick-Anderen zusammen, den Sartre als ›man‹ bezeichnet hat und der durchaus vergleichbar mit dem ›generalisierten Anderen‹ Meads ist (s. o.).89 Der Unterschied zwischen Gustave und dem Menschen im praktischen Weltverhältnis90 besteht darin, daß letzterer offensichtlich sprachlich vermitmanipulieren und bedingen uns bis hin zu den Urteilen, die wir über die beleuchtete Seite fällen, die sie uns zuwenden« (IF 3, 727). Wenige Jahre zuvor hat Sartre noch entschieden eine solche Bedingtheit der Reflexion zurückgewiesen: »Ich will damit sagen, daß ich das Sein als Bedingung einer Öffnung zum Sein ablehne. In gleicher Weise – denn man könnte daraus eine Theorie der Strukturen ableiten – lehne ich den Strukturalismus als Lehre von hinter mir stehenden Strukturen ab: ich habe nichts hinter mir« (WkL 102). 89 Dies wird auch in Sartres Kommentar zu Geschlossene Gesellschaft deutlich: »Weil die andren im Grunde das Wichtigste in uns selbst sind für unsere eigene Kenntnis von uns selbst. Wenn wir über uns nachdenken, wenn wir versuchen, uns zu erkennen, benutzen wir im Grunde Kenntnisse, die die andern über uns schon haben. Wir beurteilen uns mit den Mitteln, die die andern haben, uns zu unserer Beurteilung gegeben haben. Was ich auch über mich sage, immer spielt das Urteil andrer hinein. Was ich auch in mir fühle, das Urteil andrer spielt hinein« (»Jean-Paul Sartre über Geschlossene Gesellschaft«, 61). Es macht von daher Sinn, zwischen individuellen Blick-Anderen bzw. meinem Für-Pierre-sein und meinem Für-Paul-sein, mit deren Augen ich mich imaginär zu betrachten versuche, zu unterscheiden. Aus der Sicht Peters kann ich meine Sparsamkeit loben, aus der Sicht Pauls anläßlich desselben Sachverhalts meinen Geiz beklagen. Eine Differenzierung zwischen der Reflexion – insofern sie nicht nur die Gegebenheiten des reflektierten Bewußtseins inventarisiert, sondern die Psyche konstituiert – und dem allgemeinen überindividuellen Blick-Anderen erweist sich jedoch nahezu als unmöglich. Allerdings scheint es, sobald ich mich aus der Sicht des allgemeinen Blick-Anderen erfasse, nicht notwendig, auf die Imagination zurückzugreifen. Dieser überindividuelle Subjekt-Andere repräsentiert Normen und Wertvorstellungen, über die Konsens besteht und welche daher allgemein und vertraut sind. Ich weiß, wenn ich dies tue, wird man mich für einen Dieb halten – der Blick-Andere büßt aus diesem Grund auf dieser Ebene seine Andersheit im Sinne von Unerkennbarkeit weitgehend, wenn auch nicht vollständig, ein. Ich bin daher nicht auf die Imagination angewiesen, insofern die entsprechenden Normen und Wertvorstellungen sich in die reflexive Selbstbeobachtung integriert haben. Dagegen kann ich nicht wissen, wie ein bestimmter Blick-Anderer mich sieht, da ich seine Präferenzen nicht kenne. Der individuelle SubjektAndere namens Pierre wird darum nur annähernd erfaßbar, indem ich über die Qualitäten des individuellen Objekt-Anderen namens Pierre, die zum Analogon werden, imaginiere, wie dieser Mensch mich sehen würde, d. h. mich also auf irreale Weise mit seinen Augen – die nur durch den Objekt-Anderen individualisiert und konturiert werden – zu betrachten. 90 Sartre unterscheidet im Original zwischen »l’agent practique« und »l’agent passif« (vgl. L’idiot de la famille II, 1818).
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telte Bestimmungen seiner selbst anhand der evidenten Einsichten der Reflexion überprüft, während Gustave, von dem Sartre behauptet, daß er auf die reflexive Evidenz weitgehend verzichten muß, alles, was man über ihn sagt, autoritätshörig in sein Selbstbild integriert. Auch für den praktisch Handelnden ist hinsichtlich des Selbstverhältnisses die erste Phase der Glaube: »Der erste Glaubensinduktor in der Vorgeschichte, die erste Rede, die das Kind als gläubig konstituieren wird, ist also die, die auf es selbst abzielt, insofern es für seine Eltern Objekt ist. […]. (D)as Glauben tritt genau auf der Ebene auf, wo man sich entdeckt, indem man die Andren entdeckt, oder, wenn man lieber will, die Konstitution des ego bringt in jedem das erste Glauben als Quelle aller andren hervor. Und zweifellos wird dieses ursprüngliche Glauben beim praktisch Handelnden durch die Aktivität begrenzt, eingeschränkt und manchmal zum Teil aufgelöst« (IF 4, 59). Es darf jedoch bezweifelt werden, ob dieser Vorgang der Ratifizierung des fremden Urteils an intuitiven Gewißheiten – als Möglichkeit, »gegen Entfremdung und Täuschung zu kämpfen« (IF 1, 178, Fußn. 27) – wirklich im Bereich der Identitätsbildung eine nennenswerte Tragweite aufweist. Unproblematisch sind offenbar folgende Beispiele: Der Andere nennt mein Verhalten von gestern taktvoll, weil ich großzügig eine bestimmte Schwäche meines Gegenübers überspielt habe. Meine Erinnerung lehrt mich, daß ich diese Schwäche überhaupt nicht bemerkt habe. Ich erfahre demnach anhand von Intuition und Reflexion, daß dieses Vorkommnis nicht erlaubt, mich taktvoll zu nennen. Also hat der Andere sich geirrt. Mein Gesprächspartner kann z. B. auch behaupten, eine bestimmte Situation habe mich völlig unberührt gelassen, während ich weiß, wie aufgebracht ich war, wobei ich mir aber nichts anmerken lassen wollte. Aber die Kontrolle durch reflexive Evidenz stößt spätestens dort an ihre Grenze, wo es nicht um meine Befindlichkeiten oder meine Kenntnis von bestimmten Sachverhalten, sondern generell um meine Außenwirkung geht: So glaube ich etwa, mein gestriges Verhalten sei sehr geschickt gewesen und habe einen guten Eindruck hinterlassen, während ich nachträglich erfahre, wie peinlich mein Auftreten war. Intuitiv ist mir erstens nur gegeben, daß der Andere nach wie vor freundlich blieb – aber dies kann auch von seinem Wunsch herrühren, die Fassade aufrechtzuerhalten. Zweitens weiß ich intuitiv von meinem Glauben an diesen vermeintlich positiven Eindruck; aber es handelt sich hierbei um eine in der Reflexion erfaßte Vermutung, die sich durch das Urteil des Anderen nun als trügerisch herausstellt. Es gibt hier also keine reflexive Intuition, die das Urteil des Anderen überprüfen könnte, sondern ganz im Gegenteil wird das Für-sich-sein vom FürAndere-sein her korrigiert. Es scheint wahrscheinlicher, daß der Prozeß der Subjektgenese bzw. der Sozialisation sich primär auf diese Weise vollzieht.
9. IRREALISIERUNG ZWISCHEN SCHAUSPIELEREI UND MISSACHTUNG
9. 1. Phänomenologie des Lachens als Nicht-Valorisierung bzw. Irrealisierung Anhand des Phänomens der Lächerlichkeit, das Sartre im zweiten Band der Flaubert-Studie analysiert, läßt sich das Verständnis der Irrealisierung innerhalb des Zwischenmenschlichen vertiefen.1 Sartre sucht zwar im Rahmen seiner Themenstellung – die Erforschung des Individuums Gustave Flaubert – nach den Gründen, warum sich Gustave durch die Lächerlichkeit hervortun will, aber seine Überlegungen sind wiederum eher von allgemeinem und philosophischem Interesse, da er auf diesem Wege eine Phänomenologie des Lachens vorlegt,2 die das Lachen als eine zentrale Strategie begreift, durch die eine soziale Gruppe die Desintegration von anstößigen Gruppenmitgliedern durch Irrealisierung vornimmt. Leitfaden seiner Untersuchung sind dabei die Fragen, wer lacht und worüber gelacht wird. Sartre zufolge gehört zu den »verbürgten Wahrheiten«, daß Lachen vor allem »eine passive Abwehrtätigkeit« (IF 2, 173) sei. Dennoch gibt er zugleich zu, daß die Motive der Heiterkeit recht komplex sind, weswegen auch »die folgenden Betrachtungen nicht für jedes Lachen gelten« (IF 2, 173) können. Sartre steht nun im folgenden offensichtlich vor der Frage, wie eine Wesensbeschreibung des Lachens vorgenommen werden kann, ohne dabei die geschichtlich-kulturelle Bedingtheit aller menschlichen Tätigkeit zu vernachlässigen. Die Heiterkeit, so räumt er ein, hat wie jedes kulturelle Verhalten eine Geschichte, und aus eben dieser »Akkulturation des Lachens« resultiert die Mehrdeutigkeit dieses Phänomens. Dennoch versteht Sartre all diese verschiedenen historischen Bestimmungen als einen »Überbau«, welcher »dialektisch aus einer Basis hervorgegangen ist« und diese zugleich »aufbewahrt«. Im Fokus seines Interesses steht nun gerade diese »verborgene Basis aller Heiterkeiten« (IF 2, 173). Damit wird ein invarianter Kern in allen historischen Formen des Lachens unterstellt: »Dieses antike und ursprüngliche Lachen, das so alt ist wie die Menschheit selbst, ein 1
In diesem Kapitel entfällt der Rückgriff auf Sekundärliteratur, da sich die Sartre-Forschung – so weit ich dies überblicke – mit der Phänomenologie des Lachens und der Lächerlichkeit im zweiten Band von Der Idiot der Familie bisher nicht auseinandergesetzt hat. 2 Sartre beruft sich auf die Arbeiten von H. Bergson und F. Jeanson als Ausgangsbasis seiner eigenen Überlegungen. Anders als etwa Bergson interessiert sich Sartre jedoch eher für die soziale Funktion des Lachens und nicht für die Frage, was komisch sei.
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9. Irrealisierung zwischen Schauspielerei und Mißachtung
Einbruch der Vorgeschichte in unsere historischen Gesellschaften, werden wir zu beschreiben versuchen« (IF 2, 173). In jeder Kollektivität findet sich eine bestimmte normativ aufgefaßte Konzeption der menschlichen Person, die ihren Ursprung in der Geschichte, den Institutionen und Gebräuchen dieser Kollektivität hat. Verstößt ein Mitglied gegen diese kollektive Vorstellung, droht es, sie als Lüge zu entlarven, indem es »die in dieser Gemeinschaft geläufige menschliche Figur karikiert, so sind die anderen gleichermaßen in Gefahr« (IF 2, 174). Eine Anfechtung dieser Vorstellung durch ein einzelnes Faktum ist nur deswegen möglich, weil sich bei diesem Menschenbild deskriptive und präskriptive Momente miteinander vermischen.3 Nach Sartre wird das, was die Individuen sind, »durch das bestimmt, was sie sein sollen, und das, was sie sein sollen, durch das, was sie sind« (IF 2, 173). Um dies an einem Beispiel zu illustrieren: Insofern sich durch ein Ereignis ›der französische Charakter‹ als zwielichtig erweist, bin auch ich »in meinem Charakter eines Franzosen, der sozialisierten Struktur meines ego, angefochten, und zugleich ist die nationale Ordnung ernsthaft bedroht, da ja immerhin die französische Personalität nur die synkretistische Verdichtung der Geschichte und der Strukturen Frankreichs ist« (IF 2, 174). Sobald ein Mitglied der Sozialität – mit anderen Worten »mein Nächster und mein Bruder« im Medium der Intersubjektivität – etwa durch seine Trunkenheit, sein Lallen und Taumeln »öffentlich das normale Verhalten und die normale Würde des Durchschnittsfranzosen« (IF 2, 174) kompromittiert, ist offenkundig, daß die »›menschliche Person‹« unter bestimmten Umständen – z. B. Alkoholgenuß – zu »eine(r) unspielbare(n) Rolle« wird; der ›Mensch‹ existiert also genaugenommen nur »unter Vorbehalt« (IF 2, 175). In der Reaktion des Lachens verinnern nun die Anderen einen Widerspruch, der darin besteht, daß der Betrunkene einerseits ein Mensch wie der Lachende ist, andererseits aber kein Mensch ist, insofern er weder gehen noch sprechen kann und mich hiermit »in meiner Rolle einer menschlichen Person lächerlich« macht (IF 2, 176). Obwohl er sich anstrengt, ein Mensch zu sein, stellt er die Antithese des Menschen dar, die der Spezies nur zu gleichen scheint, um sie zu demoralisieren. Dem Lachen eignet nun der Versuch, sich von diesem Widerspruch zu befreien, indem es die beschriebene Antithese durch eine »Reduzierung des Betrunkenen auf die bloße Äußerlichkeit [extériorité]« (IF 2, 176) auf die Spitze treibt. Durch diese Übertreibung, die erlebt, jedoch nicht notwendig erkannt wird,4 wird der Ausschluß der skandalösen Person 3
Dieses Menschenideal behauptet nicht nur, daß die Menschen einer Gemeinschaft bestimmte Eigenschaften haben sollten, sondern daß sie diese Eigenschaften auch wirklich besitzen. Nur deshalb kann ein abweichendes Faktum überhaupt eine destruierende Wirkung haben. 4 Die Lachenden selbst sind sich über den Sinn ihres Lachens nicht im klaren; »sie lachen einfach, das ist alles« (IF 2, 177).
Phänomenologie des Lachens als Nicht-Valorisierung
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aus dem Bereich der Intersubjektivität vollzogen: »Wenn ein, wie auch geartetes, soziales Ensemble auf dem Spiel steht, dann ist das Zerreißen der Bande ein von der Mehrheit der anwesenden Mitglieder beschlossener und ausgeführter Akt« (IF 2, 174). Wer lacht, versucht nach Sartre, die Innerlichkeit des lächerlichen Gegenübers zu ignorieren: »(M)an lacht gegen das Mitleid« (IF 2, 178). Mitleid zu empfinden, bedeutet im Gegenteil, sich in das schockierende Individuum hineinzuversetzen, mithin ihm Innerlichkeit – »und sei es nur Leidensfähigkeit« (IF 2, 178) – zuzubilligen.5 Hierbei würde jedoch die Differenz zu diesem unzulänglichen Individuum preisgegeben werden: »(W)enn er unser Bedauern erregt, dann muß er tatsächlich ein Mensch sein – was eine Lästerung darstellt –, oder wir selbst sind Untermenschen [soushommes] – was unerträglich ist« (IF 2, 178). Das Lachen stellt für Sartre eine Verweigerung der ursprünglichen Sozialbeziehung, der Wechselseitigkeit, dar (vgl. IF 2, 178). Lachen ist ganz im Gegenteil »eine Weigerung, zu verstehen und Anteil zu nehmen« (IF 3, 663). Wenn wir lachen, müssen wir Wechselseitigkeit verweigern – und diese Verweigerung reduziert nicht nur den Außenseiter auf seine Äußerlichkeit, sondern auch die Lachenden werden in ihren Augen äußerlich, d. h. sie werden andere, als sie ursprünglich sind. Dies kann jedoch niemals einem einzelnen Menschen gelingen: »Das Lachen ist seinem Wesen nach kollektiv; es fühlt sich ansteckend, es entsteht nicht ohne die Absicht, es zu sein, und wenn es ausbricht, übertreibt es, um sich vernehmbar zu machen und sich auszubreiten: es bleibt so lange unvollständig, wie es keine kollektive Wandlung hervorruft, die auf es zurückkommt, um es zu vervollständigen und die Verwandlung des einzelnen in einen Lacher zu vollenden« (IF 2, 178). Selbst derjenige, der alleine lacht, aktualisiert nach Sartre seine Gruppenzugehörigkeit. (Wenn ich das dem Soundso erzähle, wie werden wir lachen usw.)6 Durch die zumindest »vorübergehende Sympathie- oder Solidaritätsverweigerung« (IF 3, 678) wird dem betreffenden Menschen seine Innerlichkeit (intériorité) genommen und mithin die Möglichkeit, das der Sozialität zugehörige Idealbild des Menschen zu kompromittieren. Der anstößige Gegenmensch scheint zu demonstrieren, daß die Seriosität des ›wahren Menschlichen‹ falsch ist; das Lachen als Strategie der integrierten Gruppe will dagegen die Seriosität des anstößigen Gegenmenschen als falsch manifestieren. Und dies geschieht im Namen des wahren Seriösen, das die Gruppe auf diese Weise retten will. Als »verminderter Lynchmord« verfolgt das Lachen 5
Das Lachen und die Komik bedarf auch schon bei Bergson »einer vorübergehenden Anästhesie des Herzens« (Das Lachen, 15): »Ich will nicht behaupten, daß wir über einen Menschen, für den wir Mitleid oder Zärtlichkeit empfinden, nicht lachen können – dann aber müßten wir diese Zärtlichkeit, dieses Mitleid für eine kurze Weile unterdrücken« (ebd., 14). 6 Sartre hält es darum auch für ausgeschlossen, daß ein Individuum über alle anderen lacht (vgl. IF 3, 600). Vgl. auch Bergson, ebd., 15.
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9. Irrealisierung zwischen Schauspielerei und Mißachtung
das Ziel, »in einem beunruhigenden Menschen den Untermenschen [soushomme] zu entlarven, der sich ernst nimmt« (IF 3, 586). Genau aus dem Grund darf der Lächerliche niemals selbst mitlachen, sondern muß auf seiner falschen Seriosität bestehen: »(E)r ist komisch, wenn man ihn schlägt und wenn er sich umsonst bemüht, den Schlägen zu entgehen, wenn er Schmerzen hat, wenn er weint, wenn er versucht, ein wenig von jener Menschenwürde zu retten, die er ganz zu Unrecht zu besitzen glaubt, wenn man ihn durch Streiche und sorgfältig ausgelegte Fallen aus der Fassung bringt, aber eben gerade deshalb wäre es gefährlich, ihm ein Recht zuzubilligen, das nur den wahren Menschen gebührt« (IF 2, 183). Die Kehrseite des Lachens ist daher der integrierte Mensch, denn nur der Nicht-Lächerliche darf lachen. »Man erinnere sich einmal an diejenigen, die in der Schule immer gehänselt werden. Ihre Kameraden haben beschlossen, daß sie lächerlich sind: wenn es zwei von ihnen in einer Klasse gibt, so lacht die ganze Klasse über den einen oder über den anderen, wie es ihr gerade gefällt, aber derjenige, mit dem man sich gerade nicht beschäftigt, hat kein Recht, sich dieser allgemeinen Heiterkeit anzuschließen. Das ist ein ungeschriebenes, ja sogar unausgesprochenes Gesetz, aber sobald das Lachen begonnen hat, wendet es sich ganz und gar gegen ihn: ›Du feixt, du feixt? Sieh dich doch selber an‹ usw.« (IF 2, 183; vgl. IF 3, 482) Innerhalb der schützenswerten Innenbeziehungen ist dagegen niemand lächerlich (IF 2, 183). Angesichts des ›unmenschlichen‹ Gegenüber werden die Lachenden jedoch selbst unmenschlich, um diesen Feind zu vertreiben. Geschützt wird hierdurch ein »(für mich und für alle) beruhigendes Vorbild […], das jeder für seine soziale Wahrheit hält« (IF 2, 185). Sartre macht geltend: »(D)as Lachen ist konservativ« (IF 2, 184) und gründet in einer »streng konformistische(n) Ethik« (IF 2, 186). Es ist also letztlich ein Ineinander von Panik und Überlegenheitsgefühl: Der Lachende hat Respekt vor dem Vorbild und glaubt es niemals durch Ungeschicklichkeiten zu kompromittieren, und das gleiche gilt für alle, die mit ihm lachen: Er weiß, daß er in dieser Situation nicht stolpern würde, er verträgt Alkohol, er wird nicht stottern usw. Kurz: Er ist der ›wahre‹ Mensch. Alles in allem ist das Lachen der »Triumph des Jedermann«, also »eine Befriedigung, die sich der Durchschnittsmensch verschafft« (IF 2, 185) und die seine legitime Integration in der Sozialität unter Beweis stellt. Das Lachen, das als Verweigerung der Wechselseitigkeit eine Nicht-Valorisierung wie die lieblose Säuglingspflege darstellt, wird für das Thema des Irrealen spätestens dann relevant, wenn Sartre erklärt, daß das Lachen seinen Gegenstand »vollends derealisiert« (IF 2, 186). Hierdurch wird das skandalöse Ereignis zu einem »Schauspiel«, also zu einer »Vorführung ohne praktische Folgen« (IF 2, 186).7 Das Lachen scheint dem lächerlichen Menschen bedeu7
Nach Bergson »würden wir niemals über Personen im wirklichen Leben lachen, wären
Phänomenologie des Lachens als Nicht-Valorisierung
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ten zu wollen, daß er »nur der Schein eines Menschen« (IF 2, 186) sei. Die lachenden Zuschauer beruhigt diese Entmenschlichung und Derealisierung des Außenseiters: »(D)urch die Reduzierung dieses Schauspiels auf bloßen Schein haben sie ihm jede Schädlichkeit genommen« (IF 2, 186). Man hat »jemanden, der glaubte ein Mensch zu sein [als] Schein eines Menschen« (IF 2, 186) entlarvt und vermittelt den Anderen durch das Amüsement das Gefühl ihres Wertes und ihrer beruhigenden Normalität. Der schockierende Mensch büßt durch »diese Verurteilung zur Irrealität« (IF 2, 186) seine Bedrohlichkeit ein und wird »ein flaches, von der heiteren Menge eher erfundenes als wahrgenommenes Bild« (IF 2, 186). Auch für Bergson übt das Lachen eine »soziale Funktion«8 aus: Es ist eine »Strafe«,9 genauer: ein gesellschaftliches Verhalten, das »eine bestimmte Art des Abweichens vom Lauf des Lebens und der Ereignisse sichtbar macht und gleichzeitig verurteilt«.10 Geahndet wird hier die beunruhigende Steifheit eines Körpers oder eines Charakters, eine Mechanisierung des Lebendigen, die eine Person in ein Ding verwandelt: »Was das Lachen hervorheben und korrigieren möchte, das ist dieses Starre, Fixfertige, Mechanische im Gegensatz zum Beweglichen, immerfort Wechselnden und Lebendigen, es ist Zerstreutheit im Gegensatz zur Aufmerksamkeit, Automatismus im Gegensatz zu freiem Handeln«.11 Alles in allem ist das Lächerliche für Bergson »eine besondere Unfähigkeit des Menschen, sich der Gesellschaft anzupassen«.12 Er hebt hervor, daß das Lachen »eine wahre soziale Züchtigung« darstellt.13 Unter Androhung des Ausgelachtwerdens zwingt die Gesellschaft »jedes ihrer Glieder, auf seine Umgebung zu achten, sich ihr anzupassen und zu vermeiden, daß es sich in seinen Charakter zurückzieht wie in ein Schneckenhaus«.14 Wie bei Sartre ist es also zunächst eine »Abwehrreaktion«:15 »Das Lachen würde seinen Zweck verfehlen, wenn es von Sympathie und Güte gekennzeichnet wäre«.16 In erster Linie soll es »einschüchtern, indem es demütigt«.17 Trotzdem versteht es Bergson zugleich auch als eine Art produktiwir nicht imstande, ihnen wie von einer Theaterloge aus zuzusehen; sie sind in unseren Augen nur insofern komisch, als sie uns ein Schauspiel bieten« (ebd., 90). Für Sartre wird der Lächerliche durch das Lachen zum Schauspiel, während nach Bergson das Lachen voraussetzt, das wir ein Ereignis nur als Schauspiel behandeln. 8 Bergson, ebd., 16. 9 Ebd., 23. 10 Ebd., 62. 11 Ebd., 86. 12 Ebd., 89. 13 Ebd., 90. 14 Ebd. 15 Ebd., 131; vgl. IF 2, 172. 16 Ebd., 124. 17 Ebd.
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ves »Korrektiv«;18 es erfüllt eine sozialisierende Funktion, die angesichts des ungeselligen Charakters eines Menschen,19 der als solcher doch notwendig in einer Gesellschaft leben muß,20 eine höhere »Anpassung«21 erzielen will. Der Lächerliche verstößt immer auch gegen ein »Grundprinzip des Zusammenlebens«.22 Plessner betont die heilsame Wirkung, die das Lachen bei Bergson hat: »Im Lachen signalisiert die Gesellschaft in uns, der soziale Instinkt, eine Gefahr, der der Mensch durch seine physische Existenz ausgesetzt ist, und indem es den Gestrauchelten straft, heilt es zugleich die Wunde, die es ihm schlägt: es stellt die Lebendigkeit wieder her«.23 So ist z. B. das Lachen auch »das spezifische Heilmittel« gegen die Eitelkeit.24 Wenn der korrigierende Aspekt des Lachens betont wird, »kann es nur nützlich sein, wenn von der Korrektur eine möglichst große Anzahl Leute auf einmal betroffen wird«.25 Darum bewegt sich »die komische Betrachtungsweise instinktiv auf das Allgemeine hin«.26 Ganz anders verhält es sich bei Sartre: Am Anfang findet sich – zunächst noch ähnlich wie bei Bergson – eine gesellschaftliche Verunsicherung, die hervorgerufen wird, weil ein einzelner Mensch das normativ-deskriptive Menschenbild durch sein unzulängliches Verhalten infragestellt. Das Lachen verfolgt jedoch das Ziel, diesen Einzelnen nicht zu ›heilen‹, sondern ihn vielmehr aus der Gemeinschaft auszuschließen. Die lächerlichen Eigenschaften werden durch ihre Begrenzung auf eine Einzelperson individualisiert, um das Selbstverständnis der seriösen Menschen zu firmieren. Die komische Betrachtungsweise richtet sich also nicht auf das Allgemeine, sondern ganz im Gegenteil ist sie individualisierend im Interesse einer zu wahrenden Gruppenintegration mit ihrem jeweiligen Menschenbild. Für die Gesellschaften nach Sartre wäre es ohne jeden Nutzen, ja sogar schlichtweg entsetzlich, über sich selbst zu lachen. Der Autor von Der Idiot der Familie kennt keinerlei produktives und korrigierendes Moment des Lachens, weswegen dessen soziale Funktion dann auch eher einem »verminderten Lynchmord« (IF 3, 586) gleich kommt. Eine Resozialisierung des Lächerlichen scheint jedenfalls durch das Lachen hier nicht vorgesehen.
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Ebd., 122. Ebd., 92, 97. 20 Ebd., 103. 21 Ebd., 23. 22 Plessner, Lachen und Weinen, 292. 23 Plessner, ebd. Für Plessner selbst hat das Komische allerdings nicht primär einen sozialen Charakter, auch wenn es erst in der Gesellschaft zur vollen Entfaltung kommt (ebd., 299). 24 Vgl. Bergson, ebd., 112. 25 Ebd., 109. 26 Ebd. 19
Der Komiker als »Märtyrer der Irrealität«
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9. 2. Der Komiker als »Märtyrer der Irrealität« (IF 2, 153) Dennoch gibt es den Berufsstand des Komikers, der Prestige und gesellschaftlichen Aufstieg einschließen kann. Die mitunter gut bezahlte Irrealisierung, die der professionelle Komiker freiwillig auf sich nimmt, befriedigt auf zeremonielle und institutionalisierte Weise ein »soziales Bedürfnis« (IF 2, 152, 155), indem er eine kathartische Wirkung bei seinem Publikum hervorruft, das im Lachen Distanz zu den beunruhigenden Abweichungen einzelner Mitmenschen von der Norm gewinnt (vgl. IF 2, 188). Das Theater erlaubt das mitleidlose und hierdurch von allen ›gegenmenschlichen‹ Aspekten reinigende Lachen, wobei anders als im Alltagsleben auf jegliche Rücksichtnahme verzichtet werden darf: »Ein Sklave wird sich aufopfern, um ein kollektives Lachen der Selbstzufriedenheit hervorzurufen, indem er sich öffentlich im Untermensch-sein [sous-humanité] wälzt, um sich mit Schandflecken zu beschmutzen, die die ›menschliche Person‹ besudeln könnten, und um sie vorzuführen als die Makel einer niederen Rasse, die umsonst versucht, der unsren gleichzukommen« (IF 2, 188). Indem der Komiker manifestiert, »daß die Praxis, ein Privileg des Menschengeschlechts, den Untermenschen [soushommes] versagt ist« (IF 2, 188), reduziert er sich selbst auf den Status der Äußerlichkeit bzw. auf den bloßen Schein eines Menschen. Alle seine Aktionen sind »Träume vom sofort entlarvten Untermenschen [sous-homme]« (IF 2, 189). Zugleich ist dem seriösen Menschen gerade diese Freiwilligkeit suspekt, mit der sich der Komiker durch Lächerlichkeit marginalisieren läßt (vgl. IF 2, 189). So unterscheidet, wie Sartre meint, das Publikum gar nicht so sehr zwischen dem Darsteller und der Figur – und damit liegt es seiner Ansicht nach auch gar nicht so falsch, insofern jemand, der sich absichtlich lächerlich macht, »schon dazu prädestiniert, das heißt bereits lächerlich sein muß« (IF 2, 189). »Die komische Sängerin Odette Laure traf den Nagel auf den Kopf, als sie einmal in einem Interview sagte: ›Wenn man eine komische Sängerin sein will, darf man sich selbst nicht allzusehr lieben‹. Das ist es: Um sich jeden Abend den Wilden ausliefern, um wissentlich ihre Grausamkeit zu erregen, um jeden Rückgriff auf die Innerlichkeit ablehnen und sich öffentlich auf einen äußeren Schein reduzieren zu können, muß der Schauspieler in einer entscheidenden Epoche seines Lebens für sich selbst als Äußerlichkeit konstituiert worden sein« (IF 2, 190). Einige Seiten zuvor, am Anfang des zweiten Bandes von Der Idiot der Familie erklärt Sartre, daß sich auf allen Stufen der Personalisation Gustave Flauberts »die Wahl des Irrealen« (IF 2, 18) finde.27 Wenn ein Mensch dem Imaginären 27
Das bedeutet jedoch umgekehrt nicht notwendig, daß jeder, der eine irrealisierende Konstitution erfahren hat, auch die Wahl des Irrealen treffen muß.
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statt dem Realen den Vorzug gibt, so kehrt sich die ›normale‹ Hierarchie im Verhältnis von Realität und Imagination um.28 Alle Kinder träumen, wie Sartre erläutert, von der Zukunft. Sie werden Eroberer, Entdecker, Astronaut, und sie ernten Ruhm für heroische Taten. In jedem Fall werden sie eine Spur in der realen Welt hinterlassen: »Ihr Verlangen zielt auf das Sein, und keinen Augenblick wenden sie sich intentional vom Wirklichen und Wahren ab« (IF 2, 18). Das Imaginäre fungiert hier als »Ankündigung des Realen und das Unbefriedigtsein als Verheißung eines zukünftigen Befriedigtseins« (IF 2, 18). Das träumende Kind wird eines Tages real ein Arzt oder Astronaut sein, die Fiktion ist nur ein Versuch, sich an der Zukunft schon vorab zu erfreuen. Hier zeigt sich, was das Imaginäre ursprünglich auf der Ebene der Praxis ist: »eine Vermittlung, die sich am Ende des Unternehmens nicht wiederfindet – weil dessen Verwirklichung sie aufhebt – und die sich den realen Absichten unterordnet, eine systematische und zweckgebundene Erforschung des Feldes der Möglichkeiten, eine Loslösung vom Sein zum Sein hin« (IF 2, 18).29 So ist die Imagination z. B. auch »ein notwendiges Moment jedes heuristischen Denkens, selbst des Mathematikers« (IF 3, 960).30 Im Falle, daß das Imaginäre um seiner selbst willen angestrebt wird, wird dagegen »der Traum […] zum Traum eines zukünftigen Traums« (IF 2, 19). Das, woraufhin sich die Person entwirft, ist selbst ein Imaginäres, und dies bedeutet, »die Realität zur Hervorbringung eines Irrealen zu mobilisieren« (IF 2, 19). Die praktische normale Ordnung verkehrt sich, indem das Imaginäre nicht länger einfach nur das »Mittel zur Realisierung« (IF 2, 23) ist, sondern umgekehrt die Realität zum Mittel der Irrealität wird: »(E)r schickt sich an, die Beute für den Schatten loszulassen, er zieht das Nicht-sein dem Sein vor, das Nicht-Haben dem Haben, ein träumender Quietismus. Oder vielmehr nein, es ist noch ernster, denn er liebt durchaus nicht das reine Nichts, sondern er liebt jenes Nichts, das vom Sein einen gewissen ungesunden Realitätsschein übernimmt: so ist der Teufel, der Herr der Tricks, Luftspiegelungen, Scheingestalten. So ist schon in der Kindheit Gustave Flaubert« (IF 2, 19). Diese Bestimmung ist beim Schauspieler – verglichen etwa mit anderen Künstlern – weitaus stärker ausgeprägt: Bei ihm läßt sich eine »Vorliebe für die totale Irrealisierung« (IF 2, 22) feststellen.31 Wenn der Bildhauer mit seinem Meißel 28
Allerdings wird diese Haltung immer nur annäherungsweise bzw. graduell verwirklicht. Eine vollständige Irrealisierung wäre gleichbedeutend mit einem Zustand der Schwachsinnigkeit (vgl. IF 4, 88). 29 Vgl. hierzu auch Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, 77 f. 30 Für Sartre ist natürlich die korrekte Voraussicht insofern imaginär, als ihr Gegenstand (noch) nicht ist (vgl. IF 3, 1033). 31 Wie die Literatur vollendet sich auch die Schauspielkunst im übrigen erst durch den Rezipienten: Wenn die Zuschauer sich durch die Darstellung einer fiktiven Person mitrei-
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einen Marmorblock und der Literat die Sprache irrealisiert, so ist in beiden Fällen das Material der Irrealisierung »draußen in der Welt«, und sie selbst bleiben davon nicht betroffen. Das Material des Schauspielers ist jedoch seine eigene Person; »sein Ziel ist, irreal ein anderer zu sein« (IF 2, 22).32 Voraussetzung für den kindlichen Wunsch, sich als Schauspieler hervorzutun, ist, wie Sartre fortfährt, »eine bestimmte konstituierte Beziehung zwischen dem Realen und der Irrealität, ohne die der Schauspieler nicht einmal auf die Idee käme, das Sein dem Nicht-sein unterzuordnen« (IF 2, 22). Nicht das Unglück genügt hier für die Wahl des Imaginären, das Imaginäre muß vielmehr auch »der Ursprung des eigenen Unglücks sein« (IF 2, 23). Nur wer für sich selbst »als ein bloßer Schein konstituiert ist« (IF 2, 23), kann von einem »Sieg der Imagination über die Realität in seiner Person« (IF 2, 23) träumen.33 Nach allem, was bisher deutlich geworden ist, trifft dies dann zu, wenn die Valorisierung durch den Anderen defizitär ist.
ßen lassen, bestätigen sie die Vorführung, und hierdurch »festigt« und »sozialisiert« (IF 2, 21) sich die Materialisierung des Irrealen. 32 Unterstützt wird diese Anstrengung des Schauspielers durch die sogenannte »Plazierung« (IF 2, 21). Damit meint Sartre »die Gesamtheit der Stellungen, Bewegungen und Haltungen, die vom Autor oder Regisseur vorgeschrieben sind« (IF 2, 21, Fußn. 8). Flauberts kindliche Theaterambitionen werden vor allem auch durch diese Plazierung verständlich, die einen Ausweg aus der Kontingenz bietet. Denn die Rollenanweisungen bedeuten eine »Verbürgung des Imaginären durch einen souveränen Willen, durch Zwangsläufigkeit der Handlung« (IF 2, 144). Insofern jede der darzustellenden Verhaltensweisen »unentbehrlich«, mithin also »nichts […] zuviel« (IF 2, 143) ist, entgeht Flaubert für die Dauer der Vorführung der Kontingenz. Wenn der Vorhang wieder fällt, »findet er die lasche vegetative Dauer wieder, die sein Schicksal im Schoß der Familienzirkularität ist« (IF 2, 142). In solchen Passagen bringt Sartre wieder die Imagination als Gegenpol zur Kontingenz in Anschlag, wohingegen er in seinem späteren Denken für gewöhnlich den passiv konstituierten bzw. irrealisierten Menschen gerade als kontingenten Menschen versteht. Solche Widersprüchlichkeiten haben ihren Grund in der Vieldeutigkeit von Sartres Imaginationskonzept. Wird das Imaginäre als Gegensatz zur Wahrnehmung verstanden, so erscheint es als Zuflucht vor der Kontingenz, wenn hingegen das Imaginäre in Abgrenzung zu Anerkennung und Kommunikation definiert wird, so ist es ganz im Gegenteil der Bereich der Kontingenz schlechthin. Zur Diskussion der Äquivokation des Imaginationsbegriffs bei Sartre s. u. 9. 4. u. 9. 5. 33 Sartre läßt es hier wiederum an Eindeutigkeit fehlen: Einerseits vertritt er die These, daß nur derjenige Schauspieler ist, der von einem Sieg der Irrealität über die Realität träumt, weil er selbst irreal konstituiert worden ist. Aber diese Behauptung wird sogleich wieder revidiert, wenn eingeräumt wird, daß sich ohne genauere Kenntnis des Lebens nicht sagen läßt, ob ein bestimmter Schauspieler die Irrealität um ihrer selbst willen wählt, denn seine Fiktionen können genauso gut auch die Wahrheit zum Ziel haben (vgl. IF 2, 22). Es stellt sich dann die Frage, ob Sartre noch allgemeinverbindliche Äußerungen über den Schauspieler schlechthin macht oder ob seine Darstellung nicht spätestens von hier an nur noch einen hypothetischen Charakter beanspruchen kann.
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Dies erklärt die oben erwähnte Äußerung der komischen Sängerin Odette Laure: Die Wahl der lächerlichen Rolle ist für Sartre die Antwort auf eine verweigerte Wechselseitigkeit, durch die das Individuum »als lächerlich konstituiert worden ist« (IF 2, 194).34 Dies geschieht jedoch nicht schon in der Säuglingspflege – obwohl, wie sich im Fall Flaubert zeigt, hier bereits günstige Dispositionen entwickelt werden können –, sondern einige Zeit später, wenn das kindliche Subjekt bereits imstande ist, mit den Eltern zu interagieren. Die Konstitution der Lächerlichkeit geht zurück auf die Erfahrung des Scheiterns einer wechselseitigen Komödie, für die Sartre die folgende Beschreibung liefert: Während die kindliche Zuneigung aufrichtig ist, insofern sie empfunden wird, ist die »Bravheit des Kindes« eine »Vorführung« (IF 2, 32). Gesagt wird, was den Eltern gefällt und ebenso werden die Gesten, die einmal Erfolg hatten, wiederholt: »In diesem Sinne«, erklärt Sartre, »sind alle bürgerlichen Kinder mehr oder weniger Schauspieler« (IF 2, 32).35 Indem die Eltern hierauf nun ihrerseits mit der Vorführung der elterlichen Zuneigung reagieren, wird Sartre zufolge die Rolle eliminiert, und die Vorführung ereignet sich »in der intersubjektiven Wahrheit des familiären Erlebten« (IF 2, 32). Die auf Wechselseitigkeit hin angelegte Emotion bedarf einer Sozialisierung durch die Legitimation, die der Andere ihr entgegenbringt: »(D)ie Wahrheit meiner Zuneigung«, erklärt Sartre, »ist die Zuneigung des Anderen zu mir« (IF 2, 32). Das geliebte Wesen »muß den kleinen Jungen auf den Schoß, in die Arme nehmen und als geliebten Sohn seiner Eltern instituieren; in dieser Antwort findet der gespielte Eifer des Kindes seine Wahrheit: er war nur das Mittel, jenes väterliche Lächeln zu erlangen, durch das die Liebe auf sich zurückkommt und sich bestätigt; die aufgezwungene Rolle wird zum heiligen Ritus, die Unaufrichtigkeit verschwindet allmählich« (IF 2, 32). Affektive Regungen sind, wie Sartre erklärt, untrennbar von Handlungen, die sie zum Ausdruck bringen. Trotzdem ist es aber durchaus möglich, daß das Handeln dem Gefühl vorausgeht und es entstehen lassen soll.36 Wenn das gelangweilte Kind sich überschwenglich in die Arme seiner Eltern wirft, so ist dies nicht unbedingt der Ausdruck eines gegenwärtig empfundenen überwältigenden Gefühls, sondern es ist ebenso sehr »die zukünftige Freude«, die das Handeln motiviert, jene, die es in den Armen seiner Eltern erwartet: »Und bei Verliebten entsteht die verliebte Anwandlung öfter, als man meint, aus Kälte und Leere« (IF 2, 33). Wie Sartre erklärt, ist es unmöglich, »die ungreifbare und bewegliche Grenze zu fixieren, die zwischen Besessenheit und Getue 34
Sartre will damit allerdings nicht behaupten, daß alle lächerlichen Kinder Komiker werden (vgl. IF 2, 194). 35 Es ist freilich nicht einzusehen, warum dies nur für die bürgerlichen Kinder gelten soll. 36 Ein gutes Beispiel hierfür findet sich z. B. in Sartres Roman Zeit der Reife, 38.
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verläuft« (W 54). Wenn der momentan zwar fehlenden, aber dennoch geäußerten Zärtlichkeit »die reale, aber hervorgerufene Zärtlichkeit« des Anderen antwortet, »so verwirklicht sich ein Ereignis, dessen Grundstruktur die Dualität ist: das heißt, es ereignet sich in jedem nur durch den anderen, es ist in jedem wechselseitig: wenn der Liebhaber bei der Geliebten eine tatsächliche Erregung hervorruft, die ihn glücklich macht, so fühlt er, wie sich in ihm selbst die gespielte Anwandlung in Liebesfülle verwandelt« (IF 2, 33).37 Das Kind ist nicht vom eigenen Gefühl erfüllt, sondern durch die »Verinnerung der väterlichen Zärtlichkeiten«; und dank der Anerkennung der vorgeführten Gefühle seitens des Anderen erhält die emotionale Regung eine »Rechtskraft«: Jetzt ist das eigene Gefühl ›wahr‹ und ›gerechtfertigt‹, da es sich durch die Antwort des geliebten Wesens auf sein Ziel überschreitet. Sobald der Vater diese Komödie beendet und den kleinen Schmierenkomödianten aufgrund seiner übertriebenen Zurschaustellungen zurechtweist, geht Gustave nicht länger im intersubjektiven Leben auf und entdeckt unter dem Blick des Vaters seine »Irrealität« (IF 2, 34). Nach Sartre ist Liebe »Dualität«, was wiederum besagt, daß die unerwiderte Liebe sich im Bereich der »Imagination« (IF 2, 35) wiederfindet.38 Vergleicht man Sartres autobiographische 37
Sartres Ausführungen legen nahe, daß die erwidernde Liebesregung des Anderen immer ›realer‹ als meine ›offerierte‹ Liebesregung ist. Dies scheint nur dann plausibel, wenn man sich auf Sartres Werttheorie in Das Sein und das Nichts rückbesinnt. Dort wird erklärt, daß die Emotionen des anderen Menschen infolge ihrer körperlichen Vermitteltheit dem Für-sich immer wahrer und realer erscheinen (vgl. vor allem SN 193 f.) als das eigene Gefühl, das sich mit seiner Flüchtigkeit in der Reflexion gibt. Der Einwand, daß ja auch die erwidernde Liebe des Anderen eine Komödie ist, die den Gesetzen der conditio humana folgt, sieht von der Gegebenheitsweise der Gefühle des Anderen ab. Ich stehe dann, so könnte diese Überlegung über Sartre hinaus weitergeführt werden, nicht mehr in einer wechselseitigen Beziehung, sondern ich objektiviere diese Beziehung von einem außerhalb liegenden Beobachterstandpunkt aus. Wenn ich die Vorführung des Anderen, die auf meine Vorführung antwortet, wirklich als Vorführung erleben würde, so würde sich wohl kaum der Eindruck einstellen, daß mein Gefühl sich hierdurch realisiert. Alles in allem scheint Sartre jedenfalls zu glauben, daß Realität im sozialen Leben dadurch entsteht, daß der Andere auf dieselbe Weise spielt wie ich, d. h. soziale Realität ist das Resultat einer Irrealisierung, der eine gleichartige Irrealisierung des Anderen antwortet. So ist der Star deswegen ein Star, weil seine Bewunderer ihm die hierfür erforderlichen Attribute zuerkennen und »durch ihre Verehrung die Gesten authentifizieren, die er vollzieht« (SG 505). ›Authentifiziert‹ ist ein Status, wenn er die erwünschten Gefühle des Anderen auslöst; einen anderen Maßstab scheint es bei Sartre nicht zu geben. 38 An einer anderen Stelle beschreibt Sartre, wie die Auflösung der Wechselseitigkeit durch den Tod eines der Kommunikationspartner zur Irrealisierung des Überlebenden führt: Meine Kommunikation bleibt ohne Antwort, der Dialog wird zum Monolog, so wie sich alle meine Handlungen, die sich auf den Gestorbenen richten, in Gesten verwandeln (vgl. IF 4, 21, Fußn. 9). Insofern der Tod des Anderen »etwas Unrealisierbares ist«, tendiert jedes Trauerverhalten dazu, die Wechselseitigkeit im Irrealen aufrechtzuerhalten (vgl. IF 4, 21, Fußn. 9; s. a. Im 228–235; SG 833). Hier wird Sartres Äquivokation der
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Darstellungen der Beziehung zu seinem Großvater mit Flauberts Vaterverhältnis, so erweist sich als entscheidender Unterschied, daß der kleine Sartre das Glück gehabt hat, eine Wechselseitigkeit der Komödie zu erfahren, weil seine Zuneigung in der Valorisierung ihre Wahrheit gefunden hat (vgl. W 19 f. u. passim), während Gustave durch die Ablehnung auf sich selbst zurückgeworfen worden ist und seine Subjektivität sich hierdurch irrealisiert hat. Ins Auge fällt hierbei erneut die Analogie zwischen Sartres Theorie der Intersubjektivität und seiner Literatur- bzw. Kunsttheorie: Die Liebe zu einem anderen Menschen ist irreal, wenn der Andere sie nicht durch die antwortende Gegenliebe valorisiert, so wie der literarische Text ohne die Konstitution seitens des Rezipienten sich nicht verwirklicht bzw. nicht objektiviert wird. Gustaves Subjektivität bleibt in diesem Sinne ›verkümmert‹; sie ist wie der Text, der keinen Leser findet. Indem der Vater seine Darbietungen nicht ernst nimmt und sich über den kleinen Schmierenkomödianten lustig macht, stellt diese erneute Verweigerung der Wechselseitigkeit eine Vertiefung der bereits bestehenden Derealisierung infolge der kalten Säuglingspflege dar (vgl. IF 2, 187). Durch den Blick des Vaters, »sein ursprüngliches Überich« (IF 3, 677), als lächerlich konstituiert, ist die Wahl, ein lächerlicher Mensch zu sein, der die Anderen absichtlich zum lachen bringt, der Versuch, durch »Übertreibung die Verhaltensweisen zu übernehmen, die sein Vater durch seine Heiterkeit bei ihm entlarvt« (IF 2, 187). Zum »Komplizen seiner Peiniger« (IF 2, 42) gemacht, wird er sich über seinen Kummer wie über »seine fruchtlosen und grotesken Kommunikationsbemühungen« (IF 2, 41) lustig machen und sich auf diese Weise mit dem Aggressor identifizieren. Gustave wird also zum Komiker, weil er ohnehin ausgelacht wird. Er will »das Gelächter dessen ständiger Gegenstand er zu sein glaubt, bei den Anderen willentlich hervorrufen und steuern« (IF 3, 515).39 Diese Lächerlichkeit ist nun keineswegs, wie Sartre einräumt, etwas Außergewöhnliches in der menschlichen Entwicklung und in einem bestimmten Alter auch nicht von destruktiver Wirkung. Kleine Kinder wissen, so fügt er hinzu, daß man über sie lacht, und übertreiben mitunter auch ihre UngeschicklichRede von Imagination erneut offenkundig: Denn ›irreal‹ meint zunächst den Abbruch der Wechselseitigkeit mit einem realen Kommunikationspartner, im folgenden, wo Sartre von der Aufrechterhaltung der Wechselseitigkeit im Irrealen spricht, bezeichnet ›irreal‹ dagegen den Umstand, daß ich mir meinen Kommunikationspartner nur vorstelle. Im ersten Fall ist der Überlebende ›irreal‹, weil er nicht mehr mit dem Toten kommunizieren kann; im zweiten Fall ist der Tote ›irreal‹, weil er nur noch imaginiert werden kann. 39 In einem Brief an Louise Colet aus dem Jahr 1853 schreibt Flaubert: »Der Kern meiner Natur ist, was man auch sagen mag, der Gaukler. Ich habe in meiner Kindheit und in meiner Jugend eine unbändige Liebe zu den Brettern gehabt. Ich wäre vielleicht ein großer Schauspieler gewesen, wenn der Himmel mich ärmer hätte geboren werden lassen« (zit. n. IF 2, 236 f.).
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keit, weil sie gerne dieses Lachen erregen. Diese Belustigung angesichts des ungeschickten Versuchs, es den Erwachsenen gleichzutun, ist wohlwollend, denn »diese Untermenschen [sous-hommes] [sind] entstehende Menschen« (IF 2, 190). Sobald das Kind jedoch die »innere Gewißheit seiner Besonderheit erlangt, sobald es dem, was es für und durch die Anderen ist, das entgegensetzen kann, zu dem es sich in der Intimität seiner Selbstgegenwart macht« (IF 2, 190),40 verliert die Komödie das Monopol der Selbstvergewisserung.41 Die Reflexion bietet eine gewisse Zuflucht vor dem Für-Andere-sein. Ein künftiger Komiker ist dagegen ein Mensch, der in dieser Lebensphase, die Sartre das »Alter der Lächerlichkeit« (IF 2, 190) nennt, steckengeblieben ist, weil ihn die Familienstruktur oder ein bestimmtes Ereignis »als Äußerlichkeit konstituiert« (IF 2, 190) hat: »(O)b man es nun auf Distanz hält, ob man sich weigert, die erlebten Motive seiner Handlungen in Betracht zu ziehen, an seinem Freud und Leid teilzunehmen, ob man es nicht nach dem besonderen Sinn seiner Verhaltensweisen beurteilt, sondern danach, ob diese den Anforderungen eines vorgegebenen Modells entsprechen, es wird zunächst entdecken, daß sich niemand an seine Stelle versetzt; es wird fühlen, daß die souveräne Autorität der Erwachsenen offensichtlich aus seiner Äußerlichkeit die Wahrheit seines Lebens und aus seinem Bewußtsein ein bloßes Geschwätz machen will, es wird merken, ohne die Gründe dafür zu verstehen, daß das wohlwollende Lachen, das es gern hervorruft, in bitteres Lachen umschlägt« (IF 2, 190). Zunächst ist die Stufe der Lächerlichkeit also ein normales Entwicklungsstadium. Sie wird zu einem konstitutiven Zug der Persönlichkeit, sobald eine unübersehbare Kluft zwischen dem tatsächlichen Verhalten des Kindes und 40
Es hat sich im vorherigen Kapitel herausgestellt, daß Flaubert aufgrund seiner passiven Konstitution genau hierzu nicht in der Lage ist. Die Reflexion kann nicht als Korrektiv und Gegengewicht der Komödie gegenübergestellt werden, da Flauberts Mutterverhältnis ihm kein Vertrauen in dasjenige gegeben hat, was er für sich selbst ist. 41 Hier zeigt sich erneut, daß die Phase des Objekt-seins, des Glaubens und des Gesprochenwerdens der Phase des Subjekt-seins, des Wissens und des Sprechens vorausgeht und der Übergang von der ersten und zweiten Phase durch die Valorisierung durch den Anderen ermöglicht wird. Die »Priorität des Objekts vor dem Subjekt, dessen, was man für die anderen ist, vor dem, was man für sich ist« (SG 19) bedeutet, wie Sartre am Beispiel Genets erläutert, daß sich die »Gewißheit, die er von sich selbst hat«, der »Wahrheit, die er für die anderen ist« (SG 19), unterordnet. Dies ist so weitreichend, daß einsame Aktivitäten nicht existieren, weil ›existieren‹ heißt »von den Erwachsenen gesehen werden« (SG 32). Und dieser Vorrang der Objektivität des Kindes ist für Sartre, wie sich seinen Cahiers pour une morale entnehmen läßt, noch keine Spezifität einer passiven Konstitution, wie sie sich bei Genet und Flaubert ereignet hat, sondern der Normalfall der kindlichen Situation: »L’enfant est d’abord objet. ›Nous commençons par être enfants avant que d’être hommes‹, cela veut dire: nous commençons par être objets« (Cahiers pour une morale, 22).
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den Erwartungen der Eltern hinsichtlich seiner Entwicklung auftaucht. Die Reduktion auf die Äußerlichkeit ist das Ergebnis einer Nicht-Valorisierung der Innerlichkeit. Ein solches Fehlen von Anteilnahme oder Empathie (vgl. das Kapitel zur Hermeneutik) zeigt sich darin, daß nicht die Perspektive des Kindes selbst bzw. seine subjektive Erlebnisdimension (der individuelle Sinn der Handlungen, die erlebten Motive usw.) gewürdigt wird, sondern vielmehr eine Beurteilung und Bewertung ›von außen‹ vollzogen wird, die sich an bestimmten normativen Maßstäben orientiert. Diese Überlegungen machen deutlich, daß die Konstitution der Lächerlichkeit nicht schon im Stadium der Säuglingspflege stattfinden kann, sondern erst, sobald ein bestimmte Reifegrad erwartbar ist. Spätestens wenn die Ungeschicklichkeit zu einem Zeichen von Zurückgebliebenheit wird und die Eltern sich in ihrem Kind nicht mehr wiedererkennen, hört sie auf, amüsant zu sein. Das Kind wird niemals ein Mensch sein, genauer: Es wird die von der Gesellschaft geforderte ›menschliche Person‹ niemals verinnern. Und dies ist nach Sartre »ein guter Start für einen zukünftigen Komiker« (IF 2, 190). Wenn sich niemand an seine eigene Stelle versetzt, kann es geschehen, daß das Kind ebenfalls auf eine solche Komplizenschaft mit sich selbst verzichtet. Es distanziert sich in der Reflexion von seinem eigenen erlebtem Schmerz, um aus vorauseilendem Gehorsam als erster über sich selbst zu lachen und um sich mit denen zu solidarisieren, die es geringschätzen. Eine solche »Berufung zu einem Komiker« erfüllt sich, indem das unmittelbare Erleben als Mittel verstanden wird, das Lachen der Anderen hervorzubringen. Hierdurch entwickelt sich »ein lächerliches Bild, die wütende Unterwerfung des Innern unter den platten Schein der Äußerlichkeit«. Das Ergebnis ist eine »durch das wilde Lachen der Anderen irrealisierte Mißgeburt« (IF 2, 191).
9. 3. Ausweitung der Lächerlichkeit auf die Menschheit In der Übernahme der Lächerlichkeit durch den Komiker erblickt Sartre zugleich auch eine Weiterführung des Phänomens des Lächerlichen, die die Diffamierung von Subjektivität und Praxis letzten Endes auf die gesamte Menschheit ausdehnt. Die Komik kehrt die Strategie der seriösen Menschen um, indem sie den normativen Menschenbegriff als lächerlichen Irrtum entlarven will. Während die Lächerlichkeit »ein unmittelbares Merkmal [ist], das auf Grund einer spontanen Abwehrreaktion der Umgebung jedem beliebigen Individuum anhaften kann« (IF 3, 820), beabsichtigt die Komik – »wie die Tragik, ihr Gegenteil« (IF 3, 820) – auf weniger direkte, sondern eher vermittelte Weise die »Wahrheit des Menschenlebens« (IF 3, 820) jenseits der faktischen und kontingenten Einzelereignisse zu offenbaren. Sowohl der komische wie der tragische Autor eliminieren die Kategorien des
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Realen und des Möglichen42 und beschränken sich wie der Geometer auf das Unmögliche und das Notwendige (vgl. IF 3, 820). Beide behaupten, daß der Mensch nicht notwendig und daher im Grunde unmöglich ist. Aber während aus der Tragödie der Zufall nach Sartre völlig ausgeschlossen ist, fällt er in der Komödie mit der Notwendigkeit zusammen. Sartre beschreibt zur Veranschaulichung eine Szene aus Chaplins Film Modern Times, in dem Chaplin sich auf eine Kiste setzen will, die im selben Augenblick von einem bisher unsichtbaren Lastenaufzug nach unten befördert wird. Es scheint sicher, daß er zu Tode stürzt, aber in dem Augenblick ruft ihn jemand, und er richtet sich wieder auf. Nach kurzer Zeit kehrt er zurück und will sich erneut setzen, diesmal rettet ihn der wieder auftauchende Lastenaufzug, die Kiste steigt ihm entgegen und befindet sich direkt unter ihm, als er sich hinsetzt. Dieser Situation gibt Sartre die folgende Deutung: Das Subjekt glaubt, die Initiative zu ergreifen, sein Leben zu lenken und die Welt zu beherrschen. Und es ist der Zufall, der diese vermeintliche Souveränität als Illusion entlarvt: »(W)enn der Zufall herrscht, ist der Mensch im voraus verloren, insofern er nicht durch einen Zufall gerettet wird« (IF 3, 821). Sein Überleben ist ihm aus der Hand genommen; die Praxis ist ein Traum und der Mensch nur ein »Objekt in der Welt«, das nicht kraft seiner Tätigkeit überlebt, sondern weil der Zufall es ihm erlaubt (vgl. IF 3, 822). Die Komik reduziert das Subjekt auf das Objekt, das Innerliche auf das Äußerliche – aber diese Reduktion »ist nicht Auflösung: die Illusion bleibt, sie wird lediglich ständig disqualifiziert« (IF 3, 822). Der Mensch ist zufällig gescheitert oder zufällig siegreich – aber »zugleich entwertet: Die Unmöglichkeit, zu handeln oder zu lieben […], bezeugt die Unmöglichkeit, Mensch zu sein« (IF 3, 822).43 Während die Lächerlichkeit durch »das spontane Lachen« ein Individuum disqualifiziert, geschieht beim »hervorgerufene(n) Lachen« durch die Komik also die Disqualifizierung der gesamten menschlichen Gattung (vgl. IF 3, 822 f.). Es gelingt dem lächerlichen Menschen im Gegenzug durch seine Komik also tatsächlich, seine Richter mit dieser Lächerlichkeit zu infizieren. Damit befreit sich der Komiker zwar nicht von seiner Lächerlichkeit, aber von seiner Deklassierung: Wenn die Lächerlichkeit das Schicksal aller Menschen ist, kann er infolge seiner eigenen konstituierten Lächerlichkeit nicht länger als Außenseiter betrachtet werden. Er ist nicht mehr derjenige, der nur unzureichend die Bestimmungen des Menschseins realisiert, sondern ganz
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Die Welt der Tragik oder der Komik verhält sich daher analog zur Beschreibung der Welt des Traumes in Das Imaginäre (vgl. Im 254–279). 43 Recht unvermittelt und ohne daß dieses Thema es nahelegen würde, spricht Sartre hier von der Liebe, deren Fehlen das Menschsein unmöglich macht. Allerdings ist zuvor schon wiederholt der Gedanke aufgetaucht, daß fehlende Praxis sowohl wie fehlende Valorisierung einen Menschen irrealisieren.
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im Gegenteil eine Person, in der das menschliche Schicksal in viel größerer Klarheit und Nachdrücklichkeit als bei den anderen Menschen zum Ausdruck kommt. Die Aufhebung der Abwertung der eigenen Person nimmt hier ihren Weg über die Abwertung der menschlichen Gattung. Es ist jedoch klar, daß dieses Vorgehen bestenfalls für kurze Zeit eine gewisse Verwirrung bei den integrierten Menschen hervorrufen kann. Eine reale Befreiung im Sinne einer praktischen Revolte würde Sartre zufolge nicht versuchen, die eigene Irrealität auf alle anderen auszuweiten, sondern ganz im Gegenteil das Ziel verfolgen, real ein Mensch zu werden, d. h. sich von seiner Lächerlichkeit oder von sonstigen Formen der Irrealisierung zu befreien. Es wird sich im folgenden zeigen, daß Flauberts Literatur analog zur Komik als eine solche Strategie der Demoralisierung der zeitgenössischen Leser verstanden werden kann.
9. 4. Widersprüchlichkeiten infolge der Äquivokation des Imaginationsbegriffs Der anschließende Abschnitt widmet sich der Explikation des impliziten Konzepts der Imagination, von dem sich die soeben erörterten Gedankengänge leiten lassen. Hier zeigt sich derselbe Sachverhalt wie bei der Diskussion der Literaturtheorie: Sartre geht von mehreren Imaginationsbegriffen aus, und da er diese an keiner Stelle vergleichend einander gegenüberstellt und ihre jeweiligen Zuständigkeitsbereiche voneinander abgrenzt, unterlaufen ihm unvermeidlich eine Reihe von Unklarheiten und Widersprüchen. Als Einstieg in diese Problematik sei eine Äußerung zitiert, die sich als Versuch lesen läßt, die Differenz zwischen der Schauspielerei als Struktur der conditio humana und der Schauspielerei als beruflicher Tätigkeit kenntlich zu machen. Dabei handelt es sich um eine Unterscheidung, die sich innerhalb von Sartres Denken auch als Gegenüberstellung von ontologischer und ontischer Schauspielerei oder ›realisierender und bloßer Komödie‹ (vgl. SN 179) fassen ließe: »Natürlich spielt jeder zu sein, was er ist«, erklärt Sartre, aber »Kean spielt zu sein, was er nicht ist und wie er weiß, nicht sein kann« (IF 2, 22). Hier kommt es nun erneut zur Widersprüchlichkeit durch die schon von der Literaturtheorie her vertraute Äquivokation des Imaginationsbegriffs. Wenn das Imaginäre im Gegensatz zu Wahrnehmung und Realität verstanden wird, wirft die zitierte Erklärung Sartres keine Probleme auf: Der Schauspieler verkörpert auf irreale Weise einen König, der er nicht ist und den es meistens auch gar nicht gibt. Von hier aus ist es völlig plausibel zu sagen, daß Kean spielt, was er nicht ist. Wird die Imagination jedoch durch den Gegensatz zu Kommunikation und Praxis bestimmt, wie es in der Flaubert-Studie
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überwiegend geschieht, dann widerspricht Sartre dieser zitierten Bemerkung, wenn er später erklärt, daß nur derjenige lächerliche Personen spielen kann, der als lächerlich konstituiert worden ist (vgl. IF 2, 189): Kean spielt also doch – ganz genau wie jeder Mensch –, was er ist. Allerdings ist nicht jeder Schauspieler ein Komiker, und vielleicht gilt diese Charakterisierung nur für den Fall des Komikers. Dieser Einwand verdient eine nähere Betrachtung, da er den aufgewiesenen Widerspruch – der Schauspieler spielt, was er nicht ist; der Komiker, der doch ebenfalls ein Schauspieler ist, kann nur lächerliche Personen spielen, wenn er lächerlich ist – möglicherweise auflöst: Nach Sartres These wird nur derjenige ein Schauspieler, der als ein Schein konstituiert worden ist (vgl. IF 2, 23). Insofern sowohl der Tragöde wie der Komiker Schauspieler sind, trifft diese Bestimmung auf beide zu. Wie wird man als ein Schein konstituiert? Schon bei der Erörterung der Primärsozialisation im ersten Band der Flaubert-Studie ist deutlich geworden, daß eine solche Irrealisierung auf Erfahrungen der Mißachtung bzw. des Ausschlusses aus der Kommunikationsgemeinschaft beruht. An späterer Stelle stellt Sartre nun den Komiker im besonderen als eine Person dar, die durch ihre Familienstruktur oder ein nachhaltiges Ereignis als bloße Äußerlichkeit bzw. als lächerlich bestimmt worden ist (IF 2, 190). In Anbetracht des genaugenommen trivialen, aber dennoch triftigen Einwands, daß nicht jeder Schauspieler ein Komiker ist, stellt sich die Frage, worin sich etwa die familiäre Konstitution des Tragödiendarstellers von der des Komikers unterscheidet, wenn jeder Schauspieler als Schein instituiert worden ist und eine solche Instituierung sich als Mißachtung der Innerlichkeit, mithin als Reduktion auf Äußerlichkeit definieren läßt. Auf welche Weise geschieht also die Konstitution der Lächerlichkeit, und worin liegt ihre Spezifität gegenüber der Konstitution als Schein im allgemeinen? Wenn Sartre über jene Kinder spricht, die niemals dem Zeitalter der Lächerlichkeit entrinnen, so erweist sich, daß diese Entwicklungsstörung nicht notwendig mit dem Ausgelachtwerden verknüpft sein muß. Nicht nur das Lachen konstituiert einen Menschen als lächerlich, vielmehr steht es bei Sartre offensichtlich in einer Reihe mit anderen Phänomenen, die alle dieselbe soziale Bedeutung besitzen. Genannt werden die Weigerung, ›die erlebten Motive der Handlung des Kindes in Betracht zu ziehen‹, oder die fehlende ›Anteilnahme an seinem Freud und Leid‹ (vgl. IF 2, 190). Es handelt sich im Grunde in beiden Fällen um denselben Sachverhalt, der auf das folgende hinausläuft: Die Objektivität eines Menschen, die sich nach allgemeinen Faktoren erkennen läßt, rückt in den Vordergrund auf Kosten der Subjektivität, die sich nur der Empathie erschließt (vgl. das Hermeneutik-Kapitel). Die Eltern versetzen sich nicht in die Perspektive des Kindes, sondern beurteilen es nach einem ›vorgegebenen Modell‹ (vgl. IF 2, 190). Aus Sartres Erläuterungen zur konstitutiven Irrealisierung des ›prädestinierten‹ Komikers, läßt sich keinesfalls die erwartbare Spezifität herleiten, daß der künftige Komiker vor allem
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durch das Lachen irrealisiert worden ist.44 Es handelt sich vielmehr um jene allgemeinen Formen der Nichtvalorisierung, die im Verlauf der vorliegenden Arbeit bereits mehrfach erwähnt worden sind. Wenn aber hierdurch ein lächerlicher Mensch hervorgebracht wird, dann bleibt nur noch der Schluß, daß in Der Idiot der Familie Schein und Lächerlichkeit miteinander identifiziert werden. Es ist im Ausgang von Sartres konzeptionellem Rahmen und den bisherigen Phänomenbeschreibungen jedenfalls nicht mehr auszumachen, worin sich die Konstitution als ›lächerlich‹ von derjenigen als ›Schein‹ noch unterscheiden können soll. Wenn daher kategorisch festgestellt wird, daß jeder Schauspieler – also ebenfalls der Tragödienschauspieler – als Schein konstituiert ist, so ergibt sich, daß auch jeder Schauspieler lächerlich ist. ›Lächerlichkeit‹ ist in Sartres Darstellung ohnehin in erster Linie gleichbedeutend mit ›Minderwertigkeit‹ (nach dem Wertmaßstab einer jeweiligen historischen Gesellschaft), und erst in einem sekundären Sinne wird durch eine bestimmte Umgangsweise der Gesellschaft mit dieser Minderwertigkeit, nämlich durch das kollektive Lachen als Abwehrreaktion, der betreffende Mensch komisch. Sartres Theorie des Lachens insbesondere des lächerlichen Menschen erweist sich als zu weit gefaßt. Möglicherweise qualifizieren alle aufgeführten Momente tatsächlich diesen Phänomenbereich, aber insofern sie auch dort anzutreffen sind, wo Menschen nicht ausgelacht, sondern regelrecht bedroht und verfolgt werden, um den skandalösen Anblick und die Anfechtung des menschlichen Idealbildes zu bewältigen, scheint Sartre hiermit eher eine Theorie sozialer Mißachtung am Beispiel des Lachens vorzulegen. Identifiziert man ›irreal‹ mit ›lächerlich‹ wie auch mit ›minderwertig‹ und appliziert diesen Zusammenhang auf die Problematik des Schauspielers, so läßt sich folgern, daß der Schauspieler, noch bevor er seine Entscheidung für das komische oder das tragische Rollenfach trifft, bereits lächerlich ist, in dem Maß als er eine tiefgreifende Mißachtung seiner Innerlichkeit erfahren hat. Der Darsteller ernster Rollen wäre dann jemand, der seine lächerliche Disposition nicht für komische Effekte nutzt, sondern ihr eine tragische Wendung zu geben versucht. Bei Sartre läßt sich jedenfalls alles in allem kein Hinweis darauf finden, ob es Unterschiede auf der Ebene der Konstitution zwischen dem Tragöden und dem Komödianten gibt, so daß infolgedessen diese Differenzierung erst auf der Stufe der Personalisation – wenn der Entwurf die Konsti44
Über jedes Kind wird, wie Sartre erklärt hat, anfangs gelacht, und dieses Lachen ist zunächst wohlwollend gemeint. Das Kind findet unter der Bedingung nicht aus dem Zeitalter der Lächerlichkeit heraus, daß seine Ungeschicklichkeit irgendwann den Verdacht auf Zurückgebliebenheit gemessen an einem normativen Entwicklungsmodel erweckt. Wenn das Ausgelachtwerden demnach nicht dasjenige ist, was ein Kind zum Komiker prädestiniert, fällt jegliche Möglichkeit weg, innerhalb der Konstituierung als Schein (genus proximum) die Spezifität der Konstituierung des künftigen Komikers (differentia specifica) hervorzuheben.
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tution überschreitet – ins Spiel kommen kann. Einleuchtend ist sicher der Gedanke, daß die Äußerlichkeit im Leben des ›geborenen Schauspielers‹ – vor allem auch in seinem Selbstverhältnis – eine größere Rolle spielt als bei anderen Menschen. Ein solches Schwergewicht dessen, was man für Andere ist, gegenüber dem, was man für sich ist, wäre für Sartre immer das Resultat von tiefgreifenden Erfahrungen der Mißachtung von Subjektivität. Fragwürdig bleibt an diesen Überlegungen freilich der Umstand, daß die Wirkung des tragischen Helden anders als beim lächerlichen Charakter weder auf einer Inferiorität noch auf dem Absehen von seiner Innerlichkeit beruht: Alle Stücke der griechischen Tragiker handeln ganz im Gegenteil »vom Leiden des heroischen Menschen«.45 Für Aristoteles ist die Komödie »Nachahmung von schlechteren Menschen, aber nicht im Hinblick auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit als das Lächerliche am Häßlichen teilhat«.46 Hierin unterscheiden sich für den griechischen Philosophen Komödie und Tragödie grundlegend voneinander: »(D)ie Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen«.47 Verknüpft man Aristoteles’ Ansicht, daß »die Tragödie Nachahmung von Menschen ist, die besser sind als wir«,48 mit der Konsequenz aus Sartres Gedankengang, daß jeder Schauspieler als lächerlicher Mensch konstituiert worden sein muß, so würde daraus folgen, daß nicht nur der Komödiendarsteller, sondern auch der Tragödiendarsteller, also der Darsteller von Menschen, die besser sind als sein Publikum, jemand sein muß, der – in der Sichtweise seiner Mitmenschen – schlechter ist als sein Publikum. Nach Aristoteles ruft die vorbildliche Tragödie nicht Lachen und Mißachtung, sondern ganz im Gegenteil phobos und eleos hervor, um die Zuschauer von genau diesen Affekten zu befreien (Katharsis).49 Wie sollte gerade die Lächerlichkeit des realen Menschen ihn dazu prädestinieren, auf der Theaterbühne bei seinem Publikum phobos und eleos zu evozieren? Dies scheint auf den ersten Blick abwegig. Trotz der völlig konträren Reaktionen des Komödien- und des Tragödienpublikums ist es jedoch nicht ausgeschlossen, daß diese Reaktionen sich auf dieselben Eigenschaften beziehen können. Unter bestimmten Voraussetzungen könnte eine bestimmte Person gerade aufgrund ihrer Lächerlichkeit ein beeindruckender Tragöde auf der Bühne oder im Film sein. Der soeben verhandelte Einwand, für den Schauspieler müsse nicht gelten, was für den Komiker gilt und umgekehrt, war vor dem Hintergrund der 45
Ries, Griechische Tragiker, 8. Aristoteles, Poetik, Kap. 5. 47 Aristoteles, ebd., Kap. 2. 48 Ebd., Kap. 15. 49 Gigon gibt diese Begriffe in der Übertragung von 1961 mit ›Furcht‹ und ›Mitleid‹ wieder, Fuhrmann übersetzt in der Ausgabe von 1982 dagegen mit ›Jammern‹ und ›Schaudern‹. 46
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Frage von Interesse, ob Sartre sich in Widersprüche verwickelt: Einerseits erklärt er, daß der Schauspieler im Unterschied zu anderen Menschen spielt, was er nicht ist. Zugleich hebt er aber wenig später hervor, daß nur derjenige lächerliche Personen spielen kann, der als lächerlich konstituiert worden ist. Wenn die Diskussion des Einwands nun erwiesen hat, daß die beiden einander gegenübergestellten Bestimmungen sich auf denselben Sachverhalt beziehen, so zeigt sich hierin ein Widerspruch, da sie sich offensichtlich gegenseitig ausschließen. Die Widersprüchlichkeiten, die Sartres Erläuterungen hervorrufen, kommen nicht von ungefähr: Mit beiden Kategorien – ›Schauspieler‹ und ›Komiker‹ – sind jeweils unterschiedliche Imaginationskonzepte verknüpft, mit denen Sartre eine erhebliche Verwirrung stiftet, weil er selbst nicht die Mehrdeutigkeit seiner Auffassung von Imagination klärt. Spricht Sartre vom Schauspieler im allgemeinen, so bezieht er sich auf den ersten Imaginationsbegriff (Imagination im Unterschied zur Wahrnehmung); ist dagegen vom Komiker die Rede, so ist der zweite Imaginationsbegriff gemeint (Imagination im Unterschied zu Kommunikation und Praxis). Wenn Sartre erklärt, daß der Schauspieler sich irrealisiert (vgl. IF 2, 22), so meint er, daß er irreal ein Anderer wird (z. B. Hamlet). Gemeint ist hier offensichtlich die Imagination, so wie sie in der frühen Schrift Das Imaginäre verstanden wird, also als Gegenpol zu Wahrnehmung und Realität. Wird nun im Anschluß hinzugefügt, daß derjenige, der die Wahl des Irrealen trifft, selbst als ein Schein konstituiert sein muß (vgl. IF 2, 23), so wird ja im zweiten Teil dieser These der Imaginationsbegriff nicht auf dieselbe Weise verwendet. Denn dies hieße dann doch nur, daß ein Anderer diesen betreffenden Menschen nicht wahrnimmt, sondern ihn vergegenwärtigt. Dies ist aber offensichtlich an dieser Stelle nicht gemeint, denn ich werde durch die Mißachtung als Schein konstituiert und nicht dadurch, daß ein Anderer von mir träumt. Hier findet also unter der Hand ein Wechsel der Bedeutung des Imaginationsbegriffs statt. Dort, wo es heißt, der Schauspieler manifestiere den Schein eines Menschen, ist damit hervorgehoben, daß er einen Menschen präsentiert, der nur scheinbar, also nicht real da ist. Wenn hingegen der Komiker den Schein eines Menschen manifestiert, so meint ›Schein‹ hier nicht, daß eine Person nicht real ist, sondern daß sie keine Person ist.50 Die Äquivokation liegt also darin: Mit der Feststellung der Scheinhaftigkeit wird im ersten Fall die Existenz der Person
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Die Äquivokation des Imaginationsbegriffs zeigt sich auch im folgenden Beispiel: Wenn Sartre erklärt, wie der Meißel des Bildhauers einen Stein irrealisiert, damit er ein Nicht-sein, die Venus von Milo, darstellen kann (IF 2, 147 f.), so meint ›irrealisieren‹ hier ja auf keinen Fall, daß der Bildhauer den Stein auslacht oder ihn durch sonstige Formen der Mißachtung auf seine Äußerlichkeit reduziert.
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und im zweiten Fall das Personsein der Person negiert.51 Daher kann im zweiten Fall der irrealisierte Mensch durchaus real im Sinne von ›tatsächlich vorhanden‹, ›wahrnehmbar‹ oder ›transphänomenal‹ sein, z. B. etwa dann, wenn der Komiker seine eigene Person dem Gelächter preisgibt. Insofern nicht jeder Lächerliche auch Komiker ist, reduziert sich die Lächerlichkeit im Sinne des zweiten Imaginationsbegriffs nicht auf den Bereich des ersten Imaginationsbegriffs. Kurz, nicht jeder, der lächerlich ist, ist Schauspieler im ontischen Sinne.52 Entgegen den vorgenommenen eher idealtypischen Unterscheidungen ist im übrigen nicht ausgeschlossen, daß die beiden Imaginationsformen in den meisten tatsächlichen Fällen miteinander verschränkt auftauchen: So verkörpert der Komiker in dem Maß als er übertreibt, d. h. also spielt, was er nicht ist, eine irreale Figur im Sinne des ersten Imaginationsbegriffs. Dies gelingt ihm vielleicht jedoch nur deswegen so überzeugend, weil seine Persönlichkeit sich als Analogon einer solchen lächerlichen Figur eignet. Und dieser Umstand verweist wiederum auf die zweite Bedeutung von Imagination. In diesem Beispiel scheint ein Ineinander der beiden Imaginationsformen zunächst einleuchtend. Schwierigkeiten tauchen dann auf, wenn gefragt wird, wie der Komiker einerseits Lachen und Geringschätzung hervorrufen und andererseits eine berühmte und geschätzte Person des öffentlichen Lebens sein kann. Aus Sartres Ausführungen zur Phänomenologie des Lachens wird ersichtlich, daß Lachen und Anerkennung an entgegengesetzten Enden der Bandbreite zwischenmenschlichen Handelns liegen.53 Die Anerkennung widerspricht natürlich nicht der Irrealisierung im ersten Sinne des Imaginationsbegriffs, demzufolge der Schauspieler jemand ist, der ein Nicht-Sein, also eine nicht existierende oder abwesende Person verkörpert.54 Aber es
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Der sich anschließende Abschnitt wird sich noch genauer der Frage widmen, welcherart die Negation in den verschiedenen Imaginationsbegriffen ist. 52 Im ontologischen Sinne ist nach Sartre natürlich jeder ein Schauspieler. 53 Obwohl auch für Bergson Mitgefühl und Lachen einander ausschließen, ist das Lachen über die komische Gestalt für ihn trotzdem nicht ohne Sympathie: »Oft hegen wir für eine komische Gestalt zunächst viel Sympathie. Jedenfalls versetzen wir uns vorübergehend an ihre Stelle, wir nehmen ihre Gebärden, ihre Redensarten, ihre Handlungsweisen an, und wenn uns das Lächerliche an ihr belustigt, so fordern wir sie im Geist auf, mit uns darüber zu lachen. Wir behandeln sie als Kameraden. Dem Lachen ist also zumindest ein Anschein von Wohlwollen, von liebenswürdiger Leutseligkeit eigen, und es wäre falsch, dieser Tatsache nicht Rechnung zu tragen« (ebd., 122). Hier ist das Lachen keine Bestrafung von mechanisch-ungeselligem Verhalten, wir lassen uns vielmehr dankbar auf ein entspannendes traumartiges Spiel ein, mit dem wir uns vorübergehend vom anstrengenden Pragmatismus des Alltagslebens lösen und solidarisch mit der komischen Figur sind (vgl. ebd., 123). 54 Es kommt nicht so sehr darauf an, daß diese Person nicht existiert oder abwesend ist, sie könnte sogar existieren, ja sogar im Augenblick der Darstellung anwesend sein; wichtig scheint hier eher, daß der Schauspieler diese Person nicht ist. Aber es empfiehlt sich, noch genauer zu sein: Es wäre denkbar, daß jemand absichtlich sich selbst darstellt, so wie er im
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scheint evident, daß im Sinne der zweiten Imaginationsform die Reduktion auf Äußerlichkeit durch das Lachen jede Form von Anerkennung radikal ausschließt. Hier könnte zunächst der Unterschied zwischen dem Darsteller und der Rolle geltend gemacht werden: Während dem Darsteller für seine gelungene Darbietung Wertschätzung entgegengebracht wird, bleibt die Lächerlichkeit und Mißachtung der Rolle vorbehalten. Aber der zweite Imaginationsbegriff ebnet gerade den Unterschied zwischen Darsteller und Rolle ein, wenn Sartre erklärt, daß das Publikum zu Recht jene Differenz ignoriert, weil der Darsteller lächerlicher Figuren auch selbst lächerlich sein muß (vgl. IF 2, 189). Tatsächlich hat sich die Seriosität, die der Komiker im Alltagsleben zur Schau trägt, »gegen die fundamentale Lächerlichkeit konstituiert« (IF 2, 193). Bleibt die Fiktionalität der lächerlichen Figur auf der Strecke,55 so stellt sich die Frage, wie nicht nur hinsichtlich desselben Menschen, sondern auch hinsichtlich derselben Eigenschaften dieses Menschen Mißachtung in Form des Ausgelachtwerdens und künstlerische Anerkennung möglich sein soll. Tatsächlich tendiert Sartre mit einiger Konsequenz zum Ausschluß des letzteren: So hebt er hervor, daß dem Komiker »niemand Dank weiß«, daß »sich ein ganzer Saal von ihm distanziert und ihn als Äußerlichkeit behandelt« (IF 2, 189). Nicht erst das Gebaren auf der Bühne ist lächerlich, schon die Absicht, Lachen hervorzurufen, ist »verdächtig und zutiefst lächerlich« (IF 2, 189). Wer sich »wissentlich der Züchtigung durch das Lachen« darbietet, gilt als »Verräter der Spezies Mensch« (IF 2, 189). An einer anderen Stelle schlägt Sartre jedoch ganz andere Töne an und unterstreicht den Ruhm dieses Metiers: Nicht nur begeistert der Schauspieler das Publikum im Saal, sondern er wird überdies in den »Rang eines nationalen Gutes« erhoben, man überreicht ihm einen Orden, er wird geadelt usw. (IF 2, 151). Der Schauspieler wird »als Facharbeiter der Imagination anerkannt« (IF 2, 151). Und wenn Sartre kurz zuvor noch von der Affinität zwischen Rolle und Mensch gesprochen hat und hervorhebt, »daß der Tragödienmonarch seine Spieler vor allem unter denen auswählt, die auch im Leben Monarchen spielen« (IF 2, 150), so erwähnt er eine Seite weiter jene Bewunderer, die einen berühmten Schauspieler persönlich kennenlernen und enttäuscht sind, weil sie nirgendwo den »Wahnsinn von King Lear« oder das »Rasen von Othello« entdecken können.
Augenblick aber nicht ist: In einer heiteren, ausgeglichenen Stimmung könnte ich zum Beispiel als eine Art Selbstparodie mich selbst irreal in einem Wutausbruch inszenieren. Und diese Simulation könnte gerade bei denen Lachen hervorrufen, die sich an solche realen Szenen mit mir erinnern. 55 Vgl. IF 2, 192: »(W)er sagt, daß er den Blöden macht, daß er im Irrealen zu dem Idioten wird, der er wäre, wenn er mit Idiotie geschlagen wäre, sagt noch zu wenig: um das analogon der persona hervorbringen zu können, die er vorführt, macht er sich zu dem Schwachkopf, der er ist«.
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Es wäre falsch, so fügt Sartre hinzu, zu sagen, daß sich diese Eigenschaften verbergen: »(S)ie sind einfach nicht, das ist alles« (IF 2, 151). Aber dies soll ja offensichtlich gerade nicht für die Lächerlichkeit des Komikers gelten. Sartre schwankt also deutlich zwischen zwei völlig gegensätzlichen Auffassungen zur Schauspielerproblematik hin und her, die von den zwei divergierenden Imaginationskonzepten herrühren. Umgehen ließe sich dieser Widerspruch nur dann, wenn der Komiker kein Schauspieler wäre, Sartre also immer nur den Tragödiendarsteller meint, wenn er vom Schauspieler spricht. Privilegiert man hinsichtlich der Problematik des Komikers den zweiten Imaginationsbegriff, so haben jene Personen ›recht‹, die die Unterscheidung zwischen Person und Rolle ignorieren und sich auch beim Privatmenschen auf komische Situationen einstellen. Hält man dagegen den ersten Imaginationsbegriff in diesem Fall für gewichtiger, so wird diese Unterscheidung aufrechterhalten, und es ergibt sich die Möglichkeit der Wertschätzung der schauspielerischen Leistung, die der zweite Imaginationsbegriff auszuschließen scheint, indem er die Fiktionalität der Rolle außer acht läßt und die Lächerlichkeit als Schicksal des realen Menschen begreift. Erwägenswert wäre der Versuch, diese Widersprüchlichkeit durch eine Synthetisierung beider Imaginationskonzepte aufzuheben: Der Schauspieler ließe sich auf diese Weise als eine reale Person beschreiben, die eine nicht existierende Person vorführt, welche aufgrund ihrer Lächerlichkeit keine Person ist. Es handelte sich hierbei um eine Potenzierung des Irrealen in Form einer sowohl nicht existierenden wie auch lächerlichen Figur auf der Grundlage der konstitutiven Lächerlichkeit des realen Darstellers, die selbst nicht direkt, sondern vermittelt über die fiktive Figur in Erscheinung tritt. Gelacht wird also nicht lediglich über eine lächerliche Figur, sondern – im zweifachen Sinne von Irrealität – über eine fiktive lächerliche Figur. Hierdurch wäre es möglich, die darstellerische Kompetenz des Schauspielers zu würdigen, ohne sie auf jene konstitutive Disposition, die im übrigen hier gar nicht bezweifelt werden soll, zu reduzieren. Bewundert wird der reale Darsteller, dessen Irrealität bzw. Lächerlichkeit als Analogon einer fiktiven lächerlichen Figur dient, die er in dem Maße nicht ist, als er seine reale56 Lächerlichkeit, die ihn irrealisiert,57 übertreibt.58
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Im Sinne des ersten Imaginationsbegriffs. Im Sinne des zweiten Imaginationsbegriffs. 58 Durch die Übertreibung wird die Lächerlichkeit des Darstellers, die real im ersten Sinne und irrealisierend im zweiten Sinne ist, zu einer Lächerlichkeit, die sowohl im zweiten als auch im ersten Sinne irreal ist. 57
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9. 5. Bestimmung und Abgrenzung von drei unterschiedlichen Auffassungen des Imaginären Bei genauem Hinsehen lassen sich im Anschluß an die soeben vorgenommenen Überlegungen nicht weniger als drei Imaginationsbegriffe voneinander unterscheiden, die Sartre nicht säuberlich auseinanderhält und welche daher beständig in seinen Beschreibungen ineinanderspielen. Der früheste Imaginationsbegriff in Sartres Denken hat die Bedeutung von: etwas vorstellen, das nicht da oder abwesend ist. Der zweite Imaginationsbegriff versteht sich als Antipode zur Praxis. Dies läßt sich a) positiv als Kontemplation und b) negativ als praktische Ohnmacht verstehen. Der dritte Imaginationsbegriff bezieht sich auf das Subjekt, welches einer Nicht-Valorisierung bzw. Mißachtung ausgesetzt ist. Bisher sind der zweite und dritte Imaginationsbegriff miteinander identifiziert worden. Für viele, vielleicht sogar für die meisten betreffenden Gegebenheiten mag dies auch berechtigt sein. Dennoch lassen sich Fälle aufweisen, die dafür sprechen, beide Formen analytisch auseinanderzuhalten: Es ist denkbar, daß jemand zwar im hohen Maße soziale Anerkennung genießt, sich aber freiwillig in fast ausschließlich kontemplativer Weise zur Welt verhält. So befindet sich z. B. ein Tyrann, dem jeder Wunsch unverzüglich erfüllt wird, nach Sartre außerhalb der Realität, weil er kein praktisches Verhältnis zur Welt hat. Von Irrealität kann hier gesprochen werden, obwohl man ihm rückhaltlos Respekt entgegenbringt (keine Irrealisierung im dritten Sinne), und sie hat ihren Grund auch nicht darin, daß er sich permanent Phantasien und Tagträumereien hingibt (keine Irrealisierung im ersten Sinne): Hier zeigt sich die Nichtreduzierbarkeit des zweiten (Gegenpol zur Praxis) auf den dritten Imaginationsbegriff (Gegenpol zur Anerkennung): Der Tyrann erfährt Anerkennung und lebt doch in einer irrealen Welt, weil er nicht handelt. Es gibt also Passivität und damit Irrealität trotz Anerkennung. Eine solche Haltung würde sich hinsichtlich der Imaginationsproblematik nicht von der praktischen Ohnmacht desjenigen unterscheiden, für den alle Möglichkeiten versperrt sind und der sich wie der Mensch in der Komödie oder der Tragödie nur als Objekt der Welt wiederfände: »Wenn die Welt immer günstig ist, wenn sie immer feindselig ist, gibt es nur noch den Traum« (WE 130). Umgekehrt wäre ein Beispiel für die Nichtreduzierbarkeit des dritten auf den zweiten Imaginationsbegriff der sozial marginalisierte Mensch, der sich aktiv für seine Rechte engagiert.59 Er verwirklicht zwar ein praktisches Verhältnis zur Welt, 59
Allerdings darf auch die Vielschichtigkeit des Verhältnisses von Anerkennung und Praxisbefähigung nicht außer acht gelassen werden: Berücksichtigt man den ersten Teil der Flaubert-Studie, so wäre es denkbar, daß eine auf gesellschaftlicher Ebene diffamierte Person nur deshalb praxisfähig ist, weil sie als Kind in ihrer Familie Anerkennung erfahren und daher als Subjekt im vollen Sinne konstituiert wurde. So wäre der von Sartre als
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aber er bleibt irreal, solange er keine Anerkennung erfährt. Es gibt also ein Leben in der Praxis ohne Anerkennung. Auffällig ist, daß für jede der drei Varianten des Imaginären ein privativer Zug konstitutiv ist: Das Imaginäre wird in allen Fällen durch sein Gegenteil definiert, indem es 1. dem Realen bzw. Wahrgenommenen, 2. der Praxis und 3. der Valorisierung gegenübergestellt wird. Anders als beim ersten Imaginationsbegriff erweist sich zudem bei den anderen beiden, daß die Irrealisierung hier der Willkür des erlebenden Subjekts entzogen ist.60 Zugleich sind die beiden Begriffe ›Passivität‹ und ›Nicht-Valorisierung‹ für Sartre auch offensichtlich im pejorativen Sinne zu verstehen. Im einen Fall wird der Subjektcharakter auf physische Weise durch die Unüberwindbarkeit der Dinge, im zweiten Fall durch die Mißachtung seitens der Anderen negiert. In der Haltung der Kontemplation negiert das Subjekt selbst sozusagen – so weit dies möglich ist – das Sein des Menschen, das durch sein Handeln bestimmt ist. Alle drei Imaginationsbegriffe kommen wiederum bis jetzt noch darin überein, daß sie Erlebnisweisen des Subjekts qualifizieren. So gibt es zwar eine ungewollte Irrealisierung, aber erst weiter unten wird auch von unwissentlicher Irrealisierung die Rede sein. In gewisser Hinsicht scheint der erste Imaginationsbegriff den zweiten einzuschließen, wenn man bedenkt, daß der Tagträumer, also derjenige, der sich nichtexistierende oder abwesende Gegenstände vorstellt, nicht gleichzeitig handeln kann, insofern jedes Handeln den Umgang mit realen Dingen voraussetzt. Reduzierbar ist der zweite Begriff deshalb jedoch nicht, denn Sartre spricht auch dann von Irrealität, wenn das Subjekt gerade nicht Objekte intendiert, die nicht existieren oder abwesend sind, sondern ein passives Verhältnis zu real existierenden Objekten einnimmt. Wer im ersten Sinne imaginiert, kann zwar nicht gleichzeitig handeln, aber wer passiv ist, muß nicht im ersten Sinne imaginieren.
Beispiel herangezogene physisch vernachlässigte Säugling, der durch einen Wutausbruch den Bannkreis der Passivität durchbricht (vgl. IF 1, 139), ein besseres Beispiel für die Nichtreduzierbarkeit des dritten auf den zweiten Imaginationsbegriff, das auf einer ausgesprochen ursprünglichen Ebene ansetzt: Trotz fehlender Anerkennung ist hier ein Subjekt handlungsfähig, weil nach Sartre ein unbefriedigtes körperliches Bedürfnis von sich aus aggressiv werden und sein »eigenes Recht« (IF 1, 139) hervorbringen kann. Obwohl dieses Subjekt handelt, ist es irreal, weil es devalorisiert ist. Beim Tyrannen verhält es sich umgekehrt: Obwohl er valorisiert wird, ist er irreal, weil er passiv ist. 60 Im Fall der Imagination als Anti-Praxis gilt dies allerdings eher für die Ohnmacht und weit weniger für die Kontemplation.
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9. Irrealisierung zwischen Schauspielerei und Mißachtung
9. 6. Die Rolle des Nicht-seins im Verhältnis zu den drei Imaginationsformen und ihren anthropologischen Grundvoraussetzungen Eine weitere Überlegung widmet sich dem unterschiedlichem Sinn von Schein bzw. Nicht-sein innerhalb der drei Auffassungen von Imagination. Inwiefern kann davon gesprochen werden, daß nicht nur bei der Irrealisierung im ersten Sinne, sondern auch im Falle der Irrealisierung – einmal verstanden als Gegenpol zur Praxis und ferner als Gegenpol zur Anerkennung – ein Nicht-sein auftaucht? Oder kennt nur der erste Imaginationsbegriff ein solches Nicht-sein? Hier scheint der Fall klar: Als Schauspieler spiele ich Hamlet und hierdurch bin ich irreal etwas, das ich nicht bin.61 Wo ist jedoch das Nicht-sein beim passiven oder beim devalorisierten Menschen? Es wird nun versucht darzulegen, daß die Negativität auch für diese Begriffe der Imagination konstitutiv ist. Zunächst soll dies für den dritten Imaginationsbegriff gezeigt werden: Die These, daß ich kraft der Nicht-Valorisierung bin, was ich nicht bin, also ein imaginäres Wesen, läßt sich durch den Rückgriff auf Sartres anthropologische Grundannahmen begründen, in denen seine Konzeption von Irrealität wurzelt. Die Mißachtung konstituiert mich als etwas, das ich der conditio humana zufolge nicht bin, aber nun im Blick der Anderen und in deren wechselseitigem Einverständnis zu sein habe. Eine solche Irrealisierung, die mich als reines Objekt, reine Faktizität erfaßt, kann nur deswegen überhaupt erfolgreich sein, weil ich auch Objektivität und Faktizität bin; nichtsdestotrotz bleibt die Rede vom Nicht-sein zutreffend. Denn die Irrealisierung konstituiert mich zugleich als etwas, das ich nicht bin, sie macht aus mir nur den Schein eines Menschen, weil ich nicht nur Objektivität und Faktizität bin, sondern ebenso Transzendenz, Entwurf, Praxis und Kommunikation.62 Ich bin nicht nur das Objekt fremder Handlungsentwürfe, sondern ich handle auch selbst; ebenso kann man nicht nur über mich, sondern auch mit mir sprechen. Im Unterschied zum imaginären Wesen, das die Irrealisierung entwirft, bin ich nicht, was ich bin (Objektivität, Faktizität), sondern ich bin auch, was ich nicht bin (meine noch nicht realisierten Möglichkeiten). Die Irrealisierung reduziert die Ambiguität eines Menschen, indem sie ihn in zwei Hälften zerschneidet, die eine Hälfte (Objektivität und Faktizität) für das Ganze nimmt und die andere Hälfte (Kommunikation und Praxis) leugnet. Darin liegt der mißachtende Charakter der Irrealisierung. Auf paradoxe Weise ließe sich sagen, daß die Irrealisierung mich deswegen zu etwas macht, was ich nicht bin, weil sie 61
Im Gegensatz zum gewöhnlichen Menschen, der irreal ist, was er ist. Hierin liegt die »Zweideutigkeit des Menschseins«: »(D)er Mensch ist ganz und gar Natur und ganz und gar Gegen-Natur, er überschreitet die Welt, und die Welt erdrückt ihn« (SG 430). 62
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mich auf das reduziert, was ich bin. Allerdings ist bisher von einer Form der Mißachtung die Rede, die mich zwar auf eine Faktizität beschränkt, welche aber immerhin doch noch meine Faktizität ist. Eine weiterreichende Mißachtung würde mich als eine Faktizität erfassen, die ich nicht bin, d. h. ein völlig falsches diskriminierendes Bild von mir entwerfen. Zu denken wäre etwa – um ein Sartre naheliegendes Beispiel zu nehmen – an eine Rechtfertigungsstrategie des Kolonialismus, die die Kolonialisierten als Tiere darstellt. Einer jeglichen Mißachtung läßt sich also entweder entgegnen, daß jemand nicht nur ein Objekt ist, oder aber, daß er nicht dieses Objekt ist. Gleichgültig, ob ich jemanden herabsetze oder würdige, solange ich mich hierbei auf seine Faktizität beschränke, würde Sartre meine Haltung als Nicht-Anerkennung bestimmen, da ich gegenüber diesem Anderen den Vorrang dessen behaupte, was er für mich ist, gegenüber dem, was er für sich ist.63 Es hat sich bereits bei der Rekonstruktion der Primärsozialisation Flauberts erwiesen, daß diese Nicht-Valorisierung nicht einfach nur ein Irrtum des Anderen ist, der die betreffende Person unbehelligt läßt. Diese – ontologisch verstanden – Fehlinterpretation eines Subjekts als Objekt hat soziale Realität. Sie konstituiert einen Menschen, d. h. sie macht ihn annähernd zu dem, was sie ontologisch betrachtet fälschlicherweise in ihm sieht. Der mißachtete Mensch wie etwa Genet ist auch für sich selbst primär ein Objekt und zwar nicht einfach nur, weil er schlichtweg aus dem Bereich von Wechselseitigkeit und Kommunikation ausgegrenzt wird. Eine konstituierende Mißachtung bestreitet nicht nur das Recht, sondern sie wirkt sich auch auf das Vermögen zur Kommunikation aus. Der objektivierende Blick als defizienter Modus der Wechselseitigkeit führt dazu, daß die grundlegende Disposition, die jeden Menschen zur Wechselseitigkeit befähigt, sich bei den mißachteten Individuen nur unzureichend entwickelt. Die soziale Ebene läßt sich also nicht auf ontologische Grundeinsichten reduzieren und schlichtweg als falsch entlarven. Wenn nur derjenige ein Subjekt ist, der als Subjekt anerkannt wird, dann ist die Wahrheit eines Menschen nicht nur der conditio
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Sartre kennt zwar durchaus auch die Zuschreibung einer positiv besetzten Faktizität, aber dies bedeutet nicht, daß er hierfür ein gutes Wort findet: »Der Mythos von der kindlichen Unschuld ist eine entartete, positive und bequeme Form des Mythos vom verlorenen Paradies. Als Heilige, Fürsprecher und Vestalinnen dieser Taschenreligion sind die Kinder zwischen ihrem ersten und zehnten Lebensjahr verpflichtet, den Erwachsenen den ursprünglichen Gnadenzustand zu repräsentieren. Viele finden ihren Vorteil darin, auf diese Art Kultobjekte zu werden« (SG 18f). Im siebten Kapitel wurde der Versuch unternommen, durch den Hinweis auf die Möglichkeit positiver Objektzuschreibungen, die die Blicktheorie keineswegs ausschließt, Sartre gegen den häufig geäußerten Vorwurf des ›Negativismus’ in Schutz zu nehmen. Aus der Perspektive der Genet-, vor allem jedoch der Flaubert-Studie relativiert sich dieser Versuch allerdings, insofern selbst positive Zuschreibungen als Formen der Mißachtung erscheinen.
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humana, sondern ebenfalls kontingenten, sozialen wie historischen Umständen verpflichtet. Von hier aus läßt sich auch das Nicht-sein innerhalb der Imagination als Passivität (dem zweiten Imaginationsbegriff) verständlich machen. Auch hier ist es anders als beim ersten und beim dritten Imaginationsbegriff nicht die Existenz des Subjekts, sondern die Subjektivität des Subjekts, die in Frage gestellt ist. Diese Form der Irrealisierung behauptet ihr Eigengewicht auch dadurch, daß sie nicht nur in sozialen Situationen auftauchen kann: Jegliche Situation, gleichgültig, ob in ihr die Anderen vorkommen oder nicht, in der der Widrigkeitskoeffizient der Dinge so hoch ist, daß mein Handeln unmöglich wird, irrealisiert mich, insofern ich mich als Mensch gerade durch das Handeln definiere (vgl. SG 539).64 Und dies geschieht dann unabhängig davon, ob die Anderen mich als passiv oder praktisch Handelnden konstituiert haben oder dies in diesem Augenblick tun. Insofern die Praxis jede Situation »auf mögliche Veränderungen hin überschreitet«, gibt es eine »Wette der Praxis«, die behauptet, »daß jede Situation prinzipiell überschreitbar ist« (IF 3, 758): »(D)ie Wette wird oft verloren, aber man darf sie deshalb nicht für einen Irrtum halten, für eine ›transzendentale Illusion‹; sie ist vielmehr die Struktur des existentiellen Entwurfs selbst« (IF 3, 758). Der niederstürzende Mensch ist in diesem Sinne irrealisiert; er läßt sich »von der Welt bedeuten, daß er vorübergehend entmenschlicht ist: er ist nur noch ein inerter Gegenstand, auf den die großen physikalischen Kräfte und vor allem die Anziehungskraft der Erde einwirken« (IF 4, 95). Die Unabhängigkeit und Widerständigkeit der Welt ist zwar die Bedingung der Freiheit, aber sie kann auch ein solches Maß erreichen, daß sie die Freiheit nivelliert: »Es ist also eine Forderung der Freiheit, daß die Wirklichkeit sich immer als meinen Absichten entgegensetzt offenbaren kann. Wenn allerdings diese Wirklichkeit sich als absolut und immer feindselig offenbaren würde, gäbe es natürlich nicht mal einen vorstellbaren Zweck: nur einen verschwommenen Traum von Möglichem« (WE 130).65 Wie verhält es sich mit der Kontemplation, die wie die Ohnmacht zur Irrealisierung als Antipraxis gehört? Während für den Ohnmächtigen der Widrig64
Vgl. SG 415: »(D)as Geschick der Menschheit, des homo faber steht bei jedem defekten Auto, bei jedem Flugzeugunglück, bei jeder kaputten Uhr symbolisch auf dem Spiel«. 65 Der Gedanke, daß der Widerstand der Dinge nicht nur, wie in Das Sein und das Nichts behauptet wird, Bedingung der Realität ist, sondern auch ein solches Ausmaß erreichen kann, daß jegliche Praxis scheitert und sich die Welt des Subjekts nun umgekehrt irrealisiert, findet sich erstmals in Wahrheit und Existenz von 1948 und ausführlicher in Saint Genet von 1952. In der Buchausgabe von Was ist Literatur?, die 1948 mit zusätzlichen Fußnoten veröffentlicht wurde, behauptet Sartre dagegen in Fußnote 4, daß im Scheitern der Praxis die Welt ein »Maximum an Realität« gewinnt (vgl. WiL 22).
Die diachrone und die synchrone Ebene der Irrealisierung
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keitskoeffizient der realen Dinge so gewaltig ist, daß er die Freiheit und damit auch den Realitätsbezug nivelliert, verzichtet der Kontemplative freiwillig auf jegliches Handeln und bringt damit den Widrigkeitskoeffizienten als Konstituens der realen Dinge zum Verschwinden. Dies führt gleichermaßen dazu, die Welt zu irrealisieren (vgl. hierzu ausführlicher Kap. 10).
9. 7. Die diachrone und die synchrone Ebene der Irrealisierung Wenn Sartre erklärt, daß nur derjenige, der selber als Schein konstituiert worden ist (IF 2, 23, 189), das Nicht-sein dem Sein vorzieht, so scheint er implizit ein Fundierungsverhältnis zwischen den drei Imaginationsbegriffen nahezulegen. Auf der Ebene der Subjektgenese, die der erste Band von Der Idiot der Familie rekonstruiert, wird deutlich: Erfahre ich keine ausreichende Anerkennung, bin ich also irrealisiert im dritten Sinne der Imagination, so werde ich unfähig zur Praxis, d. h. ich bin außerstande, die Realität gemäß meinem jeweiligen Entwurf zu verändern (zweiter Imaginationsbegriff). Die innerhalb von Sartres philosophischem Denken früheste Form des Imaginären als Opposition zur Wahrnehmung ist aus dieser Sicht logisch gesehen die späteste, da ihr Vorkommen sozusagen durch die beiden anderen bedingt ist. In letzter Konsequenz manifestiert sie sich in der Wahl des Irrealen, d. h. in der Bevorzugung des Imaginären bzw. des Nicht-Seins gegenüber dem Realen bzw. dem Sein. Die Realität – die eigene wie diejenige der äußeren Umgebung – wird investiert, um einen Traum zu verwirklichen. Diese Umkehrung des gewöhnlichen Verhältnisses von Realem und Imaginären wirkt, so wie Sartre sie darstellt, zunächst ausgesprochen versponnen. Es scheint sich auf dem ersten Blick vor allem um ein randständiges Phänomen zu handeln, das man eher bei Schizophreniepatienten oder allenfalls noch bei äußerst extravaganten Künstlern zu finden vermutet. Und selbst dort wäre eine solche Haltung nicht völlig konsequent umsetzbar, da wohl nur für sehr kurze Zeit z. B. der Traum von Ernährung einer realen Ernährung vorgezogen werden kann: »Triebe man den Quietismus bis zum Äußersten, wäre das der Tod« (SG 408). Diese Wahl des Irrealen wird immer nur annäherungsweise verwirklicht, denn eine vollkommene Irrealisierung – und das weiß auch Sartre – bedeutet, dem »Schwachsinn« zu verfallen (vgl. IF 4, 88). Es bleibt andererseits wiederum überlegenswert, ob sich diese Vorliebe nicht auch im Gegenteil als Kennzeichen einer sehr verbreiteten Haltung interpretieren ließe. Die Charakterisierung als ›Wahl des Irrealen‹ wäre etwa auch zutreffend für eine Lebensform, in der sich Menschen zwar nicht von der Realität – jenem ebenso unentbehrlichen wie konkurrenzlosen Bereich der materiellen Reproduktion des Lebens – schlichtweg abwenden, die Erfüllung ihrer Glücksansprüche jedoch generell in den Bereich des Imaginären ver-
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lagern,66 welcher hierdurch mehr wäre als nur die gelegentliche Zuflucht vor einer überkomplexen und unkontrollierbaren Realität. Von hier aus betrachtet, ist diese vermeintliche Exzentrizität im demographischen Sinn vielleicht eine weitverbreitete Trivialität.67 Im Falle Flauberts läßt sich der erwähnte Fundierungszusammenhang folgendermaßen fassen: Der Schlechtgeliebte (3. Imaginationsbegriff) entwickelt nur eine unzureichende Praxisfähigkeit (2. Imaginationsbegriff) und wird zum Träumer oder zum Künstler, welche sich beide mit Gegenständen beschäftigen, die fiktional, also nicht real sind (1. Imaginationsbegriff).68 Auf dieser letzten Ebene tauchen allerdings auch die beiden anderen Imaginationsformen in komplexerer und abgewandelter Weise wieder auf. So verweist Flauberts Masochismus auf den dritten und seine ästhetische Einstellung zur Welt auf den zweiten Imaginationsbegriff. Gegen die Annahme eines Fundierungsverhältnisses spricht nun die Überlegung, daß nicht jede Form der Imagination die soziale Nicht-Valorisierung zu ihrem Ursprung hat. Denn es steht außer Frage, daß auch der praktisch Handelnde bei der Konzeption seines Entwurfs sich etwas vorstellt, das noch nicht ist (vgl. IF 2, 18). Strenggenommen können wir zwar nur handeln, weil wir anerkannt wurden, aber Sartre würde nicht behaupten, daß wir nur imaginieren können, weil wir mißachtet wurden. Sartres Erklärung, nur derjenige ziehe das Nicht-sein dem Sein vor, der als Schein konstituiert worden sei, bezieht sich auf die Privilegierung der Imagination. Sie geht nicht so weit, das Vermögen zur Imagination von der Nicht-Valorisierung abhängig zu machen. Die Nichtreduzierbarkeit der drei Imaginationsformen auf einander wird im übrigen noch unterstrichen, wenn dieser Perspektive, die sich als genetisch oder als diachron charakterisieren läßt, eine davon unterschiedene Perspektive an die Seite gestellt wird, die eher synchron zu nennen wäre, weil sie die Konstitution bzw. Subjektgenese hintanstellt zugunsten der Betrachtung einer – gelegentlich nur temporären – Irrealisierung, die von einer aktuellen Situation herrührt. Sartres Irrealitätsbegriff erhält in seiner sozialpathologischen Bedeutung eine geschichtlich-gesellschaftliche, ja sogar politische Dimension, wenn erklärt wird, daß derjenige Mensch, welcher keine Verbindung zu den realen Kräften der Geschichte hat, nur das Objekt der Geschichte ist (vgl. 66
Campbell vertritt in seinem Buch The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism die These, daß in traditionellen Formen des Hedonismus reale Außenreize im Fokus der individuellen Lustempfindung stehen, während vom 18. Jahrhundert an eine eher imaginäre Lusterzeugung in den Vordergrund tritt. Campbell erblickt in diesem kulturellen Wandel das Fundament des heutigen Konsumismus. 67 Auch die Überlegungen in der umfangreichen soziologischen Studie Die Erlebnisgesellschaft von Schulze zielen in eine ähnliche Richtung. 68 Ein Mensch wie Genet ohne Liebe oder Freunde, Heim oder Beruf »verläßt […] wie ein abgeschnittener Luftballon die Erde und dringt in die Wolken ein« (SG 530).
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IF 3, 710).69 Dies betrifft die gescheiterte Revolte der Mitschüler Flauberts am Collège, die sich den restaurativen Tendenzen widersetzen wollten (vgl. IF 3, 711 ff.),70 ebenso wie die Aristokratie, deren Hochmut sich in dem Moment »irrealisiert«, in dem sie »ihre Privilegien verliert« (IF 3, 784). Wenn »das Bürgertum […] das Subjekt der Geschichte, die Realität« (IF 3, 770) ist, so kann die rebellische Jugend in Flauberts Collège nichts anderes tun, als sich entweder »zu unterwerfen oder sich zu irrealisieren« (IF 3, 770). Mit ›Irrealisierung‹ ist hier offensichtlich eine Flucht in z. B. literarische Träume, also die Imagination im ersten Sinne gemeint. Aber auch die ›Unterwerfung‹ ist eine Irrealisierung, und zwar im Sinne des dritten Imaginationsbegriffs. Die diachron-genetische Perspektive kann in diesen Beispielen zunächst außer acht bleiben, da diese Form der Irrealisierung sowohl Menschen einschließt, die von ihrer Familiensituation her als passive, wie auch solche, die als praktische Subjekte konstituiert worden sind.71 Die irrealisierende Wirkung, durch die die Praxis zur Geste herabsinkt, entspringt hier nicht dem objektivierenden Blick in einer face-to-face-Situation, sondern sie rührt von der gesellschaftlichen Umwandlung von Strukturen und Institutionen her (IF 3, 781).72 Eine diachron-genetische Sichtweise scheint wiederum dort vorzuliegen, wo keine Situationsveränderung in ihren irrealisierenden Auswirkungen in den Blick genommen wird, sondern Sartre in der Kritik der dialektischen Vernunft den Klassenstatus analysiert, in dem das Handeln des Individuums seit der Geburt verwurzelt ist. Von Irrealisierung spricht Sartre an dieser Stelle 69
Dasselbe würde im übrigen auch für eine Sozialität gelten. Nach der Julirevolution von 1830 verweigern sich die Schüler dem fortdauernden klerikalen Einfluß auf das Schulsystem. 71 Natürlich wird über jeden Menschen hin und wieder gelacht, jeder wird auf die ein oder andere Weise gelegentlich irrealisiert, aber nicht jeder wird dadurch als irreal konstituiert. Ein synchroner Zustand wird spätestens dann für die diachron orientierten Fragen der Genese relevant, wenn er die betroffenen Subjekte nicht nur vorübergehend beeinflußt, sondern schließlich konstitutive d. h. letztlich persönlichkeitsbildende Bedeutung gewinnt. Sobald wir etwa aus Ergebenheit und Respekt den Äußerungen des Anderen »mehr Realität« beimessen als dem, was wir über uns selbst über die Reflexion erfahren, existiert ein Vorrang meiner Objektivität gegenüber meiner Subjektivität. In diesem Fall spricht Sartre von einer »Entfremdung« (SG 60), die für gewöhnlich partiell und vorübergehend ist. Unter großer sozialer Repression, d. h., wenn das Für-Andere-sein »Gegenstand einer kollektiven Vorstellung wird, die von Werturteilen und sozialen Verboten begleitet ist, […] kommt es vor, daß die Entfremdung total und endgültig ist« (SG 60). Wenn ich selber überzeugt bin, die von der Gesellschaft mir zugewiesene Natur zu besitzen, dann glaube ich, daß meine Überzeugungen, Charakterzüge und Emotionen nur Emanationen dieser Natur sind. So verinnern die Parias die objektiven Urteile der Kollektivität und verstehen sich selbst von einer Natur bzw. einem ethnischen Charakter her, der »nur die Verachtung ausdrückt, in der man sie hält« (SG 60). 72 Sartre zufolge zerstört schon der schulische Wettbewerb die menschliche Beziehung der Schüler untereinander (vgl. IF 3, 797). 70
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zwar nicht, aber es wird recht bald deutlich, daß das klassenspezifische Handeln, so wie es beschrieben wird, die konstitutiven Merkmale einer Irrealisierung durch Ohnmacht und Passivität aufweist. Aufgrund der Klassenzugehörigkeit, die die objektive Realität des Menschen ausmacht und Sartre zufolge als »eine Matrix, ein Medium und eine Art passiver Schwerkraft« (KDV 268) zu verstehen ist, erleiden die menschliche Praxis und ihre Ziele eine Art von »Ohnmachtsträgheit« (KDV 245). Als praktisch-inerter Status der individuellen Praxis ist das Klassen-sein eine »kollektive Seinsweise«, die »die Basis jeder Individuation wie jeder Vereinigung« (KDV 267) darstellt. Insofern die Individuen durch die »abstrakte Allgemeinheit« der Klassenzugehörigkeit »vereinigt sind, sind sie als getrennte Individuen identisch« (KDV 277). Sartre teilt die Position der Autoren der Deutschen Ideologie, nach der die individuellen Menschen »ihre Lebensbedingungen prädestiniert vorfinden, von der Klasse ihre Lebensstellung und damit ihre Persönliche Entwicklung angewiesen bekommen«.73 Aus dieser Sichtweise erwartet die bürgerliche Gesellschaft z. B. die Arbeiterin, deren Wesen, Leben und Schicksal nichts weiter als präfabrizierte Realitäten sind. Ihr gesamtes Handeln ist, wie Sartre hinzufügt, durch ihre gesellschaftliche Situiertheit einer »unüberschreitbare(n) Zukunft« (KDV 250) bzw. einer »Fatalitätszukunft« (KDV 254) unterworfen. Dies ist erklärungsbedürftig: Jede zu überschreitende Situation – z. B. die Beschaffenheit einer Landschaft – zwingt natürlich der individuellen Überschreitung einen Inhalt auf. Und zweifellos qualifiziert sie hierdurch die Zukunft, auf die hin sie überschritten wird, aber sie bringt sie trotzdem nicht hervor (vgl. KDV 251).74 Aufgrund der Praxis der vorangegangenen Generationen, welche sich in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen kristallisiert hat,75 ist die Zukunft durch das gesellschaftliche Sein, das der individuelle Entwurf überschreitet, schon überschritten. Unüberschreitbar ist das gesellschaftliche Sein nach Sartre gerade deswegen, weil es kein bloßes materielles 73
Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, 54. Eine solche Unterscheidung zwischen jener Aktion, die sich auf eine Landschaft bezieht, und derjenigen, die durch die Klassenzugehörigkeit geprägt ist, stellt jedoch eine Inkonsequenz Sartres dar, denn wenn erst die Grundüberzeugungen der marxistischen Gesellschaftstheorie geteilt werden, dann muß auch der Umgang mit der Natur als klassenspezifisch verstanden werden. Der vermeintliche Gegensatz zwischen Natur und Geschichte wird in der Deutschen Ideologie von Marx und Engels, auf die sich Sartre mehrfach beruft, gerade entschieden zurückgewiesen (vgl. ebd., 39, 43 f.). 75 Soziale Tatsachen, schreibt Sartre, sind »verfaulte alte Siege« (SG 298). Das Utensil wird definiert als »die Kristallisation eines kollektiven Imperativs, der sich an den average man, an den uomo qualunque, an irgendein Mitglied der Gemeinschaft in uns richtet und konventionelle Handlungen verlangt, deren Hauptmerkmal die Allgemeinheit ist: man trennt Papier an der punktierten Linie ab« (SG 413). Die Nähe zu Heidegger wird deutlich, sobald man berücksichtigt, daß ›Zeug‹ bei Heidegger in der französischen Übersetzung mit ›ustensile‹ wiedergegeben wird. 74
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Sein, sondern die »Einprägung einer Praxis in das Sein ist« (KDV 251).76 Die gesellschaftliche Bestimmtheit wird von Sartre als so weitreichend aufgefaßt, daß auch die Flucht in die privateste Intimität nur »eine rein subjektive Verwirklichungsweise der Objektivität« (KDV 248) ist und selbst die sexuellen Träume der Arbeiterin nichts weiter tun, als ihren Klassenstatus zu verwirklichen (vgl. KDV 249). So entkommt sie auch durch die freie Entscheidung, eine Abtreibung vorzunehmen, um die Gefahr einer Verarmung zu vermeiden, keineswegs ihrem »objektive(n) Sein« (KDV 250), sondern verwirklicht es nur auf eine andere Weise: »Sie verwirklicht durch sich selbst, was sie schon ist; sie wendet den schon gefällten Urteilsspruch, der ihr die freie Mutterschaft verbietet, gegen sich selbst an« (KDV 250). Sartre stellt nicht in Abrede, daß jeder Mensch ein Einzelschicksal verwirklicht, aber diese Verwirklichung ist immer »nur eine der möglichen (das heißt der durch das strukturierte Feld der Möglichkeiten bestimmten) Arten, unser Klassen-sein hervorzubringen« (KDV 254). Man kann also auf recht verschiedene Weise, den Arbeiterstatus realisieren, aber man kann diesem praktisch-inerten Sein des Arbeiters nicht entrinnen. Verbindet man Sartres Deutung der bürgerlichen Klassengesellschaft in der Kritik der dialektischen Vernunft mit den zuvor diskutierten Überlegungen zur Irrealisierung als Devalorisierung und Passivität, so ließe sich von hier aus sagen, daß sich die Klassengesellschaft durch strukturelle Mißachtungsverhältnisse auszeichnet, insofern die Individuen aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit primär als Objekte konstituiert sind, deren Subjektivität nur noch dazu dient, ihre Objektivität auf unterschiedliche Weise zu realisieren.77 Vor dem Hintergrund der Imaginationskonzeption in Der Idiot der Familie wird deutlich, daß die Klassenzugehörigkeit eine Art irrealisierendes Fundament bereitstellt, von dem her jedes individuelle wie auch das gemeinschaftliche Handeln der Gruppe seinen Ausgang nimmt. Der Bereich des Praktisch-Inerten gehört daher genaugenommen dem Irrealen zu, weil er die Praxis zur Passivität verurteilt. Nach der theoretischen Konzeption der Kritik der dialektischen Vernunft ist ausschließlich die revolutionäre oder zumindest gesellschaftlich mitgestaltende Gruppenaktion, die die bestehenden praktisch-inerten Verhältnisse tatsächlich überschreitet, ein reales Handeln, wohingegen das Handeln des Individuums, das diese Verhältnisse lediglich
76
Das dialektische Denken Sartres erfaßt auf dieser abstrakten Stufe des PraktischInerten die gesellschaftliche Praxis zunächst noch ohne Berücksichtigung der Gruppenformationen. 77 Dies gilt allerdings nicht nur für das Proletariat, vielmehr ist sich Sartre durchaus im Klaren darüber, inwieweit auch der Unternehmer ein praktisch-inertes Wesen ist. Er würde jedoch hinzufügen, daß seine Lebensbedingungen weitaus besser sind, weil die ›Ohnmachtsträgheit‹ seiner Praxis gerade dazu führt, Gewinne zu erwirtschaften, von denen er selbst profitiert.
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verwirklicht, nur eine depravierte Form des Handelns und daher im Grunde genommen schon eine Irrealisierung ist. Solange ich Veränderungen, die mich betreffen, nicht aktiv mitgestalte, sondern sie passiv erleide, bin ich ein bloßes Objekt der Geschichte und lebe in einer derealisierten Welt. Jedes Denken wurzelt in der Praxis und ist deren Selbstaufklärung (vgl. IF 3, 753; KDV 234). Sobald das Denken jedoch einer praktischen Ohnmacht entspringt, gerät es nach Sartre zum Traum, denn wenn das Verlangen sich nicht auf das Reale hin überschreiten kann, kommt es »wieder auf sich zurück als Bild seiner selbst, das heißt als imaginäre Befriedigung oder, wenn man lieber will, als in die Immanenz zurückgebogene Transzendenz« (IF 3, 753). Kurz, wenn ein Verlangen sich nicht realisieren läßt, verwandelt es sich in einen Traum (vgl. IF 4, 18). Passivität bringt, selbst wenn sie vorübergehend und situationsbedingt ist, für die Dauer dieser praktisch nicht zu bewältigenden Situation imaginäre Menschen hervor. Wenn die historische Situation jede Praxis unmöglich bzw. nutzlos macht, so tendieren die betroffenen Menschen dazu, das Leben von jenem Gesichtspunkt des Todes aus zu betrachten, den Sartre als Charakteristikum der Künstlergeneration Flauberts ansieht, welche das historische Scheitern der Praxis zu einem metaphysischen Scheitern stilisiert (s. u. Kapitel 11). »Es ist die umgekehrte Welt: man nimmt die Augen des Todes an, um das Leben zu betrachten, die Augen des Wahns, um die Vernunft zu beobachten, das Nicht-wissen umhüllt und durchdringt das Wissen, die Aktion ist nur ein Schillern an der Oberfläche der allgemeinen Passion, ebenso wie das Wissen nur ein sich unbekanntes Nicht-wissen ist, man verliert, bevor man gespielt hat« (IF 3, 769). Der wie auch immer geartete Versuch von institutionell irrealisierten Menschen, die Verhältnisse, die sie zur politischen Ohnmacht verurteilen, weitgehend umzuwandeln, kommt nach Sartre dem Versuch gleich, gegen eine Situation, die die Individuen auf ihre bloße Objektivität zurückwirft, den Subjektstatus (vgl. IF 3, 714) bzw. die Souveränität des Menschen über die Dinge zu realisieren (vgl. IF 3, 1082). Im Grunde zeigt sich auch hier eine gewisse Verwandtschaft mit dem philosophischen Ansatz Honneths, in dem geschichtliche Entwicklungsprozesse als Kämpfe um Anerkennung interpretiert werden.78 Von Sartre herkommend, erscheinen diese Kämpfe um Anerkennung, sofern man die entscheidenden anthropologischen Prämissen teilt, darüber hinaus auch als Kämpfe um Realität. Die Spezifität der synchronen Perspektive zeigt sich in der folgenden Überlegung: In jeder aktuellen Situation, in der wir den Ansprüchen der Welt nicht durch eine angemessene Praxis entgegentreten können, büßt die Welt ihre Realität ein (vgl. IF 2, 24). Und dabei spielt es keine Rolle, ob ich als aktiv 78
Vgl. Honneth, Kampf um Anerkennung, vor allem Kap. 8 u. 9.
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oder passiv Handelnder konstituiert worden bin, denn diese Irrealisierung muß nicht zwangsläufig in einer Devalorisierung, sondern sie kann auch in einer ausweglosen Situation fundiert sein, in der der Andere als irrealisierender Faktor gar nicht auftaucht. Ohne Antwort »auf einen präzisen und gefährlichen Stimulus« (IF 2, 24) wird der Mensch und seine Umgebung irreal.79 Sartre erinnert sich an ein persönliches Erlebnis aus dem Zweiten Weltkrieg. Er überquert mit anderen französischen Soldaten unter Bewachung durch die Deutschen, die ihre Gewehre im Anschlag haben, einen Dorfplatz, während gleichzeitig von der Kirche aus Franzosen auf Freund und Feind schießen. In dieser Situation empfindet er plötzlich das unpassende Bedürfnis zu lachen: »In Wahrheit, das habe ich damals begriffen, war ich es, der imaginär wurde, weil ich keine angemessene Antwort auf einen präzisen und gefährlichen Stimulus fand. Und sofort zog ich die Umgebung in die Irrealität hinein. Eine Abwehrreaktion? Ganz sicher; aber eine Abwehrreaktion, die nur eine Derealisierung verstärkt, deren Ursprung woanders liegt: da das Heil meiner Person nicht mehr vom mir abhing, spürte ich, wie meine Handlungen sich auf Gesten reduzierten: ich spielte eine Rolle, die Anderen gaben mir das Stichwort […], diese von den Umständen erzwungene Entscheidung war so wenig meine eigene, daß sie mir als der integrierende Teil der Rolle erschien, die ich zu spielen hatte« (IF 2, 24). Wenn er stehenbleibt, erschießen ihn die Deutschen; geht er jedoch weiter, dann läuft er in die Feuerlinie der Franzosen. Er entscheidet sich zwar fürs Weitergehen, weil es wahrscheinlicher ist, daß die Kugeln der weniger weit entfernten Deutschen ihn nicht verfehlen, aber Sartre insistiert, daß er damit keineswegs den Bereich des Irrealen verlassen habe, insofern diese Entscheidung nicht seine eigene sei, sondern von den Umständen erzwungen wurde. Die freie Wahl, weiterzugehen, war nichts weiter als »der integrierende Teil der Rolle […], die ich zu spielen hatte« (IF 2, 24). Überträgt man diese Überlegung auf Sartres frühe Philosophie, so bleibt im Grunde von dem existentialistischen Freiheitspathos, demzufolge die Situation Frankreichs unter der deutschen Besatzungsmacht nicht determinieren konnte, ob ich mich als Kollaborateur oder als Résistancekämpfer erwähle, nichts mehr übrig.80 Bei 79
Die diachron-genetische Blickrichtung bietet sich dann an, wenn die Irrealität nicht von der gegenwärtigen überkomplexen Situation herrührt, sondern ihren Ursprung in der Disposition des Subjekts hat. Diese Disposition verweist wiederum auf die Subjektgenese bzw. die Sozialisation, in der sich eine passive Konstitution ereignet hat. Eine synchrone Irrealisierung ist vorübergehend und verschwindet mit der irrealisierenden Situation. Genetisch wäre eine Irrealisierung hingegen, wenn sie auch dann bestehen bleibt, wenn die irrealisierende Situation nicht mehr besteht. Eine Beantwortung der Frage, ob eine irrealisierende Konstitution nach Sartre aufgehoben werden kann, müßte sich einer genaueren Überprüfung der Freiheitskonzeption des späten Sartre zuwenden. 80 Vgl. z. B. die leidenschaftlichen Erklärungen zum Thema der Freiheit im besetzten
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9. Irrealisierung zwischen Schauspielerei und Mißachtung
diesem Beispiel aus dem Krieg kommt es m. E. gar nicht darauf an, daß die Bedrohung hier wiederum von Anderen ausgeht. Eine analoge Unmöglichkeit der Praxis, die das Subjekt irrealisiert, wäre auch in der Situation eines einzelnen Subjekts denkbar, sofern sie nur eine ähnliche Dilemmastruktur aufweist, z. B. wenn ich mich vor den Flammen in meiner Wohnung nur durch den Sprung aus dem dritten Stock retten kann.81 Der frühe Sartre hätte in diesem Beispiel noch keine Infragestellung der souveränen Freiheit gesehen und insistiert, daß mich nichts zwingen könne, aus dem Fenster zu springen oder einfach nichts zu tun – und damit sei ich nicht weniger frei als in jeder anderen Situation. Der späte Sartre erblickt hierin jedoch ein solches Übergewicht der äußerlichen Umstände, daß von praktischer Initiative keine Rede mehr sein kann: Die Freiheit hat eine schöpferische Struktur und überschreitet die Situation, aber in diesen Beispielen bin ich genau wie hinsichtlich der Klassenzugehörigkeit darauf eingeschränkt, die streng festgelegten Vorgaben der Situation lediglich zu verwirklichen. In einer weniger gefährlichen, wenn auch ebenfalls, wie Sartre meint, äußerst verstörenden und die subjektive Handlungsfähigkeit negierenden Lage befindet sich ein Mensch dann, wenn er absichtlich durch »Phantasmen manipuliert« (IF 3, 688) bzw. getäuscht und demoralisiert wird. Sartre nennt einen Menschen ›demoralisiert‹, wenn er durch trügerisches Handeln der Anderen das Vertrauen in seine Moral, in sein Weltbild und schließlich das Vertrauen auf sich selbst verloren hat (vgl. IF 3, 688). Demoralisierte Menschen treffen aufgrund einer Illusion »Traumentscheidungen, die reale Folgen in der realen Welt haben, welche ein Vorhang von Bildern ihnen verbarg« (IF 3, 690 f.). In diesem Zusammenhang taucht ein Novum in Sartres Denken auf: Während der frühe Sartre Irrealisierung als willkürlichen Akt des Subjekts begreift, kennt er in seinem Spätwerk nicht mehr nur lediglich den ungewollt – durch Nicht-Valorisierung oder Praxislosigkeit – irrealisierten Menschen, sondern vielmehr auch den »unwissentlich irrealisierte(n) Menschen« (IF 3, 691 – Hervorhebung J. B.). Das bedeutet, jemand kann irrealisiert sein, irreale Momente erleben, vielleicht sogar ein über weite Teile irreales Leben führen, ohne dessen gewahr zu werden. Damit ist auch die Erlebnisdimension des jeweiligen Subjekts nicht länger ausschlaggebend für die Kategorie der Irrealität. Ich bin nicht nur irreal, wenn mir meine eigene Ohnmacht augenfällig wird,
Frankreich in »Die Republik des Schweigens«, die durch die soeben referierten Ausführungen Sartres hinfällig geworden ist. 81 Götz in Sartres Theaterstück Der Teufel und der liebe Gott wäre ebenfalls irrealisiert, denn gleichgültig, ob er sich als tugendhaft oder bösartig erwählt, alle seine Handlungen wirken sich verheerend auf seine Mitmenschen aus. Trotz Wahl ist Götz derselbe geblieben, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse ähnlich wie in Brechts Der gute Mensch von Sezuan gute Taten ausschließen oder in ihr Gegenteil verkehren.
Die diachrone und die synchrone Ebene der Irrealisierung
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sondern selbst dann, wenn ich zwar überzeugt bin, als souveränes Subjekt auf die Realität einzuwirken, tatsächlich aber ganz andere Kräfte den Lauf meines Lebens bestimmen und keine meine Aktionen effektiv eine Umgestaltung meiner realen Situation hervorbringt. Dies gilt z. B. auch dann, wenn ich ganz profan auf einen Scherzartikel hereinfalle (vgl. IF 3, 694). Wenn allerdings ein Scherzartikel eine Irrealisierung des Subjekts darstellt, so drängt sich die Frage auf, ob Sartre dann noch die Unterscheidung zwischen Imagination und Irrtum bzw. falscher Wahrnehmung aufrechterhalten kann (vgl. T 191).
10. IMAGINATION UND ÄSTHETIK III
10. 1. Die ästhetische Einstellung als antihumanistische Bedingung der Kunstproduktion Für den späteren Sartre stellt die Literatur im besonderen, die Kunst im allgemeinen kein harmloses »Spiel von Arabesken« dar, sie ist zunächst per se auch kein Engagement für die Freiheit der Menschen, vielmehr soll ihr ursprünglich etwas »Perverses und Verrücktes« (SWL 112) innewohnen. Die ästhetische Betrachtungsweise, welche vereinzelt in Saint Genet, Komödiant und Märtyrer und am ausführlichsten in Der Idiot der Familie in den Blick genommen wird, verfolgt nach Sartres Ansicht, die sich hierin von der traditionellen philosophischen Ästhetik auf entschiedene Weise abhebt, vor allem destruktive Intentionen. Bereits eben jene ästhetische Haltung zur Welt als notwendige Bedingung jeder künstlerischen Tätigkeit soll ein Zerstörungsunternehmen sein (vgl. IF 4, 186 f.) – auf welche Weise sie dies ist, wird nun im folgenden erläutert. Da diese Überlegungen im Zusammenhang mit der individualhermeneutischen Untersuchung eines einzelnen Schriftstellers durchgeführt werden, taucht das schon aus den vorherigen Kapiteln vertraute Problem der Verallgemeinerbarkeit erneut auf. Diesmal stellt es sich auf die folgende Weise: Spricht Sartre von Flauberts ästhetischer Einstellung oder von der ästhetischen Einstellung schlechthin? Mit anderen Worten, lassen sich seine Einsichten generalisieren oder beschränken sie sich auf einen kontingenten Einzelfall? Flauberts radikale Irrealisierung der Wirklichkeit, die im Zusammenhang mit seiner verunglückten Primärsozialisation steht, wirkt eher wie eine Idiosynkrasie, für die sich die Psychopathologie und weniger die Philosophie interessieren würde. Folgt aber aus der Affinität dieses spezifischen Weltverhältnisses, so wie Sartre es versteht, zu eher randständigen Persönlichkeitsprofilen, daß eine Untersuchung der ästhetischen Einstellung grundsätzlich keinerlei philosophisch relevante Aufschlüsse über die conditio humana bieten würde?1 Das 1
Bestimmte Aspekte des menschlichen Schicksals enthüllen sich erst unter bestimmten historischen Bedingungen in einer Epoche, aber das bedeutet nicht, daß sie auf diese jeweilige Epoche beschränkt sind. Diese Überlegung demonstriert Sartre in Was ist Literatur? auch am Beispiel seines eigenen existentialistischen Denkens: »Ich habe keine Schwierigkeit, der marxistischen Beschreibung der ›existentialistischen‹ Angst als eines Epochen-
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10. Imagination und Ästhetik III
nächste Kapitel wird den historisch-gesellschaftlichen und nicht den anthropologischen Weg zur Verallgemeinerung einschlagen und auf der Textgrundlage des letzten Bandes der Flaubert-Studie zeigen, wie die Anforderungen an einen Künstler von der Mitte des 19. Jahrhunderts an gerade eine solche Persönlichkeitsstruktur und ein solches Weltverhältnis notwendig machen, wie es sich Sartre zufolge bei Flaubert, Baudelaire, später bei Mallarmé und schließlich noch bei dem zeitgenössischen Schriftsteller Genet finden lassen soll.2 Hier besteht eine Korrelation zwischen der Spezifität einer individuellen Subjektivität und dem allgemeinen literaturgeschichtlichen Erwartungsbzw. Produktionshorizont, in dem Sartre eine »Theodizee des Scheiterns« (IF 4, 337) enthüllt, die die Berufung zum Künstler vom Versagen des Menschen abhängig macht. Flauberts hochgradig idiosynkratisch anmutende Realitätsverweigerung antwortet auf den sozialgeschichtlichen Konflikt zwischen dem Autonomieanspruch der Literatur und der Klassenherrschaft ihrer Leser, indem sie den subjektunabhängigen Bedingungen der literarischen Produktion um 1850 entgegenkommt: »Da sie [die Literatur – Anm. J. B.] sich nicht in den Dienst der herrschenden Klasse stellen kann, ohne ihre Autonomie zu verlieren, und eine neue aufstrebende Klasse für sie nicht erkennbar ist, kann sie ihre Autonomie nur bewahren, wenn sie alles ablehnt: ihre Leser und damit die Realität der Klassenherrschaft, ja letztlich die Realität selbst«.3 Zunächst soll es genügen, Sartres Erläuterungen zur ästhetischen Einstellung und Klassenphänomens zuzustimmen. Der Existentialismus erscheint in seiner zeitgenössischen Form über der Auflösung des Bürgertums, und sein Ursprung ist bürgerlich. Aber daß diese Auflösung bestimmte Aspekte des Menschseins enthüllen und bestimmte metaphysische Intuitionen möglich machen kann, bedeutet nicht, daß diese Intuitionen und diese Enthüllungen Illusionen des bürgerlichen Bewußtseins oder mythische Darstellungen der Situation sind« (WiL 192, Fußn. 18; vgl. auch WE 123). Es scheint, als würden übertriebene Zuspitzungen in einer geschichtlichen Epoche bisher unbemerkte invariante Strukturen der conditio humana erst sichtbar machen. 2 Man könnte, um die Reihe zu ergänzen, etwa auch an Oscar Wilde denken. 3 T. König, »Nachwort in: Sartre, Mallarmés Engagement«, S. 207. – Es ist bei Sartre allerdings ungeklärt, ob die aufgeführten Bestimmungen für die nachromantische Kunst des 19. Jahrhunderts oder für die Kunst schlechthin gültig sein sollen. Einerseits ordnet er diese Kunstauffassung historisch und gesellschaftlich ein und begrenzt damit offenbar ihren Geltungsbereich, andererseits vertritt er im Grunde dieselben Thesen wenn er sein eigenes Literaturverständnis zum Ausdruck bringt. Man könnte auf diesen Einwand erwidern, daß die Übereinstimmungen zwischen Sartre und Flaubert in der verwandten Situation der Literatur wurzeln, die sich immer noch in einer bürgerlichen Welt behaupten muß. Aber wenn auch die Rede vom Ästhetizismus als Verweigerung des bürgerlichen Zweck-Mittel-Denkens zur Wahrung der Autonomie der Kunst mit einiger Plausibilität nicht nur im 19., sondern auch noch im 20. Jahrhundert einen Sinn ergibt, fragt sich doch, mit welchem Recht Sartre diesen Ästhetizismus auch noch in der vorbürgerlichen Zeit situieren kann, wenn er erklärt, daß Shakespeare, Theokrit oder Vergil »ihre Zeit und ihr Universum irrealisiert haben« (IF 4, 298).
Die ästhetische Einstellung als Bedingung der Kunstproduktion
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nachzuvollziehen und deren Hintergründe auf der sozial- und literaturgeschichtlichen Ebene einstweilen hintanzustellen. Die ästhetische Einstellung ist für Sartre ein zwar einerseits primär passives, andererseits jedoch durchaus aggressives Verhältnis zur Welt,4 das alle Menschen, Dinge und Ereignisse auf »das bloße Spiel einer Imagination« (SG 581) reduziert. Er sieht hierin nichts geringeres als eine »Vernichtung des Realen« (IF 4, 301).5 Natürlich handelt es sich dabei um keine tatsächliche re-ale Zerstörung; vernichtet wird in dieser extravaganten Haltung der menschliche Sinn, nicht das Sein der Dinge (vgl. IF 3, 982). Die Ablehnung der Totalität des Seins ist einerseits eine rein passive und darum unwirksame Revolte, andererseits auf ihre Weise so radikal, daß sie nicht das Sein durch ein anderes Sein – z. B. das reale Gebäude durch das reale Dynamit – real attackieren, sondern nur noch vermittels der ästhetischen Einstellung irrealisieren kann. Wer das Reale als Reales im Namen eines anderen Realen ablehnt, wer also z. B. aus Haß auf die Realität als solche zu einer realen Bombe greift, wird seiner prinzipiellen Realitätsverweigerung untreu. Die totale Anfechtung der Realität ist also entweder inkonsequent oder unmöglich (vgl. hierzu auch SG 254, 266). Über Mallarmé schreibt Sartre in diesem Zusammenhang: »Gesellschaft, Natur, Familie, alles ficht er an, sogar das arme blasse Kind, das er im Spiegel sieht. Aber die Wirksamkeit seiner Anfechtung steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Ausdehnung. Gewiß man muß die Welt in die Luft sprengen: aber wie das, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Eine Bombe ist in gleicher Weise ein Ding wie ein Empirestuhl: etwas gefährlicher, das ist alles; was für Intrigen und Kompromisse, bis man sie dort legen kann, wo es nötig ist. Mallarmé ist kein Anarchist, wird es nicht sein: jede Einzelaktion lehnt er ab; seine Gewalt – ich sage es ohne Ironie – ist so umfassend und so verzweifelt, daß sie sich in die friedliche Idee der Gewalt verwandelt. Nein, er wird die Welt nicht in die Luft sprengen: er wird sie ausklammern« (M 179). Zwar soll die irreale Negation des Realen nach Sartre konsequent zur Schönheit führen (IF 3, 593), aber die Motivation dieser Negation ist, wie schon aus den zitierten Passagen ersichtlich wird, nur vordergründig die bedingungslose Liebe zum Schönen; in einem tieferen Sinne beruht sie auf einem Ressentiment vor allem derjenigen, die in einer Gesellschaft keinen Subjekt-, sondern nur einen Objektstatus einnehmen: »Diejenigen, die die Gesellschaft ausgeschaltet hat, Jugendliche, Frauen, Päderasten, versuchen subtil, eine Welt 4
Es besteht ein innerer komplementärer Zusammenhang: Die Passivität ist Aggressivität, insofern sie sich als Verweigerung und Irrealisierung äußert. 5 In Sartres ausgesprochen zugespitzter Optik erweist sich eine solche »Zerstörung des Seins als Schöpfung des Scheins« als »satanisch« (SG 253): »Das Böse heißt ja auch ganz einfach das Imaginäre« (SG 254).
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zu leugnen, die sie leugnet und symbolisch den Mord an der Menschheit zu begehen« (SG 581).6 Der erwähnte ›symbolische Mord‹ vollzieht sich in der »Nichtkommunikation mit der Spezies Mensch« (IF 4, 192) bzw. in der Weigerung, die Leidenschaften und Zwecke der menschlichen Spezies zu teilen (vgl. IF 2, 404). Ein solch »grausamer Ästhetizismus« (IF 4, 192), der die Form eines ›autosuggestiven Absentismus‹ (vgl. IF 4, 176) einnehmen kann, steht zur sozialen Welt im Verhältnis einer »nicht-verstehenden Konstatierung« (IF 4, 192)7 und nimmt hierdurch sowohl den Menschen wie dem Universum jeglichen menschlichen Sinn (vgl. IF 3, 982). Sartre behauptet schlichtweg, daß »die Schönheit entmenschlicht« (IF 3, 972).8 Die Formulierung, der Ästhet leugne die Welt, die ihn leugnet (s o.), kann in Sartres Denken nur bedeuten, daß der Ästhet jemand ist, der sich primär als Objekt behandelt fühlt und im Gegenzug nun auf imaginäre Weise die ganze Menschheit auf den Objektstatus reduzieren will. Aus der Not des Outcasts, für den sich die Welt aus Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung und Handlungsfähigkeit irrealisiert, wird die Noblesse des Ästheten, der die Praxis aus Überlegenheit ablehnt und nun von einem erhabenem Gesichtspunkt oberhalb der menschlichen Spezies den vermeintlich aussichtslosen Anstrengungen seiner Mitmenschen zusieht. Wenn der Outcast seine Ohnmacht zur überlegenen Kontemplation stilisiert, versucht er, seine Passivität nicht mehr als Hilflosigkeit, sondern als Adelsprädikat zu empfinden. Ästhetizismus und ›bürgerlicher Utilitarismus‹ bzw. die instrumentelle Zweck-Mittel-Orientierung9 erweisen sich als strikte Antipoden (vgl. auch SG 582): So wie die utilitaristische Haltung die »systematische Verwerfung jeder Poesie« (IF 3, 1092) – Poesie im weiten Sinne als »Lebensweise« (SG 472) verstanden – impliziert, wird in der ästhetischen
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Die angesprochene Leugnung, die die genannten Personengruppen durch die Welt erfahren, ist offensichtlich eine Nicht-Valorisierung ihrer Subjektivität, also eine Irrealisierung im Sinne des dritten Imaginationsbegriffs. 7 Offensichtlich schließt Sartres Ansicht nach die ästhetische Einstellung jegliches Verstehen oder jegliche Empathie aus. Denkt man an psychologische Romane, so ist dieser Gedanke wenig einleuchtend. 8 Offensichtlich hat die ästhetische Haltung beim späten Sartre eine Affinität zum zweiten Imaginationsparadigma (Gegenpol zur Praxis), wohingegen am Ende von Das Imaginäre versucht wird, die ästhetische Haltung vom ersten Imaginationsparadigma (Gegenpol zur Wahrnehmung) aus zu verstehen. Hier geschieht die Irrealisierung demnach nicht durch Ausblendung vor allem der praktischen Zweckgerichtetheit, sondern indem das reale ästhetisch betrachtete Objekt zum »Analogon seiner selbst« (Im 303) wird. Diese Vorstellung kann das Objekt selbst in neutralisierter Weise, oder »das unvollständige und verworrene Erscheinen dessen sein, was es durch das hindurch, was es ist, sein könnte« (Im 304). 9 Wenn Sartre vom ›Utilitarismus‹ spricht, so meint er ohne genauere Differenzierung die bürgerliche Nützlichkeitsideologie und nicht die von Bentham und Mill begründete Variante der konsequenzialistischen Ethik.
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Haltung, die dem Quietismus des passiv Konstituierten als Ausweg nahezuliegen scheint, das praktische Ziel des ernsthaften Menschen zum Vorwand für einen Tanz bzw. ein bloßes Spiel der Erscheinungen. Die Häuser der ›Anständigen‹ existieren, um das Blau des Himmels »mit einem Blutstropfen zu beflecken, und dieser Blutstropfen, um Harmonie in der Unterschiedlichkeit, Einheit in der Verschiedenheit zu manifestieren« (SG 582). Die Ablehnung der Praxis führt jedoch nicht dazu, daß nun alles Begegnende zum Zweck an sich wird. Obwohl die ästhetische Einstellung keine praktischen Zwecke verfolgt und der Mitmensch demnach folgerichtig auch kein Mittel zum Zweck sein dürfte, wird er dennoch nicht als Subjekt anerkannt bzw. als Person geachtet.10 Sowohl der Ästhet, der Kommunikation und Verstehen schlichtweg ausblendet, als auch der Utilitarist, welcher eine strategische Haltung einnimmt, die nach Habermas den anderen Menschen instrumentalisiert und damit nach Sartre irrealisiert,11 ignorieren den Subjektstatus des Anderen: Jener erfaßt sein Gegenüber als zweckdienliches oder -widriges, dieser als schönes Objekt. Letzteres setzt die Passivität eines kontemplativen, jenes im Gegenteil die teleologische Aktivität eines praktischen Subjekts voraus. Ein Objekt ist der Andere jedoch sowohl in der praktischen wie in der ästhetischen Haltung. Beide Einstellungen sind daher gegenüber der ursprünglichen Wechselseitigkeit des Verstehens- und Kommunikationsverhältnisses sekundär (vgl. KDV 106, 117; siehe auch das Hermeneutik- Kapitel).12 10
Siehe Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 428: »Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserem Willen, sondern der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin sofern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist)«. 11 Dabei macht der Utilitarist auch vor seiner eigenen Person nicht Halt (vgl. IF 2, 426 f.). 12 Die Alternative zwischen ästhetischer und praktischer Einstellung geht Danto zufolge auf Kants Kritik der Urteilskraft zurück (vgl. Die Verklärung des Gewöhnlichen, 46 f.). Die Nähe zwischen Sartre und Danto besteht darin, daß beide offensichtlich im Unterschied zu Kant dazu neigen, die ästhetische Einstellung nicht als außermoralisches, sondern zumindest unter bestimmten Umständen auch als unmoralisches Phänomen zu deuten: »Meine eigene Auffassung ist übrigens die, daß es Fälle gibt, bei denen es falsch oder unmenschlich wäre, eine ästhetische Einstellung einzunehmen und bestimmte Realitäten in Distanz zu rücken – zum Beispiel eine Demonstration, bei der Polizisten Demonstranten niederknüppeln, als eine Art Ballett zu sehen, oder explodierende Bomben vom Flugzeug aus, das sie abwirft, als geheimnisvolle Chrysanthemen. Vielmehr muß die Frage sich einstellen, was man tun soll« (ebd., 47). Eine ähnliche Darlegung findet sich schon bei Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 69, wo ein Arzt als Beispiel erwähnt wird, der »den Sterbenden, wie Rembrandt einen Bettler«, sieht, und schließlich auch bei Jauß: »Die ästhetische Erfahrung der Rollendistanz kann zum Ästhetizismus gesteigert werden, wenn
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Sartres Kunstverständnis, das vor allem negative Bestimmungen (Praxisund Verstehensverweigerung, Nicht-Kommunikation, Anfechtung der Realitätsdimension des Seins) anführt, liegt konträr zu all jenen Positionen, nach denen künstlerische Werke auf welche Weise auch immer die Welt bereichern. Ganz im Gegenteil betont Sartre in äußerster und wenig plausibler Zuspitzung, daß die Kunst »die Welt ärmer macht« und sich nur »mit Herzenskälte und andren negativen Gefühlen erklären« (SWL 112 f.) läßt.13 Nicht die ästhetische Versenkung in das Spiel der Erscheinungen des gegenwärtigen Gegenstands führt zum Abbruch von Kommunikation und Praxis, sondern der Kult des Schönen ist sekundär gegenüber jener Verweigerung der menschlichen Zwecke. Die Faszination für diejenigen Eigenschaften der Dinge, die der praktisch Handelnde übersieht bzw. zugunsten seiner Zielorientierung übersehen muß, ist offenbar nicht der Grund für diese Verweigerung sondern deren Folge – man könnte angesichts des beinahe nebensächlichen Status des Schönen unterstellen, diese Faszination sei nur das Mittel der Verweigerung. Nicht die Liebe zum Schönen führt zur Praxislosigkeit, sondern man entdeckt die Schönheit, weil man nicht handeln und kommunizieren kann oder will. Dann wundert es kaum noch, wenn vor allem jene – ›Jugendliche, Frauen, Päderasten‹, so lautet die recht eigenwillige Aufzählung (s. o.) – nach Sartres Ansicht einen Sinn für die Schönheit besitzen sollen, die gesellschaftlicher Ohnmacht und Geringschätzung ausgesetzt sind. Folgerichtig erweist sich die Wahl des Schönen als abkünftig, weil sie ihrerseits in einem bestimmten Verhältnis zum Anderen fundiert ist. So gesehen gehört die ästhetische Einstellung als spezifisches Verhältnis zum Anderen eher in den Bereich der Ethik oder der Sozialphilosophie als in den der Ästhetik. Wer das Schöne liebt, versucht sich Sartre zufolge über das Menschengeschlecht zu erheben. Und das Motiv hierfür ist Misanthropie: »Ressentiment und Haß, die einen veranlassen, sich vom Sein zu absentieren, wird man sie in einer lebensweltlichen Situation eingenommen wird, die nach den Konventionen der Moral oder des Taktes eigentlich den vollen Ernst der Teilnahme erfordert« (Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 34). Ebenso erklärt auch M. Seel, daß ein »dominant (und konsequent) ästhetisches Leben« einen »Ausfall kommunaler Solidarität« bzw. den Verzicht, »am allgemeinen Streben nach Glück und Wohlergehen teilzunehmen«, bedeute (Eine Ästhetik der Natur, 327). 13 Dieses Zitat stammt aus dem kurzen Essay »Von der Berufung zum Künstler« (WkL 112–117) aus dem Jahr 1950, der an keiner Stelle kenntlich macht, daß die hierin offensichtlich im Sinne von Wesensbeschreibungen aufgeführten Charakterisierungen sich nur auf die Literatur einer bestimmten historischen Epoche beziehen. – Diese Position ist im übrigen völlig konträr zu jeder Forderung nach engagierter Literatur. Dies liegt möglicherweise daran, daß Sartre bewußt einseitig zunächst nur das primäre poetisch-ästhetisierende Moment der Literatur betont. Er würde jedoch weitergehen und behaupten, daß nach der Logik der Sache die Literatur letztendlich doch wieder – ohne die poetische Behandlung der Sprache aufzugeben – zu Prosa und Kommunikation zurückfinden sollte (s. u.).
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verbergen, indem man behauptet, man entferne sich davon, um das Ideal zu erreichen« (M 180). Angesichts der von Sartre genannten Motivationen der ästhetischen Einstellung liegt die Frage nahe, ob hier wirklich konsequent Interesselosigkeit bzw. Ablehnung der anthropologischen Zweckstruktur geübt wird, oder ob diese Ablehnung nicht vielmehr selbst im Namen eines ganz speziellen – zugegeben äußerst exzentrischen – menschlichen Zwecks geschieht, der sich etwa als Demoralisierung und Entwürdigung der menschlichen Gattung charakterisieren ließe. Wenn die Liebe zum Schönen in Misanthropie wurzelt, so ist die ostentative Interesselosigkeit nur das Mittel der Misanthropie und die Schönheit weniger Selbstzweck als »Angriffswaffe« (SG 575, 583). Sartre würde diesen Umstand jedoch nicht als Widersprüchlichkeit seiner theoretischen Ausführungen, sondern als Widersprüchlichkeit der ästhetischen Einstellung selbst bewerten. Bei dem sozialphilosophischen Übergewicht dieses Themas entbehrt es nicht einer gewissen Konsequenz, wenn von ästhetischer Lust bzw. Wohlgefallen bei Sartre kaum die Rede ist. Der Frage nach der Schönheit, also nach dem genuin Ästhetischen der ästhetischen Haltung, schenkt er bei aller Beschäftigung mit der Irrealisierung als Verweigerungshaltung – von einigen verstreuten Bemerkungen abgesehen, die nicht über den kursorischen Ansatz in Was ist Literatur? und Das Sein und das Nichts hinausgehen – keinerlei besondere Aufmerksamkeit. Obwohl eine Weiterentwicklung der Theorie des Imaginären aufs Ganze gesehen durchaus zu verzeichnen ist, so bleibt doch die Bestimmung der Schönheit, für die sich Sartre nicht besonders zu interessieren scheint, auffallend unterbestimmt. Schönheit, so heißt es in der Genet-Studie, ist der Prozeß, in dem das Sein eine Irrealisierung erfährt. Sie ist also weder Sein noch Schein, sondern die »Umwandlung des Seins in Schein« (SG 587) durch die Eliminierung des menschlichen Sinns, der den Dingen erst ihren Realitätscharakter gibt. Gemäß dieser Auskunft ist das Schöne als das irrealisierte Reale definiert. Genügt es jedoch für einen realen Gegenstand irrealisiert zu werden, damit das Attribut ›schön‹ auf ihn zutrifft? Ist etwas bereits schön, nur weil es nicht mehr in einen Handlungszusammenhang integriert ist? Es fragt sich im übrigen auch, ob nach dieser Definition überhaupt das Resultat dieses Vorgangs oder nicht eher nur der Vorgang selbst schön zu nennen wäre.14 Während in der praktischen Einstellung ein Objekt entweder dienlich oder widerständig sein kann, scheint in der ästhetischen Einstellung, sofern Schönheit nur definiert wird als Irrealisierung des Seins zum Schein, korrelativ kein häßliches Objekt möglich zu sein. Denn wenn es genügt, ein irreales Objekt zu sein bzw. in ein solches verwandelt zu werden, 14
Vgl. z. B. die folgende Passage: »Also ist die Schönheit weder ein Schein noch ein Sein, sondern eine Beziehung: die Umwandlung des Seins in Schein« (SG 587). Gibt es dann überhaupt noch schöne Dinge?
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um schön zu sein, dann macht der Gegenbegriff des Häßlichen innerhalb der irrealen Welt ebensowenig einen Sinn wie in der realen Welt, die nach Sartre verschwindet, sobald ich ästhetische Werturteile fälle, d. h. die ästhetische Einstellung einnehme. Folgte man der von Sartre eingeschlagenen Denkrichtung, so gäbe es nichts Häßliches, da alles Irreale schön und alles Reale weder schön noch häßlich wäre. Da Sartre die Eigenart des Ästhetischen innerhalb des zweiten Imaginationsparadigmas (Gegenpol der Praxis) unbestimmt läßt, ist eine Unterscheidung zwischen der Wahl des Irrealen im allgemeinen und der ästhetischen Einstellung im besonderen unmöglich: »Die ästhetische Haltung besteht zum großen Teil darin, das Sein zu imaginieren, das heißt, es so zu behandeln, daß es sich in Schein verwandelt« (IF 4, 187).15 Da die Poesie nicht nur als Sprachbehandlung, sondern als »Lebensweise« (SG 472) angesprochen und von Was ist Literatur? an als Praxisverweigerung und damit Irrealisierung bestimmt wird, gilt dasselbe auch hier: ›Poesie‹, ›Schönheit‹ und ›Imagination‹ scheinen bei Sartre Synonyme zu sein. Sein Argumentationsgang legt diesen Schluß zumindest nahe. Allerdings muß in diesem Zusammenhang auf eine Textstelle in der Genet-Studie hingewiesen werden, in der Sartre auf kaum zugängliche Weise den Versuch unternimmt, Schönheit und Poesie zu unterscheiden. So soll die »poetische Intuition« eines Wortes dann von einer »Schönheitserfahrung« begleitet sein, wenn das poetisch erfaßte reale Wort, sein realer Sinngehalt und mit ihm die ganze Sprache zum Schein werden (vgl. SG 588). Die Umwandlung in einen Schein ist laut dieser Darstellung allein das Werk der Schönheit, sie kommt keineswegs schon durch die poetische Behandlung als Negation der Praxis zustande. Poetische Objekte werden nur durch das Hinzukommen der ›Schönheitserfahrung‹ imaginär.16 Dies bestätigt auch Sartres Beispiel für Schönheit ohne Poesie: Java, eine Romanfigur Genets, ist seiner Ansicht nach deshalb schön, weil die Feigheit ihre ausgeprägte Muskulatur, ebenso wie Körperkraft und kampflustige Miene in einen Schein verwandelt. Die Muskulatur Javas, so heißt es, sei »nicht für den Gebrauch bestimmt« (SG 588). Er ist schön, imaginär und übt, unfähig, sich zu wehren, keinerlei Praxis aus, aber er ist nicht poetisch (vgl. SG 589).17 Der Scheincharakter ist in dieser Textpassage augenscheinlich allein an die Schönheit und nicht an
15
›Zum großen Teil‹, schreibt Sartre. Es wäre interessant, etwas über den anderen Teil zu erfahren. 16 Ob etwas schön ist, weil es imaginär ist, ob es imaginär ist, weil es schön ist, oder ob vielleicht alles Imaginäre grundsätzlich nach Sartre schön ist, kann auf der Grundlage seiner Ausführungen mitunter kaum entschieden werden. 17 Die ins Auge springende Absonderlichkeit des Gedankens, eine Person sei schön, weil sie trotz physischer Kraft nicht in der Lage ist, sich zu wehren, soll hier nicht verhandelt werden.
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die Poesie gebunden. Offensichtlich genügt hier wiederum auch die Imaginarität, um etwas schön zu nennen, bzw. Schönheit kennzeichnet ja gerade das dynamische Geschehen, in dem ein Sein in Schein verwandelt wird. Vor dem Hintergrund von Sartres Literaturtheorie wäre man, in Kenntnis seiner Argumentationsweise, eher versucht anzunehmen, daß es sich im Falle der Muskulatur und der kämpferischen Miene in Analogie zum Wort der pragmatischen Alltagssprache verhalten müßte: Wenn jenes durch Negation des Praxisbezugs poetisch wird, warum nicht auch das kampflustige Aussehen, das ja ebenfalls – infolge der Feigheit – »nicht zum Gebrauch bestimmt« ist? Warum führt die Ausblendung des Praxisbezugs der Sprache zur Poesie, die Ausblendung des Praxisbezugs der Muskulatur, obgleich sie immerhin auf wundersame Weise Irrealität und Schönheit hervorbringen soll, nicht auch zur Poesie? Wenn Poesie sogar eine Lebensweise spezifiziert, hilft die Erwägung nicht weiter, dieser Begriff sei alleine der Qualifizierung sprachlicher Phänomene vorbehalten. Umgekehrt kennt Sartre nun auch »reinste Poesie« ohne »Schönheitsintuition«: »(M)an denke an die Sessel auf der Wiese« (SG 589). Was es besagt, daß dieses Arrangement zwar poetisch, aber nicht schön ist und somit strenggenommen kein Gegenstand der ästhetischen Einstellung sein dürfte, bleibt völlig rätselhaft.18 Aber Sartre trennt nicht nur Poesie und Schönheit, er spricht vielmehr sogar davon, daß beide einander genaugenommen »fast« widersprechen. Wenn er im folgenden die Poesie als Triumph des Seins über die menschliche Praxis und die Schönheit als Triumph des Nichts über das Sein einander gegenüberstellt (vgl. SG 589), so werden diese hermetischen Überlegungen nur durch Rückgriff auf andere Schriften einigermaßen verständlich. In Was ist Literatur? wird geltend gemacht, daß die Weigerung, die Sprache zu gebrauchen, ihren Dingcharakter, jene Pluralität von Sinnesdimensionen enthüllt, die der zweckorientierte Sprachgebrauch ausklammert (vgl. WiL 17–20). Offenbar verwendet Sartre, wie auch teilweise in Das Sein und das Nichts, in seiner Literaturtheorie die Wörter ›Ding‹ und ›Sein‹ als Synonyme im Gegensatz zu ›Entwurf‹, ›Bewußtsein‹ oder ›Fürsich‹. In dem Maße als das Sein bzw. der Dingcharakter oder die Materialität der Sprache mit dem Schwinden ihrer Handlungsorientierung auftaucht, kann man – eine gewisse Vorliebe für plakative Formeln vorausgesetzt – von einem Triumph des Seins über die Praxis sprechen. Insofern die menschlicheRealität von Sartre mit Entwurf und Praxis identifiziert wird, ließe sich dann in einem existentiellen Sinne sogar von einem Scheitern des Menschen reden. Ob diese Bestimmung überzeugend ist, ist natürlich eine ganz andere Frage. Wie verhält es sich nun mit der Schönheit als Triumph des Nichts über das Sein? Sowohl in Das Imaginäre als auch in Das Sein und das Nichts liegt die 18
Und zwar ist es rätselhaft, gleichgültig, ob man die ästhetische Einstellung nach dem ersten (vgl. Im 303 f.) oder nach dem zweiten Imaginationsparadigma (s. o.) versteht.
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10. Imagination und Ästhetik III
Schönheit jenseits des realen Seins als dessen Negation im Bereich des Imaginären (vgl. Im 303; SN 361). Wenn sich die Schönheit manifestiert, kann sie dies somit nur im Imaginären, d. h. in diesen Momenten wird die reale Welt zum Verschwinden gebracht. Sartres These, daß die Schönheit ein Triumph des Nichts gegenüber dem Sein ist, gewinnt durch diesen Querverweis einiges an Verständlichkeit. In der behandelten Passage aus der Genet-Studie läßt sich nun ausschließlich der erste Imaginationsbegriff (Gegenpol zur Wahrnehmung) feststellen: Der Scheincharakter kommt durch den Triumph des Nichts über das Sein (Schönheit) und nicht durch den Triumph des Seins über das Handeln (Poesie) zustande. Die Poesie besitzt nach dieser Definition kein selbständiges irrealisierendes Vermögen. So wird sie zwar, wie sich der Bestimmung als Triumph des Seins über das Handeln entnehmen läßt, immer noch als Praxislosigkeit aufgefaßt, aber hieraus folgt für sich noch keine Irrealisierung. Sartre begreift den Menschen als Praxis und versteht diese in einem Gegensatz zu Poesie einerseits und – infolge der Dualität von Für-sich und An-sich – dem Sein andererseits.19 Daher befindet sich offenbar die Poesie mit dem realen (transphänomenalen) Sein auf derselben Seite der Barrikade, während die Schönheit streng nach dem ersten Imaginationsbegriff auf den Bereich des Imaginären und des Nichts begrenzt wird, also auf jenen Bereich, der sich durch ontologische Unselbständigkeit bzw. Zurückführbarkeit auf die Subjektivität auszeichnet. Schönheit und Sein finden sich somit auf entgegengesetzten Polen. Nach der Realitäts- bzw. Seinsauffassung des ersten Imaginationsparadigmas (Gegenpol zur Wahrnehmung) genügt die Wahrnehmungsintuition der Subjektunabhängigkeit, um über die Realität von etwas zu befinden;20 nach dem zweiten Imaginationsparadigma (Gegenpol zur Praxis) enthüllt nur die Praxis die »erdrückende(n) Realität der Welt« (IF 4, 177). ›Real‹ bzw. ›seriös‹ ist eine Wahrnehmung infolgedessen genau dann, wenn sie Handlungsmöglichkeiten eröffnet und den Widrigkeitskoeffizienten der Dinge offenbart: 19
Wenn sich die Poesie als Negation der Praxis an demselben Pol wie das Sein befindet, müßte bei einer konsequenten Anwendung des dualistischen Denkens Sartres sich die Schönheit als Negation des Seins auf seiten der Praxis wiederfinden. Insofern Sartre jedoch sich auch schon aus der Perspektive des ersten Imaginationsparadigmas (Gegenpol zur Wahrnehmung) veranlaßt sieht, Praxis und Imagination zu trennen (vgl. Im 286, 303 f.), unterläuft ihm eine ontologische Dreiheit von Praxis (Für-sich), Sein (An-sich) und Imagination. 20 Die Qualitäten des realen Dinges bieten sich »meinem Blick als Existenzen dar, die ich nur feststellen kann und deren Sein in keiner Weise von meiner Laune abhängt […]. Gewiß ist, daß das Weiß, das ich feststelle, sicher nicht von meiner Spontaneität hervorgebracht werden kann. Diese inerte Form, die diesseits aller bewußten Spontaneitäten ist, die man beobachten, nach und nach herausbekommen muß, ist das, was man ein Ding nennt« (TE 97). Dies ist das Realitätsverständnis, das dem ersten Imaginationsparadigma immanent ist.
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»Sie ist seriös, wenn sie einnimmt und beherrscht, wenn sie sich mit allen unsren Interessen belastet hat, wenn sie unsre Begierden und unsre Befürchtungen widerspiegelt, mit einem Wort, wenn sie uns unsere Verankerung zeigt, das heißt, wenn sie uns die äußere Welt als die Grundlage unsrer intimen Realität offenbart. Sie ist seriös für alle, die die menschlichen Zwecke teilen, sie verliert ihre praktische Tiefe für den, der so konstituiert ist, daß er sie nicht mehr teilt. Und wenn eine Wahrnehmung dieser schwindelerregenden Gravität beraubt ist und weder unser Leben noch unsren Tod, noch unsre Bedürfnisse, noch die Gemeinschaft der Menschen mehr spiegelt, was ist sie dann andres als eine bloße Vorstellung? […] Es ist der heftige conatus, vereinzelt in Millionen von Bewußtseinen, der unserer Umgebung ihr Gewicht einer Drohung, einer Wünschbarkeit, einer Zeughaftigkeit, kurz ihr Sein gibt. Für den, der diesen zügellosen Trieb einen Augenblick verdrängen kann, ist die Welt nur noch eine Gesamtheit von Vorstellungen, deren Einheit sich der uneigennützigen Betrachtung darbietet, das heißt ästhetisch in Form einer Idee« (IF 4, 177).21 Die Schönheit befindet sich nach dem ersten Paradigma im Gegensatz zum Realen, weil nur das Produkt subjektiven Erschaffens und daher nur das Imaginäre – also das auf die Subjektivität zurückführbare, mithin ontologisch unselbständige Sein – schön sein kann. Nach dem zweiten Paradigma steht die Poesie in disjunktem Verhältnis zum Realen, weil sie auf die Praxis verzichtet und das Reale sich nur in einem Praxiszusammenhang enthüllt. Schönheit und Poesie sind also beide zwar imaginär und in Opposition zum Realen. Aber mit Realität und Imagination ist jeweils etwas anderes gemeint. Aus der Perspektive des zweiten Imaginationsparadigmas (Gegenpol zur Praxis) ist das Reale nicht mehr lediglich der transphänomenale Gegenstand, sondern der in einer Handlungsperspektive enthüllte transphänomenale Gegenstand. Also gehört der transphänomenale Gegenstand bzw. das Sein, sofern ihm die Utensilität fehlt, zum Bereich des Imaginären.22 Wenn ›Realität‹ als ein
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In diesem Zusammenhang weist Sartre auf Schopenhauer hin, in dessen Denken die Realität der Welt vom Willen zum Leben herrührt (vgl. IF 4, 177). 22 Auf diese Weise erlebt jeder Mensch die Natur, wenn er sich im Urlaub dem Müßiggang hingibt. Jene ist »(n)ichts anderes als die Außenwelt, wenn wir keine technischen Beziehungen mehr zu den Dingen haben. Der Produzent und der Warenverteiler haben sich in Konsumenten verwandelt, und die Konsumenten verwandeln sich in Betrachter: die Realität verwandelt sich korrelativ in Dekor« (SG 418). Im Vergleich mit dem Zitat der vorherigen Fußnote wird noch einmal deutlich, daß Transphänomenalität bzw. Subjektunabhängigkeit nach dem zweiten Imaginationsparadigma – Imagination als Gegenpol zur Praxis – nicht mehr das alleinige Realitätskriterium ist. Die in einer kontemplativen Wahrnehmung erfaßten Naturgegenstände sind zwar transphänomenal – sie sind da, auch wenn ich kein Bewußtsein von ihnen habe, und dieser Umstand ist im Augenblick der Wahrnehmung durchaus evident –, sie sind zwar Wahrnehmungsgegenstände, aber keineswegs real.
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Zusammenkommen von Transphänomenalität und Praxis anzusehen ist, so scheint es die von Heidegger hervorgehobene Zuhandenheit zu sein, der nach Sartre die Seienden ihre Realität verdanken. Während die Wahrnehmung ein »Moment der Praxis« (IF 4, 132) ist, versucht die ästhetische Einstellung als »Imperialismus der Imagination« (IF 4, 215) die Realität durch die Verweigerung der praktischen Haltung einzuklammern und ein reales Geschehen wie »eine Komödienszene [zu] behandeln« (IF 4, 132). Wenn ich eine solche »quietistische Kontemplationshaltung« (SG 585) einnehme, lasse ich die »Utensilität auf dem Utensil erstarren« (SG 602) und verwandle hierdurch die Dinge in Bilder (vgl. SG 587). Das Resultat des »Verzicht(s) auf das bestimmende, spezifizierende und negierende Handeln« (IF 4, 201), ist eine »traumartige Wahrnehmung« (IF 4, 201) bzw., wie es auch heißt, eine »zwischen Sein und Nicht-sein schwimmende verkommene Wahrnehmung« (IF 4, 195, Fußn. 134). So begeistert sich Flaubert auf seiner Ägyptenreise weniger für die außergewöhnlichen Sehenswürdigkeiten, sondern gerät statt dessen in Begeisterung beim Anblick einer vorbeiziehenden Karawane. Diese Karawane bietet ihm die Realität so, wie er sie sich wünscht, weil die Fremdheit von Kultur und Sprache jede Kommunikation, jede verstehende Partizipation an den Sorgen dieser Menschen ausschließt und sie als »bloße Koexistenz« an ihm vorüberziehen läßt. Es handelt sich hier um ein recht illustratives Beispiel für eine Existenz ohne Realität: Die Karawane ist zwar transphänomenal, aber insofern sie nicht in einen Handlungs- und Kommunikationszusammenhang integriert wird, fehlt es ihr an Realität. Sie ist real nach dem ersten und irreal nach dem zweiten Imaginationsparadigma: »In dieser Karawane zeigt sich ihm die Menschheit als eine Spezies, deren Zwecke er nicht teilt, deren wahre Ziele ihm fremd bleiben. Gleichzeitig wirken das Schweigen, die Fremdartigkeit der Gruppe und ihr fortschreitendes Verschwinden wie ein ›Gespenst in den Wolken‹; das heißt, diese menschliche Gesellschaft in Bewegung bietet sich, verstärkt durch das Dekor, als eine irreale Realität dar, als der ungreifbare Mensch, der vorübergleitet und im Nichts verschwindet, das Sein als Erscheinung, die auf den Schein reduzierte Erscheinung, das Wesen der Kommunikation, das sich als absolute Nicht-Kommunikation enthüllt, das Imaginäre und das Reale in einem, das ist es, was Flaubert plötzlich vor Entsetzen und Freude erschauern läßt« (IF 3, 950). Im späten Denken Sartres sind die Begriffe ›Transphänomenalität‹ und ›Realität‹ keine Synonyme mehr, während ›Sein‹ doppeldeutig wird. ›Sein‹ ist mit ›Realität‹ identisch, überall dort, wo behauptet wird, daß die ästhetische Einstellung (durch Praxisverweigerung) das Sein in einen Schein verwandelt. Dagegen ist das ›Sein‹ als reiner Gegenstand einer wahrnehmenden Kontemplation ohne jegliche praktische Zweckorientierung zwar immer noch gleich-
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bedeutend mit ›Transphänomenalität‹, aber nicht mehr mit ›Realität‹. Nach dem zweiten Imaginationsparadigma (Gegenpol zur Praxis) führt die Praxisverweigerung der ästhetischen Einstellung zur Verwandlung eines Utensils in ein Sein im Sinne einer »bloße(n) Koexistenz« (vgl. IF 3, 950) bzw. eines »einfache(n) Da-seins« (SG 418). Daher kann Sartre auch erklären, daß diese Kontemplation das Sein – hier: ein reales Ding im Handlungszusammenhang – in einen Schein – hier: ein zwar transphänomenales, also subjektunabhängig existierendes, aber nurmehr kontemplativ erfaßtes Sein (eben eine bloße Koexistenz) – verwandelt. Sartre meint, die Sessel auf der Wiese seien zwar poetisch, aber nicht schön, weil sie offenbar seiner Ansicht nach nicht imaginär sind und die Schönheit ausschließlich dem Imaginären vorbehalten wird, welches in dieser Textpassage (SG 589) nach dem ersten Imaginationskonzept als Gegenpol zum Wahrnehmungsobjekt bzw. zum transphänomenalen Sein begriffen wird. Sartre hat in dieser Passage also offensichtlich vergessen, daß er spätestens seit Was ist Literatur? und erst recht in Saint Genet die Imagination nicht nur als Gegenpol zur Wahrnehmung, sondern – mitunter willkürlich changierend – ebenfalls als Gegenpol zur Praxis versteht. Insofern er an dieser Stelle nur den ersten Imaginationsbegriff geltend macht, übersieht er, wie oft er gerade auch in der Genet-Studie die Entpragmatisierung, die die Poesie auszeichnet, als Irrealisierung beschrieben hat.23 Ist die Poesie Verweigerung der Praxis und die Schönheit die »Umwandlung des Seins in Schein« (SG 587), die sich eben durch jene Verweigerung der Praxis (vgl. z. B. IF 3, 972) vollzieht, so ist 23
Es müßte sich im übrigen, um nun noch einmal abschließend auf das reichlich weit hergeholte Beispiel der Romanfigur Genets zurückzukommen, im Falle von Javas Muskulatur eigentlich genau entgegengesetzt verhalten. Nach dem ersten Imaginationsparadigma kann ein reales Sein nur zum Schein werden, wenn es als Analogon eines imaginären Gegenstands fungiert. Fungiert jedoch der reale muskulöse, kampflustig auftretende Java aufgrund seiner realen Feigheit als Analogon eines imaginären Feiglings? Das ist überhaupt nicht einleuchtend. Die ästhetische Einstellung, die am Schluß von Das Imaginäre aus der bis dahin noch konkurrenzlosen Perspektive des ersten Imaginationsparadigmas (Gegenpol zur Wahrnehmung) kurz angeschnitten wird (vgl. Im 303 f.), wird tatsächlich als eine Betrachtung qualifiziert, die die realen Dinge als Analogon ihrer selbst auffaßt. Aber die Art und Weise, wie Sartre in dem Java-Beispiel die Feigheit wie auch die Praxislosigkeit der Muskulatur als offensichtlich konstitutiv für den Scheincharakter geltend macht, wirkt dann recht inkonsistent und legt den Verdacht nahe, daß Sartre selbst einer Verwirrung seiner teilweise überhaupt nicht ausformulierten Imaginationskonzepte unterlegen ist. Jene Feigheit, die Muskeln, die ›nicht zum Gebrauch bestimmt‹ sind, die trügerische Kampflust, all dies deutet eher auf eine Analogie zur Praxisverweigerung des Poeten. Es scheint, als verwende Sartre das Kriterium des zweiten im Sinne des ersten Imaginationsparadigmas. Etwas würde dann aufgrund von Passivität aufhören zu existieren, also transphänomenal zu sein. Java läßt sich jedoch eher vom zweiten, statt vom ersten Imaginationsparadigma her verstehen, d. h. er wäre, wenn man schon eine Unterscheidung von Poesie und Schönheit vornehmen wollte, eher poetisch als schön.
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die Trennung von Schönheit und Poesie völlig unhaltbar. Dies gilt spätestens, sobald auch die Schönheit nach dem zweiten Imaginationsbegriff als Resultat eines Handlungsverzichts in Anschlag gebracht wird.
10. 2. Die ästhetische Einstellung als Gegenarbeit Das Bestreben, »die Realität vom Gesichtspunkt des Irrealen zu betrachten« (IF 3, 954), bzw. »seine Wahrnehmung zu imaginieren«, ist Sartre zufolge die »notwendige Bedingung, um Künstler zu werden« (IF 4, 186 f.). Es gibt also keinen Künstler, der nicht die ästhetische Einstellung einnimmt. Diese ist nun weniger eine Flucht vor der Realität in künstlerische Traumwelten, ein Sich-Verlieren in »ex nihilo« hervorgebrachte Bilder, sondern sie vollzieht sich als ein Übergriff auf die Realität mit dem Ziel, »durch strenge Techniken das Reale in Imaginäres umzusetzen« (IF 4, 352). Da sie sich nicht von den realen Dingen abwendet, sondern vielmehr auf diese zugeht, um sie durch eine Handlungs- und Verstehensverweigerung umzugestalten, zeigt sie eine größere Nähe zum zweiten (Gegenpol zur Praxis) und dritten (Gegenpol zur Valorisierung) als zum ersten Imaginationsbegriff (Gegenpol zur Wahrnehmung).24 Trotz aller Passivität und Verweigerung betreibt der Ästhet auf seine Weise durchaus ein teleologisches Vorgehen, das Sartre bezeichnenderweise »Gegen-Arbeit« (IF 4, 206) genannt hat. Die Strategie einer solchen ›GegenArbeit‹, die durch Eliminierung der praktischen Dimension, in der die Realität der Wahrnehmung fundiert ist, das Sein in Schein bzw. in ein »Schauspiel« (IF 4, 188) verwandelt, kann sich mit der Zeit zu einer systematischen Lebensführung bzw. einer »Hexis« (IF 4, 206) ausweiten. Selbst wenn sich der Ästhet auch weigert, an den Handlungsintentionen seiner Mitmenschen zu partizipieren, schließt diese absichtliche Ignoranz doch keineswegs eine intensive Beobachtung aus, ja diese begreift Sartre sogar als ein wesentliches Moment der irrerealisierenden Kontemplation (vgl. IF 4, 199 f.). Sehen als »das Gegenteil von Wahrnehmen« (IF 4, 215) bedeutet, sich von den Dingen faszinieren zu lassen, ohne sie in ein praktisches Feld einzugliedern, d. h. »ohne sie seinen Unternehmen als reale Mittel eines real verfolgten Zwecks zu integrieren« (IF 4, 215):25 Es verhält sich bei dem 24
Auf diese Weise bleibt sie der als diskriminierend empfundenen Situation verpflichtet, auf die sie reagiert. 25 Siehe auch die folgende Beschreibung aus einem aktuellen Buch zur Ästhetik: »In einer Situation, in der ästhetische Wahrnehmung wachgerufen wird, treten wir aus einer allein funktionalen Orientierung heraus. Wir sind nicht länger darauf fixiert (oder nicht länger allein darauf fixiert), was wir in dieser Situation erkennend und handelnd erreichen können« (M. Seel, ebd., 45). Nach M. Seel wird das Sehen erst dann dem Spiel der Erscheinungen eines Gegenstands gerecht, wenn es sich nicht einer Orientierung an Erkenntnis
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imaginierten Wahrgenommenen genauso wie im Fall der poetischen Sprache: Gleich dem poetischen Wort (vgl. bes. WiL 18) offenbart das Korrelat der ästhetischen Einstellung – entgegen dem Prinzip der Quasi-Beobachtung, das dem ersten Imaginationsparadigma zugehört – eine Fülle neuartiger Aspekte, die in der praktischen Haltung unbemerkt bleiben:26 »(D)ie imaginierende Betrachtung enthüllt mehr Merkmale im Gegenstand als die praktische Beobachtung« (IF 4, 196).27 Aus dem Blickwinkel der ästhetischen Kontemplation, die auf jegliche Handlungsorientierung verzichtet, trägt die Realität »all die reichen Nuancen zur Schau […], die in ihr zusammengefaltet waren« (IF 4, 214).28 Die ästhetische Einstellung erfindet also nicht lediglich in der Weise einer creatio ex nihilo, vielmehr legt die Rede vom Entdecken einer geheimen »Imaginarität des Realen« (IF 4, 188) den Gedanken nahe, als gäbe es sozusagen eine Dimension des Imaginären, die nicht nur objektiv im Sinne von intersubjektiv, sondern sogar transphänomenal im Sinne von subjektunabhängig wäre,29 und sich nur dem passiven Menschen darbieten würde. Die Veranschaulichung anhand von Beispielen (vgl. vor allem Flauberts und Benutzung unterwirft (ebd., 84). So läßt sich zwar einerseits von einer »ästhetischen Lethargie« sprechen, andererseits »kommt diese nicht ohne ein gewisses Maß an ästhetischer Energie aus – die Energie, die es kostet, das eigene Wissen und Wollen für eine Weile zu vergessen« (ebd., 234, Fußn. 13). 26 Dies beschreibt M. Seel ganz ähnlich (vgl. ebd., 56). 27 Dennoch will Sartre zugleich an der ›wesensmäßigen Armut‹ des Imaginären festhalten, die nun als »enthüllte Unfähigkeit, uns zu einer verschwundenen Realität Zugang zu verschaffen« (IF 4, 196, Fußn. 134; vgl. IF 4, 201), bestimmt wird. Macht es aber Sinn im Rahmen des zweiten Imaginationskonzepts (Gegenpol zur Praxis) von einer ›verschwundenen Realität‹ zu sprechen? Hier geht es doch nicht um die Vergegenwärtigung abwesender oder nichtexistierender Objekte; verschwunden ist lediglich im Zuge der Praxisverweigerung die Realitätsdimension an anwesenden Dingen, die sich in einer Wahrnehmungsintuition erschließen (Wahrnehmung verstanden als Erfassen transphänomenaler Objekte). ›Irreal‹ sind in diesem Zusammenhang gerade nicht abwesende, sondern anwesende Objekte, die durch meinen Einstellungswechsel wieder Realität gewinnen würden. 28 Im Gegensatz dazu soll bei der literarischen Rezeption der Reichtum der fiktionalen Welt nicht auf Passivität beruhen, sondern sich einem ›imaginären Engagement im Handeln‹ verdanken (vgl. WiL 51). 29 Der Gedanke, daß die Irrealität nicht erfunden, sondern wie die realen Eigenschaften eines Gegenstands enthüllt wird, ist weniger befremdlich, wenn ›irreal‹ lediglich die Erscheinungsweise der Dinge unter Verzicht auf jegliches praktische und Erkenntnisinteresse bezeichnet. Insofern ist das Imaginäre transphänomenal. Wenn das An-sich-sein nach den Ausführungen in Das Sein und das Nichts durch den praktischen Entwurf des Für-sich als ›Welt‹ konstituiert wird, dann müßte dieses An-sich-sein der Dinge nach dem zweiten Imaginationskonzept irreal sein. Die eigentliche Frage ist allerdings viel eher, ob in Sartres Beispielen wirklich eine vollkommene Ausblendung jeder Praxis vorliegt oder nicht eher, wie der Begriff ›Gegen-Arbeit‹ schon vermuten läßt, eine Sonderform der Praxis, die darauf aus ist, das konventionelle und pragmatische Interesse zu unterlaufen. Gilt der Gegensatz zwischen Imagination und Praxis aber dann noch in wirklich striktem Sinn?
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Beschreibung der Taufe seiner Nichte, s. u.) wird allerdings zeigen, daß sich auch jenseits der praktischen Einstellung keine interpretationsfreie Gegebenheit zeigt; selbst hier liegt ein sozusagen ›alshaftes‹ Weltverhältnis vor, insofern die realen Personen und Ereignisse immer auch anders irrealisiert bzw. einer anderen irrealisierenden Deutung unterzogen werden können. Flaubert beansprucht sogar, wie sich unten zeigen wird, bei aller praktischen Enthaltsamkeit ein ausgesprochen hohes Maß an interpretatorischem Aufwand, um reale Situationen in Schein zu verwandeln.30 Selbst wenn in dieser Haltung noch kein Kunstwerk geschaffen wird, spricht Sartre doch bereits von »geistige(n) Techniken«, die die »noch warme Erfahrung« (IF 4, 215) umformen und als Analogon einer »äußeren Imagination« konstituieren, der alle Nuancen der gesehenen Dinge als materielles Fundament dienen (vgl. IF 4, 215). Während im Beispiel der vorbeiziehenden Karawane noch der Eindruck entstehen konnte, in der ästhetischen Einstellung werde ein Ereignis durch das Fehlen von Praxis und Kommunikation rein für sich in seinem Eigenwert als ein bloßes Spiel von Erscheinungen genommen, ohne daß es hier zu einer subjektiven und interessegeleiteten Bearbeitung dieses Ereignisses käme, so wird man doch bei Flauberts Schilderung der Taufe seiner Nichte schließlich eines besseren belehrt (s. u.). Im Anschluß an diese Erläuterungen zur Erscheinungsweise der Welt als Korrelat einer ästhetischen Einstellung lassen sich drei weiterführende Überlegungen formulieren, die unterschiedliche Themen im Denken Sartres beleuchten: Der erste Punkt betrifft die häufig geäußerte Kritik an Sartres früher Ästhetik, deren Stichhaltigkeit sich auf der Stufe des Imaginationskonzeptes von Der Idiot der Familie möglicherweise abschwächen ließe. Die zweite Überlegung, die eher epistemologische Fragestellungen berührt, macht auf eine Widersprüchlichkeit hinsichtlich des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln aufmerksam; von hier aus ergibt sich die Frage, ob Sartres Gesamtwerk ein einheitlicher Erkenntnisbegriff zugrundeliegt oder ob nicht eher mehr oder weniger einschlägige Umformungen und Weiterentwicklungen zu verzeichnen sind.31 Bevor sich die Untersuchung den konkreten Beispielana30
Nach Kant ist die »Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) […] sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer anderen Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt«. Und dies geschieht nicht erst dort, wo sie künstlerische Werke hervorbringt, sondern bereits wenn wir uns mit ihr »unterhalten […], wo uns die Erfahrung zu alltäglich vorkommt« (Kritik der Urteilskraft, 168). Eine solche Umformung einer allzu alltäglichen Erfahrung durch die Einbildungskraft zeigt eine deutliche Verwandtschaft zu dem, was Sartres ästhetische Einstellung der Alltagserfahrung antut. 31 Die Klärung des Erkenntnisbegriffs Sartres kann an dieser Stelle allerdings ebensowenig geleistet werden wie eine Untersuchung, ob nach den Darlegungen in Der Idiot der Familie eine Revision von Sartres früher Ästhetik erfolgen könnte. Die Problemstellung, die hier vorgenommen werden soll, läßt sich eher als ein Ausblick begreifen.
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lysen zur ›Gegen-Arbeit‹ zuwendet, wirft die dritte Überlegung noch einmal aus der Perspektive der ästhetischen Einstellung einen kurzen Blick auf die Spezifität der kindlichen Welt als Ursprung der praktischen Welt des entwickelten menschlichen Subjekts. Alle drei Problemskizzen können allerdings nur äußerst kursorisch ausgeführt werden. 1. Wenn für die Kunst nun nicht mehr, wie noch in Das Imaginäre, der erste (Gegenpol zur Wahrnehmung), sondern der zweite Imaginationsbegriff (Gegenpol zur Praxis) vorherrschend ist, so scheint Sartre einem entscheidenden Einwand gegen seine frühe Ästhetik entgehen zu können. Solange Kunst in radikalem Gegensatz zum Wahrgenommenen verstanden wird, besteht eine platonisierende Tendenz, nach der das eigentliche Kunstwerk jenseits der sinnlichen Anschauung, also jenseits seines materiellen Trägers bzw. des Analogon, zu finden wäre.32 Von hier rührt die wenig plausible Konsequenz, die reale Aufführung lasse das Musikstück ebenso unberührt, wie die Flammen zwar die bemalte Leinwand zerstören, das eigentliche Bild jedoch niemals erreichen können. Ganz im Gegenteil wendet sich die Imagination nach dem zweiten Paradigma nicht von den Wahrnehmungsdingen ab, sondern ist ihnen sogar trotz und gerade wegen ihrer Passivität auf viel intensivere Weise zugewandt. Dies scheint der größte Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Imaginationsbegriff zu sein: Das erste Verständnis des Imaginären sieht von der sinnlichen Gegebenheit ab und bezieht sich – wenn auch im Ausgang von der realen Welt – auf nicht-existente oder abwesende Gegenstände (vgl. Im 291–295), wohingegen nach dem zweiten Verständnis die Irrealisierung durch den Verzicht auf die Praxis sowohl den Reichtum der Erscheinungsweisen der sinnlichen Gegebenheiten als auch die Vielfalt ihrer Sinndimensionen erst entdeckt.33 Der Gegenstand der irrealisierenden Einstellung ist nach dem ersten Imaginationskonzept ärmer, nach dem zweiten Imaginationskonzept dagegen reicher als der reale Gegenstand. Wie die Bedeutungen der Prosa in der Poesie nicht einfach verschwinden, sondern zu ›natürlichen‹ Qualitäten der Wort-Dinge werden (s. o.), ließe sich folgern, daß in der ästhetischen Einstellung die Utensilitätsdimension der Wahrnehmungsobjekte nicht eliminiert wird, sondern sich mit den Qualitäten der Objekte durchdringt, die für gewöhnlich in der praktischen Einstellung unentdeckt bleiben. Mit den Konsequenzen, welche aus dem zweiten Imaginationsbegriff folgen, wird jedenfalls in aller Deutlichkeit die Unentbehrlichkeit des Analogon hervorgehoben, zugleich wäre jedoch zu bedenken, ob hierdurch nicht die strikte Unterscheidung zwischen dem wahrnehmbaren Analogon des Kunstwerks und dem imaginären Kunstwerk schließlich selbst hinfällig wird.
32 33
Vgl. hierzu auch Apel, »Die beiden Phasen der Phänomenologie«. Vgl. zum Sinn als »natürliche Qualität der Dinge« das Kapitel über Poesie und Prosa.
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2. Die These, daß die imaginierende Betrachtung mehr Eigenschaften als die praktische Beobachtung am Gegenstand entdeckt, steht in deutlicher Spannung zum engen Zusammenhang von Erkenntnis und Handeln, den Sartre vor allem in Wahrheit und Existenz proklamiert: Da jede Handlung Erkenntnis – wenn auch in den meisten Fällen ein »nicht intellektuelles Enthüllen« – ist, und jede Erkenntnis – und zwar selbst »eine intellektuelle« – immer auch eine Handlung ist (vgl. WE 34), kann man »einen Gegenstand unmittelbar betrachten, man wird ihn nicht sehen, wenn er nicht in einer Verhaltensperspektive gegeben ist« (WE 42). Aus diesem Grund kann »das als reine kontemplative Ruhe gefaßte Sehen […] weder das Wie eines Objekts enthüllen noch seine vielfältigen Seiten« (WE 42). Insofern das Kind nicht handelt, ist es daher unwissend, »und es lernt in dem Maß, wie es handelt« (WE 42). In Der Idiot der Familie wird nun behauptet, daß die ästhetische Einstellung Aspekte der Dinge enthüllt, die der praktischen Haltung entgehen, obwohl eine solche passive Kontemplation streng nach der geltend gemachten Verbindung von Erkenntnis und Handlung eigentlich überhaupt nichts erkennen dürfte. Hier liegt offenbar ein Widerspruch innerhalb der Theorie Sartres vor, es sei denn, man fände gute Gründe, diesem ›Enthüllen von Merkmalen‹ (s. o.) den Erkenntnisstatus abzusprechen. Eine solche Engführung des Erkenntnisbegriffs wäre natürlich klärungsbedürftig.34 3. Aus den Überlegungen der vorherigen Kapitel läßt sich, wie bereits erläutert wurde, auf die Priorität einer kindlichen Passivität und Irrealität gegenüber dem realisierenden Weltverhältnis des praktisch Handelnden schließen. Hier handelt es sich um eine ursprüngliche Stufe, die, so legt Sartres Gedankenführung implizit nahe, der eigentlichen Stufe des menschlichen
34
An dieser Stelle bietet sich ein Vergleich mit Kant an: Nach Kant sind zwar alle Kräfte der Erkenntnis an der ästhetischen Wahrnehmung beteiligt, aber es kommt ihr nicht darauf an, Erkenntnisse zu gewinnen. Bei diesem »freie(n) Spiel der Erkenntnisvermögen« (Kant, ebd., 56) geht es darum, »die Beschäftigung der Erkenntniskräfte ohne weitere Absicht zu erhalten« (ebd., 61). Weder soll der ästhetische Gegenstand des interesselosen Wohlgefallens auf den Begriff gebracht noch einem praktischen Zweck zugeführt werden. Insofern von Erkenntnis nach Kant dann die Rede ist, wenn Anschauungen auf den Begriff gebracht werden, ist die ästhetische Wahrnehmung als ein begriffsloses Verweilen beim Gegenstand in seinem Erscheinen keine Erkenntnis (vgl. ebd., 39 f., 43 f., 48 f.). Sartres Bestimmung der Erkenntnis als ein intuitives Enthüllen des Seins (vgl. SN 396 f.; WE 18, 22; WiL 36) ist dagegen ausgesprochen unscharf, und es stellt sich angesichts der Opposition von Erkenntnis als Teilbereich der Praxis und ästhetischer Wahrnehmung, an die sich auch Sartre hält, die Frage, wie von einem solchen unbestimmten Erkenntnisbegriff das ›Enthüllen von Merkmalen‹ abgegrenzt werden soll, das in der imaginierenden Betrachtung erfolgt. Zu überlegen wäre etwa, ob dieses ›Enthüllen von Merkmalen‹ möglicherweise analog zu Kants Auffassung der ›ästhetischen Idee‹ sich als etwas begreifen ließe, das sehr »viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann« (Kant, ebd., 168).
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Subjekts vorausgeht, welche mit der Praxis identifiziert wird. Mit anderen Worten, sofern jeder Mensch existiert, bevor er als Subjekt bzw. als praktisch Handelnder existiert,35 ist das erste Verhältnis zur Welt aufgrund seiner temporären Praxislosigkeit poetisch. In diesem Sinne stellt zwar für den erwachsenen Menschen die Poesie eine Entpragmatisierung dar, aber diese ist sowohl logisch als auch zeitlich dem Umstand nachgeordnet, daß die Praxis für das Kind eine Entpoetisierung der Welt bedeutet. Wenn erst der menschlich-praktische Sinnzusammenhang den Realitätsindex der Welt ausmacht, so scheint der Gedanke naheliegend, daß die reale Welt sich nicht – wie vor dem Hintergrund des ersten Imaginationsparadigmas – einer spontanen Wahrnehmungsintuition von Subjektunabhängigkeit bzw. Transphänomenalität verdankt, die sich schlagartig vollzieht, sondern vielmehr das Resultat eines Lernprozesses ist, in dem das Kind allmählich mit den Formen der Praxis und den verschiedenen Techniken vertraut wird. Die Welt würde sozusagen nach und nach immer realer.36 Der realen Welt scheint die Stufe einer Welt voraus- und zugrundezuliegen, in der die Dinge aufgrund der noch unentwickelten Praxisdimension weitgehend »im Limbus des reinen Scheins« (IF 4, 216) verbleiben. Vorausgesetzt ist bei dieser Fortführung von Sartres Theoremen natürlich jene schematische Darstellung, nach der für das Erscheinen des Schönen bzw. Poetischen der Handlungsverzicht offensichtlich ausreicht; eine weitere Bedingung besteht in der Zulässigkeit des Umkehrschlusses, daß meine Welt schön bzw. poetisch bleibt, bis ich beginne zu handeln. Mit anderen Worten, derartige Spekulationen sind möglich, weil auf der spärlichen Grundlage von Sartres Erörterungen keine Unterscheidung zwischen irrealer und ästhetischer bzw. poetischer Einstellung denkbar ist und schon die Praxislosigkeit mit Irrealisierung gleichgesetzt wird. Der Ästhet läßt sich unter diesem Gesichtspunkt als jemand verstehen, der sich einen kindlichen Blick auf die Welt bewahrt;37 die Verweigerung der Praxis wäre aus dieser Sicht als 35
Vgl. Cahiers pour une morale, 22: »L’enfant est d’abord objet. ›Nous commençons par être enfants avant que d’être hommes‹, cela veut dire: nous commençons par être objets. Nous commençons par être sans possibilités propres«. 36 Die Quantifizierbarkeit von ›real‹ und ›irreal‹ legen Sartres Analysen wiederholt nahe; sie entbehrt ferner auch nicht einer gewissen Folgerichtigkeit, wenn die Imagination als Gegenpol zur Praxis verstanden wird. 37 Dennoch darf die Welt des Ästheten trotz aller Nähe nicht restlos mit der des Kindes identifiziert werden: Wenn der Ästhet nach Sartres Erklärung das Sein irrealisiert, so ist dieses Sein selbst – und mithin ein praktisches Verhältnis zur Welt als dessen Konstituens – vorausgesetzt. Erst von hier aus macht es Sinn, von einer absichtlichen Irrealisierung zu reden. Der Unterschied zum Kind besteht darin, daß dieses noch kein praktisches Verhältnis zur Welt eingenommen hat und darum auch noch keine Realität als Gegenstand einer möglichen Irrealisierung vor Augen haben kann. Infolge der Praxislosigkeit ist in der kindlichen Welt nichts ›seriös‹ bzw. alles schon – oder besser: noch – irrealisiert. Im Blick auf die Intersubjektivitätsproblematik läßt sich die unterschiedliche Ausgangssituation des
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eine Form der Weigerung, erwachsen zu werden, zu interpretieren. In der Tat klingt dieser Aspekt auch noch bei der unfreiwilligen Negation der Praxisdimension an, welche konstitutiv für jegliche Form der Diskriminierung ist: So beschreibt z. B. Margalit das Opfer gesellschaftlicher Repressionen als eine Person, der der Erwachsenenstatus, also der Status eines anerkannten praxisfähigen Subjekts, versagt wird.38 Nach diesem Exkurs soll der zentrale Gedankengang dieses Kapitels wieder aufgenommen werden. Worin besteht nun genaugenommen jene bereits erwähnte ›Gegen-Arbeit‹? Dies wird in Der Idiot der Familie anhand von konkreten Beispielen erläutert, die in Flauberts Briefen dokumentiert sind. In einem Brief an Maxime du Camp vom 7. April 1846 wird auf folgende Weise über die Taufe der Nichte berichtet: »Gestern ist meine Nichte getauft worden. Das Kind, die Anwesenden, ich, selbst der Pfarrer, der gerade gegessen hatte und ganz rot war, verstanden nicht, der eine nicht mehr als der andre, was sie taten. Bei der Betrachtung all dieser für uns unbedeutenden Symbole hatte ich den Eindruck, irgendeiner Zeremonie einer aus ihrem Staub ausgegrabenen fernen Religion beizuwohnen. Es war ganz einfach und ganz bekannt, und trotzdem konnte ich mich vor Erstaunen nicht fassen, der Priester murmelte im Galopp ein Latein, das er nicht verstand, wir anderen hörten nicht zu, das Kind hielt seinen kleinen nackten Kopf unter das Wasser, das man über es ausgoß, die Kerze brannte, und der Küster antwortete Amen. Am verständigsten waren sicher die Steine, die einst das alles begriffen und die vielleicht etwas davon behalten hatten« (zit. n. IF 4, 189). Flaubert irrealisiert sämtliche Anwesenden, indem er die Behauptung aufstellt, daß niemand bei diesem Ereignis versteht, was er tut. Eine Unterstellung, die Sartre im übrigen wohl zu recht anzweifelt (vgl. IF 4, 190 f.).39 Zwar scheint auf dem ersten Blick die These von der entmenschlichenden Wirkung der ästhetischen Einstellung in diesem Fall zu weit zu gehen, da Flaubert dem Ereignis ja nicht prinzipiell jeden menschlichen Sinn nimmt, er schiebt ihm vielmehr einen zwar abwegigen, aber nichtsdestotrotz durchaus Ästheten noch genauer von der des Kindes abheben: Wenn das Kind das Handeln der anderen Menschen aufgrund seiner kognitiven Entwicklung noch nicht nachvollziehen und verstehen kann, so wäre es doch mehr als eilfertig daraus zu folgern, es leugne die Subjektdimension der Erwachsenen und sehe sie als bloße – möglicherweise ästhetische – Objekte. Selbst wenn ihm infolge seiner Ohnmacht und Passivität sozusagen eine der ästhetischen Einstellung vergleichbare Daseinsweise auferlegt ist, würde doch niemand bestreiten, daß es die Anderen als Subjekte erfaßt, wenn auch als Subjekte mit Zielen, die es nicht begreift. Die kindliche Weltsicht hat daher nicht diesen destruktiven Zug, der der ästhetischen Einstellung zu eigen ist. Sie liegt dem voraus, was in jener ausgeklammert wird. 38 Vgl. Margalit, Politik der Würde, 188. 39 Zumindest auf das Kind trifft Flauberts Ansicht trivialerweise zu.
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menschlichen Sinn – ›Zeremonie einer aus ihrem Staub ausgegrabenen fernen Religion‹ – unter. Aber es bleibt nicht bei einer bloßen Weigerung, an den Zwecken der Mitmenschen zu partizipieren,40 die Strategie geht letztlich so weit, diesen Mitmenschen sowohl das Verständnis als auch die Initiative ihres Handelns abzusprechen. Flaubert beschreibt die beteiligten Personen Sartres zugespitzter Interpretation zufolge als bloße Mittel, die das eigentliche Subjekt dieses Geschehens – die unmenschliche Zeremonie bzw. ›jene ferne Religion‹ – gewählt hat, um sich zu realisieren. Diese Menschen werden beherrscht von einem »vergessenen, aber wieder auferstehenden Ritus« (IF 4, 191); sie sind keine praktisch Handelnden, sondern »Roboter« (IF 4, 191), die passiv, mechanisch und verständnislos ihre Tätigkeiten ausführen. Begleitet wird diese »böswillige Entmenschlichung des Menschlichen« von der »nicht weniger perversen Vermenschlichung des Unmenschlichen« (IF 4, 192): »Am verständigsten waren ganz sicher die Steine, die einst das alles begriffen und vielleicht etwas davon behalten hatten« (s. o.). Nach Sartres Deutung wird den materiellen Dingen jene menschliche Fähigkeit des Verstehens zugesprochen, die den beteiligten Menschen wiederum vollkommen fehlen soll, so wie sich auch beim unmenschlichen Ritus nun die eigentlichen Strukturen der Subjektivität (Spontaneität, Autonomie, zielgerichteter Entwurf, Wahl der Mittel) finden lassen. Die Materie bewahrt die Erinnerung, während die Menschen verständnislos Zeremonien durchführen und damit den Verfall durch die stereotype Wiederholung bezeugen: »So kommt es zu einer radikalen Umkehrung: die Trägheit wird Leben, gerade durch ihre Trägheit (denn sie ist es, die dem Stein ermöglicht, die Form, die ihm gegeben wurde, zu bewahren), und das Leben wird Trägheit gerade durch seine praktische Zeitlichkeit (denn es ist wahr, daß die Praktiken im Laufe der Generationen erstarren)« (IF 4, 193).41 Hier zeigt sich erneut, daß die ästhetische Einstellung eine Irrealisierung auch im Sinne des dritten Imaginationskonzepts (Gegenpol zur Anerkennung) vornimmt, insofern sie die Mitmenschen lediglich in ihrer Dimension als Objektivität und Faktizität erfaßt.42
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Es wäre eine interessante Frage, ob die Weigerung, die Zwecke eines Subjekts zu teilen, schon einer Objektivierung, also einer Reduktion dieses Anderen auf den Objektstatus gleichkommt. Gibt es jenseits der Alternative Valorisierung oder Objektivierung die Möglichkeit, ein Subjekt auch als Subjekt anzuerkennen? Es ist ja nicht abwegig, seinem Gegner Respekt entgegenzubringen. 41 In dem Maß, als Sartre eine diametral entgegengesetzte Deutung dieses Ereignisses zurückweist, billigt er Flauberts Auffassung ein relatives Recht zu: Wer Flaubert mit der Behauptung widersprechen wollte, es handle sich bei diesem gesellschaftlichen Ereignis um völlig »freie praktisch Handelnde« (IF 4, 191, Fußn. 132), weswegen jede Form von Heteronomie oder Entfremdung in Abrede zu stellen sei, »würde eindeutig die Realität ebenso total verfehlen« (IF 4, 192, Fußn. 132). 42 In Sartres Beispiel handelt es sich um eine willkürlich vorgenommene image physique:
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Die Techniken der Derealisierung, mit denen Flaubert der Realität zu Leibe rückt, dienen dazu, sich von sich selbst sowie von Raum und Zeit zu lösen. Sobald er sich etwa durch seine Mitmenschen herabgesetzt fühlt, geht er vom unmittelbaren Bewußtsein zur Reflexion über. Sein Objekt-Ich verbleibt »als passives Opfer in den Händen seiner Peiniger« (IF 3, 944), während er selbst sich zum kontemplativen Subjekt aufschwingt, das gleichgültig den Anfeindungen zusieht, denen der reale Mensch ausgesetzt ist. Diese Strategie, sich mittels der Reflexion »als eiskalter Zeuge über sein Leben« (IF 3, 944) zu erheben, beruht Sartre zufolge auf dem Irrtum, das Subjekt der Reflexion könne sich vom Reflektierten auf eine so radikale Weise lösen, daß es auch nicht mehr an dessen Zielen partizipierte. Demgegenüber ist jedoch festzuhalten: »(D)as Leiden und die Schande« sind »bereits im reflexiven Bewußtsein« (IF 3, 944). Nichtsdestotrotz bleibt nach Sartre das Motiv jeder Reflexion der Versuch, von den eigenen Regungen und Neigungen Abstand zu nehmen. Indem Flaubert sich von seinem empirischen Ich distanziert und sich auf die Position eines übermenschlichen Subjekts zurückzieht, erhebt er sich zugleich über die gesamte menschliche Spezies im allgemeinen und über seine jeweiligen Aggressoren im besonderen. Die faktische Existenz geht ins Unwesentliche über, sobald die Reflexion zum »analogon für ein imaginäres ›Bewußtsein des Überfliegens‹« (IF 3, 944 f.) aufsteigt. Analog verfährt auch die Desituierung des Raumes: Gleichgültig, an welchem Ort er sich befindet, Flaubert sehnt sich immer danach, woanders zu sein – und dies gelingt ihm um den Preis, strenggenommen nirgendwo zu sein. Seine Reiseträume dienen dazu, die räumliche Gegenwart abzuwerten, ihre Dringlichkeit abzuschwächen und als bloße Zufälligkeit zu entlarven. Seine Anwesenheit wird als Abwesenheit erlebt, da er die Entfernungen imaginär überspringt und unentwegt von seinem Aufenthalt in Ägypten, Asien usw. träumt. Aber auch die realen Reisen, die er unternimmt, werden unwesentlich, insofern seine realen Erlebnisse in den fernen Ländern nur noch die vorweggenommenen Träumereien bestätiHier dienen gegenwärtige Wahrnehmungsgegenstände als Materie für nichtgegenwärtige, also imaginäre Gegenstände. Dieses Verfahren erinnert an Leonardo da Vincis Rat an zukünftige Maler, fleckige Mauern zu betrachten, um in ihnen Gesichter, Landschaften und Schlachtszenen zu sehen (vgl. Traktat von der Malerei, 53). Hilfreich zur Analyse solcher Strategien ist im besonderen die Unterscheidung von Sehen-als und Sehen-in, die Wollheim vorgenommen hat (vgl. Objekte der Kunst, 192–210). Flauberts Haltung anläßlich der Taufe ließe sich mit M. Seel ferner als ästhetischer Schein definieren, der sich als bejahter vom faktischen Schein unterscheidet: »Wir nehmen etwas in einer Situation Gegebenes als etwas – in einer bestimmten sinnlich eruierbare Verfassung oder Lage – wahr, von dem wir wissen (oder wissen können), daß es nicht so ist, wie wir es wahrnehmen, und lassen uns auf ein Verweilen bei dem unter anderem so erscheinenden Gegenstand ein. Ästhetischer Schein, mit anderen Worten, besteht in Erscheinungen, die in einem durchschauten Widerspruch zum tatsächlichen Sosein von Gegenständen wahrgenommen und willkommen geheißen werden können« (ebd., 106; vgl. auch ebd., 128).
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gen oder zum Anlaß genommen werden, sich in Erinnerungen an Kindertage zu flüchten: »Flauberts Orientreise zeigt, daß sein Verlangen, woanders zu sein, die radikale Anfechtung jeder Ortsveränderung ist und nur von der striktesten Unbeweglichkeit begleitet werden kann« (IF 3, 946). Diese Technik der Desituierung wird ebenfalls an der Zeit erprobt, wobei vor allem die Privilegierung der Vergangenheit gegen die Gegenwart ins Feld geführt wird. Durch das ›Überfliegen‹ negiert er die Verbindung zu seinen Zeitgenossen. Flaubert schreibt: »Ich habe nicht mehr Mitleid mit dem Los der heutigen Arbeiterklassen als mit den antiken Sklaven, die den Mühlstein drehten, nicht mehr oder ebensoviel« (Brief vom 26. 8. 1846, zit. n. IF 3, 947). Die Negation ist hier entscheidend, denn der Zusatz ›oder ebensoviel‹ soll nur dem erwartbaren Vorwurf der Gefühllosigkeit begegnen. Das Leiden der antiken Sklaven ist, wie Sartre hervorhebt, uns ebenso wie den Menschen des 19. Jahrhunderts völlig fremd. Mitleid und Empörung sind in diesem Zusammenhang lediglich »imaginäre Gefühle« (IF 3, 947). Wenn die Proletarier von Rouen, also reale, noch lebende Menschen, deren Elend sich zu Lebzeiten Flauberts abspielt, mit den längst verblichenen Sklaven der Antike gleichgestellt werden, so wird die Gegenwart durch die Vergangenheit irrealisiert. Flaubert »steckt […] systematisch die Lebenden durch die Toten an und bringt mit einem Schlag die ganze Menschheit ins Grab« (IF 3, 947). Der Gesichtspunkt des Todes kann aber auch dann ins Spiel kommen, wenn die Gegenwart nicht aus der Sicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft betrachtet wird: Jules aus der ersten Education sentimentale bemüht sich, »im Lachen des Säuglings das Agonieröcheln des Greises zu hören, das jener werden wird« (IF 4, 192).43 Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß die Desituierung von Ich, Raum und Zeit dazu dienen soll, den Gesichtspunkt des Absoluten einzunehmen, der Sartre zufolge der ästhetischen Haltung entspricht. Hingegen bedeutet die realisierende Wahrnehmung sich selbst zu situieren. Mit anderen Worten, »ein Teil des Gegenstands [offenbart] sich so […], wie er ist, indem er uns offenbart, was wir sind (das heißt unsre Beziehung zu ihm und unsre Verankerung)« (IF 5, 13). Die Desituierung Flauberts versucht hingegen die Wechselseitigkeit der realisierenden Wahrnehmung aufzuheben. »Das Grundziel dieser Technik der Desituierung besteht darin, sich als reines Subjekt von der Spezies loszureißen und dieser gleichzeitig seine menschliche Hülle zurückzulassen. Die Ablehnung jeder raumzeitlichen
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Vgl. IF 3, 679: »(W)er den Lebenden vom Gesichtspunkt des Todes zeigt, sein Handeln, sein Fühlen, seine ›Wohltaten‹, seine gesamte gegenwärtige Tätigkeit erzählt, wie es eines Tages die Redner vor seinem Grab tun werden, der zeigt, daß das Leben bereits tot ist, wenn es sich verausgabt, wenn es sich in der Überzeugung, ewig zu währen, in Unternehmungen stürzt, die ohne Resultat sein werden, und sich Ziele setzt, die es nicht erreichen wird«.
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Lokalisierung findet ihre Einheit in der totalen Ablehnung des Menschen« (IF 3, 948).44 Indem sich Flaubert desituiert, und das heißt, sich jeglicher Perspektive, sei es die seiner Subjektivität, der zeitlichen oder räumlichen Situiertheit verweigert, konstituiert er sich als ein »Bewußtsein des Überfliegens« (IF 3, 956). Er totalisiert von einem absoluten Gesichtspunkt aus die ganze Welt, ohne sich selbst in diese Totalisierung einzubeziehen, und entwirft sich damit als »allwissendes Subjekt« (IF 3, 956). Ein solcher Übergang von der Perspektive zum Absoluten kann für Sartre jedoch »nur eine imaginäre Haltung sein« (IF 3, 956): »Wer ›den Gesichtspunkt des Absoluten‹ einnimmt, der beschließt, imaginär zu sein« (IF 3, 951).45 Nicht zuletzt erweist sich dieser Gesichtspunkt gerade deswegen als irreal, weil er unrealisierbar, also unmöglich ist, insofern jeder Ausbruch aus der Faktizität noch von dieser Faktizität bedingt wird (vgl. IF 3, 956). Gleichgültig, ob ich die Totalität des Seins bejahe oder ablehne, ich gehe zum Imaginären bzw. zur »reine(n) Poesie« (SG 541) über, da man nicht realiter »das Sein im ganzen […] wollen«, sondern »nur im einzelnen akzeptieren« (SG 863) kann. Wenn man will, was man nicht wollen kann, so muß man träumen, daß man es will (vgl. SG 546). Die Zerstörung des Universellen bleibt so unwirksam und rein symbolisch wie dessen beinahe ebenso trotzige Bejahung, welche sich z. B. bei Nietzsche findet, der noch in »alle Abgründe« sein »segnendes Jasagen« tragen will.46 44
Der absolute Gesichtspunkt kann sich mit eher wohlwollendem Anstrich im Gewand eines Weltbürgertums oder einer Solidarität mit allem menschlichen und sogar tierischen Leben auf der Welt präsentieren. Flaubert selbst notiert in einem Brief vom 26. 8. 1846: »Ich bin nicht mehr modern als antik, nicht mehr Franzose als Chinese, und die Idee des Vaterlands, das heißt, die Verpflichtung, auf einem Stück Erde zu leben, das rot oder blau auf der Landkarte gekennzeichnet ist, und die anderen Stücke Erde in Grün oder Schwarz zu verachten, ist mir immer eng, borniert, von grausamer Stupidität erschienen. Ich bin der Bruder in Gott von allem, was lebt, von der Giraffe und vom Krokodil wie vom Menschen, und der Mitbürger von allem, was das große Hotel garni des Universums bewohnt« (zit. n. IF 3, 948). Gleichzeitig manifestiert der absolute Gesichtspunkt aber auch misanthropische Züge, etwa wenn in einem Brief vom 22. 4. 1853 erklärt wird: »Das einzige Mittel, in Frieden zu leben, ist, sich mit einem Sprung über die Menschheit zu stellen und nur eine Augenbeziehung mit ihr gemeinsam zu haben« (zit. n. IF 3, 949). 45 Vgl. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken II, 31: »Nur phantastischerweise kann ein Existierender beständig unter der Form der Ewigkeit (sub specie aeterni) sein«. Siehe zur Verwandtschaft zwischen Metaphysik bzw. spekulativem Denken und ästhetischer Einstellung ferner ebd., Kap. 3, § 2 sowie Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 71: »Metaphysik und Kunst werden, vermöge der ästhetischen Einstellung, die in beiden vorhanden ist, Verführungen zur Abwendung von der Existenz«. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß sich im Hinblick auf Flauberts ästhetische Einstellung nicht nur Parallelen zur Kritik der Existenzphilosophie an Hegel, sondern auch Parallelen zur Kritik von Hegel an der romantischen Ironie Schlegels finden lassen (vgl. Vorlesungen zur Ästhetik I, 93–99). 46 Nietzsche, Ecce homo, 345 (siehe hierzu SG 539–547).
Vom Ästheten zum Künstler
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10. 3. Vom Ästheten zum Künstler Was passiert jedoch, wenn der Ästhet nicht nur ein solches ästhetisches Verhältnis zur Wirklichkeit einnehmen, sondern ein künstlerisches Werk hervorbringen will? Der eigentliche Künstler muß, so erklärt Sartre, »auf seine Weise ein Mensch des Handelns« (IF 3, 1091) werden. Indem der Ästhet zum Künstler wird, indem er also von einer symbolischen »Vernichtung des Realen« (IF 4, 301) dazu übergeht, ein Buch zu schreiben, d. h. für Sartre eine »Substantiierung des Scheins« (IF 4, 301) vorzunehmen, muß er seine Passivität zumindest partiell aufgeben: »(U)m von der erlebten Poesie zum verfaßten Werk zu gelangen, muß man sich vom Sinnieren losreißen, einen Stil finden, entscheiden, handeln« (IF 3, 1091). Die ästhetische Haltung ist folglich nach Sartre einerseits eine weitgehende »Verneinung allen realen Handelns« (IF 4, 331), aber als Schreibunternehmen andererseits selbst eine Spielart des Handelns (vgl. IF 4, 346; SG 556 f.).47 Nach wie vor steht für Sartre jedoch fest, daß auch nur ein imaginärer Mensch imstande ist, Kunstwerke hervorzubringen. Mit anderen Worten, zur schöpferischen Praxis ist paradoxerweise nur ein passiv konstituierter Mensch berufen. Wie läßt sich jedoch das Irreale manifestieren; anders gefragt: Wie läßt es sich als Irreales fixieren, ohne zum Verschwinden gebracht zu werden? Die bloße Träumerei, der reine »Kult des Scheins«, bleibt ohne jeden Realisierungsbeginn, und damit verurteilt sie sich selbst zu Ohnmacht und Einsamkeit (vgl. SG 575). Umgekehrt geht es aber auch nicht darum, den gewöhnlichen Gebrauch von der Imagination zu machen, also einen Traum so zu realisieren, wie sich jemand nach langen entsagungsvollen Jahren von seinem mühsam ersparten Vermögen das ersehnte Haus kauft: In diesem Fall realisiert sich der Traum nur, indem er sich als Traum aufhebt. Die Lösung zwischen Ineffizienz auf der einen und Aufheben der Irrealität auf der anderen Seite besteht in folgendem Unternehmen: »(D)as Imaginäre in die Realität einschreiben unter Wahrung seines imaginären Charakters« (SG 650). ›Einschreiben des Imaginären in die Realität‹ bedeutet, daß das Imaginäre zwar nicht seinen imaginären Charakter verliert, aber dennoch die »Unabhängigkeit«, die »Permanenz« und die »Objektivität« erhält, die das Reale qualifizieren (vgl. SG 650). »Es geht tatsächlich nicht mehr darum, um jeden Preis was auch immer wie auch immer zu irrealisieren: 47
Das Schreiben ist eine Praxis, zumindest eine »Mini-Praxis« (IF 2, 381) – und als solche soll sie nach Sartre auch durchaus ein »Wahrheitsmoment« (IF 3, 988) enthalten. Dieser Sachverhalt ist zunächst niederschmetternd für Flaubert, dessen passive Konstitution jegliche Aktivität erschwert: »Die höchsten Werte der Praxis sind ja Entscheidung und Verantwortung, die sich auf andere Normen gründen: klare Erkenntnis der Ziele, methodische Sichtung der Mittel, Verdrängung des müßigen Verlangens nach dem Unmöglichen, feste Entschlossenheit, die Optionen nach den gegebenen Möglichkeiten auszurichten usw.« (IF 3, 1092; siehe hierzu auch IF 4, 239 f.).
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es bedarf eines Irrealen, das dauert, das heißt, das sich beim anderen festsetzt und sich nicht vertreiben läßt« (SG 849). Die rein selbstbezogene ästhetische Einstellung wird in dem Moment überschritten, da der Ästhet »die anderen mit seinem Traum anstecken, sie hineinfallen lassen« (SG 575) will: Das geschriebene Buch ist ein permanentes »Irrealisierungszentrum« mit dem Ziel, »den Leser zu irrealisieren« (IF 4, 386; vgl. IF 2, 335). Sartre scheint also zwischen zwei verschiedenen Ansichten zu schwanken: Der Andere als Leser ist in einer Hinsicht nur das Mittel, das den eigenen Imaginationen Objektivität verleihen soll, andererseits scheint er aber auch ein Zweck des künstlerischen Unternehmens zu sein, denn der Künstler schreibt, um ihn zu irrealisieren und zu demoralisieren (s. u.). Nicht nur für den Ästheten, sondern auch für den Künstler soll ja die Imagination eine ›Angriffswaffe‹ sein (s. o.). Wenn sich der Ästhet zum Künstler wandelt, also schöpferisch wird, so konstituieren sich die anfangs rein privaten nun als kollektive Imaginationen, über die man spricht, die man beurteilt und über die man sich sogar täuschen kann. Die »Unendlichkeit der möglichen Leser« verleiht den literarischen Figuren »eine unendliche Dichte« (SG 850). Objektivität besitzt eine solche Figur, weil »sie unendlich jedes Bewußtsein übersteigt, obwohl sie nur durch es existieren kann« (IF 3, 791). Daher kann hinsichtlich der künstlerischen Werke von einem Sein des Nicht-seins gesprochen werden.48 Stillschweigend vollzieht sich in diesem Zusammenhang der Wechsel vom zweiten zum ersten Imaginationsverständnis: Eine Irrealisierung betreibt der Ästhet, sofern er sich Praxis und Kommunikation verweigert, während die Irrealisierung des Künstlers in der Produktion von Gegenständen besteht, die nicht existieren bzw. fiktional sind.49 Sartre erläutert den Übergang vom Nicht-sein 48
Genaugenommen handelt es sich also um Objektivität und nicht um Transphänomenalität, da dieser Gegenstand zwar das Bewußtsein übersteigt, aber nur durch das Bewußtsein existiert (siehe Kapitel 6). 49 An vielen Stellen in Saint Genet, in denen das Verhältnis des Ästheten zum Künstler behandelt wird, arbeitet Sartre offenbar ausschließlich mit dem ersten Imaginationsbegriff (Gegenpol zur Wahrnehmung), weswegen der Wechsel vom Ästheten zum Künstler keinen solchen Paradigmawechsel darstellt, sondern als ein Übergang von den rein mentalen oder äußeren Vorstellungen (das Hineinphantasieren imaginärer Gestalten in reale Wahrnehmungsdinge) zur Tätigkeit des Künstlers gefaßt wird, die einen realen Gegenstand so bearbeitet, daß er die Funktion eines Analogon für imaginäre Objekte übernehmen kann. Wird dieser Umschwung mittels des ersten Imaginationsbegriffs auf diese Weise gefaßt, so ist verständlich, inwiefern erst mit der Stufe des Künstlers die Irrealisierungen sozial relevant werden. Nach dem zweiten Paradigma (Gegenpol zur Praxis), das vereinzelt schon in Saint Genet, vor allem aber in Der Idiot der Familie ins Spiel kommt, ist der Ästhet weniger ein notorischer Träumer und Phantast, sondern jemand, der die Realität durch Verweigerung von Praxis und Kommunikation verfremdet bzw. irrealisiert. Hier liegt der Gedanke nahe, daß auch schon die Haltung des Ästheten Spuren in der Sozialwelt hinterläßt – vor allem dort, wo die kultivierte Verstehensverweigerung für den Mitmenschen als Irrealisierung im Sinne von Nicht-Valorisierung, Kommunikationsverweigerung und Mißachtung spürbar wird.
Dichter und Künstler
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des Seins (Irrealisierung des Seins in der ästhetischen Einstellung) zum Sein des Nicht-seins (Kunstproduktion) am Beispiel einer Romangestalt Genets: »Damit diese schöne Abwesenheit auftauchte, bedurfte es der Zelle, der Mauern, der Decken, des Gefangenen selbst, und alles mußte ins Nichts kippen […]; das ganze Sein ist zunächst in das Nicht-sein übergegangen (radikale Irrealisierung der Welt), dann fließt das ganze Nicht-sein in das Sein zurück (Objektivierung des Werks als kollektives Imaginäres)« (SG 850). Der »Träger des Werkes« (IF 2, 335), der sozusagen den seriösen Kern der Irrealisierung darstellt, ist die Gesamtheit der bearbeiteten Materien (IF 2, 230), also jene realen Gegenstände, die als »Irrealisierungsmittel« (IF 2, 231) verwendet werden (Farben, Marmorblock, Sprache). Am Beispiel der Sprache hat Sartre dies auf folgende Weise demonstriert: »Gegenüber den inneren Bildern haben die von einer Feder geschriebenen Wörter die beschwörende Überlegenheit, daß sie trotz allem eine Objektivierung sind; das wissen die Leute, die Wände vollkritzeln, mehr als irgend jemand: das Schreiben hält den Traum fest, vermittelt ihm eine schwindelerregende Trägheit, es entreißt ihn dem Geist und präsentiert ihn diesem als eine fremde Realität, und die faszinierende Illusion führt zu einem Quasi-Glauben« (IF 4, 239).
10. 4. Dichter und Künstler Während Flaubert unter dem Einfluß der Romantik die Literatur zunächst »für das Produkt der Inspiration« (IF 3, 854) hält, taucht auf einer späteren Stufe anstelle von Inspiration und Verzückung eine Art reflexive Kunst auf (vgl. IF 3, 855), welche vorwiegend auf Disziplin und mühevoller Arbeit beruht (vgl. IF 3, 871).50 Und diese nachromantische Kunstauffassung ist, wie Sartre betont, zuerst von Flaubert vertreten worden (vgl. IF 4, 204, 337 f.).51 Für den Dichter ist die Literatur eine Gnade, für den Künstler ist sie Mühsal.52 In diesem Zusammenhang unterscheidet Sartre also zwei For-
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Vgl. Flauberts Brief vom 13. 12. 1846 an Louise Colet: »Man muß allem mißtrauen, was der Inspiration ähnelt, die oft nur Voreingenommenheit und eine künstlerische Exaltiertheit ist, die man sich willentlich verschafft hat und die nicht von selbst gekommen ist. Übrigens lebt man nicht in der Inspiration. Pegasus geht viel öfter im Schritt, als daß er galoppiert. Das ganze Talent liegt darin, ihm die Gangart aufzuwingen, die man haben will, aber forcieren wir dafür nicht seine Mittel, wie man in der Reitkunst sagt. […] Merke, daß es einem gelingt, schöne Dinge zu machen auf Grund von Geduld und langer Energie« (zit. n. IF 4, 329). 51 Nach Wannicke ist »die Flaubertsche Poetik der stete Hintergrund und Fluchtpunkt« der Flaubert-Studie: »Die Auseinandersetzung mit der ästhetischen Konzeption macht das eigentliche Herzstück dieses Essays aus, ist sein Anfangs- und Endpunkt« (ebd., 184). 52 Sartre erwähnt beiläufig Alphonse de Lamartine als Kronzeugen für die Vermischung
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men künstlerischen Schaffens, die mit den Begriffen des Dichters und des Künstlers gegeneinander profiliert werden.53 Für den Dichter ist der Zweck des Schreibens die »irreale Befriedigung« (IF 2, 334) seiner realen Bedürfnisse – z. B. »eine irreale, aber materialisierte totalitäre Befriedigung seiner Racheträume« (IF 2, 336). Die Imagination wird hier zu »masturbatorischen Zwecken« (IF 4, 179) verwendet, d. h. sie steht letztlich im Dienst des Lebens und seiner realen Interessen.54 Man schreibt, um zu leben, die schriftstellerische Tätigkeit ist eine Form der Lebensbewältigung. Für den Dichter ist »das geschriebene Gedicht eine vage Widerspiegelung seiner Exaltationen« und daher nur von »sekundärer Wichtigkeit« (IF 3, 869).55 Das Ziel ist der Kult der eigenen Innerlichkeit, das Mittel hierfür muß anscheinend nicht zwangsläufig die Literatur sein. Alles in allem bleibt in der Dichtung das Irreale offensichtlich dem Realen untergeordnet. Der Übergang vom Dichter zum Künstler, der zunächst nur »der verneinte, verleugnete Dichter« ist, hat für Sartre die Bedeutung einer »kopernikanische(n) Wende« (IF 3, 869). Die Kunst geht vom Unreflektierten zur Reflexion, von der Spontaneität zur kritischen Haltung über. Während der Dichter den »Vorrang des Subjektiven« (IF 3, 869) betont, ist die Kunst auf der Stufe des Künstlers nicht länger ein Mittel der Lebensbewältigung, sondern ein Selbstzweck, weswegen dann auch die menschliche Bedürfnisstruktur nur noch als »ein Mittel zum Schreiben« (IF 2, 335) fungiert. Das Kunstwerk ist keineswegs dazu da, eine kostbare Innerlichkeit zu artikulieren, sondern diese Innerlichkeit wird umgekehrt von jetzt an in den Dienst des zu schaffenden Werkes gestellt, das jene weniger übersetzt als vielmehr ausbeutet. So wie die Subjektivität nun nicht mehr das Ziel, sondern ein »reines Verarbeitungsmittel« (IF 3, 869) ist, versteht sich auch das Buch, das der Künstler hervorbringt, nicht länger
von Literatur und Religion, die typisch für die romantische Dichtung sein soll (vgl. IF 3, 869). Demgegenüber versteht sich die nachromantische Kunstauffassung, die von Victor Cousin und Theophile Gautier vorbereitet und von Flaubert erstmals konsequent umgesetzt wird (vgl. IF 3, 868 f.), als eine radikale Befreiung der Kunst von allen nichtästhetischen Einflüssen – sei es seitens der Religion, der Moral, der Erkenntnisgewinnung usw. 53 In den Souvenirs stellt Flaubert selbst Dichter und Künstler in diesem Sinn einander gegenüber: »Zwischen Künstler und Dichter ein unermeßlicher Unterschied; der eine fühlt, und der andere spricht, der eine ist das Herz und der andere der Kopf« (zit. n. IF 3, 868). 54 Dem widerspricht nicht, daß diese irreale Befriedigung realer Begierden natürlich »trügerisch« (IF 4, 178 f.) ist. 55 Vgl. IF 3, 865: »Warum soll die Dichtung denn auch das Stadium der subjektiven Bestimmung überschreiten, wenn diese Bestimmung das Wesentliche ist«. Darum kann nach Sartre die eigentliche literarische Tätigkeit auf der Stufe des Dichters sogar zugunsten einer rein »geistige(n) Haltung« entfallen, die einer »mystischen Erhebung« (IF 3, 865) nahekommt.
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als »Widerspiegelung seiner Person«:56 Es »nährt sich von der Besonderheit des Autors, aber es gibt sie nicht wieder, es verwandelt sie in sich selbst« (IF 3, 984).57 Da nicht der reale Mensch mit seinen realen Interessen, sondern das Kunstwerk selbst der Zweck der künstlerischen Tätigkeit geworden ist, spricht Sartre von einer »Entfremdung des Menschen in einen unmenschlichen Zweck« (IF 3, 872). Bei der nachromantischen Kunstauffassung, die in Opposition zu Horaz’ Ansicht weder nützen noch erfreuen will,58 kehrt sich also das Verhältnis zwischen dem menschlichen Leben und der Kunst um: »(D)ie Menschen haben ihr zu dienen« (IF 3, 871).59 In dieser Konstellation, die den Menschen aus dem Zentrum der Kunst verstößt, spiegelt das Werk jene von Sartre beschriebene Unterordnung des Realen unter das Imaginäre (vgl. IF 3, 978) wider, die das Merkmal der Wahl des Imaginären ist. Sartre spricht in Anlehnung an Mallarmé von einem ›Buch-werden der Welt‹, womit gemeint ist, daß die Welt für den Künstler nur existiert, damit aus ihr ein Buch geformt werden kann. Dies hat Mallarmé, der nach Sartre ebenfalls die nachromantische Kunstauffassung teilt, die ›orphische Erklärung der Erde‹ genannt (vgl. IF 2, 330; IF 5, 190, 668). Gilt diese Besonderheit nicht für die Kunst im allgemeinen, sondern nur für die von Flaubert inaugurierte Kunst und unterscheidet sich diese hierdurch von allen anderen, so läßt sich folgern, daß bis zum Aufkommen der Nachromantik mit ihrem radikalen Ästhetizismus alle bisherige Kunst – wie jede andere Praxis auch – das Imaginäre letztlich als Mittel des Realen eingesetzt hat. Dies entspricht dem kunsthistorischen Befund: Wenn die Kunst auch einen imaginären Status einnimmt, so steht sie doch traditionell im Dienst realer und außerästhetischer Angelegenheiten, sie ist eingebettet in kultisch-religiöse Zusammenhänge, versteht sich als Gottes- und Schöpfungslob, dient der kulturellen Selbstvergewisserung, der Geschichtsschreibung oder verfolgt ebenso dynastische und politische wie auch pädagogisch-moralische und schließlich aufklärerische Ziele.
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Vgl. hierzu die Darlegungen Friedrichs zur Unpersönlichkeit der Dichtung Baudelaires (ebd., 36 f.). 57 Ganz ähnlich hat Mukarovsky – allerdings ohne historisierende Beschränkung – festgestellt: »In der Dichtersprache […] tritt das Anstellen von Vermutungen über das Verhältnis des Zeichens zum Seelenleben des sprechenden Subjekts in den Hintergrund, oder es kommt überhaupt nicht zur Geltung […]. Die poetische Benennung, die im Vergleich zur intellektuellen subjektiv ist, wird im Vergleich zur emotionalen objektiv; sie deckt sich also mit keiner von beiden« (»Die poetische Benennung und die ästhetische Funktion der Sprache«, 51). Diese Beschreibung trifft in Sartres Terminologie auf das künstlerische Werk zu, während das dichterische Werk letzten Endes, um Mukarovskys Begriff zu verwenden, eine emotionale Benennung bleibt. 58 Siehe Horaz, Ars poetica, V. 333. 59 Bei all diesen Überlegungen ist unklar, ob das Kunstwerk nützlicher als alle anderen Dinge ist oder vollkommen der Nützlichkeitskategorie entgeht.
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Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wäre dann wohl für niemanden, der die Wahl der Privilegierung des Irrealen gegenüber dem Realen getroffen hätte, ausgerechnet die Kunst von Interesse gewesen.60 Zumindest folgt dies aus dem bisherigen Stand von Sartres Überlegungen. Die Frage bietet sich an, ob es sich Sartres Ansicht nach hier nur um ein weiteres ebenso historisch und sozial wie auch individuell bedingtes Kunstverständnis mit relativem Recht handelt oder ob all jene Bedingungen in diesem Fall erstmals durch die Befreiung von allen außerästhetischen Funktionen zur wahren und unverstellten Entfaltung des Wesens der (literarischen) Kunst führen. Mit diesem neuen Kunstverständnis taucht natürlich korrelativ auch ein veränderter Künstlertypus auf: Jener Künstler ist ein ›bewußter Toter‹, d. h. er hat die »Pflicht, das Leben der anderen und sein eignes Leben vom Gesichtspunkt des Todes her zu betrachten« (IF 3, 950; vgl. IF 4, 353). Gegen die romantische Raserei des Dichters verspürt er die »Aufforderung«, die von der Kunst selbst herrührt, »lebendig die ewige Wunschlosigkeit der Toten zu erreichen« (IF 2, 336).61 Daher ist es nur konsequent, wenn Sartre erklärt: »(D)er Gesichtspunkt des Todes gegenüber dem Leben ist der Ästhetizismus« – und dies ist für die nachromantische Künstlergeneration »die Kunst« überhaupt (IF 2, 402). Dieser Ästhetizismus – gemeint ist offenbar die bereits behandelte ästhetische Einstellung sowie die Kunst (im Unterschied zur Dichtung), die aus ihr entspringt – kündigt die Wechselseitigkeit auf und betrachtet die Menschen und ihre Handlungen nur noch als Schauspiel (vgl. IF 2, 385, 402). Weit davon entfernt, mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren und sie als Subjekte zu behandeln, nimmt er das rein beobachtende Außenverhältnis eines Zeugen ein, der sich kraft eines ›Überfliegens‹ von den menschlichen Zwecken distanziert, jede Form der Empathie zurückweist und daher nur die Objektivitätsebene eines anderen Menschen erfaßt (vgl. IF 3, 578 f., 657 f., 660, 664, 1002). Während der Dichter vor der Realität in seine innere Traumwelt flieht, wendet sich im Gegenteil der Künstler dem Realen zu, um »es geduldig zu unterhöhlen« (IF 4, 217). Erst wenn der Künstler dank dieser »ethisch-ästhetische(n) Methode« (IF 3, 953) über der menschli60
Damit kann auch die zuvor behandelte ästhetische Einstellung nicht die Vorstufe der Dichtung sein, sondern sie gehört ihren konstitutiven Eigenschaften zufolge allein der nachromantischen Kunst zu, die erstmals das Irreale dem Realen vorzieht, während jede vorherige Kunst eben letztlich doch eine Funktion für die Realität übernommen hat (vgl. IF 3, 872). Daß sie nicht notwendig dazu übergehen muß, künstlerische Werke hervorzubringen, verbindet die ästhetische allerdings wiederum mit der dichterischen Haltung. 61 Vgl. Flauberts Brief vom 15. 12. 1850: »Du wirst den Wein, die Liebe, die Frauen, den Ruhm beschreiben, vorausgesetzt, mein Lieber, daß du weder betrunken noch verliebt, noch Gatte, noch Muschkote bist. Mitten im Leben sieht man es schlecht; man leidet darunter oder genießt es zu sehr. Der Künstler ist für mich eine Monstrosität – etwas außerhalb der Natur« (zit. n. IF 2, 473).
Dichter und Künstler
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chen Spezies steht (vgl. IF 4, 337) und außerstande ist, »die Zwecke der Spezies zu teilen« (IF 4, 157), ist die Imagination »ihrem freien unmenschlichen Spiel einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck zurückgegeben« (IF 4, 179)62 – und erst dann »beginnt die Kunst« (IF 4, 157). Kants ›interesseloses Wohlgefallen‹ wird hier zur Bestimmung eines ›Schwarzen Schriftstellers‹ (vgl. IF 4, 337), dessen Vorgehensweise folgendermaßen beschrieben wird: »(S)ystematisch alle empfangenen Eindrücke entwerten und unter Einklammerung des Erlebten sich zutiefst als reine Gelassenheit verwirklichen, das heißt als absolute Gleichwertigkeit von Sein und Nicht-sein; am Ende der Askese wird er so völlig seiner selbst entleert sein, daß seine eigne Existenz sich nur im Imaginären und durch die der Imagination eigne Loslösung wird erreichen können; dann wird er der Herr der Bilder werden« (IF 4, 326).63 Flauberts Zusammenbruch in Pont-l-Evêque ermöglicht Sartre, den Übergang vom Dichter zum Künstler sogar recht präzise zu datieren: »1844 tötet sich das Kind, damit der Greis geboren werde; es hört auf zu leiden und verwandelt sein Leben in Erinnerung, um es zum Reservoir der Imagination zu machen« (IF 4, 186). Als Flaubert sich 1844 durch die vermeintlich epileptische Erkrankung, die sich im übrigen, wie in Der Idiot der Familie erläutert, einer strategischen Neurose verdanken soll, für den Rest seines Lebens berufsunfähig macht, wird hierdurch Sartre zufolge das Ende der Romantik und der Beginn der nachromantischen Kunst eingeläutet (vgl. IF 4, 170):64
62
Es wird allerdings nicht ganz klar, ob die Kunst antihumanistisch ist, weil sie keinen Zweck hat oder weil sie den Zweck einer allgemeinen Demoralisierung verfolgt (vgl. IF 3, 702), der die menschliche Spezies auf literarischem Wege mit ihrer eigenen Niedrigkeit konfrontieren soll (vgl. IF 3, 708). Vgl. den Brief an Ernest Chevalier vom 4. 2. 1831: »Wofür bist du geboren, wenn nicht, um das Menschengeschlecht herabzusetzen?« (zit. n. IF 2, 162). Fest steht für Sartre, daß Flaubert aus Ressentiment schreibt. Er will also mit seiner Literatur nicht die Welt verbessern, sondern der menschlichen Spezies schaden. Während er auf der Stufe des Dichters vor allem seinen Pessimismus auszudrücken beabsichtigt, versucht er auf der Stufe des Künstlers den Leser damit zu infizieren (vgl. IF 3, 965). Vgl. einen Brief an Ernest Chevalier vom 13. 9. 1838: »Wirklich, ich schätze zutiefst nur zwei Männer: Rabelais und Byron, die beiden einzigen, die geschrieben haben in der Absicht, dem Menschengeschlecht zu schaden und ihm ins Gesicht zu lachen« (zit. n. IF 3, 871). 63 Vgl. hierzu auch die folgende Passage aus der ersten Education sentimentale: »Für Augenblicke noch hatte er Versuchungen, zu leben und zu handeln, aber die Ironie schob sich so schnell unter das Handeln, daß er es nicht vollenden konnte […]. Er ging so schnell allen Dingen auf den Grund, daß er deren Nichts auf den ersten Schlag sah« (zit. n. IF 4, 176). 64 In dieser Beschreibung wird Müller-Lissners Vermutung plausibel, daß der Neurosebegriff eine Weiterentwicklung des Konzepts der mauvaise-foi aus Das Sein und das Nichts darstellt (ebd., 93).
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»Gustave war schon mehr als zur Hälfte imaginär: nach der Krise ist er es ganz geworden, und zwar in dem Maße, wie das autosuggestive Glauben in ihm eine erlebte, aber irreale Ataraxie hervorruft« (IF 4, 175).65
10. 5. Ästhetische Sprachverwendung – das Wort als »Sprungbrett des Traums« (IF 4, 246) Für den in seiner Subjektivität schwelgenden Dichter bleibt die Sprache, wie Sartre meint, eher unwesentlich, wohingegen der Künstler, der eine Art »Kunstarbeiter« (IF 4, 243) ist, in ihr das wesentliche Moment seiner Tätigkeit sieht (vgl. IF 3, 1002). Die Irrealisierung der Sprache zum Zweck der Kunstproduktion erfolgt, was nach allen bisherigen Überlegungen nicht besonders überrascht, durch Zurückweisung der Praxis.66 »In Wahrheit offenbart sich hier die Sprache ohne die Menschen; um sie zu entdecken, braucht man nur die Aktivitäten der Spezies zurückzuweisen und sich ihr gegenüber im Zustand reiner Passivität zu halten. Wenn also nichts verstanden wird, wird alles nur suggeriert: die Wörter offenbaren ihre Schönheit, die Töne, die graphische Gestalt lassen an andere Erfahrungen, andere Empfindungen, Farben, Geschmäcker, manche undeutliche Erinnerung denken: kein Detail isoliert sich; alles ist gemeinsam gegeben in der unbestimmten Einheit einer Vielfalt gegensätzlicher Durchdringung: sie gibt der Vokabel ihre tiefe Materialität und ihre Dichte« (IF 4, 224). Sartre knüpft bei seiner Analyse der Wortkunst Flauberts hinsichtlich Terminologie und Beschreibungsweise erkennbar an die eigene Literaturtheorie aus den vierziger Jahren an. Die Einklammerung der Prosa bzw. des Bedeutungsaspekts oder der Utensilität der Sprache wird nun allerdings nicht mehr nur als Spezifikum der Poesie, sondern jeder literarischen Kunst geltend gemacht. Auch die Prosa ist demnach nur literarische Kunst, insofern sie eine poetische, also anti-utilitäre Grundlage besitzt. Damit kommt der Poesie nicht mehr lediglich ein Eigenrecht, sondern vielmehr auch ein Vorrecht gegenüber der literarischen Prosa zu. Wenn Sartre ferner mit unverkennbar universellem Anspruch erklärt, daß »jeder Schriftsteller« im Grunde »die Wörter für 65
Es gelingt Flaubert natürlich nicht, sich völlig von allen Leidenschaften zu befreien (vgl. IF 4, 175, 305 f.). 66 Der Prager Strukturalist Mukarovsky bezeichnet die drei von Bühler genannten Grundfunktionen der Sprache – also Darstellung, Ausdruck und Appell (vgl. Bühler, Sprachtheorie, § 2) – zusammenfassend als praktische Funktionen, da sie alle »zu außersprachlichen Instanzen und zu Zielen tendieren, die das Sprachzeichen überschreiten«. Diesen drei praktischen Funktionen stellt er die ästhetische Funktion gegenüber, welche »die Komposition des Sprachzeichens« in den Mittelpunkt stellt und die Beziehung zur Realität in den Hintergrund treten läßt (ebd., 47 f.).
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Dinge« nimmt (vgl. IF 2, 328)67 und die »wahren Schriftsteller« eine solche »quasi-sinnliche Beziehung zur Sprache« (IF 2, 367) auszeichnet, wird noch einmal ersichtlich, daß es hier nicht allein um Flaubert, sondern um allgemeingültige Aussagen zur Literatur geht.68 Während im praktischen Gebrauch die Wörter Instrumente sind, deren Wert von ihrer Eindeutigkeit abhängt, verlieren sie in der ästhetischen Haltung zwar nicht völlig ihre Signifikation, aber sie werden durch Irrealisierung zu »Bilder-Wörter(n)« (IF 2, 335), die die Rolle eines Analogons für imaginäre Gegenstände spielen (vgl. IF 2, 287). Die ästhetische Sprachverwendung überschreitet im Unterschied zur pragmatischen nicht den Signifikanten in Richtung auf »das Signifikat oder den Sachbezug« (IF 4, 222), sondern der Schriftsteller ist für Sartre jemand, der den »stummen Teil der Sprache« (IF 3, 1013), also ihre »außer-signifikanten Elemente« – Rhythmus, Tempo, Wiederholungen, Klang, Musikalität (vgl. IF 4, 229) –, »die keine definitorische Bedeutung übermitteln« (IF 4, 233), sprechen läßt.69 Über die eingrenzbare Bedeutung hinaus ermöglichen Wörter so die »Evokation von Bildern« (WkL 78). Der eigentlich schweigsame Sprachkörper wird »mit einer Art dunkler Funktion« (WkL 103) belastet, wodurch das Wort einen »Vergegenwärtigungswert« (WkL 104) erhält, den Sartre mit dem schon aus Was ist Literatur? bekannten Terminus ›Sinn‹ bezeichnet. Der Sinn wird ferner 67
Der Begriff ›Schriftsteller‹ ist hier so umfassend genommen, daß er sowohl den Dichter als auch den Prosaisten einschließt. So gesehen erweist sich die poetische Haltung – die irrealisierende Behandlung der Sprache – als wesentliches Moment der Literatur. In Was ist Literatur? unterschied Sartre noch zwischen dem Schriftsteller, der die Wörter für Dinge (Poesie), und dem, der sie für Zeichen nimmt (Prosa). Und während in dieser Schrift noch die Sonderstellung der Prosa im Vordergrund steht, so interessiert Sartre sich im Lauf seiner weiteren Entwicklung mehr und mehr für das poetische Moment: »(D)ie passive, gewaltfreie Aneignung der Welt in den Wörtern, interessiert ihn letztlich doch mehr als ein Grenzfall sprachlicher Praxis als ›verändern durch enthüllen‹« (Koch, ebd., 160). 68 Betrachtet man Sartres Flaubert-Interpretation, so sind drei verschiedene Alternativen denkbar: 1. Sartre rekonstruiert Flauberts Literaturverständnis, hat aber selbst ein anderes (wenn auch vielleicht gewisse Übereinstimmungen mit Flaubert vorliegen mögen). 2. Sartre tut Flaubert mit seiner Interpretation Gewalt an, indem er ihm sein eigenes Literaturverständnis unterschiebt. (Dies mag möglicherweise sogar mehr oder weniger unbeabsichtigt geschehen.) 3. Sartre teilt Flauberts Literaturverständnis, womit nicht ausgeschlossen ist, daß er dennoch versucht, über Flaubert hinauszugehen, nicht zuletzt auch, um nicht völlig mit seiner eigenen frühen Literaturtheorie des Engagements zu brechen. Die vorliegende Arbeit wird weiter unten für die dritte Möglichkeit optieren. Eine weitere schwer zu beantwortende Frage ist, ob Sartre seine eigene Literaturauffassung historisiert oder sie für allgemeingültig erachtet. 69 Zwar betrachtet auch der Linguist diese ›nicht-signifikante Materialität der Sprache, aber im Gegensatz zum Poeten formuliert er erstens Erkenntnisse über seinen Forschungsgegenstand und zweitens tut er dies in einer nach wie vor prosaischen Metasprache (vgl. IF 4, 225, Fußn. 151).
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bestimmt »als Materialisierung der Bedeutung in [eine] Qualität« (IF 2, 301) der Wörter. Die Repräsentationsfunktion besteht darin, daß der signifizierte Gegenstand sich irrealisiert und in das Zeichen hinabsteigt. Sartre spricht von einer »irreale(n) Anwesenheit des Signifikats im Signifikanten« (IF 2, 297). Zur Illustration findet sich in Der Idiot der Familie das folgende Beispiel: »(D)as Schloß von Amboise ist für mich – und für viele andere – mit framboise (Erdbeere), mit boisé (holzgetäfelt), boiserie (Holztäfelung), Ambroisie (Ambrosia) und mit Ambroise (Ambrosius) verbunden« (IF 2, 297). Hierbei handelt es sich nicht um lediglich persönliche und individuell verschiedene Relationen – die es natürlich obendrein auch noch gibt –, sondern Sartres Ansicht nach um objektive Beziehungen jeder Lektüre. Da sie nicht das Resultat willentlicher Synthesen sind, sondern sich als schon fertige Einheiten und Zusammenhänge aufdrängen, bezeichnet sie Sartre mit einem Begriff Husserls als »passive Synthesen« (IF 2, 298).70 Es gibt assoziierte Wörter, die sich in eine »Dominante« (IF 2, 298) – in diesem Beispiel: das Schloß von Amboise – integrieren. Aber realiter existiert natürlich keinerlei signifizierende Beziehung zwischen dem Schloß Amboise und framboise, der Erdbeere: »(E)s ist keine Erdbeerfarm, man verkauft dort keine Erdbeeren, es ist nicht in Erdbeerrot angemalt, und wenn man seinen Namen nicht kennte, so käme niemand auf die Idee, dieses mächtige Gebäude mit jenen zarten zerquetschbaren Früchten zu vergleichen« (IF 2, 298). Das assoziierte bzw. konnotierte Wort ›framboise‹ dringt als innere Qualifizierung in die Auffassung der Dominante ›Amboise‹ ein und weckt nun seinerseits andere Synthesen, die es in seiner Materie qualifizieren und schließlich dann aus größerer Entfernung auch auf ›Amboise‹ einwirken (vgl. IF 2, 298). Die »Fülle der Qualifizierungen« ist darum »niemals vollständig« (IF 2, 298 f.). Der Sinn ist also nicht einfach das Signifikat als imaginäres Objekt, sondern eine bestimmte Art und Weise, wie das Signifikat vermittels der materiellen Strukturen des Zeichens als ein imaginäres Objekt erscheint. Die Integration der assoziierten Wörter in die Dominante verleiht dem imaginären Objekt seine spezifische »Physiognomie« (IF 2, 299). Aus diesem Grund bleibt dieser Sinn, jene Präsenz des Schlosses in der Sprache, rein imaginär; er existiert »nur in der Sprache« (IF 2, 298).71 Florence, die italienische Stadt, die in einem literarischen Werk ihren
70
Siehe hierzu Husserl, Cartesianische Meditationen, 139; siehe auch Bernet/Marbach/ Kern, Husserl, 187. 71 Sartre bringt ein persönliches Beispiel: »Ich kannte die dalmatinische Küste noch nicht, als ich zu meiner großen Enttäuschung erfuhr, daß die schöne und stolze Stadt Ragusa (ein Stolz und eine Schönheit, die in ihrem Namen zusammengefaßt waren) von nun an Dubrovnik heißen würde: das war Verrat, Raub, man hatte nicht nur ein verbürgtes Gütezeichen von der Welt getilgt, sondern eine ganze weiß strahlende Stadt, die ich niemals sehen würde« (IF 2, 291 f.).
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Sinn über die konstitutiven Anklänge an Frau und Blume evoziert (vgl. WiL 18), ist als reale Stadt auf der Ebene der Bedeutung bzw. der Signifikation eine »harte, kalte und männliche Hauptstadt der Bank« (IF 2, 299). Die Pracht der Wörter ignoriert die Realität bzw. schafft sie auf irreale Weise neu. Sinn und Bedeutung eines Wortes können dann, wie in diesem Fall, divergieren.72 Während die Alltagsprosa jene nicht-signifikante Materialität der Wörter vernachlässigt, um zu signifizieren, offenbart diese Materialität für den Poeten, der dem Utilitarismus und damit den Bürgern das Wort stiehlt, eine Vielfalt an semantischem Gehalt, sobald die praktischen Kommunikationszwecke außer Geltung gesetzt sind (vgl. IF 3, 1005). Eine »volle Verwendung der Sprache« (IF 3, 1005) ist allein auf diese Weise möglich, da »die nicht-signifikante Materialität […] nur im Imaginären Sinngehalte liefern« (IF 3, 1005) kann.73 M. Seel hat die poetische Sprachverwendung am Beispiel des folgenden Satzes des Kriminalschriftstellers Raymond Chandler analysiert: »And nothing 72
Luhmann erklärt in Die Kunst der Gesellschaft ganz in diesem Sinn: Während der referentielle Wortsinn der Alltagssprache auf eindeutige Denotationen angelegt ist und den Leser in die Welt verweist, wird diese normale Sinnreferenz in der Literatur durch die »ornamentale Qualität von Wortkonstellationen« (ebd., 202) unterlaufen: »Diese Ornamentalität, dieser klangliche Bezug auf andere Worte kann, so in Finnegans Wake, Text derart überwuchern, daß sinnverständliche Worte nur noch als Hinweis fungieren, daß es auf sie nicht ankommt«. Deshalb ist die Dichtung keine »Abfolge von Aussagen über die Welt«, bei denen das Poetische sozusagen nur »Verschönerung, Verzierung, Dekoration« wäre (ebd., 202): »So wie Atome, wenn sie zu Molekülen zusammengeschlossen werden, ihre interne Elektronik ändern müssen, so modifiziert auch die Poesie den Wortsinn. Sie mag überraschend neue Nuancen, mag Verfremdungen erzeugen« (ebd., 200). 73 Vgl. Jakobson, »Linguistik und Poetik«, 111: »Der Vorrang der poetischen Funktion vor der referentiellen löscht den Gegenstandsbezug nicht aus, sondern macht ihn mehrdeutig«. Sartres Beschreibungen weisen in großen Teilen erstaunliche Übereinstimmungen mit Jakobsons Konzeption der poetischen Sprachverwendung auf. Letzterer betont als Grundcharakteristikum der poetischen Funktion, daß sie »das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination« projiziert (ebd., 94). Dies ist möglich, weil nun »die Wörter und ihre Zusammensetzung, ihre Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbständigen Wert erlangen« (ebd., 79). Eine lautliche Äquivalenz führt darum zu einer semantischen Äquivalenz, d. h. also dasjenige, das gleich klingt, ist auch auf der Ebene der Bedeutung miteinander verwandt: »In der Dichtung wird jede spürbare Ähnlichkeit in der Lautgestalt im Hinblick auf die Ähnlichkeit und/oder die Verschiedenheit in der Bedeutung ausgewertet […]. Die überdurchschnittliche Häufung einer gewissen Phonemklasse oder einer kontrastierenden Montage zweier gegensätzlicher Klassen in der Lauttextur eines Verses, einer Strophe oder eines Gedichtes wirkt […] wie eine ›Unterströmung der Bedeutung‹« (ebd., 113). Darum ist die »Mehrdeutigkeit […] eine unabdingbare, unveräußerliche Folge jeder in sich selbst zentrierten Mitteilung, kurz eine Grundeigenschaft der Dichtung« (ebd., 110). Ein eindrucksvolles Beispiel ist für Jakobson z. B. die folgende Zeile aus der Leichenrede des Antonius in Shakespeares Julius Cäsar: »O judgement, thou art fled to brutish beasts«, in der die »mörderische(n) Paronomasie« Brutus-brutish auftaucht (vgl. ebd., 117).
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ever looks emptier than an empty swimming-pool«.74 Die Nähe zu Sartres Position wird offenkundig, wenn Seel erklärt, daß dieser Halbsatz »eine imaginative Vergegenwärtigung« freisetzt, »die von dem semantischen, rhythmischen und akustischen Arrangement genau dieser Worte zu einer prägnanten Vorstellung der Sache geleistet wird«.75 Er fügt hinzu: »(N)ur wer in den schwingenden Klang, in die Wellenbewegung dieses (Halb-)Satzes eintauchen kann, wird die metaphysische Leere des Pools in einer bildlichen Fülle imaginieren können«.76
10. 5. 1. Irrealisierung der Welt durch Irrealisierung der Sprache Flauberts Durchführung einer »radikalen epoché« jeglicher menschlichen Zweckdimension leitet über die Irrealisierung der Sprache auch eine Irrealisierung der Welt ein. Indem die Sprache ihren Utensilitätscharakter verliert und Sein wird, läßt sie das außersprachliche Sein Sprache werden: »(D)urch Wort-Bilder gibt man das Bild der Dinge wieder« (IF 4, 246; vgl. IF 4, 253).77 Während nach dem ersten Imaginationskonzept (Gegenpol zur Wahrnehmung) Bild und Ding Gegensätze sind, ist nach dem zweiten Imaginationskonzept (Gegenpol zur Praxis) das poetische Wort ein Wort-Bild, weil es ein Wort-Ding (ein Wort, bei dem die Mannigfaltigkeit des imaginären Sinns die reale Bedeutung überwuchert) ist und umgekehrt. Wer die Wörter als Dinge sieht, der erfaßt sie zugleich als Bilder ihres semantischen Gehalts. Die sprachliche Referenz, also die Bedeutung oder das Signifikat wird ein irreales Objekt und als solches durch den materiellen Sinn des Signifikanten repräsentiert. Die irrealisierten Wörter »unterscheiden sich schließlich nicht mehr von den Gegenständen, die sie benennen« (IF 4, 247), weswegen in der poetischen Lektüre die reale Welt in die irrealisierte Sprache eingeht und Scheinwelt wird (vgl. SG 483, 864).78 Mit seiner Vorliebe für plakative Formulierungen spricht
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Chandler, The Long Goodbye, 91. M. Seel, Ästhetik des Erscheinens, 134. 76 M. Seel, ebd., 188. 77 Diese Beschreibung ist im Prinzip identisch mit jener in Was ist Literatur? (vgl. vor allem WiL 18). Der Unterschied besteht darin, daß sie sich nun nicht mehr nur auf einen Teilbereich der Literatur, sondern auf das Fundament jeder Literatur bezieht. 78 Diese Irrealisierung der realen Welt ist offenbar eine andere, als diejenige, welche aus der oben beschriebenen ästhetischen Einstellung resultiert. Die ästhetische Einstellung irrealisiert die Welt, weil sie kein praktisches Verhältnis zu ihr aufnimmt. Es handelt sich also um eine Irrealisierung im Sinne des zweiten Imaginationskonzeptes (Gegenpol zur Praxis). Diejenige Irrealisierung, die über die Irrealisierung der Wörter erfolgt, bedeutet jedoch, daß das poetische Wort nicht mehr auf reale Dinge und reale Sachverhalte verweist, sondern sie kraft der Materialität seines Zeichenkörpers repräsentiert. Hier kommt also eine 75
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Sartre in diesem Zusammenhang von einer Zerstörung des realen Universums (vgl. z. B. SG 864) oder von dem bereits erwähnten »Buchwerden der Welt« (IF 2, 330): »Sich für die Pracht der Namen entscheiden bedeutet schon die Welt des Wortes der Welt der Dinge vorziehen« (IF 2, 300).79 Das Einfangen von Realitätsausschnitten durch das repräsentative Vermögen des poetischen Wortes ist für Sartre äquivalent mit einer Einstellung, die das Reale als Mittel sieht, um das Imaginäre zu manifestieren.80 Wenn ein Mensch, so fährt Sartre fort, durch eine Reihe von Niederlagen »selbst Bild geworden« (IF 4, 247) ist und sich hierdurch auch sein Weltverhältnis irrealisiert hat, »dann gibt es – da ja alles Bild ist – keinen Unterschied, ob man imaginiert, man schreibe, oder ob man schreibt, was man mit imaginären Wörtern imaginiert« (IF 4, 247).81 Die Antwort auf die Frage, ob Flaubert ein passives irrealisierendes Verhältnis zu Sprache und Welt einnehmen und gleichzeitig ein künstlerisches Werk durch Disziplin und Arbeit hervorbringen kann, lautet für Sartre daher: »(E)r ist weit davon entfernt, die Sprache zu benutzen, vielmehr ist die erste Bedingung für sein Genie, daß er es ablehnt, sich ihrer zu bedienen. Können wir sagen, daß er ihr dient? Nicht einmal das. Dieser Bild-Mensch, der Imagination im Sinne des ersten Imaginationskonzeptes (Gegenpol zur Wahrnehmung) ins Spiel. Sartres Beschreibungen erwecken den Eindruck, als würde die ästhetische Einstellung den Dingen ihren Realitätscharakter nehmen, während die Poetisierung der Wörter auch noch ihre Transphänomenalität eliminiert. Allerdings ist dieser Zusammenhang insofern problematisch, als die Irrealisierung durch die poetischen Wörter letztlich ja nichts anderes als eine Anwendung der ästhetischen Einstellung auf die Sprache ist. 79 Vgl. Mulatris, ebd., 233; Schulten, ebd., 100. 80 Bei der pragmatischen Sprache verhält es sich anders, da sie auf die Realität verweist und sie nicht auf imaginäre Weise in den Text selbst zu integrieren versucht. Die Bedeutungen der Prosa sind real, weil sie Realitäten leer intendieren, während der Sinn der Poesie etwas spürbar und anschaulich werden läßt, das eigentlich nicht da ist. Daß Sartres Position sich nicht auf dem Niveau der sprachphilosophischen Debatte im 20. Jahrhundert befindet und man sicher fragen kann, welche Realitäten, etwa Wörter wie ›ist‹, ›und‹, ›darum‹, ›sehr‹ usw. leer intendieren sollen, sei in diesem Zusammenhang dahingestellt. Allerdings darf eine solche Kritik wiederum nicht übersehen, daß Sartre durchaus zwischen Bedeutung und bezeichneter Sache unterscheidet: Die bezeichnete Sache ist für ihn der Gegenstand, wohingegen die Bedeutung der »logische Komplex« ist, »der durch Wörter konstituiert werden wird«: »Wenn ich sage ›dieser Tisch ist vor dem Fenster‹, so visiere ich eine bezeichnete Sache an, die der Tisch ist, durch Bedeutungen, die der Komplex der konstituierten Sätze sind […]. Die Bedeutung ist das Noema, das Korrelat des Komplexes der hervorgebrachten vokalen Elemente« (WkL 99). 81 Die These, jemand sei durch Niederlagen selbst zum Bild geworden, beansprucht den zweiten (Gegenpol zur Praxis), möglicherweise auch den dritten Imaginationsbegriff (Gegenpol zur Anerkennung). Wenn hinzugefügt wird, daß es hierdurch gleichgültig werde, ob man imaginiert zu schreiben oder schreibt, was man imaginiert, so wird ›Imagination‹ dann wiederum im Sinne der ersten Imaginationskonzeption (Gegenpol zur Wahrnehmung) verwendet.
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durch die Unmöglichkeit, zu sein, das heißt zu handeln, irrealisiert ist, fördert die Imaginaritätsdimension im Sprachganzen zutage. Auf dieser Ebene wird sich die Sprache in ihm ganz allein sprechen […]: die Wörter ziehen einander an, entflammen sich an wechselseitigen Feuern, ordnen sich, unterscheiden sich schließlich nicht mehr von den Gegenständen, die sie benennen, und bilden dadurch Träume. Er braucht sie nur aufzuzeichnen: schon ist er wie Jules ein großer und ernsthafter Schriftsteller« (IF 4, 247). Es scheint, als fügte Sartre zufolge der Künstler der Sprache mit seiner Tätigkeit nichts Neues hinzu. Vielmehr nutzt er ihre bereits unabhängig von dieser Tätigkeit vorhandene nicht-signifizierende Schicht, um über den Bereich des durch konventionelle Bedeutungen Erreichbaren hinauszugehen. Wenn die Sprache, wie Sartre ergänzt, letztlich auch immer der Signifikation dient, so ist sie doch in ihrer Materialität zunächst »nicht-signifikant«: »Als wenn das Wort Stille wäre und sich zur Sprache machte, indem es sich spezifiziert« (IF 4, 224). Das Wort hat eine primäre Vorstellungsstruktur, die erst durch die Praxis – also das Sprechen oder Schreiben – aufgelöst wird (vgl. IF 2, 278).82 Diese poetische Struktur, die explizit auftaucht, sobald man nicht aktiv die 82
Der Unterschied zwischen Genet und dem Surrealisten Breton besteht nach Sartre darin, daß letzterer den praktischen Gebrauch als Pervertierung des ursprünglich poetischen Wortes ansieht, wohingegen für Genet umgekehrt die Prosa der Poesie vorausgeht (vgl. SG 795). Nachdem Sartre in Was ist Literatur? offenbar Genets Position zuneigt, sieht es in seinem späten Denken eher so aus, als diene die Sprache zwar primär der Praxis, und als sei dies auch zweifellos der Grund ihrer Existenz. Aber für jeden einzelnen Menschen ist sie doch aufgrund der Priorität der kindlichen Passivität zunächst poetisch. Allerdings ist auch hier der Fall wegen der Äquivokation des Imaginationsbegriffs keineswegs klar: Insofern jeder Mensch in seiner Kindheit zunächst Objekt und passiv ist, erlebt er auch die Sprache, die vom Anderen auf ihn zukommt, ursprünglich in ihrer poetischen Dimension. Nach dem zweiten Imaginationskonzept (Gegenpol zur Praxis) ist die Sprache also poetisch, bevor sie praktisch wird. Andererseits kommt, sobald das erste Imaginationskonzept (Gegenpol zur Wahrnehmung) wieder auftaucht, zur Passivität der poetischen Sprache auch die Repräsentationsfunktion hinzu. Eine solche Repräsentationsfunktion kann die poetische Sprache jedoch nur übernehmen, wenn ihr die praktische Sprachdimension mit ihren Signifikationen vorausgeht. Denn ohne die praktische Signifikationen, die es zu irrealisieren gilt, könnte die poetische Sprache nicht etwas – nämlich das Signifikat der Sprachpraxis – repräsentieren: «(T)he signe cannot avoke any sens if its signification is unknown« (Howells, ebd., 216). Der Schluß, daß ohne Bedeutungen auch kein Sinn möglich wäre, ist zwar zunächst naheliegend, führt aber dennoch wiederum zu weit, da nach Sartre die Dinge auch unabhängig von der Signifikation einen affektiven Sinn besitzen (vgl. WiL 13). Ohne erkennbare Signifikationen wäre der Klangblock zwar nicht repräsentierend, aber doch mehr als nur ein rein akustisches Ereignis. Geht man davon aus, daß die Ausdruckswahrnehmung der Dingwahrnehmung vorausgeht (s. o.), so wäre das Erfassen von Sinn ursprünglicher als das Erfassen eines Objekts. Unabhängig von solchen Überlegungen ist jedenfalls festzuhalten: Alle Beschreibungen, die aus der Perspektive des ersten Imaginationskonzepts erfolgen, setzen die Priorität von Realität und Praxis gegenüber der Imagination und der Poesie.
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Sprache bestimmt, sondern sich passiv von ihr bestimmen läßt, ist unaufhebbar: »Jede Sprache ist bis zu einem gewissen Grade poetisch« (SG 858, Fußn. 276). Man könnte hinzufügen, sie ist insofern immer poetisch als der Mensch immer eine Objektdimension besitzt. In dem Maße als bestimmte Situationen eher diese menschliche Objektdimension hervortreten lassen, verstärkt sich korrelativ der poetische Zug der Sprache. Poesie ist für Sartre nicht nur eine Sprache der Kontemplation, sondern vielmehr auch der Ohnmacht. Wer die poetische Dimension verabsolutieren und die Prosa negieren will, der negiert in eins damit die eigene Subjektdimension: Die literarische Schreibweise ist alles in allem keine Begabung, keine Fülle an Einfällen, sondern schlichtweg »Bekehrung« (IF 4, 247), »poetische Katharsis« (IF 4, 225, Fußn. 151) oder »Entsagung« (IF 4, 225): ein Verzicht auf die Leidenschaften, die menschliche Praxis sowie die Zwecke des Lebens (vgl. IF 4, 224 f.).83 Solange die Wörter hingegen menschliche Sorgen artikulieren, sind sie durch ihren praktischen Gebrauch endlich, »das heißt durch ihre Funktion begrenzte Instrumente«, und »darin liegt ihre Realität« (IF 4, 225).84 Nur die praktische Sprache ist also real (vgl. IF 4, 226, 230). Diesen Ausführungen liegt unschwer erkennbar die Auffassung des Imaginären als Gegenpol zur Praxis zugrunde, aus der sich die Priorität des Imaginären, der Passivität und der Poesie gegenüber dem Realen, der Praxis und der Prosa herleitet. In einem weiteren Schritt fügen sich die beiden Imaginationskonzeptionen scheinbar in einem Fundierungsverhältnis zusammen: Indem ich die Praxis negiere, also das Wort im Sinne der zweiten Konzeption irrealisiere, verwandelt sich das Signifikat in ein imaginäres (abwesendes oder nichtexistentes) Objekt, und korrelativ signifiziert der Signifikant nicht länger, sondern er repräsentiert, d. h. er wird zu einem Analogon.85 Die (relativ) eindeutige Bezeichnungsfunktion hebt sich in der vieldeutigen Repräsentationsfunktion des Wortes auf (vgl. IF 4, 225). Kurz, die Passivität führt zur Repräsentation. Insofern die irrealen Objekte sowohl abwesend als auch vieldeutig sind, wirken hier beide Imaginationskonzeptionen zusammen. Aber dieses Ineinander erweist sich erneut als inkonsistent, denn die Vieldeutigkeit, die vom zweiten Imaginationsbegriff herrührt, widerspricht der Quasi-Beobachtung als Charakteristikum des ersten Imaginationsbegriffs (Gegenpol zur Wahrnehmung). So spricht Sartre von der Mehrdeutigkeit der Dinge wie der Wörter, die sich in 83
Siehe Wannicke, ebd., 187. Jedes Scheitern der praktischen Sprache – z. B. alle Formen von Wortspielen – fördert daher ihre poetische Dimension zutage (vgl. IF 4, 220). 85 Hegel stellt eine Gegenposition zu Sartre dar, wenn er erklärt, die Materie der Wortkunst sei nichts Sinnliches, sondern eine reine Vorstellung. In Sartres Terminologie ginge es dann in der Literatur um images mentales und nicht um images physiques (vgl. Vorlesungen über die Ästhetik II, 256 u. 261). Zu einer Kritik an Hegel, an die sich auch Sartre anschließen würde, siehe M. Seel, ebd., 205. 84
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der poetischen Haltung, also durch den Verzicht auf die Praxis, enthüllt (vgl. SG 481). Nach der zweiten Imaginationskonzeption (Gegenpol zur Praxis) ist die Realität ein Produkt der Praxis, der auch die Wörter ihre Eindeutigkeit und Endlichkeit verdanken. Eine Kollision dieses zweiten mit dem ersten Imaginationskonzept findet statt, sobald Sartre dann aller poetischen Vieldeutigkeit zum Trotz wieder behauptet, daß imaginäre Tatsachen zwar »weniger reich«, aber dafür »strenger« seien (IF 3, 963). Der Übergang vom Realen zum Imaginären bedeutet demzufolge: »Kontingenz und Mehrdeutigkeit gegen eine unbeugsame ästhetische Notwendigkeit eintauschen« (IF 3, 963). Ist das Schloß Amboise durch die Irrealisierung ›weniger reich‹ an semantischem Gehalt geworden? Diese Annahme stimmt keineswegs mit den Resultaten aus Sartres Phänomenologie der literarischen Sprache überein. Es läßt sich jedenfalls festhalten: Nach dem ersten Imaginationsbegriff – das Imaginäre als Gegenpol zum Wahrnehmungsobjekt – bringt der Übergang vom Realen zum Imaginären den Verlust der Mehrdeutigkeit mit sich, während nach dem zweiten Imaginationsbegriff – das Imaginäre als Gegenpol zum Utensil bzw. ›Zeug‹ – dieser Übergang gerade den Gewinn der Mehrdeutigkeit bedeutet.
10. 5. 2. Der Stil als Vermittlung des Unsagbaren In dem Maße als der Künstler die Sprache irrealisiert, rückt infolgedessen an die Stelle der Aussage vermittels der Bedeutung der Stil (vgl. IF 3, 1005). Dieser ist für Sartre »nicht ursprünglich eine zu erwerbende Eigenschaft, sondern die bloße Art und Weise, in der sich die Elemente der Rede im Geist oder unter der Feder aufreihen, wenn man sie um ihrer selbst willen liebt« (IF 4, 243). Der Stil erlaubt eine »marginale(n) Wiedergabe des Unsagbaren« (IF 4, 227), also eine Wiedergabe desjenigen, das durch Bedeutungen, durch den ›sprechenden‹ Teil der Sprache, alleine nicht einzufangen ist. Mit der Rede vom Unsagbaren ist das folgende Problem sprachlicher Kodifizierung berührt. Ich kann meine Freude signifizieren, aber wie kann ich ihren besonderen nicht-definierbaren Geschmack vermitteln?86 Obwohl eine sprachliche Definition ausgeschlossen ist, lassen sich jedoch »objektive Strukturen mitten in der Subjektivität« auffinden. Und hierin liegt eine Lösung des Problems: »(D)er Geschmack eines Plumpuddings ist zugleich eine erlebte, nicht-defi86
Vgl. Sevenich, ebd., 356. – Sartre zitiert Flauberts Ausruf am Ende der Mémoires d’un fou: »Arme menschliche Schwäche! Mit deinen Wörtern, deinen Sprachen, deinen Tönen sprichst und stammelst du; du definierst Gott, den Himmel und die Erde, die Chemie und die Philosophie, und du kannst mit deiner Sprache nicht die ganze Freude ausdrücken, die dir eine nackte Frau macht … oder ein Plumpudding« (zit. n. IF 3, 1002).
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nitorische Besonderheit und eine allgemeine Empfindung, deren Erinnerung man bei allen, die sie gehabt haben, wecken kann« (IF 4, 232). Dies gelingt aber nur dann, wenn die Sprache nicht primär als Informationsmittel fungiert, sondern diese informative Funktion der sogenannten ›Partizipation‹ untergeordnet wird (vgl. IF 4, 232). Der Geschmack wird nicht genannt, sondern spürbar gemacht, d. h. er wird durch »unartikulierbare Imaginarien« (IF 3, 1007) auf der Grundlage der Materialität der Sprache repräsentiert: Während er die definitorische Verbindung zu Süßigkeit und Genuß signifiziert, muß der Satz dieser Geschmack auf irreale Weise sein (vgl. IF 2, 233). Im allgemeinen bezeichnet Sartre mit Sinn immer eine Bedeutung, die so an eine bestimmte Entität gebunden ist – sei es ein Wort, ein Gegenstand, eine Epoche87 oder aber ein Individuum (vgl. PP 25) –, daß sie ohne diese nicht erfahren werden könnte. Sie verweist nicht auf etwas anderes als sie selbst – sondern ist eher als immanente Qualität der jeweiligen Materie anzusehen, weswegen er sich auch nur in dieser spezifischen Materialität manifestieren kann (vgl. PP 296; SG 476). Eine vollständige Übersetzung literarischer Texte ist deshalb unmöglich, weil die sprachlichen Zeichen in der Literatur nicht mehr nur der Hervorbringung von Bedeutungen dienen, sondern ihr spezifischer Sinngehalt so mit der materiellen Zeichengestalt verwoben ist, daß er nur über sie offenbar werden kann (vgl. WkL 114).88 Dahlhaus spricht darum von einem »In-sich-abgeschlossen-sein« des literarischen Kunstwerks bei Sartre, das keinesfalls seiner »vieldeutigen Auslegbarkeit« widerspricht:89 »Wenn ein Absatz, ein Satz, ein Wort ersetzbar sind, ist alles verloren: das Werk ›steht‹
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Sartre spricht von der »Würze der Epoche« oder dem »Geschmack des historischen Moments« (PI 145). 88 Diese Strategie, unsagbare Idiosynkrasien in der Sprache zu objektivieren, schließt nach Sartre jede Regelanwendung aus: »Die Kunst ist schwierig, weil jeder Künstler ohne Netz, ohne Rezepte arbeitet und alles selbst erfinden muß«, insofern es »das Einzigartige [ist], das sich durch das Einzigartige vermittelt« (IF 4, 234). Die Zurückweisung jeder Regelpoetik folgt aus der Aufgabe, das Individuelle zu artikulieren, die die Kunst nach Sartre seit der Romantik verfolgt. Regeln der Kunstproduktion könnte es nur dann geben, wenn der Sinn durch solche Regeln kodifiziert werden könnte. Einer begrifflichen Interpretation literarischer Texte sind daher ebenfalls Grenzen auferlegt: Der Sinn der Poesie läßt sich niemals vollständig in die Bedeutungen der Prosa übertragen (vgl. SG 678, 681). Weit davon entfernt, sich durch eine »strenge Konstruktion nach Regeln« zu verwirklichen, stellt die Literatur eher eine »Hermeneutik des Schweigens« (IF 5, 31) dar. 89 Dahlhaus, ebd., 92. – Wenn das Material der Literatur nicht die reine Vorstellung ist, sondern das Wort – gelegentlich sogar der einzelne Buchstabe – »sowohl in seiner graphischen und klanglichen Gestalt als auch in seiner konventionellen Bedeutung« (M. Seel, ebd., 174) –, dann ist der spezifische Sinngehalt »an eine nichtsubstituierbare (durch keine andere Kombination von Elementen ersetzbare) Ausführung ihres Materials gebunden«. Es kommt also »auf eine genaue individuelle Anordnung der Zeichenelemente an« (ebd., 157; siehe auch ebd., 191).
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nicht« (IF 5, 191). Obwohl Sartre fortwährend auf der einen Seite erklärt, daß Flauberts Denken, mit dem er die Leser infizieren will, weder definierbar noch in Bedeutungen übersetzbar ist (vgl. z. B. IF 5, 26), übersetzt er auf der anderen Seite selbst den Sinn in Definitionen und Bedeutungen (vgl. IF 5, 23, 32). Entgegen Sartres Erklärungen gewinnt man allerdings bereits hier den Eindruck, als führe die Literatur, insofern sie sogar noch den für gewöhnlich stummen Teil der Rede zur Sinnvermittlung mobilisiert, keinesfalls zu einer Negation der Kommunikation, sondern vielmehr zu deren Intensivierung, wie auch die vermeintliche Zerstörung der Signifikation eine »Über-Signifikation« (IF 3, 1006) mit sich bringt. Sartre selbst erklärt, daß in der Sprache alles signifikant wird, sobald sie nicht mehr auf praktische Weise signifiziert (vgl. IF 3, 1005). In diesem Zusammenhang ist die Rede von einer »schweigende(n) Über-Kommunikation« (IF 4, 233). Üblicherweise gibt der sprachliche Gehalt das Denken wieder und die Kommunikation erfolgt durch Informationen, die zum Bereich der Zeichen gehören. In der Literatur übersetzt dagegen die sprachliche Form das Denken: »(D)er Sinn eines geistigen Werks wird uns indirekt durch seine formale Schönheit mitgeteilt« (IF 3, 1008). Aber selbst wenn das Denken des Künstler sich nicht direkt durch das »Sagen«, sondern indirekt durch die »Sagensweise« zum Ausdruck bringt (vgl. IF 3, 1005), so scheint es sich nichtsdestotrotz, und anders als manche übertrieben wirkende Äußerung Sartres glauben läßt, um eine – wenn auch indirekte – Form der Kommunikation zu handeln. Zwar sind es nicht die direkten Bedeutungen, aber es ist der Sinn, durch den sich die literarische Verständigung zwischen Autor und Leser vollzieht: »(D)ie Literatur beginnt mit der Entscheidung, die Sprache zu stehlen, sie ihren Zwecken zu entfremden und die direkten Bedeutungen, ohne sie aufzugeben, zu Mitteln zu machen, das Unartikulierbare zu vergegenwärtigen«. Sartre spricht an dieser Stelle von ›Vergegenwärtigung‹, »weil man es nach Flaubert sichtbar und hörbar machen muß, ohne es zu zeigen« (vgl. IF 4, 226). Die Signifikationen, also die direkten Bedeutungen des literarischen Werks, bieten die Erzählung, die story oder die Anekdote. Die Entscheidung über das Sujet bleibt also im »Bereich der Bedeutungen« (vgl. IF 4, 233 f.). Aber infolge der speziellen Bearbeitung des Sprachmaterials wird die Frage ›Was passiert dann?‹ nebensächlich. Stillschweigend baut sich über die Verwendung des Materials der Wörter, eben weil sie als Dinge und weniger als Zeichen behandelt werden, der »ungreifbare(n) Über-Sinn« (IF 4, 221) auf. Dieses Verhältnis von Sinn und Bedeutung gilt nach Sartre im übrigen nicht nur für die Literatur: Ohne die Bedeutung, die das Thema des Bildes darstellt – z. B. die Kreuzigung bei Tintoretto –, wäre etwa das Gelb des Himmels so mehrdeutig, daß nicht einmal eine Ding gewordene Angst darin zu erkennen wäre (vgl. IF 4, 227). Insofern kontrollieren wiederum die Bedeutungen die Kon-
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stitution des Sinns.90 So muß auch der Sprachkünstler »immer die indirekte Wirkung suchen, das heißt ein logisches Ensemble von Bedeutungen hervorbringen, damit die Vokabeln, die sie mitzuteilen behaupten, sich so anordnen, daß sie uns mit einem unsagbaren Sinn erfüllen« (IF 3, 1009).91 Dies gelingt nur, wenn er »immer zwei Ziele« gleichzeitig verfolgt. Einerseits bietet er »die Kohärenz einer zielgerichteten Rede«, und zugleich betreibt er »die Irrealisierung dieser Rede durch die formale Schönheit« (IF 3, 1009). Beiden Zielen muß er gerecht werden, wenn er »nicht entweder in die Inkohärenz oder in die reine Information fallen will« (IF 3, 1009). Durch die »Irrealisierung der Sprache« (IF 4, 233) wird also eine Sprachschicht, die für den pragmatischen Sprecher nicht-signifikant ist, sozusagen über-signifikant (vgl. IF 4, 229), wodurch die Wörter etwas intendieren können, was ihnen per definitionem entgeht« (IF 4, 226).92 Zwar ist der Leser auf keinen Fall Flauberts direkter Gesprächspartner, aber er erhält das Angebot, selbst imaginär zu werden, da nur ein imaginärer Leser hinter den Bedeutungen den imaginären Sinn erfassen kann, und »dann wird ihm das ganze Unsagbare, einschließlich des Geschmacks des Plumpuddings, indirekt offenbart werden« (IF 4, 249). Allerdings erfaßt er infolgedessen nicht nur diesen Geschmack, sondern vor allem Flauberts pessimistische Weltsicht, mit der dieser ihn infizieren will (vgl. IF 3, 965, 970). Einerseits gibt es Hinweise darauf, daß für Flaubert der Leser gleichgültig ist,93 andererseits erklärt Sartre, daß das Ziel seines Schreibens doch gerade darin bestehe, »die Geister wie mit einem Gift zu pervertieren« (IF 4, 234). Dies könnte jedoch nicht gelingen, wenn der Text lediglich schöne Klangblöcke böte, ohne nicht doch auf eine indirekte Weise vermittels der irrealisierenden Über-Signifizierung der materiellen Qualitäten der Signifikanten mit dem Leser zu kommunizieren. Die Poesie ist daher gegenüber der Prosa keine Nicht-Kommunikation, sondern eine andere Form der Kommunikation, insofern sie auch noch das Unsagbare durch die Sagensweise indirekt sagbar werden läßt. Ist die Poesie also nicht letztlich sogar kommunikativer als die pragmatische Sprache? Jedenfalls wird ersichtlich, daß das Scheitern der Prosa keinesfalls das Scheitern der Kommunikation bedeutet. 90
Sartre räumt ein, daß seine »flüchtigen Bemerkungen« nicht für die abstrakte Kunst – genannt werden im besonderen Tachismus und Action-Painting – Gültigkeit beanspruchen können (vgl. IF 4, 228, Fußn. 153). 91 Unter ›Bedeutungen‹ versteht Sartre also die offenkundige Thematik eines Textes, seinen informativen Gehalt, der sich den konventionellen Wert der Wörter zu eigen macht. 92 Siehe hierzu auch Mulatris, ebd., 239. 93 Flaubert notiert hierzu: »Ist er denn weniger schön, der Gesang der Nachtigall, wenn er nicht gehört wird? Ist er denn weniger süß, wenn er nicht von der Nase eingesogen wird, der Duft, den die Blumen als Bewohnerinnen der unzugänglichen Regionen in der Luft sich verflüchtigen und zum Himmel aufsteigen lassen?« (zit. n. IF 4, 255).
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Die Unterscheidung zwischen der fundierenden Zeichenfunktion und der in der Imagination erworbenen Repräsentationsfunktion des Wortes findet sich bereits in Das Imaginäre (vgl. Im 106–113, 137–141) und kann daher auch als Quelle für die Gegenüberstellung von Prosa und Poesie in Was ist Literatur? angesehen werden.94 In der Schrift über die Einbildungskraft hat sie allerdings noch den Status einer ahistorischen Bestimmung, die das unwandelbare Wesen der Literatur wiedergibt; sie wird also noch nicht mit Flaubert oder sonstigen historischen Anlässen oder Gründen in Verbindung gebracht. Ebenso sind die Beschreibungen des irrealisierten Wortes in Abgrenzung zur pragmatischen Zeichenverwendung hier noch für den gesamten Bereich der Literatur gültig, wohingegen sie in Was ist Literatur? auf den Bereich der Poesie beschränkt werden, um schließlich in Der Idiot der Familie zwar einerseits wieder jenseits der Poesie-Prosa-Differenz für alle literarischen Werke, andererseits nur für diejenigen seit dem Aufkommen der Nachromantik zu gelten. Sartre räumt ein: Auch die Literatur vor Flaubert hat sich die »außer-signifikanten Elemente« einer Sprache zunutze gemacht (vgl. IF 4, 229): »(M)an hat niemals geschrieben, ohne mehr oder weniger bewußt die Materialität des Wortes als jenes reine Da-sein zu benutzen, das von der Intention auf die schweigende Dichte der benannten Dinge hin überschritten wird« (IF 4, 229). Mit anderen Worten: »Die Seltenheit einer Vokabel, ihre Pracht, ihre historische Tiefe – das heißt, was sie noch von ihrer Geschichte behält – sind für einen Schriftsteller zu jeder Epoche ebensoviel Motive, sie zu verwenden« (IF 4, 229). Obwohl der Schriftsteller des klassischen Zeitalters auf diese Weise komponiert, um schöne Sätze hervorzubringen, so ist diese Mühe für Sartre schließlich doch nur ein »höfliches Vorspiel« (IF 4, 231) der Bedeutungsvermittlung. Der Autor – genannt wird als Beispiel Molière – kommuniziert mit dem Leser, und dieses Verhältnis wird durch keinen Verdacht auf eine grundsätzliche Nicht-Kommunizierbarkeit getrübt. Man ist überzeugt, daß die Sprache das Denken, wie auch Gefühle und Neigungen adäquat auszudrücken vermag. Und so bezaubert zwar die Harmonie der Sätze wie eine Melodie, aber sie ist keine indirekte Vermittlung eines unsagbaren Sinns (vgl. IF 4, 230). Diese Art der poetischen Schönheit stützt lediglich die Bedeutung, sie hat kein Geheimnis, das es zu entschlüsseln gilt. Natürlich kann jedes Wort mit anderen in Beziehung stehen, indem eine »strenge Konstruktion jedem durch alle ein gewisses Über-Signifizierungsvermögen verleiht« (IF 4, 231). Aber jede Dunkelheit löst sich schließlich »im leuchtenden Äther der absoluten Kommunikation« (IF 4, 231) auf. Das bedeutet aber: Wie ausgeprägt auch immer das poetische Moment gewesen sein mag, letzten Endes, so kann man aus Sartres Beschreibungen schließen, ist alle Literatur vor Flaubert Prosa, also ein praktisches »Kommunikationsmittel« (IF 4, 230), gewesen. 94
Vgl. hierzu auch Kohut, ebd., 21, 24.
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Die »Flaubertsche Revolution« besteht darin, daß dieser Autor, der für Sartre der »Schöpfer des modernen Romans« (IF 4, 272) ist, im Unterschied zum Sprachverständnis der Klassiker »das Prinzip der Nicht-Kommunizierbarkeit des Erlebten« an den Anfang seines Schaffens setzt (vgl. IF 4, 231 f.). Flaubert ist der erste, der diese Poetik »in seinem Jahrhundert entdeckt« (IF 4, 23). Und Sartre vertritt die These, daß nur »ein passiv Handelnder« hierzu in der Lage sein konnte: »(W)enn man, um das Medium der Kunst sein zu können, sich zum Bild-Menschen machen muß, dann wird man nicht real werden, ohne daß man aufhört, Künstler zu sein« (IF 4, 256). Das radikale Scheitern des Menschen, das für Sartre ein Scheitern seiner Praxis ist, schlägt hier in den Erfolg des Künstlers um (vgl. IF 4, 257). Alles Handeln ist für Flaubert zum Scheitern verurteilt, eine Ausnahme bildet allein die Kunstproduktion (IF 4, 242). Die literarische Aktivität ist »das dialektische Resultat seiner Niederlagen: wenn man alles verloren hat, schreibt man« (IF 4, 242). Wollte man dieser Ansicht einen optimistischen Zug abgewinnen, so könnte man sagen, daß niemand vollkommen scheitert, da nach Sartre offenbar das radikale Scheitern kraft einer recht dubiosen Gesetzmäßigkeit zum Künstlertum führt: »In der Welt sterben heißt als Künstler wiedergeboren werden« (IF 4, 242). Durch die »Unmöglichkeit, zu sein« macht sich ein Mensch »zum Bild und Bildercomputer« (IF 4, 244). Im Zuge des Bestrebens, seine Erlebnisse und Empfindungen zu Papier zu bringen, stößt Flaubert auf das Nicht-Kommunizierbare und Nicht-Definierbare, und dieses Problem kollidiert mit den literarischen Imperativen der romantischen Tradition, die das Thema der Subjektivität vorgeben: »(I)ch kann zur Not mein Freud und Leid nennen, es durch seine Ursachen bekanntmachen, aber nicht seinen besonderen Geschmack vermitteln« (IF 4, 232). Trotz der Inkommensurabilität von Sprache und Erleben, bleibt jedoch die Sprache »das einzig mögliche Material des literarischen Werks« (IF 4, 226). Im Unterschied zu den Romantikern schreibt Flaubert allerdings nicht mehr, um seine Person durch die Individualität eines Stils zu verewigen (vgl. IF 4, 248). Diese Strömung, die von Flaubert ausgeht und später zum Formalismus des nouveau roman führt, befreit über eine prinzipielle »Entwertung des praktischen Subjekts« auch das Werk von seinem Autor (vgl. IF 4, 244). »(W)as hier zählt, ist die neue Strömung; wir werden sie bis ins 20. Jahrhundert, bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verfolgen können, wo dann die Anhänger des automatischen Schreibens den offenbarenden und metaphysischen Glanz der Sprache auf die vorübergehende Vernichtung jenes bürgerlichen Teils unserer selbst, des ego gründen« (IF 4, 245).
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10. 5. 3. Prosa, Kommunikation und Engagement in der späten Literaturtheorie Wenn alle Literatur die Sprache als Ding behandelt (vgl. IF 2, 328), scheint die Unterscheidung zwischen der Behandlung der Sprache als Ding oder als Zeichen innerhalb der Literatur keinen Sinn mehr zu ergeben. Es stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch literarische Prosa geben kann oder ob sie nur noch im außerliterarischen Zusammenhang zu finden ist. Was könnte literarische Prosa von Poesie unterscheiden, wenn jede Literatur Poesie ist? Überblickt man die eher verstreuten Bemerkungen zur Literatur in Sartres späteren Schriften, so scheint sich eine Akzentverschiebung abzuzeichnen. Anstelle der Gegenüberstellung von Sprache als Ding oder als Zeichen unterscheidet die späte Literaturtheorie Poesie und Prosa vornehmlich durch die Haltung zur Kommunikation. So definiert die Genet-Studie Poesie und Prosa unübersehbar durch ihr Verhältnis zum Leser: »Prosa ist Kommunikation, gemeinsame Suche nach der Wahrheit, Anerkennung und Wechselseitigkeit« (SG 682). Diese Qualitäten sind ihr nicht äußerlich beigefügt, vielmehr »entsteht [sie] aus der Absicht zu kommunizieren« (SG 661). Beruht die Prosa auf einer solchen »Wechselseitigkeit der Anerkennung« (SG 857), fordert dagegen der Poet »von einem Publikum anerkannt zu werden, das er nicht anerkennt« (SG 857). Genaugenommen spricht letzterer nicht zum Leser wie der Prosaist, sondern »zu sich selbst über die Vermittlung des Lesers« (SG 857). Die Sprache ist unter diesem Blickwinkel nicht das Mittelglied zwischen mir und dem Anderen, sondern der Andere ist das Mittelglied zwischen mir und der Sprache, insofern er nur als Vehikel dazu dient, »das Wort zu objektivieren« (SG 858).95 Der Leser ist bei einer solchen Lektüre, die mit dem Anhören einer Messe vergleichbar ist (vgl. IF 4, 255), kein Zweck, sondern nur das Mittel, um den objektiven Status des Kunstwerks zu konstituieren (vgl. SG 714).96 Das Verhältnis von Poesie und Prosa ist in Sartres spätem Denken keine Disjunktion, sondern eher ein dialektisches Stufenmodell. Die Prosa versteht sich nicht mehr als Gegensatz, sondern als »Überschreitung der Poesie« (WkL 107). Aus diesem Grund wäre eine literarische Prosa kein widersprüchlicher Gegenstand, der die Poesie als seine eigene Bedingung aufheben würde. 95
Genet schreibt zunächst nur für sich selbst; er verfaßt Klangblöcke aus Wörtern, um sich selbst zu rühren (vgl. SG 663). Die Entdeckung der Prosa bedeutet schließlich die Entdeckung des Lesers (vgl. SG 691). Da Poesie und Prosa andererseits auch Gattungsbegriffe darstellen, kann Sartre behaupten, Genets Romane seien falsche Prosa (vgl. SG 661, 784, 849). Umgekehrt gilt ein Vers eines Gedichts, sofern logische Bedeutungen den poetischen Sinn überwiegen, als »verkleidete Prosa« (vgl. SG 678–681). 96 Wie Howells festgestellt hat, ist diese Differenz zwischen Poesie und Prosa weniger sprachlich als vielmehr psychologisch (vgl. ebd., 208).
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Die Bedingung der Literatur ist, wie Sartre in »Der Schriftsteller und seine Sprache«, einem Interview aus den sechziger Jahren, erklärt, eine Schreibweise der »Nicht-Kommunikation« (WkL 96):97 Die Wörter dienen hier nicht der Mitteilung, sondern sie vollziehen eine »Aneignungsschöpfung« (WkL 96). »Es geht darum, durch die Wörter den ›Tisch‹ zu schaffen; man schafft das Äquivalent für Tisch, und er ist darin gefangen«. Der Schriftsteller ist der Auffassung, »man brauche nur ein paar Wörter hinzuschreiben, ein paar schöne Wörter, die gut zusammenpassen, und man eigne sich etwas an« (WkL 96). So erschafft er ein sprachliches Gebilde, das »eine Art Reproduktion oder Produktion des Tisches« ist (WkL 97). Während Sartre in Was ist Literatur? erklärt hat: »Kunst gibt es nur für und durch andre« (WiL 39), so relativiert er nun diese Überzeugung: »(W)enn man sagt, die Schriftsteller schrieben immer für andre, so stimmt das nur langfristig, ursprünglich stimmt es nicht. Es gibt die zweifellos magische Vorstellung vom Wort, nach der man schreibt, um zu schreiben. Man schafft Wörter, man schafft zumindest Gebilde, man macht ein Wort, so wie man als Kind eine Sandburg macht, um der Schönheit der Burg willen, nicht zum Vorzeigen; oder wenn man es später vorzeigt, sind die Leser jedenfalls genauso unwesentlich wie die Eltern, die man hinführt, um zu sagen: ›Sieh mal, was für eine schöne Sandburg ich gemacht habe‹, und die dann sagen: ›Oh, die ist aber schön, diese Sandburg‹« (WkL 96). Solcherart ist die Funktion des Lesers bei diesem »erste(n) Schritt eines Schriftstellers« (WkL 97). Dieser Moment, in dem die Wörter wie die Sandburg von selbst stehen sollen und ohne den niemand ein Schriftsteller wäre (vgl. WkL 97), wird nach Sartre überschritten, sobald die Beziehung zum Anderen auftaucht. Die Übereinstimmung mit den Ausführungen in Saint Genet fällt ins Auge, wenn Sartre erklärt: »In der Prosa gibt es Wechselseitigkeit; in der Poesie, meine ich, dient der Andre einzig als Enthüller« (WkL 106). Die »literarische Prosa« (WkL 97) soll sich nun dadurch auszeichnen, daß sie zwar die Poesie nicht aufgibt, d. h. den Gegenstand nach wie vor imaginär durch Wörter reproduziert, aber zugleich mit dem Leser kommuniziert. Darin unterscheidet sie sich von der »reine(n) Kommunikation«, die nach Sartre auf eine poetische Schreibweise verzichtet, ja sogar verzichten soll (vgl. WkL 97, 105). An dieser Stelle wird jedoch das Verhältnis von Nicht-Kommunikation und Kommunikation, durch das sich die literarische Prosa gegenüber der reinen Poesie und der reinen Kommunikation abgrenzt, nicht genau97
Für Jakobson weist »die Poetizität der verbalen Aussage nachdrücklich« darauf hin, »daß es eigentlich nicht um Kommunikation geht« (»Was ist Poesie?«, 75). Siehe zur Abgrenzung der poetischen Sprachverwendung von der sprachlichen Mitteilung auch Mukarovsky, »Die poetische Benennung und die ästhetische Funktion der Sprache«, 45 f. u. ders., »Der Strukturalismus in der Ästhetik und in der Literaturwissenschaft«, 28.
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er ausgeführt. Offenbar ist die Poesie notwendig für die Literatur, während die Prosa zwar wünschenswert, alles in allem jedoch eher fakultativ bleibt: Es kann in der Literatur Poesie ohne Prosa geben, und es gibt, wie man den kursorischen Äußerungen entnehmen kann, auch für den späten Sartre Prosa in der Literatur – die Ausgangsfrage dieses Abschnitts kann daher bejaht werden.98 Aber es ist keine Literatur – und damit auch keine literarische Prosa – ohne Poesie möglich. Trotz der wertvollen Hinweise, die Saint Genet und »Der Schriftsteller und seine Sprache« bieten, findet sich eine ausführliche Konzeption der literarischen Kommunikation, welche ja die Frage des Engagements und der Kommunikation klären müßte, erst im dritten der Tokioer Vorträge Sartres aus dem Jahr 1965, die unter dem Titel »Plädoyer für die Intellektuellen« veröffentlicht wurden. Dieser späte Entwurf einer Literaturtheorie faßt einerseits die Phasen der Weiterentwicklung gegenüber Was ist Literatur? zusammen, andererseits wird durch ihn deutlich, daß auch die in der Flaubert-Studie entfaltete Literaturkonzeption für Sartre nicht nur die idiosynkratische Auffassung eines überspannten Schriftstellers namens Flaubert diagnostiziert, sondern den Anspruch einer verallgemeinerbaren Theorie der Literatur erhebt. Im »Plädoyer für die Intellektuellen« muß Sartre also nun zeigen, wie innerhalb der Literatur Kommunikation und Engagement – und das bedeutet: literarische Prosa – möglich sind, wenn jeder Schriftsteller die Sprache als Ding behandelt und die Priorität der Nicht-Kommunikation feststeht. Im dritten seiner Tokioer Vorträge hebt Sartre als entscheidend für die Literatur hervor, daß der Schriftsteller die gewöhnliche Alltagssprache als Material seiner Kunst wählt. Jede Sprache wird verwendet, um etwas zu sagen. Sie ist ein Kommunikationsmittel, das ein Höchstmaß an Information vermitteln und die »Desinformationsstrukturen« (PI 132) auf ein Minimum beschränken soll: »Das kann beispielsweise eine technische Sprache sein (die auf Konventionen beruht, spezialisiert ist, in der die verwendeten Wörter genauen Definitionen entsprechen, so daß der Kode den desinformierenden Einflüssen der Geschichte soweit wie möglich entzogen wird)« (PI 132 f.). Die Alltagssprache enthält ein sehr großes Maß an Desinformation: Es gibt wechselseitige Einflüsse der Wörter und der syntaktischen Regeln, die zu Unbestimmtheiten führen. Die ganze Sprache unterliegt einem geschichtlichem Bedeutungswandel. Hinzu kommen regionale Unterschiede, unterschiedliche soziale Gruppen mit ihrem eigenen Jargon usw. (vgl. PI 134; KDV 103). Das Wort des Schriftstellers ist darum immer mehrdeutig und überdeterminiert; seine Eindeutigkeit kann niemals garantiert werden, da es »von weitaus grö98
Es könnte allerdings immer noch möglich sein, daß Sartre zwar die Existenz der literarischen Prosa behauptet, diese Behauptung aber aufgrund seines Argumentationsgangs nicht zu halten ist. Dies wird sich im folgenden erweisen.
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ßerer Materialität« ist »als beispielsweise das mathematische Symbol – das gegenüber dem Signifikat verschwindet« (PI 133).99 Im Gegensatz zur kontrollierten technischen Sprache bewahrt die Alltagssprache aufgrund ihrer Materialität immer eine gewisse Autonomie.100 Das Wort der Gemeinsprache ist zunächst zu reich, da es auf eine Tradition zurückverweist, also sozusagen ein »Gedächtnis« bewahrt. Es ist aber auch zu arm, weil es nie etwas Neues auszudrücken vermag. In den Naturwissenschaften wird bei jeder Neuentdeckung auch das entsprechende Wort zu ihrer Bezeichnung erfunden (vgl. PI 133) und schließlich zur allgemeinen Übereinkunft erhoben (vgl. Entropie, Kybernetik, imaginäre Zahlen, Tensor usw.). Der Schriftsteller erfindet zwar auch gelegentlich Neologismen, in der Regel besteht sein Vorgehen jedoch darin, »ein gängiges Wort zu verwenden und es mit einem neuen Sinn zu versehen, der zum früheren hinzukommt« (PI 133).101 Der manifestierte Inhalt z. B. eines Romans bezieht sich entweder auf die objektive Welt – Sartre meint damit z. B. die Epoche und »die soziale Umwelt der Rougon-Macquart« (PI 136) in Zolas Romanzyklus – oder auf die subjektive Welt: »(H)ier geht es nicht um Analyse oder Distanzierung, sondern um komplizenhafte Zustimmung: Naked Lunch von Burroughs« (PI 136). Dennoch gibt auch der ›objektive‹ Roman die Gegenwart des schreibenden Subjekts preis. Für jemanden, der mit der Schreibweise Zolas vertraut ist, ist es nicht schwer, diesen Autor wiederzuerkennen, auch wenn man ihm nicht verrät, wer die ihm vorliegenden Seiten verfaßt hat: »Man liest die epischmythische Beschreibung der Wäscheausstellung in Au bonheur des dames und sagt sich: ›Das ist Zola‹« (PI 137). Was genau kommt hier zum Vorschein? Auf welche Weise bringt sich Zola als Produkt einer Gesellschaft, die er »mit den Augen sieht, die sie ihm gegeben hat« (PI 137), in seine Bücher ein? Selbst der naturalistische Schriftsteller will, wie Sartre hervorhebt, nicht nur objektive Tatsachen entdecken, denn dann wäre er Wissenschaftler, aber kein Romanautor geworden: »Der
99
Vgl. M. Seel, ebd., 174. Vgl. PI 142: »Das Wort grenouille (Frosch) oder das Wort boeuf (Ochse) haben eine auditive und optische Gestalt: sie sind anwesend. […]. La grenouille qui veut se faire aussi grosse qu’ un boeuf enthält in der unentwirrbaren Verflechtung seiner Materialität und seiner Bedeutung viel mehr Körperlichkeit (corporité) als ›x – y‹«. 101 Barthes hat diesen Sachverhalt auf ganz ähnliche Weise dargestellt: »Die Literatur hat ein besonderes Statut, das sich daraus ergibt, daß sie aus Sprache gemacht ist, das heißt mit einem Material, das bereits etwas bedeutet, wenn sie sich seiner bemächtigt. Die Literatur muß in ein System schlüpfen, das ihr nicht gehört, das aber schließlich zu dem gleichen Zweck funktioniert wie sie selbst: mitteilen. Es ergibt sich daraus, daß die Zwistigkeiten der Sprache und der Literatur gewissermaßen das Wesen der Literatur ausmachen. Struktural gesehen ist die Literatur nur ein parasitäres Objekt der Sprache« (»Literatur und Bedeutung«, 108). 100
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objektive Schriftsteller will in seinen Büchern unsichtbar, aber spürbar gegenwärtig sein«. Und er will es nicht nur, er könnte auch gar »nicht verhindern, daß er es ist« (PI 137). Umgekehrt können auch die sogenannten ›subjektiven Schriftsteller‹ wie Burroughs nicht umhin, ebenfalls die Gegenwart ihrer objektiven Welt zu manifestieren. Denn ihre Art zu schreiben hat ihren Ursprung in dem besonderen Platz, den sie in einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt einnehmen: »(D)a, wo sie mit sich selbst im völligen Einklang sind, erkennt man bei ihnen eine Partikularisierung des bürgerlichen Idealismus und des Individualismus« (PI 137). In jedem Fall ist das Thema der Literatur, wie Sartre hervorhebt, das individuelle Erleben des Allgemeinen.102 Das Individuelle existiert nur situiert im Allgemeinen, also als Produkt geschichtlich-gesellschaftlicher Verhältnisse. Anderseits existiert das Allgemeine immer nur so, wie es aus einer bestimmten individuellen Perspektive als erdrückend, aussichtsreich, bewahrenswert usw. erlebt – nicht erkannt – wird. Sartre bezeichnet dieses dialektische wechselseitige Verhältnis mit einem Terminus von Heidegger als In-der-Welt-sein (vgl. PI 138 f.). Die Humanwissenschaften geben nur einen unvollständigen Aspekt der conditio humana wieder. Sie stellen ein Wissen, d. h. allgemeine Bestimmungen des Menschen, zur Verfügung, das auch für den Schriftsteller »alles andere als unnütz ist« (PI 139): »(I)ch bin ein Kleinbürger, Sohn eines Marineoffiziers, Halbwaise, mein einer Großvater ist Mediziner, der andere Lehrer, ich habe die bürgerliche Kultur empfangen, so wie man sie zwischen 1905 und 1929, dem Datum, an dem mein Studium offiziell endete, verabreichte; zusammen mit bestimmten objektiven Vorgaben meiner Kindheit haben mich diese Fakten für bestimmte neurotische Reaktionen prädisponiert, die ich kenne« (PI 139). Auch wenn dieses Wissen noch so sehr die Selbsterkenntnis vertieft, erhellt es den Menschen nur in seiner Objektivität. Man könnte also im Blick auf Sartres Irrealisationstheorie feststellen, daß die Wissenschaften den Menschen irrealisieren, indem sie die Dimension der Kommunikation, der Praxis und des Entwurfs ausblenden.103 Die adäquate Sprachverwendung für die 102
Damit ist offensichtlich nicht gemeint, alle Literatur diene letztlich dazu, die individuelle Persönlichkeit des Autors darzustellen, denn das individuelle Erleben des Allgemeinen verweist ebenso auf das Allgemeine – selbst dort, wo die Literatur wie bei Burroughs betont subjektiv ist –, wie auf das Individuelle – selbst dort, wo das Thema des Romans wie bei Zola das Allgemeine ist. 103 Das Verhältnis von Objektivität und Subjektivität des Menschen bzw. von Faktizität und Transzendenz aus Das Sein und das Nichts findet sich in der Spätphilosophie als Verhältnis von Allgemeinem und Individuellem wieder. Sartre denkt z. B. hinsichtlich der Objektivität an die Klassen- und Gruppenzugehörigkeit eines Menschen. Die Objektivität ist hier all das, wodurch er allgemein – z. B. ein Bürger, ein Lehrer usw. – wird. Dies führt zu einer Identifikation der Faktizität des Menschen mit seiner Allgemeinheit, wobei die Frage gestellt werden könnte, ob es Sartres spätem Denken zufolge keine individuelle Faktizität gibt und ob diese Konsequenz plausibel ist.
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Humanwissenschaften wäre die reine Kommunikation bzw. die nicht-literarische Prosa, die die Erkenntnis des Allgemeinen über Bedeutungen vermittelt. Die Literatur beschreibt jedoch, wie dieses Allgemeine individuell erlebt wird, deswegen kann sie einerseits den Wissenschaften keine wertvollen Informationen vermitteln, andererseits erfüllt sie jedoch eine Aufgabe, die ihr keine Wissenschaft streitig machen kann. Aber diese Aufgabe kann sie nicht vermittels der Bedeutungen erfüllen. Insofern im wissenschaftlichen Sinn nur das Allgemeine: objektive Daten, gesellschaftliche Zusammenhänge usw., gewußt und darum durch Bedeutungen wiedergegeben werden kann, bringt die Literatur niemals eine Wissensvermittlung hervor. Das individuelle Welterleben ist sozusagen ein »Nicht-Wissen« (PI 142) und ein »Nicht-Kodifiziertes«.104 Nach Sartre ist das literarische Werk, jener doppeldeutige Gegenstand, für den Schriftsteller die einzige Möglichkeit, von seinem individuellen In-derWelt-sein Zeugnis abzulegen. »(D)as literarische Objekt muß dieses Paradox bezeugen, welches der Mensch in der Welt ist, nicht indem es Erkenntnisse über die Menschen liefert (damit wäre der Autor ein Amateurpsychologe, ein Amateursoziologe etc.), sondern, indem es das In-der-Welt-Sein in dieser Welt als konstitutives und unsagbares Verhältnis aller zu allem und zu allen zugleich objektiviert und subjektiviert« (PI 141). Wie kann es dem Autor gelingen, über die allgemeinen Bedeutungen der Wörter hinaus ein einzigartiges Welterleben erfahrbar zu machen?105 Auf den ersten Blick sperrt sich die Sprache gegen eine solche Absicht.106 Schon in den alltäglichen Situationen drängt sie sich auf, läßt mich etwas anderes sagen, als ich eigentlich beabsichtigte. In diesem Sinn kann man sagen, daß die Sprache mich spricht, insofern ich z. B. durch die Phrase ›Guten Tag, wie geht es Ihnen?‹ einen Gemeinplatz des Diskurses reaktualisiere, der sich im Grunde meiner bedient, um sich zu behaupten. Meine persönlichen Intentionen werden »durch das artikulierte Ensemble der Morpheme umgeleitet, begrenzt, verraten und bereichert« (PI 143). Sartre bietet die folgende Einzel-
104
Maler, Sartres Individualhermeneutik, 114. Der Anspruch, ein individuelles Welterleben bzw. ein einzelnes Allgemeines zu vergegenwärtigen, wird von Sartre durchaus auch in einem normativen Sinne verstanden; mit anderen Worten, das literarische Werk kann unter dem Blickwinkel dieses Maßstabs auch mißlingen. So ist etwa Flauberts Smarh zu allgemein, weil es die Individualität aus dem Blick verliert, während die Mémoires d’un fou zu intim bzw. individuell sind, als daß sich der Leser in ihnen wiederfinden könnte (vgl. IF 3, 876, 888). Flaubert findet eine Lösung für dieses Problem, das ihn Sartre zufolge bis zur Verzweiflung getrieben hat, schließlich in Madame Bovary: »Die Einzelheit beruhigt den Leser zunächst, dann fasziniert sie ihn, und schließlich nimmt er, zu spät, wahr, daß sie das Allgemeine enthielt und daß dieses Schicksal, das ihm erzählt wird, trotz der unaufhebbaren Unterschiede nur sein eigenes war« (IF 3, 888). 106 Vgl. Frank, »Das Individuum in der Rolle des Idioten«, 90. 105
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analyse: »Im Französischen gibt es zwei Geschlechter – männlich und weiblich – die jeweils durch das andere begreifbar sind«. Zwar bezeichnen »diese beiden Geschlechter […] tatsächlich Männer und Frauen, darüber hinaus aber, infolge einer langen Geschichte, bezeichnen sie Gegenstände, die an sich weder männlich noch weiblich, sondern Neutra sind; in diesem Fall besitzt die geschlechtliche Dichotomie keine begriffliche Bedeutung« (PI 134). Der Schriftsteller kann diese nicht-bedeutende Materialität der Sprache geschickt einsetzen, um einen ganz bestimmten Sinngehalt zu konstituieren. Sartre entwickelt sein Beispiel weiter: »Sie [die geschlechtliche Dichotomie – Anm. J. B.] wird desinformativ, wenn sie so weit geht, die Rollen zu vertauschen, das weibliche Genus auf den Mann und das männliche auf die Frau anwendet. Einer der größten Schriftsteller unserer Zeit, Jean Genet, liebte Sätze wie: ›les brulantes amours de la sentinelle et du mannequin‹ […]. ›Amour‹ ist im Singular männlich und weiblich im Plural; ›la sentinelle‹ ist ein Mann, ›le mannequin‹ eine Frau. Sicher, dieser Satz übermittelt eine Information: dieser Soldat und diese Frau, die Kleiderkollektionen vorführt, lieben sich leidenschaftlich« (PI 134 f.). Die Information wird auf eine Weise vermittelt, daß der geschriebene Satz gleichzeitig auch desinformiert, was kein unglückliches Versehen darstellt, sondern Genets Absicht ist. In diesem Fall läßt sich der wenig komplexe Sinn noch in Bedeutungen übertragen: »(D)er Mann wird verweiblicht, die Frau vermännlicht« (PI 135). Das Verhältnis von Poesie und literarischer Prosa ließe sich also im Ausgang von Sartre folgendermaßen bestimmen: Der Poet erschafft aus Wörtern imaginäre Objekte; der literarische Prosaist tut zwar zunächst dasselbe, aber er tut dies, weil das, was er kommunizieren möchte, nur auf diese Weise – also jenseits der Bedeutungen, jenseits der pragmatischen Prosa – vermittelbar ist. Die Stufe der literarischen Prosa ist dann erreicht, wenn das imaginäre Objekt, das die Poesie hervorgebracht hat, die Kommunikation eines Sinns gewährt, der ein individuelles In-der-Welt-sein zugänglich macht.107 Insofern das Individuelle nur dank einer Irrealisierung der Wörter das Thema der Kommunikation sein kann, ist in der literarischen Prosa die nicht-signifikante Schicht der Sprache das Mittel der Kommunikation. Poesie und Prosa finden zusammen, wenn das Engagement und die Kommunikation der Prosa darin besteht, dem Leser ein individuelles Welterleben erfahrbar
107
Die Poesie erschafft imaginäre Objekte, die einen Selbstzweck haben; die literarische Prosa erschafft imaginäre Objekte, die in einen Kommunikationszusammenhang eingebunden sind. Allerdings verschwimmt die Differenz zwischen Poesie und Prosa, wenn man einerseits bedenkt, daß es wohl kein imaginäres Objekt ohne einen Sinn gibt und andererseits im Grunde nicht besonders trennscharf zu unterscheiden ist, ob ich diesen Sinn poetisch enthülle oder ob er mir prosaisch mitgeteilt wird.
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werden zu lassen, und dies nur vermöge eines imaginären Sinns möglich ist, den die Poesie konstituiert. Die Ebene der Bedeutungen spielt also gegenüber der früheren Literaturtheorie zwar eine unentbehrliche, aber doch eher untergeordnete Rolle.108 Nicht der »anekdotische Inhalt zählt, es geht um das Erfassen der Welt über diesen anekdotischen Inhalt« (WkL 81), der z. B. »eine erzählte Geschichte« sein kann, die sich durch die »Verknüpfung von Bedeutungen« (PI 135) konstituiert. Indem der Schriftsteller die allgemeinen Bedeutungen seiner historischen Sprache überdeterminiert, will er auf »indirekte Weise zum Ausdruck bringen, was sich auf direktem Wege, also mit Hilfe der allgemein sagbaren Bedeutungen des Wörterbuchs, nicht sagen läßt: sein individuelles Welterleben«.109 Auf diese Weise ereignet sich die Kommunikation eines strenggenommen nicht-kommunizierbaren Sujets: »(D)er Prosaist hat zwar etwas zu sagen, doch dieses Etwas ist nichts Sagbares, nichts Konzeptuelles und nichts Konzeptualisierbares, nichts Bedeutendes« (PI 135). Diese Haltung überschreitet die Nicht-Kommunikation der reinen Poesie: »Den Schriftsteller kennzeichnet jedoch, daß er denkt, die Sprache sei […] totales Kommunikationsmittel, und zwar nicht trotz den Sprachschwierigkeiten – trotz der Tatsache, daß ein Wort mehrere Bedeutungen hat, daß die Syntax häufig mehrdeutig ist –, sondern gerade wegen der Sprachschwierigkeiten« (WkL 98). Dank der Arbeit des Stils ist es möglich, die Welt – das Allgemeine, das der informative Gehalt ausdrückt – aus einer individuellen Perspektive zu präsentieren. Sartre räumt hier dem Stil eine wesentlich größere Bedeutung ein als noch in Was ist Literatur? Er wird, wie sich schon bei der Erörterung der Flaubert-Studie gezeigt hat, zum Schlüsselbegriff der späteren Literaturtheorie. Die konventionellen Bedeutungen tauchen nicht unverändert in einem literarischen Text auf, »weil sie ausgehend vom Stil gebildet werden, durch den Stil zum Ausdruck kommen und daher von ihrem Ursprung an getrübt sind« (PI 145).110 Sartre fährt fort: »In der Tat vermittelt der Stil keinerlei Wissen: er bringt das einzelne Allgemeine hervor, indem er die Sprache als Allgemeinheit, die den Schriftsteller erschafft und in seiner Faktizität vollständig bedingt, und zugleich den Schriftsteller als Wagnis zeigt, der seine Sprache umleitet oder ihre Eigentümlichkeiten und Doppeldeutigkeiten übernimmt, um von seiner praktischen Singularität Zeugnis abzulegen und seine erlebte Beziehung zur Welt in der materiellen Gegenwart der Wörter 108
Während der propositionale Gehalt der Sätze ›Die Katze liegt auf der Matte‹ und ›Auf der Matte liegt die Katze‹ identisch ist, würde Sartre also trotz dieser Identität der Bedeutung auf der Differenz des Sinns bestehen. Sofern hier dennoch von ästhetischer Erkenntnis gesprochen werden kann, ist sie zumindest nicht propositional (vgl. auch ganz ähnlich M. Seel, ebd., 192; sowie Bubner, »Zur Analyse ästhetischer Erfahrung«, 65). 109 Maler, ebd., 113; vgl. Dahlhaus, ebd., 97. 110 Vgl. Dahlhaus, ebd., 118 f..
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einzufangen« (PI 144).111 Jedes literarische Werk ist darum einer doppelten Entschlüsselung zugänglich, da es sowohl den allgemeinen als auch den individuellen Aspekt des In-der-Welt-seins artikuliert. Das genuine Thema der literarischen Kommunikation, also das individuelle Welterleben, spaltet sich auf in das Subjekt, wie es von der Welt hervorgebracht wird, und in die Welt, wie sie vom Subjekt erlebt wird. Das Buch »ist sowohl die Subjektivierung des Objektiven und die Objektivierung des Subjektiven« (IF 2, 325).112 Auch nach Ansicht des späteren Sartre soll der Schriftsteller sich bewußt werden, daß er immer für seine Epoche schreibt: »Die Literatur einer Epoche ist die durch ihre Literatur verdaute Epoche« (WkL 13). Diese Einbin111
In erstaunlicher Übereinstimmung heißt es schon bei Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, 172, »daß von keinem Stil sich ein Begriff geben [läßt]« – vorausgesetzt man versteht unter Stil nicht »nur die Behandlung der Sprache«, sondern auch die »eigentümliche Art, den Gegenstand aufzufassen« (ebd., 168): »Grammatisch kann man keine Individualität in einem Begriff zusammenfassen« (ebd., 172). Selbst wenn der Vorwurf, Sartre reduziere die Literatur auf eine Selbstdarstellung des individuellen Autors, zu kurz greift, da es ihr gleichermaßen auch um die Darstellung der historisch-sozialen Welt geht, läßt sich doch bezweifeln, daß die Individualität wirklich nur in der Literatur zur Geltung kommt und z. B. wissenschaftliche Texte nicht in der Lage seien, das Individuelle zu artikulieren, insofern sie nur mit allgemeinen Bedeutungen operieren. So stellt z. B. der Prager Strukturalist Mukarovsky in Abrede, daß das Individuelle eine Spezifität der Literatur sei: »Schließlich charakterisiert auch das Individuelle, die betonte Eigenart des Sprachausdrucks, die Dichtersprache nicht allgemein: abgesehen davon, daß ein ausgeprägt individueller Stil auch außerhalb der Dichtung möglich ist, z. B. in der wissenschaftlichen Äußerung, muß man beachten, daß ganze Entwicklungabschnitte existieren, in denen die Dichtersprache das Individuelle des Ausdrucks vermeidet. So wurde z. B. in klassizistischen Epochen festgelegt, welche Wörter, ja sogar welche dichterischen Bilder in der Poesie verwendet werden dürfen, um ein Hindernis für die individuelle Invention aufzubauen. Schließlich gibt es ganze Bereiche in der Dichtung, deren Stilkanon sich aus festen konkreten Konventionen und Formeln zusammensetzt, die für jedes schaffende Individuum bindend sind« (»Über die Dichtersprache«, 143; vgl. ders., »Der Strukturalismus in der Ästhetik und in der Literaturwissenschaft«, 16). Sartre könnte auf zweierlei Weise auf diesen Einwand antworten: Entweder ließe sich zugeben, daß seine Literaturauffassung eben nur für eine bestimmte historische Epoche Gültigkeit beanspruchen wolle, aus diesem Grund aber auch nicht durch den Verweis auf frühere Literaturformen widerlegt werden könne. Eine solche Entgegnung würde auf allgemeine Wesensbestimmungen verzichten. Eine andere Möglichkeit, die m. E. ebenso kohärent aus den bisherigen Überlegungen folgen würde, bestünde umgekehrt darin, den Wesensbegriff starkzumachen und zu betonen, daß die Literatur erst in der Nachromantik zur reinsten Entfaltung ihres Wesens gelange und frühere Formen letztlich also als defizitär anzusehen seien. Im übrigen würde Sartre entgegnen, daß die ›festen konkreten Konventionen und Formeln des Stilkanon‹ durch ihre konkrete Anwendung individuell ausgelegt und damit überschritten werden – aber findet dies nur in der Literatur statt? 112 Schleiermacher unterscheidet ganz ähnlich zwischen der grammatischen Interpretation, die den objektiven, und der technischen Interpretation, die den subjektiven Sinn eines Textes ermittelt (ebd., 94 f.).
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dung kann in Frustration, Enthusiasmus, Entfremdung usw. erlebt werden: Es gibt unendlich viele Formen des Verhältnisses zwischen Einzelnem und Allgemeinem, aber ein literarisches Werk ist in Sartres Augen nur dann gelungen, wenn es über das Ganze Auskunft gibt (vgl. WkL 45): »Das Ganze, das heißt die gesellschaftliche Vergangenheit und die historische Konjunktur, die erlebt, aber nicht erkannt werden« (PI 147). In letzter Konsequenz artikuliert der Sinn für Sartre also ein über die Materialität der Sprache vermitteltes unsagbares und individuelles Erleben der ganzen Welt. In veränderter Form findet sich erneut das Postulat des Engagements,113 und wieder vermischen sich ethische und ästhetische Imperative: »Wenn die Literatur nicht alles ist, ist sie nicht der Mühe wert. Dies will ich mit ›Engagement’ sagen […]. Wenn jeder niedergeschriebene Satz nicht auf allen Ebenen des Menschen und der Gesellschaft widerklingt, bedeutet er nichts […]. Nur ein Totum kann schön sein« (WkL 13). Das In-der-Welt-sein eines jeden Schriftstellers wird 1965 unweigerlich als ein »In-der-One-world-Sein« (PI 147) mit allen ihren spezifischen Ängsten und Sorgen erlebt. Daraus folgt für Sartre: »Jeder Schriftsteller, der nicht vorhätte, die Welt der Atombombe und der Weltraumforschung so wiederzugeben, wie er sie im Dunkeln, in Ohnmacht und Sorge erlebt hat, würde von einer abstrakten Welt und nicht von dieser hier sprechen, er wäre allenfalls ein Spaßmacher oder ein Scharlatan«. Dabei ist es völlig »unerheblich«, auf welche Weise er von seiner historischen Verankerung berichtet: »(E)s genügt, wenn eine sich vage dahinschleppende Angst von dem Vorhandensein der Bombe zeugt, man braucht die Bombe keineswegs zu erwähnen« (PI 147 f.). Ein Mensch, der den Atomkrieg fürchtet, kann keine aufrichtige Kunst machen, wenn er Gedichte über Vögel schreibt (vgl. WkL 45). Alle diese Ängste müssen zwar berührt, aber nicht zwangsläufig auch als benannte Realitäten in dem Buch erscheinen. Eine direkte Bezeichnung hält Sartre gar nicht für unbedingt wünschenswert: »Die Atombombe wird viel deutlicher erscheinen, wenn wir ein Werk lesen, das nicht davon spricht, dem Menschen heute aber seine Sicht von sich selbst geben will, und das folglich von der Bombe bewohnt, heimgesucht wird, als wenn wir uns verpflichtet glauben, eine schöne übrigens ziemlich komische Geschichte zu erfinden, wie den Film Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben« (WkL 81, vgl. auch 49).114 113
Infolge der gegenüber Was ist Literatur? veränderten Begründung könnte ein Engagement jetzt wieder mit demselben Recht von allen Kunstformen gefordert werden. 114 Wäre es also dann nicht doch möglich, ein Gedicht zu schreiben, das auf der Bedeutungsebene Vögel zum Thema hat, über den Stil jedoch einen Sinn vermittelt, in dem die Angst vor der atomaren Bedrohung spürbar wird? Das Verhältnis von indirektem, über die irrealisierten Wörter vermittelten Sinn und der direkten konventionellen Bedeutung erläutert Sartre anhand der folgenden biographischen Begebenheit: »Ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit eine amüsante Anekdote erzählen. Man hat mir eines Tages zwei Ma-
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Zu Beginn dieses Abschnitts wurde die zentrale Frage formuliert, ob Kommunikation und Engagement noch möglich sind, wenn die Literatur die Bestimmungen aufweist, die in der Flaubert-Studie beschrieben werden. Eine bejahende Antwort findet sich zwar im »Plädoyer für die Intellektuellen« und verschiedenen Interviews und Reden in deren zeitlichen Umfeld, aus dem ebenfalls soeben zitiert wurde. Aber damit sind sogleich wieder neue Fragen verbunden. Die Vermittlung eines unsagbaren Sinns, in dem sich ein individuelles Welterleben artikuliert, kann als Kommunikation und Engagement aufgefaßt werden, aber wäre dann nicht auch Flauberts Literatur engagiert?115 Wenn am Anfang dieses Abschnitts die Frage stand, wie literarische Prosa möglich sein soll, da alle Literatur die Sprache als Ding behandelt, so findet sich nun die umgekehrte Frage, wie reine Poesie möglich sein soll, wenn die Stufe der literarischen Prosa bereits erreicht ist, sobald ein individuelles Welterleben über die Materialität der Bedeutungen vermittelt wird. Das sprachliche Erscheinungsbild des Textes fällt als Unterscheidungskriterium offensichtlich weg, aber auch das Leserverhältnis ist eher unzuverlässig: Woran erkenne ich als Leser, ob ich bei diesem Text nur als »Zeuge« (WkL 106) oder als Kommunikationspartner vorgesehen bin? Dieses Problem ist allerdings von außen an »Plädoyer für die Intellektuellen« herangetragen, denn bezeichnenderweise operiert diese Schrift nicht mit der Gegenüberstellung von Poesie und Prosa, was als Hinweis gewertet werden kann, daß sie nicht länger jenen bedeutsamen Stellenwert für die Literaturtheorie Sartres einnimmt. Der Schriftsteller vermittelt nicht mehr wie der nuskripte anvertraut. Das eine war von einem Neurotiker, der von seiner Neurose sprach und ein Mittel gefunden hatte, sie spürbar zu machen: er sprach die ganze Zeit von der Atombombe und stellte sich die Frage: ›Warum haben die Leute bloß keine Angst vor der Atombombe?‹ Und der andre, der im Gegensatz dazu, die Furcht vor der Atombombe spürbar machen wollte, hatte eine Welt so beschrieben, als wäre es eine Welt von Neurotikern, aber ohne dafür die geringste Erklärung zu geben. Irgendwelche Leute machten fortwährend etwas, ohne daß man wußte, warum; man hatte den verschwommenen Eindruck, daß sie es nicht hätten machen sollen, aber man wußte nicht, was, man wußte nicht, warum. Von diesen beiden Manuskripten sprach das, was von der Atombombe sprach, in Wahrheit nicht davon, und das, was nicht davon sprach, sprach davon« (WkL 82). Mukarovsky nennt drei verschiedene Formen, in denen sich die Weltanschauung des Dichters im sprachlichen Kunstwerk artikulieren kann: »(E)inmal ist die Weltanschauung unmittelbar im gedanklichen Inhalt des Werks ausgesprochen, ein andermal ist sie mit dem Thema indirekt und bildlich ausgedrückt, und schließlich kann sie in verborgener Weise in der Wahl und im Gebrauch der Ausdrucksmittel enthalten sein« (»Der Strukturalismus in der Ästhetik und in der Literaturwissenschaft«, 30). Die erste Form wäre für Sartre eine Kommunikation vermittels Bedeutungen, die anderen beiden Formen kommunizierten hingegen durch die Konstitution eines imaginären Sinns. 115 Wenn der Schriftsteller, wie Sartre selbst erklärt (vgl. PI 137), gar nicht verhindern kann, daß er in seinen literarischen Erzeugnissen selbst gegenwärtig ist, dann ist auch die reine Poesie von einem individuellen Welterleben durchdrungen.
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Prosaist in Was ist Literatur? vor allem ›glasklare‹ informative Bedeutungen, die mit dem Anspruch auf Eindeutigkeit die Welt enthüllen, sondern er bringt den stummen Anteil der Sprache zum Sprechen.116 Die Bedeutungen, also der genuin informative Aspekt der Sprache, dienen bei ihm nurmehr der Vermittlung des Nicht-Bedeutenden. »(E)r ist ein Handwerker, der ein bestimmtes verbales Objekt erzeugt, indem er die Materialität der Wörter bearbeitet, als Mittel nimmt er die Bedeutungen, und als Zweck setzt er sich das Nicht-Bedeutende« (PI 135). In Was ist Literatur? gilt diese Charakteristik nur für die Poesie (vgl. das Florence-Beispiel: WiL 18). Dies läßt noch einmal die Kluft deutlich werden, die die Literaturtheorie im späten Denken Sartres von derjenigen trennt, welche in Was ist Literatur? vertreten wird. Generell bedient sich der Schriftsteller der Materialität der Sprache, wohingegen Sartre zuvor von der Eindeutigkeit einer glasklaren Prosa-Sprache ausging, die scheinbar ungetrübt den Blick auf Aspekte der Welt richtet. Diesen Mythos eines transparenten Zeichens hat er offenbar spätestens in den sechziger Jahren aufgegeben. Der desinformative Gehalt der Sprache soll noch in Was ist Literatur? nicht genutzt, sondern – sofern vorhanden – beseitigt werden (vgl. WiL 213–218), wobei es dem Schriftsteller obliegt, auf dem Weg einer Ideologiekritik »die Sprache in ihrer Würde wiederherzustellen« (WiL 217). Sie soll von allen propagandistischen Entstellungen befreit werden. »Wenn wir den Wörtern ihre Fähigkeiten wiedergeben wollen, müssen wir eine doppelte Operation durchführen: einerseits eine analytische Reinigung, die sie von ihrem hinzugetretenen Sinn befreit, andrerseits eine synthetische Erweiterung, die sie der historischen Situation anpaßt« (WiL 217). Beseitigt werden soll der desinformative Gehalt allerdings nur in der Prosa. Die Poesie, die sich solche dunklen Anklänge gerade zunutze macht (vgl. das Florence-Beispiel), ist nicht mit dieser verantwortlichen Aufgabe betraut. Es fragt sich jedoch, ob sie überhaupt lebensfähig bleibt, wenn die Reinigung der Sprache tatsächlich vollzogen ist und die Wörter nur noch eine klare Bedeutung besitzen. Bei seinen gelegentlichen Versuchen, den Unterschied zwischen Prosa und Poesie abzumildern, entgegnet Sartre in der Rede »Was kann Literatur?« seinen Kritikern, daß das Florence-Beispiel aus Was ist Literatur? natürlich auch für die Prosa gelte (vgl. WkL 78). Auch dort werde mit der »Evokation von Bildern« (WkL 78) gearbeitet. Hier handelt es sich allerdings dann weniger um Mißverständnisse der Kritiker, sondern um Unklarheiten, die man Sartre selbst vorhalten muß. Prosa dient ihm in Was ist Literatur? in erster Linie dazu, etwas zu zeigen. Im Gegensatz zu den nachträglichen Berichtigungsversuchen findet sich in dieser systematischen Schrift eine deutliche Absage an eine Sprachverwendung in der Prosa, wie sie im Florence-Beispiel exemp116
Vgl. hierzu auch Howells, ebd., 187 ff.
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lifiziert wird: »Vor allem ist nichts unheilvoller als die literarische Übung, die, glaube ich, poetische Prosa genannt wird und die darin besteht, die Wörter für die dunklen Harmonien zu benutzen, die um sie herum erklingen und die aus einem vagen Sinn bestehen im Widerspruch zur klaren Bedeutung« (WiL 217). Es ist allerdings möglich, daß diese Bemerkungen keine prinzipielle, sondern wieder nur eine historische, auf die Situation des Schriftstellers von 1947 bezogene Gültigkeit beanspruchen. Sie bleiben allerdings ungenau, und man kann Sartre vorwerfen, daß er hier keine klaren Verhältnisse schafft. Von einer ›klaren Bedeutung‹ ist allerdings im dritten Vortrag des »Plädoyers für die Intellektuellen« keine Rede mehr. Man könnte auf der Grundlage dieses Textes eher im Gegenteil die Vermutung wagen, daß die Reinheit der Sprache die Literatur selbst beseitigen würde. Denn der Schriftsteller produziert verbale Objekte, »indem er die Materialität der Wörter bearbeitet« (PI 135), d. h. sich gerade ihrer Widerspenstigkeit bedient. Nach wie vor hat der Schriftsteller nach Sartre etwas zu sagen – aber dieses etwas ist nichts ›Sagbares‹, nichts Bedeutendes, wenn damit ein in allgemeiner Begrifflichkeit formulierbarer Sachverhalt gemeint ist. Engagierte Literatur erschöpft sich nicht mehr in der Bedeutungsgebung außerästhetischer Realität; sie gibt begrifflich nicht faßbares individuelles Erleben über einen durch die nicht-signifikanten Elemente der Sprache vermittelten Sinn wieder.117
117
Knapp hält die spätere Literaturkonzeption im Vergleich zur früheren für »entwickelter«: »(S)ie will nicht nur eine ›communication totale‹ ermöglichen, d. h. einen komplexen gesellschaftlichen Dialog, sondern versteht diesen vor allem als Enquete über die existentielle Wirklichkeit des Singulären« (»Sprache und Politik bei Sartre«, 141).
11. DAS IMAGINÄRE ALS GESELLSCHAFTLICHE STRUKTUR Im folgenden Kapitel charakterisiert die Irrealität keine Hervorbringung der Subjektivität und auch keine defizitäre soziale Begegnung, sondern dient vielmehr zur Bestimmung gesellschaftlicher anonymer Strukturen, die sich in verschiedenen kulturellen Bereichen manifestieren. Das Imaginäre erscheint im fünften Band der Flaubert-Studie als eine Qualität des Objektiven Geistes, der sich in epistemologische Schulen, klassenspezifische Alltagspraktiken, allgemeine Welt- und Menschenbilder, anonyme und überindividuelle Imperative und Regeln (z. B. das literarische Normensystem) differenziert.1 Von Anfang an läßt sich auch hier die schon bekannte Äquivokation finden: Irreal ist der Objektive Geist bzw. einige seiner Teilbereiche, wenn in ihnen widersprüchliche Imperative vorliegen, die keine reale Lösung zulassen. Der Widerspruch kann dann sozusagen nur ›im Traum‹, also auf irreale Weise – nach dem ersten Imaginationsparadigma –, gelöst werden. Das zweite und dritte Imaginationsparadigma kommt ins Spiel, insofern die Menschenfeindschaft als Triebfeder wissenschaftlicher Theoriebildungen, bestimmter Wertesysteme oder Kunstkonzeptionen geltend gemacht wird. Da für Sartre jede Sozialität immer ein bestimmtes mehr oder weniger implizites Menschenbild entwirft, tendieren alle gesellschaftlichen Teilbereiche entweder zur objektivierenden Irrealisierung oder zur kommunikativen Wechselseitigkeit. Irreal ist jedes Menschenbild, wenn es den Menschen nicht als Praxis anerkennt (vgl. SG 539). Eine solche Menschenverachtung, die immer – nach dem dritten Imaginationsparadigma – die Reduktion auf die Objektivität einschließt, führt z. B. auf dem Wege repressiver Staatsführung zur Einschränkung des Handlungsspielraums, also zur Passivität im Sinne des zweiten Imaginationsparadigmas. Wenn den Menschen die Praxis – vor allem auch die politische Praxis – versagt ist, so bleibt nur, von der Erfüllung der Ziele zu träumen. Hier zeigt sich, wie sich das Imaginäre nach dem ersten Imaginationsparadigma aus dem Imaginären nach dem dritten Imaginationsparadigma generiert. Den Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen bildet Sartres Bestreben, Flauberts subjektive Neurose mit dem historischen Stand der literari-
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Sartre übernimmt diesen Begriff zwar von Hegel, definiert ihn jedoch auf seine Weise: »Von unsrem Gesichtspunkt aus stellt der Objektive Geist die Kultur als praktisch-inert dar, das heißt als die Totalität der dem Menschen irgendeiner Gesellschaft aufgezwungenen Imperative an einem bestimmten (im übrigen beliebigen) Tag« (IF 5, 51). So sagt uns der objektive Geist »auf widersprüchliche, aber imperative Weise, wer wir sind, anders gesagt, was wir zu tun haben« (IF 5, 60).
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11. Das Imaginäre als gesellschaftliche Struktur
schen Evolution sowie mit der Mentalität seines zeitgenössischen Publikums zu vermitteln. Gegen Ende des Kapitels widmet sich die vorliegende Untersuchung der Frage, ob Sartre im fünften Band der Flaubert-Studie nicht letztlich seine eigenen literarischen Ursprünge aufdeckt. Während Maxime Du Camp, ein persönlicher Freund Flauberts, selbst Schriftsteller und späteres Mitglied der Académie française, glaubt, daß Flauberts offensichtliche psychische Störungen – jene ›Nervenkrankheit‹, die ihn in regelmäßigen Abständen aufs Bett wirft – ihn letztlich daran hindern, seine genialen literarischen Fähigkeiten vollkommen zu entwickeln (vgl. IF 5, 15 f.), wird im letzten veröffentlichten Band von Der Idiot der Familie die konträre These vertreten, es sei gerade jene von Sartre so bezeichnete Neurose, die sich als nützlich für Flauberts künstlerische Ambitionen erweise. Flauberts idiosynkratisches handlungsunfähiges Weltverhältnis ist, anders als Maxime Du Camp glaubt, kein bloßes Defizit, sondern »die Organisation einer neurotischen Instrumentalität«, welche »ihm die Mittel geben soll, nach den Prinzipien, die er sich gegeben hat, ›Kunst zu machen‹« (IF 5, 22).2 Kurz, die Neurose ist Sartre zufolge »das Mittel, Madame Bovary zu schreiben« (IF 5, 27). Ohne Zweifel ist Flaubert neurotisch, zugleich ist die Neurose aber auch die Bedingung künstlerischen Schaffens (vgl. IF 5, 30) – und zwar, so lautet Sartres These, die Bedingung künstlerischen Schaffens in Frankreich um 1850, sowohl hinsichtlich des für einen ›Autorlehrling‹ normativen Stands der Kunstentwicklung als auch hinsichtlich des Publikumsgeschmacks. Sartre vertritt in diesem Zusammenhang ein radikal historisierendes Literaturverständnis. So äußert er sich zunächst zustimmend gegenüber der Auffassung der nachsymbolistischen Künstlergeneration, nach der der Schriftsteller ein Wahnsinniger sein müsse. Und fügt dann jedoch einschränkend hinzu: »Allerdings kann ich nicht akzeptieren, daß sie verallgemeinern, als wenn Sinn und Funktion der Literatur – für das Individuum und für die Gesellschaft – sich nicht im Lauf der Geschichte ständig änderten, als wenn die Kunst nicht je nach den Epochen ihre Künstler nach verschiedenen Kriterien auswählte« (IF 5, 44).3 Einer literaturkritischen Beurteilung vergangener Kunstformen 2
Maxime Du Camp, der im übrigen Flauberts Krankheit für Epilepsie hält (vgl. IF 5, 16), beabsichtigt, mit seinem Publikum zu kommunizieren, und insofern entgeht ihm »das wichtigste literarische Faktum des Halbjahrhunderts, die einzigartige Trennung von Schriftsteller und Publikum« (IF 5, 21). Die deutlich herabsetzende Einschätzung von Du Camps schriftstellerischer Tätigkeit als anekdotische Kunst oder »Kunst des Journalismus« (IF 5, 18) divergiert deutlich von Sartres positiver Würdigung der Reportage, wie sie sich etwa in der programmatischen »Vorstellung der Temps Modernes« findet (vgl. MD 169 f.). 3 Einerseits hält Sartre Flauberts Ästhetik – jene »fruchtbare Perversion der Literatur« (IF 5, 21) – mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts für beendet, andererseits zeigt seiner Ansicht nach die Berufung des nouveau roman auf Flaubert, daß die Geschichte eines literarischen Werks genaugenommen niemals abgeschlossen ist (vgl. IF 5, 17).
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unter Inanspruchnahme zeitloser Normen, die etwa das Urteil erlaubten, es habe sich 1850 bei der Identifikation von Kunstwerken mit Krankheitswerken um eine Fehlentwicklung der Literatur gehandelt, wird damit von Sartre eine klare Absage erteilt. Wenn die Triftigkeit der historisch-gesellschaftlichen Publikumsentscheidungen beurteilt werden soll, so kommen Kriterien ins Spiel, die letztlich »nur das Produkt eines andren Moments der Geschichte oder im gleichen Moment einer andren sozialen Schicht mit andren Interessen und andren inneren Beziehungen zur bürgerlichen Klasse sind« (IF 5, 22). Ab 1830 ist die Neurose »der Königsweg zum Meisterwerk«, und einige von den Gründen hierfür sind, wie Sartre erklärt, »noch heute gültig, wenn auch mit viel weniger Virulenz« (IF 5, 44).4 Dies gilt aber nicht für die Zeit vor 1830, wobei Sartre vor allem an die Literatur des 18. oder des 17. Jahrhunderts denkt. In diesen Epochen mußte der Autor ein honnête homme, also ein gesellschaftlich voll integriertes und vorbildliches Individuum sein. Rousseaus Neurose ist für seine literarische Tätigkeit eher schädlich, er schreibt trotz und nicht dank ihr (vgl. IF 5, 45 f., Fußn. 15). Sartres Ausführungen zufolge, auf die im nächsten Abschnitt genauer eingegangen werden soll, bringt die literaturgeschichtliche Entwicklung zur Zeit von Flauberts literarischen Lehrjahren so strenge und widersprüchliche produktionsästhetische Imperative hervor, daß die zeitgenössische Literatur nur als Neurose-Kunst überleben kann. Strenggenommen sind es weniger die Werke als vielmehr die literarische Doktrin bzw. die ›Poetiken‹, die offensichtlich eine neurotische Struktur aufweisen. Demzufolge gilt, daß die Künstler »entweder Neurose werden spielen oder neurotisch werden sein müssen« (IF 5, 46).5 Insofern die Literatur im übrigen immer ein duales Ereignis ist, folgt daraus, daß ebenfalls die Leser zumindest für die Dauer der Lektüre »eine hervorgerufene kurze Neurose« (IF 5, 46) erleiden. Wie ist jedoch das Verhältnis zwischen der Neurose als Produkt familiärer Konflikte und der Neurose als historischem Imperativ der Literaturproduktion im Fall Flaubert einzuschätzen? Insofern Flauberts Prinzipien des literarischen Schreibens – Zurückweisung des Realen, Verweigerung der 4
In Was ist Literatur? erklärt Sartre, daß diese Phase der Literatur von 1848 bis zum Ersten Weltkrieg dauert (WiL 91). 5 Edmond de Goncourt schreibt 1870 an Zola: »Bedenkt, daß unser Werk, und das ist vielleicht seine Originalität, eine bitter erkaufte Originalität, auf der Nervenkrankenheit beruht« (zit. n. IF 5, 46, Fußn. 16). Grimm schlägt für diese Rezeptionshaltung, in der gelesen wird, um selbst zu schreiben, den Terminus ›produktive Rezeption‹ vor (»›Der Idiot der Familie‹ als Herausforderung an die Literaturgeschichtsschreibung«, 118). Gegenüber der gewöhnlichen Lesehaltung unterliegt die produktive Rezeption strengeren Anforderungen: »Bei diesem Rezeptionsmodus liegt der Zwang vor, die Widersprüche zwischen den praktisch-inerten Normen, in diesem Fall also in der ›geschaffenen Literatur‹, in einer neuen Totalisierung zu überwinden: der ›zu schaffenden Literatur‹« (ebd., 118 f.).
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menschlichen Zwecke, Unpersönlichkeit und Überfliegen – ihren Ursprung in einer pathologischen Familienkonstellation haben, sind sie als »ästhetische Normen« (IF 5, 29) natürlich unhaltbar. Seine Neurose ist das Produkt einer speziellen Familienkonstellation, auf die sie in ihrer »unreduzierbare(n) Besonderheit« (IF 5, 41) verweist. Auf der anderen Seite ist diese Neurose, die Flauberts Schreiben organisiert, mehr als ein rein familiäres Faktum: Um 1850 ist sie Sartre zufolge »Verinnerung und Rückentäußerung der zu schaffenden Kunst als widersprüchlicher Komplex unpersönlicher Imperative« (IF 5, 41).6 Mit anderen Worten, wenn in diesem historischen Moment eine neurotische Störung die einzige Möglichkeit ist, literarische Werke hervorzubringen, erweisen sich Flauberts idiosynkratische Prinzipien als »notwendige Fundamente einer neuen konkreten Auffassung der literarischen Kunst und ihres Gegenstands« (IF 5, 42). Sein Familienkonflikt prädestiniert ihn zur literarischen Avantgarde, weil in einer bestimmten historischen Situation die Kunst, um zu überleben, »neurotische Priester« (IF 5, 42) erfordert, und der unpersönliche Imperativ gilt: »(W)er heute schreiben will, muß irre werden« (IF 5, 41).
11. 1. Die objektiven Imperative der geschaffenen Literatur Flauberts Ästhetik, die sogenannte Neurose-Kunst antwortet zum einen auf die subjektive Neurose eines Individuums – die natürlich immer auch auf gesellschaftliche Bestimmungen verweist. Für Sartre ist sie jedoch zum anderen ebenso das Resultat der literarischen Evolution, d. h. sie ergibt sich aus der normativen Struktur der kanonisierten literarischen Werke, an denen sich ein Schriftstellerlehrling orientiert,7 bzw. des historischen Stands des 6
Infolge einer solchen Polyvalenz der Neurose Flauberts ist jegliche Priorität psychoanalytischer Deutungsansätze obsolet. Oehler hat darauf hingewiesen, daß Sartres Konzept der objektiven Neurose »den denkbar besten Einstieg in eine die ideologische Dimension konkret einbeziehende neue Lektüre Flauberts und seiner Zeitgenossen anbietet« (»Zum Standort der Neurose-Kunst«, 159). Siehe hierzu auch Grimm, ebd., 114: »So ist es kein Zufall, wenn die ästhetische Doktrin Flauberts in Der Idiot der Familie zweimal entwickelt wird: zunächst in Elbehnon oder Die letzte Spirale als die irrationale, aber einzig mögliche Antwort auf die ebenso erlittene wie hervorgebrachte subjektive Neurose, sodann in Die objektive Neurose als Vermittlung zwischen den widersprüchlichen Normen der literarischen Epoche, die ihrerseits neurotische Züge aufweist«. Vgl. zur Problematik des Neurosebegriffs bei Sartre: T. König, »Von der Neurose zur Absoluten Kunst«, 12 f.; Dörner, »Die Wiedergeburt der Psychiatrie aus der Philosophie«, 72–75. 7 Grimm spricht korrelativ zum ›Erwartungshorizont‹, den Jauß in die Literaturgeschichtsschreibung einzuführen vorschlägt (vgl. »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft«), von einem ›Produktionshorizont‹: »Der Produktionshorizont einer neuen Schriftstellergeneration kann als die Gesamtheit in sich widersprüchlicher
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literarischen Kanons. So ist zwar jeder Zugang zur Literatur unterschiedlich und individuell gefärbt, aber niemand erfindet strenggenommen die Literatur, da diese bereits existiert und jene Endprodukte der bisherigen schriftstellerischen Tätigkeiten für den Autorlehrling als anzuwendende Regeln der eigenen Literaturproduktion erscheinen (vgl. IF 5, 61):8 »(K)einer von ihnen hat in irgendeiner Epoche die Literatur erfunden oder neu erfunden«. Es ist zutreffender zu sagen, »daß diese sich in ihnen als Verpflichtung neu erfindet, von der geschaffenen Literatur ausgehend zu schreiben« (IF 5, 60).9
11. 1. 1. Aufklärung Sartre läßt die für die Nachromantiker lebendige Literatur im 18. Jahrhundert beginnen, wobei sich trotz aller Variationen von Lesage bis Rousseau »grosso modo eine Liste von Hauptforderungen« aufstellen lassen soll (vgl. IF 5, 71).10 Seine Ausführungen zur literarischen Tradition werden im folgenden kursorisch wiedergegeben. Alles in allem ist die Literatur des 18. Jahrhunderts, also jene der Aufklärung, negativ, konkret und praktisch; in erster Linie zeichnet sie sich jedoch durch die Behauptung ihrer Autonomie aus. ›Negativ‹ ist sie, insofern sie gegen die historischen Privilegien des Feudalismus die analytische Vernunft als eine Art »Kritik- und Entlarvungsinstrument« (IF 5, 71) einsetzt. Ihr Schreiben versteht sich als Destruktion des traditio-
Normen der ›geschaffenen Literatur‹ in ihren Konflikten mit den Anforderungen und Möglichkeiten einer neuen Situation definiert und als eine Reihe poetologischer Postulate beschrieben werden« (ebd., 126). »Literarische Kommunikation«, so fährt Grimm fort, »ist nicht möglich ohne ein Autor und Publikum gemeinsam vorgegebenes Normensystem, an dem alle am literarischen Prozeß Beteiligten teilhaben und das sich mit der historischen Situation verändert« (ebd., 111). Aus der »Rezeption epochenspezifischer praktisch-inerter Normen literarischer Kommunikation« läßt sich der Produktionshorizont einer Schriftstellergeneration herleiten (vgl. ebd., 112). 8 In Was ist Literatur? insistiert Sartre ganz im Gegenteil auf einem strikten Gegensatz zwischen den Handwerkstätigkeiten, die sich am sogenannten ›Man‹ Heideggers orientieren, und der literarischen Tätigkeit, die aus einem reinen Erfinden besteht: So wird erklärt, daß die Schriftsteller »selbst die Regeln der Produktion, die Maße und die Kriterien hervorbringen« (WiL 37). 9 Jeder Klassiker ist »eine Pyramide von unten bis oben aus toten Lesern« und »dient einem unwesentlichen lebendigen Kollegen an der äußersten Spitze« (IF 5, 104). Längst vergangene und kristallisierte Lektüren überlagern sich oder »verschmelzen als praktischinerte Merkmale des Buchs« (IF 5, 105), wodurch das Werk zusätzliche »Tiefe und Zweideutigkeit« erhält. Die einander widersprechenden Gedanken des Publikums zwingen sich infolgedessen als Eigenqualitäten des Werkes auf (IF 5, 105). 10 Nach Wannicke übernimmt Sartre das literarhistorische Epochen- und Generationenprinzip von Lanson und Thibaudet (ebd., 206)
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nellen Denkens bzw. der ideologischen Grundlagen des Absolutismus. Jene Literaten des 18. Jahrhunderts bezeichnen sich selbst als philosophes, und ihre Bücher, deren Zentralthema die allgemeine Menschennatur ist,11 stellen sich bewußt in den Dienst der Wissenschaft, wenn sie den Anspruch erheben, Erkenntnisse in literarischer Sprache zum Ausdruck zu bringen. Als Beispiel für eine solche Vermittlung zwischen Literatur und Philosophie bzw. Wissenschaft erwähnt Sartre Montesquieus Geist der Gesetze (vgl. IF 5, 72).12 Die Kluft zwischen technisch-wissenschaftlicher und literarischer Sprache taucht erst zu einem späteren Zeitpunkt auf. Nahezu alle diese Schriften verhandeln die prinzipielle Gleichheit der menschlichen Natur, um die faktische Ungleichheit innerhalb der bestehenden Gesellschaft zu verurteilen. Diese »›Menschennatur‹« wird also als »Kriegswaffe« (IF 5, 74) gegen Privilegien, religiöse Dogmen und den Absolutismus schlechthin eingesetzt. Solange eine Gesellschaft gespalten ist, übt die Universalität Sartre zufolge immer eine negative Funktion aus, indem sie »die realen Spaltungen im Namen einer Universalisierungsforderung« anficht (IF 5, 216). Der Humanismus ist erst noch zu realisieren, einstweilen muß er negativ sein, d. h. beseitigen, was seine Verwirklichung behindert. Jene Literatur ist für Sartre des weiteren ›konkret‹, weil sie im Zuge einer Säkularisierung des Schreibens kein ›edles‹ Thema mehr kennt und bis in den Bereich der Alltagsbanalitäten vorstößt (vgl. IF 5, 74 f.). Dieser Entgrenzung des literarischen Themenfeldes steht die strikte Einhaltung gängiger ästhetischer Geschmacksregeln gegenüber, durch die sich die künstlerische Qualität des jeweiligen literarischen Werks bemessen soll. Von einer ›praktischen‹ Literatur kann hier gesprochen werden, weil die Schriften dieser Zeit handeln, Partei ergreifen, kritisieren, kurz, sich engagieren.13 Wobei sich diese kritische Negativität weniger mit allgemeinen Prinzipien als mit Einzelereignissen auseinandersetzt, indem sie sich auf seiten der bürgerlichen Klasse in tagespolitische Dispute einmischt und auf diesem Wege Hauptstücke der bürgerlichen Ideologie liefert (vgl. IF 5, 75).14 Die bei weitem für Sartre wichtigste Bestimmung der Literatur dieser Epoche ist allerdings der
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Vgl. zur Ideologie der allgemeinen Menschennatur: IF 5, 215 f. Zu denken wäre hier etwa auch an das Zusammenwirken von Literatur, Philosophie und Wissenschaft in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert. 13 Vgl. WiL 84: »Ein Werk des Geistes war damals doppelt ein Akt, da es Ideen hervorbrachte, die am Ursprung von gesellschaftlichen Umwälzungen stehen sollten, und da es seinen Autor in Gefahr brachte«. 14 Der Schriftsteller »beschränkt sich nicht darauf, die ewigen Ideen der Freiheit oder der Gleichheit zu betrachten: zum erstenmal seit der Reformation greifen die Schriftsteller ins öffentliche Leben ein, protestieren gegen ein ungerechtes Dekret, verlangen die Revision eines Prozesses, kurz, entscheiden, daß das Geistige auf der Straße, auf dem Forum, auf dem Markt, im Gericht ist« (WiL 86). 12
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erstmals auftauchende Anspruch auf Autonomie.15 Die Insistenz auf literarischer Autonomie bedeutet als Schriftsteller – und zunächst noch nicht als Citoyen (vgl. IF 5, 75) – das Recht auf freie Meinungsäußerung zu fordern, um ungehindert von Zensur und ideologischen Barrieren Zeugnis von der Menschennatur abzulegen (vgl. IF 5, 76). »(D)as Bürgertum will aufgeklärt werden, es will, daß die Ideologie, von der es jahrhundertelang getäuscht und entfremdet worden ist, so schnell wie möglich aufgelöst wird: später wird noch Zeit sein, sie zu ersetzen. Im Augenblick strebt es zur Meinungsfreiheit als zu einer Zugangsstufe zur politischen Macht. Wenn nun der Schriftsteller für sich und als Schriftsteller die Meinungsfreiheit fordert, dient er notwendig den Interessen der bürgerlichen Klasse. Mehr wird von ihm nicht verlangt, und mehr kann er auch nicht tun« (WiL 83 f.). Diese Autonomie, die die Autoren fordern, ist zunächst nur »das Recht, alles zu sagen und keine andre Regel als den Geschmack anzuerkennen« (IF 5, 90). Konkret bedeutet die Autonomie also »das Recht, alles zu kritisieren, keinen Mißstand, kein Privileg auszusparen, und ginge es um die Kirche oder die Monarchie« (IF 5, 90). Obwohl er sich nicht für die bürgerliche Klasse, sondern für die Menschennatur, nicht für partikulare und politische Interessen, sondern für Vernunft und Freiheit engagiert, die ebenso universell wie 15
Der frühe Sartre führt in Was ist Literatur? die Autonomie auf die Spaltung des Publikums zurück, die eine Deklassierung des Schriftstellers hervorbringt. Dabei wird allerdings aus den Ausführungen nicht klar, ob die Literatur infolge des Bruchs innerhalb der Leserschaft erst autonom wird oder sich ihrer prinzipiell immer schon bestehenden Autonomie bewußt wird: »So ist sein Bewußtsein ebenso gespalten wie sein Publikum. Aber er leidet nicht darunter; er gewinnt vielmehr seinen Stolz aus diesem ursprünglichen Widerspruch: er meint, daß er an niemanden gebunden sei, daß er seine Freunde und seine Gegner wählen könne und daß er nur zur Feder zu greifen brauche, um sich von der Bedingtheit durch Milieus, Nationen und Klassen losreißen zu können. Er schwebt, er überfliegt, er ist reines Denken und reiner Blick: er wählt zu schreiben, um seine Deklassierung in Anspruch zu nehmen, die er auf sich nimmt und in Einsamkeit verwandelt: er betrachtet die Großen von außen mit den Augen der Bürger und die Bürger von außen mit den Augen des Adels, und er behält genug Komplizenschaft mit den einen wie mit den andren, um sie auch von innen verstehen zu können. Damit wird sich die Literatur, die bisher nur eine konservative und reinigende Funktion einer integrierten Gesellschaft war, in ihm und durch ihn ihrer Autonomie bewußt. Durch äußerstes Glück zwischen verworrene Bestrebungen und eine untergehende Ideologie gestellt wie der Schriftsteller zwischen Bürgertum, Kirche und Hof, behauptet sie plötzlich ihre Unabhängigkeit« (WiL 81). Von hier aus ist es nur konsequent, wenn die spätere Homogenität des ausschließlich bürgerlichen Publikums im 19. Jahrhundert die literarische Autonomie, jene Errungenschaft des 18. Jahrhunderts, wieder infragestellt. In der Flaubert-Studie, die ohne ausdrücklichen Verweis teilweise die Erläuterungen des dritten Teils von Was ist Literatur? wieder aufnimmt, wird die Erklärung der Autonomie als Resultat einer Heterogenität des historischen Publikums zwar nicht erneut expliziert, aber auch nicht zurückgenommen.
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ahistorisch aufgefaßt werden, kommt er dem Verlangen des Bürgertums nach »eine(r) systematische(n) Kritik des Regimes« und einer »strenge(n) Anwendung des Geists der Analyse auf alle Strukturen dieser morschen Gesellschaft« (IF 5, 90) entgegen. Offenbar ist diese Autonomie kein Selbstzweck, sondern eher ein Mittel bzw. die notwendige Bedingung der Erkenntnis- und Aufklärungstätigkeit. In den folgenden Schriftstellergenerationen wird einerseits unbeirrbar an ihr festgehalten, andererseits erfährt sie einen radikalen Bedeutungswandel. Letztendlich erweist sich die Situation des Schriftstellers im 18. Jahrhundert als Paradox: Genau in dem historischen Moment, da die Literatur sich von allen Dogmen und Herrschaftsinteressen befreien will, bahnt sie der Ideologie derjenigen Klasse den Weg, die bereits die ökonomische Macht besitzt (vgl. IF 5, 76 f.).16 Dies liegt nicht zuletzt daran, daß auch die bürgerliche Klasse sich für universell hält bzw. im Namen einer allgemeinen Menschennatur, die deutlich Züge des dritten Standes trägt, für die analytische Vernunft, Menschenrechte, Individualismus, Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und gegen Privilegien, Religion und absolutistische Staatsform zu Felde zieht (vgl. IF 5, 77). Zunächst stammt die Leserschaft des in der Regel bürgerlichen Schriftstellers sowohl aus der bürgerlichen wie aus der aristokratischen Klasse, welche im Vorgefühl eines Endes der Monarchie eine neue Staatsform nach englischem Vorbild erhofft, die einerseits die Privilegien bewahrt, andererseits die Bürger daran teilhaben läßt (vgl. IF 5, 79). So pflegen Katharina II. und Friedrich II. ihre Kontakte zu berühmten Autoren, die sie als Vermittler und »Werbeagenten« für die public relations zur bürgerlichen Klasse nutzen, da jene infolge ihrer ökonomischen Macht nicht länger zu unterschätzen ist (IF 5, 80, 94). Ebenso ist auch das Bürgertum einstweilen eher versöhnlich gestimmt, indem es zwar nach politischer Macht verlangt, gleichzeitig jedoch die Republik ablehnt und die Monarchie bewahren will. Aus diesem Grund sieht es in dem guten Verhältnis des Schriftstellers zum Adel weniger einen Verrat als vielmehr einen nützlichen Schachzug, dank dem der Schriftsteller bei den Souveränen als eine Art bürgerlicher Abgeordneter fungieren kann.17 Der Schriftsteller seinerseits, der sozusagen die »Rolle eines Doppelagenten« (WiL 87) übernimmt, schätzt im König, zu dem er ein mitunter vertrautes
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Vgl. IF 5, 90: »Wenn in einer modernen Gesellschaft – will sagen: seit der Renaissance – Schriftsteller und Presse (sofern es eine gibt) Freiheit der Meinungsäußerung fordern, so ist das niemals die abstrakte Forderung, alles Beliebige sagen zu dürfen, sondern das konkrete Verlangen einer Gesellschaftsschicht oder einer Klasse, die unter dem Deckmantel dieser inhaltlosen Freiheit versucht, ihre besondere Ideologie zu verbreiten und die herrschenden Ideologien zu verdrängen«. 17 Vgl. Wannicke, ebd., 201.
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bis freundschaftliches Verhältnis unterhält, den Menschen als abstrakte Persönlichkeit, die jenseits all ihrer partikularistischen Privilegien für den Universalismus der Vernunft zugänglich ist (vgl. IF 5, 81). Diese Haltung zum feudalen Gönner folgt durchaus mit einiger Konsequenz aus den Grundüberzeugungen dieser Schriftstellergeneration: Indem der Aristokrat als Aristokrat negiert und als Exemplar der menschlichen Gattung bejaht wird, setzt die Aufklärungsliteratur einmal mehr »den von der Gesellschaft hervorgebrachten Mißgeburten die Menschennatur« entgegen (IF 5, 93). Zwar ist das Selbstbild der Schriftsteller dieser Zeit mißverständlich, insofern sie einerseits von Privilegien profitieren, deren ideologische Grundlage sie unterminieren, und andererseits nicht wissen, daß ihnen ihre historische Bedeutung von der bürgerlichen Klasse verliehen wird (IF 5, 83). Aber es handelt sich hier Sartre zufolge keineswegs um eine neurotische Haltung. Die Verstellung der Realität ist nicht das Resultat einer unaufrichtigen Flucht ins Imaginäre, sondern beruht auf einem Irrtum, d. h. auf einer falschen Interpretation realer Gegebenheiten (vgl. IF 5, 83). Gerade in Anbetracht dessen, daß die Grenzen zwischen Irrtum und Imagination bei Sartre oftmals verschwimmen, wie das Beispiel des Scherzartikels und seiner als Irrealisierung beschriebenen Täuschung gezeigt hat, wäre eine präzisere Unterscheidung an dieser Stelle seines Denkwegs sicher wünschenswert gewesen. Sartre versäumt es jedoch, für klare Verhältnisse zu sorgen, weswegen die Gegenüberstellung von Irrtum und Neurose – im besonderen: vom Irrtum des Aufklärungsliteraten und der Neurose des Nachromantikers – alles in allem doch eher diffus bleibt. Dieser Mangel ist nicht bedeutungslos, da im letzten Band der Flaubert-Studie ja gerade der Sonderstatus der Nachromantik gegenüber der bisherigen Kunst entwickelt werden soll. Für einen angehenden Schriftsteller zwischen 1830 und 1848 ist die Autonomie der Literatur des 18. Jahrhunderts die »Grundbedingung« (IF 5, 87) jeder Literatur: »Was errungen ist, wird niemals mehr verlorengehen: die literarische Kunst gibt sich ihre eigenen Gesetze« (IF 5, 87). Mit dieser Autonomie, die sowohl deskriptiv als auch normativ, d. h. ebenso »als unentfremdbares Wesen der literarischen Sache« wie auch als »Imperativ« (IF 5,87) aufgefaßt wird, zeichnet sich für Sartre erstmals andeutungsweise das überfliegende Bewußtsein der Nachromantik ab (IF 5, 88). Infolge der verwandelten historischen Bedingungen, die durch die Machtergreifung der bürgerlichen Klasse hervorgebracht werden, verändert sich auch der Sinn der literarischen Autonomie (IF 5, 90). Während die Literaten des 18. Jahrhunderts für sich das Recht propagieren, die faktischen Verhältnisse mittels der analytischen Vernunft einer kritischen Überprüfung zu unterziehen, ist der nachromantische Schriftstellerlehrling der Ansicht, daß sich ein Dichter im Namen der literarischen Autonomie über die Gesellschaft, ja über die Spezies stellen muß, um das Recht zu erwerben, die heiligen Hallen der Litera-
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tur zu betreten. Da jedoch jedes Urteil über die menschliche Spezies durch die gegenwärtige Situation ebenso wie durch Tradition und Familie des urteilenden Subjekts bedingt ist, ist eine so verstandene Autonomie – im Gegensatz zur Autonomie des 18. Jahrhunderts – widersprüchlich und wird zu einer »unhaltbare(n) Haltung« (IF 5, 89). Nach diesem Bedeutungswandel des literarischen Autonomiebegriffs bleibt im Grunde nur noch Micromégas, der Außerirdische aus Voltaires gleichnamiger Erzählung, übrig. Wo die Literatur des 18. Jahrhunderts die Zwänge der Politik und des gesellschaftlichen Rangs im Namen der Menschennatur verwirft und ohne ihr Wissen damit der aufkommenden Herrschaft der bürgerlichen Klasse dient, glaubt der nachromantische Schriftstellerlehrling, daß jede Anfechtung nur dazu dient, die Eigengesetzlichkeit und den Selbstzweckcharakter der Literatur zu unterstreichen (vgl. IF 5, 91). Solche Bedeutungsverschiebungen ereignen sich jeweils »im Rahmen der historischen Situation und unter ihrer Leitung« (IF 5, 91), wenn »eine Epoche mit ihren Scheuklappen [versucht,] eine andre zu verstehen« (IF 5, 89).
11. 1. 2. Der Konflikt zwischen bürgerlichem Utilitarismus und literarischer Autonomie Als das Bürgertum nicht nur die ökonomische, sondern ebenso die politische Macht gewinnt, verändert sich auch eklatant die Situation des Schriftstellers: »Der politische Triumph des Bürgertums […] stellt das Wesen der Literatur selbst in Frage« (WiL 86). Sobald die bürgerliche Ideologie von der negativkritischen in die positiv-konservative Phase übergeht, verlangt das bürgerliche Publikum von der Literatur nicht länger die Ausübung einer kritischen Funktion durch Auflösung der bestehenden Ideologie.18 Denn da die herrschende Ideologie nun nicht mehr den untergehenden Adel, sondern das etablierte Bürgertum rechtfertigt, soll die Literatur affirmativ und konstruktiv werden und von nun an ihren Beitrag zur Legitimation des geschichtlichen Status quo leisten, d. h. Elogen auf die bürgerliche Gesellschaft und ihr Wertesystem anstimmen (vgl. IF 5, 78).19 Zwar ist auch die Belletristik der Aufklärung im
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Dieser veränderte Erwartungshorizont ist schon eine radikale Umwälzung der Literatur, weil seit dem 18. Jahrhundert ihr Wesen mit Negativität »das heißt mit dem Zweifel, der Ablehnung, der Kritik, der Anfechtung« (WiL 81) gleichgesetzt wird. 19 Die kritische Haltung der Literatur wird geduldet, solange auch die politischen Aktionen des Bürgertums nur kritisch und negativ sein können. Sartre vergleicht diese Situation mit der Sowjetunion um 1920, die jede Form der Literatur toleriert, solange sie nur einen demoralisierenden Effekt auf die bürgerlichen Demokratien ausübt. Sobald es jedoch darum geht, den Aufbau des Sowjetsystems zu verteidigen und zu stabilisieren, erwartet
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Grunde genommen eine Klassenliteratur (vgl. IF 5, 107), aber sie erfüllt diese Funktion erstens ohne Wissen ihrer Autoren und zweitens, gerade indem sie die herrschende Ideologie anficht und im Rückgriff auf eine allgemeine Menschennatur jenseits aller Klassenunterschiede die rechtliche Gleichstellung der Menschen verlangt (vgl. IF 5, 95). Infolge der bürgerlichen Machtübernahme gerät die Autonomie als objektiver Imperativ der Literatur in einen massiven Widerspruch mit dem Utilitarismus der bürgerlichen Ideologie, der eine nützliche Literatur, also eine Klassen- und Unterhaltungsliteratur verlangt (vgl. IF 5, 93). Der bürgerliche Utilitarismus bestreitet die »Möglichkeit autonomer Sektoren« (IF 5, 94), und daher ist auch für ihn das Kunstwerk nur seriös, wenn es sich als nützlich erweist. So schreibt Sartre schon in Was ist Literatur? über den »Rechtfertigungsmythos dieser arbeitenden und unproduktiven Klasse« (WiL 87): »Ziel und Würde eines Menschenlebens ist, sich in der Einrichtung der Mittel zu verzehren; es ist nicht seriös, sich ohne Vermittler zur Produktion eines absoluten Zwecks zu verwenden; das ist so, als behauptete man, Gott ohne die Hilfe der Kirche direkt ins Gesicht sehen zu können. Man wird nur den Unternehmen vertrauen, deren Zweck der ständig zurückweichende Horizont einer unendlichen Reihe von Mitteln ist. Wenn das Kunstwerk in den utilitären Reigen eintritt, wenn es den Anspruch erhebt, ernst genommen zu werden, wird es vom Himmel der unbedingten Zwecke herabsteigen und sich damit begnügen müssen, seinerseits nützlich zu werden, das heißt, wird es sich als ein Mittel zur Einrichtung von Mitteln darbieten müssen« (WiL 87). Während die Literatur im 18. Jahrhundert das schlechte Gewissen eines ruinierten Adels ist, soll sie im 19. Jahrhundert das gute Gewissen eines ebenso ökonomisch wie politisch triumphierenden Bürgertums sein. In letzter Konsequenz stellt der Utilitarismus die Schriftsteller also vor eine radikale Wahl: »Die bürgerliche Kunst wird entweder Mittel sein, oder sie wird nicht sein« (WiL 88). Die unversöhnliche Antwort der institutionalisierten Imperative der Literatur lautet hierauf: Die wahre Kunst wird entweder Selbstzweck sein, oder sie wird nicht sein.20 sie eine erbauliche und affirmative Literatur und unterzieht Dissidenten einer repressiven Zensur (vgl. IF 5, 82). 20 Allerdings wird auch die radikale Unverbindlichkeit [gratuité] des Werkes das bürgerliche Publikum nicht wirklich verstören: »(F)ür den Schriftsteller ist sie das Wesen der Geistigkeit selbst und die heroische Manifestation seines Bruchs mit dem Zeitlichen; für seine bürgerlichen Leser ist ein unverbindliches Werk von Grund auf harmlos, es ist eine Zerstreuung; sie werden zwar die Literatur von Henry Bordeaux, von Paul Bourget vorziehen, aber sie finden es nicht schlecht, daß es nutzlose Bücher gibt, die den Geist von seriösen Beschäftigungen ablenken und ihm die Entspannung geben, die er braucht, um sich wiederherzustellen. Selbst wenn das bürgerliche Publikum anerkennt, daß das Kunstwerk
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Im Zuge einer Abwehr des Utilitarismus wird die Forderung nach Autonomie noch strenger, indem aus der Eigengesetzlichkeit der Literatur nun die Literatur als Selbstzweck wird.21 Während die Literatur des 18. Jahrhunderts keine Repressionen und Rücksichten bei ihrem Kampf für die Menschennatur duldet, darf die nachromantische Literatur nur noch sich selbst als Zweck setzen – andernfalls würde sie sich dem Utilitarismus beugen. Dies ist die Quelle des Bruchs mit dem bürgerlichen Publikum, den die jeweiligen Schriftsteller sowohl in ihren Büchern wie in ihrer Lebensführung vollziehen. Um das Wesen der Literatur – und das heißt zu diesem Zeitpunkt: ihre Autonomie – zu bewahren, muß der Autor im 19. Jahrhundert gegen den Utilitarismus und d. h. gegen sein bürgerliches Publikum schreiben: »Dieser fundamentale Konflikt zwischen Schriftsteller und Publikum ist ein in der Literaturgeschichte noch nie dagewesenes Phänomen« (WiL 91). Während der Konflikt zwischen dem bürgerlichen Utilitarismus und der literarischen Autonomie schließlich auch zu einer Infragestellung der Kommunikation mit dem Leser führt,22 ist für die Aufklärungsliteraten literarisches Schreiben immer eine Form der Kommunikation gewesen: »(D)as Wesen der Literatur ist grundlegend Kommunikation. Was auch immer ihre eigentliche ästhetische Lust sein mag, wenn sie die Sprache bearbeiten, um sie zur höchsten Ausdruckskraft und Reinheit zu bringen, so haben sie doch den Satz, an dem sie herumfeilen, für andre bestimmt; er wird zunächst konzipiert, um verstanden zu werden, und muß […] sich einerseits an die Aristokratie wenden, um sie zu gewinnen oder zu verwirren, andrerseits an jenes unermeßliche Publikum, das wir bürgerlich genannt haben und das sie mit der Menschheit ohne Privilegien gleichsetzen« (IF 5, 100). Die prekäre Situation dieser Autorenlehrlinge führt zu einer selbstzerstörerischen Aporie: Einerseits ist der Ruhm des Schriftstellers maßgeblich an die Kommunikation mit dem Publikum geknüpft, andererseits kann sich nur derjenige im Grunde noch ruhigen Gewissens als Schriftsteller bezeichnen, der die Autonomie der Literatur gegen alle ideologischen Nützlichkeitserwägungen bewahrt: zu nichts dienen kann, findet es also noch ein Mittel, es zu benutzen« (WiL 104). Der Preis für die Autonomie ist praktische Folgenlosigkeit. Man wird dem Schriftsteller sämtliche Beleidigungen durchgehen lassen, weil die Bürger »es prinzipiell ablehnen, ihn ernst zu nehmen« (WiL 104). Ganz ähnliche Überlegungen finden sich auch in Herbert Marcuses Essay »Über den affirmativen Charakter der Kultur«. 21 Vgl. Grimm, ebd., 127: »Was in der Aufklärung Erfahrung, also Ergebnis kollektiven praktischen Handelns war, wird für die produktive Rezeption der folgenden literarischen Epochen praktisch-inerter Imperativ, Handlungsanweisung, die ohne Mißverständnis in der neuen historischen Situation gar nicht befolgt werden kann«. 22 Vgl. Grimm, ebd., 134.
Die objektiven Imperative der geschaffenen Literatur
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»In jenen jungen Seelen kommt es zum erstenmal in der Geschichte zu einer jähen Trennung zwischen Schreiben und Kommunikation. Es gibt ja nur ein Publikum: das Bürgertum. Und der Schriftsteller hat ihm nichts zu sagen, es sei denn, er verzichtet auf die Autonomie und stellt sich in den Dienst der Klassenideologie« (IF 5, 101).23 Im Zuge dieser Entwicklung hört das Imaginäre auf, ein Mittel der menschlichen Bedürfnisse zu sein und wird zum Zweck an sich. Auch in diesem Zusammenhang stellt Sartre die irrealisierende und neurotische Haltung der Kommunikation sowie der Wechselseitigkeit gegenüber: »Auf der Normenebene kann der Objektive Geist der nachromantischen literarischen Epoche nur als objektiv neurotisch gekennzeichnet werden, da die poetologischen Lösungen, die er anbietet, sich den Grundbestimmungen literarischer Kommunikation entziehen«.24
11. 1. 3. Romantik Angesichts des Konflikts zwischen bürgerlichem Utilitarismus und literarischer Autonomie wendet sich die romantische Schriftstellergeneration gegen die bürgerliche Klasse und sucht Zuflucht beim Adel (vgl. IF 5, 109).25 Die Romantiker, die zwar eine bürgerliche Erziehung genossen haben, aber entweder adlig von Geburt oder dank ›edler Gesinnung‹ sind (vgl. IF 5, 113), führen die Bestimmung in den Objektiven Geist ein, daß die Literatur ein Privileg des Adels ist und als solche für den Bürger immer unzugänglich bleiben wird (vgl. IF 5, 112).26 Literarische Autonomie wird in dieser Strömung an die Aristokratie, insbesondere an deren Werte wie Selbsthingabe und Großmut geknüpft. Gegen das Diktat des bürgerlichen Utilitarismus schreiben die Romantiker nach ihrer Selbstdarstellung aus purer Großmut zweckfreie literarische Werke und bereiten damit die Bewegung des L’art pour l’art vor (vgl.
23
Vgl. Oehler, ebd., 157. Grimm, ebd., 135. 25 Sartre gibt allerdings zu, nicht alle Aspekte der Romantik zu berücksichtigen (vgl. IF 5, 113). 26 Siehe hierzu auch schon WiL 91 f.: »(I)m 18. Jahrhundert verfügt der Autor über zwei gleichermaßen reale Publika und kann sich nach Gutdünken entweder auf das eine oder auf das andre stützen; die Romantik ist in ihren Anfängen ein müßiger Versuch gewesen, den offenen Kampf zu vermeiden, indem man diese Dualität wiederherstellte und sich gegen das liberale Bürgertum auf die Aristokratie stützte«. In der nachromantischen Epoche finden die Schriftsteller schließlich überhaupt keinen Rückhalt mehr in der Realität: »(N)ach 1850 gibt es kein Mittel mehr, den tiefen Widerspruch zwischen der bürgerlichen Ideologie und den Ansprüchen der Literatur zu verhehlen« (ebd.). 24
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IF 5, 127).27 Nach Sartre stellen sich die Romantiker allein schon deswegen auf die Seite der Verliererklasse, weil ein solches Festhalten an einer verlorenen Sache von aristokratischer Großmut zeugt und die Qualität des Blutes – zumindest aber der Gesinnung – gegen die allgemeine Verbürgerlichung und die Vorherrschaft der Nützlichkeitskriterien behauptet (vgl. IF 5, 123 f.).28 Wenn alles bis auf die Ehre verloren ist, liegt in dieser Vasallentreue bis in den Tod die höchste Glorifizierung des Adels (vgl. IF 5, 126) und der Beweis, daß man zu gut für die bürgerliche Welt ist (vgl. IF 5, 124). Das Scheitern, von dem auch Flaubert permanent spricht, wird also dank der Romantik zu einem Imperativ der Literatur, der erst in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts wieder verschwindet. Zwar versteht sich der Romantiker als ein poète maudit,29 aber insofern sein Selbstbild noch einen christlichen Optimismus einschließt, ist dieses Scheitern nicht so schwarz wie später in der Nachromantik. Dennoch liegt hier der Ursprung für die weitverbreitete Auffassung, nach der der Schriftsteller blasiert, zynisch und enttäuscht von der Welt sei. Wie Sartre ausführt, verliert die Literatur in der Romantik zum erstenmal in der Menschheitsgeschichte ihren Wahrheitsbezug; die romantische Literatur – namentlich erwähnt werden in diesem Zusammenhang La mort du loup von Alfred de Vigny sowie Ruy Blas und Les Burgraves von Victor Hugo (vgl. IF 5, 132) – lügt nicht, um die Wahrheit zu sagen, sondern um zu lügen. Von dem Zeitpunkt an, wo Wissenschaft und Literatur getrennte Wege gehen (vgl. IF 5, 96), verwandelt sich die Autonomie der Literatur in eine »Autonomie des Imaginären« (vgl. IF 5, 132). Für den nachromantischen Schriftstellerlehrling ergibt sich, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll, aus den Imperativen der Aufklärung und der Romantik eine unhaltbare Situation: »(D)ie Geschichte der hundert vorhergehenden Jahre ist so gewalttätig und konfliktreich gewesen, daß sich im Objektiven Geist mehrere Literaturen gebildet haben, die sich dem Leser von 1840 mit einander widersprechenden Imperativen aufzwingen, welche man auf keine rationale Synthese hin überschreiten kann« (IF 5, 135). »Schreiben heißt die widersprüchlichen praktisch-inerten Imperative der ›geschaffenen Literatur‹ in einer ›zu schaffenden Literatur‹ unter den Bedingungen einer bestimmten historischen Situation [zu] totalisieren und damit [zu] überwinden«.30 Wenn dies gilt, so führt 1850 der einzig mögliche Ausweg dieser 27
Nach Grimms überzeugenden Ausführungen entsteht die L’art pour l’art-Bewegung im Grunde aus der Überlagerung literarischer und aristokratischer Normen (vgl. ebd., 128). 28 Vgl. Oehler, ebd., 156. 29 Gäbe es den erfolgreichen Victor Hugo nicht, der auch von den Nachromantikern bewundert wird, so wäre es für diese recht unproblematisch, Dichtung und Fluch gleichzusetzen (vgl. IF 5, 163 f.). 30 Grimm, ebd., 124.
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Schriftstellergeneration ins Imaginäre und bestimmt für lange Zeit sowohl die Person des Schriftstellers als auch sein Werk (vgl. IF 5, 135).31
11. 2. Neurose-Kunst Negativität und Autonomie bewahrt die Literatur der Aufklärung wie auch der Romantik, insofern sie entweder die Ideologie einer aufsteigenden oder einer untergehenden Klasse widerspiegelt und damit in gewisser Hinsicht immer in einem negativen – sei es kämpferisch-fortschrittlichen oder nostalgisch-konservativen – Verhältnis zur bestehenden Ordnung steht. Das Überfliegen der Aufklärung dient dem Schriftsteller dazu, sich von der Gesellschaft und ihren ideologischen Entstellungen zu lösen. Seine ideologiekritische Negativität entdeckt jenseits der Klassenzugehörigkeit den allgemeinen Menschen bzw. den ›guten Wilden‹ oder die ›Gleichheit aller in der Vernunft‹. Der romantische Sinn des Überfliegens beschwört wiederum einen von Gottes Gnaden eingenommenen Blick von oben auf eine hierarchisch gegliederte Gesellschaft und spiegelt das Überlegenheitsgefühl des Aristokraten, der das Menschsein mehr oder weniger erst mit dem Adel beginnen läßt: »(D)ie ersten glauben die Gesellschaft zu überfliegen und erklären sich mit allen Menschen solidarisch; die zweiten sind in ihr und wollen in ihr bleiben, aber an erster Stelle; mit ihrer Klasse solidarisch und nur mit ihr allein, versichern sie, daß der vorbildliche Mensch nur als Aristokrat existiere« (IF 5, 141). 1840 ist die romantische Epoche, die das Bürgertum aus der Perspektive des Adels ablehnt, zwar an ihr Ende gelangt, aber die Autorenlehrlinge haben diese Literatur begeistert aufgenommen und hierdurch den verächtlichen Blick einer untergegangenen Klasse auf sich selbst bzw. ihre bürgerliche Herkunft verinnert (vgl. IF 5, 137). Gleichzeitig lehrt sie ihre bürgerliche Sozialisation, daß jener verächtliche bürgerliche Charakter mit dem Wesen der menschlichen Spezies identisch ist – eine Vorstellung, die um so näher liegt, als die Welt etwa ab 1830 im Grunde vollkommen bürgerlich ist (vgl. IF 5, 138):32 31
Vgl. Grimm, ebd., 125: »Literarische Innovation setzt die Überwindung eines doppelten, in der produktiven Rezeption zutage tretenden Widerspruchs voraus: der erste bleibt innerliterarisch (im Praktisch-Inerten nur parataktisch nebeneinanderstehende literarische Normenkonflikte), der zweite ist unmittelbar gesellschaftlich (Verwirklichung neuer Totalisierungen in einem neuen historischen Kontext). Um ein Beispiel zu geben: die Autorenrolle wird einmal bestimmt von den verschiedenen, unter Umständen widersprüchlichen Möglichkeiten, die die praktisch-inerten Normen des literarischen Kanons anbieten, zum anderen von den realen Möglichkeiten einer neuen historischen Situation«. Oehler hat zu Recht die Leerstellen bei Sartre moniert, in dessen Rekonstruktion des Produktionshorizontes der Nachromantiker z. B. Balzac und Stendhal keinerlei Rolle spielen (ebd., 158). 32 Zumindest existiert eine bürgerliche Deutungshoheit.
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»Wenn der Mensch bürgerlich ist, verachten diese Kinder in sich selbst das Bürgertum als Definition der Spezies Mensch« (IF 5, 138). Sobald der Mensch aus der bürgerlichen Perspektive definiert wird (vgl. IF 5, 139), wird die von der Autonomie der Literatur geforderte Ablehnung des bürgerlichen Utilitarismus auf alle menschlichen Zwecke ausgedehnt und damit zur »Verdammung jedes praktischen Unternehmens« (IF 5, 149). Von jetzt an ist die literarische Autonomie, jene Hauptforderung der Kunst (vgl. IF 5, 205), weder solidarisch mit der allgemeinen Menschennatur noch mit einer bestimmten ›edlen‹ Gesellschaftsschicht, sondern ein metaphysischer Bruch mit der menschlichen Spezies: Während das romantische ›Unbefriedigtsein‹ des Aristokraten verlangt, daß der Künstler kein Bürger sein dürfe, und hierbei die eigene Herkunft stolz behaupten kann, schließt das nachromantische ›Unbefriedigtsein‹ die Forderung ein, daß der Künstler kein Mensch sein dürfe, und wird zu einem Bedauern, der Menschheit anzugehören (vgl. IF 5, 140): »Der imaginär angeeignete verachtende Blick einer bedeutungslos gewordenen höheren Klasse, der sie nicht angehören, legt den jungen Leuten Normen auf, die sie weder realisieren noch widerlegen können«.33 Da diese »Hauptforderung der neuen Kunst« im Widerspruch zur conditio humana steht, ist sie »unmöglich zu befriedigen« (IF 5, 141 f.), weswegen als Alternative zur Aufgabe der literarischen Ambitionen nur noch die Neurose bzw. die Flucht ins Imaginäre bleibt (vgl. IF 5, 120 f., 144).34 Der Schriftstellerlehrling muß ein neurotisches Verhältnis zur Realität einnehmen bzw. so tun, als ob die unerfüllbare Forderung erfüllt sei. Dabei handelt es sich also um eine objektive Neurose, weil es hier nicht um subjektive Störungen geht, sondern der Objektive Geist selbst vom Schriftstellerlehrling verlangt, »daß er die Irrealität als strenge Ablehnung des Realen wählt (das er, wenn er will, zwar schildern mag, aber als abgelehntes Reales)« (IF 5, 147). Den Imperativen der objektiven Neurose kann ein Individuum dann am besten Folge leisten, wenn es die Negation des Realen und des Handelns nicht nur irreal spielt, sondern wenn diese ihm aufgrund einer bereits vorhandenen subjektiven Neurose auferlegt ist (vgl. IF 5, 147). Kurz, wenn die objektive Neurose sich – wie bei Flaubert – mit einer subjektiven Neurose vereint. Der individuelle Künstler ist dann nicht nur irreal, sondern real (›irreal‹ und ›real‹ verstanden im Sinne der ersten Imaginationskonzeption als Gegenpol zur Wahrnehmung) ein irrealer Mensch (›irreal‹ verstanden im Sinne der zweiten Imaginationskonzeption als Gegenpol zur Praxis).35 33
Grimm, ebd., 121 f.; siehe auch ebd., 133. Siehe T. König, ebd., 22; Oehler, ebd., 156. 35 Insofern der objektive Imperativ die Negation der Praxis verlangt, ist hierdurch eine Irrealisierung im Sinne der zweiten Imaginationskonzeption impliziert. Da diese Irrealisie34
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Nach Sartre bieten sich angesichts der komplizierten Situation der Schriftsteller um 1850 nur zwei Auswege an. Erstens lassen sich mehr oder weniger alle Autoren auf einen Kompromiß ein. Da die radikale Ablehnung jeglicher Praxis menschenunmöglich ist, wird der Künstler also nur das Allernotwendigste tun, d. h. nur die allgemeinsten menschlichen Zwecke teilen (vgl. IF 5, 155). Ähnlich kompromißbereit verhält er sich, wenn es darum geht, sein Buch zu veröffentlichen, insofern der Bruch mit dem Publikum ja a priori den Verzicht auf literarischen Ruhm bedeutet: »Wenn irgendein Verleger es veröffentlicht, so ist das seine Sache, aber der Autor darf nicht darauf zählen« (IF 5, 153). Der zweite, konsequentere Ausweg ist die schon erwähnte – gespielte oder erlittene – Neurose, die die Unmöglichkeit einer realen Loslösung von der bürgerlichen Klasse ebenso verbergen soll wie den Umstand, »daß er schreibt, um sich von seiner Klasse als dem Gegenstand seiner radikalen Verachtung loszureißen, aber gerade von ihr verlangt – direkt oder indirekt –, daß sie diesem Losreißen den gesellschaftlichen Status des Ruhms verleihe« (IF 5, 149). Während sich die gesellschaftliche Realität des Nachromantikers durch den politischen und ökonomischen Status der Mittelklassen auszeichnet, bleibt die aristokratische Überlegenheit ein bloßer »Traum« (IF 5, 150). Das nachromantische Schreiben ist neurotisch, weil es das Spielen einer unmöglichen imaginären Rolle verlangt und der reale Mensch, für den die Kunst Tabu ist, sich über seine menschliche Natur und die reale Situation erheben muß, um in eine irreale Aristokratie einzutreten, die niemand anerkennt (vgl. IF 5, 157 f.). Wenn die Schriftstellerlehrlinge die Unverbindlichkeit der Literatur gegen jede Form der Klassen- und Unterhaltungsliteratur zu wahren versuchen, so widersetzen sie sich zwar auf der einen Seite dem bürgerlichen Utilitarismus, auf der anderen Seite führt diese Abwehr jedoch gerade zu einer zunehmenden Verbürgerlichung ihres eigenen Lebens. Denn wenn die Kunst dem Schriftsteller nicht den Lebensunterhalt sichern darf, so muß er einem bürgerlichen Beruf z. B. als Bürokrat oder Beamter nachgehen (vgl. IF 5, 154). Gleichzeitig versucht er permanent, die eigene berufliche Tätigkeit unter dem Gesichtspunkt des Todes bzw. als überfliegendes Bewußtsein »in ästhetischer Verfremdung« (IF 5, 168) zu betrachten. Tagsüber nimmt er in seinem Alltags- und Berufsleben die ästhetische Haltung ein, nachts ist er tatsächlich ein Künstler, der sich der Literatur widmet. Der ästhetische Standpunkt gleicht der Haltung des Touristen vor einer Landschaft ohne jegliche Arbeitsbeziehung und schließt die Partizipation an Zwecken für Sartre generell aus. Insofern hierdurch im Grunde jede Arbeits- und Sozialbeziehung unmöglich wird, muß der Künstler also eine der beiden divergierenden Haltungen spielen: rung jedoch in letzter Konsequenz unmöglich ist, kann sie nur gespielt werden, d. h. sie ist dann irreal im Sinne der ersten Imaginationskonzeption.
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»Der Schriftsteller muß also damals in seiner Familie, im Büro, auf der Straße sich zugleich verpflichten und entpflichten, und da das nicht wirklich geschehen kann, muß er sich entschließen, die eine der beiden Haltungen zu spielen. Es wird ihm zweifellos gelingen, so zu tun, als höre er zu oder handle und führe sein Leben, so wie man eine Rolle spielt, um nur dem intimen Blick der Reflexion seine ganze Realität zu geben. In diesem Fall ist das Leben ein Traum, und die Wahrheit liegt in dem eisigen Quietismus des Bewußtseins, das es betrachtet. Aber der Dringlichkeit der praktischen Aufgaben, ihrer Schwierigkeit, der Komplexität der menschlichen Beziehungen, dem Widerwillen während der Arbeitsstunden, der Aggressivität eines Chefs, den Intrigen der Untergebenen, kurz, alldem, was den Ritter des Nichts in seiner Kleinbürgerwürde gefährdet, muß er sich ständig aussetzen, und das läßt ihm kaum Zeit, zu verschnaufen oder sich zurückzuziehen: der Schriftsteller ist real jener durch eine Abfuhr gedemütigte Arbeiter, jener Angestellte, der um seine Stelle zittert, jener befangene Verliebte« (IF 5, 158 f.). Angesichts des Schicksals, das seine Realität in jedem Fall menschlich bleibt und er per definitionem also kein realer Künstler werden kann, wendet er sich dem Imaginären zu: Er versucht für sich allein »die erhabene Gleichgültigkeit des Künstlers« (IF 5, 159) zu spielen, indem er so tut, als würden alle seine Sorgen ihn unberührt lassen. Ist der Druck des Realen zu gewaltig, bleibt nur die retrospektive Rekonstruktion: »(E)r kann sein Gedächtnis täuschen und behaupten, daß eine bestimmte Beleidigung ihn nicht einmal berührt habe: in diesem Fall erfaßt die Irrealisierung sein Erinnerungsvermögen; er kann aber auch ebensogut zugeben, daß er von dem Affront überrascht wurde und im Augenblick allzu empfindlich reagiert hatte, heute aber darauf pfeift und jene Szene nur noch ›als Künstler‹ genießt; in diesem Fall irrealisiert sich die Reflexion selbst« (IF 5, 159). Allen persönlichen Kompromissen zum Trotz bleibt der Widerspruch zwischen dem vorgeschriebenen Programm des erhabenen Überfliegens und der Notwendigkeit, hierfür den Ansprüchen der bürgerlichen Klasse gerecht zu werden, für den Nachromantiker letztendlich unentrinnbar. Man muß in sicheren ökonomischen Verhältnissen leben, um sich ideell von seiner Klasse lösen und permanent die ästhetische Haltung kultivieren zu können (vgl. IF 5, 160). Dennoch ist 1850 die Kunst auf diesen zerrissenen Künstlertypus angewiesen, wobei diese Rolle von den einzelnen Individuen entweder kaltblütig gespielt oder neurotisch geglaubt wird (vgl. IF 5, 161). Insofern der Künstlerstatus durch die Leugnung des bürgerlichen Menschen erworben wird, muß im Grunde das Scheitern des profanen Lebens als Zeichen künstlerischer Auserwähltheit dienen. Anhand von Baudelaires Gedicht über den Albatros, den seine riesigen Flügel daran hindern, auf dem Boden zu laufen, illustriert Sartre, daß der Nachromantiker den Krüppel spielen muß, um sich und anderen zu beweisen, daß er fliegen kann (vgl.
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IF 5, 163).36 Zweifellos ist die Befreiung von jeder »persönlichen Teleologie« bzw. vom »Zweckmäßigkeitsdenken« niemals vollkommen (vgl. IF 5, 169), denn auch der nachromantische Schriftsteller verfolgt selbstverständlich bereits einen Zweck, wenn er sich ›entbürgerlichen‹ und Literatur verfassen will. Die gewünschte »Amputation des teleologischen Systems, das den Menschen von seinen Bedürfnissen und Interessen her als Praxis definiert« (IF 5, 170), ist nur dann in ihrer Widersprüchlichkeit abgemildert, wenn sie kein Ziel, sondern ein Schicksal ist, welches sich die betreffende Künstlerindividualität nicht aussuchen konnte.37 Die künstlerische Berufung zwingt sich sozusagen durch das permanente und ungewollte Versagen im bürgerlichen Leben auf (vgl. IF 5, 170). »Der Kunst, jenem Absoluten, jenem höchsten Wert, können wie einem Kult nur Krüppel und Unfähige dienen – und niemand ist Künstler, der nicht aufsehenerregende Beweise seiner Unfähigkeiten erbracht hat. Hinter dieser Auffassung ahnt man natürlich christliche Ideen: die Schönheit als göttliche Erleuchtung trifft nur die Mühseligen und Beladenen; die Bekehrung ist nichts andres als eine neue Sicht der Welt, die durch das weltliche Scheitern des Bekehrten erfaßt wird« (IF 5, 170).38 So findet sich bei den Brüdern Goncourt bis hin zu Mallarmé der Gedanke, daß der Künstler ein übersensibler und lebensschwacher Versager ist.39 Die Voraussetzung, die hierbei einerseits von den Künstlern, andererseits von den utilitaristisch und erfolgsorientiert gesinnten Bürgern, aber vor allem auch von Sartre selbst – und zwar in seiner gesamten Philosophie – geteilt wird, ist die Definition des Menschen als Praxis (vgl. IF 5, 171, 177). Sartre selbst betont – allerdings ohne dabei an seine eigene Position in Das Sein und das Nichts oder in der Kritik der dialektischen Vernunft zu denken –, daß die nachromantische Forderung der »Unfähigkeit, Mensch zu sein« (IF 5, 177) 36
Im Zusammenhang zwischen künstlerischer Sensibilität und Außenseitertum – sei es aus Unfähigkeit, aus Überzeugung oder durch Diskriminierung – scheint Sartre allerdings eine transhistorische Konstante der Künstlerpersönlichkeit zu erblicken: »Das ist von jeher wahr: schreiben setzt grundsätzlich, zwar nicht eine Neurose, aber doch eine grundlegende Unangepaßtheit an die Gesellschaft, an den Lauf der Dinge voraus« (IF 5, 167). 37 In der Romantik ist dieses Problem nicht so gravierend, weil sie das Schreiben als göttliche Inspiration versteht. Die Nachromantik muß jedoch auf Gott verzichten – und damit entfällt der privilegierte Leser wie auch der einzig gültige Autor (vgl. IF 5, 185; vgl. auch zum Atheismus dieser Generation die erste Hälfte der Mallarmé-Studie). 38 Während Andersens kleine Meerjungfrau ihre Stimme gegen ein Paar menschliche Beine eintauscht, tauschen die Nachromantiker sozusagen ihre Beine ein, um besser singen zu können, und leben fortan mit einem Fischschwanz. 39 Auf widersprüchliche Weise nimmt der nachromantische Künstler für sich selbst sowohl Gefühlskälte und Unerschütterlichkeit als auch Übersensibilität und nervöse Erregbarkeit in Anspruch. Vgl. zum Verhältnis zwischen Gleichgültigkeit und ästhetischer Haltung: IF 5, 172–174.
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11. Das Imaginäre als gesellschaftliche Struktur
als Adelsbrief und Echtheitssiegel des Künstlers keinen Sinn ergäbe, wenn man z. B. die Kontemplation als höchste Form der Verwirklichung der conditio humana verstehen würde.40 Wenn der Autor der Flaubert-Studie erklärt, daß die Wesensbestimmung des Menschen als Praxis, die die Nachromantik von der bürgerlichen Ideologie – wenn auch in diametral entgegengesetzter Wertschätzung – übernimmt, ihren Ursprung im Puritanismus hat, so gibt er damit implizit auch eine Traditionslinie seines eigenen Denkens an (vgl. IF 5, 177). Zwar definiert sich der Künstler durch Handlungsunfähigkeit, dennoch kommt er nicht umhin, zweckorientierte Aktivitäten auszuüben, und zudem darf sein Scheitern auch nicht so spektakulär sein, daß deklassierende Konsequenzen zu befürchten sind. Man muß leben, und im Grunde genommen auch sehr gut leben, um den Gesichtspunkt des Todes einnehmen zu können. Die ästhetische Desintegration verlangt also reale Integration, woraus sich ergibt, daß nur unwichtige berufliche Aufgaben wirklich verpfuscht werden dürfen (vgl. IF 5, 179). Wenn der Autor sein Publikum zurückweisen will, so muß er materiell unabhängig sein, zumindest darf er nicht von der Literatur leben (vgl. IF 5, 107). Worauf es Sartre in all seinen Überlegungen primär ankommt, ist die These, daß zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt die Literatur ohne neurotische Verhaltensweisen, d. h. ohne ein tatsächliches oder gespieltes Mißerfolgsverhalten, unmöglich ist (vgl. IF 5, 196, 199). Eine Lösung der widersprüchlichen Situation ist also nur um den Preis denkbar, daß der nachromantische Schriftsteller »das Angebot der objektiven Neurose annimmt« (IF 5, 201) und den »imaginäre(n) Bruch mit allem Realen« als »hysterische Nachahmung der Schizophrenie« (IF 5, 179) vollzieht. Diese neurotische Situation des Schriftstellers, so betont Sartre nachdrücklich, beschränkt sich auf die französische Literatur in der Mitte des 19. Jahrhunderts (vgl. IF 5, 160). Die gesamte Poetik der Absoluten Kunst bleibt, wie ferner hervorgehoben wird, vage und widersprüchlich; und sobald man sie zu präzisieren versucht, bricht sie zusammen (vgl. IF 5, 175). »Es handelt sich natürlich nur um einen zu durchlaufenden Moment: die Imperative werden sich ändern, die Entwicklung der Geschichte wird bestimmte Widersprüche veralten lassen, ohne sie zu lösen, in anderen Situationen werden andre entstehen, die man durch rationalere Erfindungen wird überschreiten können. Für die Viertelstunde muß man durchhalten: ohne Publikum und ohne Gott, ohne Bürgschaft, ohne Freiheit noch Regel, für niemanden Werke schaffen […]; der Augenblick verlangt es: entweder wird es gar keine Literatur geben, oder sie wird sich durch die Neurose des Literaten fortsetzen; denn in diesem eisernen Jahrhundert könnten die Schriftsteller nicht schreiben, wenn sie wüßten, was sie tun; sie werden es 40
Vgl. Platon, Politeia; Aristoteles, Nikomachische Ethik.
Das irreale Publikum
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zwar in keiner Epoche ganz erfahren, wir haben ja gesehen, wie die Schriftsteller des 18. Jahrhunderts eine Klassenliteratur schufen in dem Glauben, sich für und durch die literarische Autonomie von ihrer Klasse zu lösen. Aber 1850 wird die Verblendung gebieterisch verlangt: das Beste wird offenkundig von der Neurose geboten« (IF 5, 203 f.).41
11. 3. Das irreale Publikum Mit den bisherigen Überlegungen will Sartre nicht den Eindruck erwecken, in dieser Zeit habe es nur die Absolute Kunst bzw. die Neurose-Kunst gegeben. So etabliert sich mit François Ponsard, Emile Augier, Jules Sandeau und Alexandre Dumas dem Jüngeren – letzterer »nach einer ersten romantischen Ehrenrunde« – eine bewußt bürgerliche Literatur mit antiromantischer Stoßrichtung, die »die Leidenschaft im Namen des Utilitarismus« (IF 5, 207) verurteilt.42 Auf der gegenüberliegenden Seite existiert schließlich auch eine gesellschaftlich engagierte Literatur mit durchaus republikanischem, sozialistischem oder Saint-Simonistischem Hintergrund, die sich über die Unverbindlichkeit der zeitgenössischen Hochliteratur entrüstet. Hierzu gehören Pierre Leroux, Hippolyte Fortoul und Louis Blanc.43 Jene Schriftsteller um 1850, für die sich Sartre interessiert, finden sich »eingekeilt zwischen den objektiven Imperativen der Literatur der Epoche, deren erster, und bei nä41
Dieser neurotische Vorschlag der Kunst muß natürlich immer durch die jeweilige Künstlerpersönlichkeit auf individuelle Weise realisiert werden (vgl. IF 5, 178): »Im Objektiven Geist wird die historische Tiefe durch das Nebeneinander verschiedener praktisch-inerter Imperative gegenwärtig, ohne daß es schon zu einer Synthese käme. Diese ist vielmehr den einzelnen Retotalisierungen der Leser überlassen: sie bedarf also der subjektiven Vermittlung, die im Ausgleich zwischen den praktisch-inerten Imperativen samt ihren inneren Widersprüchen einerseits und den Imperativen der historischen Situation andererseits eine neue Synthese erst finden muß«. Da auf diese Weise die literarischen Normen der Tradition mit der gegenwärtigen historischen Situation vermittelt werden müssen, kann die »literarische Kommunikation niemals allein aus den im strengen Sinn synchronischen Bedingungen einer historischen Situation erschlossen werden, da sie gleichzeitig praktisch-inerten Imperativen folgt, die unter diesem Gesichtspunkt die Vergangenheit in der Gegenwart vertreten« (Grimm, ebd., 117). 42 In Was ist Literatur? gehören zu dieser Aufzählung der Schriftsteller, die eine Erbauungs- und Unterhaltungsliteratur geliefert haben, auch noch Marcel Prévost, Edmond Jaloux, Édouard Pailleron, Georges Ohnet, Paul Bourget und Henry Bordeaux. Nicht zuletzt haben sie aufgrund dieser Unterordnung unter die utilitaristische Doktrin »schlechte Bücher geschrieben« (WiL 91): »(W)enn sie Talent gehabt haben, haben sie es verstecken müssen« (WiL 91). Dagegen verweigern sich die »Besten«, und »(d)iese Weigerung rettet die Literatur, legt aber für fünfzig Jahre ihre Wesenszüge fest« (WiL 91). 43 So wird auch der Romantiker Hugo der gesellschaftlichen Kunst gegenüber der Absoluten Kunst den Vorzug geben (vgl. IF 5, 207).
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11. Das Imaginäre als gesellschaftliche Struktur
herem Hinsehen fast einziger, die Autonomie ist, und den Imperativen der historischen Situation« (IF 5, 209). Diese Exponenten der Absoluten Kunst sind »Théodore de Banville, Jules Barbey d’Aureville, Charles Baudelaire, Louis Bouilhet, Gustave Flaubert, Eugène Fromentin, Théophile Gautier, die Goncourts, Charles Leconte de Lisle, Louis Ménard, Ernest Renan usw.« (IF 5, 209).44 Sie alle sind sich der Pflicht gegenwärtig, eine gespürte oder gespielte neurotische Haltung – eine Art »Mißerfolgssyndrom« (IF 5, 210) – einzunehmen und die Kommunikation mit ihren bürgerlichen Lesern zu verweigern, welche eine Klassenliteratur verlangen (vgl. IF 5, 210). Warum aber, so lautet die interessante Frage, die sich der Autor der Flaubert-Studie nun stellt, haben die zeitgenössischen Leser diese Literaten, die sie ablehnen, nicht ihrerseits abgelehnt, sondern begeistert ihre Bücher rezipiert? Sicher bringen es nicht alle diese Autoren zu Ansehen, »aber keiner ist unbekannt gestorben; das erste veröffentlichte Werk Flauberts – und zweifellos das radikalste, das schwärzeste –, nämlich Madame Bovary, hat ihm durch einen aufsehenerregenden Erfolg Ruhm eingebracht« (IF 5, 210). Für Sartre bedeutet dies, daß sich umfangreiche Rezipientengruppen in diesen Büchern »wiedererkannt« haben müssen, d. h. offenbar ist die Neurose-Literatur auf eine komplementäre neurotische Lektüre gestoßen. Seiner Hypothese zufolge nimmt »dieses abgelehnte Publikum« die menschenfeindlichen Werke an, »weil es sich in gewissem Maße selbst ablehnt« (IF 5, 210).45 Und dies liegt, wie im folgenden zu zeigen sein wird, an dem Umstand, daß die Nachromantiker ihre ersten Bücher in einem historischen Moment veröffentlichen, da »die Februarrevolution von 1848 und der Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 die menschli-
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Gautier, der auch noch der Romantik zuzuordnen ist, hat im Vorwort zu seinem Roman Mademoiselle de Maupin als erster Schriftsteller die ästhetische Doktrin des L’art pour l’art aufgestellt (vgl. IF 5, 206, 209). 45 Besinnt man sich auf Sartres rezeptionsästhetische Untersuchungen in Was ist Literatur?, so wird deutlich, daß der Publikumserfolg in gewisser Hinsicht konstitutiv für die Genese eines literarischen Kunstwerks ist. Der Kunstcharakter eines Textes ist in diesem Sinne von der intersubjektiven Gemeinsamkeit zwischen Produzent und Rezipient abhängig, wenn es Kunst »nur für und durch andre« (WiL 39) gibt. Ist das Schreiben nur ein unvollständiger Akt der Kunstproduktion, so ist es der Leser, der dem Werk Objektivität und damit den Status eines konstituierten Kunstwerks verleiht. Schriftsteller ist nur derjenige, so heißt es, der auch veröffentlicht und gelesen wird, und dies geschieht nur, wenn das Werk opportun und aktuell ist, d. h. daß – trotz aller möglichen Interpretationsirrtümer – »Leser und Autor sich als synchron entdecken« (IF 5, 35). Wenn aber das Publikum sich in dem Buch wiedererkennt, »dann muß der Schriftsteller die gemeinsame Erfahrung in dem erlebt haben, was an ihm am typischsten ist oder, wie die Amerikaner sagen, ›populär‹« (IF 5, 35). Damit entscheidet aber letztlich die Mentalität des zeitgenössischen Publikums bzw. der Zeitgeist über den Kunstcharakter. Sartres Vorgehensweise bringt es also mit sich, »daß die Monographie über Flaubert zugleich eine Monographie über die französische Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts werden muß« (Oehler, ebd., 152).
Das irreale Publikum
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chen Beziehungen und das Klassenbewußtsein der Bürger verändert« haben (IF 5, 210).46 Wer genau sind aber die Leser von fiktionaler Literatur um 1850? Das gesellschaftliche Ensemble, das in erster Linie für die Nachromantik in Frage kommt, sind die halbbegüterten ›Mittelklassen‹ bzw. deren obere Schicht, die sogenannten »Kapazitäten«. Hierzu gehören »Ärzte, Ingenieure, Architekten, Anwälte, Wissenschaftler, Lehrer, Professoren usw.« (IF 5, 212). Es handelt sich also um »gesellschaftliche Individuen, die ein exaktes Wissen hervorbringen, übermitteln oder benutzen, zu Zwecken, welche theoretisch die ganze Gesellschaft betreffen, faktisch aber vor allem den besitzenden Klassen dienen« (IF 5, 212). Als das Großbürgertum die politische Macht gewonnen hat, ersetzt es die prinzipielle Gleichheit, die sich der Aufklärung zufolge aus der Menschennatur ergibt, durch die Spaltung der ›Gleichen‹ mittels des Zensuswahlrechts in »aktive und passive Citoyens« (IF 5, 217). In kantischen Worten ausgedrückt, verwandelt sich hiermit Sartre zufolge das analytische und apriorische Urteil ›Jeder Mensch ist ein Mensch‹ in das synthetische und aposteriorische Urteil ›Nur die Eigentümer sind Menschen‹ (vgl. IF 5, 217). So wird in dieser Zeit der Mensch durchaus als ein zoon politikon definiert, und damit ist gemeint, daß »die volle Entfaltung seiner Menschlichkeit mit der Aktualisierung seiner Staatsbürgerrechte und -pflichten in der Praxis zusammenfällt« (IF 5, 234). Insofern in einer Plutokratie nur der Reiche wirklich ein Mensch, also eine Person mit staatsbürgerlichen Rechten ist, sind die Kapazitäten »Untermenschen«, obwohl die gesamte Gesellschaft praktisch auf ihrem Wissen beruht.47 Diese Halbbegüterten, die der Ideologie des bür-
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Indem Sartres Ansatz die Diachronie der literarischen Tradition mit der Synchronie der jeweiligen Leserideologie verbindet, entgeht er den reduktionistischen Konsequenzen der marxistischen Literaturinterpretation z. B. von Lukács und Plechanow (vgl. zur Kritik an der marxistischen Methode: Jauß, ebd., 154–164). Vgl. Grimm, 145: »Der literarische Produktionshorizont integriert nicht nur synchronische Bedingungen der historischen Situation, sonst ließe sich die Literatur einer Epoche ideologiekritisch aus dieser ableiten, was Sartre bezeichnenderweise nicht tut. Der Produktionshorizont ist vielmehr gleichzeitig von den Normen vergangener literarischer Epochen mitbestimmt, deren praktisch-inerte Imperative die gegenwärtige Literatur in hohem Maße bedingen«. Insofern die Kunst für Sartre kein »Epiphänomen der politischen Realität« ist, existiert für ihn »eine relative und regionale Autonomie der Strukturen und die Unreduzierbarkeit einer Struktur auf die niedrigere, die sie hervorgebracht hat und sie streng bedingt. Deshalb sind Regeln vorstellbar, die nur der Kunst eigen sind« (WkL 52). 47 Als Leser der Romantik gibt Sartre zuvor Frauen und Jugendliche mit der Begründung an, daß diese weniger integriert seien (vgl. IF 5, 130). Einige Seite später nennt er die soziale Schicht der Kapazitäten, denen politisches Handeln versagt ist, als typische Leser der Nachromantik. Diese Aufzählung erinnert z. T. an diejenige in der Genet-Studie – »Jugendliche, Frauen, Päderasten« (SG 581) –, in der allerdings noch der soziologische Blick auf bestimmte Gesellschaftsschichten fehlt. Für Sartre sind – sieht man einmal vom
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gerlichen Humanismus eine intellektuelle oder sogar wissenschaftliche Form geben, legitimieren also die Herrschaft derjenigen, die ihnen »die politische Dimension« (IF 5, 217) verweigern, weil ihr Einkommen unter dem Wahlzensus von zweihundert Franc liegt (vgl. IF 5, 234). Dieser Gesellschaft entspricht nach Sartre allein ein pessimistischer Humanismus, aber hierfür ist es erforderlich, daß eine Katastrophe den Schleier des allgemeinen Optimismus zerreißt. Die Bedingungen für ein solches Ereignis sieht Flauberts Biograph im Jahr 1848 gegeben.48 Zwischen 1846 und 1848 führen Mißernten in Europa zu Lebensmittelknappheit und chronischer Massenarbeitslosigkeit. Die Mittelklassen geben dem Wahlzensus die Schuld an der allgemeinen Misere; dessen Reduktion auf die Hälfte würde es erlauben, daß die aufgeklärte Elite ungehindert ihre Qualifikationen in die Politik einbringen dürfte.49 Dennoch will niemand – »außer einigen Geheimgesellschaften« – die Republik, sondern nur Reformen, die das bestehende Regime bewahren (vgl. IF 5, 245). Als sich die Stimmung wieder einigermaßen beruhigt hat, verbietet die Regierung ungeschickterweise eine der politischen Versammlungen (22. Febr. 1848), woraufhin eine Volksdemonstration stattfindet, die schließlich in Aufruhr umschlägt. Der Rückzug der Nationalgarde führt zum Ende der Julimonarchie unter Louis Philippe und zur Ausrufung der Provisorischen Regierung am 24. Febr. 1848. Am 28. Februar werden Nationalwerkstätten zur Arbeitsbeschaffung für Arbeitslose (8 Franc Wochenlohn) geschaffen und am 5. März das allgemeine Wahlrecht eingeführt. Am 21. Juni verkündigt die Verfassunggebende Versammlung die Auflösung der Nationalwerkstätten und beabsichtigt, die 18- bis 25jährigen Arbeitslosen zwangsweise von der Armee übernehmen zu lassen und die übrigen zu Rodungsarbeiten in die Provinz zu schicken. Daraufhin kommt es am 23. Juni zu einem Aufstand der Arbeiter von Paris, die Barrikaden errichten und schließlich den Osten der Stadt kontrollieren. Drei Tage später, am 26. Juni, wird der Aufstand von der Nationalgarde unter der Befehlsgewalt von General Cavaignac blutig niedergeschlagen. Bei den Kämpfen selbst kommen 400 bis 500 Aufständische zu Tode, über 3000 Aufständische werden anschließend ermordet, 11057 verhaftet, 1500 ohne Gerichtsurteil erschossen. Cavaignac bleibt zunächst an der Spitze der neuen Regierung, bis er am 10. Dezember 1848 von dem Prinz-Präsidenten Louis Napoléon Bonaparte, dem Wunschkanditaten der Bankiers und der IndustriBildungsstand ab – offenbar jene Personengruppen für die Rezeption belletristischer Bücher prädestiniert, »die die Gesellschaft ausgeschaltet hat« (SG 581) bzw. die sich in einer vornehmlich passiven Rolle mit Gefühlen sozialer wie politischer Ohnmacht befinden. 48 Vgl. im folgenden zu den historischen Hintergründen auch Palmade, Das bürgerliche Zeitalter, 38–67. 49 Durch eine solche Senkung des Wahlzensus um die Hälfte würde sich die Zahl der Wähler verdoppeln. In diesem Fall gäbe es 400 000 Wahlberechtigte von mehr als 30 Millionen französischen Einwohnern (vgl. IF 5, 236).
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ellen, abgelöst wird, welcher schließlich am 2. Dezember 1851 eine Militärregierung errichten wird. Nach Sartre beruhigt jedoch die gewonnene Schlacht keineswegs die Eigentümer, vielmehr konsolidiert sie »ihre Angst und ihren Haß« und verwandelt sie in die »chronische Krankheit des Pessimismus« (IF 5, 246). Die herrschende Klasse hört auf, die regierende Klasse zu sein; um ihre politischen Rechte nicht teilen zu müssen, opfert sie sie einem Militärdiktator und erhält dafür die ökonomische Sicherheit (vgl. IF 5, 246 f.). Es findet also eine Entpolitisierung der Bevölkerung statt, um durch Gewalt die Sicherheit des Eigentums zu garantieren. Nach Sartre ist damit der Optimismus der bürgerlichen Ideologie endgültig an sein Ende gekommen (vgl. IF 5, 247). Das Kapital kann in dieser Akkumulationsphase nur vermehrt werden, wenn der Arbeiter entmenschlicht, d. h. wenn das Recht auf Arbeit aufgehoben und der Arbeiter auf die Ware Arbeitskraft reduziert wird (vgl. IF 5, 248). Während sich die Bürger 1840 noch als allgemeine Klasse sehen, stellen sie 1848 fest, daß der Anspruch des Arbeiters auf Menschlichkeit unvereinbar mit der gesellschaftlichen Ordnung von Eigentümern ist. Das vermeintliche allgemeine Interesse ist nur das Interesse der herrschenden Klasse, und dieses Interesse besteht in der »Aufrechterhaltung der Ausbeutung der arbeitenden Klassen mit allen Mitteln« (IF 5, 283). Kurz, die besitzende Klasse kann sich nur behaupten, wenn der Arbeiter ein Untermensch bleibt (vgl. IF 5, 248). Die Junimassaker von 1848 haben die menschlichen Verhältnisse neu definiert: »Der Mensch von 1850 ist nicht mehr einfach Unternehmer oder einfach Arbeiter; nach dem Juni 1848 ist er als Unternehmer mit den Mördern und als Arbeiter mit den Ermordeten solidarisch« (IF 5, 347). Die Schlächterei, jenes haßerfüllte Bild, das die anderen Klassen den Bürgern widerspiegeln, muß nun, wie Sartre fortfährt, vom ideologischen Klassenbewußtsein integriert und legitimiert werden. Von 1850 an wird die Basis des bürgerlichen Humanismus die »radikalste Menschenfeindschaft« (IF 5, 249) sein, und in panischer Angst vor ihrem eigenen Produkt, dem Proletariat, will die Bourgeoisie auch den Arbeiter mit dieser Sicht der Menschennatur infiltrieren, damit dieser fortan nicht mehr den Bürger, sondern in diesem wie in sich selbst die allgemeine Menschennatur verurteilt (vgl. IF 5, 249).50
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Siehe T. König, ebd., 23: »Das Bürgertum, das sich, als es noch gegen Adel, Klerus und Absolutismus kämpfte, für die universale Klasse, für das Menschengeschlecht halten konnte, kann sich nun nicht mehr als ›gut‹ ausgeben. Zur Legitimierung seiner Herrschaft kann es sich aber ebensowenig als ›schlecht‹ ausgeben. Also bleibt nur die Möglichkeit, den Menschen selbst, die Menschennatur als ›schlecht‹ auszugeben, damit man sie im Interesse höherer, aber unmenschlicher Zwecke – der Ökonomie, der Wissenschaft, der Schönheit – unterdrücken kann«. Siehe auch Oehler, ebd., 160: »Der Juni 1848 markiert in der französischen Geschichte den Zusammenbruch der Menschheits- und Brüderlichkeitsideologie, der revolutionären Illusionen des Volks und des Kleinbürgertums, das Ende der Ära
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Die herrschende Klasse hat zwar nicht die intellektuellen Mittel, diese Ideologie als »Idee« hervorzubringen, aber sie wird zum »tiefen Sinn ihrer Hexis« (IF 5, 250). Mit der ›Hexis‹ einer sozialen Gruppe meint Sartre »den Komplex der Alltagspraktiken, die aus ihrer Situation und ihrem Unternehmen entstehen und ihr vor jeder verbalen Erklärung ein gewisses Bild von sich selbst geben, das mehr erlebt als dargestellt wird« (IF 5, 250). Diese Hexis ist ab 1848 die »Distinktion« (IF 5, 250; vgl. hierzu auch KDV 816 ff.), d. h. die Zurückweisung des Lebens, der Lebensfunktionen und –bedürfnisse konstituiert den sittlichen Verhaltenskodex (vgl. IF 5, 250). Vorbereitet ist diese Praktik bereits durch den wirtschaftlichen Wettbewerb, der dem Bürger Enthaltsamkeit aufzwingt, indem er ihn veranlaßt, seinen Profit nicht zur Bedürfnisbefriedigung zu verwenden, sondern zu reinvestieren, um sein Kapital zu vermehren. Etwa von 1848 an kultiviert nun Sartre zufolge der distinguierte Bürger eine strenge puritanische und antinaturalistische Ethik, die eine Unterdrückung seiner eigenen menschlichen Bedürfnisse fordert, um die Unterdrückung des Proletariers bzw. des ›Bedürfnismenschen‹ zu legitimieren.51 Die Denunziation des Lebens als Vulgarität nimmt absichtlich die Wirkung für die Ursache und verweigert den Arbeitern politische Rechte, weil sie sich nicht über die Stufe der Animalität erheben können (vgl. IF 5, 255): »(I)nsofern der Arbeiter damals auf Grund seiner Bedürfnisse und nur dieser Bedürfnisse Forderungen erhebt und diese Forderungen ihn in brutalen Gegensatz zur Unternehmerschaft bringen, haßt und unterdrückt die herrschende Klasse das Proletariat in sich selbst, oder genauer noch die Animalität, insofern sie den herrschenden Klassen und den ausgebeuteten Klassen gemeinsam ist und diese aus dieser Gemeinsamkeit die Berechtigung ableiten könnten, von jenen eine Erhöhung der Löhne oder jene ›Föderation der Klassen‹ zu verlangen, die die Begüterten mit Entsetzen erfüllt. So kann man sagen, the man of distinction – wie man noch heute auf Reklameplakaten in den Vereinigten Staaten liest – unterdrückt den Arbeiter in sich als allgemeine Animalität, weil er ihn draußen als Güterproduzenten ausbeutet« (IF 5, 256). Die Distinktion als Rechtfertigung der ökonomischen Herrschaft einer Klasse, die ihre politische Macht aufgegeben hat, ist für Sartre die Basis der neuen Ideologie. Diese Praxis oder Hexis soll von den Kapazitäten zur Theorie er-
der schönen Gefühle, das Hervortreten der Klassengegensätze, der Unversöhnlichkeit der ökonomischen und politischen Interessen von Bourgeoisie und Proletariat«. 51 Vgl. IF 5, 255: »Es ist sicher, daß der Proletarier in dem unglaublichen Elend, in dem man ihn damals hält, und, selbst wenn er eine Stelle findet, mit der totalen Unsicherheit, in der er lebt – weil ja der meist nur für einen Tag geltende Arbeitsvertrag ihm nicht einmal den nächsten Tag garantiert –, keinen andren quälenden Gedanken hat als die Befriedigung seiner Bedürfnisse«.
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hoben werden; sie verlangt »ihre Erklärung durch die Sprache und ihre Integration in ein System der Welt, in eine Werteskala« (IF 5, 257). Die Kapazitäten, die niemals das allgemeine Wahlrecht und schon gar nicht die Republik gewollt haben, hassen, wie Sartre meint, in den Arbeitern »die sozialistische Gefahr«, aber mehr noch »die Unverschämtheit von Untermenschen, sich zu ihresgleichen zu erklären« (IF 5, 259).52 Daher sehen sie die Diktatur als notwendiges Übel, das durch die Gewaltausbrüche des Pöbels gerechtfertigt ist. Insofern die Menschennatur böse ist, kann die gesellschaftliche Ordnung nur auf eine solche gewaltsame Weise garantiert werden (vgl. IF 5, 261). Konsequent versucht die aufgeklärte Elite des Zweiten Kaiserreichs, seit dem Scheitern ihres politischen Engagements von 1848 die menschliche Praxis als eine Illusion zu entlarven. Die historisch datierbare Niederlage wird zu »einer metaphysischen Bestimmung des Mensch-seins: der Mensch als Fehlschlag der Natur muß in allen seinen Unternehmungen scheitern, das ist sein Schicksal« (IF 5, 262). Der Szientismus, den die Kapazitäten nun in den folgenden Jahren entwickeln, ist für Sartre »die provisorische Ideologie der Unternehmerschaft« (IF 5, 276), also das theoretische Äquivalent der Distinktion.53 Im szientistischen Objektivitätsideal erblickt der Biograph Flauberts vor allem eine Variante der Menschenverachtung, welche »auf die Zerstörung jeder subjektiven Innerlichkeit« (IF 5, 276) hinausläuft.54 In diesem »verhüllte(n) Traum eines Genozids« (IF 5, 320), der das politische Scheitern der Kapazitäten kompensieren soll, werden die für Sartre wesentlichen Momente der conditio humana, nämlich Subjektivität und Praxis, auf die Objektivität eines mechanischen Systems reduziert, das durch Außenkonditionierung kontrolliert werden kann (vgl. IF 5, 265):55 »Man wird die Analyse und den Determinismus benutzen, um die Transzendenz und die Überschreitung als Grundlagen der Praxis aufzulösen« (IF 5, 262).56 Hieraus 52
Aus diesem Grund ist es nur konsequent, wenn sich auch die Kapazitäten die bürgerlichen Distinktionspraktiken aneignen (vgl. IF 5, 275). 53 Die Bewunderung Darwins hat ihren Grund darin, daß er »die beiden köstlich unmenschlichen und pessimistischen Ideen vom Struggle for life und vom Überleben des Stärkeren popularisiert« (IF 5, 263). Hierdurch erhält die bürgerliche Wettbewerbsgesellschaft eine »biologische Rechtfertigung« (IF 5, 263). 54 Sartre räumt jedoch ein, daß die weitverbreitete Lektüre wissenschaftlicher Werke natürlich auch von der Begeisterung für die rasante industrielle Entwicklung herrührt (vgl. IF 5, 277). 55 Es ist allerdings entscheidend, daß Sartre die Faktizität bzw. Objektivität der menschlichen Existenz nicht leugnet, aber jede Reduktion auf diesen Aspekt mit dem Verweis auf Subjektivität und Praxis in Abrede stellt. Seine anthropologische Konzeption schließt beide unterschiedlichen Seiten als notwendige Momente ein: »Das Wesen der dialektischen Vernunft besteht im Gegenteil darin, daß sie den Ereignis-Menschen als einen versteht, der die Geschichte erleidet und im selben Atemzug macht« (IF 5, 348). 56 Vgl. Oehler, ebd., 164; Wannicke, ebd., 210.
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folgert Sartre: »Die wissenschaftliche Organisation der Menschheit ist nicht einmal die Selbstzähmung des Menschen: es ist seine Beseitigung und Ersetzung durch einen Roboter« (IF 5, 267). Ganz im Gegenteil definieren jedoch bereits der zeitgenössische Sozialist wie der Republikaner den Menschen durch die Praxis und erkennen ihm hierdurch eine politische Dimension zu – »(d)as heißt ein praktisches Verhältnis zur menschlichen Zukunft, die Bestimmung unsrer staatsbürgerlichen Handlungen durch den Menschen, den wir hervorbringen, aber nicht sehen werden« (IF 5, 265).57 Während auf diese Weise genauso wie bei Sartre selbst der Mensch als »›Wesen der Ferne‹« in Erscheinung tritt, bei dem »das Nicht-sein in Form des Noch-nicht zur Quelle der Existenz« wird, soll ab ca. 1852 »die menschliche Politik durch äußere Bedingtheit« ersetzt werden (vgl. IF 5, 264 f.). Solange die Staatsmacht politisch bleibt, muß sie die Forderungen ihrer Untertanen berücksichtigen, von denen sie das Mandat erhalten hat. Unter diesen Bedingungen bestehen trotz aller Verzerrungen und Ungerechtigkeiten immer noch durchaus menschliche Beziehungen. Aus der Perspektive des Szientismus muß der Staatsbürger hingegen nicht mehr überzeugt oder um seine Zustimmung gebeten werden, denn seine Meinung hat physiologische und soziale Ursachen, die man durch »Sozialingenieure« (IF 5, 266) steuern kann. Politischen Einfluß kann der Intellektuelle auf diese Weise zumindest als »Ratgeber des Diktators« (IF 5, 274) ausüben. Sartre versucht den Gesichtspunkt des Absoluten, d. h. das Prinzip des Überfliegens der menschlichen Spezies sowie der eigenen Geschichtlichkeit, nun auch im Szientismus aufzuspüren. So erklärt z. B. Taine Laster, Tugenden und Kunstwerke durch mechanische Einflüsse des Milieus, aber niemals kommt er auf die Idee, daß solche Erklärungen auch auf seine eigene Theorie zutreffen könnten (vgl. IF 5, 268 f.). Der Wissenschaftler ist ein vollkommen wurzelloser und reiner Blick, der konstatiert, daß die Individuen Impulse, die sie von außen determinieren, für persönliche Entscheidungen halten. Aus diesem Grund ist jegliches Handeln – und insbesondere das politische – nur »der Alptraum eines mechanischen Systems, das selbst über die Bewegungen zu entscheiden glaubt, die man ihm von außen aufzwingt« (IF 5, 274): Für Hippolyte Taine wie für Ernest Renan, »für alle diese Bewußtseine des Überfliegens ist die Sozialwissenschaft unmenschlich« (IF 5, 269).58 Das Wiederaufleben des Assoziationismus im Frankreich des
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»(D)as Primat der Praxis und die politische Dimension der menschlichen Realität« bilden für Sartre offensichtlich einen konstitutiven Zusammenhang (vgl. IF 5, 265). Nach dem zweiten Imaginationsparadigma – Gegenpol zur Praxis – verwirklicht die Politik das Wesen des Menschen als Praxis, wohingegen er irrealisiert wird, sobald die politische Dimension ihm versagt ist. 58 Ins Auge fällt der logische Widerspruch des Szientismus, denn das wissenschaftliche Überfliegen ist kaum vereinbar mit dem assoziationistischem Menschenbild (vgl. IF 5,
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19. Jahrhunderts, welches in Taines Hauptwerk De l’intelligence von 1870 seinen theoretischen Höhepunkt findet, ist Sartres Ansicht nach also durch den Haß auf den Menschen und die menschliche Praxis motiviert, die geschichtliche Ursachen haben (vgl. IF 5, 271).59 Der Auffassung, der Mensch sei das Subjekt seines Handelns, werden die Erkenntnisse der am weitesten entwickelten Wissenschaft entgegengehalten und die Praxis durch Trägheit ersetzt. Auf diese Weise erfolgt »die Ersetzung des Menschen als Subjekt der Geschichte durch den Menschen als Objekt der Wissenschaft und ihrer Anwendung« (IF 5, 409). Diese wissenschaftliche Anthropologie ist allerdings zur Zeit von Flauberts ersten Veröffentlichungen noch Zukunftsmusik, d. h. eine mehr oder weniger gewagte Extrapolation, die einstweilen ohne wissenschaftliche Grundlage bleiben muß (vgl. IF 5, 273). Sartre erblickt im hypothetischen Menschenbild des Szientismus sowie in seiner assoziationistischen Erkenntnistheorie, nach der sich ›fertige Erkenntnisse‹ in der Welt im Bewußtsein des Wissenschaftlers ›einprägen‹, eine deutliche Analogie zur marktgesetzlichen Unterordnung des Produzenten unter sein Produkt: »(D)er Szientismus erklärt sich zum Humanismus, wenn er im Menschen das Wesen bewundern kann, das in seinem Sein seine radikale Unterordnung unter die bearbeitete Materie proklamiert« (IF 5, 276). Die Entfremdung in das bearbeitete Ding erfolgt durch die Unterordnung unter die Erfordernisse des Dinges bzw. der Fabrik, der Bank usw. (vgl. IF 5, 278)60 Insofern sich der Mensch durch das Eigentum definiert und damit als Person und Selbstzweck negiert wird, findet er sich als Mittel des praktisch-inerten Imperativs des Profits wieder. Der Unternehmer dient dem Profit, der sich als absoluter Wert für sich setzt, und nicht umgekehrt (vgl. IF 5, 282). Er ißt, um zu leben und lebt, um seine Interessen zu verteidigen (vgl. IF 5, 311). Und diese Negation des Menschen als Selbstzweck bedeutet für Sartre eine unverkennbare Form der Entmenschlichung (vgl. IF 5, 312). »Die Entfremdung des Fabrikanten in seine Fabrik hat zur unmittelbaren Folge, daß diese es ist, die die Befehle gibt. 1840 ist das Interesse eines Spinnereibesitzers, wenn ein andrer Spinnereibesitzer eine englische Maschine importiert, die Verpflichtung, die gleiche Maschine zu kaufen oder, wenn möglich, andre, noch bessere, um der Konkurrenz einer rivalisieren271). Läßt sich denn sagen, daß sich das Gravitationsgesetz von Newton entdecken lassen hat? (vgl. IF 5, 274). 59 Eine Gegenbewegung, die sich durch eine Rückbesinnung auf Kant auszeichnet, findet sich nach Sartre etwa bei Whitehead und Peirce (vgl. IF 5, 270). 60 Auch hier zeigt sich eine Aporie: Wenn es nur Dinge und keine Praxis gibt, dann kann auch von einem Opfer nicht die Rede sein. Sobald die Entfremdung ins Ding eine normative Wendung erhält, so ist der Mensch als ein praktisch Handelnder vorausgesetzt, der sich freiwillig den bearbeiteten Dingen unterordnen soll. Wie Sartre erläutert, sind solche Unstimmigkeiten kennzeichnend für Ideologien (vgl. IF 5, 279, 307).
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den Fabrik gewachsen zu sein, deren Kosten gesenkt worden sind. Insofern kommt sein Interesse negativ von dem eines andren zu ihm als bloße Gefahr eines Ruins, die von der Fabrik absorbiert und ihm als eine positive Forderung zurückgeschickt wird. Ein im Prinzip hypothetischer Imperativ: ›Wenn du nicht willst, daß dein Eigentum verschwindet …‹ Faktisch ein kategorischer Imperativ: da ja der Fabrikant seine objektive Realität im besessenen Gegenstand hat, käme die Zerstörung des letzteren der Vernichtung des menschlichen Wesens in seiner Person gleich« (IF 5, 281 f.). Das Eigentum, das den Eigentümer definiert, wird zum »Grundcharakter des menschlichen Wesens« (IF 5, 279). Infolge dieses »Prinzip(s) des Ding-Menschen«, also »des Menschen ohne reale Innerlichkeit« (IF 5, 280), konstituieren sich die menschlichen Beziehungen nicht als wechselseitige Kommunikationsverhältnisse zwischen praktischen Subjekten, sondern als reine Objekt- und Außenverhältnisse nach dem Modell eines mechanischen Systems. Grundlage und Folge des bürgerlichen Privateigentums ist demnach für Sartre also eine Irrealisierung der Sozialbeziehungen vor allem im Sinne des dritten Imaginationsbegriffs als Gegenpol zur Valorisierung (vgl. IF 5, 280). So steht auch der ökonomische Wettbewerb im Schatten eines weniger subjektiven als vielmehr praktisch-inerten Menschenhasses. Er ist »der kreisende Haß eines jeden auf jeden, und niemand versteht damals, daß nicht der Mensch der natürliche Feind des Menschen, das heißt seiner selbst ist, sondern daß es der Besitz der andren ist, der den Eigentümer mittels seiner eigenen Güter haßt« (IF 5, 282). An dieser Stelle offenbart sich das wahre Gesicht des Utilitarismus: »(B)ot er sich auf den ersten Blick als eine Theorie der menschlichen Zwecke und als eine auf der Suche nach dem Nützlichen basierende Lebenskunst dar, so sehen wir jetzt, daß er kein andres Ziel hat, als auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens die Unterordnung des menschlichen Lebens unter die Notwendigkeiten der Akkumulation zu realisieren« (IF 5, 282).61 Sartre diagnostiziert dieser Epoche eine »gehässige Unwesentlichkeit der menschlichen Realität« sowie einen »Humanismus des Unmenschlichen« (IF 5, 294), der den Profit für den Profit, die Wissenschaft für die Wissenschaft und schließlich die Kunst für die Kunst setzt. Alle diese unterschiedlichen kulturellen Bereiche konstituieren also eine Irrealisierung des Menschen. Diese radikal pessimistische Hauptbestimmung der Ethik, die sich hinter dem offiziellen Fortschrittsoptimismus versteckt, bleibt Sartre zufolge bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gültig (vgl. IF 5, 294, 307).62 61
So soll auch die Distinktion weniger ein Ausdruck der souveränen Macht des Menschen über seine Bedürfnisse sein, sondern vielmehr »der Tyrannei«, welche »das menschliche Ding über ihn ausübt« (IF 5, 287). 62 Während also zwischen 1850 und 1870 der Mensch nicht mehr durch die Praxis definiert wird (vgl. IF 5, 302), sieht Sartre in der Epoche von 1880 bis 1914 das Aufkommen
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Obwohl die Bürger und die aufgeklärte Elite die Neurose-Kunst strenggenommen nicht erwarten, besteht eine »merkwürdige Harmonie« (IF 5, 308), insofern die »Ritter des Nichts« ebenso wie die szientistischen Wissenschaftler eine »fingierte Desituierung gegenüber der Welt« vornehmen. Beide betreiben das letztlich imaginäre Überfliegen der Welt und nivellieren die Handlungsmöglichkeiten des Menschen: »Wissenschaftler sind das natürliche Publikum jener Literatur, die den Grundcharakter der exakten Disziplinen zur Primärstruktur der ästhetischen Hexis hat« (IF 5, 309).63 Die Prinzipien der Absoluten Kunst korrespondieren also Sartre zufolge in einer »Spiegelwechselseitigkeit« (IF 5, 310) mit der szientistischen Haltung des Überfliegens, so daß die aufgeklärte Elite nach ihrer Wissenschaftsauffassung Flaubert als Psychologen und Soziologen lesen kann. Der Schriftsteller sagt zwar nirgendwo explizit, daß das Handeln des Menschen »nur ein Traum der Materie sei« (IF 5, 322), aber seine pessimistischen Werke führen das Scheitern, die Verzweiflung und den Tod ihrer Protagonisten vor. Wenn er also die Innerlichkeitsdimension des Menschen, die die notwendige Bedingung der Praxis ist, als »überflüssigen Alptraum« (IF 5, 322) darstellt, dann liefert er »objektive Indikatoren für den kommenden Anthropologen« (IF 5, 322), die der späteren – ebenso exakten wie vollständigen – Integration des Menschen in den Szientismus als Richtlinie dienen können (vg. IF 5, 310). Sobald nun die Kapazitäten das nachromantische Werk aufschlagen, so glauben sie »einen Appell an die Wissenschaft, die prophetische Forderung nach einer Anthropologie und einem human engineering zu erkennen« (IF 5, 323). Sartre erklärt: »Das Ziel ist offenkundig: Selbstzerstörung. Der Leser findet sich wieder zu Hause, er erkennt in den Gedichten und Romanen der neuen Autoren eine geheime Huldigung seiner Ideologie: er weiß, daß man ihm im Namen seiner eignen Prinzipien sein erlebtes Leben als eine Mystifikation schildert und daß der Künstler, indem er den Stier bei den Hörnern packt und sich an den konkreten Menschen heranwagt, zur allgemeinen Auflösung der Spezies beiträgt: er macht zwar aus dem Menschen kein sich selbst äußerliches Wesen, das man von außen konditionieren muß, das ist nicht seine Sache; aber indem er ihn im Tiefsten seines inneren Lebens angeht, enthüllt er, daß dieses in seiner Innerlichkeit selbst eine erbärmliche Lüge ist« (IF 5, 322).
eines neuen Optimismus, der seine sozialökonomischen Ursachen in einem Arbeitskräftemangel hat, wodurch es zu einem erheblichen Machtzuwachs der Arbeiterbewegung kommt. Infolgedessen ahnt man die Möglichkeit, die haßerfüllten Antagonismen durch Kollektivverträge zu ersetzen (vgl. IF 5, 301). 63 Vgl. Grimm, ebd., 138; T. König, ebd., 22 f.
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Dieser Haß der Kapazitäten, der sich auf unverbindliche Weise offiziell gegen die Menschennatur wendet, bezieht sich faktisch sowohl auf die herrschende Klasse, die lieber ihre Rechte aufgibt, als sie mit den Kapazitäten zu teilen, als auch auf die Arbeiter, die den Sieg der Februarrevolution in eine Katastrophe verwandelt haben (vgl. IF 5, 311). Die Menschenfeindschaft des Künstlers ist hingegen älter. Sie entspringt der Romantik und ihrem aristokratischen Blick auf das Bürgertum (vgl. IF 5, 311). So wie der NeuroseKünstler die menschlichen Zwecke negiert, um die menschliche Natur, die er mit dem Bürger teilt, in sich abzutöten, wird der Bürger distinguiert, um die menschliche Natur, die er mit dem Arbeiter teilt, in sich zu eliminieren (vgl. IF 5, 312). Die Wahrung der literarischen Autonomie verfolgt also dieselbe Strategie wie die Legitimation der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse. Insofern die intellektuelle Elite des Bürgertums in der Neurose-Kunst den eigenen Selbsthaß bzw. das L’art pour l’art als künstlerisches Äquivalent von Distinktion, kapitalistischer Profitmaximierung und szientistischem Wissenschaftsverständnis wiederfindet (vgl. IF 5, 312 f.), avancieren paradoxerweise die antibürgerlichen Schriftsteller der Nachromantik zu den »Sänger(n) der bürgerlichen Gesellschaft par excellence« (IF 5, 314). Der antibürgerliche Kult der Künstlichkeit, die Abneigung gegenüber den natürlichen Trieben, die Negation der »Kommunikation unter den Menschen als innerliche Verständnisbeziehung« (IF 5, 315), das Dandytum Baudelaires – all dies sind im Grunde antibürgerliche Aufforderungen an den Leser, sich noch mehr zu verbürgerlichen, d. h. die bürgerliche Distinktion weiter zu treiben (vgl. IF 5, 312 f.).64 So wie der nachromantische Schriftsteller seine Menschlichkeit für die Kunst opfert und gerade hierdurch glaubt, dem Utilitarismus zu entgehen und die literarische Autonomie zu bewahren, fordert der Utilitarismus seinerseits die Entfremdung des Menschen in das menschliche Ding, weil der Mensch für die Profitmaximierung da ist und nicht umgekehrt.65 Gerade der Versuch, der Bürgerlichkeit zu entkommen, macht also diese Schriftsteller bürgerlich: »Die Blindheit des Künstlers besteht im Grunde darin, daß er das Menschsein zurückgewiesen hat, um dem Bürger-sein zu entgehen, ohne zu merken, 64
Siehe Oehler, ebd., 165: »Mit ihrem ursprünglich als Affront gemeinten Allüren, Verhaltensformen und ästhetischen Verhaltensweisen, mit ihrem Sein und ihrer Literatur bestätigen die Vertreter der Neurose-Kunst letztlich ihre Klasse in deren eigener Derealisierungstendenz«. 65 Im Zuge einer solchen Negation der menschlichen Zwecke wird der Profit ebenso nutzlos wie die Schönheit (vgl. IF 5, 318). Dies geschieht im selben Moment, da der Szientismus die menschliche Person, jene »ethische und praktisch-theoretische Einheit des Lebensunternehmens« (IF 5, 321), als eine Illusion entlarven will. Und so wie der Szientismus mit dem menschlichen Handeln zugleich jede Form der Politik eliminiert, versteht Sartre auch die nachromantische Literatur »als totales Entpolitisierungsunternehmen« (IF 5, 151).
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daß das Wesen des Bürgertums damals darin bestand, die gesellschaftliche Hierarchie auf die Zurückweisung des Mensch-seins zu bauen« (IF 5, 315). Indem der Künstler die Wahrheit ausspricht nicht über das, was die Menschen sind, sondern über das, was sie zu sein glauben bzw. wozu sie sich machen, wird die Wahrheit seiner Epoche auf einer bestimmten Überbauebene offenkundig (vgl. IF 5, 329), »wie sie ohne die Absolute Kunst zwar gelebt, aber nie formuliert worden wäre«.66 Zwar bleibt der Haß als Triebfeder von Utilitarismus, Distinktion und Szientismus durch das Christentum, den Optimismus der Militärdiktatur und die Fortschrittsideologie verborgen, aber wenn die Kapazitäten die Bücher ihrer »Schattenbrüder« (IF 5, 330) lesen, so zerreißt der Schleier, und »die Elite empfindet eine geheime Befriedigung, wenn der Künstler sie in den Besitz ihres Hasses setzt, indem er sie auffordert, den schändlichen Genozid zu aktualisieren, der die Basis ihres Humanismus ist« (IF 5, 330 f.). Die nachromantische Lektüre ist »insofern ein neurotisches Verhalten […], wie der Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit dem Autor hervorbringt, was man ihm zeigt, sich von der Schwarzen Welt der absoluten Negation faszinieren läßt und sich schließlich gestattet, mit seinen realen verfluchten Neigungen eins zu sein, weil man sie ihn für Irrealitäten halten läßt« (IF 5, 338). Der Schriftsteller setzt den Bürger in den Besitz seines verschwiegenen Hasses, ohne ihn zu nennen, und erlaubt ihm, sich imaginär an ihm zu erfreuen, insofern der Sinn dieser Romane die Abdankung des Menschen ist (vgl. IF 5, 341). Die nachromantischen Werke können nach Sartre nur mittels bestimmter Kategorien verstanden werden, die vom Haß auf den Menschen und vom Traum eines Genozids herrühren, d. h. der ästhetische Sinn kann nur rekonstruiert werden, wenn der Leser »sich so konstruiert, wie er ist« (IF 5, 343): »Die Leser imaginarisieren sich selbst während der Lektüre und begreifen als realistisch, was strengen poetologischen Normen entspringt«.67 Auf der einen Seite beruht der Erfolg der Neurose-Kunst also auf einem versteckten Haß, der die Persönlichkeit ihrer Leser prägt, und infolgedessen erscheint auf der anderen Seite im Imaginären, d. h. für die Dauer der Lektüre, der zeitgenössische Leser in seiner Wahrheit als Mensch des Hasses (vgl. IF 5, 346).68 Für die nachromantische Ästhetik gilt: »Die Schönheit ist« also die »Maske des Hasses« (IF 5, 343). 66
Grimm, ebd., 142. – Die Wahrheit dieser Epoche ist also der Menschenhaß und die Irrealisierung der sozialen Verhältnisse. Aber dies gilt, wie Sartre betont, nur für Frankreich: »Es handelt sich um ein nationales historisches Faktum: in England ist der Klassenkampf hart, aber es ist vor allem eine Praxis, er bringt die gegenseitige Animosität hervor, aber diese ist nicht seine eigentliche Triebfeder« (IF 5, 328). 67 Grimm, ebd., 144. 68 Sartre will jedoch nicht so verstanden werden, als sei die Nachromantik die offizielle Ideologie der bürgerlichen Mittelschichten. Hierfür dient auf der literarischen Ebene eher der fortschrittsgläubige Feuilletonroman (vgl. auch Oehler, ebd., 166 f.; Wannicke, ebd.,
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11. 4. Sartre als Nachromantiker Abschließend soll nun die These begründet werden, daß Sartres Verhältnisbestimmung von literarischer Autonomie und bürgerlicher Realität innerhalb des 19. Jahrhunderts auch noch für die Frühphase seines eigenen literarischen – und auch philosophischen – Schaffens zutrifft. Am Ende seines Debütromans Der Ekel von 1938 findet sich eine ästhetische Doktrin, die in den wesentlichen Punkten mit jener Kunstreligion oder Neurose-Kunst übereinstimmt, die Sartre in Flauberts Schriften ebenso wie in der Poetologie der gesamten nachromantischen Epoche entdeckt. Der Roman unterscheidet zwei fundamentale Seinsbereiche: Der Bereich der Existenz zeichnet sich durch Absurdität, Sinnlosigkeit, Nihilismus, kurz: Kontingenz aus. In seiner Beschreibung überwiegen Metaphern, in denen Schlaffheit, Formlosigkeit, Obszönität, Fäulnis und Verfall angezeigt werden (vgl. vor allem E 144–153): »(W)as für eine Sauerei, was für eine Sauerei« (E 153). Die Existenz, die sich bezeichnenderweise im Gefühl des Ekels offenbart, ist vor allem auch der Ort des alltäglichen Daseins, dessen Bodenlosigkeit gewöhnlich durch beruhigende Konventionen und partielle Zielsetzungen verdeckt wird. Der Bereich des Seins ist auf die Kunstwerke beschränkt (vgl. vor allem E 31– 34, 47–52, 194–199);69 genannt werden die Musik und die Literatur, die sich durch Überwindung der Kontingenz bzw. durch Notwendigkeit auszeichnen, weil sie ihren Seinsgrund in der Subjektivität haben und darum sind, weil sie sein sollen (vgl. hierzu auch WiL 36 f.). Diese Seinsregion wird häufig mit Bildern aus dem Bereich des Metallischen und Mineralischen qualifiziert.70 Der
211). T. König vertritt die These, daß sich die Hauptmerkmale der Absoluten Kunst bzw. der Neurose-Kunst bis in die heutige Gegenwart erhalten haben, weil nach wie vor auch ihre historisch-gesellschaftlichen Bedingungen – wenn auch in zeitgenössischem Gewand – Bestand haben (ebd., 24–26). Sartre selbst scheint zwar – entgegen anderslautenden Unterstellungen (vgl. Oehler, ebd., 153) – einerseits vorsichtiger, insofern er an vielen Stellen die Gültigkeit dieser Kunstkonzeption geschichtlich begrenzt, auf der anderen Seite weist seine eigene Phänomenologie der Literatur vor allem z. B. im »Plädoyer für die Intellektuellen« eine große Verwandtschaft mit den Bestimmungen der Neurose-Kunst auf. Mit dem Problem, ob Sartres Aussagen universell oder historisch begrenzt gemeint sind, hadert auch Müller-Lissner (siehe ebd., 87–90). 69 Mit einer Ausnahme: Auch den geometrischen Gebilden kommt ein nicht-kontingenter Seinsstatus zu: »In einer anderen Welt bewahren die Kreise, die Melodien ihre reinen und strengen Linien« (E 146); »Ein Kreis ist nicht absurd, er erklärt sich sehr gut aus der Umdrehung einer Geraden um einen ihrer Endpunkte. Aber ein Kreis existiert auch nicht« (E 147). 70 Vgl. hierzu Haug, Sartre und die Konstruktion des Absurden, 52, und Vogt, Sartres Wieder-Holung, 26. Was Sartre über Baudelaire und Flaubert schreibt, gilt also auch in diesem Fall für ihn selbst – zumindest für seine Haltung in den dreißiger Jahren: »Die Begrenztheit unserer Vorstellungskraft zwingt alle, die dem Leben und dem Körper den
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existentiellen Erfahrung der Kontingenz, jenem »große(n) Ekel […], der das realisierende Bewußtsein charakterisiert« (Im 303), steht der Ausweg einer Privilegierung des Irrealen gegenüber, der die Kunst gegenüber dem Leben aufwertet. Die Kunst ist sowohl in Der Ekel wie auch in Das Imaginäre eine »Antiphysis«.71 Diese strenge Dichotomie zwischen einer kontingenten ekelerregenden Realität und dem Imaginären als Heilsweg (E 199) ist im Grunde auch verantwortlich für die in der Frühphilosophie noch recht schematische Entgegensetzung zwischen dem Analogon des Kunstwerks und dem eigentlichen Kunstwerk, das völlig unabhängig von diesem Analogon sein soll (vgl. E 196; Im 296–304). Sartres erster Roman endet nun insofern optimistisch, als der kontingente Mensch zwar kein Selbstzweck ist, aber seine Existenz rechtfertigen kann, wenn er sie als Mittel der Kunstproduktion einsetzt. Man erkennt hier unschwer die nachromantische Doktrin wieder, nach der sich der Mensch einer absoluten und selbstzweckhaften Kunst zum Opfer bringen müsse. Roquentin trifft seine Wahl zwischen ›menschlichem‹ und ›ästhetischem‹ Weltverhältnis, Realem und Irrealem, Physis und Antiphysis und zieht – analog zu einer Entwicklung, die Sartre viele Jahre später bei Flaubert als neurotisch bewerten wird – die Kunst dem Leben vor. Um der Kontingenz zu entrinnen, muß der Mensch die Kunst wählen – eine Wahl, die offensichtlich einschließt, den Bürger in sich bzw. den Menschen in sich als einen Selbstzweck zu negieren.72 Sartre selbst bekennt sich in seiner Autobiographie Die Wörter zur Position Roquentins: »Ich war Roquentin, ich zeigte an ihm ohne Gefälligkeit das Muster meines Lebens« (W 193).73 Beschrieben wird in dieser Selbstanalyse Sartres vor allem die Geschichte einer Sakralisierung der Literatur: »(D)as Sakrale wurde aus dem Katholizismus weggenommen und in die Belletristik versetzt, und es erschien der Mann der Feder als Ersatz jenes Christen, der ich nicht sein konnte« (W 191). Wenn Sartre also eine individuelle Sakralisierung der Literatur vornimmt, so korrespondiert diese Haltung mit objektiven Imperativen der literarischen Tradition des 19. Jahrhunderts. Die Parallele zu Flaubert wird augenscheinlich, insofern Sartre auch sein eigenes Kunstverständnis, an dem er, wie er selbst angibt, vom neunten bis zum fünfzigsten Lebensjahr festhält, als eine Neurose bezeichnet: »Die Neurose bestand im Grunde darin, daß ich – wie beispielsweise Flaubert in seiner Epoche – meinte, es gäbe nichts Schöneres und Höheres Geist entgegensetzen, und sich deshalb ein nicht-biologisches Bild davon machen wollen, auf das Reich des Unbelebten zurückzugreifen: Licht, Kälte, Transparenz, Sterilität« (B 69, vgl. auch B 14). 71 Krauss, Die Praxis der ›littérature engagée im Werk Jean-Paul-Sartres 1938–1948, 40. 72 Die später von Sartre selbst vertretene Auffassung des Schreibens als Kommunikation wird hier noch von der naiven Romanfigur des Autodidakten formuliert und vom Ich-Erzähler Roquentin lächerlich gemacht (vgl. E 135). 73 Siehe zum Verhältnis Sartres zu seinen Romanfiguren: T 578–580.
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als schreiben, schreiben hieße, bleibende Werke zu schaffen und das Leben eines Schriftstellers ließe sich von dem her begreifen, was er geschrieben hat« (SF 71). In seiner Autobiographie weist Sartre nach, wie ihm der christliche Glaube durch seine »doppelte Religionszugehörigkeit« versperrt worden ist: Er wächst als Katholik im Familienmilieu seiner katholischen Großmutter und des protestantischen Großvaters väterlicherseits auf, in der es, wie Sartre sich erinnert, zur Familientradition gehörte, sich jeweils über die Konfession des anderen lustig zu machen (vgl. SF 20; WkL 24). Darüberhinaus ging man auch sonst eher halbherzig seinem Glauben nach. Aus diesem Mangel an fester religiöser Sozialisierung verlegt er angesichts frühkindlicher Todesängste die ganze Hoffnung auf Erlösung in die Welt der Bücher. Die Literatur wird zur Ersatzreligion, zum einzigen, was einem Leben einen Daseinsgrund und einen Wert verleihen kann. Sartre übernimmt dabei religiöse Elemente und übersetzt sie in literarische (vgl. WkL 25): So wird z. B. das Ewige Leben zum Nachruhm des Schriftstellers. Offensichtlich hat das Kind diesen Ausweg aus der Kontingenz in der Bibliothek seines Großvaters entdeckt. Allerdings fällt auf, daß Sartre diese Literaturreligion mit ihrer Verbindung von Absoluter Kunst und Pessimismus nicht erst zur Zeit der Abfassung der Autobiographie, also mit Unterbrechungen von 1953 bis 1963, sondern schon viel früher durchschaut, wie eine Notiz aus den Kriegstagebüchern vom 2. Dez. 1939 belegt: »Jetzt war der Mensch eine absurde Kreatur, ohne jeden Daseinsgrund, und die große Frage, die ich stellte, war die seiner Rechtfertigung. Ich fühlte mich selbst ganz nichtig und ungerechtfertigt. Diese Rechtfertigung konnte allein das Kunstwerk ihm geben, denn das Kunstwerk ist ein metaphysisches Absolutes. Damit war nun das Absolute wiederhergestellt, jedoch außerhalb des Menschen. Der Mensch taugt nichts. Um diese Zeit war meine theoretische Opposition gegen den Humanismus am stärksten« (T 279). Der Autor des Ekels lebt, wie Mayer pointiert feststellt, als »Priester der literarischen Sakralsphäre«.74 Sartre selbst bezeichnet sich als »Unkraut auf dem Humus der Katholizität« (W 192): »Wenn ich schrieb, so hieß das lange Zeit, daß ich den Tod und die maskierte Religion darum bat, mein Leben dem Zufall zu entreißen« (W 193). Alles ist absurd, so lautet das Credo Roquentins und Sartres; aber der Trick besteht darin, daß das Schreiben aus dem Spiel gelassen wird: Alle Menschen sind ungerechtfertigt – bis auf denjenigen, der in seinen Büchern von dieser Misere Zeugnis ablegt. Sartre hat kein utilitäres Verhältnis zur Literatur, denn er schreibt nicht, um zu leben, sondern, wie Simone de Beauvoir erklärt: »Sartre lebte, um zu schreiben«.75 Auf diese Wei74
Mayer, »Nachbemerkung«, 200. de Beauvoir, In den besten Jahren, 16. Das Leben des kontingenten Menschen erhält nur dann einen relativen Wert, wenn es sich einem absoluten Wert opfert. 75
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se widmet er sein ganzes Leben einer Moral des Heils durch die Kunst, und gerade hierin liegt eine neurotische Haltung: »Was ich bei Der Ekel bedaure ist, daß ich nicht vollkommen beteiligt war. Ich blieb außerhalb des Elends meines Helden stehen, durch meine Neurose geschützt, die mir Glück gewährte im Schreiben« (WkL 65). Die Wörter, die Erzählung von Sartres Kindheit, ist nicht nur ein Bericht über die Entstehung einer Ersatzreligion, sondern zugleich auch der Versuch einer Entsakralisierung. Nachdem die Kunst als Surrogat die Aufgaben der christlichen Religion übernommen hat, will der reife Sartre das Unternehmen des Atheismus, das bei der Ersatzreligion des Literaten stehengeblieben ist, nun zu Ende führen. Auch der Glaube an die Literatur soll als Irrglaube entlarvt und der Heilige Geist aus der Belletristik vertrieben werden. Sartre ist, wie er versichert, ernüchtert: »Märtyrertum, Heil, Unsterblichkeit, alles fällt in sich zusammen, das Gebäude sinkt in Trümmer, ich habe den Heiligen Geist im Keller geschnappt und ausgetrieben; der Atheismus ist ein grausames und langwieriges Unterfangen; ich glaube ihn bis zum Ende betrieben zu haben« (W 194). Dieses Verdikt trifft dann auch Roquentin: »Wenn also Roquentin meint, daß er am Ende durch das Kunstwerk gerettet wird, so landet er damit auf dem Bauch« (SF 40). Ebenso wie Sartres Autobiographie und die ersten Bände der Flaubert-Studie die individuelle Pathogenese der Literaturneurose offenlegen, wird im fünften Band schließlich analysiert, wie die Neurose einerseits zum Imperativ des literarischen Kanons und schließlich andererseits zur Bedingung des Publikumserfolgs werden kann. Insofern die Parallelen zwischen der Kunstauffassung, die Sartre bei Flaubert feststellt, und derjenigen, die er selbst in Der Ekel und in Das Imaginäre vertritt, offensichtlich sind, kann die These gewagt werden, daß der fünfte Band der Flaubert-Studie die literatur- und sozialgeschichtlichen Bedingungen von Sartres eigener früher Konzeption des Imaginären und der Literatur aufdeckt. In gewisser Hinsicht ist also auch Sartre noch ein Nachromantiker, und die Flaubert-Studie scheint wie Die Wörter eine Art Befreiungsschlag zu sein, mit dem er sich von seiner eigenen imaginations- und literaturtheoretischen Position durch die Erkenntnis ihrer sowohl psychischen wie auch historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit löst.76 Selbst Sartres zentrales Anliegen in Die Imagination, die Unreduzierbarkeit der Imagination auf die Wahrnehmung zu behaupten, verdankt sich möglicherweise noch einem vortheoretischen Nachwirken der romantischen bzw. nachromantischen Literatur, in der sich die Autonomie der literarischen Kommunikation zu einer Autonomie des Imaginären steigert. 76
Verschiedene Autoren haben auf die Nähe zwischen Flauberts Madame Bovary und Sartres Der Ekel hingewiesen: Siehe z. B. Jean-Pierre Richard, Littérature et sensation; Geneviève Bollème; La leçon de Flaubert.
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Auch wenn Sartre von den fünfziger Jahren an dem Bücherschreiben jede eschatologische Dimension abspricht, so sei es dennoch, wie er betont, nach wie vor »nötig« und »nützlich«. Zwar kann die Kultur den Menschen nicht rechtfertigen, dennoch bietet sie ihm ein kritisches Bild seiner selbst (vgl. W 195). Sartre hält an der Forderung nach literarischem Engagement fest, seiner Ansicht nach bindet ihn der Verzicht auf das Absolute nur um so stärker an seine Mitmenschen: »Was bleibt, wenn ich das unmögliche Heil in die Requisitenkammer verbanne? Ein ganzer Mensch, gemacht aus dem Zeug aller Menschen, und der soviel wert ist wie sie alle und soviel wert wie jedermann« (W 196). Sartre erklärt sein metaphysisches Konzept der Literatur als Suche nach dem Absoluten für gescheitert. Allerdings wäre es ein Mißverständnis anzunehmen, er betriebe von nun an die Anfechtung der Literatur im Namen der Politik, speziell der marxistischen Bewegung, die gleichsam die Stelle des ursprünglichen Erlösungsmythos einnähme. »Man wird ebensowenig durch die Politik gerettet wie durch die Literatur […]. Es gibt nirgendwo ein Heil. Die Idee des Heils impliziert die Idee eines Absoluten […]. Das Absolute ist dahin. Was bleibt sind unzählige Aufgaben, unter denen die Literatur keineswegs einen privilegierten Platz einnimmt« (WkL 64). Dennoch ist diese Konversion dem Marxismus verpflichtet. Sie läßt sich auf die Jahre 1950 bis 1952 datieren, eine Zeit, da das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion im Kontext des Kalten Krieges immer prekärer wird. Etwa von diesem Zeitpunkt an wertet Sartre seine bisherige Haltung zur Literatur als typisch bürgerlich, und sein Haß auf die Bourgeoisie richtet sich nicht zuletzt auch gegen die eigene Vergangenheit: Das Schreiben erhält einen anderen Stellenwert, und Sartre beschließt in einer Autobiographie der Frage nachzugehen, wie ein Kind »in diese Literaturneurose verfällt, während andere ganz normal sind« (SF 72): »(I)ch habe plötzlich entdeckt, daß die Entfremdung, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Unterernährung usw. das metaphysische Elend, das Luxus ist, in den Hintergrund drängen. Hunger, das ist wirkliches Elend« (WkL 64).77 Angesichts der katastrophalen Realitäten der Welt, für die Sartre sich wie kaum ein zweiter verantwortlich fühlt und gerade darin auch dem Helden-
77
Er geht jedoch nicht so weit, sein früheres Werk völlig zu verwerfen. Das Problem der schwarzen verzweifelten Welt des Antoine Roquentin ist sozusagen nur bis auf weiteres verschoben: »Ein Sowjetrusse, ein offizieller Schriftsteller hat mir einmal gesagt: ›An dem Tag, an dem der Kommunismus herrscht, das heißt der Wohlstand für alle, beginnt die Tragödie des Menschen, seine Endlichkeit‹. Es ist noch nicht an der Zeit, sie zu entdecken. Dem ökonomischen und sozialen Elend kann abgeholfen werden, das glaube ich und wünsche ich. Mit etwas Glück kann eine solche Zeit kommen« (WkL 64).
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mythos seiner Kindheit verpflichtet bleibt (vgl. W 85, 195), tritt das ›nach Philosophieprofessor stinkende‹ (vgl. T 192) metaphysische Elend aus dem Romanerstling zurück, und Sartre stellt mit überraschender Intensität den Wert seiner literarischen Tätigkeit in Frage.78 Die Befreiung von der Neurose bedeutet dabei, die Privilegierung des Irrealen gegenüber dem Realen zu revidieren und die ästhetische Haltung zugunsten einer Partizipation an den menschlichen Zwecken zurückzuweisen: »Ich habe Kinder verhungern sehen. Gegenüber einem sterbenden Kind hat Der Ekel kein Gewicht« (WkL 65).
78
Nach der Flaubert-Studie ist die Praxis nicht nur der Gegenpol zur Kunst, sondern – wie sich im ersten Teil von Der Idiot der Familie anläßlich der Erörterungen zur Primärsozialisation gezeigt hat – auch zur Kontingenz. Die realitätsstiftende Praxis wird dann – konträr zur Lösung in Der Ekel – zur Zuflucht vor der Kontingenz.
12. DIE DIALEKTISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE REGRESSIV-PROGRESSIVE METHODE DES VERSTEHENS Das folgende Kapitel knüpft insofern an die vorhergegangenen Überlegungen zu Flauberts Epoche an, als Sartre die philosophische oder wissenschaftliche Reduktion des Menschen auf die Objektivität, die im fünften Band der Flaubert-Studie am Beispiel des Szientismus in ihrer ideologischen Funktion beleuchtet wird, nunmehr explizit einer Kritik unterzieht und in Abgrenzung dazu den dialektischen Gegenentwurf einer Anthropologie – bzw. einer Hermeneutik des Subjekts – entwickelt, die den Menschen nicht irrealisiert, indem sie ihn auf seine Objektivität reduziert, sondern in der Lage sein soll, auch seiner Praxisdimension gerecht zu werden. Dies wäre also eine Anthropologie, die nicht nur erkennt, sondern auch anerkennt.1 »Die Anthropologie betrachtet den Menschen als Objekt, das heißt, Menschen, die Subjekte sind – Ethnologen, Historiker, Analytiker –, betrachten den Menschen als Studienobjekt. Der Mensch ist für den Menschen Objekt, kann nicht umhin, es zu sein. Ist er nur dies?« (A 78) Insofern die Anthropologie ihre Untersuchungsgegenstände als Objekte erforscht, erfaßt sie nicht den »totale(n) Mensch(en)« (A 79), sondern nur den ›objektiven‹ Menschen, der mit dem Praktisch-Inerten zusammenfällt, das heißt mit den »menschlichen Aktivitäten, insofern sie durch ein streng objektives Material vermittelt werden, das sie auf die Objektivität verweist« (A 79). Dieses Vorgehen schließt im Grunde eine Mißachtung im Sinne des dritten Imaginationsbegriffs ein, indem der Mensch im Sinne des zweiten Imaginationsbegriffs – Gegenpol zur Praxis – auf seine bloße Passivität, also seine Objektivität, reduziert wird. Dieser Gesichtspunkt ignoriert, »daß der soziale Handlungsträger sein Schicksal auf der Basis äußerer Umstände lenkt und als historisches Wesen eine doppelte Wirkung auf die Strukturen ausübt«. Denn durch »seine Verhaltensweisen hält er sie ständig aufrecht, und durch sie zerstört er sie oft gleichzeitig« (A 80). Sartre will jegliche Einseitigkeit umschiffen, indem er den Menschen weder auf seine Subjektivität noch auf seine Objektivität, weder auf seine persönlichen Entwürfe noch seine gesellschaftlich-historische Verankerung reduziert, sondern ihn als »Subjekt-Objekt« (A 81) begreift. Dieser Vorsatz kommt zum Ausdruck in der plakativen Parole: »Kierkegaard und Marx« (SU 149 – Hervorh. J. B.). Sartres ambitionierte Hermeneutik des gesellschaftlich und historisch situierten Subjekts soll nun 1
Diese Anerkennung ist für Sartre ein phänomenologischer Befund und keine dogmatische Beschränkung, die dem Erkenntnisprozeß aus transintelligiblen Gründen der Menschenfreundschaft auferlegt wäre.
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erörtert werden, wobei in diesem Zusammenhang vor allem von Interesse ist, inwieweit die unterschiedlichen Imaginationsbegriffe, die Sartre innerhalb seines Œuvres verwendet, hierbei eine erhellende Funktion ausüben können.
12. 1. Kritik des orthodoxen Marxismus Sartres Entwurf einer dialektischen Anthropologie, der das Ziel verfolgt, das Individuelle in seine historische Epoche einzugliedern, ohne es unter diese zu subsumieren, findet sich vor allem in der Schrift Fragen der Methode (Questions de méthode). Dieser Essay, der den ersten Teil der Kritik der dialektischen Vernunft (Critique de la raison dialectique) bildet und im Deutschen einzeln veröffentlicht ist, leistet die hermeneutische Fundierungsarbeit für Der Idiot der Familie und enthält bereits einzelne Flaubert-Analysen, die als Vorarbeiten betrachtet werden können. Auch wenn sich Sartre hier unverkennbar dem marxistischen Einfluß öffnet, wird deutlich, daß diese Methodenschrift keineswegs, wie Marcuse meint, eine »radikale Konversion«2 darstellt. Der ursprüngliche existentialistische Ansatz wird beibehalten, aber er wird in Richtung auf eine Theorie der Gesellschaft erweitert. Nach wie vor interessiert sich Sartre für den einzelnen Menschen aber für den einzelnen Menschen in der Gesellschaft.3 Im Begriff der Situation ist zwar bereits in der frühen Philosophie das dialektische Wechselspiel von Bedingtheit und Entwurf angelegt: »Freiheit [ist] ursprünglich Bezug zum Gegebenen« (SN 841). Allerdings ist die ›Situation‹ in Das Sein und das Nichts eine weitgehend leere ontologische Kategorie, die lediglich durch allgemeine Bestimmungen wie Faktizität, Körperlichkeit, Für-Andere-sein, meinen Platz, meine Vergangenheit usw. näher qualifiziert wird. Erst durch die Hinwendung zum Marxismus erfährt sie eine sozialphilosophische Auffüllung. Sartres Haltung zur marxistischen Philosophie ist zunächst von einer generellen Zustimmung geprägt: Für ihn ist der Marxismus »die Philosophie unserer Epoche: Er hat sich noch nicht überlebt, weil die Zeitumstände, die ihn hervorgebracht haben, noch nicht überlebt sind. Unsere Gedanken können sich nur auf diesem Nährboden bilden; sie müssen sich in diesem Rahmen halten oder sie verlieren sich im Leeren oder werden rückläufig« (FM 37). Während Sartre sich mit den marxistischen Zentralthesen »in tiefer Übereinstimmung« (FM 187) sieht, unterzieht er die zeitgenössische orthodoxe Auslegung dieser Philosophie jedoch einer scharfen Kritik. Die Sowjetunion setzt angesichts ihrer prekären Lage eines sozialistischen Landes, das von kapitalistischen Ländern eingekreist ist, und angesichts der gewaltigen 2 3
Marcuse, »Existentialismus«, 84. Vgl. Ch. König, Dialektik und ästhetische Kommunikation, 51.
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Aufgabe der Industrialisierung auf einen jeglicher Kritik entzogenen Aufbau des Sozialismus sowie auf die äußerste Integration der sozialistischen Kampfeinheit. Kritische Stimmen werden deshalb unterdrückt und als Verrat denunziert (vgl. auch IF 5, 82). Die KpdSU schwört ihre Parteimitglieder auf einen starren Kurs ein, da sie Auseinandersetzungen und Diskussionen als prinzipiell zersetzende Faktoren fürchtet. Im Zuge dieser Entwicklung wird auch der Empirie Gewalt angetan, indem bestimmte Details eliminiert, die Komplexität rücksichtslos vereinfacht und jede mehrdeutige Erfahrungsgegebenheit noch vor jeder Analyse bereits begrifflich fixiert wird. Da sie sich von der Erfahrung nichts mehr sagen läßt, verbleibt die marxistische Doktrin in autistischer Denkimmanenz: »Die Budapester Metro war im Kopf von Rakosi wirklich; wenn der Untergrund von Budapest nicht erlaubte, sie zu bauen, dann war eben dieser Boden konterrevolutionär« (FM 29). Die heutige degenerierte Lehre, die für Sartre nur noch eine »Pseudophilosophie« (FM 34) ist, entledigt sich in ihrer methodischen »Gewaltherrschaft« (FM 56) der widerspenstigen Details und glaubt an ein »ewige(s) Wesen sozialistischer Arbeiter« (FM 135): »Seltsamerweise nimmt dieser stalinisierte Marxismus eine völlig starre Haltung an: ein Arbeiter ist kein reales Wesen, das sich mit der Welt verändert, sondern eine platonische Idee« (FM 135 f.). Bei diesen Typisierungen handelt es sich immer um vergangenes Wissen, das der Marxist zu ewigen Wissen ummünzt, um in einem gewaltsamen Schematismus »die betrachteten Ereignisse, Menschen und Tatsachen in vorfabrizierte Formen zu pressen« (FM 45). Während Sartre für ein Verständnis der marxistischen Kategorien als Leitprinzipien plädiert, werden sie im zeitgenössischen Marxismus selbst schon als konkrete Wahrheiten dem Wissensbestand zugerechnet. Statt über das Spezifische das sie vereinigendende Ganze zu suchen, wird das Spezifische beseitigt, um das apriorische Ganze zu erhalten. Aus dem Begriff ›Kleinbürger‹ leitet man ohne Berücksichtigung der Erfahrungsgegebenheiten alle entscheidenden Qualitäten ab. Es genügt dann zu wissen, daß ein Buch von einem Kleinbürger geschrieben wurde. Der Marxist muß weder den betreffenden Kleinbürger kennen, noch das Buch lesen, um sein Urteil abzugeben: »Das heuristische Prinzip, ›das Ganze vermittels der Teile zu suchen‹, wurde zur terroristischen Praxis, ›die Besonderheit zu liquidieren‹« (FM 34). Konsequent folgt aus einem solchen theoretischen »Eliminationswerk« (FM 56) auch praktisch die physische Liquidierung politischer Dissidenten (vgl. FM 34, Fußn.). Einer solchen »Scholastik der Totalität« (FM 34) setzt Sartre ein Verfahren entgegen, das zwar ebenfalls totalisiert,4 4
Totalisierung ist bei Sartre jedoch keine Reduktion. Der Begriff bezeichnet hier in methodologischer Hinsicht die Eingliederung des Einzelnen ins Allgemeine. Prinzipiell ist damit eine »ablaufende Vereinigung« (durch die Praxis, durch die Geschichte usw.) gemeint (vgl. KDV 47 f.). Eine ›Totalität‹ ist dagegen eine abgeschlossene Totalisierung (vgl. KDV 46 f.).
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aber sich auf die historischen Gegebenheiten einläßt und jeweils für den spezifischen Fall entscheidet, »ob eine Tat oder ein Werk Beweggründe des Überbaus einer Gruppe oder einer Einzelperson widerspiegelt, die durch bestimmte Grundbedingungen geformt sind, oder ob man sie nur durch unmittelbaren Verweis auf die ökonomischen Widersprüche und materiellen Interessenkonflikte erklären kann. Der Sezessionskrieg muß trotz des puritanischen Idealismus der Nordstaatler direkt in Begriffen der Ökonomie erklärt werden – dessen waren sich selbst die Zeitgenossen bewußt; der Revolutionskrieg dagegen ist, obwohl er von 1793 an einen sehr präzisen ökonomischen Sinn erlangt hatte, 1792 auf den uralten Konflikt der Handelskapitalismen nicht direkt zurückzuführen« (FM 49 f.). Statt das Einzelne auf Allgemeines zurückzuführen und seine Spezifität als irrationalen Zufall abzutun, soll die dialektische Methode das Einzelne mit dem Allgemeinen zu vermitteln versuchen: »Die dialektische Methode dagegen lehnt es ab, zurückzuführen; sie verfährt umgekehrt: sie überschreitet und bewahrt zugleich« (FM 163). Für Sartre ist Paul Valéry ein besonderes Phänomen, das sich totalisieren läßt. Aber dies geschieht nicht a priori, sondern dazu sind erforderlich: »Erfahrung, Beobachtung, phänomenologische Beschreibung, Verstehen und einschlägige Untersuchungen« (FM 63). Natürlich offenbart Valérys Werk die Klassenzugehörigkeit, aber Sartre will diesen Zusammenhang erst a posteriori durch die Erfahrung, die schließlich die Eingliederung ins Allgemeine organisiert, aufweisen. Nur so kann die Spezifität des besonderen Phänomens bewahrt bleiben: »Es besteht kein Zweifel darüber, daß Valéry ein kleinbürgerlicher Intellektueller ist. Aber nicht jeder kleinbürgerliche Intellektuelle ist Valéry. Die heuristische Unzulänglichkeit des heutigen Marxismus ist in diesen beiden Sätzen enthalten« (FM 64). Für den orthodoxen Marxisten gehört alles, was an Valéry über diese allgemeine Kategorie hinausgeht, zum Bereich des Transintelligiblen. Lebensweise, persönliche Daten usw. kümmern ihn nicht, er will sofort totalisieren. Plechanows Erklärungen zur Entwicklung des Bürgertums entsprechen der von Sartre monierten »Austreibung des Menschen […] aus dem marxistischen Wissen« (FM 191): »Einflußreiche Persönlichkeiten können […] das individuelle Gepräge der Geschichte und einige ihrer besonderen Folgen ändern, sie können aber ihre allgemeine Richtung nicht ändern«.5 Auch wenn diese Behauptung einer Konstanz der Resultate nicht völlig von der Hand zu weisen ist, erinnert Sartre an die eliminierten Variablen dieser Untersuchung:
5
Plechanow, Georgy, Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte, Stuttgart 1952, 41; zit. n. der Anm. des Übersetzers FM 141.
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»(D)ie blutigen napoleonischen Schlachten, den Einfluß der revolutionären Ideologie auf Europa, die Besetzung Frankreichs durch die verbündeten Mächte, die Rückkehr der Grundbesitzer und die weiße Schreckensherrschaft. Es steht heute fest, daß die Restauration ökonomisch für Frankreich eine Zeit des Rückschritts war; der im Kaiserreich entstandene Konflikt zwischen den Grundbesitzern und dem Bürgertum verzögerte die wissenschaftliche und industrielle Entwicklung; das wirtschaftliche Erwachen nahm erst 1830 seinen Anfang. Man kann annehmen, der Aufstieg des Bürgertums wäre unter einem friedlicheren Herrscher nicht zum Stillstand gekommen und Frankreich hätte nicht länger nach Ancien Régime ausgesehen, worüber die englischen Reisenden so verblüfft waren; was die liberale Bewegung betrifft, so hätte sie, wenn sie entstanden wäre, in nichts der von 1830 geglichen, da ihr die ökonomische Grundlage gefehlt hätte. Die Entwicklung wäre davon abgesehen, sicher die gleiche gewesen; nur ist dieses ›davon‹, das man verächtlich in den Rang des Zufalls verweist, das ganze Leben der Menschen« (FM 142 f.). Natürlich haben alle diese Momente, die Sartre interessieren, die Entwicklung der Produktionsverhältnisse und der Produktivkräfte nicht verändern können, aber sie bedeuten erst die eigentlich menschliche Dimension.6 »Keiner dieser Menschen, die unter der Restauration gelebt, gelitten und gekämpft und schließlich den Thron gestürzt haben, wäre so gewesen, wie er war, oder hätte existiert, wenn Napoleon nicht seinen Staatsstreich unternommen hätte: was wird aus Victor Hugo, wenn sein Vater nicht General des Kaiserreichs ist? Und aus Alfred de Musset? Und aus Flaubert, bei dem wir festgestellt haben, daß er den Konflikt zwischen Skeptizismus und Glauben interiorisiert hatte?« (FM 143) Die Erforschung der objektiven Entwicklungen, die sich den Menschen als Schicksal auferlegen und sie als Objekte konstituieren, muß also ergänzt werden durch eine Untersuchung, die zu Tage fördert, wie diese objektiven Entwicklungen subjektiv erlebt und in der jeweiligen gesellschaftlichen Praxis überschritten werden. Erst dann macht sich die Analyse der geschichtlichen Ereignisse keiner Irrealisierung, d. h. keiner Reduktion auf die Objektivität der menschlichen Subjekte schuldig, weil sie beide Seiten der conditio humana – das Praktisch-Interte bzw. die Objektivität sowie die Praxis bzw. die Subjektivität – berücksichtigt. Indem er den Menschen aus seinen Untersuchungen 6
Auch Jauß hat Plechanows Methode als zu schematisch charakterisiert und ihr vorgeworfen, spezifische Momente zu ignorieren: »Das Problem des geschichtlich-prozeßhaften Zusammenhangs von Literatur und Gesellschaft wurde durch die Spielarten der Plechanow-Methode: der Reduktion kultureller Erscheinungen auf ökonomische, gesellschaftliche oder Klassenäquivalente, die als vorgegebene Wirklichkeit die Entstehung von Kunst und Literatur determinieren und als eine nur reproduzierte Wirklichkeit erklären sollen, auf eine oft gerügte Weise vereinseitigt« (ebd., 157).
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ausklammert, steuert der heutige Marxismus jedoch auf einen bloßen Ökonomismus und Anti-Humanismus zu. Es handelt sich um eine Mißachtung des Menschen im Sinne des dritten Imaginationsbegriffs, die die Voraussetzung eines im Sinne des zweiten Imaginationsbegriffs – Gegenpol zur Praxis – irrealisierten Menschen macht. Eine passive formbare Masse muß nicht als Subjekt der Geschichte anerkannt werden. Die dialektische Methode bleibt abstrakt, wenn sie nur ökonomische Kategorien und nicht auch Bedürfnisse, Aktionen und Affekte integriert. Man kann also zu Recht auch von einer sozialistischen Entfremdung des Menschen sprechen (vgl. FM 191). Mit anderen Worten, der Sozialismus, der angetreten ist, um den vom Kapitalismus irrealisierten Menschen zu befreien, irrealisiert ihn ebenfalls auf seine Weise. Angesichts der Erstarrungstendenzen des zeitgenössischen Marxismus wird Kierkegaards Anliegen wieder aktuell (vgl. FM 15–18). Dem Existentialismus kommt die Aufgabe zu, auf der Spezifität und Eigenart des historischen Ereignisses zu insistieren und dem Menschen seinen Platz in der marxistischen Gesellschaftstheorie zurückzuerobern. In diesem Sinn läßt sich von einer existentialistischen Reform des Marxismus sprechen. Um nicht zu einem starren Schematismus zu verkümmern, muß der historische Materialismus sich mit der Erfahrung auseinandersetzen. Dies gelingt ihm nur, wenn er auch westliche Disziplinen – Sartre denkt vor allem an die Soziologie und die Psychoanalyse – in seine Untersuchungen integriert. Der Existentialismus »beabsichtigt, ohne den marxistischen Thesen untreu zu werden, diejenigen Vermittlungen zu finden, die es erlauben, das einzelne Konkrete, das Leben, den wirklichen, genau datierten Kampf, die Person hervorzubringen, ausgehend von den allgemeinen Widersprüchen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen« (FM 65 f.). Diese Methode impliziert eine interdisziplinäre Synthese von Existentialismus, Marxismus und den genannten Erfahrungswissenschaften. Wenn die Geschichte rational auf der Ebene des Konkreten studiert werden soll, so ist der Gegenstand des Existentialismus »der einzelne Mensch im sozialen Feld« (FM 144). Im Gegensatz zum erstarrten Marxismus, der das Reale a priori bestimmt, kommt der Existentialismus zu wirklich neuen Erkenntnissen, da seine interdisziplinäre Methode zugleich regressiv und progressiv ist: »Wir werden die Methode existentialistischer Annäherung als eine regressiv-progressive und analytischsynthetische Methode definieren; sie ist gleichzeitig ein bereicherndes Hinund-Her zwischen dem Gegenstand (der die ganze Epoche als hierarchisierte Bedeutungen enthält) und der Epoche (die das Objekt in seiner Totalisierung enthält)« (FM 160). Die konkreten Fakten enthalten die Epoche, so wie die Epoche die konkreten Fakten enthält, auch wenn diese aus ihr nicht einfach deduziert werden können. Erst in Verbindung mit der totalisierenden Bewegung erhalten die Tatsachen eines individuellen Lebens ihre Realität. Sartre beabsichtigt die wechselseitige Erhellung des Individuums durch die Epoche
Kritik des orthodoxen Marxismus
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und der Epoche durch die Besonderheit des Einzelnen (vgl. FM 146). Der Sache nach knüpft dies an die Tradition der Hermeneutik an, insbesondere an die Aufgabe, das Besondere aus dem Ganzen und das Ganze aus dem Besonderen zu verstehen.7 Der Einzelne soll so ohne auslöschende Subsumtion in sein geschichtliches Beziehungsgefüge integriert werden. Es gibt jedoch einen einzigen Marxisten, Henri Lefebvre, an dessen Methode Sartre nichts auszusetzen hat. Mehr noch, sie kann als eine wesentliche Quelle seiner eigenen regressiv-progressiven Methode betrachtet werden. Allerdings hat Sartre schon vor Erscheinen von Lefebvres Erläuterungen8 ausdrücklich ein solches Verfahren intendiert (vgl. TE 264 f., 318; SN 797 f.), ohne es jedoch schon explizit und detailliert zu entwickeln. Lefebvre skizziert ein dreigliedriges Vorgehen für die Analyse einer gesellschaftlichen Situation: In einem ersten Schritt erfolgt eine phänomenologische Beschreibung. Das Moment der Erfahrung gewinnt hier einen bedeutenden Stellenwert, wobei sich diese Einstellung durchaus schon am historischen Materialismus orientiert. In der analytisch-regressiven Phase, dem zweiten Moment, führt die Untersuchung vom betrachteten Konkreten zu dessen allgemeinen Bestimmungen. Drittens zeichnet das progressiv-synthetische Moment die Genese des Konkreten aus dem Allgemeinen nach. Es kehrt also zu dem nunmehr in den historischen Kontext eingebetteten Ausgangspunkt zurück (vgl. FM 59 f., Fußn.). Die Resultate der Analyse werden auf diese Weise im dritten Schritt als Produkte der Geschichte erhellt. Flauberts Roman Madame Bovary kann so »als ein mehrdimensionales Gebilde aufgehobener, sowohl individueller als auch allgemeiner Bedeutungsschichten«9 dargestellt werden. Sartres Ansicht nach kann diese Methode Gültigkeit »für alle Bereiche der Anthropologie« (FM 60, Fußn.) beanspruchen. Sie schmiegt sich an die Gegenstände an, ohne sie zu subsumieren und zu reduzieren.10 Diese Mischung aus Beschreibung, Analyse und Genese der Tatsache »allein kann heuristisch vorgehen; sie allein arbeitet die Originalität der Gegebenheit heraus und läßt dabei Vergleiche zu« (FM 60, Fußn.).11
7
Vgl. Röd, Dialektische Philosophie der Neuzeit, Bd. 2, 315. Vgl. Lefebvre, Henri, Perspectives de sociologie rurale. Cahiers de sociologie, 1953; Quellenangabe nach FM 60, Fußn. 9 Schulten, Jean-Paul Sartres ›L’idiot de la famille‹, 64. 10 Vgl. Wittmann, Sartre und die Kunst, 76. 11 Koch-Oehmen bemerkt in seiner vergleichenden Zusammenschau von Lukács und Sartre: »Man kann sagen, daß das Gemeinsame von Sartres Philosophie und der modernen Kunst in dem Anspruch auf Autonomie der Erfahrung gegenüber dem Begrifflich-Ideologischen liegt« (Lukács und Sartre, 46). 8
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12. Die dialektische Anthropologie und die Methode des Verstehens
12. 2. Das hermeneutische Programm der Flaubert-Studie Sartres an Lefebvre angelehnte »dreistufige Methode des Verstehens«12 soll nun im Einzelnen dargestellt werden. In Marx’ Studie Der 18. Brumaire des Louis Napoleon findet sich eine zentrale These, die mehrere Deutungen zuläßt. Je nachdem, für welche man sich entscheidet, verändert sich radikal die Auffassung des Menschen: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«.13 Sartre beruft sich auf diese Stelle, wenn er eine Interpretation des Menschen als widerstandsloses Produkt der Umstände und als Summe gesellschaftlich bedingter Reflexe entschieden in Abrede stellt. Der Mensch ist für ihn kein bloßes, dem Trägheitsprinzip unterworfenes Objekt, das durch ökonomische Verhältnisse determiniert ist. Die Menschen und nicht die vorgefundenen Verhältnisse machen die Geschichte, wie Marx selbst schreibt: Zweifellos gibt es die »objektiven Verhältnisse«, »die menschliche Praxis aber überschreitet und bewahrt sie zugleich« (FM 97). Als Produkt seiner Produkte ist der Mensch immer das Resultat der durch Arbeit geschaffenen Strukturen, und diese Strukturen stellen für jedes Individuum eine gegebene Ausgangssituation dar. Dennoch ist der einzelne Mensch nicht nur das Produkt der Geschichte – also nicht nur das, was man aus ihm gemacht hat –, sondern auch das Überschreiten der erlebten und im Entwurf aufgehobenen Objektivität.14 Eben weil der einzelne ein historisch Handelnder ist, darf nach Sartre die Frage nach der Geschichte nicht vom subjektiven Faktor abstrahieren: Um überhaupt wirksam sein zu können, müssen die Verhältnisse »gleichsam individuell erzeugt und überschritten werden (dépasser)«.15 »Sie [die Arbeit eines Menschen – Anm. J. B.] definiert ihn jedoch gerade insoweit, als er sie beständig durch seine Praxis überschreitet (in einer Volksdemokratie beispielsweise durch Schwarzarbeit oder als ›Aktivist‹ oder im schweigenden Widerstand gegen die Normerhöhungen; in einer kapitalistischen Gesellschaft durch Beitritt zu einer Gewerkschaft, mit der Entscheidung für einen Streik usw.). Das Überschreiten ist also
12
Dahlhaus, ebd., 154. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 115. 14 Vgl. hierzu auch SU 142: »Jeder von uns entrinnt gerade in seiner Geschichtlichkeit der Geschichte in eben dem Maße, in dem er sie macht. In dem Maße geschichtlich, in dem auch die anderen Geschichte erzeugen und mich dazu, bin ich ein transhistorisches Absolutes durch das, was ich aus dem mache, was sie machen, was sie mit mir getan haben, und aus dem, was sie mit mir im späteren tun werden«. 15 Schulten, ebd., 61. 13
Das hermeneutische Programm der Flaubert-Studie
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als Beziehung des Existierenden zu seinen Möglichkeiten zu verstehen« (FM 102 f.).16 Sartres Bemerkungen über das marginalisierte Waisenkind und den späteren Skandalautor Jean Genet können als das Credo eines ›gereiften‹ Existentialismus gelesen werden: »Festgenagelt durch einen Blick, auf einen Korken aufgespießter Schmetterling, ist er nackt, alle Welt kann ihn sehen und anspucken. Der Blick der Erwachsenen ist eine konstituierende Gewalt, die ihn in konstituierte Natur verwandelt hat. Jetzt muß man leben; am Pranger, den Hals im Eisen, muß man immer noch leben: wir sind keine Lehmklumpen, und wichtig ist nicht, was man aus uns macht, sondern was wir selbst aus dem machen, was man aus uns gemacht hat« (SG 85). Indem es Möglichkeiten realisiert, objektiviert sich das Individuum und trägt zur Geschichte bei. Sein Entwurf gewinnt eine Realität, die im Zusammenspiel mit den anderen Individuen so erscheint, daß jeder einzelne sich in ihr nicht mehr wiedererkennt, geschweige denn, sie überschauen kann. Die Geschichte »bildet sich täglich unter unseren Händen, anders, als wir sie zu machen glauben, und macht uns, auf uns zurückschlagend, zu anderen, als wir zu sein oder zu werden glaubten« (FM 99). Dennoch leistet jedes Individuum auf diese Weise einen Beitrag zur allgemeinen Geschichte, da die Realität seines Entwurfs »durch die Konflikte, die sie offenbart und die sie erzeugt, den Lauf der Ereignisse beeinflußt« (FM 103). Der Entwurf ist subjektives Überschreiten des Objektiven (vor allem der gesellschaftlichen Verhältnisse), welches das Individuum vorfindet, auf ein anderes Objektives (die Objektivationen des Subjekts: z. B. ein literarisches Werk) hin. Subjektivität definiert der späte Sartre als ein »notwendiges Moment des objektiven Prozesses« (FM 107). So läßt sich der Entwurf vor allem als eine Vermittlung zwischen zwei Objektivitäten beschreiben (vgl. FM 107, 159): Die Irreduzibilität der zweiten Objektivität (bzw. der individuellen Objektivation) zeigt sich darin, daß sie aus der ersten nicht einfach deduziert werden kann. Sie ist nur verständlich, wenn der vermittelnde Entwurf beachtet wird. Natürlich muß, wie schon erwähnt, das Resultat dieses Entwurfs nicht mit den ursprünglichen Intentionen des Subjekts übereinstimmen, da das praktische Feld von einer unüberblickbaren Anzahl von Aktivitäten anderer Individuen durchkreuzt ist: »(D)ie Entfremdung steht am Ausgangs- und am Endpunkt; und der Handelnde vermag niemals etwas zu unternehmen, das nicht Negation der Entfremdung wäre und nicht zurückfiele in eine entfremdete Welt; aber die Entfremdung des objektivierten 16
Auf der anderen Seite finden sich in der Kritik der dialektischen Vernunft Ausführungen zum Praktisch-Inerten, in denen gerade die individuelle Möglichkeit, die Gegebenheiten zu überschreiten, in Frage gestellt wird (s. o. Kap. 9. 7.).
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Resultats ist nicht die gleiche wie zu Anfang«. Und dieser »Übergang von der einen zur anderen definiert die Person« (FM 109, Fußn.). In jedem Fall ist der Entwurf irreduzibel, weil die vorgegebene Objektivität nicht identisch ist mit der am Ende des realisierten Entwurfs stehenden Objektivität. Hier erweist sich die Grenze marxistischer Begrifflichkeit. Da die zweite Stufe der Objektivität (der Roman) nicht aus der ersten (die gesellschaftlichen Verhältnisse) deduziert werden kann, ist die Ebene des individuellen In-der-Welt-seins nicht zurückführbar auf die materiellen Verhältnisse; diese erfahren vielmehr durch die Vielzahl der individuellen Entwürfe eine bereichernde Umgestaltung: »(E)s ist eben kein Zufall […], daß gerade dieser Wilhelm II., dieser Napoleon in dieser Situation diese Funktion ausgeübt hat«.17 Das Individuum kann in Richtung auf das Allgemeine interpretiert werden, insofern es der Klasse und einem bestimmten Milieu entspringt und damit den Rückgang auf die materiellen Verhältnisse gestattet. Aber sein Verhalten erfordert eine differentielle Interpretation (vgl. FM 149, 151, 153, 157), denn die Abweichung, die das Allgemeine durch seine individuelle Konkretion erfährt, ist nichts Transintelligibles oder Irrationales: Sie ist im Grunde genau dasjenige, was dem einzelnen aus dem zu machen gelingt, wozu andere ihn gemacht haben. »Es ist tatsächlich die Differenz zwischen den ›Gemeinen‹ und der Idee oder der konkreten Haltung der untersuchten Person, ihre Anreicherung, ihr Konkretisierungstypus, ihre Abweichungen usw., die uns vor allem anderen über unseren Gegenstand aufklären müssen«. Es ist gerade diese »Differenz«, die seine »Singularität« (FM 149) konstituiert. Aufgrund der genannten Kluft zwischen zwei synchronen Schnitten der Objektivität18 ist es unmöglich, »die Geschichte des Menschen nach den Spielregeln der analytischen Wissenschaften und dem Gesetz der identischen Iteration von Typen [zu] rekonstruieren«.19 Die Differenz ist möglicherweise äußerst minimal, aber, wie Frank erläutert: »Es genügt, daß sie niemals gleich Null ist, um eine wissenschaftliche Grundvoraussetzung sowohl des deduktionistischen und totalitären Marxismus wie des Regelfetischismus der analytischen Philosophie und des in Code-Modellen vernarrten ›Ultrastrukturalismus‹ ins Wanken zu bringen«.20
17
Schulten, ebd., 62. Wenn Boeckh vom »individuellen Beisatz« spricht, so meint er einen ganz ähnlichen Sachverhalt (vgl. Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, 83). 19 Frank, »Das Individuum in der Rolle des Idioten«, 102. 20 Frank, ebd., 93. 18
Das hermeneutische Programm der Flaubert-Studie
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12. 2. 1. Die regressive Analyse – das Allgemeinwerden des Individuellen Zur Vermeidung der reduzierenden Abstraktion betont Sartre das Moment der Analyse, der Auseinandersetzung mit der erfahrenen Realität. Eben diese Aufgabe erfüllen die Phänomenologie und die sogenannten Hilfswissenschaften (vgl. FM 43). Sie konkretisieren das Wissen, welches in einer ausschließlich progressiv-synthetischen Methode ohne Berücksichtigung der Erfahrungsgegebenheiten rein in der Denkimmanenz verbleibt und nur zu abstrakten Ergebnissen führt (vgl. FM 118 f.).21 Die regressive Analyse geht das Wagnis der Beschäftigung mit der Erfahrung ein und enthüllt dabei eine Vieldeutigkeit bzw. eine Reihe von aufeinander nicht zu reduzierenden Bedeutungsschichten, die die Komplexität des jeweiligen Untersuchungsergebnisses ausmachen. Sie nimmt ihren Ausgang vom empirischen Ereignis (z. B. dem Buch Madame Bovary) und versucht seine Bedingungen aufzudecken, also vom Einzelnen zum Allgemeinen zu gelangen. Die regressive Analyse besteht in der »Freilegung diverser hierarchisch gegliederter, nicht aufeinander zu reduzierender Bedeutungsschichten«. Ihr Ziel ist, »die Mehrdimensionalität einer Handlung oder literarischen Objektivation zu gliedern und zu zerlegen«.22 Vom konkreten Faktum ausgehend, entdeckt die regressive Analyse eine Reihe heterogener Bedeutungsschichten bis hin zu den abstrakten und materiellen Verhältnissen, die von dem einzelnen über die Schichten zunehmender Konkretisierung (Klasse, Gruppe, Familie usw.) erlebt werden. Sartre gibt sich zuversichtlich: »Vermittels Madame Bovary müssen und können wir einen Einblick in die Bewegungen der Grundrente, die Entwicklungen der aufsteigenden Klasse, den langsamen Reifeprozeß des Proletariats gewinnen; alles ist da« (FM 157).23 Insofern die regressive Analyse das Einzelne in den allgemeinen Zusammenhang einordnet, untersucht sie das Individuum, 21
Der Marxismus neigt dazu, rein progressiv vorzugehen, also ausgehend vom Allgemeinen das Konkrete einfach abzuleiten. Vgl. KDV 53 f.: »Entgegen der synthetischen Bewegung der Dialektik als Methode (das heißt entgegen der Bewegung des marxistischen Denkens, das von der Produktion und den Produktionsverhältnissen zu den Strukturen der Gruppierungen, dann zu deren inneren Widersprüchen, zur Umwelt und gegebenenfalls zum Individuum fortschreitet), geht die kritische Erfahrung vom Unmittelbaren, das heißt vom Individuum aus […], um durch immer tiefere Bedingtheiten hindurch die Totalität seiner praktischen Verbindungen mit den anderen wiederzufinden, eben dadurch die Stukturen der verschiedenen praktischen Vielheiten zu entdecken und durch deren Widersprüche und Kämpfe hindurch zum absolut Konkreten vorzudringen: dem historischen Menschen«. 22 Schulten, ebd., 65. 23 Vgl. IF 4, 52: »Wir werden sehen, daß man durch eine regressive Nachforschung immer tiefere Intentionsebenen finden kann, von denen jede, unter Bewahrung einer gewissen regionalen Autonomie, die niedrigere Ebene symbolisiert und die höhere Ebene dialektisch bedingt«.
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soweit es ein Produkt seiner Epoche ist und daher Gegenstand des Wissens sein kann: Jedes Individuum ist zunächst nichts als die individuelle Verinnerung seiner Epoche und gibt auf diese Weise Auskunft über den »Stand und die Geschichte des Objektiven Geistes«.24 »Von den Techniken des Kollektivs erwartet, die bereitstehen, seine Sozialisierungsdressur durchzuführen, gibt es für jedes neugeborene Individuum vorab keinerlei Möglichkeit, der Totalisierung durch die herrschende Struktur zu entkommen«.25 Die regressive Analyse befragt folglich im Grunde genau dasjenige, was die anderen aus einem Menschen gemacht haben (gesellschaftliche Situation, kleinbürgerliches Milieu, Erziehung usw.): Sie »wird durch die Biographie Schritt um Schritt zu den soziohistorischen und endlich universalgeschichtlichen Zusammenhängen vordringen«.26 Da seine Epoche ihn totalisiert, ist der Einzelne niemals nur ein Individuum, sondern immer auch »Teilhaber einer kollektiven Weltsicht«.27 Insofern er also auch objektiv ist, kann er von den Historikern, Ethnologen, Soziologen, Psychologen usw. erforscht werden. Daß Sartre die regressive Analyse in sein hermeneutisches Programm integriert, zeigt einmal mehr, daß er nicht beabsichtigt, die Objektivität des Menschen zu leugnen. Wäre er Subjektivist, so sähe er nicht die Notwendigkeit des Versuchs einer Totalisierung bzw. einer Eingliederung in die soziokulturellen Verhältnisse, um einen individuellen Menschen zu verstehen. Das andere Extrem einer irrealisierenden Anthropologie würde wiederum dann vorliegen, wenn der Mensch auf seine Objektivität reduziert würde, d. h. wenn die regressive Analyse nicht durch die progressive Synthese ergänzt würde. Sartres Hermeneutik sucht also nach einem dritten Weg zwischen existentialistischem Subjektivismus und Irrealisierung bzw. Objektivismus, wie er sich im orthodoxen Marxismus, im Strukturalismus oder im Szientismus – nicht nur – des 19. Jahrhunderts findet (vgl. A 78).
12. 2. 2. Die progressive Synthese – das Individuellwerden des Allgemeinen Die Ergebnisse der regressiven Analyse stellen für sich genommen wiederum getrennte Bedeutungsebenen dar, solange sie nicht in einer Totalisierung28 integriert werden können. Auch literarische Werke lassen sich z. B. in getrenn24
Frank, ebd., 87. Frank, »Archäologie des Individuums«, 267. 26 Frank, Das individuelle Allgemeine, 298. 27 Frank, »Archäologie des Individuums«, 265. 28 ›Totalisierung‹ ist also ein doppeldeutiger Begriff, der auf der Ebene der Regression die Eingliederung des Einzelnen ins Allgemeine bezeichnet, und auf der Ebene der Progression den Vorgang beschreibt, in dem die Vielheit der diversen Bedeutungsebenen synthetisiert wird. 25
Das hermeneutische Programm der Flaubert-Studie
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ten Datenreihen erfassen: »(A)uf der einen Seite die Werkstruktur mit ihren hierarchisierten Bedeutungen, auf der anderen Seite die ebenfalls gestuften, meist allgemeineren Bedeutungen der Epoche, der das Werk angehört«.29 Ohne den Versuch einer Synthese bleiben diese Datenreihen voneinander isoliert. Bei den Ergebnissen der analytischen Regression handelt es sich, wie Sartre bemerkt, um »die Spuren der dialektischen Bewegung« und noch nicht um »die Bewegung selbst« (FM 158). Die progressive Synthese verfolgt nun umgekehrt den Weg von den abstraktesten Ausgangsbedingungen, die die regressive Analyse entdeckt hat, zurück zur konkreten Objektivation des Individuums, dem Buch Madame Bovary, wobei die vorherigen Resultate totalisiert werden. Indem sie das ganze in der regressiven Analyse gewonnene Wissen einbezieht, versucht die progressive Synthese den einzigartigen Lebensentwurf, durch den der Einzelne in einer synthetischen Aufhebung der Ausgangsbedingungen sich selbst hervorbringt, zu rekonstruieren. In dieser Untersuchungsphase zeichnet also die Bewegung des verstehenden Nachvollzugs – von den Voraussetzungen bis zum Endergebnis – die Bewegung des Entwurfs nach: Das Individuum verinnert die Allgemeinheit, das sozio-ökonomische Bedingtsein, die Familienverhältnisse, zeitgenössische Institutionen und die geschichtliche Vergangenheit und entäußert diese Strukturen in individuellen Handlungen und Entscheidungen, die sich durch die allgemeine Bedingtheit erklären, aber nicht auf sie reduzieren lassen.30 Hier kommt die progressive Methode ins Spiel: »(E)s gilt nun, die anreichernde totalisierende Bewegung wiederzufinden, die jeden Moment vom vorherigen Moment ausgehend hervorbringt, den Schwung, der von den gelebten Undeutlichkeiten ausgeht und zur endgültigen Objektivation führt, mit einem Wort, den Entwurf, durch den sich Flaubert, um dem Kleinbürgertum zu entkommen, durch verschiedene Möglichkeitsfelder hindurch zur entfremdeten Objektivation seiner selbst stürzte und sich unabwendbar und unauflöslich zum Autor der Madame Bovary und zu eben dem Kleinbürger machte, der zu sein er sich weigerte« (FM 158 f.). Ob ein solcher Versuch einer Synthese überhaupt gelingen kann, ist a priori nicht zu entscheiden. So heißt es im Vorwort zur Flaubert-Studie: »Nichts beweist zunächst, ob eine solche Totalisierung möglich ist und ob die Wahrheit einer Person nicht plural ist; die Informationen sind ihrer Art nach sehr verschieden: er [Flaubert – Anm. J. B.] wurde im Dezember 1821 in Rouen geboren; das ist eine; er schrieb, sehr viel später, an Louise Colet: ›Die Kunst flößt mir Schrecken ein‹ (7. November 1847); das ist eine an29
M. Hardt, »Struktur und Vermittlung«, 48. Vgl. SG 105: Der Entwurf »lebt, verändert sich, bereichert sich im Laufe der Jahre, er verwandelt sich bei der Berührung mit der Erfahrung und durch die Dialektik jeder seiner Komponenten: wir werden ihm in seiner Evolution zu folgen haben«. 30
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dere: die erste ist ein objektives, soziales Faktum, bestätigt durch offizielle Dokumente; die zweite, die ebenso objektiv ist, was die bloße Aussage betrifft, verweist durch ihre Bedeutung auf ein erlebtes Gefühl, und wir können nichts über den Sinn und die Tragweite dieses Gefühls ausmachen, bevor wir nicht festgestellt haben, ob Gustave im allgemeinen und besonders bei diesem Anlaß aufrichtig war. Laufen wir nicht Gefahr, auf Schichten heterogener und unreduzierbarer Bedeutungen zu stoßen? Dieses Buch versucht zu beweisen, daß die Unreduzierbarkeit nur scheinbar ist und daß jede Information in ihrem Kontext zum Teil eines Ganzen wird, das nicht aufhört, sich hervorzubringen, und zugleich seine eigentliche Homogenität mit allen anderen Teilen offenbart« (IF 1, 7). Sartre besteht zwar gegenüber dem reduktiven Marxismus »auf der Vieldeutigkeit der verflossenen Tatsachen« (FM 134), dennoch glaubt er, daß jede dieser Informationen auf verschiedenen Bedeutungsebenen, obwohl nicht auf andere reduzierbar, »zum Teil eines Ganzen wird, das nicht aufhört, sich hervorzubringen«, und gleichzeitig »seine Homogenität mit allen anderen Teilen offenbart« (IF 1, 7). Die in der regressiven Analyse gewonnenen Informationen zu totalisieren, bedeutet also die Rekonstruktion des Entwurfs, durch den sich Flaubert zum Autor der Madame Bovary macht. Diese Objektivation erweist sich auf diesem Weg als höchst komplexe Struktur, in der die verschiedenen Bedeutungsebenen – Sartres Auffassung nach – synthetisiert sind. Die progressive Synthese zeigt also, was der Mensch aus dem macht, wozu andere ihn gemacht haben, bzw. wie die literarische Objektivation vermittelt durch den subjektiven Entwurf aus den objektiven Verhältnissen hervorgeht. Sartre ist also der Ansicht, »daß Flaubert sich genau in dem Maße schafft, wie er durch die Situation und die Ereignisse geschaffen wird« (IF 3, 851). »Ein Mensch ist niemals ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen; von seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er sie, indem er sich in ihr als Einzelheit wiederhervorbringt«. Er muß zugleich von beiden Enden untersucht werden, »(d)a er durch die einzelne Allgemeinheit der menschlichen Geschichte allgemein und durch die allgemeinmachende Einzelheit seiner Entwürfe einzeln ist« (IF 1, 7).31 Gemeint ist damit, daß der Mensch einerseits von den gegebenen Verhältnissen, andererseits von den Produkten seiner Überschreitung dieser 31
Auch ein literarisches Werk ist für Sartre ein individuelles Allgemeines (vgl. IF 4, 249). Es handelt sich also hierbei weniger um einen ›substantiellen‹ als vielmehr um einen ›relationalen‹ Begriff. – Festzuhalten ist ferner, daß sich aus dieser dialektischen Anthropologie für Sartre ethische Konsequenzen einer authentischen Lebensführung ergeben: »(W)ir verbringen unsere Zeit damit, vor dem Objektiven ins Subjektive und vor dem Subjektiven ins Objektive zu fliehen: dieses Versteckspiel wird erst dann ein Ende finden, wenn wir den Mut haben, bis ans Ende unserer selbst in beide Richtungen zugleich zu gehen« (SG 929).
Das hermeneutische Programm der Flaubert-Studie
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Verhältnisse, also seinen Objektivationen her, erforscht werden soll. Die regressive Analyse gewinnt konkretes Wissen, die progressive Synthese rekonstruiert den Entwurf, durch den der einzelne sich schafft, indem er die diversen Ausgangsbedingungen integriert: »Regressiv heißt der Rückgang auf die vergleichsweise objektive, progressiv der Vorblick auf das vergleichsweise subjektive Moment«.32 Wichtig ist, daß der Fehler der zeitgenössischen marxistischen Interpretationen vermieden wird, die Objektivation des Individuums schlichtweg unter die objektiven Verhältnisse zu subsumieren. Da die Objektivation Sartre zufolge irreduzibel auf das Allgemeine ist, läßt sich in ihr mehr finden: Die individuelle Überschreitung, die die progressive Synthese nachvollzieht, konserviert und alteriert zugleich das Ensemble sozio-ökonomischer und historischer Verhältnisse. Die Arbeit des Entwurfs offenbart sich also in der Differenz zwischen Madame Bovary und ihrer geschichtlichen Epoche: »(D)er Abstand zwischen zwei synchronen Schnitten der Objektstruktur enthüllt den subjektiven Zusatz, der durch die verinnernde und wieder rückentäußerte Praxis der Struktur auferlegt wurde und sie daran hindert, sich ganz und gar mit dem zu decken, was an ihr überschritten ist«.33 Diese Methodenschaukel eignet sich nach Frank für eine Erforschung sowohl des Individuellen als auch des Allgemeinen: »Alle diese Hinsichtnahmen und Verfahren können jeweils einem überwiegendem Interesse an der Struktur – insofern sie es ist, die dem Entwurf als Basis dient, und insofern jeder Entwurf sich in einem neuen Zustand der Struktur verwirklichen muß – oder an der Individualität entspringen – insofern der Einzelne die Struktur auf eine eigentümliche Weise verinnert und vom Allgemeinen sich abhebt«.34
12. 2. 3. Der interpretative Charakter der progressiven Verstehenssynthese Der Wechsel von der Regression zur Progression markiert zugleich den Wechsel vom Erklären zum Verstehen, das für Sartre »ursprünglich progressiv« (FM 164) ist: »Der Übergang vom Erklären zum Verstehen ist der Übergang von der Stasis, bei der es darum geht, die Gegebenheiten zu ana32
Frank, »Das Individuum in der Rolle des Idioten«, 101. Frank, Das individuelle Allgemeine, 296. 34 Frank, »Das Individuum in der Rolle des Idioten«, 103. Ist eine Integration der unterschiedlichen Momente der objektiven Ausgangsbedingungen vermittels des totalisierenden Entwurfs – wie z. B. im Fall der nachromantischen Schriftstellergeneration – nicht möglich, so kann sich das Individuum mit dem »autosuggestiven Glauben« affizieren, diese Integration sei bereits vollzogen: Der Widerspruch bleibt dann real, wohingegen die Assimilierung nur imaginär ist (vgl. IF 2, 12). Die ablaufende Totalisierung weist dann – wenigstens für kurze Zeit – »eine Irrealitätsstruktur« (IF 2, 12) auf. 33
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12. Die dialektische Anthropologie und die Methode des Verstehens
lysieren oder zu bestimmen, der analytischen und auch phänomenologischen Stasis, zur Dialektik« (A 83). Zwar zielt die progressive Verstehenssynthese auf eine vom Allgemeinen bedingte Individualität, aber da diese nicht aus den analytisch gewonnenen Kenntnissen deduziert werden kann, muß der Interpret sie »erraten« (IF 1, 55). Die Hermeneutik »entziffert« (SN 975), verzichtet auf allgemeine Interpretationen und beabsichtigt, »jedesmal eine Symbolik für den besonderen Fall [zu] erfinden« (SN 982). Es ist demzufolge erforderlich, einen Menschen von innen, »das heißt in Komplizenschaft mit ihm« zu verstehen und ihn nicht nur »als reines Objekt eines definitorischen Wissens« (IF 4, 26 f.) zu erkennen.35 Nach dem positivistischen Ideal der naturwissenschaftlichen Disziplinen kann ein solches Verfahren, das Schleiermacher Divination genannt hat,36 keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben: »Die Wahrheit dieser Rekonstruktion kann nicht bewiesen werden; ihre Wahrscheinlichkeit ist nicht meßbar« (IF 1, 56). Dennoch ist dieses so unsichere Vorgehen methodisch unhintergehbar: Da das Individuelle das Allgemeine immer auch überschreitet, bringt es sich vom Universum der erkennbaren und durch allgemeine Gesetzmäßigkeiten beherrschbaren Sachverhalte in Abzug. Mit anderen Worten, eine definitorische Erklärung des Entwurfs – und damit auch seine Transformation in Bedeutungen – ist per se ausgeschlossen.37 Im fünften Band der Flaubert-Studie ist bezeichnenderweise von einer »Hermeneutik des Schweigens« (IF 5, 31) die Rede. Wenn das individuelle Moment jenseits definitiorischer Bedeutungen und jenseits wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit entziffert werden muß, so bleibt nach den Einsichten, die Sartre im »Plädoyer für die Intellektuellen« entwickelt hat, nur noch die Sprache der Poesie, um sich einem individuellen Welterleben zu nähern. Der Interpret kann also seinem Sujet in dessen Individualität 35
Über seine Flaubert-Studie schreibt Sartre: »Wir wollten seine Verhaltensweisen lieber verstehen, das heißt von ihren Zwecken her untersuchen und als Antworten auf erlebte Situationen betrachten, anstatt sie durch den Vergleich mit den ›realen‹ Stimuli oder mit den Verhaltensweisen der andren als abweichend zu erklären« (IF 5, 14). Daraus ergibt sich: »Wenn es Schäden gibt und wenn wir sie abschätzen müssen, so verfügen wir nur über eine einzige Waage: die Waage, die er selbst akzeptiert« (IF 5, 15). Vgl. auch SU 137: »(D)ie Zeitgenossen verstehen sich, ohne sich zu erkennen, erst der zukünftige Historiker wird sie erkennen, aber seine schwierigste Aufgabe – sie grenzt ans Unmögliche – wird es sein, sie so zu verstehen, wie sie sich verstanden haben«. In seinem Geleitwort zu einem Buch von Cooper und Laing erklärt Sartre seine grundsätzliche Übereinstimmung mit der antipsychiatrischen Position: »Ich glaube […], daß man eine Neurose weder untersuchen noch heilen kann ohne eine grundsätzliche Respektierung der Person des Patienten, ohne ständige Anstrengung, seine Grundsituation zu begreifen und nachzuvollziehen, ohne herauszufinden, wie diese Person auf diese Situation reagiert« (»Statt eines Vorworts in: Cooper/Laing, Vernunft und Gewalt«, 5). 36 Schleiermacher, ebd., 169. 37 Vgl. H. Hardt, »Imagination und Praxis«, 139.
Das hermeneutische Programm der Flaubert-Studie
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strenggenommen nur gerecht werden, wenn er die Sprache irrealisiert, in der er seine Ergebnisse formuliert. Sartres späte Literaturtheorie und seine Individualhermeneutik durchdringen einander, insofern das individuelle Welterleben sich allenfalls dem poetischen Sinn und nicht den prosaischen Bedeutungen erschließt. In diesem hermeneutischen Programm, das jede Irrealisierung im Sinne des zweiten (Gegenpol zur Praxis) und dritten Imaginationsbegriffs (Gegenpol zur Valorisierung) vermeiden will, kommt hingegen dem ersten Imaginationsbegriff (Gegenpol zur Wahrnehmung) eine ausgesprochen elementare Rolle zu, da jene Kluft zwischen den objektiven Ausgangsbedingungen und der individuellen Objektivation, die aufgrund der Andersheit des Anderen nicht gegeben und aufgrund seiner Individualität nicht gewußt werden kann, sich nur der Imagination zu erschließen vermag: »In dieser Studie brauche ich in jedem Augenblick Imagination« (WkL 153), denn allein sie leistet die progressive Verstehenssynthese der heterogenen Bedeutungsebenen. Insofern sich diese Imagination an den Ergebnissen der regressiven Analyse orientiert, kommt ihrem Resultat keineswegs ein willkürlicher Charakter zu: »(D)a ich über Methoden verfüge, die mir stringent erscheinen, denke ich auch, daß es der Flaubert ist, wie er ist, wie er gewesen ist« (WkL 153). Um einen an dieser Stelle sehr passenden Ausdruck aus Sartres Literaturtheorie zu verwenden, läßt sich die imaginierende Verstehenssynthese als ein »gesteuertes Schaffen« (WiL 40) qualifizieren. Sartre spricht auch von einer »Interpretation nach Regeln« (WkL 12). »Anders gesagt, ich habe meine Imagination nur in dem Maße spielen lassen, wie ich z. B. Texte hatte oder frühere Überlegungen, die zahlreich genug waren, um der Imagination einen Wahrheitswert zu geben« (WkL 187). Die Flaubert-Studie als Anwendung der regressiv-progressiven Methode ist also das Resultat einer Zusammenarbeit von methodischer Strenge und Imagination:38 »Ich bin der Meinung, daß die Kenntnis eines Menschen heute die Anwesenheit aller Methoden verlangt. Das eigentliche Problem besteht darin, sie zueinander zu situieren in einer Totalität, die die Totalität Flaubert wäre« (WkL 180). »Ich habe ebenso mit meiner Imagination wie mit meiner Vernunft zu schreiben versucht, weil ich glaube, daß die Imagination auf der Ebene der Strukturen Wahrheiten liefern kann« (WkL 189). Sartre vertritt offensichtlich die Ansicht, daß beim Versuch, einen Menschen zu verstehen, die Irrealisierung im Sinne des zweiten und dritten Imaginationsparadigmas nur vermieden werden kann, wenn die Irrealisierung im Sinne des ersten Imaginationsparadigmas ins Spiel kommt.39 Erstmals in seinem 38
Auch Edith Stein empfiehlt offensichtlich eine wechselseitige Kontrolle von Einfühlung und Wahrnehmung: Zum Problem der Einfühlung, 99. 39 Nach Sartre müssen wir »bejahen, wenn wir verstehen wollen« (SG 774). Vgl. MRT
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Denken gesteht er damit der Imagination einen Erkenntniswert zu, den er in Das Imaginäre noch energisch abgestritten hat (vgl. z. B. Im 26). Dort, wo die objektivierenden Verfahren an ihre Grenze stoßen, bleibt nur noch die »Empathie« als die »einzige zum Verständnis angemessene Haltung« (IF 1, 8). Diese Empathie grenzt nicht etwa in einem reinen Antagonismus die Resultate der objektivierenden Untersuchung als defizitär aus, sondern integriert sie in den Verstehensprozeß. Das Verstehen des Praxis-Menschen schließt das Erkennen des Objekt-Menschen ein.40 Im Grunde findet in Sartres zweidimensionaler Methode eine Zusammenarbeit von Wissenschaft und Hermeneutik statt, in der das Verstehen sozusagen »analytisch ergänzt«41 wird. Alles Verstehen ist imaginierend, und auch aus diesem Grund ist der Flaubert eine Fortsetzung der Schrift Das Imaginäre (vgl. WkL 158): »(D)ie Imagination deckt meiner 94: Einen Menschen zu verstehen bedeutet, ihn »von seiner Zukunft, von seinen persönlichen Anstrengungen zur Erreichung seiner Ziele her sehen. Wenn Sie ihn aber dadurch kennen, daß Sie ihn verstehen, bedeutet das, daß Sie seine Ziele teilen, das heißt, was Sie auch immer an seinem Verhalten sonst mißbilligen, so verstehen Sie ihn doch nur, wenn Sie in gewisser Weise seine Ziele teilen […]. Wenn Sie übrigens aufhören, seine Ziele zu verstehen, und wenn er in diesem Augenblick ein Wesen wird, das keine Ziele mehr hat, sondern nur noch kausal verstehbar oder mindestens erklärbar ist, dann haben Sie den Menschen verloren, dann haben Sie das Insekt«. Eine solche Form der Fremderfahrung ist irrealisierend nach dem zweiten bzw. dritten Imaginationsbegriff, weil sie dem menschlichen Gegenüber die Praxisdimension abspricht. Der Subjekt-Andere entzieht sich prinzipiell der Wahrnehmung und kann nur durch Leerintentionen erfaßt werden (vgl. IF 2, 91). Da Ziele nicht wie Objekte erkannt, sondern sich nur vermittels der Empathie erhellen, indem man sich imaginär in die Perspektive eines anderen Subjekts versetzt, bedarf es also der Imagination in der ersten Bedeutung als Vergegenwärtigung eines Abwesenden, um einen Anderen angemessen verstehen zu können: »Ein Ingenieur kann einen Arzt als Objekt betrachten, insofern er Arzt ist, aber er kann es nicht, insofern er Mensch ist, und genau von dem Augenblick an, wo er versucht, über den Menschen nachzudenken, verliert er sich im Bild« (MRT 94). 40 Ganz in diesem Sinne plädiert Sartre in einem Essay zum modernen Theater für eine Aufhebung des Gegensatzes zwischen dem bürgerlichen dramatischen Theater, das auf Verstehen und Einfühlung setzt, und dem marxistischen epischen Theater, das erkennen und erklären will (vgl. MRT 122). Für sich allein ist das dramatische Theater komplizenhaft und subjektivistisch, insofern es den Einzelnen nicht in seine historische Situation integriert und nicht vorführt, wie seine Aktionen aus gesellschaftlichen Widersprüchen entstehen, während das epische Theater erkennt, ohne zu verstehen und damit die Subjektivität nivelliert (ebd.). Schleiermacher fordert in seiner Hermeneutik ähnlich wie Sartre eine Zusammenarbeit von grammatischer und psychologischer Auslegung, wobei der Interpret, der auf die psychologische Seite verzichtet, ein »Pedant(en)« (ebd., 338) ist, während man den Interpreten, der auf die grammatische Seite verzichtet, einen »Nebulisten« (ebd., 337) nennen kann. 41 Ch. König, ebd. 69. Wannicke hebt hervor: »Die Balance zwischen – bei aller Distanz zum positivistischen Ideal – am Wahrheitsbegriff festhaltendem Methodenprogramm und einfühlsam-romanesker Imaginationspraxis macht die paradigmatische Innovation der Sartreschen Studie aus« (ebd., 84).
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Meinung nach Wahrheiten auf« (WkL 188). Wenn nach der späten Literaturtheorie ein individuelles Welterleben nur vermittels eines imaginären Sinns, d. h. durch die Poesie als Irrealisierung der gewöhnlichen Sprache artikuliert werden kann, so ist es nur konsequent, wenn in gewisser Hinsicht die individualhermeneutische Studie zur Literatur wird. So schreibt Sartre über die Lesehaltung, die er sich für Der Idiot der Familie wünscht: »Ich möchte, daß man meine Studie über Flaubert wie einen Roman liest« (WkL 153). Zugleich erhebt die Flaubert-Studie aber auch einen Wahrheitsanspruch: Es handelt sich also um »einen Roman, der wahr ist« (WkL 153; vgl. 187).42 Wie kann jedoch der Wahrheitsanspruch eines Werks, das offenbar das Paradox einer nicht-fiktionalen Dichtung darstellt, überhaupt überprüft werden? Wenn das Verstehen auch nur imaginiert, so ist doch, wie Sartre erklärt, die »Hypothese […] unmittelbar verifizierbar; nur diejenige kann gültig sein, die in einer schöpferischen Bewegung die transversale Einheit aller heterogenen Strukturen verwirklicht« (FM 159).43 Wahrheitskriterien sind dann lediglich innere Stimmigkeit und methodische Strenge (vgl. WkL 161). Es stellt sich dann allerdings die Frage, ob nicht mehrere Verstehenshypothesen möglich sind, sofern nur jede die heterogenen Bedeutungsebenen in einen Zusammenhang integrieren kann. Trifft dies zu, dann ist die Wahrheit eines Menschen dennoch plural – und zwar nicht, weil die verschiedenen Fakten nicht synthetisiert werden können, sondern weil mehrere gleichwertige Synthesen möglich sind.
12. 3. Die implizite Erweiterung des Begriffs des Subjekt-Anderen in Der Idiot der Familie Im Abschluß soll die These vertreten werden, daß sich in Sartres Denken ein impliziter Bedeutungswandel des Konzepts des Subjekt-Anderen vom 1. Blick-Anderen, der mich objektiviert, über 2. den Subjekt-Anderen als Kom-
42
Die Gattungszuweisung von Der Idiot der Familie, in dem Sartre sein hermeneutisches Programm zur Anwendung bringt, ist daher auch äußerst schwierig. Améry bemerkt dazu: »Die hier zu besprechende Arbeit ist, wie mir scheint, ein Unternehmen völlig neuer Artung und auch in der zeitgenössischen Philosophie beispiellosen Ranges. Was Sartre schrieb, das ist ein Bildungsroman in des Wortes vielfältiger Bedeutung« (ebd., 1198). Müller-Lissner sieht hingegen im Flaubert eher »eine Parodie des Bildungsromans mit den Mitteln von Psychoanalyse und Marxismus« (ebd., 76). 43 In der Genet-Studie verteidigt Sartre den »Wert der Objektivität« und die Existenz zwar nicht ewiger, aber transhistorischer Wahrheiten gegen relativistische Einwände: »Blanchot hat in Mallarmé nur Blanchot gesehen; sehr gut: dann sehen Sie in Blanchot nur sich selbst. Wie können Sie in diesem Fall wissen, ob Blanchot über Mallarmé oder über sich selbst spricht? Das ist der Teufelskreis jedes Skeptizismus« (SG 872, Fußn. 181).
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munikationspartner schließlich 3. zum Subjekt-Anderen vollzieht, den ich in der Empathie verstehe.44 Der Blick-Andere in Das Sein und das Nichts ist, wie in allen Beispielen Sartres deutlich wird, niemals der Subjekt-Andere, so wie er für sich ist, sondern ausschließlich derjenige, für den ich bin bzw. der mich ansieht. Es handelt sich also um einen auf mich fixierten Anderen, den ich in der Scham erlebe und den ich durchaus in seiner Subjektivität anerkenne. Aber hierbei bin ich völlig egozentrisch nur auf mich selbst – bzw. meine Objektivität – konzentriert, und die Erlebnisse des Anderen interessieren mich nur, insoweit sie sich auf mich beziehen (›alle starren mich an‹, ›was hält X von mir?‹, ›Habe ich mich gestern blamiert?‹ usw.). Der Blick-Andere hat keine andere Bestimmung, als mich anzublicken und meine Objektivität zu konstituieren. Daher ist er auch keineswegs jemand, der über sich nachdenkt, glücklich ist, zweifelt, Angst hat usw., sondern einzig und allein eine Instanz, die sich ein Urteil über mich bildet, welches mich in meiner Objektivität konstituiert und prinzipiell beunruhigend ist, weil ich es aufgrund der Andersheit des Anderen nicht erkennen kann. Alle weiteren Qualitäten, die sich dem Anderen zuschreiben lassen könnten, werden auf diese Weise konsequent auf die Seite des Objekt-Anderen geschoben. So wie der Leser der Poesie nichts anderes als eine Vermittlungsinstanz zwischen dem poetischen Text und dem Poeten darstellt (vgl. 10. 5. 3.), ist der Blick-Andere trotz seiner monströsen Präsenz letzten Endes nur eine – wenn auch prinzipiell immer entzogene – Vermittlung zwischen meinem Für-sich-sein und meinem Für-Andere-sein, also letztlich zwischen meiner ›Innenseite‹ und meiner ›Außenseite‹. Eine Begegnung zwischen mir und dem Anderen findet genaugenommen nicht statt. Dies sind die Grundzüge des Subjekt-Anderen bzw. des Blick-Anderen in Das Sein und das Nichts und den Schriften im zeitlichen Umfeld des Hauptwerks. Es läßt sich jedoch zeigen, daß in Sartres Spätphilosophie eine nicht explizit ausgewiesene Erweiterung der Konzeption des Subjekt-Anderen stattfindet. Wenn einer reduktionistischen Anthropologie, die nur den Objekt-Anderen erfaßt, eine regressiv-progressive Individualhermeneutik gegenübergestellt wird, die diese objektivierende Sichtweise integriert, ihr aber zugleich ein Vorgehen zur Seite stellen will, das auch der Praxis- und Entwurfsdimension des Menschen gerecht zu werden versucht, den Einzelnen also nicht nur erkennen, sondern auch – von seinen individuellen Zwecken her – verstehen will, so ist das Thema zwar zweifellos der Andere in seiner Subjektivität. Aber dieser Subjekt-Andere ist nicht – oder zumindest nicht nur – derjenige, der 44
Da der Unterschied zwischen dem Blick-Anderen und dem Anderen als Kommunikationspartner schon im Kapitel über Flauberts Primärsozialisation erläutert wurde, soll der Schwerpunkt nun im Vergleich zwischen dem Blick-Anderen und dem Subjekt-Anderen in der Empathie liegen.
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mich anblickt. Hier geht es nicht um Scham oder darum, daß der Andere meine Zwecke durchkreuzt und der »Tod meiner Möglichkeiten« (SN 477) ist. Ferner ist die Empathie – die Sympathie wie auch die Antipathie (vgl. IF 2, 16)45 – auch keine Objektivation des Anderen durch mich (also eine bloße ›Blickwendung‹), sondern vielmehr eine Partizipation an den Handlungszwecken des Anderen in seinem individuellen In-der-Welt-sein. Und jene fundamentale Partizipation oder Sympathie mit den Begierden meines Gegenübers liegt selbst dann zugrunde, wenn ich eine feindselige Haltung einnehme. So erklärt Sartre in Saint Genet: »Aber das Herz kennt sich durch das Herz: ein Gleichgültiger könnte mich nicht verletzen« (SG 240). Mit anderen Worten: »(M)an muß lieben, um leiden zu lassen« (SG 241). Die Intuition des Guten ist aus diesem Grund einerseits fundamentaler als der Wille, den Anderen zu verletzen, andererseits ist sie niemals eine »kalte und teilnahmslose Betrachtung« (SG 241), denn diese würde immer nur Fakten und niemals Werte zutage fördern. Während der gute Wille mittels der Empathie das Gute für den Anderen will, setzt auch der böse Wille jene Empathie zunächst voraus, aber er ist komplexer, da er das Gute »zuerst setzen und wollen« muß, um es dann in sein Gegenteil zu verkehren: »Das Böse muß also das Gute kennen, lieben und wollen und keinen Augenblick aufhören, es zu wollen und zu lieben, selbst im tiefsten Laster« (SG 241).46
45
Nach Sartre sind Antipathie und Sympathie Formen der Empathie, wohingegen Müller-Lissner eine Grenzziehung zwischen Empathie auf der einen, Sympathie und Antipathie auf der anderen Seite vornimmt, die sich so bei Sartre nicht findet (ebd., 71 f.). 46 Das Verständnis ist fundamentaler als jeder Antagonismus, der dieses immer voraussetzt: »Ich kann ihre Ziele den meinen nicht entgegensetzen, ohne sie als Ziele anzuerkennen. Die Grundlage des Verstehens ist die prinzipielle Komplicenschaft mit jedem Unternehmen, selbst wenn es in der Folge zu bekämpfen oder zu verurteilen ist« (vgl. KDV 106). Vgl. auch KDV 117: »Man kennt ja den Widerspruch des Rassismus, des Kolonialismus und aller Formen von Diktatur: um einen Menschen wie einen Hund zu behandeln, muß man ihn erst als Menschen anerkannt haben. Das geheime Unbehagen des Herren rührt daher, daß er ständig gezwungen ist, die menschliche Realität in seinen Sklaven in Rechnung zu stellen (entweder, indem er auf ihre Geschicklichkeit oder auf ihr synthetisches Verständnis der Situation zählt, oder, indem er Vorsichtsmaßregeln gegen die ständige Möglichkeit eines Aufstandes oder eines Ausbruchs trifft) und ihnen gleichzeitig den ökonomischen und politischen Status zu verweigern, der in dieser Zeit die menschlichen Wesen definiert« (siehe auch Margalit, Politik der Würde, 120, 126, 181). Nussbaum zeigt, wie die Reduktion des Menschen auf seine Objektivität (Sartres Irrealisierung im zweiten und dritten Sinne) mit einem Verlust der Empathie (als Form der Irrealisierung im ersten Sinne) einhergeht: »Allerdings führt auch hier schon allein die Entscheidung, eine Person nicht als Selbstzweck, sondern als bloßes Werkzeug zu behandeln, auf recht natürlichem Wege zu einem Versagen des Vorstellungsvermögens. Sobald man diesen grundlegenden Schritt vollzieht, geschieht es wirklich leicht, daß man aufhört, die normalerweise von der Moralität gebotenen Fragen zu stellen, wie z. B.: Was wird diese Person wahrscheinlich empfinden, wenn ich X tue? Was
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Das Besondere der Fremderfahrung bei Sartre liegt im folgenden: Solange ich nur den abkünftigen Objekt-Anderen – also den Anderen, wie er von der sozialen Welt konstituiert wird – in den Blick nehme, verbleibe ich innerhalb der Faktizität, der sich die andere menschliche Dimension – Subjektivität, Praxis, Transzendenz, Personalisation – entzieht. Wenn das Individuum jenseits des Wissens, der Bedeutungen, des Sagbaren schlechthin liegt, so kann es nur auf dem Wege der Poesie (Irrealisierung der konventionellen sprachlichen Bedeutungen im Sinne des zweiten Imaginationskonzepts als Gegenpol zur Praxis) oder der Empathie erhellt werden, welche individuelle Zwecke aufgrund ihrer prinzipiellen Unerkennbarkeit nur imaginieren kann.47 Die ›objektivierende‹ Untersuchung beschäftigt sich mit der allgemeinen historischen Situation, die das Individuum konstituiert. Die ›empathische‹ Untersuchung versucht, auf imaginäre Weise das individuelle Erleben dieser allgemeinen historischen Situation zu eruieren, welches sich dem objektivierenden Wissen und daher strenggenommen den konventionellen sprachlichen Bedeutungen entzieht. Insofern die Subjektivität des Anderen durch Andersheit und Abwesenheit bestimmt ist,48 kann ich zwar den Anderen in seiner Objektivität erkennen, aber in seiner Subjektivität auf dem Wege der Empathie nur verstehen, indem ich eine Abwesenheit vergegenwärtige.49 Es handelt sich also um eine Imagination im Sinne des ersten Imaginationskonzepts, mithin um eine Vergegenwärtigung des Nicht-Gegebenen. Mehr noch, da das Vergegenwärtigte in diesem Fall nicht nur gelegentlich, sondern prinzipiell nicht-gegeben ist, läßt sich von einer notwendigen Imaginaritätsstruktur des Fremdverstehens sprechen. Die Gefühle eines Anderen zu verstehen, nicht wie sie mir erscheinen, sondern so, wie sie ihm selbst erscheinen, kann nur bedeuten, sie »im irrealen Zustand« zu »vergegenwärtigen« (vgl. Im 225, Fußn. 1).50 Während eine objektivierende und erklärende Untersuchung des Menschen wünscht diese Person und in welcher Form wird sich meine Handlung X auf diese Person und ihre Wünsche auswirken? Und so weiter« (»Verdinglichung«, 113 f.). 47 Daher scheint die angemessene Sprache der Empathie die Poesie zu sein (vgl. hierzu auch SU 144 f.). 48 Husserl spricht hinsichtlich der Fremderfahrung von der »Zugänglichkeit des original Unzugänglichen« (Cartesianische Meditationen, § 52, 144). 49 Sartre scheint in diesem Zusammenhang ›Verstehen‹, ›Sympathisieren‹ und ›Imaginieren‹ gleichzusetzen. In der Genet-Studie erklärt er: »Versuchen wir zu verstehen, das heißt zu sympathisieren«. Und diese Absicht wird sogleich mittels der Imagination in die Tat umgesetzt: »Stellen wir uns Genet von der gesellschaftlichen Welt ausgeschlossen vor, eingesperrt, mitten in eine Gruppe von Männern geworfen, die nicht seine Sprache sprechen« (SG 195; vgl. hierzu ganz ähnlich: IF 4, 15). 50 Sartres Empathiebegriff ist also enger als derjenige von Stein, derzufolge zur Einfühlung schlichtweg alle Akte gehören, »in denen fremdes Erleben erfaßt wird« (ebd., 4). Für Sartre ist das Erfassen der Freude des Anderen noch keine Empathie, sondern erst das Erfassen der erfreulichen Welt des Anderen.
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nur das Gegebene, das Wißbare, die Faktizität, die Konstitution, also das, was aus einem Menschen gemacht wird, berücksichtigt,51 unternimmt die Empathie einen Nachvollzug der individuellen Überschreitung des Gegebenen im Entwurf: Im Fokus ihres Interesses liegt die Personalisation, also das, was einem Menschen aus dem zu machen gelingt, wozu andere ihn gemacht haben. Und für dieses Verstehen des Subjekt-Anderen bin ich auf die Imagination angewiesen. Intendiere ich den Subjekt-Anderen als Blick-Anderen, also in bezug zu mir, so bleibe ich egozentrisch, intendiere ich ihn dagegen als ein Für-sich, so konstituiert sich die im eigentlichen Sinne zwischenmenschliche Dimension, von der aus moralisches Handeln vielleicht erst möglich ist. Vor allem in der Kritik der dialektischen Vernunft spricht Sartre von Wechselseitigkeit und Kommunikation als primärem Verhältnis zwischen mir und dem Anderen, in der wir füreinander gleichermaßen Subjekt und Objekt sind. Der Subjekt-Andere ist hier ein Kommunikationspartner, mit dem gemeinsam ich eine Koordination unserer Handlungsziele hervorbringe. Die Empathie reicht allerdings weiter: Sie teilt zwar anders als die Wechselseitigkeit in der Kritik der dialektischen Vernunft, bei der es vornehmlich um ein gemeinsam zu erreichendes Ziel geht, mit der objektivierenden Einstellung den Umstand, daß sie den Anderen selbst zum Thema hat. Aber im Unterschied zur Objektivierung wird der Andere hier nicht in Richtung auf meine Ziele überschritten, sondern ich mache mir seine Perspektive zu eigen, indem ich versuche, die Welt so zu sehen, wie sie die Ziele des Anderen beleuchten. Die Empathie nach Sartre sieht also genaugenommen nicht ›in den Anderen hinein‹, sondern ›aus dem Anderen heraus‹, um die Welt so zu erfassen, wie sie ihm erscheint. Der Andere ist ein Weltverhältnis und kein Objekt der Welt. Die bereits zuvor festgestellte Dichotomie zwischen Kommunikation und Irrealisierung innerhalb der Sozialbeziehungen läßt sich dahingehend weiter differenzieren, daß man aufgrund der Äquivokation des Imaginationsbegriffs bei Sartre sozusagen eine ›gute‹ und eine ›schlechte‹ Irrealisierung unterscheidet: Wenn ich den Anderen als Objekt-Anderen konstituiere, der meinen Zielen dienlich oder hinderlich ist, so irrealisiere ich ihn nach dem zweiten (Gegenpol zur Praxis) und dritten Imaginationskonzept (Gegenpol zur Anerkennung); versuche ich hingegen auf dem Wege der Empathie zu verstehen, wie er selbst seine Situation erlebt, so vollziehe ich eine Imagination nach dem ersten Imaginationskonzept (Gegenpol zur Wahrnehmung bzw. in diesem Fall: Vergegenwärtigung eines prinzipiell Unerkennbaren). Von hier aus bietet sich die weiterführende Überlegung an, daß möglicherweise in jeder Sozialbeziehung diese drei wesentlichen Momente der Fremderfah51
Zu diesem Untersuchungsbereich gehört zwar auch die ›Objektivation‹, d. h. das fertige Resultat des Handelns, nicht aber die Beschreibung des Übergangs von den objektiven Verhältnissen zur Objektivation in der Überschreitung, die der Entwurf leistet.
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rung – Kommunikation, Empathie und Objektivierung – in einem bestimmten variierenden ›Mischungsverhältnis‹ vorliegen, wobei die Frage nach der Priorität wahrscheinlich unentscheidbar ist. (Wechselseitigkeit und Kommunikation sind natürlich nur bei Zeitgenossen möglich, während historische Persönlichkeiten nurmehr als Objekte erkannt oder als Subjekte verstanden werden können.) Ich kann mit dem Anderen kommunizieren, um ihn für meine Zwecke strategisch auszunutzen oder um ihn zu verstehen. Ich kann ihn verstehen wollen, um ihn besser ausnutzen zu können oder um seinen Blick, den ich auf mich gerichtet spüre, zu ergründen. Schließlich ist es sogar denkbar, daß ich – wie es Sartre mit Flaubert tut – mit methodischer Strenge den Anderen als ein Objekt betrachte, welches durch bestimmte Gesellschafts- und Familienverhältnisse konstituiert wird, mit dem Ziel, ihn als individuelles Subjekt empathisch zu verstehen, das diese konstituierenden Verhältnisse durch seine eigenen Zwecke neu definiert. Die Empathie, die den Anderen von seinem eigenen Standpunkt aus verstehen will, grenzt sich hiermit nicht nur vom Egoismus ab, der ihn aus meiner Perspektive betrachtet, sondern auch von einem Universalismus, der nur einen allgemeinen Standpunkt kennt und individuelle Eigenarten unberücksichtigt läßt. Anders als die ebenso universalistischen wie formalistischen Moraltheorien, die auf Gerechtigkeit, Gleichbehandlung, Unparteilichkeit und wechselseitige Verantwortung setzen (z. B. Habermas’ Diskursethik), erlaubt die Haltung der Empathie durch eine Steigerung der ethischen Sensibilität in viel stärkerem Ausmaß eine Berücksichtigung der Besonderheit von Individuen. Dieser moralische Gesichtspunkt, der zwar nicht die Stelle universalistischer Ethiken einnehmen, diese aber durchaus ergänzen und korrigieren kann, kommt z. B. dort zum Tragen, wo Menschen aus physischen oder psychischen Gründen nicht an dem praktischen Diskurs teilnehmen können, in dem die Teilnehmer argumentativ nach einer verständnisorientierten Lösung für moralische Handlungskonflikte suchen. Es sind ferner Fälle denkbar, in denen eine gerechte Behandlung meines Gegenübers nur in dem Maße möglich ist, als es mir gelingt, mir seinen – für mich vielleicht völlig fremden – Gesichtspunkt des individuellen Wohlergehens, seine Lebensziele und Orientierungsweisen in der Empathie zu eigen zu machen.52 Eine Diskursethik, wie 52
Habermas’ Haltung zur Frage der Empathie verrät eine deutliche Unschlüssigkeit: Während er zunächst »Empathie« und »Anteilnahme am Schicksal des ›Nächsten‹« als »notwendige emotionale Bedingung für die vom Diskursteilnehmer erwarteten kognitiven Leistungen« beschreibt (»Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln«, 194), bringt er an anderer Stelle sein Mißtrauen gegenüber dem Einfühlungsvermögen zum Ausdruck, da er den argumentativen Charakter vernünftiger Willensbildungen nicht durch jene »emotivistischen Vereinseitigungen« gefährden will (»Gerechtigkeit und Solidarität«, 60; vgl. im Kontext: ebd., 58–60). Richtig ist natürlich in jedem Fall, daß die »evaluativen Fragen des guten Lebens« nicht in demselben Maße rational begründbar und daher theo-
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sie Habermas oder auch Apel entwickelt haben, wird im übrigen immer all jene moralischen Einstellungen ignorieren müssen, die aus freien Stücken und ohne wechselseitige Verpflichtung dem Anderen Hilfe und Unterstützung zukommen lassen. Hierzu gehören Formen einseitiger und nicht-reziproker Zuwendung, die durchaus zu einer freiwilligen Einschränkung des eigenen Handlungsspielraums zugunsten des Anderen führen können: Wohltätigkeit, Fürsorge, Hilfsbereitschaft, Anteilnahme am existentiellen Schicksal des Anderen usw.53 Die Diskursethik mit ihrer Orientierung an Gleichbehandlung und Gerechtigkeit tendiert zur Ignoranz gegenüber der Eigenart individueller Subjekte oder heterogener Gruppen54 und kann nur die Positionen zur Geltung bringen, die uneingeschränkt von ideologischen und institutionellen Barrieren in der Lage sind, sich öffentlich zu artikulieren. Gesellschaftlich verdrängte Leidenserfahrungen kommen so gar nicht erst in den Blick.55 Ganz im Gegenteil betont Sartre, daß z. B. der engagierte Schriftsteller Mißstände zur Sprache bringen kann, die sogar den Betroffenen selbst noch gar nicht zu Bewußtsein gekommen sind (vgl. SWL 21). Ein solch hohes Maß an moralischer Sensibilität für das Unrecht von Unterdrückten ist eher auf dem Wege der Empathie zu erwarten, welche hierdurch das Heterogene und Einzigartige gegenüber der universalistischen Tradition des moralischen Forriefähig sind, wie die »normativen Fragen des gerechten Zusammenlebens« (ebd., 63). Jene Fragen des guten Lebens lassen sich nicht im Rahmen eines argumentativen Verfahrens der Normenbegründung, das die Privilegierung von bestimmten Lebensformen vermeiden soll, sondern »nur innerhalb des Horizonts einer geschichtlich konkreten Lebensform oder einer individuellen Lebensführung« rational erörtern (vgl. »Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln«, 190). 53 Vgl. zu den divergierenden Moralprinzipien der Fürsorge und der Gerechtigkeit auch Honneth, »Das Andere der Gerechtigkeit«. 54 Habermas versucht diese Abstraktion auf der Ebene der Anwendungsdiskurse wieder wettzumachen (vgl. »Gerechtigkeit und Solidarität«, 65; »Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?«, 24, sowie ausführlich »Erläuterungen zur Diskursethik«, 137–142). 55 Dieser Grenze der Diskursethik ist sich allerdings auch Habermas bewußt, wenn er selbstkritisch einräumt: »Vom Diskurs selbst können die Bedingungen nicht erfüllt werden, die notwendig sind, damit alle jeweils Betroffenen für eine regelrechte Teilnahme an praktischen Diskursen instandgesetzt werden«. In all diesen Fällen, »wo die bestehenden Verhältnisse für Forderungen einer universalistischen Moral der pure Hohn sind, verwandeln sich moralische Fragen in Fragen der politischen Ethik« (»Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?«, 27). Es obliegt also dem politischen Handeln – welches allerdings selbst wiederum einer moralischen Rechtfertigung bedarf –, »die gesellschaftlichen Verhältnisse erst zu schaffen, in denen praktische Diskurse geführt, also moralische Einsichten diskursiv gewonnen und praktisch wirksam werden können« (ebd., 29; vgl. auch »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, 102, 115 f., sowie Erläuterungen zur Diskursethik, 135). Margalit gibt wiederum in seinem Buch Politik der Würde Beispiele an, in denen eine gerechte Behandlung dennoch zu einer Demütigung der Betroffenen führt (ebd., 320 f.).
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malismus ins Recht setzen kann. Wenn moralischer Fortschritt in modernen Gesellschaften immer auch in einer schrittweisen Beseitigung von sozialem Unrecht liegt, dann ist ein Motor dieses Fortschritts nach Rorty und White eine durch die Rezeption künstlerischer Werke geförderte Entwicklung einer moralischen Sensibilität, die es erlaubt, das Leiden anderer imaginär zu vergegenwärtigen.56
56
Vgl. Rorty, Kontingenz, Ironie, Solidarität; White, Political Theory and Postmodernism sowie zum Verhältnis zwischen Sympathie und Imagination: Bernis, ebd., 81, 87. – Diesen Zusammenhang hat bereits Dewey hervorgehoben, von dem Rorty und White hier möglicherweise beeinflußt sind: »Imagination ist das wichtigste Instrument des Guten. Es ist mehr oder weniger ein Gemeinplatz festzustellen, jemandes Vorstellungen und Behandlung seiner Kameraden hänge von seiner Kraft ab, sich selbst imaginativ an ihre Stelle zu setzen«. Aus diesem Grund ist für Dewey die »Kunst moralischer als die Sittenlehren«: »Denn diese sind entweder Absegnungen des Status quo, Reflexionen herrschender Gebräuche und Konsolidierungen der bestehenden Ordnung, oder sie tendieren dazu, es zu werden« (Kunst als Erfahrung, 401).
SCHLUSSBEMERKUNGEN
Die Schlußbemerkungen fassen sowohl die Resultate der vorliegenden Arbeit als auch die wesentlichen Kritikpunkte zusammen, die sich im Verlauf der Beschäftigung mit Sartres Betrachtungen zum Imaginären ergeben haben. Die seiner Ansicht nach unbezweifelbare Gewißheit, mit der das unmittelbare vorreflexive Bewußtsein Imagination und Wahrnehmung in ihrer Wesensdifferenz spontan und ohne jede Kohärenzüberprüfung unterscheidet, ist die Grundlage und zugleich der neuralgische Punkt seiner Theorie des Imaginären. Mit diesem für Sartre absolut gewissen phänomenologischen Befund, der den Maßstab seiner Kritik an bisherigen philosophischen und psychologischen Imaginationstheorien bereitstellt, steht und fällt zumindest seine frühe Konzeption. Vor diesem Hintergrund wird auch die Funktion des Dualismus von Bewußtsein und Ding ersichtlich, der eine qualitative und nicht bloß quantitative Trennung auf der Theorieebene möglich macht: Das Imaginäre reduziert sich – dies gilt für den ersten Imaginationsbegriff in Sartres früheren Schriften – letztlich als unselbständiges Produkt einer subjektiven Schöpfung auf das Bewußtsein, während das Wahrgenommene aufgrund seiner Subjektunabhängigkeit dem Bereich der Dinge zugehört. Mit dieser grundsätzlichen Trennung sucht Sartre nach einem dritten Weg zwischen all den Positionen, die die Wahrnehmung im Grunde wie die Imagination behandeln – hierzu gehören seiner Ansicht nach alle Formen des Idealismus, wobei er sich vor allem auf Berkeley und Husserl bezieht –, und denen, die wie Descartes und Hume umgekehrt die Imagination auf die Wahrnehmung reduzieren. Fragwürdig ist dabei Sartres ontologische Deutung der phänomenologischen Reduktion als ein Verfahren, das das Wahrgenommene als ein Irreales begreift, indem sie ihm seine Subjektunabhängigkeit und damit seinen Realitätscharakter nimmt. Während Husserl die Frage nach der subjektunabhängigen Existenz offenlassen will, bewegt sich in Sartres Lesart der Phänomenologe nach der Durchführung der Epoché nur noch im Bereich der Imagination (vgl. Kap.1. 6.).1
1
Für Sartre ist die Neutralität nicht die Enthaltung einer Setzung wie bei Husserl, sondern vielmehr eine der vier Formen der Irrealitätssetzung: »Ignorant la dimension husserlienne de la neutralisation, Sartre affirme sans hésiter à propos de l’objet de l’image que ›n’être pas là est sa qualité essentielle‹ […], là où Husserl aurait pu dire que cette qualité consiste dans la suspension de toute relation comparative entre l’image et les déterminations existentielles de l’objet qui est, dans l’image, absent« (Lempen-Ricci, ebd., 220).
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Schlußbemerkungen
Mit der These einer Identität von Wahrnehmungs- und Imaginationsobjekt, die sich konsequent aus der Zurückweisung des Immanentismus ergeben soll, versucht Sartre, einen Rückfall in die Immanenz-Illusion zu vermeiden (vgl. Kap. 2. 1. 1.). Im Anschluß hieran zeigt er jedoch Wesenszüge des imaginären Objekts auf (Quasi-Beobachtung, Nichtscharakter, Unselbständigkeit usw.), die in strikter Abgrenzung gegenüber dem Wahrnehmungsobjekt konzipiert werden. Offensichtlich hat die Imagination infolgedessen nicht nur eigene Objekte, sondern es besteht auch eine ausgesprochen disjunktive Trennung zwischen Wahrnehmungs- und Imaginationsobjekten. Diese Unentschlossenheit bleibt nicht ohne Konsequenzen hinsichtlich der Kohärenz der Imaginationskonzeption Sartres: Wenn sich in der Quasi-Beobachtung etwas anderes als das Wahrnehmungsobjekt zeigt, inwiefern fällt Sartre dann nicht doch wieder in die Immanenz-Illusion zurück? Ist dagegen das Reale, das sich durch Subjektunabhängigkeit definiert, das intentionale Objekt der Imagination, so ist die These von der Kreativität des Imaginationsbewußtseins, dessen Objekt sich auf sein Erscheinen reduziert und von dem das Bewußtsein nichts erfahren könnte, das es nicht schon wüßte, nicht mehr haltbar. Kurz, das erste Grundcharakteristikum behauptet durch die Identifikation mit dem Wahrgenommenen das An-sich-sein des intendierten imaginären Objekts, die anderen drei setzen es als ein erschaffenes Korrelat, dessen Sein vom Bewußtsein abhängt (vgl. Kap. 2. 2.–4.). Eine Theorie des Irrealen kommt nicht daran vorbei, auch den Gegenbegriff des Realen zu klären. Nach der Zurückweisung der Kohärenzüberprüfung u.a. Taines unter Bezugnahme auf die vermeintlich absolut gewisse Unterscheidbarkeit zwischen Wahrnehmung und Imagination auf der Ebene des unmittelbaren und präreflexiven Bewußtseins bleibt Sartre, wie sich mit Carnap zeigen läßt,2 nicht mehr der konstitutionale, sondern nur noch der metaphysische Realitätsbegriff3 (vgl. Kap. 1. 4.). Und in der Tat heißt ›real‹ für Sartre nicht ›kohärent im Verhältnis zu den übrigen Wahrnehmungsgegebenheiten‹, sondern ›an-sich‹, also subjektunabhängig. Wie Husserl selbst erklärt, setzt Widerstreit eine identische Empfindungsgrundlage voraus. Im Fall einer Gegenüberstellung von Wahrnehmung und image mentale wäre eine Kohärenzüberprüfung bzw. eine Auffassung des Imaginären als Widerstreitsbewußtsein nur dann angemessen, wenn die image mentale sensuelle Gehalte aufwiese. Mit dieser Annahme wäre allerdings der Rückfall in die ImmanenzIllusion unvermeidlich. Wenn die image mentale eine Empfindungsgrundlage 2
Vgl. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, 245 ff. Für Sartre kann die Kohärenzüberprüfung allein schon deswegen keine Erklärungskraft besitzen, weil sie seiner Ansicht nach nur auf der prädikativen Ebene stattfindet, während er überzeugt ist, daß sich die Differenzierung bereits auf der Ebene des vorprädikativen Bewußtseins vollzieht. 3
Schlußbemerkungen
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besitzt, dann läßt sie sich nach Sartre nur noch quantitativ von der Wahrnehmung unterscheiden. Ungelöst bleibt in der frühen Imaginationstheorie das Problem der Halluzination und des Traums, die insofern für Sartres Grundvoraussetzung einer spontanen und zweifelsfreien Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Imagination brisante Phänomene darstellen, als das halluzinierende oder das träumende Bewußtsein scheinbar etwas Irreales fälschlicherweise als real setzt. Von hier aus liegt im Grunde eine Revision des Bewußtseinsbegriffs Sartres nahe. Sein Lösungsansatz besteht jedoch in der Behauptung, daß das Halluzinations- oder Traumbewußtsein nichts fälschlich setzt, weil es ein desintegriertes Bewußtsein ist, das überhaupt keine Setzungen vollzieht (vgl. Kap. 2. 6. u. 2. 7.). Das Problem ist jedoch damit nur verschoben: Das allgemeine Gesetz, demzufolge jedes imaginierende Bewußtsein sein Objekt als irreal setzt, ist nicht nur dann aufgehoben, wenn es ein Bewußtsein gibt, das sein irreales Objekt als real setzt, sondern auch dann, wenn es sein irreales Objekt weder als real noch als irreal setzt. Dies ist ein weiteres Beispiel für die oft zu beobachtende Tatsache, daß sich Sartres begriffliches Instrumentarium nicht auf dem Niveau seiner phänomenologischen Beschreibungen oder seines Problembewußtseins befindet. Die Herabsetzung der Bedeutung des Analogon, die vor allem im Kunstkapitel von Das Imaginäre aber auch am Ende von Der Ekel erfolgt, stellt einen weiteren Schwachpunkt dar (vgl. Kap. 2. 9.): Vielleicht unterbricht die Ohnmacht des Dirigenten die Aufführung der Symphonie und nicht die Symphonie selbst. Ist aber die These der Unabhängigkeit des Kunstwerks von seinem Träger bzw. dem Analogon wirklich noch schlüssig, wenn ich mir vor Augen halte, was von dem Gemälde übrigbleibt, wenn die realen Farben auf der Leinwand in Flammen aufgehen? Dieser Schluß ist zudem auch inkonsequent innerhalb von Sartres eigener Imaginationskonzeption: Denn so wie die image mentale ohne Wissen, Affektivität und Bewegungen nicht konstituiert werden kann, müßte jene Notwendigkeit des Analogon ebenso für den Bereich der image physique, zu dem auch das Kunstwerk gehört, gültig sein. In Der Idiot der Familie betont Sartre dagegen die Unentbehrlichkeit des Analogon (vgl. IF 2, 147 f.). Die schon angesprochene zugespitzte ontologische Deutung der Husserlschen Epoché als Irrealisierung des Realen ist neben der konsequent sich daraus herleitenden Auffassung der Konstitution als creatio ex nihilo die Voraussetzung des ontologischen Beweises in Das Sein und das Nichts, der die Subjektunabhängigkeit des Wahrgenommenen begründen und damit den Übergang der Phänomenologie zu einer phänomenologischen Ontologie legitimieren soll (vgl. Kap. 3.). Wie sich gezeigt hat, läßt sich dieses Verfahren demzufolge als eine Rückeroberung des Sonderstatus des Imaginären verstehen, den die phänomenologische Reduktion gefährdet. Es handelt sich nach
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Schlußbemerkungen
Sartre sozusagen um eine Wiederentdeckung des Realen bzw. der Subjektunabhängigkeit auf dem Niveau der Phänomenologie. Insofern der ontologische Beweis der spontanen phänomenalen Evidenz der Subjektunabhängigkeit des Wahrgenommenen gerecht zu werden versucht – nach Sartre gibt sich das Wahrnehmungsphänomen als ›objektiv‹, d. h. für ihn: als ›nicht das Bewußtsein seiend‹4 – würde er Kritikern wie z. B. Bubner entgegnen, daß er aus seiner Perspektive gar nicht dem phänomenologischen Ansatz zuwiderhandelt, sondern vielmehr erst eine Hinwendung ›zu den Sachen selbst‹, eine adäquate Beschreibung derjenigen phänomenalen Gegebenheiten ermöglicht, die die phänomenologische Reduktion versperrt. Wäre das wahrnehmende Bewußtsein wirklich konstitutiv – d. h. für Sartre: schöpferisch –, dann könnte das intentionale Korrelat niemals als ›objektiv‹, also als ›bewußtseinsabhängig‹ erscheinen.5 Dies ist auch eine Grundvoraussetzung der Argumentation in Was ist Literatur?, wo Sartre hervorhebt, daß das künstlerische Produkt, insofern es ein Imaginäres ist, ohne das Hinzukommen des Lesers, also einer zweiten Subjektivität, niemals einen objektiven Status gegenüber dem Künstler erlangen könnte. Die bisherige Forschungsliteratur begreift allzu selbstverständlich die Phänomenologie des Imaginären als eine bloße Spurensuche bzw. als eine tastende Anwendung der ontologisch-anthropologischen Grundüberzeugungen, bevor diese vor allem in Das Sein und das Nichts eine systematische Form erhalten. Aber in gewisser Hinsicht ist auch die Lesart naheliegend, daß Sartre die zweifellos cartesianisch geprägte Gegenüberstellung von Für-sich und Ansich in sein Denken einführt, um Wahrnehmung und Imagination trennscharf unterscheiden zu können. Nach dieser Auslegung, für die vieles spricht, ist das Imaginäre nicht nur einfach ein Seitenweg, sondern der Ursprung seines Denkens, dessen Verlauf das Gegensatzpaar von Für-sich und An-sich, die Freiheitsproblematik wie auch die Intersubjektivitätstheorie in einer spezifischen Form hervorbringt, die diesem Ursprung verpflichtet bleibt. Daß das Imaginäre Sartres erstes philosophisches Thema ist, von dem aus er sich den Fragen der conditio humana zuwendet, liegt schon anhand der Beschreibung seiner ersten Lebensjahre in Die Wörter auf der Hand. Auch das ›Diplôme d’études supérieures‹ erwirbt er sich 1927 mit einer Hausarbeit mit dem 4
Offensichtlich ist Sartres Begriff von ›objektiv‹ bzw. ›Objekt‹ mehrdeutig. Das Imaginäre ist zwar Objekt des (imaginierenden) Bewußtseins, aber es ist nicht objektiv. Insofern es ein Intentum des intentionalen Bewußtseins ist, ist es ein ›Objekt‹, Es ist jedoch nicht ›objektiv‹, weil es sich nicht als subjektunabhängig bzw. ›dinghaft‹ oder an-sich gibt, sondern vielmehr als Kreation des imaginierenden Bewußtseins. 5 Um zu erfahren, wie Husserls Beurteilung von Sartres Vorgehensweise ausgesehen hätte, ist eine Textstelle aus den Pariser Vorträgen aufschlußreich, wo Husserl von »unsinnigen Schlüssen von einer vermeinten Immanenz auf eine vermeinte Transzendenz, die irgendwelcher Dinge an sich« spricht (Cartesianische Meditationen, 33).
Schlußbemerkungen
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Titel: L’image dans la vie psychique: rôle et nature. Ein Grund für die – nicht nur theoretische, sondern vor allem auch existentielle – Relevanz dieses Themas liegt darin, daß Sartre selbst, wie sich gezeigt hat, in seinem Selbstverständnis teilweise noch in der von Baudelaire und Flaubert begründeten Tradition der Nachromantik steht, die nicht nur die Kunst auf eine radikale Weise definiert, sondern auch ein bestimmtes Welt- und Menschenbild einschließt, mit dem Sartre sich zeit seines Lebens auseinandersetzt.6 Eine Bedeutungsebene seiner gesamten Philosophie sind Korrekturversuche einer tief verwurzelten Nachromantik: Sartre befreit z. B. das Bewußtsein von allem Realen, damit es nichts anderes als ein Bezug zum Realen ist. Sicher ist die These allzu gewagt und vereinfachend, daß der cartesianische Ausgangspunkt, die Identifikation des Menschen mit der Praxis, das politische Engagement sowie ›die Suche nach dem Konkreten‹ letztendlich durch Sartres ambivalentes Verhältnis zur Nachromantik motiviert sein sollen. Aber selbst wenn das Imaginäre auch nicht das Hauptthema schlechthin darstellt, so ist es doch zweifellos eine Art Kulminationspunkt, der unerwartete intertextuelle Zusammenhänge im Gesamtwerk dieses Philosophen erkennbar werden läßt. Es hat sich herausgestellt, daß der An-sich-Charakter des Realen mit seiner Widerständigkeit kein Hindernis, sondern vielmehr nach Sartre die Bedingung der Freiheit ist. Ohne Trennung zwischen Konzeption und Realisierung bzw. zwischen Wunsch und Handlung muß Gott, für den es keine widerständige Welt gibt, wie der träumende Mensch alles verwirklichen, was ihm in den Sinn kommt. Freiheit setzt eine zu bearbeitende Materie voraus, auf die ich nicht durch bloßes Wünschen, sondern nur durch Praxis und Engagement einwirken kann. Der ontologische Beweis sichert also nicht nur die Spezifität des Imaginären, sondern auch die Möglichkeit der Freiheit, so wie Sartre sie konzipiert (vgl. Kap. 4.). In diesem Zusammenhang liegt anläßlich der These einer subjektunabhängigen Realität der Vorwurf des naiven Objektivismus auf der Hand. Aus Sartres Situationskonzeption wird jedoch ersichtlich, daß das Bewußtsein der Passivität, das die Wahrnehmung begleitet, keineswegs ihren interpretativen Charakter ausschließt, insofern jede Wahrnehmung in einer Handlungsperspektive steht. Das Zu-schwer-sein des Felsens ist an-sich, da es sich meinem Entwurf, ihn beiseite zu rollen, als Qualität darbietet, welche sich meiner Willkür, meinen Wünschen entzieht. (Dasjenige, das sich meinen Wünschen
6
Während Howells die offensichtlichen Parallelen darauf zurückführt, daß es Sartre gelingt, Motive von Flaubert, Baudelaire und Mallarmé in sein eigenes Literaturverständnis zu integrieren (ebd., 86), soll also hier die weitergehende These vertreten werden, daß Sartres Literaturtheorie eher sekundär ist und nachträglich den Versuch darstellt, sich von den ursprünglichen Einflüssen der nachromantischen Ästhetik, die als neurotisch gewertet wird, zu befreien.
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nicht entzieht, ist für Sartre umgekehrt subjektabhängig und daher imaginär.) Und es ist zugleich Phänomen, also subjektbezogenes Konstitut, insofern sich diese Qualität nur relativ zu diesem Entwurf des Beiseiterollens zeigt. Trotzdem reduziert sie sich jedoch nicht auf diesen Entwurf. Analog zu Waldenfels’ Hervorhebung der signifikativen Differenz, nach der sich notwendig immer etwas als etwas gibt, ist auch bei Sartre das Phänomen gleichermaßen ein Gegebenes wie auch ein Gemachtes (vgl. Kap. 5.). Der Vorwurf Ricœurs, das Kunstwerk, also z. B. ein Roman, dessen Ausgang wir mit Spannung erwarten, könne nicht das Objekt einer Quasi-Beobachtung sein, welches niemals unser Wissen übersteigt und uns daher auch niemals überrascht, hat im Rahmen der vorliegenden Arbeit als Überleitung zu Sartres rezeptionsästhetischen Betrachtungen fungiert (vgl. Kap. 6. 1.). Für den Autor ist zwar das eigene Kunstwerk eine Quasi-Beobachtung, die ihm nichts Neues liefert; aber wie nicht zuletzt in Was ist Literatur? – jener literaturtheoretischen Schrift, die Ricœur außer acht läßt –, deutlich wird, vollendet sich das Werk erst durch den Leser. Es besteht hier, wie Sartre selbst erklärt, eine Synthese aus Wahrnehmung und Imagination, die die häufig beanstandete allzu übergangslose Trennung zwischen diesen beiden Bewußtseinsformen teilweise zu korrigieren scheint. Da zwei Subjektivitäten ins Spiel kommen, kann das Werk objektiv sein, d. h. unerwartete, überraschende Aspekte besitzen und den Erwartungshorizont übersteigen; aber es ist nicht transphänomenal, da es nur ist, wenn es gelesen wird, während der reale Stein auch existiert, wenn er nicht wahrgenommen wird. Dennoch muß das Gesetz der Quasi-Beobachtung für den Bereich der intersubjektiven bzw. objektiven Imaginationen aufgegeben werden. Der Versuch, image mentale und image physique in einer Familie des Imaginären zu vereinen, ist, unter diesem Blickwinkel betrachtet, offensichtlich mißlungen. Der Bereich des Objektiven ist nun nicht länger identisch mit dem Bereich des Transphänomenalen: Der eher ontologische Begriff ›Transphänomenalität‹ bezeichnet die Subjektunabhängigkeit von etwas, wohingegen der eher phänomenologische Begriff ›Objektivität‹ bei Sartre den Umstand beschreibt, daß ein Objekt sich nicht in einer Quasi-Beobachtung gibt, sondern einen Innenhorizont aufweist, der für das Subjekt Unbekanntes, Überraschungen und Enttäuschungen bereithalten kann. Die Objektivität ist – anders als die Transphänomenalität in Sartres erster Imaginationskonzeption – zwar ein Gegenbegriff zur image mentale, aber keinesfalls zum Imaginären im allgemeinen. In diesem Zusammenhang ist eine weitere Unschlüssigkeit bzw. Widersprüchlichkeit augenfällig geworden: Einerseits erfindet der Leser; und das Werk wird nun auch für den Autor überraschend, neuartig und unvorhersehbar, andererseits soll Sartre zufolge alles zuvor bereits ausdrücklich vom Autor gewollt sein, und der Leser kann das Werk nie ausschöpfen. Im ersten Fall wird das geschaffene Werk auch für den Autor objektiv; im zweiten Fall bleibt es für ihn selbst das Objekt einer
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Quasi-Beobachtung, das niemals objektiv wird. D. h., er kommt nie in den Genuß seines eigenen Werks (bzw. erst dann, wenn er es fast vergessen hat). Bei der Erörterung von Poesie und Prosa zeigt sich erstmals im Zuge der immanenten Widersprüche in Sartres Gedankenführung die Äquivokation seines Imaginationsbegriffs, aufgrund derer sich im Grunde nicht nur die Argumentation in den ersten beiden Kapiteln von Was ist Literatur? als hinfällig erweist, sondern auch seine gesamte Theorie des Imaginären mehrdeutig und widersprüchlich wird (vgl. Kap. 6. 2.). Mit dieser Neubestimmung des Imaginären als Gegenpol zur Praxis, die zu der bisherigen Definition als Gegenpol zur Wahrnehmung hinzutritt, scheint eine kohärente und distinkte Wesensbestimmung des Imaginären ausgeschlossen. Sartres Betrachtungen zu diesem Thema lassen sich von nun an nur noch als hypothetisch verstehen oder sozusagen als Steinbruch von mitunter widersprüchlichen Äußerungen, die zwar möglicherweise wertvolle Anregungen bieten, aber keine stimmige widerspruchslose Theoriebildung erlauben. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, die Wesenskategorie in diesem Zusammenhang fallenzulassen und sich statt dessen an der Konzeption der Familienähnlichkeit zu orientieren, die sich in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen findet.7 In diesem Fall wäre es nicht erforderlich, eine einheitliche und eindeutige Bestimmung aufzuweisen, die den gesamten polyvalenten Bereich des Imaginären durchzieht, vielmehr geht man von einer Vielzahl ineinander übergreifender Bestimmungen aus. Es besteht so gesehen eine Familie verwandter Phänomene, wohingegen der Versuch, eine eindeutige Wesensbestimmung aufzuweisen, in dem alle übereinstimmen, zu widersprüchlichen Ergebnissen führt. So wie die Rezeption des Lesers erst die Objektivierung des Werks vollendet, wird auch das Für-sich erst durch den objektivierenden Blick des Anderen zum Menschen (vgl. SN 506; KDV 464). Bei der Erörterung der Blicktheorie hat sich erwiesen, inwiefern Sartres Konzeption des Imaginären – verstanden in der ersten Bedeutung als Gegenpol zur Wahrnehmung – als Vermittlung zwischen Intersubjektivitäts- und Werttheorie fungieren kann (vgl. Kap. 7.). Der enge Zusammenhang von Für-Andere-sein, Wertbezogenheit und Imagination wird von Sartre keinesfalls so umfassend entfaltet, wie er sich innerhalb seines Denkens eigentlich geradezu aufdrängt. Infolge der ontologischen Struktur des Für-sich als Nicht-Identität, nach der es nicht ist, was es ist, sondern ist, was es nicht ist, kann jede Form von Identität nur auf imaginäre Weise und nur vor dem Blick des Anderen verwirklicht werden. Ich spiele, was ich für den Anderen sein möchte, und will »mir einbilden, daß ich es sei« (SN 141). Aber innerhalb der Intersubjektivität kommt das Imaginäre nicht nur dadurch ins Spiel, daß ich notwendig als Schauspieler vor dem Blick des Anderen auftrete. Um das Bild, das der Andere von mir 7
Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 278, 298, 324, 333.
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gewinnt, als meinen gelungenen Entwurf zu erfassen, muß ich versuchen, mich aus der Fremdperspektive zu betrachten; d. h. aber, ich kann aufgrund der unzugänglichen Andersheit des Anderen nur imaginieren, wie dieser Andere mich sieht. In Abgrenzung zu Theunissens ausgesprochen einflußreicher Deutung der Intersubjektivitätstheorie Sartres favorisiert die vorliegende Arbeit eine Lesart, die dem Subjekt-Anderen bei Sartre seine Konkretion und Individualität bewahrt. Dies erlaubt in einem viel höheren Ausmaß die Weiterentwicklung dieses Ansatzes sowie die Bezugnahme auf andere Positionen: Wenn meine Identität nur auf der Ebene des Für-Andere-seins existiert, so tendiert sie zu einer Pluralität, insofern sie von dem jeweiligen individuellen Anderen abhängig ist. Diese Deutung der Blicktheorie ermöglicht zum einen den Vergleich mit Löwiths Intersubjektivitätstheorie wie auch die Bezugnahme auf zeitgenössische Sozialisationstheorien, in denen z. B. Konzeptionen eines multiplen Selbst entwickelt werden, oder auf die Modifikation des Persönlichkeitsideals in der Psychoanalyse, die die Erkenntnisse der Objektbeziehungstheorien hervorgerufen haben.8 Hilfreich ist in diesem Zusammenhang, daß Sartre auch für die historisch-sozialen Voraussetzungen der intersubjektiven Komödie nicht blind ist. Ferner kann z. B. ebenso die These einer permanenten Atmosphäre des Angeblicktseins, die möglicherweise von einem gewissen Einfluß auf Foucaults Darlegungen zum Panoptismus in Überwachen und Strafen gewesen ist, auch als Folie zum Verständnis aktuellerer Phänomene dienen: Wie Welsch im Anschluß an Baudrillard geltend macht, besteht bei Menschen, die durch televisionäre Prozesse sozialisiert wurden, kein Unterschied, ob die Kamera in diesem Moment wirklich auf sie gerichtet ist oder nicht, insofern »sie sich in ihrem Alltag tatsächlich zu jeder Stunde so benehmen, als wäre das Fernsehen dabei«.9 Im Zusammenhang von Sartres Erörterung der gescheiterten Primärsozialisation Flauberts ist zudem offenkundig geworden, daß der Andere nicht nur meine Objektivität konstituiert, sondern auch meine Subjektivität, mein subjektives Erleben und meine Praxisfähigkeit (vgl. Kap. 8.). Die Beziehungen zum Anderen in der Primärsozialisation entscheiden darüber, ob ich ein realisierendes praktisches oder irrealisierendes passives Verhältnis zur Welt einnehme. Die Einsicht, daß Praxis- und Kommunikationsfähigkeit als Bedingungen der Realitätsgewinnung nicht nur eine Frage der Selbstbestimmung sind, sondern von der Anerkennung durch den Anderen abhängen, ist eine deutliche Revision des frühen Existentialismus. Für den späten Sartre gilt: Das Subjekt kommt nicht als Subjekt zur Welt, sondern es muß als Subjekt 8
Vgl. hierzu Honneth, »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität«. Welsch, »Zur Aktualität ästhetischen Denkens«, 58; s. a. Ziemann, Im Blickfeld des Anderen, 257 ff. 9
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anerkannt werden. Diese Ausführungen im ersten Band der Flaubert-Studie legen dabei einerseits sowohl den Vergleich mit der Dialogphilosophie Martin Bubers als auch mit den psychoanalytischen Objektbeziehungstheorien10 nahe. Anderseits könnten sie zudem für aktuelle Anerkennungstheorien fruchtbar gemacht werden, wie sie sich bei Axel Honneth oder Charles Taylor finden.11 Dies ist für die Sartre-Forschung auch dahingehend von Interesse, als in der Skala der Reaktionen auf das Denken dieses französischen Philosophen die differenzierte und kritische Aneignung immer noch eher eine Ausnahme zu sein scheint. Als weiteres Ergebnis kann festgehalten werden, daß Sartre nun nicht länger den Konflikt als Wesen des Miteinanderseins begreift, sondern in seinem Spätwerk vielmehr Kommunikation und Wechselseitigkeit, d. h. symmetrische Anerkennungsverhältnisse als Grundform der Intersubjektivität geltend macht. Es gibt nicht nur eine Wechselseitigkeit der Komödie, in der anerkannt wird, was der jeweils Andere inszeniert. Jede Kommunikation, insofern sie bei Sartre als Gegenbegriff zur Objektivierung aufgefaßt wird, ist darauf angewiesen, daß der jeweils Andere nicht (nur) als Objekt erkannt, sondern (auch) als Subjekt anerkannt wird. Mit dem Verständnis der Sozialbeziehung als Verhältnis zwischen wechselseitig anerkannten Kommunikationspartnern nimmt nun die Schauspielerei als Inszenierung der eigenen Objektivität, um den Anderen zu einem günstigen Urteil motivieren, nicht länger den gesamten Bereich der sozialen Interaktion ein. Die Norm aus Das Sein und das Nichts wird in Der Idiot der Familie zur Abweichung und zum Defizit. Im Zuge dieser Überlegungen bietet die Flaubert-Studie auch die kursorische Skizze einer intersubjektiven und konsensorientierten Wahrheitstheorie,12 die sich deutlich von dem rein individualistischen Wahrheitsverständnis als Bezug von Für-sich und An-sich in Das Sein und das Nichts abhebt. Insofern die Wahrheitsfähigkeit von der Valorisierung der jeweiligen Subjekte abhängt, erweist sich die ethische Dimension als Fundament von Wahrheit und Erkenntnis, wodurch unerwartet die Theorien Apels oder Habermas’ anklingen. Genau wie in Was ist Literatur? führt auch in den Erörterungen in Der Idiot der Familie die Äquivokation des Imaginationsverständnisses zu einer Reihe von Unklarheiten und Widersprüchen. Dabei lassen sich insgesamt drei unterschiedliche Begriffe von Imagination unterscheiden (vgl. Kap. 9. 5. u. 9. 6.). Neben den genannten Auffassungen des Imaginären als Gegenpol zur 10
Vgl. z. B. Stern, Mutter und Kind. Die erste Beziehung; Winnicott, Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. 11 Vgl. Honneth, Kampf um Anerkennung; Taylor, »Die Politik der Anerkennung«. 12 Der Begriff ›Konsenstheorie‹, der bei Sartre selbst nicht auftaucht, wird hier in einem allgemeinen Sinne verwendet, so daß er alle jene Positionen einschließt, nach denen sich Verifikation auf intersubjektive bzw. diskursive Weise vollzieht (vgl. Habermas, »Wahrheitstheorien«, 136 f., 149).
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Wahrnehmung oder als Gegenpol zur Praxis verwendet Sartre diesen Begriff auch, um soziale Mißachtungsverhältnisse zu beschreiben, die Menschen auf ihren Objektstatus reduzieren. Zwar fällt dieser dritte Imaginationsbegriff weitgehend mit dem zweiten zusammen, da Objektivierung im Grunde für Sartre eine Negation der Praxisebene darstellt, dennoch kommt es zu keiner vollständigen Deckung, insofern der dritte die soziale Dimension ins Spiel bringt.13 Die Irrealisierung als Mißachtung oder Nicht-Valorisierung konstituiert mich als reines Objekt im Widerspruch zur conditio humana, d. h. sie reduziert mich auf einen Aspekt des Menschlichen – Faktizität und Objektivität – und ignoriert, daß ich auch Entwurf, Praxis und Kommunikation bin. Indem sie die Ambiguität des Menschen ignoriert, der nicht ist, was er ist (Faktizität, Objektivität), und ist, was er nicht ist (seine ausstehende Möglichkeiten, der praktische Entwurf), macht mich die Irrealisierung zu etwas, was ich nicht bin, weil sie mich paradoxerweise zu etwas macht, was ich bin. Die Nicht-Valorisierung ist jedoch nicht einfach nur ein bloßer Irrtum, der durch anthropologische Überlegungen widerlegt werden kann, vielmehr besitzt er eine soziale Realität, insofern die Nicht-Valorisierung auch für den Betroffenen selbst die Wirklichkeit schafft, die sie zu beschreiben vorgibt. Im Extremfall tastet sie nicht nur das Recht, sondern, wie Sartre am Beispiel Flaubert zeigt, auch das Vermögen zu symmetrischer Kommunikation an. Der objektivierende Blick – gleichgültig, ob er mir schmeichelhafte oder beschämende Qualitäten zuschreibt – blockiert nach Sartre letztendlich die fundamentale Disposition zur Wechselseitigkeit, wenn er sie auch nicht völlig aufheben kann. Eine solche unterschwellige Dominanz der ethischen Perspektive bei Sartre hat sich im übrigen auch dort offenbart, wo selbst die ästhetische Einstellung als Verweigerung der Partizipation an den menschlichen Zwecken letztlich noch in scheiternden Sozialbeziehungen fundiert ist. Zu diesen Verschränkungen von anthropologischen, sozial- und moralphilosophischen Erwägungen tritt ferner die politische Theorieebene hinzu, wenn Sartres Irrealisierungsbegriff auch die Situation von Menschen beschreibt, die ohne Möglichkeiten politischer Mitgestaltung nur ein Objekt der Geschichte sind bzw. deren Lebensführung durch die Klassenzugehörigkeit insoweit präfabriziert ist, daß jeder Entwurf, die gesellschaftlich bedingten Umstände 13
Ich irrealisiere den wahrgenommenen Gegenstand, indem ich durch meine künstlerische Tätigkeit eine menschliche Figur aus ihm forme (1. Imaginationsbegriff im Fall der image physique). Ich irrealisiere den wahrgenommenen Gegenstand, indem ich ihn nicht in einer Handlungsperspektive betrachte (2. Imaginationsbegriff). Ich irrealisiere den wahrgenommenen Anderen, indem ich ihn nicht als Handlungssubjekt anerkenne (3. Imaginationsbegriff). Die rücksichtslose Verfolgung meiner praktischen Ziele irrealisiert den Anderen, insofern sie ihn zu einem Mittel meiner Zwecke macht. Wie verhält es sich aber mit der ästhetischen Kontemplation? Es bleibt bei Sartre unklar, ob der Verzicht auf meine Handlungsziele auch zu einer Negation der fremden Handlungsziele führt.
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zu überschreiten, bereits von diesen überschritten ist. Jede Gesellschaft, die ihre Mitglieder als Objekte institutionalisierter Mißachtungsverhältnisse behandelt, indem sie ihnen die Möglichkeit der politischen Partizipation nimmt, ist demnach irrealisierend im Sinne des dritten Imaginationsbegriffs. Wie bei Aristoteles14 gehört das politische Handeln für Sartre wesentlich zur conditio humana. Ohne diese Dimension würden die Menschen demzufolge nur ein defizitäres Leben führen. Verfolgt man Sartres Beschreibungen des Verhältnisses von Praxis und Wahrnehmung aus der Perspektive des zweiten Imaginationsparadigmas (Gegenpol zur Praxis) in der von ihm eingeschlagenen Richtung weiter, so scheint die nach dem ersten Imaginationsparadigma (Gegenpol zur Wahrnehmung) notwendige Priorität des Realen gegenüber dem Irrealen ebenso in Frage gestellt wie die trennscharfe Unterscheidung von Imagination und Wahrnehmung. Dabei wird in Sartres Darlegungen nicht deutlich, ob die Welt des Kindes irreal ist oder eine Melange aus Irrealität und Realität darstellt. Wenn wir Objekte sind, bevor wir Subjekte werden, d. h. ein praktisches Weltverhältnis gewinnen, so ist nach dem zweiten Imaginationsparadigma (Gegenpol zur Praxis) die Welt genaugenommen zunächst irreal. Anders als beim ersten Paradigma (Gegenpol zur Wahrnehmung) ist die reale Welt nicht das Ergebnis einer spontanen Wahrnehmungsintuition von Subjektunabhängigkeit bzw. Transphänomenalität, sondern eher das Ergebnis eines allmählichen Lernprozesses, d. h. des Vertrautwerdens mit den praktischen Vollzügen und Techniken. Wenn die Realität der Welt von der Praxis abhängt, so wird zudem die disjunktive Unterscheidung von Realität und Irrealität hinfällig, da das Subjekt nicht unentwegt aktiv ist und selbst in der Aktion Wahrnehmungsobjekte zur Kenntnis nimmt, die irrelevant für das gegenwärtige praktische Feld sind. Mit dem Wandel des Imaginationsverständnisses bei Sartre verändert sich nicht nur das Verhältnis von Irrealität und Realität, sondern auch der Realitätsbegriff selbst. Nach dem ersten Paradigma (Gegenpol zur Wahrnehmung) ist real dasjenige, das sich in der Wahrnehmungsintuition der Subjektunabhängigkeit präsentiert. Nach dem zweiten Paradigma (Gegenpol zur Praxis) ist die Wahrnehmung nur dann real, wenn sie in einem Handlungszusammenhang steht, wenn sie unsere Interessen, Begierden, Ängste, kurz, die menschliche Verankerung widerspiegelt. Real ist dann nicht mehr bereits der transphänomenale Gegenstand, sondern erst der in einer Handlungsperspektive erfaßte transphänomenale Gegenstand. Ohne einen solchen Praxisbezug ist hingegen der transphänomenale, d. h. subjektunabhängige Gegenstand imaginär.15 Realität und Transphänomenalität sind also für den späten Sartre nicht 14 15
Vgl. Aristoteles, Politik, 1253a. Strenggenommen wäre aber das Wahrgenommene selbst dann noch imaginär, wenn es
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länger synonym. Und während nach dem ersten Paradigma das Imaginäre sich in einer Quasi-Beobachtung zeigt und immer ärmer als das wahrgenommene Objekt ist, enthüllt die ästhetische Kontemplation an ihrem Objekt mehr Bestimmungen als sich im Praxisbezug offenbaren. Hieraus ergibt sich natürlich die Frage, ob Sartre die imaginäre Wahrnehmung als eine reine Wahrnehmung begreift, die mit der Handlungsperspektive auch auf jede Deutung des Gegebenen verzichtet. In diesem Zusammenhang wäre außerdem zu fragen, wie die praxislose Irrealisierung mehr Qualitäten an den Wahrnehmungsgegebenheiten enthüllen kann, wenn nach Sartre keine Erkenntnis ohne Praxis möglich ist. Die Beschreibung der ästhetischen Einstellung scheint ferner die Nivellierung des Naturschönen, die sich in Das Imaginäre und Was ist Literatur? findet, implizit zu revidieren. Das Schöne ist zwar nach wie vor jenseits des Realen; aber da nun das Wahrgenommene irreal sein kann, kann es auch schön sein. Die von Welsch beklagte einschlägige Einschränkung des Ästhetischen auf das Artistische16 findet sich bei Sartre in dem Maße nicht, als seine Beschreibungen sich an seiner zweiten Imaginationskonzeption orientieren. Wenn es Gegenstandsfelder gibt, die nach dem ersten Imaginationsbegriff real und nach dem zweiten irreal sind, liegt die Überlegung nahe, ob sich auch Phänomene finden lassen, bei denen es sich umgekehrt verhält, die also irreal nach dem ersten und real nach dem zweiten Imaginationsbegriff sind. Es handelt sich dann um Objekte, denen keine Transphänomenalität, d. h. keine Subjektunabhängigkeit bzw. Seinsautonomie zukommt, die aber dennoch Momente der Praxis darstellen oder zumindest eine praktische Relevanz aufweisen: Dies gilt z. B. für computergesteuerte Simulationen, die, wie M. Seel hervorgehoben hat, nicht per se Gegenstand ästhetischer Kontemplation sein müssen. So läßt sich etwa der Cyberspace der Familie der images physiques zuschreiben,17 wobei er nach dem zweiten Imaginationskonzept sowohl real (Gegenstand der Praxis) als auch irreal (Gegenstand ästhetischer Kontemplation) sein könnte: »Falls Cyberspace zu einer gewöhnlichen Möglichkeit menschlicher Praxis würde (zu einem Nebenraum unserer Büros und Laboratorien), müßte sich zwangsläufig jene Differenz ausbilden, die auch für alle bisherige Wahrnehmung gilt: zwischen einer pragmatischen Wahrnehmung, der es primär um die Objekte von Handlung und Erkenntnis geht, und einer ästhetischen Wahrnehmung, der es primär um den Zeitraum ihres zwar in einem Praxisbezug steht, aber die Umstände keinerlei Aussicht auf Erfolg zulassen. Dies unterscheidet die irreale Welt des Ohnmächtigen von der des Ästheten. 16 Vgl. Welsch, »Ästhetisierungsprozesse – Phänomene, Unterscheidungen, Perspektiven«, 41. 17 Die Frage nach dem Analogon des virtuellen Raums bzw. nach der Unterscheidung zwischen Materie und Objekt dieser Imaginationsformen scheint in diesem Fall allerdings keinen Sinn zu machen. Hier zeigen sich die Grenzen von Sartres erstem Imaginationsbegriff.
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Wahrnehmens selbst geht«.18 Ähnlich wie bei M. Seel ergibt sich aus Sartres zweitem Imaginationskonzept, daß etwas nicht schon deswegen ästhetisch bzw. imaginär ist, weil es virtuell ist. Der Cyberspace stellt allerdings insofern einen kaum zu unterschätzenden Sonder- und Testfall des Imaginären dar, als hier offenbar genau dasjenige In-der-Bild-Welt-sein vorliegt,19 das Sartre den irrealen Objekten generell abgesprochen hat (vgl. Im 209). Alles in allem ist der Bedeutungszuwachs des Irrealen in der gegenwärtigen Epoche jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. Aus der Perspektive von Sartres zweitem Imaginationsbegriff (Gegenpol zur Praxis) betrachtet, wird die Differenz zwischen Irrealität und Realität insofern relativiert, als nun Bereiche, die nach dem ersten Imaginationsbegriff (Gegenpol zur Wahrnehmung) irreal sind, eine praktische Relevanz erhalten. In diesem Sinne könnte man auch nach Sartre von einem Realwerden des Irrealen sprechen, wenn man sich vor Augen hält, daß hier zwei Imaginationsbegriffe ins Spiel kommen. Obwohl Welsch und Bolz die Auflösung des Realen proklamieren, setzen sie in ihren Zeitdiagnosen eben jene Realität doch voraus, im Vergleich zu der die Vorzüge des ›ausschaltbaren‹ Video-Babys oder der präventiven Flugsimulation, in der Piloten »ohne Absturzrisiko in dreidimensional simulierten Welten«20 trainieren, zu Tage treten. Einerseits spricht Bolz vom Verschwinden der Differenz zwischen Fiktion und Realität, andererseits begeistert er sich für die Perspektiven, die Flugsimulationen eröffnen und welche bei realen Testflügen ausgeschlossen sind: »Computersimulationen erproben Denkmöglichkeiten jenseits der Realität, weil diese Erprobungen in der Realität zu riskant, sei es schlicht unmöglich wären«.21 An Sartres Grundcharakteristikum der Quasi-Beobachtung erinnert Welschs Erklärung, daß das VideoBaby keine unliebsamen Überraschungen bereithält: »Die Folgsamkeit dieses Kindes ist perfekt«.22 Und wie bei Bolz bleibt auch hier die reale Welt als Kontrastfolie erhalten, wenn Welsch hinzufügt, daß sich auf diesem Wege die »mögliche Abkoppelung eines reibungslos funktionierenden ästhetischanästhetischen Szenarios von der immer (und im Fall von Babys natürlich besonders widerspenstigen) Realität«23 vollzieht.
18
M. Seel, »Vor dem Schein kommt das Erscheinen«, 115. Vgl. Welsch, »Künstliche Paradiese«, 314. 20 Bolz, ebd., 121. 21 Bolz, ebd., 122. 22 Welsch, »Künstliche Paradiese«, 312 23 Welsch, »Ästhetik und Anästhetik«, 22. – Welsch erblickt schon eine Grenzverwischung zwischen Realität und Fiktion bzw. eine Derealisierung des Realen in der Möglichkeit, mittels der Fernbedienung zu ›zappen‹ bzw. zu ›switchen‹ (vgl. »Künstliche Paradiese«, 311 f.). Durch die Auswahl verliert sich seiner Ansicht nach der Verbindlichkeitscha19
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Schlußbemerkungen
Eine naheliegende Frage, die Sartre sich offenbar nirgendwo stellt, betrifft die kulturelle Abhängigkeit des Verhältnisses zwischen Realität und Irrealität. Eine adäquate Theorie des Imaginären sollte die Bandbreite ihres Themenfeldes nicht ignorieren und aufgrund der Offenheit ihres konzeptionellen Rahmens in der Lage sein, kulturelle, historische oder auch entwicklungspsychologische Variationen in Rechnung zu stellen. So wäre für den Angehörigen eines Naturvolks z. B. der Fisch real eine Verkörperung eines Ahnen, während er dies für den Mitteleuropäer bestenfalls irreal sein könnte – dennoch wäre aber der Fisch wahrscheinlich selbst für den Angehörigen des Naturvolks nur irreal ein Jaguar. So setzt er zwar real und irreal anders als der Mitteleuropäer, aber er operiert durchaus noch mit diesen Kategorien. Diese Differenz würde möglicherweise selbst noch für den Psychiatrie-Patienten in einer geschlossenen Anstalt gültig bleiben. Bekannt ist der Witz, in dem der Arzt einem solchen Patienten, der mit kompletter Angelausrüstung in einer Badewanne
rakter des Realen. Es läßt sich jedoch nicht übersehen, daß dieser Wahl Grenzen gesetzt sind. Ob ich nun auf Arte, die ARD oder Pro 7 schalte, es handelt sich immer um eine Wahl von Vorgegebenheiten, so wie ich mir zwar aussuchen kann, ob ich nach rechts, links, oben oder unten sehe, aber nicht unbedingt darüber entscheide, was ich dort zu sehen bekomme. Gleichgültig, wie eigenmächtig ich scheinbar mit der Fernbedienung meine Realität zu gestalten vermag, ich bin nichtsdestotrotz mit der brutalen – subjektunabhängigen – Realität konfrontiert, daß der Film, den ich jetzt gerne sehen würde, nirgendwo im Programm angeboten wird. Nachdem Welsch die qualitative Differenz zwischen Imagination und Realität in Abrede gestellt hat, versucht er diese Differenz, die er dennoch nicht völlig einebnen will, auf quantitative Weise zu fassen. Zwar sind seiner Ansicht nach alle Welten künstlich, aber der Unterschied zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit behält dahingehend einen Sinn, daß manche Welten künstlicher als andere sind (ebd., 296 f.). Zwei Einwände lassen sich dieser Auffassung entgegenhalten: Zum einen ist fraglich, ob die Gleichsetzung der Differenz zwischen wirklich-unwirklich mit natürlich-künstlich wirklich zu einer Klärung der Problematik beiträgt. Sicher ist das Hochhaus künstlicher als der natürliche Dschungel und natürlicher als die Simulation. Aber das Hochhaus ist um nichts weniger real als der Dschungel, während die Simulation eine Irrealität darstellt. Schwerwiegender an dieser rein relationalen Bestimmung, nach der es keinen letzten Bezugsgrund für die Differenz zwischen real und irreal gibt, ist allerdings das folgende Problem: Wenn die lebensweltliche Wahrnehmungswelt natürlicher als die Romanwelt ist, so fragt sich doch, im Verhältnis zu welcher Welt sie künstlicher sein soll. Wenn sie aufgrund ihres Interpretationscharakters künstlich ist, so erfolgt diese Zuschreibung in bezug auf eine deutungsfreie Welt, welche im Grunde eine völlige Fiktion und alles andere als natürlicher oder wirklicher ist. Da jene Welt, die in bezug zur lebensweltlichen Wahrnehmungswelt natürlicher ist, wiederum keinen letzten Bezugsgrund darstellen darf, müßte sie ihrerseits künstlicher im Verhältnis zu einer natürlicheren Welt sein. Diese Sichtweise gerät also in den infiniten Regreß. Wenn die Wahrnehmung eine Erzeugung von Wirklichkeit und Mimesis wie Simulation »Möglichkeiten der illusionären Erzeugung von Wirklichkeit« (Kamper, ebd., 90 – Hervorh. J. B.) sein sollen, hängt alles an der Klärung des Begriffs ›illusionär‹, die allerdings – wie bei Bolz und Kamper – gar nicht erfolgt oder deren quantitative Verfassung – wie bei Welsch – wenig überzeugend ist.
Schlußbemerkungen
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sitzt, jovial die Frage stellt, ob sie denn beißen. Worauf der Patient konsterniert antwortet: ›Sind Sie irre, in einer Badewanne?‹ Hinsichtlich der späteren Poetologie Sartres, nach der nicht nur die Poesie, sondern die Literatur generell die Sprache von ihrer instrumentellen Dimension befreit – in Sartres Worten: die Sprache als Ding behandelt – hat sich die Frage gestellt, ob die Differenz zwischen Poesie und Prosa, also zwischen der Behandlung der Sprache als Ding und als Zeichen, überhaupt innerhalb der Literatur noch ein Bürgerrecht besitzt. In den Tokioer Vorträgen, die unter dem Titel »Plädoyer für die Intellektuellen« veröffentlicht worden sind, bestimmt Sartre das individuelle Erleben der allgemeinen Welt als Thema der Literatur, das ihr von keiner anderen sprachlichen Diskursform streitig gemacht werden kann. Dabei wird gerade der nicht-signifikante Teil der Sprache zum Sprechen gebracht. Von hier aus läßt sich – auch wenn Sartre hier nicht mit diesem Begriffspaar operiert – die Gegenüberstellung von Poesie und Prosa neu bestimmen: Die Poesie konstituiert aus Wörtern imaginäre Dinge. Literarische Prosa verwendet nun jene imaginären Sprachdinge, die die Poesie erschafft, um einen Sinn zu kommunizieren, der sich konventionellen sprachlichen Bedeutungen entzieht, weil sich in ihm ein individuelles In-derWelt-sein artikuliert. Allerdings stellt sich die Ausgangsfrage jetzt auf die umgekehrte Weise: Wie soll nun wiederum reine Poesie möglich sein? Wenn ich gar nicht anders kann, als mein individuelles Welterleben in meiner Literatur zu artikulieren, dann ist alle Sprachkunst Kommunikation, also Prosa (vgl. Kap. 10. 5. 3.). Im fünften Band von Der Idiot der Familie kommt Sartre zu dem Schluß, daß sich die Epoche des Zweiten Kaiserreichs, in der Flaubert Madame Bovary veröffentlicht, durch einen »Humanismus des Unmenschlichen« (IF 5, 294) auszeichnet, insofern die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche der Ökonomie, der Wissenschaft sowie der Kunst eine Irrealisierung des Menschen (Gegenpol zur Anerkennung) vollziehen, indem sie entweder den Profit, die Erkennntis oder das Kunstwerk als Selbstzweck setzen. Es handelt sich hierbei um eine Irrealisierung auf der institutionellen bzw. der sozialgeschichtlichen Ebene (vgl. Kap. 11.). Bei der Rekonstruktion des literarischen Produktionshorizonts der Schriftstellergeneration Flauberts ist offenkundig geworden, daß auch Sartres eigenes literarisches wie philosophisches Frühwerk deutliche Züge der Nachromantik aufweist. Hierzu gehört die anfänglich quasi-religiöse Auffassung der Kunst ebenso wie die radikale Trennung von Imagination und Wahrnehmung, mit der der Bereich des Schönen und des Notwendigen von der ekelhaften Realität und der Kontingenz isoliert wird, sowie die Kluft zwischen dem Analogon des Kunstwerks und dem eigentlichen Kunstwerk. Wenn Roquentin, die Hauptfigur aus Der Ekel, auf das menschliche Leben verzichtet, um sich allein der Kunst zu widmen, so erfüllt er damit die wesentliche ästhetizisti-
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Schlußbemerkungen
sche Doktrin der Nachromantik. Sartre selbst lebte, so erklärt Simone de Beauvoir, um zu schreiben.24 Die Analysen des fünften Bandes von Der Idiot der Familie legen also die literatur- und sozialgeschichtlichen Bedingungen von Sartres eigener Auffassung zur Literatur und dem Imaginären im allgemeinen offen. Zumindest der frühe Sartre ist selbst ein Nachromantiker (vgl. Kap. 11. 4.). In den Fragen der Methode wird nun eine hermeneutische Methode entwickelt, die dem Doppelcharakter der menschlichen Existenz gerecht werden will. Weder soll der Mensch auf seine Subjektivität noch auf seine Objektivität, weder auf seine persönlichen Entwürfe noch auf seine sozialgeschichtliche Faktizität reduziert werden. Während das regressiv-analytische Verfahren die allgemeinen Bestimmungen des Individuums in den Blick nimmt, untersucht die progressiv-synthetische Sichtweise, wie diese allgemeinen Bestimmungen durch den individuellen Entwurf überschritten werden. Die regressiv-analytische Vorgehensweise widmet sich also dem, was aus einem Menschen gemacht wurde, wohingegen die progressiv-synthetische Seite das in den Vordergrund rückt, was ihm aus dem zu machen gelingt, wozu er gemacht wurde. Insofern jedoch das individuelle Moment sich den allgemeinen Bedeutungen der Sprache entzieht, scheint die Poesie der einzige Weg, um ein individuelles Welterleben zu vermitteln. Die Kluft zwischen den objektiven Ausgangsbedingungen und den individuellen Objektivationen kann aufgrund der Andersheit des Anderen nicht gegeben und aufgrund seiner Individualität nicht gewußt werden. In letzter Konsequenz läßt sich der individuelle Entwurf nur vermittels der Imagination (Gegenpol zur Wahrnehmung) erhellen und mittels der Poesie als einer im Sinne des zweiten Konzepts irrealisierten Sprache (Gegenpol zur Praxis) artikulieren (vgl. Kap. 12. 2.). Vergleicht man Sartres implizites Verständnis des Anderen in seiner Hermeneutik mit seiner frühen Intersubjektivitätstheorie in Das Sein und das Nichts, so wird die Weiterentwicklung des Begriffs des Subjekt-Anderen deutlich (vgl. Kap. 12. 3.). Während im philosophischen Hauptwerk der Subjekt-Andere nichts anderes als eine urteilende Instanz ist, die mich anblickt, steht in späteren Schriften die empathische Partizipation an den Handlungszielen des Anderen im Zentrum. Insofern das spontane Fremdverstehen sich als ein Miteinander von wahrnehmender Beobachtung und Empathie erweist, stellt die regressiv-progressive Methode die Wiederholung dieses Vorgehens auf der Ebene theoretischer Reflexion dar, wobei die Hilfswissenschaften hier die Rolle der Wahrnehmung übernehmen. So wie die Vorgaben der Wahrnehmungsgegebenheiten die lebensweltliche Imagination leiten, macht die regressive Untersuchung, die wissenschaftliche Disziplinen wie Psychologie und Soziologie integriert, aus der Imagination der progressiven Syn24
Beauvoir, In den besten Jahren, 16.
Schlußbemerkungen
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these ein gesteuertes Schaffen. Wenn ich hinsichtlich der Fremderfahrung auf jene Imagination nach dem ersten Paradigma (Gegenpol zur Wahrnehmung) verzichte, so irrealisiere ich den Anderen nach dem zweiten und dritten Paradigma (Gegenpol zur Praxis bzw. zur Anerkennung), insofern ich ihn als Objekt erfasse und seine Entwürfe bzw. sein Erleben ignoriere.25 Umgekehrt hängt der individuelle Mensch jedoch ohne jene Objektivität bzw. Faktizität buchstäblich in der Luft. In diesem Fall ist er imaginär nach dem ersten Imaginationsparadigma, da sich seine Entwürfe ohne den Bezug zur Faktizität auf bloße praxisferne Wünsche reduzieren. Die Reduktion auf nur eine Seite des menschlichen Doppelcharakters macht das Individuum entweder zum Traum oder zum Objekt. Die Ergebnisse von Sartres Hermeneutik sind in ethischer Perspektive imstande, als Korrektiv universalistischer Gerechtigkeitstheorien zu dienen. In vielen Fällen kann ein gerechter Umgang nur möglich sein, wenn ich einen fremden Gesichtspunkt des individuellen Wohlergehens, fremde Lebensziele und Orientierungen lebensweltlich auf der Basis der Wahrnehmungsgegebenheiten imaginiere oder theoriegeleitet auf der Basis der Resultate der regressiven Analyse, die z. B. Psychoanalyse und Soziologie liefern, mittels der Imagination der progressiven Synthese intendiere. Universalistische Theorien tendieren dazu, die Besonderheit individueller Subjekte und heterogener Gruppen unberücksichtigt zu lassen, wohingegen z. B. der Schriftsteller solche Erfahrungen, die ansonsten gar nicht die Schwelle öffentlicher Artikulation überschreiten, auf literarische Weise erfahrbar machen kann. Hierbei kann die Empathie bzw. die Imagination als gesteuertes Schaffen überhaupt erst ein Problembewußtsein hervorbringen. Alles in allem legt Sartres Philosophie den Versuch nahe, so unterschiedliche Theorieebenen wie Philosophische Anthropologie, Sozialphänomenologie, Hermeneutik, Gesellschaftstheorie und politische Analyse in einer kritischen Theorie der Gesellschaft zu integrieren.
25
Unklar ist, ob mein Verzicht auf jegliche Praxis nach Sartre auch die Verweigerung jeglicher Partizipation an fremden Zwecken einschließt. Wenn dem so wäre, so würde meine Kontemplation, also die Irrealisierung als Gegenpol zur Praxis, eine Irrealisierung meines Gegenübers in der dritten Bedeutung (Mißachtung) einschließen. Ist dieser Zusammenhang nicht notwendig, ergibt sich die Frage, ob meine Irrealisierung im zweiten Sinne (Verzicht auf Praxis) nicht umgekehrt dazu führt, die Irrealisierung des Gegenübers im dritten Sinne (Mißachtung) zu verhindern. Wenn ich keine Handlungsziele verfolge, so erscheint der Andere nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Selbstzweck.
LITERATURVERZEICHNIS
1. Schriften von Sartre und Verzeichnis der verwendeten Siglen Zitat- und Literaturnachweise, die sich auf Schriften Sartres beziehen, sind im fortlaufenden Text in Klammern mit Sigle und Seitenzahl angegeben. Die jeweiligen Siglen sind im Literaturverzeichnis hinter den verzeichneten Schriften aufgeführt. Die Jahreszahlen in Klammern geben bei den Schriften Sartres das Datum der französischen Erstveröffentlichung an.
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