Sorge und Geschichte: Phänomenologische Untersuchung im Anschluss an Heidegger [1 ed.] 9783428544660, 9783428144662

In »Sein und Zeit« interpretiert Heidegger den Begriff Dasein als das Seiende, $adem es in seinem Sein um sein Sein geht

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German Pages 188 Year 2015

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Sorge und Geschichte: Phänomenologische Untersuchung im Anschluss an Heidegger [1 ed.]
 9783428544660, 9783428144662

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Philosophische Schriften Band 84

Sorge und Geschichte Phänomenologische Untersuchung im Anschluss an Heidegger Von Hye Young Kim

Duncker & Humblot · Berlin

HYE YOUNG KIM

Sorge und Geschichte

Philosophische Schriften Band 84

Sorge und Geschichte Phänomenologische Untersuchung im Anschluss an Heidegger

Von

Hye Young Kim

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2014 als Dissertation angenommen.

Gedruckt mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Ernst-Reuter-Gesellschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 188 Alle Rechte vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-14466-2 (Print) ISBN 978-3-428-54466-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-84466-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für meinen Opa

Vorwort Die vorliegende Arbeit behandelt die phänomenologischen Fragestellungen nach dem Verstehen der menschlichen Existenz im Rahmen der Daseinsanalytik Martin Heideggers. In dieser Arbeit wird eine neue phänomenologische Methode für das Seinsverstehen durch eine Interpretation des Daseins als Geschichte dargestellt. Die Seinsproblematik in Bezug auf die Analyse der Zeit führt zu dem Diskurs über die Geschichte der Metaphysik. Inmitten des ganzen Bildes der Metaphysik von Aristoteles bis Heidegger selbst entsteht eine neue Auslegung der Struktur der Existenz, des Sinns der Sorge und der Zeit, dadurch enthüllen sich die Ontologie, die Hermeneutik und die Phänomenologie des menschlichen Daseins. Der Deutsche Akademische Austauschdienst hat diesen Forschungsaufenthalt durch ein großzügig bemessenes Stipendium gefördert. Die Arbeit wurde im Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin im März 2014 als Dissertation eingereicht. An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, mich bei den Personen zu bedanken, die mich während meiner Promotion begleitet haben. Mein besonderer Dank gilt meinem verehrten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Wilhelm Schmidt-Biggemann, für seine hervorragende Unterstützung und sein Engagement bei der Betreuung dieser Arbeit. Durch seine glänzenden Seminare und Vorlesungen über die Geschichte der Metaphysik, den Deutschen Idealismus, die Philosophie der Geschichte sowie durch das Forschungskolloquium und persönliche Gespräche hat er das Thema dieser Arbeit angeregt. Gleichzeitig aber hat er mir jeden erdenklichen Freiraum für meine eigene philosophische Positionierung eingeräumt. Seine Philosophie und Interpretation der Philosophien von Aristoteles, Platon, Plotin, Nikolaus von Kues, Leibniz, Spinoza, Thomas von Aquin, Augustinus, Kant, Hegel, Fichte, Schelling und Heidegger haben auf mich in großem Maße Einfluss ausgeübt. Ein herzlicher Dank gebührt weiterhin Frau Prof. Dr. Ágnes Heller (New School for Social Research, New York/Budapest) für die vielen philosophischen Anregungen und Hinweise, die ich aus zahlreichen erleuchtenden Diskussionen mit ihr in Deutschland und Ungarn erhalten habe, sowie für die herzliche Übernahme des zweiten Gutachtens. Dank ihrer ausgesprochen positiven Anerkennung meiner Arbeit und ihrer scharfen Kritik aus ihrem vielseitigen Verstehen im umfangreichen Bereich der Philosophie konnte diese Arbeit zustande kommen. Als eine großartige Figur der modernen Philosophie inspiriert sie mich zutiefst nicht nur durch ihre Philosophie, sondern auch durch ihr Leben selbst. In den

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Vorwort

vergangenen Jahren habe ich von ihr wissenschaftlich und persönlich sehr viel lernen dürfen. Hierfür und für ihre uneingeschränkte Unterstützung und Ermutigung bin ich ihr unendlich dankbar. Mit ihrer geistreichen, weisen, liebevollen und zugleich humorvollen Art wird sie mir immer ein Vorbild sein. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Karl-Otto Apel, mit dem ich im April 2012 an der Bergischen Universität Wuppertal über Heidegger und Sein und Zeit diskutiert habe und dessen Interpretation der Daseinsanalytik im Anschluss an die Sprache mir eine neue Einsicht gegeben hat. Gleiches gilt für Herrn Prof. Dr. Stephen Mulhall, der mich zu seinem Seminar über Heidegger und Sein und Zeit an der Oxford Universität freundlich eingeladen hat. Vor zehn Jahren hat er mich durch sein Buch zuerst in die Philosophie Heideggers eingeführt und im Frühjahr 2013, am Ende meiner Promotion, hat er meine Aufmerksamkeit auf einen erheblichen Punkt, in Bezug auf den Begriff der Schuld, für meine Doktorarbeit gelenkt. Bei Herrn PD. Dr. Hans Feger möchte ich mich ebenfalls für seine Unterstützung und Ratschläge bedanken. Wenn ich ihn im Wintersemester 2009/10 in Korea nicht getroffen hätte, wäre ich für die Promotion überhaupt nicht nach Berlin gekommen. Mein großer Dank gilt auch Frau Prof. Eun-Jeung Lee (FU Berlin), die mich auf vielen Ebenen unterstützt hat, als ich in Berlin zu promovieren angefangen habe. Herrn Prof. Dr. Changrae Kim gilt mein Dank, der als mein Betreuer an der Korea Universität meinen ersten Schritt in die Philosophie beleuchtet hat. Ein herzlicher Dank gebührt Herrn Prof. Dr. Kyunghyun Kim, der mich immer, seit meinem ersten Jahr an der Korea Universität vor zwölf Jahren, wie mein Vater an den richtigen Weg der Wissenschaft herangeführt hat. Nicht zuletzt möchte ich mich herzlich bei Herrn Dr. Daejin Kang für seine großherzige Unterstützung bedanken. Von ihm habe ich nicht nur Altgriechisch und Latein, sondern auch das ideale Verhalten der Geisteswissenschaftler gelernt. Meinen geliebten Großeltern, Yongmook Kim und Kyungsoon Mo, gilt mein großer Dank, besonders meinem Opa, der vor einem Jahr von uns gegangen ist. Er war nicht nur mein Großvater, der mich zuerst nach Hause brachte, sondern auch mein bester Freund im wahrsten Sinne. Mein Onkel Chanwoo Kim und mein Bruder Jaeseok Kim haben mich von Beginn meines Studiums an so großartig gefördert. Ihnen sei hierfür von Herzen gedankt. Mein ganz besonderer Dank gilt meinen Eltern, Jangwoo Kim und Busoon Park, die mich über all die Jahre hinweg mit unglaublicher Hingabe und Großzügigkeit unterstützt haben, sowie allen anderen Familienmitgliedern und Freunden, die mit mir gelitten und sich mit mir gefreut haben. Schließlich danke ich meinem Mann, Stephen Deutsch, ohne den dieses Buch niemals fertig geworden wäre. Berlin, im Herbst 2014

Hye Young Kim

Inhaltsverzeichnis Einleitung

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§ 1 Die Anforderungen an eine Daseinsanalytik bei Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schwierigkeiten der Heideggerforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Praxis und Theorie in der Daseinsanalytik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 2 Die Daseinsanalytik im Rahmen der Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zeitlichkeit als beweglicher Zirkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bedingung des Zirkels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der lebendige Prozess des Zirkels in der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 3 Einführung der Hauptthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Kapitel Dasein als Verstehen

27

§ 4 Verstehen als Erschlossenheit der Möglichkeit des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Ontologisch“ und „Ontisch“ im Rahmen des Daseinsverständnisses . . . . 2. Das Sein als Möglichkeit und das Verstehen des Daseins . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 5 Die Frage nach dem Sinn von Sein und das Dasein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grundlage der Seinsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die ontische Auszeichnung des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 6 Die Erschlossenheit des Daseins als In-der-Welt-sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Dasein als In-der-Welt-sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Befindlichkeit des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die gleichursprünglichen existenzialen Strukturen des Daseins . . . . . . . . .

31 32 33 34

§ 7 Das Verstehen als eine der existenzialen Strukturen des Seins . . . . . . . . . . . . . 1. In-der-Welt-sein als Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verstehen als Erschlossenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entwurf auf Möglichkeiten als Seinkönnen des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . .

36 37 38 39

§ 8 Die Struktur des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verstehen im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundstruktur des Verstehens als Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel Die Struktur der Zeitlichkeit

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§ 9 Zeitlichkeit als geworfener Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwerfen im „Vorlaufen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die „Vorweg“-Geworfenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das „Vor“ in der Struktur der Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 10 Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Woraufhin des Entwurfs und der Sinn der Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Tod als Grundbedingung der Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Struktur der Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 45 46 46

§ 11 Die Zukünftigkeit des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das ursprüngliche Phänomen der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Übernahme der Geworfenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zeitlichkeit als Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Werde, was du bist! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47 47 48 49 50

§ 12 Zeitlichkeit und Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ekstasen der Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das ursprüngliche „Außer-sich“ für sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Einheit der Ekstasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das „™kstatikün“ und die Transzendenz des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zukünftigkeit der Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50 50 51 52 53 53

§ 13 Endlichkeit der ursprünglichen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Endlichkeit als Grundcharakter der Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Ende als die Bedingung des Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Frage nach der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Anfang der Existenz des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54 54 55 55 56

3. Kapitel Vergangenheit und Geschichte

58

§ 14 Das übliche Missverständnis über die Geworfenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dasein als Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vergangenheit und die Freiheit des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Geschehen als Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 15 Charakterisierung der Seinsfrage durch die Geschichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 1. Seinsfrage und Seinsverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das historische Verstehen der Geschichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Geschichte und Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis § 16 Reproduktion der Vergangenheit: Theorie der Retention Edmund Husserls . . 1. Vergangenheit als Gewesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rekonstruktion der Vergangenheit: Reihe der Jetztpunkte . . . . . . . . . . . . . . 3. Retention als lebendiger Akt des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das „soeben gewesene“ Jetzt und das „Vor“ in der Struktur der Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Theorie der Zeitlichkeit im Vergleich mit der Zeittheorie Husserls . . . . . .

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4. Kapitel Schuldigsein: Nichtigkeit und Freiheit

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§ 17 Schuldigsein als geworfener Entwurf: Nichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsein einer Nichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheit und Nichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schuldigsein und Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 18 Selbstrufen des Daseins: Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Selbstrufen des Daseins als der Anfang der Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstrufen des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Freiheit zum Tode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Bedeutung der Schuld im menschlichen Freisein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Aus mir und über mich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75 75 76 78 79 80

5. Kapitel Transzendenz und Freiheit

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§ 19 Zum Begriff der Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Transzendenz als Gottesgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Transzendentalphilosophie Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Transzendentale Phänomenologie Husserls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 20 Transzendenz in der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Erschlossenheit der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Horizont der Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die ekstatisch-horizontal fundierte Transzendenz der Welt . . . . . . . . . . . . . 4. Transzendenz und Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86 86 87 88 89

§ 21 Transzendenz des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Transzendenz und die Frage nach dem Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Grund der Existenz und die Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das ™pÝkeina als über sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89 90 90 91

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Inhaltsverzeichnis 4. Transzendenz und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 5. Das Erste und das Letzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 6. Der Grund im Wesen des Daseins als Geschichtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

§ 22 Freiheit des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 1. Freisein als geworfener Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2. Grundstruktur der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 6. Kapitel ¢H ˜rxÌ kaÍ tÎ tÝloò im Zirkel

96

§ 23 Polemik über die Struktur des Seins im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Komplementarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Paradox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Indetermination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 24 Der Anfang und das Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Prozess im Ganzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sein und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Übereinstimmung des Anfangs und des Endes: Annahme der Contradictio 4. ¢H ˜rxÌ kaÍ tÎ tÝloò . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102 102 102 105 106

7. Kapitel Sorge als Grundphänomen

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§ 25 Mythos der Cura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Cura enim quia prima finxit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das In-der-Welt-sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die zweifache Struktur der Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 26 Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Omne agens agit propter finem: Das Ziel der Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Prozess der Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zeit als Zeitigung der Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 27 Selbstauslegung des Daseins in seinem Freisein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Perfectio hominis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die vorontologische Auslegung des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sorge als Grundphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 28 Ontologie: phänomenologische Hermeneutik des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Phänomen als —ainümenon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

13

c) Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Zu den Sachen selbst“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Logos als Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grundstücke der phänomenologischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Hermeneutik des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Phänomenologie als die Methode der Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Logos der Phänomenologie als Šrmhneýein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Vorrang des Daseins in der Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Veritas transcendentalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 29 Rede als Erzählung: Phänomenologie des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschichte des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Daseins Logos als Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Phänomenologie des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127 127 128 128

8. Kapitel Geschichte und Erzählung des Daseins

130

§ 30 Einführung zur Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kontinuität der Geschichte: Lineare oder zyklische Kontinuität der Weltgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Struktur der normalen Geschichte und die Geschichte des Daseins . . . . . . 3. Die Geschichte in der Struktur des menschlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . 4. Das menschliche Ich und seine Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft . . . . .

132 132 134 135 136

§ 31 Historisches Wissen als Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historisches Wissen im Rahmen der Lebenspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erzählung: Narrative Aussagen und die konstruierende Struktur der Zeit . . 3. Die Problematik des Zuhörers bei dem Akt der Erzählung . . . . . . . . . . . . . . 4. Erzählung als Bedingung der Homogenität der Geschichte . . . . . . . . . . . . . 5. Der Sinn der Erzählung im Prozess der Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Erzählen einer Geschichte in der Daseinsanalytik . . . . . . . . . . . . . . . . .

138 138 140 141 142 143 143

§ 32 Das Dasein als Geschichtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschichte als Geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das verstehende Geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Erzählen der Geschichte als je meines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145 145 145 146 146

§ 33 Geschichte und Erzählen in der Daseinsanalytik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Nicht m¯qün tina dihge¦sqai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Die Doppeldeutigkeit der Erzählung einer Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

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Inhaltsverzeichnis

§ 34 Dasein, Zeit, Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1. Die Geschichte der Cura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Zeit, Zählen, Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 § 35 Erzählung als phänomenologische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Dasein als Geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anfang – Mitte – Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Phänomenologie der Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150 150 150 150

§ 36 Die Geschichte und das Dasein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Geschichte und die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Struktur der Geschichte des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Individuelle Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151 151 152 152

§ 37 Daseinsphilosophie und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entweder Rationalität oder Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erzählen im Rahmen der Daseinsontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Überwindung der Ineffabilität der Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

153 153 154 154

Schluss Sorge und Geschichte

156

§ 38 Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschichte im Sinne des Geschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geschichte auf die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gewesenheit: Keine Rekonstruktion der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Geschehen als Ganzes in der Struktur der Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Struktur des Geschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 39 Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sorge als ontologisches Grundphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sinn der Sorge: Sorge als Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sorge und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Individualität des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Eigentlichkeit, Uneigentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165 165 167 169 171 173

§ 40 Erzählung als Phänomenologie des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Logos als Erzählung: Phänomenologie des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erzählung als Akt des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Uneigentliche Einzelheiten des individuellen Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sorge – Geschichte – Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

174 174 175 176 177

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

Einleitung § 1 Die Anforderungen an eine Daseinsanalytik bei Heidegger 1. Schwierigkeiten der Heideggerforschung Eine der großen Schwierigkeiten in der Forschung über die Philosophie Martin Heideggers liegt darin, dass über Heidegger, einem der prominentesten Philosophen in der Philosophiegeschichte, schon auf vielfältige Weise geschrieben worden ist. Nun stellen sich die folgenden Fragen: Können nachträgliche Interpretationen dem Anspruch auf Originalität entsprechen? Was sollte man überhaupt noch von einer weiteren Arbeit über Heidegger, die seine Ideen nur in vielen Fällen in einer sprachlich problematischen Weise reproduziert, erwarten? Daher ist eine Apologie einer anderen Heidegger-Forschung auf jeden Fall erforderlich. Trotz aller Debatten über die Moral und das Gewissen dieses Philosophen gegenüber der Humanität in Bezug auf seine politische Haltung während des Nationalsozialismus ist Heidegger ein Philosoph, der in der Philosophiegeschichte nicht übergangen werden sollte. Seine Philosophie bietet eine Lehre, die die gesamte Geschichte der Philosophie und alle wichtigen Ideen der Philosophie durchdringt. Seine humanistische Interpretation der Ontologie in Bezug auf das menschliche Dasein ist einzigartig und hat nachfolgende Generationen zu einem neuen Verstehen des menschlichen Seins inspiriert. 2. Praxis und Theorie in der Daseinsanalytik Die Kritik, nach der Heidegger die gesamte Metaphysik und Ontologie auf eine bloße Anthropologie reduziert, ist teilweise berechtigt, in dem Sinne, dass es in seiner Daseinsanalyse an einer Theorie der sogenannten objektiven metaphysischen Elemente der Welt oder an einer Kosmologie mangelt. Aber dieses Problem hängt mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis zusammen. Die Daseinsphilosophie Heideggers fokussiert das menschliche Dasein, damit wird vor allem das „jemeinige“ Sein zur philosophischen Fragestellung erhoben und danach stellt sich die Frage nach der Struktur der Welt bzw. der Zeit und des Raums, in denen das jeweilige Ich1 existiert.

1 „Ich“ ist hier nicht als ein rein ideales Subjekt, sondern als ein praktisches Seiendes, Lebendes gemeint.

16

Einleitung

Die Seinsproblematik des Daseins enthüllt sich nicht als Theorie, sondern als Praxis in der Verbindung mit dem je eigenen Leben. Die Analyse der Welt als der Ort der Existenz des Daseins stellt im wahrsten Sinne die fundamentale Voraussetzung der Philosophie dar: Philosophie liegt im Grunde des Menschen. Sofern der Mensch existiert, geschieht in gewisser Weise das Philosophieren: —ýsei gÜr, ƒ —ßle, ænestß tiò —iloso—ßa tÂh~ to¯ ˜ndrÎò dianoßÁa.2 Die Analyse des menschlichen Daseins ist keine geschlossene Erörterung im Rahmen der Heidegger’schen Philosophie, sondern sie umfasst erschlossene Möglichkeiten der Entfaltung des philosophischen Diskurses über die Welt und das Sein.

§ 2 Die Daseinsanalytik im Rahmen der Zeitlichkeit 1. Zeitlichkeit als beweglicher Zirkel Ein wesentliches Element der Heidegger’schen Analyse des Daseins in „Sein und Zeit“ ist die Zeitlichkeit. Der Struktur der Zeitlichkeit wird eine besondere Rolle in dieser Untersuchung zukommen, denn sie zeigt die Grundform der Seinsart des Daseins an. Die Art und Weise der Existenz des Daseins als Verstehen in Bezug auf die Sorge spiegelt sich in der Struktur der Zeitlichkeit. Die Grundform der Zeitlichkeit verstehe ich als einen performativen Zirkel, der ständig in Bewegung gehalten wird. Das „Da-Sein“ des Daseins in der Welt, die Geworfenheit, und der Moment des Todes konstituieren die beiden Pole der Zeitlichkeit. Zwischen diesen beiden Punkten findet eine doppelte Bewegung statt: auf der einen Seite der Entwurf des Daseins aus seinen ihm eigenen Möglichkeiten und auf der anderen Seite das Zurückkommen des Daseins zu seiner Geworfenheit. Diese beiden Bewegungen geschehen gleichzeitig und sie formen sich zu einem Zirkel.3 2. Die Bedingung des Zirkels Das wichtige Moment dieses Zirkels ist, dass jeder Punkt dieses Kreislaufs immer neu ist. Dieser Zirkel gerät deshalb weder zum Circulus vitiosus4 noch ad Infinitum, weil sich jede Stelle dieses Zirkels ständig verändert. Auf diese Weise bleibt der Zirkel immer neu und lebendig und so ist er auch prozessual. Die Be2 Platon: Phaidros, 279a, in: Heidegger, Was ist Metaphysik?, Frankfurt am Main 1943, S. 45. 3 Die Form eines solchen Zirkels ist in der Geschichte der Philosophie nicht wirklich neu: von dem Prinzip der Trinität bis zum hermeneutischen Zirkel, der Denkform von Ich=Ich sowie der Hegel’schen Logik des Werdens, gründen sich eine Menge philosophischer Ideen auf eine solche zirkulare Struktur. Die Heidegger’sche Theorie der Zeitlichkeit bietet eine Fülle von philosophischen Ideen hinsichtlich der Theorie des Denkens, der Prinzipien der Erkenntnistheorien und der Theorien des Seins. 4 „Zirkel im Beweis“ (SuZ 8).

§ 2 Die Daseinsanalytik im Rahmen der Zeitlichkeit

17

wegung des Zirkels ist vollständig und diese Vollkommenheit der zirkularen Bewegung offenbart das Moment der Übereinstimmung der widersprüchlichen Momente; des In-der-Welt-seins und des Todes, der Endlichkeit und der Freiheit des Daseins, die im Grunde die Struktur des Zirkels konstruieren. Die beiden Momente sind kontradiktorisch in dem Sinne, dass das Moment der Geworfenheit das kontinuierliche Moment des Seins5 in der Welt manifestiert, während der Tod das Moment der Nichtigkeit bzw. das nicht mehr existierende Moment des Daseins offenbart. Eine einheitliche Bewegung als Geschehen entsteht zwischen diesen kontradiktorischen oder widersprüchlichen Momenten. 3. Der lebendige Prozess des Zirkels in der Einheit Das Verhältnis zwischen den widersprüchlichen Momenten und der Einheit, die in diesem Zusammenhang die einheitliche Bewegung zwischen den beiden Punkten des Widerspruchs andeutet, wird auch in der Hegel’schen Logik deutlich veranschaulicht. „Die Wahrheit des Seins sowie des Nichts ist daher die Einheit beider; diese Einheit ist das Werden.“ 6 „Das Werden fällt durch seinen Widerspruch in sich in die Einheit.“ 7 Das Entstehen und das Vergehen, die beiden Arten des Werdens, konstituieren einen Prozess. Das heißt: das Werden vollzieht sich durch diese beiden widersprüchlichen Momente. Das Moment der Einheit, in der die beiden Momente des Entstehens und des Vergehens aufgehoben sind, konstituiert ein weiteres Moment des Werdens, das sich ständig bewegt. Dieser Moment des Seins tritt immer zusammen mit dem Moment des Nichts auf, weil es nur sein kann, wenn es auch nicht sein kann. Die Tatsache der Beziehung zwischen dem Sein und dem Nichts zeigt, dass das eine ohne das andere nicht begriffen werden kann. Diese beiden setzen einander nämlich notwendigerweise voraus und sind aufeinander angewiesen. Die beiden zusammenhängenden Momente ermöglichen das Werden als Prozess, das allezeit beweglich und lebendig bleibt. Die vollkommene Struktur der Zeitlichkeit repräsentiert eine solche Struktur der Einheit der beiden widersprüchlichen Momente und die Bewegung zwischen den beiden Punkten. Natürlich ist dieser Zirkel abweichend vom „Zirkel im Beweis“ (SuZ 8) zu verstehen. Der Zirkel im Beweis fällt mit dem Circulus vitiosus zusammen, denn die beiden Punkte können nur in Abhängigkeit voneinander bewiesen werden, sodass folglich nichts bewiesen wird. Der Beweis ist nicht prozessual in dem Sinne, dass er einfach eine ewige Wiederholung des selben Beweises ohne Fortschritt ist, d. h. jede Stelle dieses Kreislaufs wird nicht neu im Progress herge5

Als das praktische und faktische Leben. G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Die Wissenschaft der Logik. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Frankfurt am Main 1970, § 88, S. 188. 7 Hegel, Logik, § 89, S. 193. 6

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Einleitung

stellt, sondern sie steht in einer Bewegung des Pendels8, die demzufolge nirgendwohin läuft. Auch sind die beiden konstituierenden Momente des prozessualen Zirkels widersprüchlich, während die beiden Pole des Zirkels im Beweis nicht notwendig im Widerspruch zueinander stehen.9

§ 3 Einführung der Hauptthesen Die Frage, die meiner Analyse von Heideggers Daseinsanalytik zugrunde liegt, setzt bei der Auslegung des Begriffs der Zeitlichkeit an. „Was verstehen wir unter dem Begriff der Zeitlichkeit?“ ist immer noch eine gültige Frage in der Daseinsphilosophie. Denn das Dasein existiert auf zeitliche Weise. Das bedeutet, dass es in seiner zeitlichen Bewegung des geworfenen Entwurfs existiert. Heidegger konstatiert, dass Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge die Grundart des Seins des Daseins offenbart. Was in seinen Ausführungen zur Zeitlichkeit jedoch offen bleibt, ist die Erläuterung der Form, des Anfangs, des konstitutiven Prinzips und der Grundstruktur der Bewegung der Zeitlichkeit. Die zeitliche Bewegung des Daseins wird in dieser Arbeit als zyklische Bewegung in einem Prozess beschrieben: Die Zeitigung der Zeitlichkeit geschieht in einem lebendigen Prozess, der sich in einem ständigen Zirkel bewegt. Das heißt, die Form der Zeitlichkeit ist ein zirkularer Prozess, dessen Bewegung durch zwei Punkte konstituiert ist.10 Weil das Dasein verstehend als das Seiende, dem es in 8 Die Pendelbewegung ist keine zyklische Bewegung. Aber wie die Pendelbewegung geht die Bewegung im Zirkelschluss nicht über sich selbst hinaus, sondern bewegt sich einfach hin und zurück in einem begrenzten Bereich, sodass sich damit kein Neues ergibt. 9 Eine solche Stellung der beiden Pole in dem Zirkel der Zeitlichkeit zeigt den Leitfaden zum Verständnis der Seinsart des Daseins. Er ist eher in der Form des Zirkels der Schlegel’schen Ironie, die in der Kierkegaard’schen Idee verwurzelt ist. Der Zirkel der Ironie bewegt sich stetig durch die Kraft in einer zyklischen Bewegung zwischen den widersprüchlichen Polen. Daran anschließend wird klar, dass die lebendige Prozessualität dieses Zirkels zwischen den zwei gegenteiligen Polen mit der Fichte’schen Wechselwirkung zwischen Ich und Ich oder der Schelling’schen Struktur zwischen Ich und Nicht-Ich, die sich auf der Wechselwirkung des Ich mit sich selbst gründet, vergleichbar ist. Aber die Fichte’sche Denkform der Subjektivität soll von dem Prozess der Zeitlichkeit unterschieden werden. 10 Eine Kreisbewegung geschieht zwischen den beiden Polen, aus denen ein kontinuierlicher Prozess herauskommt, wie in dem folgenden Bild gezeigt wird:

§ 3 Einführung der Hauptthesen

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seinem Sein um sein Sein selbst geht (vgl. SuZ 12), existiert, ist der Prozess der Zeitlichkeit im Wesentlichen ein verstehender. Begreift man Zeitlichkeit als Prozess zwischen zwei Punkten, so stellt sich zwangsläufig die Frage, was diese beiden Punkte oder Pole jeweils markieren. Dabei ist der eine der beiden Punkte durch das Wesen des Daseins als „Seinzum-Tode“ im Grunde bereits identifiziert: Es handelt sich um den Tod des Daseins. Es bleibt also noch die Frage danach, was den zweiten Punkt kennzeichnet. Falls der Tod das eine Ende des Prozesses ist, was ist der andere Punkt des Endes oder eher des Anfangs, der gleichzeitig mit dem Punkt des Todes zusammen die Bewegung konstituiert? Wie Heidegger schon durch seine Formulierung der Bewegung des Seins-zumTode als einem geworfenen Entwurf deutlich macht, ist der dem Tod entgegengesetzte Punkt im Prozess der Zeitlichkeit nicht die Geburt des Daseins, sondern vielmehr die Geworfenheit. Dieses „In-eine-Welt-geworfen-Sein“, die Geworfenheit des Daseins, bedeutet schlicht das gegenwärtige Sein des Daseins, also buchstäblich sein „Da-sein“ als In-der-Welt-Sein. Das heißt, als immer schon „Daseiendes“ kann die Geworfenheit keine Antwort auf die Frage nach dem Anfang oder Ursprung des „Da-seins“ geben. Im Grunde genommen ist das Dasein ein freies Seiendes als das Seiende, das sich verstehend, „je sein Sein als seiniges zu sein hat.“ (SuZ 12) Wenn das Dasein sein geworfenes Sein auf die Möglichkeit entwirft, wird sein freies Seinkönnen in seiner eigenen Art und Weise der Existenz entfaltet. Die Struktur der Bewegung als geworfener Entwurf manifestiert die Transzendenz des Daseins in dem Sinne des Übersteigens über sich selbst hinaus zur Welt: Aus dem Punkt der Geworfenheit, die das gewesend-gegenwärtigende Sein (vgl. SuZ 350) des Daseins in der Welt besagt, geht das Dasein über sich selbst hinaus sein eigenes Sein auf Möglichkeit entwerfend (Sichentwerfen). Dann kommt es zurück zur Welt, in der es als In-der-Welt-sein existiert (Zurückkommen). Der Grund des Prozesses von der Zeitlichkeit als Grundart des Seins des Daseins besteht in dem Wesen des Daseins selbst als das freie Seiende. Das heißt, die Freiheit des Daseins ist der Grund seines Seins selbst und ermöglicht die einzigartige und ausgezeichnete Art und Weise der Existenz des Daseins. Obwohl das Ende und der Anfang des Prozesses von der Zeitlichkeit enthüllt werden, bleibt die Struktur bzw. das Verhältnis zwischen diesen beiden Endpunkten noch im Dunkeln. Wie lässt sich nun das Verhältnis zwischen den beiden Punkten verstehen oder definieren? Vor dem Hintergrund, dass das Verhältnis dieser beiden Punkte zueinander die Bewegung und Struktur der Zeitlichkeit konstituiert, ist diese Frage von zentraler Bedeutung. Das Erste und das Letzte, der Anfang und das Ende, oder die Freiheit und die Endlichkeit, diese beiden einander entgegengesetzten Punkte konstituieren einen vollkommenen Prozess.

20

Einleitung

Die Pointe dieses Verhältnisses der beiden entgegengesetzten Punkte als Contradictio besteht also in Folgendem: Sie stehen zueinander im Widerspruch, aber genau durch diesen Widerspruch und diese gegenseitige Ergänzung tragen sie auch erst zum Ereignis des Daseins bei. Hinzukommt, dass die beiden Punkte nicht stabil, sondern beweglich – stetig geschehend – sind. Ihr Verhältnis kann daher nicht endgültig als komplementär festgeschrieben werden, auch wenn beide Punkte zusammen eine vollständige Bewegung – gewissermaßen eine Wechselwirkung – zwischen sich erzeugen. In der Bestimmung des Verhältnisses beider Punkte als Contradictio kann infolgedessen noch nicht das Moment der Übereinstimmung im Sinne eines homogenen Prozesses erfasst werden. Das Moment der Übereinstimmung kann man aber verstehen, wenn man die Contradictio annimmt. Die Handlungsweise, die beiden einander entgegengesetzten Punkte so anzunehmen, wie sie sind, stelle ich als eine Möglichkeit, die Grundstruktur des Prozesses der Zeitlichkeit zu begreifen, dar. In seinem eigenen Sein versteht das Dasein sich selbst, wobei es sich ständig um sein Sein sorgt. Das Phänomen der Sorge offenbart dabei die grundsätzliche Seinsweise des Daseins. Das heißt: Im Wesen der Sorge kommt die Grundart des Seins des Daseins zur Erscheinung. An dieser Stelle ergibt sich deshalb also eine neue Frage in Bezug auf die Offenbarung der Grundverfassung der Existenz des Daseins durch das Phänomen der Sorge – nämlich: Wie ist eine solche Offenbarung überhaupt möglich? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst untersuchen, was dieses Sein offenbaren kann. Die Antwort ist uns bereits vorgegeben: Offenbart wird das Sein durch die Sorge, welche auf die Seinsweise des Daseins als geworfenen Entwurf hinweist. Wenn das Dasein geworfend sein eigenes Sein auf seine Möglichkeit hin entwirft, versteht das Dasein in diesem sich-sorgenden Geschehen sein eigenes Sein. Anders ausgedrückt, das Dasein bewegt sich in seinem eigenen Seinsverständnis. Den Gegenstand bzw. das Ziel der Offenbarung hat Heidegger bereits selbst dargelegt. Was er nicht dargelegt hat, ist das „Wie“ des Offenbarungsprozesses: Wie kann das Sein des je einzelnen Daseins zur Erscheinung kommen? Diese Frage zu beantworten, wäre die Aufgabe einer Phänomenologie. Auf welche Weise kann die Individualität des je einzelnen Daseins bewahrt werden, wenn die Seinsweise des jeweiligen Daseins durch das Phänomen der Sorge noch zur Erscheinung kommt? Die Frage lautet nämlich: Wie ist ein wahres Verständnis vom Sein des je einzelnen Daseins überhaupt möglich ohne Zerstörung der Individualität des Daseins bzw. der Seinigkeit seines Seins? Die Bedingung des Verständnisses vom Sein des Daseins besteht also in einem Paradox, da ein Verständnis als Wahres und Allgemeines die Ineffabilität des Individuums überschreiten muss. Was diese Fragestellung nach der genauen Beschaffenheit der Zeitlichkeit betrifft, stelle ich daher in dieser Dissertation folgende fünf Hauptthesen auf, die meiner Interpretation zugrunde liegen:

§ 3 Einführung der Hauptthesen

21

1.

Zeitlichkeit als Prozess: Das Sein des Daseins ist ein zeitliches Geschehen, das sich in einem lebendigen Prozess bewegt.

2.

Anfang und Ende des Prozesses: Dieser Prozess setzt zwei konstitutive Punkte, d. h. Anfang und Ende voraus, damit sich ein zyklischer Prozess zwischen diesen beiden Punkten vollziehen kann.

3.

Annahme der Contradictio: Der Anfang dieses Prozesses ist die Freiheit des menschlichen Daseins, dessen Ende der Tod ist. Im Grunde ist aber der Anfang das Ende selbst. Diese Übereinstimmung von Anfang und Ende im Prozess kann man verstehen, wenn man die Contradictio annimmt.

4.

Die Jemeinigkeit des Daseins: Jeder Prozess ist das zeitliche Geschehen des je einzelnen11 Daseins. Deshalb ist das jeweilige Geschehen bzw. Sein des Daseins persönlich und individuell.

5.

Die Erzählung als Phänomenologie des Daseins: Das je individuelle Geschehen des Daseins kann nur erzählt werden. Das heißt: Den Akt des Erzählens interpretiere ich als die Phänomenologie des Daseins, als zeitliches Geschehen, die das Sein des Daseins zur Erscheinung bringt. Damit wird das Verstehen des Daseins ermöglicht.

Im Rahmen der Daseinsanalytik Heideggers ist das menschliche Dasein dasjenige ausgezeichnete Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein selbst geht (vgl. SuZ 12). Auch definiert Heidegger das Dasein als das „In-der-Welt-sein“. Das Merkmal dieser Formulierung des Daseins von Heidegger besteht darin, dass das „In-der-Welt-sein“ sich im Grund und Wesen auf die einzigartige Seinsart des Daseins bezieht. Das In-der-Welt-sein, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, existiert als endliches Seiendes in der Art und Weise, dass es sich selbst versteht. Im Wesen des Daseins zeigt das Verstehen das „eigenste“ und wichtigste Moment seiner Existenz. In diesem Zusammenhang bedeutet aber das Verstehen keinen intellektuellen Prozess. Das Verstehen des Daseins weist vielmehr darauf hin, dass das Dasein selbst der Vollzug seiner eigenen Existenz ist. In diesem Vollzug entwirft das Dasein sich selbst auf Möglichkeit seines Seins und kommt zu seiner Geworfenheit zurück. Das ist der Prozess des Verstehens, d. h. die Grundart des Daseins. Aus diesem Grund ist das Verstehen der Ausgangspunkt der Daseinsanalytik. Aber was heißt denn „Entwerfen“ und „Geworfenheit“ des Daseins? Im 1. Kapitel Dasein als Verstehen erläutere ich die zentralen Begriffe der Daseinsanalytik in Bezug auf die existenziale Struktur des Verstehens. Am Anfang von „Sein und Zeit“ veranschaulicht Heidegger mehrmals, dass die Seinsproblematik auf dem Wesen der Existenz des Daseins als verstehendes Seiendes beruht. In dieser Hinsicht betont er die Notwendigkeit, dass die Seinsfrage wieder gestellt werden 11

Jeweiligen, individuellen, einzeln usw.

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Einleitung

muss. Und in diesem Punkt beginnt seine Daseinsanalytik. Die Struktur des Verstehens ist die existenziale Struktur des Daseins. Diese existenziale Struktur verstehe ich als einen lebendigen Prozess, der sich in einer Kreisform ständig bewegt. Zwischen den zwei Punkten, Geworfenheit und Möglichkeit des Seins entsteht der existenziale Prozess des Daseins. Das ist die erste meiner fünf Thesen. Die Geworfenheit des Daseins (als In-die-Welt-geworfenes-sein) bedeutet, dass das Dasein in der Welt gegenwärtig ist, existiert. Die Möglichkeit des Seins ist die Seinsmöglichkeit des Daseins, auf die das Dasein sich selbst zukünftig entwerfen kann. Den Prozess konstituieren die Bewegungen des Sich-Entwerfens und des Zurückkommens. Das Sich-Entwerfen des Daseins ist eine Bewegung auf die Zukunft hin, d.h. sie richtet sich auf die Zukunft. Die „eigenste“ Möglichkeit eines Seins ist sein Tod. In diesem Sinne kann man verstehen, aus welchem Grund Heidegger das Dasein als Sein-zum-Tode bezeichnet. Die andere Bewegung bedeutet das Zurückkommen, die Rückkehr, zu seiner gegenwärtigen Geworfenheit. Diese beiden konstitutiven Punkte zeigen die zeitlichen Momente des existenzialen Prozesses des Daseins: die Zukunft und die gewesene-Gegenwart. Infolgedessen ist der Prozess, der zwischen diesen Punkten geschieht, ein zeitlicher Prozess: Das zeitliche Geschehen. Im 2. Kapitel über die Struktur der Zeitlichkeit gehe ich auf die zeitliche Struktur der Existenz des Daseins ein. Die existenziale Struktur des Verstehens erklärt Heidegger ausführlich im Rahmen der ekstatischen Struktur der Zeitlichkeit. Die Ekstasen der Zeitlichkeit werden in diesem Kapitel näher erläutert. Dasein existiert im Wesentlichen auf „zukünftige“ Weise, weil es das sich-sorgende-Seinzum-Tode ist. Allerdings schließt der zeitliche Prozess des Daseins als seine existenziale Struktur nicht nur seine Zukunft, sondern auch seine Gewesenheit und Gegenwart ein. Die existenziale Zukunft, Gegenwart und Gewesenheit sind die Ekstasen der Zeitlichkeit. „Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des ,Auf-sich-zu‘, des ,Zurück auf‘, des ,Begegnenlassens von‘. Die Phänomene des zu . . ., auf . . ., und bei . . . offenbaren die Zeitlichkeit als das ™kstatikün schlechthin. Zeitlichkeit ist das ursprüngliche ,Außer-sich‘ an und für sich selbst“ (SuZ 328–329), so Heidegger. Das Phänomen des „Außer-sich“ für sich selbst offenbart das Wesen des Daseins als freies Seiendes. Die Freiheit des Daseins als dasjenige Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, d. h. das sich um sein Sein selbst sorgt, gründet sich in der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit, deren Struktur als „Außer-sich-für-sich-selbst“ auch die Struktur der Transzendenz des Daseins zeigt. Der anwesend-zukünftige Prozess der Zeitlichkeit offenbart das Wesen des Daseins als endliches und freies „In-der-Welt-sein“. In diesem Zusammenhang fehlt aber eine deutliche Explikation des Begriffs „Gewesenheit“ in Bezug auf die Vergangenheit. Die Frage nach der Vergangenheit scheint wichtig in dem Sinne, dass die Analyse der Vergangenheit einen

§ 3 Einführung der Hauptthesen

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Leitfaden für die Frage nach dem Anfang, d. h. dem Grund des existenzialen Prozesses geben könnte. Anfang und Ende des Prozesses sind die zwei Endpunkte, die zusammen einen einheitlichen und vollkommenen Prozess konstituieren. Zwischen Anfang und Ende geschieht der Prozess in einer zweifachen Bewegung, auf die zukünftige Möglichkeit hin sich entwerfend und zur gegenwärtigen Geworfenheit zurückkommend. Das Ende ist als Bedingung der menschlichen Existenz gegeben: Der Tod wird als die eigenste Seinsmöglichkeit der Zukunft verstanden. Aber was ist der Anfang? Liegt der Anfangspunkt in einem Moment der vergangenen Zeit? Im 3. Kapitel Vergangenheit und Geschichte stelle ich die Frage nach der Vergangenheit in der Daseinsanalytik und erläutere die Geschichtlichkeit des Daseins in der Heidegger’schen Formulierung als Gewesenheit. Es scheint so zu sein, dass Heidegger absichtlich einen Diskurs über die Vergangenheit vermeidet. In der Daseinsanalytik führt die Frage nach der Vergangenheit zur Analyse der Geschichtlichkeit des Daseins. Heidegger meint, dass die Vergangenheit des Daseins in der Struktur der Geschichtlichkeit verstanden werden soll, weil die Geschichtlichkeit des Daseins darauf hinweist, dass das Dasein immer schon in der Welt gewesen ist. Im Rahmen der Zeitlichkeit bezeichnet die Geschichtlichkeit des Daseins das Existieren des Daseins selbst als Geschehen. In diesem Kontext stellt Heidegger keine Analyse der Vergangenheit dar. In der zweiten Hälfte des Kapitels werde ich Husserls Theorie der vergangenen Zeit als die Reihe der objektiven Zeit12 analysieren und kritisieren. Bis zum 4. Kapitel bleibt dennoch die Frage nach dem Anfang des Prozesses noch unbeantwortet. Im 4. Kapitel Schuldigsein: Nichtigkeit und Freiheit entwickele ich eine neue Möglichkeit, diese Frage zu beantworten. Nicht in der Vergangenheit, sondern in dem endlichen und freien Wesen des Daseins selbst liegt der Anfang in dem Sinne des Grundes. Das bezeichnet Heidegger als „Schuldigsein des Daseins“. Unter dem Begriff Schuld ist die Verantwortung des Daseins für sein eigenes Sein bzw. seine eigenste Seinsmöglichkeit, d.h. seinen Tod, zu verstehen. Dementsprechend ist das Schuldigsein das „Grundsein“ (SuZ 284) des Daseins. „Grund-seiend, das heißt als geworfenes existierend“ (SuZ 284) ruft das Dasein sich selbst „aus der Verlorenheit in das Man“ (SuZ 287) zurück und hört sich dabei selbst. Dieses Sichrufen und Hören ist ein wichtiges Moment im Prozess des Daseinsverstehens. Aus welchem Grund aber nennt Heidegger die existenziale Verantwortlichkeit Schuld? In der Hinsicht, dass die Verantwortung des menschlichen Daseins auf dem unvermeidlichen Schicksal des Menschen, d. h. auf seinem Tod, beruht, sehe ich eine Interpretationsmöglichkeit des Begriffs Schuld durch den biblischen Mythos von Adam und Eva, die als die ersten Menschen in der Welt gleichzeitig frei und endlich werden, nachdem sie schuldig ge12 Edmund Husserl: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 3. Auflage, Tübingen 2000.

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Einleitung

worden sind. Das Schuldigsein des Daseins jedoch weist auf keinen negativen Grund des Sündenfalls der Menschheit, sondern das Freisein des menschlichen Daseins mit der Verantwortung für seine eigene Existenz, d. h. sein Sein und seinen Tod. Den Prozess des geworfenen Entwurfs selbst benennt Heidegger als „Grundsein“ (SuZ 284). Der Grund dafür, dass das Dasein als Grundsein existieren kann, liegt in seiner Freiheit. Dasein existiert als dasjenige Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, damit versteht es sich selbst, d. h. es hat je sein Sein als seiniges zu sein (vgl. SuZ 12). Frei kann es sein, wenn es sich selbst in der Struktur des „aus-mir-über-mich-selbst“ ruft. Das ist die ekstatische Struktur der Transzendenz des Daseins. Nun erläutere ich weiter die Struktur der Transzendenz in Bezug auf die Freiheit im 5. Kapitel Freiheit und Transzendenz. Diese ekstatische Struktur von „über mich und für mich selbst“ gründet sich im Prozess der Zeitlichkeit. Ich interpretiere die existenziale Struktur der Zeitlichkeit bzw. den geworfenen Entwurf als einen beweglichen und zyklischen Prozess des Geschehens. Als die Bedingung der zyklisch-beweglichen Form des Prozesses muss ich zwei konstitutive Punkte voraussetzen: Anfang und Ende. In diesem Punkt liegt der Grund für meine erste Frage nach dem Anfang. Die nächste Frage bezieht sich auf die Interpretation der Beziehung zwischen den beiden Polen. Wie können das Sein (das faktische Da-sein, Geworfenheit) und das Nicht-sein (Tod als die eigenste Seinsmöglichkeit) bzw. die Freiheit und die Endlichkeit des Daseins in einem einheitlichen Prozess gleichzeitig bestehen? Wie soll man die zweifache Struktur des geworfenen Entwurfs bezeichnen? Im 6. Kapitel ¢H ˜rxÌ kaÍ tÎ tÝloò im Zirkel werde ich diese hermeneutische Frage nach der Struktur des Prozesses beantworten. Der Anfang dieses Prozesses ist die Freiheit des menschlichen Daseins, dessen Ende der Tod ist. Im Grunde ist aber der Anfang das Ende selbst. Diese Übereinstimmung von Anfang und Ende im Prozess kann verstanden werden, wenn man die Contradictio annimmt. Der Begriff Contradictio impliziert in dieser Arbeit die ursprüngliche Einheit der beiden entgegengesetzten Punkte. Trotzdem soll die Einheit der beiden Punkte in der Contradictio abweichend von den vorgängigen Ideen des einheitlichen Prozesses verstanden werden, in dem Sinne, dass es das ursprüngliche Eine meint, d. h. die Übereinstimmung der beiden Punkte kommt nicht nach der Unterscheidung der beiden, sondern die beiden Punkte sind schon „eins“ und gleichzeitig auch „different“. Den einheitlichen Prozess der Zeitlichkeit bezeichnet Heidegger als den Sinn der Sorge. Sorge kann man in der Grundart des Daseins verstehen, das sich um sein eigenes Sein kümmert, d. h. das für seinen Tod und sein Sein verantwortlich ist. Heidegger nennt diese Sorge das Grundphänomen, in dem Sinne, dass die Sorge die Grundstruktur der Daseinsexistenz offenbart, d. h. zur Erscheinung

§ 3 Einführung der Hauptthesen

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bringt, damit kann das Dasein die Grundart seines Seins verstehen. Im 7. Kapitel Sorge als Grundphänomen erkläre ich zunächst noch einmal die Zeitlichkeit als den Sinn der Sorge und ihre zweifache Struktur. Dann analysiere ich die Bedeutung des „Sinns“ in Bezug auf den Begriff der Handlung und beweise, inwiefern die Zeitlichkeit als Sinn der Sorge bezeichnet wird. Im Grunde genommen bezieht sich die Struktur des Verstehens auf die Selbstauslegung des Daseins in seinem Freisein. Das ist die Hermeneutik des Daseins. „Wie“ das Dasein sich selbst versteht bzw. auslegt, meint die Methode. Das heißt, wie das Dasein sein Sein für sich selbst sichtbar macht, bedeutet die Phänomenologie als Methode. In der Phänomenologie spielt die Sorge eine wichtige Rolle, denn sie ist ein existenzial-ontologisches Grundphänomen. In diesem Kapitel also erläutere ich die Phänomenologie des Daseins in Bezug auf Ontologie und Hermeneutik noch näher. Dann stelle ich im Nachhinein die einzigartige Phänomenologie des Daseins als Erzählung seiner Geschichte dar. Jeder Prozess ist das zeitliche Geschehen des jeweiligen Daseins. Deshalb ist das jeweilige Geschehen bzw. Sein des Daseins persönlich und individuell. Wie kommt der Prozess des Geschehens zur Erscheinung? In diesem Zusammenhang verlangt das Dasein eine Phänomenologie, in der es sein eigenes Geschehen bzw. seine Geschichte sichtbar und verständlich machen kann. Im 8. Kapitel Geschichte und Erzählung des Daseins interpretiere ich den Akt des Erzählens als die einzigartige Phänomenologie des Daseins als zeitliches Geschehen, die das Sein des Daseins zur Erscheinung bringt. Weil das Geschehen des Daseins immer ein je individuelles ist, kann die jeweilige und individuelle Geschichte des Daseins nur als ein je seiniges erzählt werden. Solange das Dasein in der Welt endlich existiert, existiert es als Geschehen zwischen Anfang und Ende. Notwendigerweise ist die Philosophie des Daseins die Philosophie des Endes, im Hinblick darauf, dass das Dasein Sein-zum-Tode ist. Das Ende als die eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins konstituiert die vollständige Struktur des Geschehens im lebendigen und zirkularen Prozess. Die Frage nach dem Sinn von Sein offenbart das tÝloò des Seinsverstehens. Der Sinn des Geschehens soll durch eine neue Interpretation der phänomenologischen Methode zur Erscheinung kommen. Das Dasein braucht ein Zeugnis, in dem es „ursprünglich“ (SuZ 197) „über sich selbst aus“ (SuZ 197) sprechen kann (vgl. SuZ 197). Als das vorontologische Zeugnis wird die Geschichte der Sorge dargestellt und erzählt. Die Geschichte der Sorge betrifft die Geschichtlichkeit des Daseins, die sich in der Struktur der Sorge enthüllt. „Das Dasein ist durch Geschichtlichkeit charakterisiert, was allerdings erst ontologisch nachgewiesen werden muß.“ (SuZ 197) In diesem Zusammenhang verlangt die Daseinsphilosophie eine Phänomenologie, in der sich dieser Prozess des jeweiligen Daseins als je individuelles mit seinen Einzelheiten enthüllen kann. Durch die Phänomenologie des Daseins als Erzählung sollen die Einzelheiten des Daseins über die Ineffabilität des

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Einleitung

Individuums13 hinausgehen, wobei sich die zeitliche Struktur seines eigenen Seins zeigt bzw. in der Sprache der Philosophie äußert. Das Erzählen der Geschichte des je individuellen Daseins impliziert einen Prozess, in dem sein Sein „als Ereignis seinen Namen“ 14 bekommt, nämlich den Prozess der Zeitlichkeit als Geschehen. Das Sein des je einzelnen Daseins, d.h. Individuums, soll inmitten von „gigantomaxßa perÍ t‰ò ožsßaò“ (SuZ 2) nicht verloren gehen, sondern tritt als eigenes Sein in Erscheinung, dadurch schafft es einen Sinn in sich selbst. Durch das Erzählen seiner eigenen Geschichte kommt das Sein des Daseins zur Erscheinung, damit ist das Dasein befreit von der alten anonymen Metaphysik, die das „Sein“ vergessen hat (vgl. SuZ §1). Als Individuum konstituiert das Dasein in diesem einzigartigen Prozess des Fragens und Verstehens seines Seins, d.h. in seinem Sein, seine eigene Zeit, d.h. seinen Sinn.

13 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Nachspiel: Ereignis, Zeit, Erzählung. Eine geschichtsphilosophische Betrachtung, in: Apokalypse und Philologie, Göttingen 2007, S. 361. 14 Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 364.

1. Kapitel

Dasein als Verstehen § 4 Verstehen als Erschlossenheit der Möglichkeit des Daseins Menschlich ist das Dasein in der Hinsicht, dass es selbst der Vollzug seiner eigenen Existenz ist. In diesem Vollzug entwirft das Dasein ständig sein Sein. Das Dasein ist, Heidegger zufolge, dasjenige ausgezeichnete Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein selbst geht (vgl. SuZ 12). Das Dasein bestimmt sich als Seiendes je aus einer Möglichkeit15, die es selbst ist, und zugleich in seinem Sein schon auf irgendeine Weise versteht. Das ist der formale Sinn der Existenzverfassung des Daseins (vgl. SuZ 43). Das Merkmal der Seinsverfassung dieses Seienden liegt darin, dass dieses Dasein ontisch ausgezeichnet ist. Als ontische Auszeichnung des Daseins wird der Umstand bezeichnet, dass es dem Dasein in seinem Sein um sein Sein geht. Das heißt, dass das Dasein sein eigenes Sein in sich als eine Frage erkennen kann bzw. nach seinem eigenen Sein fragen kann. Nicht nur nach seinem eigenen Sein zu fragen sondern auch sich in seinem Sein zu verstehen, ist das Dasein. In diesem einzigartigen Selbstverhältnis zu seinem eigenen Sein ist das Dasein selbst erschlossen. Das Seinsverständnis dieses Seienden ist zugleich seine Seinsbestimmtheit. 1. „Ontologisch“ und „Ontisch“ im Rahmen des Daseinsverständnisses Heidegger weist darauf hin, dass sich die ontische Auszeichnung dieses Seienden darin gründet, dass es „ontologisch“ ist (vgl. SuZ 12). An dieser Stelle soll der Unterschied zwischen den Begriffen „ontologisch“ und „ontisch“ verdeutlicht werden. Das „Ontologisch-sein“ und die ontische Auszeichnung des Daseins verbinden sich miteinander und hängen mit dem Selbstverständnis des Daseins zusammen: Insofern es ontologisch ist, d. h. es als das Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, existiert, ist es ontisch ausgezeichnet. Das Selbstverhältnis zu seinem eigenen Sein des Daseins ist das ursprünglichste Element im Seinsverständnis des Daseins. Dass das Dasein ontologisch ist, bedeutet, dass es sich in seinem Sein versteht. Diese Art und Weise des Verstehens des Daseins zeigt die ontische Auszeichnung des Daseins. 15

Möglichkeit seines Seins.

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1. Kap.: Dasein als Verstehen

Das Verstehen des Daseins steht demnach im Zentrum der Daseinsanalytik. Der Begriff Verstehen als Schlüsselbegriff im Verständnis des Daseins sollte doch in diesem Zusammenhang klar von der alltäglichen Anwendung des Wortes unterschieden verwendet werden. Das heißt: die Anwendung des Begriffs Verstehen als intellektueller Prozess in einer kommunikativen Weise wie in den Sätzen, „ich verstehe jemanden“ oder, „sie versteht etwas“, weicht von der Heidegger’schen Definition des Verstehens in Bezug auf das Daseinsverständnis ab. Das Verstehen des Daseins ist eher ein Prozess, in dem sich das Dasein bewegt. Wenn das Dasein sich in seinem Sein versteht, zeigt diese Art und Weise des Verstehens in diesem Sinne genau die Art und Weise der Existenz des Daseins. Das heißt, dass das Verstehen des Daseins im Kontext der Daseinsanalytik Heideggers die Seinsart des Daseins selbst zeigt. Darum soll der Begriff des Verstehens ausführlich erklärt werden. 2. Das Sein als Möglichkeit und das Verstehen des Daseins Das Sein des Daseins, zu dem sich das Dasein in einer solchen Weise verhält, ist seine eigenste Möglichkeit (vgl. SuZ 43). Der Begriff Möglichkeit spielt eine entscheidende Rolle in der Daseinsanalytik. Jedes Dasein, das als je seiniges sich verstehend existiert, existiert als Möglichkeit seines eigenen Seins. Das Sein des Daseins als Möglichkeit wird in der Struktur des Entwurfs des Daseins veranschaulicht: Das Dasein entwirft sich auf Möglichkeiten seines Seins. Die eigenste Art und Weise der Existenz des Daseins als Entwurf erhellt sein Sein als Möglichkeit. Diese Seinsart des Daseins zeigt genau die Struktur des Verstehens des Daseins. Denn das Dasein kann sein Sein auf Möglichkeiten überhaupt nur entwerfen, wenn es sein Sein schon irgendwie versteht. Das Selbstverständnis des Daseins enthüllt die Grundverfassung seines Seins, im Hinblick darauf, dass die Möglichkeit seines Seins in seinem Seinsverständnis erschlossen ist. Das Sein dieses ontisch ausgezeichneten Seienden wird von sich selbst, d. h. in seiner eigenen Seinsverfassung bestimmt und als Möglichkeit erschlossen. Die Erschlossenheit der Möglichkeit des Selbstverständnisses bzw. der Seinsbestimmtheit des Daseins bedeutet das Verstehen im ursprünglichen Sinne. Verstehen als existenzialer Prozess in der Daseinsanalytik zeigt die grundsätzliche Seinsart des Daseins, das in seinem Sein verstehend existiert. Das Verstehen des Daseins enthüllt den Prozess der Existenz des menschlichen Daseins, das schließlich die Transzendenz bzw. die Freiheit des Daseins16 offenbart. Aus diesem Grund ist das Dasein im Wesentlichen als Verstehen. Das Verstehen als Prozess ermöglicht die einzigartige Seinsart des Daseins. Das heißt:

16 Auf die Transzendenz und die Freiheit des Daseins werde ich im 5. Kapitel ausführlicher eingehen.

§ 5 Die Frage nach dem Sinn von Sein und das Dasein

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Das Verstehen des Daseins selbst weist wesenhaft auf die Grundverfassung der Existenz des Daseins hin. Die essenzielle Beziehung des Verstehens und der Erschlossenheit des Seins als Möglichkeit wird in folgenden Abschnitten noch näher erläutert. Davor muss der Ansatzpunkt des Diskurses über das Dasein und seine Seinsart zunächst dargelegt werden. Die Daseinsanalytik beginnt mit der Frage nach dem Sinn von Sein. Dessen Aufklärung und die Rechtfertigung des erneuten Fragens nach dem Sein (vgl. SuZ §1), führt in einer notwendigen Weise zu der einzigartigen Interpretation des Daseins bei Heidegger.

§ 5 Die Frage nach dem Sinn von Sein und das Dasein Die Erörterung des Begriffs Dasein beginnt, Heideggers Argumentation folgend, zunächst mit der richtigen Fragestellung nach dem Sein – der Seinsfrage. Deswegen wird die einzigartige Auslegung des Daseins in „Sein und Zeit“ mit der Bemerkung eingeführt, dass die Seinsfrage nach dem Sinn von Sein gestellt werden solle. Die Daseinsanalytik entspringt einem Bedenken der Geschichte der Metaphysik, die sich zwar auf die Seinsproblematik beziehe, dennoch die Frage nach dem Sinn von Sein in der „gigantomaxßa perÍ t‰ò ožsßaò“ (SuZ 2) vergessen habe. In der Geschichte der Metaphysik vor der Daseinsanalytik hat, so Heidegger, die Tradition der Metaphysik zu einer Geschichte der Seinsvergessenheit geführt. „Und so gilt es denn, die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen.“ (SuZ 1) Angesichts dessen, dass das Dasein in der Lage ist, die Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen, hängt die Seinsfrage an der Seinsart des menschlichen Daseins, das wir je selbst sind (vgl. SuZ 7). In dieser einzigartigen Auslegung des Daseins liegt das herausragende Merkmal der Daseinsanalytik. Als Begriff wird „Dasein“ nicht zum ersten Mal von Heidegger verwendet, trotzdem ist seine Definition des Begriffs Dasein zweifellos einzigartig in Hinblick auf ihre grundsätzliche Verbindung mit dem Menschen. Die einzige Anwendung des Begriffs Dasein bei Heidegger hängt auch mit seiner besonderen Interpretation des Begriffs Transzendenz in Bezug auf die Grundart des Seins des Daseins zusammen. Die Transzendenz des menschlichen Daseins bei Heidegger bedeutet einen Überstieg über sich hinaus zur Welt, auch in bewusster Distanznahme zum Transzendenzbegriff, wie er im deutschen Idealismus in Auseinandersetzung mit dem Problem der Subjektivität prägend wurde. In der Menschlichkeit der Philosophie sowie in der Entdeckung des Seins des menschlichen Seienden liegt der wichtigste Punkt der Heideggers Philosophie des Daseins. Die Frage nach dem Sinn von Sein wird bei Heidegger in die Perspektive der Menschlichkeit des Daseins gestellt. In diesem Sinne wird das erneute Aufwerfen der Seinsfrage in der Metaphysik bei Heidegger gerechtfertigt und zugleich unvermeidbar.

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1. Kap.: Dasein als Verstehen

1. Die Grundlage der Seinsfrage In „Sein und Zeit“ behandelt Heidegger die Seinsproblematik folgendermaßen: „Der erste philosophische Schritt im Verständnis des Seinsproblems besteht darin, nicht m¯qün tina dihge¦sqai, ,keine Geschichte erzählen‘17, d. h. Seiendes als Seiendes nicht durch Rückführung auf ein anderes Seiendes in seiner Herkunft zu bestimmen, gleich als hätte Sein den Charakter eines möglichen Seienden.“ (SuZ 6) Die Differenzierung des Seins vom Seienden besitzt einen außerordentlichen Stellenwert in der Daseinsanalytik Heideggers. Das Sein ist nicht identisch mit dem Seienden (vgl. SuZ 4). In ihrer Geschichte hat die Metaphysik Seiendes als Seiendes (ïn ÷ Â én) erläutert, damit konnte sie das Sein nicht richtig denken. Infolgedessen wurde die Frage nach dem Sinn von Sein gar nicht erst gestellt, vielmehr entstanden die folgenden drei Vorurteile gegenüber dem Begriff des Seins: 1. Das Sein ist der allgemeinste Begriff; 2. Der Begriff des Seins ist undefinierbar; 3. Das Sein ist ein selbstverständlicher Begriff (vgl. SuZ 3–4). Aus diesem Grund besteht die Notwendigkeit die Seinsfrage erneut zu stellen (vgl. SuZ 1) bzw. deren formale Struktur herauszuarbeiten. Heidegger betont mehrmals, dass die Frage nach dem „Sinn von Sein“ gestellt werden soll. Als Seinsmodus eines Seienden selbst ist das Fragen dieser Frage nach dem Sinn von Sein von dem her wesenhaft bestimmt, wonach in ihm gefragt wird – vom Sein (vgl. SuZ 7). Die Frage nach dem Sein ist die Frage nach dem Sein eines Seienden. Dieses Seiende, das wir selbst jeweils sind und unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens bedingt, fasst Heidegger terminologisch als Dasein (vgl. SuZ 7). Durch die Analyse des Daseins kann die Seinsfrage überhaupt gestellt werden, weil das Dasein das Seiende ist, das sich schon im Seinsverständnis bewegt. Das heißt, die notwendige Bedingung der Möglichkeit der Seinsfrage befindet sich in dem Grund und Wesen des Daseins bzw. in seiner Seinsart. 2. Die ontische Auszeichnung des Daseins Ein interessanter Punkt der Daseinsanalytik besteht darin, dass das Dasein sich im Verständnis seines Seins bewegt. Als der Fragende nach dem Sinn von Sein versteht das Dasein sich schon in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein (vgl. SuZ 12). Anders ausgedrückt könnte man sagen: wir als Dasein (vgl. SuZ 7) haben bereits ein durchschnittliches Seinsverständnis. Ein alltägliches und unmittelbares Beispiel des Verstehens wären Aussagen wie, „der Himmel ist blau“ oder, „ich bin froh“, deren Bedeutung jeder verstehen dürfte.

17 Im 8. Kapitel soll das Problem der Geschichte bzw. der Erzählung einer Geschichte betrachtet und analysiert werden.

§ 6 Die Erschlossenheit des Daseins als In-der-Welt-sein

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Weil das Dasein schon im Verständnis des Sinns von Sein enthalten ist, nimmt das Dasein sein eigenes Sein als ein Gefragtes, wodurch es in die Lage versetzt wird, die Frage nach dem Sinn seines eigenen Seins zu stellen. Die Voraussetzung der Seinsfrage des Daseins gründet sich darin, dass das Dasein schon ein durchschnittliches und vages Verständnis des Seins besitzt und sich in diesem Verständnis bewegt. Wie ist die Rede von uns überhaupt möglich ohne die Bedingung des Verständnisses des Seins? Das Sein ist immer schon vorausgesetzt in jedem Ausdruck der Rede. Obgleich wir beispielsweise nicht wissen, was „Sein“ besagt, können wir doch fragen: was ist Sein? Ohne dass wir begrifflich fixieren könnten, was das „ist“ bedeutet, halten wir uns schon in einem Verständnis von Sein (vgl. SuZ 5). Die Frage nach dem Sinn von Sein verlangt eine vorgängige angemessene Explikation des Daseins hinsichtlich seines Seins für die ausdrückliche und durchsichtige Fragestellung (vgl. SuZ 7). Dass das Dasein als das Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, es sich selbst in dem Fragen der Seinsfrage als das Befragte ergibt, ist selbst die Begründung für die Seinsfrage des Daseins (vgl. SuZ 6). Eine fundamentale Angelegenheit der Metaphysik ist die Frage nach dem Sinn von Sein. Dem ontisch ausgezeichneten Seienden entspringt die Möglichkeit dieser Frage. Das kritische Moment dieser Frage konstituiert das ontologische Seiende, das imstande ist, nach dem Sinn seines eigenen Seins zu fragen. In der ontischen Auszeichnung des ontologischen Daseins besteht der Grund dafür, dass die Formulierung der Frage nach dem Sein an der ausführlichen Untersuchung des bestimmten Seienden – bezeichnet als Dasein – hängt.

§ 6 Die Erschlossenheit des Daseins als In-der-Welt-sein Als Fundamentalanalyse des Daseins wird die Grundverfassung des Daseins als In-der-Welt-sein analysiert in dem vorbereitenden Stadium der existenzialen Daseinsanalytik bis zum 4. Kapitel in „Sein und Zeit“. Die darauffolgende Aufgabe stellt die Enthüllung der ursprünglichen Struktur des Seins des Daseins dar. Die Möglichkeiten und Weisen „zu sein“ bzw. die Seinsart des Daseins, werden durch die Enthüllung der Struktur des Seins des Daseins ontologisch bestimmt. Die existenziale Struktur des Daseins wird zunächst durch die formale Konstitution der Bezeichnung dieses Seienden offenbar. Der Ausdruck „Da-sein“ impliziert die existenzial-ontologische Struktur dieses Seienden: Das Dasein existiert in der Weise, sein „Da“ zu sein, d. h., es existiert in der Welt (vgl. SuZ 133). Dass das Dasein als In-der-Welt-sein existiert, meint einfach, dass es in der Welt ist. In seiner „Da“-Konstitution wird dieses Seiende durch die Struktur „In-der-Welt-sein“ konstituiert. Das „Da“ des Da-seins besagt

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1. Kap.: Dasein als Verstehen

den Ort der Existenz bzw. die Grundlage seines Seins. Die Faktizität des Daseins, dass das Dasein in der Welt faktisch existiert, konstituiert die Grundstruktur des Seins dieses Seienden. Als der Ort der Existenz des Daseins enthüllt sich die Welt, die selbst auch die notwendige Bedingung der Existenz des Daseins ist. Obwohl das Seinkönnen des Daseins als In-der-Welt-sein in dem Sinne, dass das Dasein grundsätzlich nur als In-der-Welt-sein existieren bzw. in seinem „Da“ sein kann, die Begrenztheit des Seins dieses Seienden zeigt, konstituiert diese unabwendbare Abgrenzung in der Seinsart des menschlichen Daseins als In-derWelt-sein gleichzeitig mit seiner Freiheit in einem vollkommenen Prozess die ursprüngliche Grundstruktur der Existenz dieses Seienden. Im folgenden Abschnitt soll die Struktur des Daseins als In-der-Welt-sein in Bezug auf die Erschlossenheit näher erläutert werden. Danach wird die Befindlichkeit des Daseins in Hinsicht auf die Struktur des In-der-Welt-seins genauer dargestellt. 1. Das Dasein als In-der-Welt-sein Die Welt ist der Ort der Existenz des Daseins. In der Daseinsanalytik besitzt die Welt eine entscheidende Position. Die Welt in der Grundverfassung des Daseins als In-der-Welt-sein meint mehr als einen bloß räumlichen Hintergrund der Existenz des Daseins. Vielmehr ist die Welt für das Dasein die Grundlage seines Seins: Das Dasein existiert in der Welt, d. h. als In-der-Welt-sein. Anders ausgedrückt: Sein In-der-Welt-sein ist keine optionale Art und Weise des Seins, sondern die einzige und ursprüngliche Seinsart des Daseins. Für das Dasein ist die Welt die Grundbedingung seiner Existenz. Die existenziale Räumlichkeit des Daseins gründet sich deshalb selbst auf sein In-der-Welt-sein, d. h. „Da“. Heidegger verdeutlicht, dass der Ausdruck „Da“ des Daseins wesentlich die Erschlossenheit meint (vgl. SuZ 132). Durch das Dasein selbst als Möglichkeit wird die Erschlossenheit des „Da“ geschaffen, weil die Bedingung der Erschlossenheit des Daseins darin besteht, dass das Dasein als Möglichkeit durch den verstehenden Entwurf seines Seins existiert. Als Möglichkeit soll das Sein des Daseins in der folgenden Analyse des Verstehens noch näher erklärt werden. Bezüglich der Möglichkeiten des Seins des Daseins liegt der wesentliche Punkt darin, dass die Möglichkeiten des Daseins sich in der Welt befinden. Die Erschlossenheit des „Da“ ergibt die Möglichkeit des Da-seins des Daseins als In-der-Welt-sein. In seinem „Da“ erschließt das Dasein als das Seiende des „Da“ eine Räumlichkeit. Die Aussage, dass das Dasein als seine Erschlossenheit existiert (vgl. SuZ 133), kann aus diesem Grund sinnvoll werden. Hinsichtlich der Erschlossenheit des Daseins ist es auch bedeutsam, dass Heidegger darauf hinweist, dass „das Dasein in seinem eigensten Sein den Charakter der Unverschlossenheit trägt.“ (vgl. SuZ 132) Der Charakter der Unverschlossenheit des Daseins betrifft die not-

§ 6 Die Erschlossenheit des Daseins als In-der-Welt-sein

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wendige Beziehung der Seinsfrage mit der Wahrheit des Daseins, die sich auf das Seinsverstehen des Daseins in Bezug auf seine eigene Grundart bezieht. In diesem Zusammenhang wird die Wahrheit des Daseins als Unverborgenheit bzw. ˜lÞqeia ausgelegt. 2. Die Befindlichkeit des Daseins Zunächst erfasst Heidegger die Befindlichkeit unter dem ontologischen Begriff der Stimmung (vgl. SuZ 134). Stimmung spielt eine erhebliche Rolle nicht nur in der Daseinsphilosophie Heideggers, sondern auch insgesamt in der Existenzphilosophie. In der Stimmung offenbart sich das wesentliche Moment der existenzialen Erkenntnis der eigenen Existenz. Das Moment der Langeweile, wie Kierkegaard es beschreibt, ist ein repräsentatives Beispiel für die unvermeidliche Verbindung des Begriffs Stimmung mit der menschlichen Existenz. Die Heidegger’sche Verwendung des Begriffs Stimmung ähnelt dem Verständnis der Langweile im Existenzialismus in Hinsicht darauf, dass die Stimmung das Moment des Existierens erschließt, das heißt, dass sie die Erkenntnis des eigenen Seins ermöglicht. Das Merkmal der Auslegung der Stimmung bei Heidegger besteht darin, dass Heidegger in der Stimmung gleichzeitig das passive Moment des Seins des Daseins in der Welt als Gestimmtsein und das aktive Moment der Existenz des Daseins als das in seinem Sein dem Sein selbst überantwortete Seiende begreift. Im folgenden Zitat verdeutlicht Heidegger den ontologischen Status des Daseins in der Stimmung in Bezug auf die Seinsart des Daseins: „Die Stimmung macht offenbar, ,wie einem ist und wird‘. In diesem ,wie einem ist‘ bringt das Gestimmtsein das Sein in sein ,Da‘. In der Gestimmtheit ist immer schon stimmungsmäßig das Dasein als das Seiende erschlossen, dem das Dasein in seinem Sein überantwortet wurde als dem Sein, das es existierend zu sein hat.“ (SuZ 134) Die Erschlossenheit des Daseins in der Gestimmtheit bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das Dasein in seinem Überantwortetsein an das „Da“ enthüllt ist (vgl. SuZ 134–135). Wenn das Dasein in einer bestimmten Stimmung gestimmt ist, ist es als freies Seiendes, das existierend sein Sein zu sein hat, erschlossen. Die Faktizität des Daseins, dass das Dasein in der Welt existiert, wird in der Gestimmtheit des Daseins offenbart, so wie man sich in der Langweile plötzlich seines eigenen Seins selbst bewusst wird. Ein bedeutungsvolles Moment in der Heidegger’schen Gestimmtheit liegt im Überantwortetsein des Daseins. Der Prozess, dass das Dasein in der Gestimmtheit seinem eigenen Sein bewusst wird, vollzieht sich mit der selbstständigen Überantwortung seines Seins als In-der-Welt-sein. Durch diesen aktiven Prozess wird das Dasein in seinem „Da“ erschlossen. Eine solche Erschlossenheit des Daseins in der Gestimmtheit wird in der Daseinsanalytik „Befindlichkeit“ genannt.

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1. Kap.: Dasein als Verstehen

Als existenziales Moment, in dem sich die Geworfenheit des Daseins in die Welt erschließt (vgl. SuZ 144), ist die Befindlichkeit des Daseins in der Daseinsanalytik festzuhalten. Die Faktizität des Daseins, dass das Dasein in seinem „Da“ bzw. in der Welt existiert, bezeichnet Heidegger als die Geworfenheit des Daseins (vgl. SuZ 135), d.h. die Geworfenheit des Daseins bedeutet die einfache Tatsache, dass das Dasein in der Welt existiert. Die Befindlichkeit erschließt also die Geworfenheit des Daseins bzw. das Dasein als In-der-Welt-sein. In der Gestimmtheit allerdings erschließt die Befindlichkeit das Sein des Daseins in seinem „Da“ zunächst und zumeist in einer ausweichenden Weise. Das heißt, dass die Erschlossenheit des Seins in der Befindlichkeit eine uneigentliche Art und Weise der Seinsart des Daseins offenbart, denn die Befindlichkeit ist ein gestimmtes Verstehen (vgl. SuZ 143). Durch das Seinsverstehen des Daseins wird das Sein des Daseins als Möglichkeit erschlossen. Die Erschlossenheit des Seins des Daseins ist dementsprechend unter der Bedingung möglich, dass das Dasein sich in seinem Sein versteht bzw. sich im Verstehen seines Seins bewegt. Andererseits besitzt die Befindlichkeit, im Vergleich zum Verstehen als der anderen „gleichursprünglichen“ Grundstruktur, ein Verständnis des Daseins dergestalt, „daß sie das Verständnis niederhält“ (SuZ 142). Verstehen ist in der Daseinsanalytik für Heidegger „immer gestimmtes“ (SuZ 143) und „sofern Verstehen befindliches ist, und als dieses existenzial der Geworfenheit ausgeliefertes, hat das Dasein sich je schon verlaufen und verkannt“ (SuZ 144). Das Dasein kann jedoch sich verlaufen und verkennen, nur „weil es verstehend sein Da ist“ (SuZ 144). 3. Die gleichursprünglichen existenzialen Strukturen des Daseins Ein auffallendes Merkmal von Heideggers Ausführungen über die Befindlichkeit ist, dass er gleichwohl betont, dass die Befindlichkeit, trotz der uneigentlichen Art und Weise der Erschlossenheit in der Befindlichkeit, eine der existenzialen Strukturen ist, „in denen sich das Sein des ,Da‘ hält“ (SuZ 142). Die beiden „gleichursprünglichen“ konstitutiven Weisen, für das Dasein „Da“ zu sein, gründen sich in der Befindlichkeit und im Verstehen. Sein „Da“ auf diese beiden bestimmten Weisen erschließend ist 18 das Dasein „da“ bzw. existiert als In-derWelt-sein. Der eigenartige Ausdruck „gleichursprünglich“ für die beiden existenzialen Strukturen des Daseins als Befindlichkeit und Verstehen soll in diesem Zusammenhang näher analysiert werden. Auf eine uneigentliche Weise erschließt die Befindlichkeit das Sein des Daseins. Trotzdem bezeichnet, so Heidegger, die Befindlichkeit nicht eine sekundäre oder untergeordnete existenziale Struktur, sondern die „gleichursprüngli18

Da existiert bzw. ist das Dasein.

§ 6 Die Erschlossenheit des Daseins als In-der-Welt-sein

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che“ Struktur des Daseins mit dem Verstehen. In der existenzialen Struktur des Daseins ist die Befindlichkeit mit der fundamentalen Art und Weise der Existenz des Daseins ebenso wie mit der Grundstruktur des Verstehens als Prozess selbst verbunden. Die Befindlichkeit besteht in der Weise, dass sie das Sein des Daseins in seinem „Da“ erschließt, als ein Verstehen, wobei ihr Verständnis jedoch noch nicht vollständig ist. Das vollkommene Verstehen des Daseins, das sich in seinem Verstehen bewegt, kann als stetig beweglicher Prozess zustande kommen. Den Ansatz des Verstehens als performativer Prozess in Bezug auf die existenziale Grundstruktur des Daseins konstituiert die Befindlichkeit, welche die Geworfenheit des Daseins erschließt. Indem das Sein des Daseins in seinem „Da“ bzw. in der Welt erschlossen wird, wird der Sichtentwurf des Daseins ermöglicht. Zusammen mit dem Sichentwerfen des Daseins konstituiert das selbstbewusste Moment der Befindlichkeit zugleich einen zirkularen Prozess, der als Prozess des Verstehens – der Seinsart des Daseins – immer beweglich ist. Die Erschlossenheit der Geworfenheit des Daseins durch die Befindlichkeit offenbart die Welt als die notwendige Bedingung der Existenz des Daseins, das als In-der-Welt-sein existiert. Als Verstehen kann die Grundstruktur der Seinsart des Daseins in einer zyklischen Form veranschaulicht werden. Ein beweglicher Prozess19 in einer zyklischen Form entwickelt sich zwischen den beiden polarisierenden Punkten: In der Struktur der Seinsart des Daseins konstituieren die beiden Punkte die Geworfenheit des Daseins und die Möglichkeiten des Seins des Daseins. Das Dasein existiert in der Weise, dass es sich auf Möglichkeiten seines Seins entwirft und zugleich zu seiner Geworfenheit zurückkommt. In Abbildung 1 wird die Struktur der Seinsart des Daseins bzw. des Verstehens als Prozess bildlich dargestellt:

Abbildung 1: Sein zum Tode 19 So ein zyklischer Prozess als Prozess des Verstehens ist die Grundform für die Seinsart des Daseins, die eigentlich sich in dem Prozess der Zeitlichkeit offenbart. Siehe dazu 2. Kapitel.

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1. Kap.: Dasein als Verstehen

Dieser Prozess des Verstehens stimmt sowohl mit der Struktur der Zeitlichkeit als auch der Struktur der Sorge überein. Die beiden Punkte A und A’ im Bild 1 gehören zusammen zum einheitlichen Prozess in der Form des Zirkels und zugleich auch zueinander, damit der performative Prozess zwischen den beiden Punkten in sich in eine Einheit fällt. „Gleichursprünglich“ mit der Befindlichkeit bzw. der Erschlossenheit der Geworfenheit und dem existenzialen Sichentwerfen konstituiert das Dasein einen vollständigen performativen Prozess seines eigentlichen Verstehens20 (vgl. SuZ 142). Aus diesem Grund wird die Befindlichkeit als eine der beiden gleichursprünglichen, konstitutiven Weisen der Existenz des Daseins bezeichnet. Die Geworfenheit21 des Daseins in die Welt als einer der beiden notwendigen Punkte, die den ständig beweglichen Prozess ermöglichen, wird in der Gestimmtheit des Daseins als In-der-Welt-sein im Moment der Befindlichkeit erschlossen. Sofern die Geworfenheit ein fundamentales Element der Seinsstruktur des Daseins ist, ist die Befindlichkeit eine notwendige Bedingung des Daseins als Verstehen. In diesem Sinne konstituiert die Befindlichkeit existenzial eine der beiden gleichursprünglichen strukturellen Momente des Seins des Daseins als Verstehen zusammen mit dem verstehenden Sichentwerfen. Der Ausdruck „gleichursprünglich“ bezüglich der konstitutiven Weise der Existenz des Daseins beweist die zirkulare Struktur des Daseins in seinem Sein als lebendiger Prozess: Die Angewiesenheit des Daseins auf die Welt bzw. die Abgrenzung der Existenz des menschlichen Daseins als In-der-Welt-sein ist eine der beiden Grundbedingungen der Existenz des Daseins mit seiner Transzendenz.

§ 7 Das Verstehen als eine der existenzialen Strukturen des Seins Nachdem das „Da-sein“ bzw. die Geworfenheit des Daseins in der Befindlichkeit erschlossen ist, vollzieht sich das Sein des Daseins in der Struktur des Verstehens. Das Verstehen in diesem Zusammenhang trägt keine kommunikative Konnotation, wie im Satz „A versteht B“. Kein sachliches Verstehen bedeutet der Begriff des Verstehens angesichts der Seinsart des Daseins in der Daseinsanalytik. Das Verstehen als Seinsart ist kein intellektueller Prozess. Eher zeigt das Verstehen des Daseins die ursprüngliche Struktur seines Seins. „Heidegger erweitert den Akt oder das Geschehen eines auf ein Etwas gerichteten Verstehens zur Erschlossenheit.“ 22 Das Verstehen als Erschlossenheit bezieht sich auf den akti20 Als Struktur des Verstehens reflektiert dieser lebendige Prozess des Seins des Daseins die Grundstruktur der Sorge: geworfener Entwurf in einem zeitlichen Prozess. 21 Geworfenheit des Daseins konstituiert ein wesentliches Moment der Grundstruktur der Existenz des Daseins als Prozess. 22 Rüdiger Bubner: Über den Grund des Verstehens, in: Verstehen und Geschehen: Symposium aus Anlass des 90. Geburtstages von Hans-Georg Gadamer, Heidelberg 1990, S. 89.

§ 7 Das Verstehen als eine der existenzialen Strukturen des Seins

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ven Akt des Daseins in der Seinsart des Daseins als freies Seiendes. Hinsichtlich des Verstehens als Erschlossenheit des Daseins wird die Struktur des Verstehens aufgrund der Weise des Daseins, in der Welt zu sein, in einem ersten Schritt erläutert. Danach soll das Konstitutionsprinzip des Verstehens als performativer Prozess näher erklärt werden. 1. In-der-Welt-sein als Verstehen In der Welt befindet sich die Wurzel der Existenz des Daseins. Die Räumlichkeit der Existenz des Daseins als die Welt, die auch gleichzeitig die existenziale Abgrenzung des menschlichen Daseins in einer unvermeidlichen Weise expliziert, setzt das Dasein als die Bedingung seines In-der-Welt-seins voraus. Die Grundform des Seins des Daseins stellt Heidegger als „In-der-Welt-sein“ vor. Das „Da“ des Daseins zeigt die Welt. Der Begriff „In-der-Welt-sein“ ist deshalb eine anders formulierte Bezeichnung des Daseins. In der Welt existiert das Dasein dadurch, dass es ständig sein Sein auf Möglichkeiten entwirft und gleichzeitig zu seiner Geworfenheit zurückkommt. In einem solchen performativen Prozess wird die Grundstruktur der Existenz des Daseins in der Welt erschlossen. Die Erschlossenheit des existierenden Daseins als In-der-Welt-sein bezeichnet Heidegger als Verstehen (vgl. SuZ 143). An dem Ort der Existenz des Daseins bzw. in der Welt ereignet sich das Sein des menschlichen Daseins in der Weise, dass es ständig sein Sein als Möglichkeit erschließt. Der räumliche Hintergrund der Erschlossenheit des Daseins ist die Welt, die deswegen zugleich die Grundbedingung der Existenz des Daseins konstituiert. Weil das Dasein zuerst in die Welt geworfen ist, kann es dann überhaupt sich auf Möglichkeiten entwerfen. In dieser Hinsicht ist der Entwurf des Daseins immer ein geworfenes Entwerfen (vgl. SuZ 145). Das Erschließen seines „Da“ des Daseins in der Struktur des Verstehens setzt die Geworfenheit des Daseins in die Welt voraus. In dem Erschließungsprozess des Verstehens besteht existenzial die grundsätzliche Seinsart des Daseins als Seinkönnen. Das Dasein ist primär ein Möglichsein, indem es sein Sein auf Möglichkeiten hin entwirft. Der Akt des Sichentwerfens des Daseins auf Möglichkeiten hin erfüllt die erschließende Weise der Existenz des Daseins in der Welt. Trotz der Abgrenzung der Existenz des menschlichen Daseins in der Welt existiert das Dasein auf offene Weise, d. h. es existiert in der Weise, dass es sein Sein ständig erschließt. Ein solcher Prozess der Erschließung wird durch die Seinsart des Daseins als Verstehen ermöglicht. In dem Verstehen seines Seins bewegt sich das Dasein, wobei es als das Seiende, dem es um sein Sein geht, existieren kann. Die Struktur des Seinkönnens des Daseins zeigt die Grundverfassung des Seins des Daseins in der Welt. Das Seinkönnen des Daseins muss ausgehend von den Möglichkeiten seines Seins ge-

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1. Kap.: Dasein als Verstehen

dacht werden, die durch die Seinsart des Daseins erschlossen werden können. Durch den Akt des Sichentwerfens des Daseins ist die Erschlossenheit der Möglichkeiten des Seins möglich. Den Erschließungsprozess des Daseins vollzieht der Akt des Sichentwerfens. Dieser Prozess der Erschlossenheit des Daseins offenbart die Struktur des Verstehens. Allerdings kann dieser Prozess sich unter der Bedingung nur vollziehen, dass das Dasein in die Welt geworfen ist. Die Welt ist die notwendige Voraussetzung des Prozesses des Daseins als Verstehen. 2. Verstehen als Erschlossenheit Mit dem gestimmten Verstehen seiner faktischen Geworfenheit des Daseins in der Befindlichkeit werden gleichzeitig immer auch die Möglichkeiten des Seins dieses Seienden eröffnet. Wenn die Erschlossenheit der Geworfenheit in der Struktur der Befindlichkeit die existenzial vorgegebene Bedingung der Existenz des Daseins auf passive Weise enthüllt, erhellt die Erschlossenheit als Verstehen das aktive Moment des Daseins als Möglichsein bzw. als freies Seiendes. Möglichkeiten des Daseins, auf die das Dasein sich ständig entwirft, gründen sich auf das Seinkönnen des Daseins. Insofern das Dasein verstehend in der Welt existiert, kann es sein Sein in den offenen Möglichkeiten erschließend sein. Gemäß den anderen Möglichkeiten des Seins des Daseins erschließt die Welt sich anders. Das Dasein, das wir je selbst sind, kann demnach aus den Möglichkeiten seines Seins existieren. Eine solche Möglichkeit des Daseins meint dann weder die Möglichkeit in Bezug auf die Notwendigkeit, noch die Möglichkeit als Gegenteil der Wirklichkeit, noch die Möglichkeit im Gegensatz zur Unmöglichkeit im logischen Sinne. Es geht vielmehr um die existenziale Möglichkeit des Daseins, „Da“ in der Welt sein zu können, das heißt: „Das Verstehen betrifft als Erschließen immer die ganze Grundverfassung des In-der-Welt-seins. Als Seinkönnen ist das In-Sein je Sein-können-in-der-Welt.“ (SuZ 144) In diesem Zusammenhang bedeutet das Verstehen das Stehen des Daseins im Verstehen seines Seins. Das im Verstehen seines Seins stehende Dasein ist in der Lage die offene Möglichkeiten seines Seins in der Welt zu erschließen. Aufgrund des Akts der Erschließung seines Seins als Verstehen besagt das Stehen des Daseins kein stilles Stehen sondern ein lebendiges Stehen in der Welt. Das Stehen (Ôsthmi)23 des Daseins in der Welt zeigt die Existenz (™c-ßsthmi)24 des Daseins als Verstehen.

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Liddell and Scott: Greek-English Lexicon, Oxford 1889. Das Präfix „™c“ bedeutet „aus“. Heidegger versteht es als die räumliche Voraussetzung des Seins (des Da-seins). Aus diesem Grund interpretiert er das Wort Existenz als „Da-(aus)-stehen“ in dem Sinne, dass das Dasein als In-der-Welt-sein „da“ existiert (vgl. Heidegger, Was ist Metaphysik?). 24

§ 7 Das Verstehen als eine der existenzialen Strukturen des Seins

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Im Verstehen erschließt das Dasein Möglichkeiten seines Seins, was sich auf das Seinkönnen des Daseins bezieht. Der Akt des Daseins, sich als Seinkönnen vorauszuwerfen,25 heißt den Entwurf des Daseins zu vollziehen. Der Entwurf des Daseins als Verstehen konstituiert die Grundstruktur des Daseins als In-der-WeltSein angesichts der Erschlossenheit der Möglichkeiten seines Seins bzw. seines „Da“ als Seinkönnen (vgl. SuZ 145). 3. Entwurf auf Möglichkeiten als Seinkönnen des Daseins Durch den Akt des Entwurfs kommt die existenziale Struktur des Verstehens zustande. Das „Da“ des Daseins erschließt der Entwurf. Dieses erschlossene „Da“ im Verstehen soll von der Erschlossenheit der Geworfenheit in der Befindlichkeit abweichend verstanden werden. Während die Geworfenheit des Daseins im Moment der Befindlichkeit erschlossen wird, erschließt der Akt des Entwurfs das Seinkönnen des Daseins als In-der-Welt-sein. Das Entwerfen des Dasein auf Möglichkeiten seines Seins offenbart das Dasein als Freisein hinsichtlich der Erschließung der Möglichkeiten seines eigenen Seins. Der Entwurf des Daseins ist kein einmaliges Ereignis, sondern die Art und Weise des existierenden Daseins, sich selbst erschließend „Da“ in der Welt zu sein. Dieses in der Welt existierende Seiende kann sich auf die Möglichkeiten seines Seins entwerfen unter der Bedingung der Erschlossenheit dieser Möglichkeiten. Zugleich gehört diese Erschlossenheit der Möglichkeiten zum Dasein selbst als Verstehen bzw. als Seinkönnen des „Da-seins“. Allerdings verdeutlicht Heidegger, dass dieses Entwerfen nichts zu tun mit einem Sichverhalten zu einem ausgedachten Plan, gemäß dem das Dasein sein Sein einrichtet, hat (vgl. SuZ 145). Solche verschlossenen Möglichkeiten können keine existenziale Möglichkeit mehr sein, auf die hin das Dasein sich entwirft. „Der Entwurf ist die existenziale Seinsverfassung des Spielraums des faktischen Seinkönnens. Und als geworfenes ist das Dasein in die Seinsart des Entwerfens geworfen.“ (SuZ 145) Der Entwurfscharakter des Daseins konstituiert die offene Struktur des Verstehens als die Grundart des Daseins. Die Möglichkeiten des Daseins sind immer schon entworfene Möglichkeiten in dem Sinne, dass diese Möglichkeiten des Daseins als Seinkönnen nur durch das Entwerfen zustande kommen können. Im folgenden Schritt wird nun das Konstitutionsprinzip des Verstehens als die Grundstruktur der Seinsart des Daseins dargelegt.

25 Der Ausdruck „vor“ als Vorsilbe spielt eine erhebliche Rolle in der Analyse der Seinsart des Daseins bei Heidegger. Die Möglichkeiten, in denen das Dasein sein Sein entwirft, befinden sich zeitlich in der Zukunft, indem das Seinkönnen des Daseins als Möglichkeit nicht in der Gegenwart verwirklicht ist. Daher entwirft das Dasein sein Sein als Möglichkeit immer in einer zukünftigen Weise.

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1. Kap.: Dasein als Verstehen

§ 8 Die Struktur des Verstehens 1. Verstehen im Prozess Durch die Erläuterung der Befindlichkeit und des Verstehens als die beiden gleichursprünglichen konstitutiven Weisen des Daseins wird die Struktur des Verstehens als Seinsart des Daseins dargestellt. Wie bereits in Bild 1 gezeigt, konstituieren die beiden Weisen des Daseins einen zirkulären Prozess. Dieser Prozess bleibt immer lebendig aufgrund der Seinsart des Daseins. Das Wesen des Daseins liegt in den beiden gleichursprünglichen Weisen seines Seins – Geworfenheit in die Welt und verstehendes Sichentwerfen. In der prozessualen Wirkung zwischen diesen beiden Momenten wurzelt die Seinsart des Daseins. Das Zurückkommen zur Geworfenheit und das Sichentwerfen auf Möglichkeiten seines Seins konstituieren die gleichzeitig wirkenden Bewegungen, die einheitlich das Sein des Daseins als lebendiger Prozess begründen. Die einheitliche Struktur des Verstehens als Ereignis zwischen den beiden gegenseitigen Punkten bewegt sich kontinuierlich im Wesen des Daseins, das schon in sich sowohl die Bedingung als auch das Können (Möglichkeit) der verstehenden Existenz in der Welt einschließt. Das heißt, die verstehende Seinsweise des Daseins gründet sich auf die Grundstruktur seines Seins. Die Seinsart des Daseins ermöglicht überhaupt seine einzigartige Weise der Existenz, einstweilen konstituiert die einzigartige Weise des Seins die Seinsart des Daseins. In einem einheitlichen Prozess wird die schicksalhafte Grundverfassung des Daseins enthüllt. Insofern das Sein des Daseins als Prozess dargestellt wird, kann das endliche Dasein als Freisein über sich hinausgehen. 2. Grundstruktur des Verstehens als Prozess Die beiden konstitutiven Elemente des Verstehens, die Geworfenheit in die Welt und der existenzialer Entwurf auf die offenen Möglichkeiten des Daseins als Seinkönnen weisen auf die Passivität und die Aktivität des Daseins hin. Das Dasein als Freisein und das Dasein als in die Welt geworfenes Sein konstituieren zusammen die Grundstruktur des Seins als Prozess. Die beiden Pole des Prozesses sind gleichzeitig different und identisch: Alles innerhalb dieses kontinuierlichen Prozesses ändert sich immer wieder aufs Neue. Freilich ist jede Stelle des Prozesses auch homogen, weil der Prozess als Einheit wirkt. In Bezug auf das Verhältnis der beiden Momente und das Prinzip der Konstitution des Verstehens als Prozess besteht ein Diskurs. Darüber werde ich im 6. Kapitel näher diskutieren. Zunächst aber soll im folgenden Kapitel die Struktur des Verstehens im Rahmen des Prozesses der Zeitlichkeit ausführlich erläutert werden.

2. Kapitel

Die Struktur der Zeitlichkeit § 9 Zeitlichkeit als geworfener Entwurf Im Prozess des Verstehens kommt das Seinkönnen des Daseins als In-derWelt-sein zustande, wobei die Grundverfassung der Seinsart des menschlichen Daseins enthüllt wird. Der Prozess des Verstehens wird mit den beiden konstitutiven Momenten, d. h. der Geworfenheit und dem Entwurf konstituiert. Während die Geworfenheit das passive Moment des Seins des Daseins als In-der-Welt-sein bedeutet, manifestiert der Entwurf des Daseins die Aktivität des Daseins als freies Seiendes in seinem Willen. Das Entwerfen des Daseins zeigt die aktive Weise des Daseins, sich um sein Sein zu sorgen. Das heißt, dass das Dasein sich um sein Sein kümmert, in der Art und Weise, dass es sich auf Möglichkeiten seines Seins hin entwirft. Das Entwerfen des Daseins zusammen mit der Geworfenheit als existenziale Voraussetzung seines Seins bildet den Prozess des Verstehens. Ein solches Sichentwerfen des Daseins als Verstehen betrifft die Grundverfassung der Seinsart des Daseins. Das auffällige Merkmal der Daseinsanalytik Heideggers liegt in seiner einzigartigen Auslegung des Begriffs Dasein: Im Rahmen der Heideggers Daseinsanalytik ist das Dasein das ausgezeichnete Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht (vgl. SuZ 12). „Immer schon und immer noch“ (SuZ 145) versteht sich das Dasein „aus Möglichkeiten“ (SuZ 145), solange es in der Welt existiert. Das Verstehen ist dadurch möglich, dass das Dasein sein Sein auf Möglichkeiten hin entwirft. In diesem Sinne zeigt das Verstehen des Daseins sein Sichentwerfen im Prozess. Das Verstehen als Entwerfen ist „die Seinsart des Daseins, in der es seine Möglichkeit als Möglichkeit ist.“ (SuZ 145) Der Charakter dieses Entwurfs beruht auf dem Wesen der Möglichkeiten, die sich in der offenen Zukunft befinden. Infolgedessen vollführt sich dieses Entwerfen in der Form des „Vorlaufens“ (vgl. SuZ 262–263). Der Akt des Entwurfs richtet sich auf die Zukunft. Diese zukünftige Richtung des Entwurfs wird in dem Ausdruck „Vorlaufen“ dargestellt. Als Sein-zum-Tode ist das Dasein das „Sein zur Möglichkeit“ (SuZ 262). Solches Sein fasst Heidegger „terminologisch als Vorlaufen in die Möglichkeit“ (SuZ 262). Der Ausdruck „Vorlaufen“ spielt hier eine entscheidende Rolle in Bezug auf die Offenbarung der Seinsstruktur des Daseins. „Das Vorlaufen erweist sich als Möglichkeit des Verstehens des eigensten äußersten Seinkönnens, das heißt als Möglichkeit eigentlicher Existenz.“ (SuZ 263)

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2. Kap.: Die Struktur der Zeitlichkeit

Jedoch ist der Entwurf immer ein geworfener Entwurf. Faktisch ist das Dasein immer schon da im „Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt)“ (SuZ 192). „Im Sich-vorweg-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen liegt die existenzial-ontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten.“ (SuZ 193) Das heißt, das Dasein kann in die Möglichkeit vorlaufen, unter der Bedingung, dass es im „Sich-vorweg-sein“ (SuZ 193) schon in die Welt geworfen ist. In diesem Sinne bezieht sich der Ausdruck „Sich-vorwegsein“ auf die Gewesenheit als „ich bin-gewesen“ (SuZ 328). Die wesentlichen Bedeutungen von den beiden Ausdrücken „Vorlaufen“ und „Sich-vorweg-sein“ in der Struktur der Zeitlichkeit bzw. Sorge sollen in den folgenden Abschnitten in Hinsicht auf das Verständnis der Seinsart des Daseins näher erläutert werden. 1. Entwerfen im „Vorlaufen“ Bezüglich der Seinsweisen des Daseins nimmt das „Vor“ die führende Stelle ein. Als Sein-zum-Tode läuft das Dasein in die Möglichkeit „vor“. Das heißt, auf seine eigenste Seinsmöglichkeit entwirft sich das Dasein. Im Vorlaufen-zumTode existiert das Dasein eigentlich als sich-verstehendes Dasein. Im Ausdruck „Vor“ gelangt die Richtung des Sichentwerfens des Daseins zur Zukunft. Was bedeutet dieses „vor“ und wieso entwirft das Dasein sich als Verstehen auf zukünftige Weise? Angesichts dessen weist Heidegger darauf hin, dass das Sichentwerfen des Daseins zunächst in der Zukunft gründet (vgl. SuZ 327). Die Zukunft ist für Heidegger der „primäre Sinn“ der Existenzialität des Daseins (vgl. SuZ 327). Deshalb hängt die Frage nach dem Sinn von Sein im Grunde genommen mit der Zukünftigkeit der Seinsweise des Daseins zusammen. Durch die Exposition der Bedeutung des „Vor“ wird die zukünftige Seinsweise des Daseins offenbar. „Das ,vor‘ und ,vorweg‘ zeigt die Zukunft an, als welche sie überhaupt erst ermöglicht, daß Dasein so sein kann, daß es ihm um sein Seinkönnen geht.“ (SuZ 327). Ein hochinteressanter Punkt bezüglich der Zukunft in der Struktur des Daseins besteht darin, dass das „Vor“ im „Vorlaufen“ die Möglichkeit des Daseinsverstehens als seine eigentliche Seinsweise erschließt. Im Vorlaufen-indie-Möglichkeit bzw. Sichentwerfen-in-die-Zukunft liegt die existenziale Bedingung des ontisch ausgezeichneten Daseins, dass es als das Seiende sein kann, dem es um sein Sein bzw. sein Seinkönnen selbst geht. In diesem Sinne erläutert Heidegger, dass die Zukunft den „primären Sinn“ der Existenzialität des Daseins zeigt (vgl. SuZ 327). Ein entscheidender Punkt in der Frage nach der Zeitlichkeit in Bezug auf die Seinsart des Daseins in „Sein und Zeit“ liegt genau darin, dass die Zukunft die Möglichkeit des Verstehens des Daseins erschließt. Sofern das Dasein sich auf

§ 9 Zeitlichkeit als geworfener Entwurf

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zukünftige Weise entwirft, kann es überhaupt als das sich-verstehende Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, existieren. Das Dasein entwirft sich auf „das ,Umwillen seiner selbst‘“ (SuZ 327), was „ein Wesenscharakter der ,Existenzialität‘ “ (SuZ 327) ist. In diesem Zusammenhang wird das Prinzip der zukünftigen Seinsweise des Daseins enthüllt. Das Sichentwerfen des Daseins konstituiert den Prozess der Existenz des Daseins, den Heidegger in der Struktur der Zeitlichkeit darlegt. Die Bedeutung des „Vor“ in Bezug auf die Seinsweise des Daseins bezieht sich auf die Struktur der Zeitlichkeit, die ursprünglich auf der Eigenschaft der Sorge basiert. Im Folgenden wird die Zeitigung der Zeitlichkeit, welche die Konstitution der Sorgestruktur ermöglicht, dargestellt.

2. Die „Vorweg“-Geworfenheit Die Bedeutung des „Vor“ im „Sich-vorweg-sein“ wird in dem Charakter der Sorge verkörpert. Die Sorge bedeutet für Heidegger die Grundstruktur der Existenz des Daseins bzw. die Grundart des Seins. Angesichts der Seinsart des Daseins als In-der-Welt-sein erfasst Heidegger die „formal existenziale Ganzheit des ontologischen Strukturganzen des Daseins“ (SuZ 192) in der folgenden Struktur: „Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt).“ (SuZ 192) Diese Struktur des Seins „erfüllt die Bedeutung des Titels Sorge“ (SuZ 192) hinsichtlich der Grundverfassung des Daseins in der Daseinsanalytik Heideggers. Der Titel „Sorge“ wird in diesem Zusammenhang „rein ontologischexistenzial“ (SuZ 192) gebraucht. Die Sorge enthüllt die Grundverfassung der Seinsart des Daseins. Das heißt: Die Sorgestruktur zeigt die ontologische Struktur des Seins des Daseins. Die Konstitution des Daseins wird in der Weise, dass es vorweg schon da bzw. in der Welt existiert, erschlossen. Die Faktizität des Daseins, dass das Dasein in der Welt ist, setzt die Sorge als die Grundart des Seins dieses Seienden voraus. Solange dieses Seiende in der Welt existiert, sorgt es sich um sein Sein als endliches Seiendes. Die Endlichkeit dieses Seienden ist jedoch keine Begrenztheit, sondern die Grundlage seiner Existenz. Als In-der-Welt-sein sorgt das Dasein sich um sein Sein, wobei es sich auf das „Umwillen seiner selbst“ entwirft. Das Sich-um-sein-Sein-sorgen des Daseins als In-der-Welt-sein ermöglicht das Sichentwerfen des Daseins. Der Ausdruck „Umwillen seiner selbst“ zeigt die Struktur der Sorge, die die Grundstruktur des Daseins als In-der-Welt-sein, das sich sein Sein auf Möglichkeiten hin entwirft, begründet. Um sein Sein selbst kümmert sich das Dasein, infolgedessen kann es sich auf offene Möglichkeiten seines Seins entwerfen. Zugleich kann es sich überhaupt nur deshalb um sein Sein sorgen, weil das Dasein schon in die Welt vorweg geworfen ist. In diesem Zusammenhang kommt die einzigartige Bezeichnung des Daseins als das Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, zustande.

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2. Kap.: Die Struktur der Zeitlichkeit

3. Das „Vor“ in der Struktur der Sorge Die Geworfenheit und der Entwurf des Daseins sind, wie oben gezeigt, die beiden konstitutiven Momente der Struktur der Sorge. Die Struktur der Sorge offenbart sich als der Prozess des Verstehens. Woraufhin sich dieser Prozess richtet, ist immer die Zukunft des Daseins, in der die Möglichkeiten seines Seins gründen. Die Möglichkeit des Daseins bedeutet das „Seinkönnen“ des Daseins, das im Grunde genommen das Wesen des Daseins als Sorge enthüllt. Um sein Sein bzw. sein Seinkönnen sorgt sich das Dasein, indem es sich selbst auf die offenen Möglichkeiten seines Seins entwirft. Die Wurzel der Sorge allerdings befindet sich in der Welt. Das heißt, dass sich das Dasein überhaupt nur um sein Sein sorgen kann, weil es in der Welt existiert. In dieser Hinsicht zeigt die zweifache Bedeutung der Vorsilbe „Vor“ den wesentlichen Charakter der Existenz des Daseins als Sorge. Die eine Bedeutung des „Vor“ beruht auf der Geworfenheit des Daseins. Das „Vor“ im „Vorweg“-schon-in-der-Welt-sein des Daseins als In-der-Welt-sein bezieht sich auf die Faktizität des Daseins. Als Bedingung des Entwurfs ermöglicht das „Vorweg“-geworfen-sein die Seinsweise des Daseins, das als Möglichkeit existiert. Das „Vorweg“-schon-in-der-Welt-sein existiert als geworfen-Entwerfendes. Das heißt, das Da-(in-der-Welt)-sein existiert, in der Weise, dass es ständig sein Sein auf Möglichkeiten hin entwirft. Dass das Dasein schon vorweg in der Welt ist, bedeutet im Grunde, dass es in der Lage sich auf Möglichkeiten, d. h. in die Zukunft zu entwerfen ist. Das „Vorweg“ zeigt in diesem Sinne die Zukünftigkeit der Grundart des Seins des Daseins an. Die andere Bedeutung besteht in dem Sichentwerfen des Daseins. Der Entwurf des Daseins geschieht im „Vorlaufen“, d. h. das Dasein entwirft sein Sein, dessen Möglichkeiten in der offenen Zukunft liegen. Ein mögliches Sein, auf das hin sich das Dasein entworfen hat, impliziert seine Freiheit, sein Sein selbst zu entwerfen. Das „Vor“ in diesem Sinne bedeutet sein „Vorlaufen“ in die Zukunft. Wenn das Dasein in die Welt als ein passives Seiendes geworfen ist, schafft es seine eigene Freiheit, indem es sein Sein in die Zukunft „vorläuft“. Die Geworfenheit ist die eine Seite der Existenz des Daseins, während das Entwerfen im „Vorlaufen“ die andere Seite der Existenz konstituiert. Diese beiden Seiten strukturieren in einem Prozess die vollständige Struktur des Daseins. Aus dem Grund, dass die Geworfenheit und der Entwurf des Daseins die beiden Seiten eines Prozesses sind, ist das Entwerfen des Daseins immer ein geworfenEntwerfendes. In der Struktur des geworfen-Entwerfenden offenbart das „Vor“ und das „Vorweg“ die ursprüngliche Richtung bzw. das „Woraufhin“ des Entwerfenden Daseins.

§ 10 Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge

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§ 10 Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge 1. Das Woraufhin des Entwurfs und der Sinn der Sorge Die Sorge ist „das Sein zum Tode“ (SuZ 329). Der Tod des menschlichen Daseins zeigt die fundamentale Voraussetzung der Existenz des Daseins zugleich das eigenste Seinkönnen. Das Dasein läuft zu seinem Tod vor, indem es über seine Endlichkeit die Freiheit für seine eigene Existenz ergreift. Jedes Moment der Existenz des menschlichen Daseins ist das Moment seiner Entschlossenheit, in dem Sinne, dass es sich als freies Seiendes auf sein Seinkönnen bzw. „Umwillen seiner selbst“ entwirft. „Das Dasein wird ,wesentlich‘ in der eigentlichen Existenz, die sich als vorlaufende Entschlossenheit konstituiert.“ (SuZ 323) Das Sichentwerfen des Daseins auf Möglichkeiten in der Zukunft bedeutet seine vorlaufende Entschlossenheit. Die Möglichkeiten des Seins selbst werden durch den Entwurf erschlossen. Der Entwurf auf Möglichkeiten hat immer sein „Woraufhin“. Weil der Entwurf auf Möglichkeiten das „Sich-vorweg-sein“ im Werfen der Möglichkeiten als Möglichkeiten ist, kann der Entwurf des Daseins im Akt des Sichentwerfens seine Richtung bzw. ein „Woraufhin“ besitzen. Das Woraufhin des Entwurfs bezieht sich ursprünglich auf den Sinn der Sorge. Das heißt, der Sinn der Sorge bedeutet laut Heidegger das Woraufhin des „primären Entwurfs des Daseins“ (SuZ 324) bzw. des Verstehens des Daseins (vgl. SuZ 324). Im Folgenden Zitat fällt die Bedeutung des Sinns als das Woraufhin des Entwurfs auf: „Wenn wir sagen: Seiendes ,hat Sinn‘, dann bedeutet das, es ist in seinem Sein zugänglich geworden, das allererst, auf sein Woraufhin entworfen, ,eigentlich‘ ,Sinn hat‘.“ (SuZ 324) Das Woraufhin des Entwurfs zeigt in diesem Sinne die Richtung, woraufhin sich der Akt des Entwurfs richtet. Weil das Dasein sich auf „Umwillen seiner selbst“ entwirft, kann es als das Seiende, das sich in seinem Sein versteht, existieren, damit ist es auch imstande nach dem Sinn von Sein zu fragen. Das Ziel des Fragens, woraufhin sich dieses Fragen selbst richtet, wird als der Sinn von Sein bezeichnet. Der Sinn von Sein ist nämlich das Erfragte der Seinsfrage, wobei das Fragen ins Ziel kommt (vgl. SuZ 5). Das Dasein als In-der-Welt-sein ist im Wesentlichen die Sorge. Die Sorge als „das Sein zum Tode“ ist genau das Sein des Daseins, dem es in seinem Sein um sein Sein selbst geht. Das Ziel der Seinsfrage, die das Dasein stellt, gründet eigentlich in dem Prozess des Seins dieses Seienden. Der Prozess des Verstehens seines eigenen Seins ist für das Dasein der Prozess seiner Existenz selbst. Dieser Prozess heißt Zeitlichkeit. Dementsprechend zeigt die Zeitlichkeit als Prozess des Seins des Daseins selbst den ontologischen Sinn der Existenz des Daseins bzw. der Sorge. Aufgrund dessen, dass die Seinsfrage des Daseins im Wesen seines Seins fundiert, richtet sich das Fragen als sein freier Akt auf die ontologische

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2. Kap.: Die Struktur der Zeitlichkeit

Grundverfassung seines eigenen Seins. In der Zeitlichkeit als ontologische Grundverfassung gründet sich das Woraufhin des Entwurfs als primärer Akt des freien Seienden. 2. Der Tod als Grundbedingung der Sorge Das Woraufhin des Entwurfs bzw. das Entworfene ist das Sein des Daseins (vgl. SuZ 324). In dem Entworfenen sind die Möglichkeiten des Seins des Daseins erschlossen. „Das Dasein ist ihm selbst hinsichtlich seiner Existenz eigentlich oder uneigentlich erschlossen“ (SuZ 325), weil es sich an jedem Moment seiner Existenz auf Möglichkeiten entwirft. Das Woraufhin des Sichentwerfens bzw. „der Sinn des primären Entwurfs“ (SuZ 324) beruht auf der Endlichkeit des Daseins. Der Entwurf wird überhaupt durch die Endlichkeit des Daseins d. h. den Tod ermöglicht. Das Dasein läuft zum Tode vor, indem es sein Sein entwirft. Weil das Dasein sein Ende in seinem Wesen als Grundbedingung der Existenz voraussetzt, ist es in der Lage zu seinem möglichen Ende vorzulaufen und wieder zu seiner gegenwärtigen und faktischen Geworfenheit, d. h. zum Da-sein zurückzukehren. Diese beiden Bewegungen strukturieren den Prozess der Existenz des Daseins als Sorge. Woraufhin sich die Sorge des menschlichen Daseins ursprünglich richtet, ist sein Tod. Der Tod des Daseins als seine unvermeidliche Endlichkeit erschließt die Struktur des Seins und ermöglicht das Seinsverständnis. Die Sorge ist daher „das Sein zum Tode“. 3. Die Struktur der Zeitlichkeit Das Sein zum Tode ist prozessual in der Hinsicht, dass die beiden wechselweise aufeinander einwirkenden Bewegungen, das Entwerfen und das Zurückkommen, einen kontinuierlichen Prozess formulieren. In diesem Prozess entsteht die Struktur der Existenz als Sorge. Dieser kontinuierliche Prozess der Existenz wird als die Zeitlichkeit bezeichnet. „Die ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur“ (SuZ 327) des geworfen-entwerfenden Seienden „liegt in der Zeitlichkeit.“ (SuZ 327) Der Prozess, in dem das In-der-Welt-sein als freies Seiendes sein Sein auf Möglichkeiten entwirft, ist das Woraufhin selbst, der Sinn seiner Existenz als Sorge. „Zeitlichkeit enthüllt sich als der Sinn der eigentlichen Sorge.“ (SuZ 326) Die Zeitlichkeit ist deshalb der ontologische Sinn der Sorge. Der terminologische Gebrauch des Begriffs der Zeitlichkeit muss sich zunächst von dem vulgären Zeitbegriff „Zukunft“, „Vergangenheit“ und „Gegenwart“ fernhalten (vgl. SuZ 326). Die Zeitlichkeit ist ursprünglicher als die Zeit, in dem Sinne, dass die Existenz des Daseins als Zeitlichkeit bestimmt ist. Die Zeitlichkeit als Prozess stimmt mit dem Prozess des Verstehens überein, indem das Wesen des freien Da-(in-der-Welt)-seins als geworfen-entwerfendes Seiendes zur Erscheinung kommt. „Nur sofern das Dasein als Zeitlichkeit bestimmt ist,

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ermöglicht es ihm selbst das gekennzeichnete eigentliche Ganzseinkönnen der vorlaufenden Entschlossenheit.“ (SuZ 326)

§ 11 Die Zukünftigkeit des Daseins 1. Das ursprüngliche Phänomen der Zukunft Im nächsten Schritt soll die Zeitlichkeit hinsichtlich der Zukunft und der Geworfenheit näher erläutert werden. Die Art und Weise der Existenz des Daseins als In-der-Welt-sein ist, wie schon betrachtet, der Entwurf seines Seins auf die Möglichkeiten in der Zukunft. Das heißt, das Existieren des Daseins deutet schon an, dass es sein Sein immer in die Zukunft entwirft. Freilich unterscheidet sich die Bedeutung der Zukunft in der Seinsverfassung des Daseins von der alltäglichen Verwendung des Begriffs der Zukunft. Die einzigartige Anwendung des Zeitbegriffs in der Daseinsanalytik bezieht sich auf die Grundart des Seins des Daseins als Zeitlichkeit. Das ontologische Verständnis der Zukunft, woraufhin sich der Entwurf des Daseins richtet, basiert auf dem Prinzip der Zeitlichkeit bzw. der Seinsweise des Daseins. Im Allgemeinen begreifen wir die Gegenwart als ein ungreifbares Moment des Umschlags zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Ein Moment vor dem gegenwärtigen Moment, das schon vorbei ist, ein Moment der Zukunft, das noch nicht gekommen war. Mit diesen vulgären Begriffen der Zeit allerdings kann die Struktur der Zeitlichkeit nicht enthüllt werden. Die Zukunft in der Struktur der Seinsart des Daseins ist abweichend von einem durchschnittlichen Verständnis des Zeitbegriffs zu verstehen. „,Zukunft‘ meint hier nicht ein Jetzt, das, noch nicht ,wirklich‘ geworden, einmal erst sein wird, sondern die Kunft, in der das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt.“ (SuZ 325) Die Möglichkeit, auf die das Dasein sein Sein entwirft, bedeutet das Seinkönnen des Daseins. Wenn das Dasein sich auf das „Umwillen seiner selbst“ entwirft, offenbart sich seine Möglichkeit des Seins. Die Zukunft ist der Ort, wo die Möglichkeit seines Seins zur Erscheinung kommt. Dieser Offenbarungsprozess des Seinkönnens beruht auf dem Wesen des Daseins als das in seinem Sein um sein Sein selbst gehende Seiende. Die Zukunft der Zeitlichkeit als Dasein ist die Erschlossenheit der Möglichkeit, auf die das Dasein sich selbst entwirft. Diese Möglichkeit impliziert nicht die Zukunft in dem Sinne des „Nicht-Wirklichen“ im Gegensatz zur Wirklichkeit der Gegenwart, sondern die Zukunft, die das Dasein durch seine eigentliche Existenz „vor“-lebt. Das Dasein kann auf sich (in die Zukunft) eigentlich durch sein Vorlaufen zukommen. „Das Vorlaufen macht das Dasein eigentlich zukünftig, so zwar, dass das Vorlaufen selbst nur möglich ist, sofern das Dasein als seiendes überhaupt schon immer auf sich zukommt, das heißt in seinem Sein überhaupt zukünftig ist.“ (SuZ 325) Das „Sich-auf-sich-Zukommenlassen“ (SuZ

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2. Kap.: Die Struktur der Zeitlichkeit

325) des Daseins in seiner ausgezeichneten Möglichkeit ist „das ursprüngliche Phänomen der Zukunft.“ (SuZ 325) Die Zukunft enthüllt sich in dem Prozess der Existenz des Daseins als geworfenes Entwerfendes, d. h. der Zeitlichkeit.

2. Die Übernahme der Geworfenheit Dass das Dasein in der Welt faktisch existiert, wird im Rahmen der Heideggers Daseinsanalytik als Geworfenheit bezeichnet. Das Dasein als In-der-Welt-sein ist schon „Da“ in der Welt „gewesen“. Das „Gewesen“ bedeutet schlechthin in diesem Sinne das „Schon-da-sein“ des Daseins als „sein eigenstes ,wie es je schon war‘“ (SuZ 325). In diesem Zusammenhang ist die Gewesenheit der Geworfenheit kein Synonym der Vergangenheit. Vergangen ist das Seiende, „das nicht mehr vorhanden ist.“ (SuZ 328) „,Solange‘ das Dasein faktisch existiert, ist es nie vergangen, wohl aber immer schon gewesen im Sinne des ,ich bin-gewesen‘. Und es kann nur gewesen sein, solange es ist.“ (SuZ 328) In der Geworfenheit des Daseins besteht die wesentliche Bedingung seiner zukünftigen Weise des Seins. Das Dasein muss zunächst schon in die Welt geworfen sein, dadurch kann es in der Welt zukünftig existieren. Sofern das Dasein existiert, ist es „je schon Geworfenes“ (SuZ 328). Das Dasein kann als das geworfene Seiende existieren, nur weil das Wesen des Daseins sich als Sorge „in der Gewesenheit gründet.“ (SuZ 328) Das „Gewesen“ des Daseins bzw. sein eigenstes „wie es je schon war“ bedeutet die „Übernahme der Geworfenheit“ (SuZ 325). Die Übernahme der Geworfenheit zeigt das kontinuierliche Geworfensein des Daseins als In-der-Welt-sein, indem das Dasein sein Sein ständig auf Möglichkeiten entwirft bzw. zu seiner Zukunft vorläuft und zurück zu seinem faktischen geworfenen Da-sein. Das Vorlaufen ist möglich, insofern das Dasein kontinuierlich in der Welt existiert. Die Gewesenheit ermöglicht die eigenste Seinsweise des Daseins in einem Prozess. Die Gewesenheit ist in dieser Hinsicht die Spur des Prozesses der Existenz des Daseins, die in sich immer anwesend ist. Das Verhältnis der Zukunft in der Seinsstruktur des Daseins und der Geworfenheit aufgrund der Gewesenheit kann in diesem Punkt konkretisiert werden. Die Zukunft und die Geworfenheit des Daseins stellen die beiden notwendigen Bedingungen für sein Sein als sich ständig bewegender Prozess dar. Der ontologische Status der beiden ist absolut abhängig voneinander. Die beiden Momente in dem einander bedingenden Verhältnis konstituieren einen vollkommenen Prozess, welcher der Prozess der Existenz des Daseins bzw. der Zeitlichkeit ist. „Schon“ ist das Dasein in der Welt und als In-der-Welt-sein läuft es in die Zukunft „vor“. „Die Formulierung der Sorgestruktur zeigt mit den Ausdrücken ,Vor‘ und ,Schon‘ den zeitlichen Sinn von Existenzialität und Faktizität an.“ (SuZ 328)

§ 11 Die Zukünftigkeit des Daseins

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3. Zeitlichkeit als Prozess Wenn das Verhältnis der Geworfenheit und der Zukunft genauer betrachtet wird, fällt auf, dass die beiden sich in einem Zirkel bewegen. Die Prozessualität zwischen der Geworfenheit und der Zukunft wird näher beschrieben durch die bestimmten Bewegungen der Art und Weise der Existenz des Daseins. Die eine Bewegung ist das Vorlaufen des Daseins hin zum Tode, der die Zukunft anzeigt, und die andere ist das Zurückkommen des Daseins zu seinem „Da-Sein“ in der Welt bezüglich der Übernahme der Geworfenheit. Zu seiner Geworfenheit muss das Dasein zurückkommen. Das Zurückkommen ermöglicht aber gleichzeitig das eigentliche „Zukommenlassen“ des Daseins. „Nur sofern Dasein überhaupt ist als ich bin-gewesen, kann es zukünftig auf sich selbst so zukommen, dass es zurück-kommt. Eigentlich zukünftig ist das Dasein eigentlich gewesen.“ (SuZ 326) Das Dasein kann auf sich zukommen, nur wenn es geworfen ist. Es kann als „Gewesen“ geworfen sein, weil es auch zugleich zu seiner Zukunft vorläuft. „Das Vorlaufen in die äußerste und eigenste Möglichkeit ist das verstehende Zurückkommen auf das eigenste Gewesen. Dasein kann nur eigentlich gewesen sein, sofern es zukünftig ist.“ (SuZ 326) In solchen gleichzeitigen Bewegungen entsteht eine vollkommene zirkulare Selbstbewegung. Diese ständige Bewegung ist die Zeitigung der Zeitlichkeit, die vor der Zeit kommt. Die Selbstbewegung der Zeitlichkeit enthüllt die Ganzheit der Existenz des Daseins. Heidegger betont hier, dass „die Zeitlichkeit überhaupt kein Seiendes ,ist‘. Sie ist nicht, sondern zeitigt sich.“ (SuZ 328) In dem Sinne, dass die Zeitigung der Zeitlichkeit vor der Zeit kommt, ist die Zeitlichkeit ursprünglicher als Zeit. Die Zeitlichkeit ist als „ursprüngliche Zeit“ (SuZ 329) zu verstehen. Die zukünftige Weise der Bewegung soll auch betrachtet werden. Auf die Weise, dass der Prozess der Zeitlichkeit als eine vollkommene zirkulare Bewegung die Struktur der Existenz des Daseins offenbart, bewegt sich der Zirkel des Daseins im Grunde genommen auf zukünftige Weise. Das heißt, die Bewegung des Prozesses der Zeitlichkeit richtet sich auf die Zukunft, denn die Existenz des Daseins ist wesentlich zukünftig. „Zeitlichkeit zeitigt sich als gewesend-gegenwärtigende Zukunft.“ (SuZ 350) Dieser Zirkel selbst konstituiert die Grundverfassung des „Da-seins“ bzw. seiner Existenz. Das notwendig wechselseitige Verhältnis der Geworfenheit als „ich bin-gewesen“ und der Zukunft als Sichentwerfen im Vorlaufen wird mit der wesenhaften Bedeutung der entscheidenden Parole von Heidegger zum Ausdruck gebracht: „werde, was du bist!“ (SuZ 145).26 26 „Auf dem Grund der Seinsart, die durch das Existenzial des Entwurfs konstituiert wird, ist das Dasein ständig ,mehr‘, als es tatsächlich ist, [. . .]. Es ist aber nie mehr, als es faktisch ist, weil zu seiner Faktizität das Seinkönnen wesenhaft gehört. Das Dasein ist aber als Möglichsein auch nie weniger, das heißt das, was es in seinem Seinkönnen noch nicht ist, ist es existenzial. Und nur weil das Sein des Da durch das Verstehen und

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2. Kap.: Die Struktur der Zeitlichkeit

4. Werde, was du bist! Der Ausdruck „Werde, was du bist!“ stellt das Phänomen der Existenz des Daseins dar, in der Beziehung, dass er den ontologischen Status des Daseins zur Erscheinung bringt. Das Daseins kann werden, was es ist, nur in einem Prozess seines Seins. Das Werden ist ein Prozess, der durch die beiden wechselseitigen Punkte konstituiert wird. Es kann etwas werden, nur wenn es etwas nicht ist. In einem Prozess können die beiden entgegengesetzten Bewegungen des Werdens und Vergehens gleichzeitig bestehen. Erst die beiden Momente zusammen ermöglichen überhaupt einen vollständigen und einheitlichen Prozess. Die Seinsart des Daseins als verstehende Zeitlichkeit rührt von dem Prinzip des Prozesses des Werdens her. Im folgenden Zitat wird das einheitliche Phänomen der Zeitlichkeit als Prozess ausführlich dargestellt. „Zukünftig auf sich zurückkommend, bringt sich die Entschlossenheit gegenwärtigend in die Situation. Die Gewesenheit entspringt der Zukunft, so zwar, daß die gewesene (besser gewesende) Zukunft die Gegenwart aus sich entläßt. Dies dergestalt als gewesend-gegenwärtigende Zukunft einheitliche Phänomen nennen wir die Zeitlichkeit.“ (SuZ 326) Auf der Entschlossenheit des Daseins beruht die Praxis der Existenz des Daseins, welche grundsätzlich die Freiheit des Daseins repräsentiert. Aus diesem Grund ist die Zeitlichkeit als die Praxis des Seins des Daseins ursprünglicher als Zeit. Die gewesend-gegenwärtigende Zukunft des Daseins impliziert in diesem Zusammenhang den vollständigen Prozess der Zeitlichkeit, d. h. der Existenz des Daseins im Ganzen als In-der-Welt-sein mit seiner vollkommenen Freiheit. Im Prozess der Zeitlichkeit erhält das Dasein die Möglichkeit seiner Freiheit über sein eigenes Schicksal als Geworfenes.27 Das Sein des Daseins in der Welt ist in diesem Prozess ein vollständiger Selbstvollzug seines Willens. Das Dasein kann deshalb jedes Moment seiner Existenz sein, was es ist. Der Ausdruck „Werde, was du bist!“ ist die Formulierung, die das „Subjekt“ meines lebendigen Seins bzw. des Daseins als Praxis völlig ans Licht bringt. Dies legt die „Transzendenz“ des Daseins als „Überstieg zur Welt“ dar.

§ 12 Zeitlichkeit und Existenz 1. Ekstasen der Zeitlichkeit Nach der Erläuterung der zirkularen Bewegung der Zeitlichkeit soll nun auf die Zeitlichkeit als das „™kstatikün“ eingegangen werden. Die Zeitlichkeit wird dessen Entwurfcharakter seine Konstitution erhält, weil es ist, was es wird bzw. nicht wird, kann es verstehend ihm selbst sagen: ,werde, was du bist!‘“ (SuZ 145). 27 Im Ausdruck „über sein eigenes Schicksal“ bedeutet „über“ nicht die Verweigerung seines Schicksals, sondern die Freiheit des Daseins gehört wesenhaft zu seinem faktischen Geworfensein als In-der-Welt-sein.

§ 12 Zeitlichkeit und Existenz

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in der Daseinsanalytik als „™kstatiküò“ bezeichnet.28 Die existenziale Bedeutung „™kstatikün“ zeigt die Charaktere der zeitlichen Phänomene, die Grundart des Seins des Daseins als Zeitlichkeit enthüllt. Das Bewegungsprinzip des Prozesses der Zeitlichkeit bzw. „™kstatikün“ offenbart sich in den phänomenalen Charakteren der Zukunft, der Gewesenheit und der Gegenwart. „Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des ,Auf-sich-zu‘, des ,Zurück auf‘, des ,Begegnenlassens von‘. Die Phänomene des zu. . ., auf. . ., bei. . . offenbaren die Zeitlichkeit als das ™kstatikün schlechthin. Zeitlichkeit ist das ursprüngliche ,Außer-sich‘ an und für sich selbst.“ 29 (SuZ 329) Die Präpositionen „zu. . .“, „auf. . .“ und „bei. . .“ bringen den Sinn der Bewegung der Existenz des Daseins als Prozess zur Erscheinung. In dem Sinne, dass die drei Präpositionen die Existenz des Daseins zur Erscheinung bringen und die Grundart des Daseins als Zeitlichkeit charakterisieren, sind sie die phänomenalen Charaktere der zeitlichen Kennzeichen Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart. Diese drei charakterisierten Phänomene Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart heißen „die Ekstasen der Zeitlichkeit“ (SuZ 329). 2. Das ursprüngliche „Außer-sich“ für sich selbst Als phänomenale Charaktere der Zeitlichkeit offenbaren „Auf-sich-zu“, „Zurück auf “ und „Begegnenlassen von“ die Bewegungsweisen des Prozesses der Zeitigung. Das „Auf-sich-zu“ zeigt das „Zukommen“ des Daseins zu seiner existenzialen Möglichkeit in der Zukunft, während das „Zurück auf “ das „Zurück28 Der Begirff „™kstatikün“ kann vornehmlich als „verrückt“ oder „außer-sich“ übersetzt werden. Die Absicht von Heidegger scheint zunächst, dass er mit diesem Begriff die Charaktere der zeitlichen Phänomene, die als Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart bezeichnet werden, erklären wollte. Aber seiner Erklärung der Bedeutung des Begriffs „™kstatikün“ fehlt eine deutliche Interpretation. Das Wort „™kstatikün“ stammt von „ækstasiò“, das auch grundsätzlich von „™c-ßsthmi“ stammt. Die Vorsilbe „™c“ bedeutet „ex“ bzw. „aus“ und das Verb „Ôsthmi“ meint „stehen“ oder „stehen lassen“. Später interpretiert Heidegger selbst den Begriff Existenz als die Kombination der individuellen Auslegungen der einzelnen Wörter „™c“ und „Ôsthmi“, was die Seinsart des Daseins enthüllt. Denn das Da-Sein des Daseins bedeutet, dass das Dasein da, aus in der Welt steht. Ob er absichtlich eine genauere Interpretation schuldig blieb oder ob er zu diesem Zeitpunkt noch nicht das „™kstatikün“ mit der etymologischen Auslegung von „™c-ßsthmi“ analysieren wollte, ist nicht klar. Heidegger verwendet einfach den Begriff Ekstasen für die Übersetzung von „™kstatikün“. 29 Der Ausdruck „An und für sich selbst“ besitzt in diesem Zusammenhang die zweifache Bedeutungen: 1. In dem Sinne von „eigentlich“ bezieht sich der Ausdruck „an und für sich selbst“ auf die eigentliche Art und Weise des Seins des Daseins, der den ständig beweglichen Prozess der Zeitlichkeit anführt. 2. In der Weise, dass nur der Teil „für sich selbst“ kursiv ausgedrückt wird, zeigt der Ausdruck „,Außer-sich‘ für sich selbst“ das Bewegungsprinzip des Prozesses der Zeitlichkeit: im selbstverstehenden Prozess der Zeitlichkeit geht das Dasein „außer-sich“ d. h. über sich hinaus und für sich selbst zurückkommt. Dies nennt Heidegger Transzendenz des Daseins. Siehe dazu 5. Kapitel.

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2. Kap.: Die Struktur der Zeitlichkeit

kommen“ auf sein faktisch-gewesendes Geworfensein beschreibt. Dabei ist das Dasein als In-der-Welt-sein immer anwesend, was die Gegenwart des existierenden Daseins darstellt. Das „Begegnenlassen von“ des Daseins weist auf seine Anwesenheit als „Immer-schon-da-(in-der-Welt)-sein“ hin, die seine faktische Existenz in einer kontinuierlichen Bewegung manifestiert. Die phänomenalen Charaktere des „Auf-sich-zu“, des „Zurück auf “, des „Begegnenlassens von“ enthüllen in dieser Beziehung die vollkommene Bewegung der Zeitigung in einem Prozess. Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart als die Ekstasen der Zeitlichkeit bekommen ihren existenzialen Sinn in dem Prozess der Zeitigung, den die charakterisierten Phänomene strukturieren. Im Rahmen der Auslegung des „™kstatikün“ offenbart sich der Sinn der Zeitlichkeit als Prozess. Das „™kstatikün“ als „das ursprüngliche ,Außer-sich‘ an und für sich selbst“ zeigt genau die Bewegungsweise der Zeitlichkeit. In dem vorlaufenden Akt des Daseins zu seiner Zukunft liegt der Ausgangspunkt der Bewegung der Zeitigung. Auf die Möglichkeiten seines Seins in der Zukunft läuft das Dasein vor, dabei geht es über seine gewesend-gegenwärtige Geworfenheit hinaus. Das „Über-sich-hinaus-gehen“ ist der Ausgangspunkt des Akts des Zukommens als Sichentwerfen des Daseins auf Möglichkeiten. Das „™kstatikün“ in dem Sinne des „Außer-sich“ impliziert das „Über-sich-hinaus-gehen“ als Ursprung der Bewegung. Die über sich hinaus gehende Bewegung kann jedoch nur vollkommen werden, wenn sie auf sich zurückkommt. Das ursprüngliche „Außersich“ ist deswegen immer für sich selbst. Zeitlichkeit als das „™kstatikün“ ist aus diesem Grund „das ursprüngliche ,Außer-sich‘ an und für sich selbst“, das im Wesentlichen die Grundart der Existenz des Daseins offenbart.30 3. Die Einheit der Ekstasen Die drei charakterisierten Phänomene der Zeitlichkeit in den Präpositionen „zu. . .“, „auf. . .“ und „bei. . .“ 31 formulieren einen Prozess, in dem die drei an jedem Moment gleichzeitig alle drei selbst sein können. Jedes Moment des Prozesses kann ein Moment der Zukunft, der Gewesenheit und der Gegenwart zugleich sein. Die drei Präpositionen repräsentieren die Prozessualität der zeitlichen Charaktere der drei zeitlichen Phänomene. Die Phänomene Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart bestehen nicht als feste Momente als versteinerte

30 In diesem Sinne gibt es auch eine Möglichkeit, die Ekstasen der Zeitlichkeit im Rahmen der Interpretation des „™kstatikün“s als das von-„™c-ßsthmi“-stammende zu analysieren. Weil die Zeitlichkeit als Prozess überhaupt die Grundstruktur der Existenz des Daseins enthüllt. 31 Die charakterisierten Phänomene der Zeitlichkeit werden in der Form der Präpositionen zum Ausdruck gebracht, weil sie den ständig beweglichen Prozess der Zeitlichkeit konstituieren. Das heißt, die Präpositionen implizieren die Lebendigkeit der Existenz des Daseins, dessen Sein immer in einem Prozess geschieht.

§ 12 Zeitlichkeit und Existenz

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Zeichen der Zeit, sondern sie entstehen ständig in kontinuierlichen Bewegungen. Das Wesen der Zeitigung der Zeitlichkeit besteht in der Einheit der Ekstasen (vgl. SuZ 329), was das einheitliche Verhältnis der Zukunft, der Gewesenheit und der Gegenwart anführt. Das einheitliche Verhältnis der Ekstasen ermöglicht überhaupt die vollständige Bewegung der Zeitigung, d. h. den vollkommenen Prozess der Zeitlichkeit, welche die Grundstruktur der Existenz des Daseins als Selbstvollzug konstituiert. „Zeitlichkeit zeitigt und zwar mögliche Weisen ihrer selbst. Diese ermöglichen die Mannigfaltigkeit der Seinsmodi des Daseins, vor allem die Grundmöglichkeit der eigentlichen und uneigentlichen Existenz.“ (SuZ 328) 4. Das „™kstatikün“ und die Transzendenz des Daseins In der existenzialen Struktur des „™kstatikün“ ist der vollkommene Prozess der Zeitlichkeit selbstgenügsam. Als das ursprüngliche „Außer-sich“ für sich selbst präsentiert das „™kstatikün“ den vollständigen Selbstvollzug der Existenz des Daseins. Im Grunde genommen bezieht sich das „Außer-sich“ bzw. „Übersich-hinaus-gehen“ der Zeitlichkeit auf die Transzendenz des Daseins.32 Über sich hinaus geht das Dasein, um zu seinem Tod vorzulaufen. Gleichzeitig kommt es allerdings als In-der-Welt-sein immer zurück auf sich selbst. In der Daseinsanalytik wird es als „Überstieg zur Welt“ bezeichnet. Auf den Prozess des Daseins weist die Transzendenz des Daseins hin, indem es als In-der-Welt-sein über sich selbst hinausgeht, um zu seinem Tod vorzulaufen, und auf sein In-der-Weltsein zurückkommt. In diesem Prozess existiert das Dasein als Entschlossenheit. Das Phänomen des „Außer-sich“ für sich selbst manifestiert das Wesen des Daseins als freies Seiendes. Die Freiheit des Daseins als dasjenige Seiende, das sich um sein Sein selbst sorgt, gründet sich in der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit, die mit der Transzendenz des Daseins zusammenhängt. 5. Zukünftigkeit der Zeitlichkeit Zur Veranschaulichung soll noch einmal der folgende Punkt angeführt werden, nämlich dass die Zeitlichkeit sich ursprünglich aus der Zukunft heraus zeitigt. Der Prozess der Zeitlichkeit in der Struktur „,Außer-sich‘ für sich selbst“ beruht auf dem Wesen des Seins des Daseins als die gewesend-gegenwärtige Zukunft. „Die ursprüngliche und eigentliche Zeitlichkeit zeitigt sich aus der eigentlichen Zukunft, so zwar, daß sie zukünftig gewesen allererst die Gegenwart weckt.“ (SuZ 329) Das primäre Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit ist in diesem Kontext die Zukunft.33 Die Zukunft hat „in der ekstatischen

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Siehe 5. Kapitel. Bei der Aufzählung der Ekstasen auch nennt Heidegger die Zukunft an erster Stelle (vgl. SuZ 329). 33

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2. Kap.: Die Struktur der Zeitlichkeit

Einheit der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit einen Vorrang.“ (SuZ 329) Der Vorrang der Zukunft liegt in der Grundstruktur der Existenz des Daseins selbst, denn es existiert in der Weise, dass es durch seinen Entwurf in die Zukunft vorläuft.

§ 13 Endlichkeit der ursprünglichen Zeit 1. Endlichkeit als Grundcharakter der Existenz Es lässt sich jedoch auch die Endlichkeit der ursprünglichen Zeit darlegen. Die ursprüngliche Zeit ist endlich, weil sie die Zeit der menschlichen Existenz darstellt. Die einzige gewisse Möglichkeit des Daseins ist der Tod, zu dem das Dasein vorläuft. „Die Sorge ist Sein zum Tode. Die vorlaufende Entschlossenheit bestimmten wir als das eigentliche Sein zu der charakterisierten Möglichkeit der schlechthinnigen Unmöglichkeit des Daseins. In solchem Sein zu seinem Ende existiert das Dasein eigentlich ganz als das Seiende, das es ,geworfen in den Tod‘ sein kann.“ (SuZ 329) Das Dasein „existiert endlich.“ (SuZ 330) Das Ende des Daseins als Tod bedeutet allerdings kein Ende, an dem die Existenz des Daseins aufhört. Die Zeitlichkeit „zeitigt“ (SuZ 330) das Ende des Daseins als „die eigentliche Zukunft“ (SuZ 330), damit der Sinn der vorlaufenden Entschlossenheit, d. h. der Sinn der Sorge in dem Prozess der Zeitlichkeit zur Erscheinung kommt. Die eigentliche Zukunft bzw. der Sinn der Sorge enthüllt sich in dieser Beziehung „als endliche“ (SuZ 330). Der Tod des Daseins in der Struktur der Sorge konstituiert den Prozess der Zeitlichkeit. Seine eigentliche Zukunft als Tod zeigt deswegen kein Ende des Prozesses an, sondern der Tod selbst als die Grundbedingung der Bewegung der Zeitigung macht den Sinn des Prozesses der Zeitlichkeit aus. In diesem Sinne wird die eigentliche Zukunft „als endliche“ charakterisiert. Das Ende des Daseins deutet nicht das Aufhören des Existierens an, sondern der Prozess des Existierens selbst setzt die Endlichkeit als der ursprüngliche Charakter vor, indem er die Bewegung der Zeitigung als seine grundsätzliche Seinsweise charakterisiert. Die Endlichkeit bzw. der Tod des Daseins offenbart einen „Charakter der Zeitigung selbst“ (SuZ 330). Der Sinn des Prozesses bedeutet das eigentliche Woraufhin, woraufhin das Sein des Daseins sich richtet. In diesem Zusammenhang besteht das ursprüngliche Woraufhin des Daseins immer in einem Prozess, der ständig sich bewegt. Aufgrund dessen, dass der Sinn der Sorge sich in einem Prozess gründet, besagt der Tod als der eigentliche Sinn der Sorg „nicht ein primär Aufhören“ (SuZ 330) des Prozesses, sondern der Tod als die Endlichkeit offenbart die Existenz des Daseins. Dass das Dasein endlich existiert, enthüllt das eigentliche Phänomen seiner Existenz. Die Endlichkeit als der Grundcharakter des Prozesses der Existenz zeigt den ursprünglichen Charakter des menschlichen Seins. Das Ende als Cha-

§ 13 Endlichkeit der ursprünglichen Zeit

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rakter der Zeitigung in dem Prozess der Sorge führt zu der Frage „wie das Aufsich-Zukommen selbst als solches ursprünglich bestimmt ist.“ (SuZ 330) Die Frage „was ,in einer weitergehenden Zeit‘ noch alles geschehen und was für ein Auf-sich-Zukommen-lassen ,aus dieser Zeit‘ begegnen kann“ (SuZ 330) bekommt keinen Sinn in dem Prozess der Zeitlichkeit. Von der zukünftigen Seinsweise des Daseins in dem Prozess der Zeitlichkeit kommt der Charakter der Endlichkeit her. Das Dasein entwirft sich auf Möglichkeiten in der Zukunft, wobei es sich auf sich zukommen lässt. „Die ursprüngliche und eigentliche Zukunft ist das Auf-sich-zu, auf sich, existierend als die unüberholbare Möglichkeit der Nichtigkeit.“ (SuZ 330) Der ekstatische Charakter bzw. das „™kstatikün“ der ursprünglichen Zukunft als „das ,Außer-sich‘ für sich selbst“ liegt in dem selbstvollkommenen Prozess als Selbstvollzug, der „selbst geschlossen“ (SuZ 330) ist. Das „Auf-sich-Zukommen“ ist im Prozess der Zeitlichkeit „selbst als solches“ (SuZ 330) bestimmt. „Das ursprüngliche und eigentliche Auf-sich-zukommen ist der Sinn des Existierens in der eigensten Nichtigkeit.“ (SuZ 330) „Das entschlossene existenzielle Verstehen der Nichtigkeit“ (SuZ 330) bedeutet „die schlechthinnige Unmöglichkeit“ des Daseins, welche im Grunde genommen die Seinsweise des Daseins charakterisiert. 2. Das Ende als die Bedingung des Prozesses34 Anders ausgedrückt ist die unüberholbare Möglichkeit der Nichtigkeit die Bedingung bzw. die Grundlage der menschlichen Existenz, die den Charakter der Endlichkeit zeigt. Das Ende als Charakter der Zeitigung selbst ermöglicht den vollkommenen Prozess der Sorge, d. h. den Prozess des Vorlaufens und des Zurückkommens. Ohne die Voraussetzung des Endes als einer der beiden Pole der zirkularen Bewegung besteht keine Möglichkeit des Prozesses der Existenz. Wenn es kein Ende wie den Tod gäbe, der menschliche Endlichkeit bedeutet, wäre die zirkulare Bewegung als die Sorgestruktur der Zeitlichkeit nicht möglich. Das heißt, dass das Dasein nicht mehr als das Dasein existieren kann. In einem vollkommenen Prozess geht die Bewegung des Existierens nie ad infinitum, sondern das Existieren geschieht zwischen den beiden Polen als zirkulare Bewegung. 3. Frage nach der Vergangenheit Zu der Frage nach dem Anfang des Existierens, d. h. der zirkularen Bewegung der Zeitlichkeit führt die Erklärung der Endlichkeit der ursprünglichen Zeit. Als die Existenz des Daseins setzt der Prozess der Zeitlichkeit zwei Pole, zwischen denen die Bewegung des Prozesses geschieht, voraus. Einer der beiden Pole ist 34

Siehe 6. Kapitel.

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2. Kap.: Die Struktur der Zeitlichkeit

der Tod. Bei der Grundverfassung des Daseins als Sein-zum-Tode offenbart die Grundart seiner Existenz in sich selbst. In dem Prozess des Seins-zum-Tode konstituiert der Tod offensichtlich einen der beiden notwendigen Pole des Prozesses. Der andere Pol des Prozesses konstituiert das faktische Geworfensein des Daseins. Der Punkt der Geworfenheit bedeutet die gewesene Geworfenheit als „Ich bin schon da in der Welt gewesen“. Aus diesem Punkt geht das Dasein über sein faktisches gewesendes Geworfensein hinaus und gleichzeitig kommt es zurück zu seinem faktischen gewesenden Geworfensein, das aber schon in diesem Fall nicht mehr der gleiche Punkt, woher es ausgegangen ist, sein kann. Denn das Dasein existiert, in der Weise, dass es sich in einem zukünftigen Prozess bewegt. Der bewegliche Prozess der Existenz richtet sich auf die Zukunft, indem die faktische Existenz des Daseins immer gegenwärtig ist. Solange das Dasein in die Welt geworfen ist, „kann sich das Dasein existierend nie als vorhandene Tatsache feststellen, die ,mit der Zeit‘ entsteht und vergeht und stückweise schon vergangen ist. Es ,findet sich‘ immer nur als geworfenes Faktum.“ (SuZ 328) Deshalb ist das Existieren des Daseins als Prozess nie vergangen. Das Vergangene in dem Sinne des „Nicht-Vorhandenen“ wird nicht in dem Prozess der Zeitlichkeit eingeschlossen. Die einzige Möglichkeit, das Vergangene, das nicht mehr vorhanden ist, zu reformulieren, besteht in der Erinnerung. Die Rekonstrukion der Erinnerung35 in Bezug auf das Vergangen wird in „Sein und Zeit“ nicht erklärt. Obgleich der Prozess der Rekonstruktion der Erinnerung dem Prozess der Zeitlichkeit ähnelt, weicht der Sinn des Prozesses der Zeitlichkeit von dem Prozess der Retention36 ab. In der Erklärung der Zeitlichkeit unter der Bedingung, dass der Sinn des Prozesses der Zeitlichkeit sich auf die Zukunft richtet, fällt die Erläuterung des Vergangen in Beziehung auf die Erinnerung aus. Das Vergangene in der Struktur der Zeitlichkeit befindet sich in einer neuen Dimension. Denn die Erklärung der Erinnerung verliert ihren Sinn auf der Suche nach dem Grund der Existenz. Nicht die Rekonstruktion der Erinnerung des Vergangenen, sondern der Prozess des geworfenen Entwurfs als der Prozess der Zeitlichkeit offenbart sowohl den Sinn der Existenz des menschlichen Daseins, als auch – in einer paradoxen Weise – den Grund der Existenz. 4. Der Anfang der Existenz des Daseins Die Zeitigung der Zeitlichkeit impliziert die Ganzheit der Existenz des Daseins. Sein Vorlaufen zum Tode und sein Zurückkommen zu seinem „Da-Sein“ bzw. zu seiner Geworfenheit formuliert die zirkulare Bewegung der Zeitlichkeit 35 Die Rekonstruktion der Erinnerung wird im Diskurs des inneren Zeitbewusstseins von Husserl näher erläutert. Siehe 3. Kapitel, § 16. 36 Zum Begriff der Retention bei Husserl: Siehe 3. Kapitel, § 16.

§ 13 Endlichkeit der ursprünglichen Zeit

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als Prozess, die die Sorgestruktur bzw. die Existenz des Daseins darstellt. Das Dasein existiert „Da“. In der Struktur des Prozesses fällt noch die Frage nach dem Anfang des Existierens bzw. die Frage „wie ist das Dasein schon in der Welt?“ ein. Wieso ist es „Da“ in der Welt? Was ist der Grund des Seins eines solchen Seienden? Wie fängt der Prozess der Zeitlichkeit an? Darüber hinaus muss noch geklärt werden, was der Ausdruck „Grund“ bedeutet. Dies ist die Grundfrage nach der Vergangenheit. Die Frage nach dem Grund von der Bewegung der Zeitlichkeit verlangt noch eine Erklärung des Kernbegriffs der Frage: Wie heißt der Grund? In Bezug auf den Ursprung des Begriffs Grund stellt Heidegger in „Vom Wesen des Grundes“ 37 die Bedeutungen des Wortes ˜rxÞ nach Aristoteles und seine Auslegung vor: „Pasƒn mÊn o€n koinÎn tµn ˜rxµn tÎ prµton eønai Õqen í ìstin í gßgnetai í gignþsketai.38 Hiermit sind die Abwandlungen dessen herausgehoben, was wir ,Grund‘ zu nennen pflegen: der Grund des Was-seins, des Daß-seins und des Wahr-seins. Darüber hinaus aber wird noch das zu fassen gesucht, worin diese ,Gründe‘ als solche übereinkommen. Ihr koinün ist tÎ prµton Õqen, das Erste, von wo aus. . . Neben dieser dreifachen Gliederung der obersten ,Anfänge‘ findet sich eine Vierteilung des aètion (,Ursache‘) in pokeßmenon, tÎ tß ÷n eønai, ˜rxÌ t‰ò metabol‰ò und o£ Òneka,39 die in der nachkommenden Geschichte der ,Metaphysik‘ und ,Logik‘ leitend geblieben ist.“ 40 Der Begriff ˜rxÞ kann annähernd als Anfang, Prinzip oder „der erste Grund“ übersetzt werden. Die ˜rxÞ als Anfangspunkt ist der Grund entweder des Seins (ìstin), der Entstehung (gßgnetai) oder der Erkenntnis (gignþsketai) eines Dinges. Daneben erläutert Heidegger die Ursache (aètion) in vier Teilen: das Substrat (pokeßmenon), das Wesenswas (tÎ tß ÷n eønai), der Anfang der Bewegung oder der Änderung (˜rxÌ t‰ò metabol‰ò) und dasjenige, weswegen etwas geschieht (o£ Òneka). Inmitten der mehrdeutigen Bedeutungen des Grundes enthüllt sich ein allgemeines Merkmal (koinün): das Erste, das das Sein des Seienden ermöglicht. Dann kann unsere Frage nach der Vergangenheit auch gemäß der Definition der ˜rxÞ umformuliert werden: worin liegt das Erste des Prozesses der Zeitlichkeit, d. h. der Existenz des Daseins? Im folgenden Kapitel soll das vulgäre Verständnis des Begriffs Vergangenheit in Bezug auf die Geworfenheit näher erklärt werden. Denn eines der häufigsten Missverständnisse über die Geworfenheit besteht darin, die Geworfenheit als vergangen im Rahmen der vulgären Zeitbegriffe zu interpretieren. Danach soll noch die Retention bei Husserl als Rekonstruktion der Erinnerung hinsichtlich der Frage nach dem Grund erläutert werden. 37 38 39 40

Heidegger: Vom Wesen des Grundes, 5. Auflage, Frankfurt am Main 1965. Aristoteles: Metaphysik, London 2003, D 1, 1013 a 17 ff. Aristoteles, Metaphysik, D 2, 1013 b 16 ff. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 7.

3. Kapitel

Vergangenheit und Geschichte Die Vergangenheit des Daseins soll im Rahmen der Geschichtlichkeit verstanden werden. Das Dasein ist immer schon in der Welt gewesen, was die Geschichtlichkeit des Daseins offenbart. Geschichtlichkeit vollzieht den Prozess der Zeitlichkeit als die eigenste Seinsweise des Daseins. Als ständig in dem Prozess der Zeitlichkeit Geschehendes versteht das Dasein sich selbst historisch. Den zeitlichen Prozess seines Seins zu verstehen, heißt das historische Dasein zu verstehen. Das historisch verstehende Dasein meint deshalb in der Seinsverfassung des Daseins das sich-verstehende Dasein, das als Geschehen seine eigene Geschichte versteht. Weil das Dasein als zeitliches Geschehen existiert, ist sein Selbstverstehen im Grunde genommen geschichtlich. Aus diesem Grund soll der Begriff der Vergangenheit im Rahmen der Daseinsanalytik abweichend von dem durchschnittlichen und vulgären Verstehen der Vergangenheit, die durch die Rekonstruktion der Erinnerung zum Phänomen wird, verstanden werden. Im 3. Kapitel werde ich zunächst auf die Vergangenheit in Bezug auf die Geschichtlichkeit des Daseins eingehen, indem ich die üblichen Missverständnisse über die gewesende Geworfenheit des Daseins in dem Kontext des zeitlichen Prozesses der Existenz näher erläutern werde. Darauffolgend wird der Begriff der Vergangenheit in der rekonstruierenden Erinnerung im Rahmen der Analyse des Zeitbewusstseins Husserls mit der Heideggers Position verglichen.

§ 14 Das übliche Missverständnis über die Geworfenheit Das Geworfensein des Daseins meint die Tatsache, dass das Dasein schon in der Welt bzw. „da“ ist. Obwohl das Dasein schon in der Welt existiert, impliziert diese Tatsache des Daseins nicht das Vergangensein des Daseins in der Welt. Die Struktur der Zeitlichkeit als die Grundverfassung der Seinsart des Daseins bedingt die Geworfenheit des Daseins als das Gewesensein in der Welt. Das Sein des Daseins findet seinen Sinn in der Zeitlichkeit. Dass die Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge bzw. des Seins des Daseins aufgewiesen wird, „ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit von Geschichtlichkeit als einer zeitlichen Seinsart des Daseins selbst.“ (SuZ 19) Die Geschichtlichkeit des Daseins soll in diesem Zusammenhang hinsichtlich des Begriffs „Geschehen“ behandelt werden. Das Geschehen des Daseins ist auf keinen Fall mit der Vergangenheit des Daseins als „Nicht-mehr-vorhanden-Seiendes“ verbunden, sondern die Geschichtlichkeit des Daseins als Geschehen weist auf das ständig lebendige Ereignis des Seins des

§ 14 Das übliche Missverständnis über die Geworfenheit

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Daseins hin. Das triviale Missverständnis über die gewesende Geworfenheit des Daseins wurzelt in der unsorgfältigen Auslegung der Vergangenheit des Daseins. 1. Dasein als Vergangenheit Das alte und weitverbreitete Missverständnis über die Vergangenheit des Daseins könnte im 6. Paragraphen von „Sein und Zeit“ unter dem Titel „Die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie“ beginnen. Das Dasein ist hier in Bezug auf die Vergangenheit wie folgt beschrieben: „Das Dasein ist je in seinem faktischen Sein, wie und ,was‘ es schon war. Ob ausdrücklich oder nicht, ist es seine Vergangenheit.“ (SuZ 20) Wenn die Faktizität des Seins des Daseins in der Welt zeigt, dass das Dasein in der Welt schon existiert, meint das „Schonin-der-Welt-sein“ des Daseins in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass der Anfangspunkt seiner Existenz nicht in dem gegenwärtigen Moment besteht, sondern dass das Dasein vor jedem anwesenden Moment seiner Existenz immer schon da gewesen ist. Dass das Dasein schon in der Welt existiert bzw. sein faktisches „Da-Sein“, ist selber eine notwendige Bedingung der Seinsart des Daseins. Die hier gemeinte Vergangenheit bedeutet deshalb weder das „Nicht-mehr-vorhanden-sein“ noch die „überlieferte Vergangenheit“.41 Vergangenheit des Daseins in diesem Sinne bezieht sich auf die Geschichtlichkeit, die sich an der Frage nach dem Sein des Daseins beteiligt. In dieser Hinsicht sollte die Vergangenheit des Daseins aus einer anderen Perspektive betrachtet werden. Vergangenheit des Daseins aufgrund seiner eigenen Seinsart besitzt eine auffällige Bedeutung, die abweichend von der durchschnittlichen und alltäglichen Anwendung des vulgären Zeitbegriffs Vergangenheit verstanden werden soll. Die einzigartige Interpretation der Vergangenheit des Daseins beruht auf der eigentlichen Seinsweise des Daseins selbst. Der existenziale Status der Vergangenheit des Daseins befindet sich in der Zukünftigkeit der Grundart des Daseins als Zeitlichkeit. „Das Dasein ,ist‘ seine Vergangenheit in der Weise seines Seins, das roh gesagt, jeweils aus seiner Zukunft her ,geschieht‘.“ (SuZ 20) Das Sein des Daseins geschieht aus seiner Zukunft, d. h. die Zeitlichkeit bewegt sich ständig als Prozess sich auf die Zukunft richtend. Dass das Dasein sich im Werfen auf Möglichkeiten seines Seins, die sich in der Zukunft gründet, entwirft, zeigt die zukünftige Seinsweise des Daseins. Das Vorlaufen des Daseins zu seiner Nichtigkeit bzw. Tod, der die eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins bedeutet, ermöglicht die Grundart der Existenz des Daseins. Das Wesen des Vorlaufens zum Tode liegt im Grunde genommen in der Sorge, in deren Prozess sich

41 „Und das nicht nur so, dass sich ihm seine Vergangenheit gleichsam ,hinter‘ ihm herschiebt und es Vergangenes als noch vorhandene Eigenschaft besitzt, die zuweilen in ihm nachwirkt.“ (SuZ 20).

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3. Kap.: Vergangenheit und Geschichte

der geworfene Entwurf des Daseins ereignet. Die Geschichtlichkeit des Daseins zeigt die Lebendigkeit der Grundart der Existenz des Daseins als performativer Prozess. Allerdings setzt der lebendige Prozess der Zeitlichkeit beide Punkte voraus, die hauptsächlich den zirkularen Prozess strukturieren. Während das faktische Sein des Daseins in der Welt bzw. die Geworfenheit einen der beiden vorausgesetzten Punkte konstituiert, stellt das Vorlaufen des Daseins zum Tode, das durch den Akt des Entwurfs erfüllt wird, den anderen dar. Das heißt, das zum Tode vorlaufende Dasein kommt notwendig zu seinem gegenwärtigen Sein in der Welt zurück. In dieser Weise wird der bewegliche Prozess der Existenz des Daseins als lebendiges strukturiert. Der Prozess richtet sich grundsätzlich auf die Zukunft, denn das Dasein existiert sich verstehend aus seiner Zukunft, d. h. aus seiner Möglichkeit. Freilich ist das Dasein überhaupt nur in der Lage sich auf eine Möglichkeit hin zu entwerfen, weil der Ort seiner Existenz „in der Welt“ ist und es zu seiner Geworfenheit zurückkommen kann. Die Faktizität der Existenz des Daseins ist nie vergangen, in dem Sinne, dass es sich in einem Prozess immer auf zukünftige Weise bewegt, d. h. geschieht. 2. Vergangenheit und die Freiheit des Daseins Die Vergangenheit des Daseins meint nicht die vorgegangenen Momente des Seins, die weder vorhanden noch veränderlich sind, sondern sie eröffnet hingegen einen Weg zum freien Willen des Daseins, der eine positive Aneignung (vgl. SuZ 21) der Vergangenheit andeutet. Die „eigene Vergangenheit“ (SuZ 20) des Daseins „folgt dem Dasein nicht nach“ (SuZ 20), weil sie aus dem Dasein selbst „je schon vorweg“ (SuZ 20) über sich selbst hinausgeht. In der Struktur „aus mir über mich“ offenbart sich die Freiheit des Daseins, welche die Existenz des Daseins als „je meines“ darlegt. Die Vergangenheit des Daseins als je meines gründet sich in dem Prozess der Zeitlichkeit, deren Grund42 sich in der Freiheit befindet. Die Freiheit besteht infolgedessen in dem Wesen des Daseins selbst: Die wesenhafte Seinsweise des Daseins führt die Struktur der Freiheit an. Die Freiheit des Daseins über sich selbst bzw. seine eigene Vergangenheit bedeutet, dass das Dasein seine eigene Geschichte versteht. In diesem Zusammenhang daher weist die „eigene Vergangenheit“ des Daseins nicht auf die vergangene Zeit, sondern auf den ganzen Prozess des Geschehens als das Sein des Daseins selbst hin. Da bezeichnet die Freiheit des Daseins die Freiheit des Verstehens seines eigenen Seins. Historisch versteht das Dasein sein Sein in seiner eigenen Geschichte.

42 Der Grund des Prozesses der Zeitlichkeit liegt nicht in der Vergangenheit des Daseins, sondern in der Freiheit des Daseins. Die Struktur der Freiheit stellt die Transzendenz des Daseins dar, welche in der Struktur „aus mir über mich“ die Individualität des Daseins als „je meines“ enthüllt. Die Freiheit des Daseins sich offenbart, wenn das Dasein sein Sein durch sein Gewissen zu seiner Nichtigkeit ruft bzw. schuldig ist.

§ 15 Charakterisierung der Seinsfrage durch die Geschichtlichkeit

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3. Geschehen als Verstehen Als Geschehen versteht das Dasein sein Sein, denn das Dasein existiert in der Weise, dass es in seinem Sein schon sein eigenes Sein versteht, d. h. dass es sich im Verstehen seines eigenen Seins bewegt. Der Prozess des Geschehens ist selbst demzufolge der lebendige Prozess des Verstehens. Das heißt: Das Dasein als Geschehen ist immer in einem lebendigen Verstehen seines Seins. In dem geschehenden Prozess des Verstehens versteht sich das Dasein nicht nur von seiner Zukunft, sondern auch von seiner Vergangenheit. „Zeitlichkeit zeitigt sich als gewesend-gegenwärtigende Zukunft.“ (SuZ 350) Das Dasein ist als „Gegenwärtigin-der-Welt-sein“ in der Welt immer schon gewesen.43 In dieser Beziehung meint die Vergangenheit im Prozess des Verstehens des Daseins die Gewesenheit in seiner Geschichte als Zeitigung, die als die „gewesend-gegenwärtigende Zukunft“ (SuZ 350) geschieht. Das Verstehen der Geschichte als Zeitigung hat eine selbstvollziehende Struktur. Das heißt, das Dasein kann überhaupt die Frage nach seinem eigenen Sein stellen, weil das Dasein schon gewissermaßen sein Sein versteht. Durch die Geschichtlichkeit des Daseins bzw. seine einzigartige Seinsart als existenziales Geschehen wird das Seinsverstehen ermöglicht. In dem geschichtlichen Prozess des Verstehens vollzieht sich die Frage nach dem Sein bzw. Sinn von Sein. Das Wesen der Seinsproblematik im Rahmen der Daseinsanalytik wird deshalb durch die Geschichtlichkeit des Daseins als sein existenzialer Charakter bestimmt.

§ 15 Charakterisierung der Seinsfrage durch die Geschichtlichkeit 1. Seinsfrage und Seinsverstehen Das Verstehen des Daseins geschieht überhaupt durch den Charakter der Geschichtlichkeit, die sich ursprünglich im Wesen des Verstehens des Daseins gründet. Das Dasein fragt nach dem Sinn von Sein und zugleich bewegt sich schon im Verstehen seines eigenen Seins. Das Dasein ist im Stande nach dem Sinn von Sein zu fragen, nur weil es als das Seiende, dem es in einem Sein um sein Sein selbst geht, immer schon sein Sein in irgendeiner Weise versteht. Das Selbstverstehen des Daseins ist gleichzeitig der Grund und der Leitfaden sowohl der Seinsfrage als auch des Seinsverstehens. Das Verstehen des Seins benötigt zunächst die Frage nach dem Sein. Daher hängen die Frage nach dem Sein und das 43 Obgleich das Dasein auf zukünftige Weise existiert, geschieht das Existieren des Daseins weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Die zukünftige Seinsweise des Daseins leugnet nicht die anwesende Faktizität des Daseins. Das Dasein existiert immer gewesend-gegenwärtig. „Die Gewesenheit entspringt der Zukunft so zwar, daß die gewesene (besser gewesende) Zukunft die Gegenwart aus sich entläßt.“ (SuZ 326).

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3. Kap.: Vergangenheit und Geschichte

Verstehen des Daseins notwendigerweise miteinander zusammen. „Die Ausarbeitung der Seinsfrage muß so aus dem eigensten Seinssinn des Fragens selbst als eines geschichtlichen die Anweisung vernehmen, seiner eigenen Geschichte nachzufragen, d. h. historisch zu werden, um sich in der positiven Aneignung der Vergangenheit in den vollen Besitz der eigensten Fragemöglichkeiten zu bringen.“ (SuZ 20–21) 2. Das historische Verstehen der Geschichtlichkeit Wenn das Dasein sein Sein als Zeitlichkeit, die mit dem Entwurf und der Geworfenheit konstruiert wird, versteht, ist dieses Verstehen historisch, in dem Sinne, dass das Dasein sein Sein als Geschehen versteht. Das historische Verstehen des Daseins ist möglich unter der Bedingung, dass das Dasein als Geschehen existiert. In dem Strukturganzen der Zeitlichkeit als seine eigene Geschichte versteht das Dasein sein Sein als das Geschehen in der Welt. „Die Frage nach dem Sinn des Seins ist gemäß der ihr zugehörigen Vollzugsart, d. h. als vorgängige Explikation des Daseins in seiner Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, von ihr selbst dazu gebracht, sich als historische zu verstehen.“ (SuZ 21) Das Fragen nach dem Sein angesichts des historischen Verstehens des Daseins soll dann auch historisch gefragt und durch die Geschichtlichkeit charakterisiert werden. Heidegger veranschaulicht die Beziehung der Seinsfrage und der Geschichtlichkeit folgendermaßen: „[. . .] das Fragen nach dem Sein, das hinsichtlich seiner ontisch-ontologischen Notwendigkeit angezeigt wurde, ist selbst durch die Geschichtlichkeit charakterisiert.“ (SuZ 20) Das Fragen nach dem Sein wird in dem Prozess der Zeitlichkeit als geschehendes Verstehen ermöglicht. Auf positive und aktive Weise versteht das Dasein seine eigene Geschichte in Bezug auf die Grundstruktur seiner Seinsart.44 „Dasein bringt sich so in die Seinsart historischen Fragens und Forschens. Historie aber – genauer Historizität – ist als Seinsart des fragenden Daseins nur möglich, weil es im Grunde seines Seins durch die Geschichtlichkeit bestimmt ist.“ (SuZ 20) In kurzen Worten: Die Grundbestimmung des Seinsverstehens des Daseins wird durch die Geschichtlichkeit dargestellt. Das heißt, das historische Verstehen des Daseins wird durch die Geschichtlichkeit im existenzialen Prozess der Zeitlichkeit ermöglicht. 3. Geschichte und Tradition In den meisten Fällen bewirkt das unklare Verständnis der Bedeutung der Tradition das typische Missverständnis über die Vergangenheit des Daseins. Die Tra44 Das Fragen nach seinem Sein und das historische Verstehen seiner eigenen Seinsart des Daseins zeigen die Freiheit des Daseins in Beziehung auf die lebendige und aktive Art und Weise der Existenz des Daseins.

§ 15 Charakterisierung der Seinsfrage durch die Geschichtlichkeit

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dition, die das Dasein „entdecken, bewahren und ihr ausdrücklich nachgehen“ (SuZ 20) kann, lässt die „elementare Geschichtlichkeit des Daseins“ (SuZ 20) ihm selbst verborgen bleiben, denn „die Tradition entwurzelt die Geschichtlichkeit des Daseins.“ 45 (SuZ 21) In der Tradition stehend ist Dasein nicht imstande aus ihr seine eigene Vergangenheit bzw. Geschichte auf eigentliche Weise zu verstehen. Die Tradition als Geschichte der Ontologie hat das Sein vergessen, in der das Dasein den Sinn von seinem eigenen Sein nicht finden kann. Wie der Titel „Die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie“ demonstrativ erklärt, meint die Tradition als der Widerstand der Geschichte des selbstverstehenden Daseins die Geschichte der Metaphysik, die das Sein des Dasein als je meines, lebendiges vergessen hat. Tradition besagt nicht die Historie des Daseins als seine eigene Vergangenheit als seine eigene Geschichte, die das existenzial-ontologische Verstehen des Daseins ermöglicht, sondern sie lässt die Seinsvergessenheit in der Geschichte der Metaphysik verwurzeln. In diesem Sinne ist die Tradition nicht meine Tradition, die sich in meiner Gewesenheit gründet und in dem zeitlich-existenzialen Prozess des Geschehens eingeschlossen ist. Die Jemeinigkeit des je individuellen Daseins bekommt keinen Sinn in dieser Geschichte. Wenn das Dasein sein Sein als je sein eigenes Geschehen versteht, kann es in seinem Sein selbst den Sinn von seinem Sein finden, d. h. als das Seiende, dem es um sein Seinkönnen geht, existieren. Demnach ist die Geschichte, durch die das Dasein sich verstehend eigentlich existieren kann, nicht die Geschichte der traditionellen Metaphysik, sondern die Geschichte seiner selbst.46

45 In der Tradition lässt sich das Dasein verblenden, damit es nicht mehr in der Lage ist, sein eigenes Sein zu verstehen: „Die Tradition entwurzelt die Geschichtlichkeit des Daseins so weit, dass es sich nur noch im Interesse an der Vielgestaltigkeit möglicher Typen, Richtungen, Standpunkte des Philosophierens in den entlegensten und fremdesten Kulturen bewegt und mit diesem Interesse die eigenen Bodenlosigkeit zu verhüllen sucht. Die Folge wird, dass das Dasein bei allem historischen Interesse und allem Eifer für eine philologisch ,sachliche‘ Interpretation die elementarsten Bedingungen nicht mehr versteht, die einen positiven Rückgang zur Vergangenheit im Sinne einer produktiven Aneignung ihrer allein ermöglichen.“ (SuZ 21) Das Dasein verliert sich in die Tradition, indem es seine eigene Geschichte nicht mehr verstehen kann. Wenn das Dasein seine eigene Geschichte verlässt, verliert es sich in das Man. Wenn das Dasein in das Man verloren ist bzw. sich verläuft, besteht die einzige Möglichkeit der Rückkehr zu dem eigentlichen Verstehen seines Seins in dem Dasein selbst. Dasein kann sich selbst zurückrufen, damit es „aus der Verlorenheit in das Man sich zu ihm selbst zurückholen“ (SuZ 287) kann; d. h. „schuldig ist.“ (SuZ 287) Der Rückruf des Daseins in Bezug auf das Schuldigsein soll im 4. Kapitel näher erörtert werden. 46 Das Sein des Daseins ist durch die Geschichtlichkeit charakterisiert und das jeweilige Dasein hat seine eigene Geschichte. Im 8. Kapitel werde ich erläutern, wie diese Geschichte des jeweiligen Daseins als sein Sein zur Erscheinung kommt, damit kann es sich selbst verstehen.

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3. Kap.: Vergangenheit und Geschichte

§ 16 Reproduktion der Vergangenheit: Theorie der Retention Edmund Husserls 1. Vergangenheit als Gewesenheit Im Rahmen der Daseinsanalytik weist die Gewesenheit des Daseins darauf hin, nicht dass das Dasein in der Vergangenheit existiert, sondern dass das Dasein als In-der-Welt-sein immer schon „da“ gewesen ist. In diesem Sinne bedeutet die Gewesenheit nicht das „Nicht-mehr-vorhanden-sein“, was wir im Alltag unter dem vulgären Zeitbegriff Vergangenheit verstehen. Vielmehr zeigt die Geworfenheit die Kontinuität der Existenz des Daseins, d. h. die Tatsache, dass das Dasein gewesend-gegenwärtigend in der Welt existiert. In diesem Zusammenhang bezeichnet Heidegger die faktisch-anwesende Existenz des schon da gewesenen Daseins als Geworfenheit. Das sich-verstehende Dasein existiert im Grunde und Wesen zukünftig. Durch die ekstatische Struktur der Zeitlichkeit wird die zukünftige Seinsweise des Daseins charakterisiert. Den Prozess der Zeitlichkeit konstituieren die zweifache Bewegung, d. h. das Sichentwerfen auf die Möglichkeit und das Zurückkommen zu der Geworfenheit. Diese existenziale Bewegung der Zeitigung ist zukünftig, aufgrund dessen, dass sich das Wesen des Daseins als Seinzum-Tode in der Zukunft gründet. Die Bewegung der Zeitlichkeit wendet sich nie auf die Vergangenheit zurück. In dem zukünftigen Prozess der Zeitlichkeit besinnt sich das Dasein aber nicht auf seine Vergangenheit, denn die Vergangenheit des Daseins impliziert die Geschichte – in dem Sinne des Geschehens – seines Seins in dem Strukturganzen der Daseinsexistenz. Die ekstatische47 Bedeutung der Vergangenheit als die Geschichte bzw. das Geschehen der Zeitigung schließt nicht einen Prozess der Rekonstruktion der Erinnerung ein. Das heißt, die Vergangenheit des Daseins als Geschichte der gewesend-gegenwärtigenden Zukunft fehlt eine Erklärung über die vergangenen Momente des Seins, die der Ausdruck „Gewesen“ (SuZ 325) der Geworfenheit nicht völlig erfassen kann; die trotzdem durch Erinnerung im gegenwärtigen Moment wieder konstruiert werden können. 2. Rekonstruktion der Vergangenheit: Reihe der Jetztpunkte Bei der Theorie der Retention Edmund Husserls wird die vergangene Zeit durch die Kontinuität der vergangenen Momente rekonstruiert. Der Akt der Retention des Bewusstseins konstituiert die Reihe der Jetztpunkte, wobei die Kontinuität des Vergangenheitshorizonts an jedem Punkt des Jetzt eingeschlossen ist. Husserl stellt das Diagramm der Reihe der vergangenen Zeit vor, das wie folgt48 scheint: 47 48

Siehe 2. Kapitel. Husserl: Zeitbewußtsein, S. 389.

§ 16 Reproduktion der Vergangenheit: Theorie der Retention Edmund Husserls 65

Abbildung 2: Das Diagramm der Zeit

Das Phasenkontinuum EE’ der Vergangenheit konstituieren die Jetztpunkte der Reihe OE. Die vergangenen Jetztpunkte der Reihe OE treffen die Reihe EE’ auf verschiedenen Stufen.49 Die Reihe EE’ des Vergangenheitshorizonts, die jedem gegenwärtigen Jetztpunkt folgt, ist mit der Gewesenheit des Daseins vergleichbar. Das Phasenkontinuum EE’ wird an jedem Jetztpunkt mit Vergangenheitshorizont durch den Prozess der Retention konstituiert. Der Prozess der Retention als Akt des Bewusstseins geschieht aber immer gegenwärtig, wie jedes Moment der Daseinsexistenz ein Moment der Gewesenheit ist. Die Reihe der Jetztpunkte OE des Zeitdiagramms offenbart den Fluss des Bewusstseins als Prozess der Retention. Der Fluss des Bewusstseins ist anders ausgedrückt die Bewegung des Bewusstseins, die sich in dem Akt der Retention gründet. In dem Fluss besteht der Jetztpunkt als konstruierendes Moment zwischen dem Jetzt und Vergangen. „,Vergangen‘ und ,Jetzt‘ schließen sich aus. Identisch dasselbe kann zwar jetzt und vergangen sein, aber nur dadurch, dass es zwischen dem Jetzt und Vergangen gedauert hat.“ 50 Der Jetztpunkt im Prozess der Retention bedeutet nicht das Moment des unendlichen Umschlags zwischen Vergangen und Jetzt, sondern eine „gemeinsame Form des Jetzt“ als eine „verbindende Form“ mit dem Vergangenheitshorizont, die den Fluss des Bewusstseins konstituiert. „Aber wir finden eine verbindende Form, sofern für alle nicht nur gesondert das Gesetz der Umwandlung von Jetzt in Nichtmehr und andererseits von Nochnicht in Jetzt statthat, vielmehr so etwas wie eine gemeinsame Form des Jetzt, eine Gleichheit überhaupt im Flußmodus besteht.“ 51 49 Das heißt: der Punkt P auf der Reihe OE kann entweder den Punkt P’ oder E’ oder noch anderen Punkt auf der Reihe EE’ erreichen; z. B. PP’, PE’, OP’, OE’ usw. 50 Husserl, Zeitbewußtsein, S. 395. 51 Husserl, Zeitbewußtsein, S. 431.

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3. Kap.: Vergangenheit und Geschichte

3. Retention als lebendiger Akt des Bewusstseins Im Fluss offenbart sich der Prozess der Retention als progressive Bewegung des Bewusstseins. Die Reihe OE manifestiert deshalb den Fluss, d. h. den Prozess der eigenen Zeitlichkeit des Bewusstseins. Durch die Retention52 ist jeder Jetztpunkt als lebendig-prozessuale Bewegung konstituiert. „Die Retention konstituiert den lebendigen Horizont des Jetzt, [. . .].“ 53 Der Akt der Retention ermöglicht den zeitlichen Fluss des Bewusstseins als ständig beweglicher Prozess zwischen Jetzt und Vergangen. Die Retention ist ein lebendiger Akt, der die zeitliche Kontinuität jedes Jetztpunkts ermöglicht. Jeder Jetztpunkt führt nämlich das anwesende Vergangen an. „Die Jetztphase ist nur denkbar als Grenze einer Kontinuität von Retentionen, so wie jede retentionale Phase selbst nur denkbar ist als Punkt eines solchen Kontinuums und zwar für jedes Jetzt des Zeitbewußtseins.“ 54 Der Gegenstand des Akts der Retention ist die Vergangenheit. Die Retention dagegen ist ein aktueller Akt, der immer gegenwärtig ist. Die retendierte Vergangenheit und der gegenwärtige Akt konstituieren zusammen einen einheitlichen Prozess der Retention, welche in sich selbst die doppelseitige zeitliche Phase des Bewusstseins umfasst. „Das Vergangenheitsbewußtsein konstituiert aber nicht ein Jetzt, vielmehr ein ,soeben gewesen‘, ein dem Jetzt intuitiv Vorangegangenes.“ 55 Das „soeben gewesene“ Jetzt also weist auf den eingeschlossenen Vergangenheitshorizont im gegenwärtigen Moment hin. Ein Jetzt besteht in dieser Beziehung als das Kontinuum von der Vergangenheit. 4. Das „soeben gewesene“ Jetzt und das „Vor“ in der Struktur der Zeitlichkeit Die Vergangenheit ist 56 in jedem Moment des Jetzt im Fluss des Bewusstseins. Infolgedessen besteht ein Phasenkontinuum (EE’) zwischen Vergangen (E’) und Jetzt (E). „An jede dieser Retentionen schließt sich so eine Kontinuität von retentionalen Abwandlungen an, und diese Kontinuität ist selbst wieder ein Punkt der Aktualität, der sich retentional abschattet. Das führt auf keinen einfachen unendlichen Regreß, weil jede Retention in sich selbst kontinuierliche Modifikation ist, die sozusagen in Form einer Abschattungsreihe das Erbe der Vergangenheit in 52 In der Innenstruktur der Retention besteht auch der Prozess der Protention, die sich in der Wieder-erinnerung ereignet (vgl. Husserl, Zeitbewußtsein, S. 410 sqq.). Der Prozess der Protention dennoch richtet sich nicht auf die Zukunft, sondern vollzieht einen vollkommenen Prozess der Rekonstruktion der Vergangenheit in der Wieder-erinnerung. 53 Husserl, Zeitbewußtsein, S. 402. 54 Husserl, Zeitbewußtsein, S. 393. 55 Husserl, Zeitbewußtsein, S. 401. 56 Im lebendigen Fluss des Bewusstseins: prozessual.

§ 16 Reproduktion der Vergangenheit: Theorie der Retention Edmund Husserls 67

sich trägt.“ 57 Der Jetztpunkt offenbart in dieser Hinsicht das Strukturganze des Bewusstseins als einheitliche Form des Jetzt und des Vergangenen. Das Vergangene ist nicht mehr vorhanden. Trotzdem ist die Vergangenheit im Punkt des Jetzt durch Erinnerung des Bewusstseins – auf lebendige Weise – rekonstruiert worden. Die lebendige Art und Weise der Rekonstruktion der Vergangenheit wird in der Zeittheorie Husserls als Retention bezeichnet. Den lebendigen Prozess der Retention als Phase des Bewusstseins legt Husserl in der Form „Vor-zugleich“ dar. „[. . .] so befaßt sie [Phase des Bewußtseins] eine im ,Vor-zugleich‘ einheitliche Kontinuität von Retention; diese ist Retention von der gesamten Momentankontinuität der kontinuierlich vorangegangenen Phasen des Flußes [. . .].“ 58 In folgendem Bild wird der lebendige Prozess der Retention zur Vergangenheit dargestellt:

Abbildung 3: Der Prozess der Retention

Diese einheitliche Form des Prozesses des Bewusstseins ist vergleichbar mit der Struktur des „Sich-vorweg-seins“ des Daseins. Husserls Anwendung des Begriffs „Vor“ im „Vor-zugleich“ ist dennoch interessanterweise abweichend von der Heideggers im „Sich-vorweg-sein“: Der Prozess des Bewusstseins in dem „Vor“ Husserls richtet sich auf die Vergangenheit, während der Prozess der Zeitlichkeit bei Heidegger sich auf die Zukunft richtet. 5. Theorie der Zeitlichkeit im Vergleich mit der Zeittheorie Husserls In der Theorie des inneren Zeitbewusstseins Husserls besteht ein wichtiger Punkt darin, dass der Fluss des Bewusstseins als Prozess nicht auf einen unend-

57 58

Husserl, Zeitbewußtsein, S. 390. Husserl, Zeitbewußtsein, S. 434.

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3. Kap.: Vergangenheit und Geschichte

lichen Regress führt.59 Der Fluss des Bewusstseins ist ein Progress, der im lebendigen Prozess der Retention immer gegenwärtig bleibt. Gleichermaßen existiert das Dasein auch immer gegenwärtig in dem Prozess der Zeitlichkeit. Wie jedes Moment der Zeitlichkeit bzw. Existenz des Daseins ist immer neu, entsteht ein neues Moment des Jetzt an jedem Jetztpunkt des Flusses. Allerdings fehlt der Analyse des Zeitbewusstseins Husserls eine präzise Darstellung der Zukunft.60 Durch Erinnerungen rekonstruiert der Akt der Retention die vergangene Zeit. Auf der Reihe der objektiven Zeit wird aber der kontinuierliche Fortschritt des Jetztpunkts in die Zukunft nicht erläutert. Hingegen wird das „Gewesen“ (SuZ 325) der Geworfenheit in der Zeitigung als „gewesend-gegenwärtigende Zukunft“ (SuZ 350) in der Daseinsanalytik nicht ausführlich analysiert. In der Form „ich bin-gewesen“ ist die Gewesenheit des Daseins immer gegenwärtig, was das Kontinuum der Existenz andeutet, die von der Vergangenheit bis zum gegenwärtigen Moment dauert. Im Rahmen der Daseinsanalytik wird die Kontinuität der gewesenden Geworfenheit des Daseins nicht erörtert, nicht wie in der Analyse des „soeben gewesenen“ Jetzt in dem Fluss des Bewusstseins bzw. in der rekonstruierenden Erinnerung. Zwischen der Zeittheorie Husserls und der Daseinsanalytik Heideggers besteht eine wesentliche Differenz darin, dass sich Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins auf die Darlegung des Jetzt mit der rekonstruierten Vergangenheit konzentriert, während die Analyse des Daseins Heideggers nicht die Reproduktion der erinnerten Vergangenheit erklärt.61 In Bezug auf den Abstand der Zeittheorie Heideggers von der Analyse der Zeit Husserls erörtert Michael Theunissen in seinem Buch „Negative Theologie der Zeit“, dass „die gesamte Daseinsanalytik wie auch die daseinsanalytische Zeitlichkeitstheorie von der im wesentlichen geheimen Opposition gegen Husserl tief geprägt sind, [. . .].“ 62 Dies werde, so Theunissen, „an der These Heideggers über den Primat der Zukunft besonders augenfällig.“ 63 Im folgenden Zitat beschreibt er die opponierende Haltung Heideggers gegenüber Husserl vor dem Hintergrund der Veröffentlichung von Husserls Zeittheorie: „Husserls Vorlesung zur Phänomenologie des inneren 59 Der Prozess der Rekonstruktion der Vergangenheit kann durch Retention und Protention in der Erinnerung und Wieder-erinnerung immer neu eröffnet (vgl. Husserl, Zeitbewußtsein, S. 411). 60 Erwartung und Protention in der Wieder-erinnerung stellt auch keine Erklärung daüber dar, wie der Fluss des Bewusstseins auf die Zukunft fortschreitet: Die Theorie des Zeitbewusstseins Husserls fehlt die Analyse für die „Seinsweise“ des Bewusstseins, dessen Zeit immer auf die Zukunft weitergeht. 61 Evident ist trotzdem, dass sich der Begriff der Gewesenheit als Voraussetzung der Struktur der Zeitlichkeit in der Daseinsanalyse Heideggers gewissermaßen der Theorie des Zeitbewusstseins Husserls verdankt. 62 Michael Theunissen: Negative Theologie der Zeit, Frankfurt am Main 1991, S. 340. 63 Theunissen, Negative Theologie, S. 340.

§ 16 Reproduktion der Vergangenheit: Theorie der Retention Edmund Husserls 69

Zeitbewußtseins, von Heidegger ein Jahr nach Sein und Zeit gewiß nicht nur aus Freundlichkeit herausgegeben, sucht den Ursprung der Zeit selbst in einer Gegenwart, die ihrerseits in einer an der Vergangenheit orientierten Perspektive erscheint.“ 64 Allerdings kann man insofern einen Punkt dieser Interpretation der Husserl’schen Zeittheorie Theunissens kritisieren, als die Theorie Husserls durchaus die „Protention“ auf die Zukunft einschließt. Aber in Hinsicht auf die Zukunft in der Protention bei Husserl weist Theunissen darauf hin, „dass die Protention überhaupt erst im Kontext von nicht mehr gegenwärtiger Vergangenheit thematisch wird, nämlich als Zukunftsgerichtetheit derjenigen Wahrnehmung, welche die Wiedererinnerung reproduziert.“ 65 Das heißt, dass Husserl auch die Zukunft unter der Vergangenheit subsumiert, indem er sie in sein Reproduktionsschema presst.66 Trotz der Opposition der Heidegger’schen Zeitlichkeitstheorie gegen die Zeittheorie Husserls findet Theunissen eine positive Verbindung zwischen den beiden Theorien: „Zum Vorteil gereicht ihm [Heidegger] das Husserlsche Erbe, das die Gewesenheit antritt. Heidegger wählt diesen Ausdruck vermutlich im Hinblick auf die darin mitausgedrückte Anwesenheit, die Gegenwärtigkeit, durch welche die Gewesenheit von der Erledigtheit des Vergangenen sich abhebt. ,Gewesenheit‘ steht also in der Nachfolge des retentionalen Gegenwartshorizontes.“ 67 Aber die Gewesenheit im Prozess der Daseinszeitlichkeit zeigt nicht eine theoretisch rekonstruierte Reihe der vergangenen Zeit, sondern ein ekstatisches Moment, das in sich eher einen der drei phänomenalen Charaktere der Zeitlichkeit trägt. Mit den anderen beiden ekstatischen Momenten, d. h. Gegenwart und Zukunft, zusammen, konstituiert das Moment der Gewesenheit den einheitlichen existenzialen Prozess der Zeitlichkeit. Ständig in einem sich-bewegenden bzw. lebendigen Prozess stehen alle ekstatischen Momente der Zukunft, Gegenwart und Gewesenheit an jeder Stelle des Prozesses. In dieser Hinsicht besteht eine Schwierigkeit, die Husserl’sche Reihe der vergangenen Zeit als die Struktur der Gewesenheit zu bezeichnen.

64 65 66 67

Theunissen, Negative Theologie, S. 340–341. Theunissen, Negative Theologie, S. 341–342. Vgl. Theunissen, Negative Theologie, S. 342. Theunissen, Negative Theologie, S. 344.

4. Kapitel

Schuldigsein: Nichtigkeit und Freiheit „Alles will in der Stille erworben und in Schweigen vergöttlicht werden. Nicht von Psychens künftigem Kind alleine gilt es, dass seine Zukunft abhängt von ihrem Schweigen. Mit einem Kind, das göttlich, wenn Du schweigst – Doch menschlich, wenn Du das Geheimnis zeigst.“ 68

§ 17 Schuldigsein als geworfener Entwurf: Nichtigkeit 1. Grundsein einer Nichtigkeit Im lebendigen Prozess der Zeitlichkeit entwirft sich das Dasein auf die Möglichkeit seines Seins und kommt zu seiner Geworfenheit zurück, damit versteht es sich selbst aus den Möglichkeiten als geworfenes Seiendes. Diese zeitliche bzw. ekstatische Seinsweise des Daseins enthüllt in ihrem Prozess den Grund seiner Existenz. Den geworfenen Entwurf selbst bezeichnet Heidegger als „Grundsein“ (vgl. SuZ 284–285): „Das Dasein ist sein Grund existierend, das heißt so, dass es sich aus Möglichkeiten versteht und dergestalt sich verstehend das geworfene Seiende ist.“ (SuZ 285) Die Seinsweise, d. h. der zeitliche Prozess der Existenz selbst ist das „Grundsein“ bzw. „das Sein des Grundes“ (SuZ 285). Was heißt das? Was bedeutet denn der Grund? Das grund-seiende Dasein als geworfener Entwurf meint, dass das Dasein aus seinem Grund existiert. Das heißt: Der geworfene entwerfende Prozess der Existenz gründet sich im Wesen des Daseins selbst als das Seiende, das endlich existiert. Auf der Möglichkeit der Nichtigkeit als die eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins beruht die Endlichkeit. „Grundseiend ist es selbst eine Nichtigkeit seiner selbst.“ (SuZ 284) Denn die Seinsmöglichkeit des Daseins, auf die hin sich das Dasein entwirft, richtet sich im Grunde genommen auf die Möglichkeit der Unmöglichkeit, d. h. Nichtigkeit, die bei dem menschlichen Dasein den Tod meint. „In der Struktur der Geworfenheit sowohl wie in der des Entwurfs liegt wesenhaft eine Nichtigkeit“ (SuZ 285), weil das Dasein ein endliches Seiendes ist, das im Wesentlichen ein Sein-zum-Tode ist. „Grund-seiend, das heißt als geworfenes existierend, bleibt das Dasein ständig hinter seinen Möglichkeiten zurück“ (SuZ 284), in dem Sinne, dass es in seinem 68 Søren Kierkegaard: Diayalmata, in: Entweder-Oder, 10. Auflage, München 2009, S. 41.

§ 17 Schuldigsein als geworfener Entwurf: Nichtigkeit

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ständigen Sichentwerfen immer zu seiner Geworfenheit zurückkommen muss. Dieser existierende Prozess des Daseins besteht in einer zyklischen Bewegung, in deren Prozess des geworfenen Entwurfs das Dasein immer anwesend existieren kann. Heidegger weist darauf hin, dass die Anwesenheit der Existenz des Daseins bedeutet, dass das Dasein „nie existent vor seinem Grunde“ (SuZ 284) ist, sondern je aus seinem Grund und als sein Grund (vgl. SuZ 284) existiert. Dieser Grund, aus dem das Dasein existieren kann, bezeichnet die ursprüngliche Möglichkeit des Seins, nämlich die Möglichkeit der Nichtigkeit, zu der das Dasein sich verstehend und sich ängstigend vorläuft, solange es existiert. Was versteht man aber unter dem Tod im Sein des Daseins bzw. in dem Prozess seines Seins? In seinem freien und ekstatischen Prozess des Seins entwirft das Dasein sich auf Möglichkeit seines Seins. Zu diesen Seinsmöglichkeiten des Daseins gehört die Möglichkeit des Todes, d. h. die Möglichkeit der Seinsunmöglichkeit als die eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins. „Als die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit“ (SuZ 250) enthüllt sich der Tod des Daseins. Durch den Akt des Sichentwerfens, nämlich seines Vorlaufens zum Tod, hat das Dasein selbst den Tod als je seine Seinsmöglichkeit zu übernehmen (vgl. SuZ 250). Als „die Möglichkeit der schlechthinnige Daseinsunmöglichkeit“ (SuZ 250) ist der Tod sein Grund des Seins für das Dasein. Denn, „wenn das Dasein existiert, ist es auch schon in diese Möglichkeit geworfen“ (SuZ 251). Jedoch muss es aus diesem Grund immer zu seinem gegenwärtigen In-derWelt-sein bzw. zu seiner Geworfenheit zurückkommen. Damit vollzieht sich das Existieren des Daseins in einem vollkommenen Prozess als geworfener Entwurf. In der Nichtigkeit liegt der Grund dieses Prozesses bzw. des geworfenen Entwurfs. Die gemeinte Nichtigkeit, aus der das Dasein existiert, aber „gehört zum Freisein des Daseins für seine existenziellen Möglichkeiten“ (SuZ 285). In der einheitlichen Struktur der Existenz des Daseins hängen die Nichtigkeit und die Freiheit miteinander zusammen. Inwiefern verbinden sich aber der Tod und die Freiheit des Daseins? 2. Freiheit und Nichtigkeit Für das Dasein bezieht sich die Freiheit weder auf die Freiheit von etwas, noch auf die Freiheit zu etwas. D.h. Freiheit meint hier nicht das, was der Begriff der Freiheit im politischen, gerichtlichen, kulturellen, oder sozialen Zusammenhang bedeutet, sondern die Freiheit des Daseins in der existenzialen Struktur bedeutet die Verantwortlichkeit des Daseins für sich selbst. Dasein kann nur verantwortlich sein, wenn es in seinem Sein sich selbst versteht. Notwendigerweise verlangt die Verantwortlichkeit des Daseins für sein eigenes Sein demnach die Verantwortlichkeit für die Nichtigkeit seiner selbst. Wenn das Dasein seine Endlichkeit, die Möglichkeit der Nichtigkeit als seine Seinsmöglichkeit erkennt und annimmt, ist es in der Lage, das eigentliche existenziale Verfassungsganze seines Seins

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4. Kap.: Schuldigsein: Nichtigkeit und Freiheit

selbst zu sehen bzw. verstehen. Durch das Vorlaufen zum Tod erhält das Dasein die Möglichkeit des Verstehens seiner eigenen Existenz. Und wenn das Dasein als das Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, sich selbst durch das Vorlaufen zum Tode versteht, kann es in sich selbst frei sein. Die Nichtigkeit bzw. die Möglichkeit des Nicht-seins des Daseins gehört zu seinem Freisein, d.h. Verantwortlichsein für sein eigenstes Seinkönnen. Das Annehmen und Verstehen der ursprünglichen Möglichkeit seines eigenen Todes ruft die Angst hervor. Heidegger betrachtet Angst als die Grundbefindlichkeit des Daseins (vgl. SuZ 188). Solange das Dasein existiert, ist es in den Tod geworfen und diese Geworfenheit in den Tod „enthüllt sich ihm ursprünglicher und eindringlicher in der Befindlichkeit der Angst.“ (SuZ 251) Im Dasein offenbart die Angst „das Sein zum eigensten Seinkönnen“ (SuZ 188), das die Möglichkeit der Unmöglichkeit des Daseins, d.h. Tod bedeutet. Das heißt: „Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für . . . (propensio in . . .) die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist.“ (SuZ 188) Zugleich ist es auch das „In-den-Tod-geworfene-sein“ des Daseins, „dem das Dasein als In-der-Welt-sein überantwortet ist“ (SuZ 188). Das Dasein ruft sich selbst „sich ängstigend in der Geworfenheit (Schon-sein-in . . .)“ (SuZ 277) zu seinem Seinkönnen. Als „Schon-in-die-Welt-geworfen-sein“ begründet die Geworfenheit des Daseins jedoch die Möglichkeit der aktiven Verantwortlichkeit des Daseins für sein je eigenes Sein, das heißt, die Freiheit „aus sich und doch über sich selbst“. Trotzdem bezeichnet die Angst als Grundbefindlichkeit nicht die Existenz bzw. den Prozess der Existenz des Daseins selbst. Vor dem Tod befindet sich das Dasein in der Angst. Für das Dasein ruft der Tod als die eigenste Seinsmöglichkeit die Angst vor. Angst ist eine Befindlichkeit und offenbart bzw. ermöglicht den Prozess der Existenz als geworfener Entwurf. Hingegen ist die Sorge keine Befindlichkeit, weder Gefühl noch Emotion, sondern die Existenz des Daseins selbst. Sorge ist der Prozess des geworfenen Entwurfs selbst. In dieser Hinsicht liegt der Sinn des existenzialen Prozesses bzw. der Sorge des Daseins in dem Prozess selbst als Sorge, während die Grundbefindlichkeit Angst sich in dem Tod gründet und ihren Sinn in dem Tod hat. Angst, die durch den Tod hervorgerufen wird, offenbart den Prozess der Existenz bzw. die Seinsweise des Daseins als Sorge. Den Grund seiner Existenz konstituiert die Möglichkeit des Todes als das endliche Wesen des Daseins. Allerdings besteht der Sinn der Existenz des Daseins bzw. der Sorge in der Zeitlichkeit des Daseins, d. h. in dem Prozess der Existenz selbst. 3. Schuldigsein und Sorge Als das Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein selbst geht, sorgt sich das Dasein um sein Sein: Sorge ist das Sein des Daseins selbst. Sorge des Da-

§ 17 Schuldigsein als geworfener Entwurf: Nichtigkeit

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seins als sein Sein gründet sich deshalb in seinem endlichen Wesen, d. h. in der Nichtigkeit: „Die Sorge selbst ist in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt.“ (SuZ 285) Als Sorge versteht das Dasein sein Sein selbst, indem der verstehende Prozess der Existenz seine wesenhafte Möglichkeit des Seins, d. h. die Nichtigkeit bzw. die Möglichkeit seines Todes enthüllt. Sorge als geworfener Entwurf zeigt sich als das endliche Sein des Daseins aus der Nichtigkeit. Das Vorlaufen-zum-Tode des geworfenen Daseins konstituiert die grundsätzliche Seinsweise des Daseins, welche die Struktur der Sorge bedeutet. Im Verantwortlichsein des Daseins für seine Nichtigkeit und sein Sein gründet sich die Sorge als Sein-zum-Tode. Das bezeichnet Heidegger als Schuldigsein: „Das Dasein ist als solches schuldig, wenn anders die formale existenziale Bestimmung der Schuld als Grundsein einer Nichtigkeit zu Recht besteht.“ (SuZ 285) Was bedeutet doch diese Schuld des Daseins, da das Dasein seines Seins schuldig ist, solange es als Sorge existiert? Der Begriff der Schuld des Daseins als Verantwortlichkeit soll von der alltäglichen Anwendung dieses Begriffs abweichend verstanden werden. Wenn man etwas jemanden schuldet, muss man ihm etwas zurückgeben. Schuldigsein bezieht sich normalerweise auf „Mangelhaftigkeit“ eines Vorhandenseins.69 Hingegen ist die Schuld des Daseins eine ontologische Schuld,70 die im Wesen des menschlichen und endlichen Daseins sich gründet. Schuldigsein des Daseins bedeutet sein Verantwortlichsein für seine Nichtigkeit, den Tod. Diese Nichtigkeit des Daseins besagt aber keine Mangelhaftigkeit des Seins, sondern sie konstituiert seine Existenz. Das Schuldigsein bzw. das Verantwortlichsein des Daseins für seine Nichtigkeit konstituiert sein Sein, das wir Sorge nennen (vgl. SuZ 286). Sofern das Dasein als sich-verstehendes Seiendes existiert, ist es seines Seins schuldig. „Seiendes, dessen Sein Sorge ist, kann sich nicht nur mit faktischer Schuld beladen, sondern ist im Grunde seines Seins schuldig, welches Schuldigsein allererst die ontologische Bedingung dafür gibt, dass das Dasein faktisch existierend schuldig werden kann.“ (SuZ 286) 69 Andreas Luckner führt die Unterschiede zwischen dem alltäglichen Begriff der Schuld in Vergleich zu dem ontologischen Begriff Schuld des Daseins näher aus: „Normalerweise heißt „jemandem etwas schulden“: ihm etwas zurückgeben müssen, worauf er einen Anspruch hat. „Schulden haben“ ist damit ein Modus des Mitseins, wie Entleihen, Rauben, Vorenthalten usw. Übertragen heißt „schuld sein an etwas“ auch: Verursacher sein von etwas. Man macht sich schuldig, wenn man ein Recht verletzt. Man macht sich schuldig am Anderen, wenn man dessen Existenz gefährdet. Schuld wird in allen diesen Fällen als ein Mangel aufgefaßt, Mangel ist ja nichts anderes als ein Fehlen von etwas, ein Nichtvorhandensein. Von hier aus ist schon klar, daß es sich beim existenzialen Begriff von Schuld nicht um einen (durch Strafe) zu korrigierenden Mangel bzw. Fehler handelt: Dasein ist nicht in der Seinsweise der Vorhandenheit, sondern der Existenz.“ (Andreas Luckner: Martin Heidegger Sein und Zeit, 2. Auflage, Paderborn 1997, S. 118). 70 „Ontological guilt, being a condition of human existence, is originary and ineradicable.“ (Stephen Mulhall: Heidegger and Being and Time, London 1996, S. 128).

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4. Kap.: Schuldigsein: Nichtigkeit und Freiheit

Wie kann das Dasein aber seines Seins schuldig sein? Dasein ist im Alltag „in das Man“ (SuZ 287) verloren und verfallen, dabei kann es nicht eigentlich für seine Existenz verantwortlich sein. Deswegen verlangt die Verantwortlichkeit des Daseins einen Akt, der das Dasein sich selbst aus der Verlorenheit rufen lässt, d. h. den Akt des Gewissens. Das heißt: das Gewissen des Daseins muss sich selbst aus des Verfallens zurückrufen. Durch das Sichrufen des Gewissens kann das Dasein schuldig sein. Der Ruf des Gewissens gibt dem Dasein zu verstehen, dass es aus der Verlorenheit in das Man sich zu ihm selbst zurückholen soll, das heißt: Schuldig ist (vgl. SuZ 287). Schuld enthüllt sowohl die Struktur des grund-seienden Daseins als auch die ursprüngliche Nichtigkeit und Freiheit als Grund der Existenz des Daseins. In diesem Sinne ist die Schuld ein ontisches Phänomen des Daseins, das die ontologische Struktur des Daseins als geworfener Entwurf offenbart.71 Wie dieses Phänomen sich zeigt, d. h. der Akt, der den Grund der Existenz des Daseins zur Erscheinung bringt, heißt das Selbstrufen des Daseins in seinem Gewissen. Im Alltag aber sorgen wir uns nicht Tag und Nacht nur um den Tod. Das ist die uneigentliche Seinsweise des Daseins. Das ist normal für unser alltägliches Leben. Nach Heidegger meint diese Uneigentlichkeit des Alltags für das Dasein keine sekundäre oder negative Seite des Seins des Daseins. Vielmehr ist dieses Verfallen, die uneigentliche Art und Weise des Seins notwendig für die Existenz des Daseins. In diesem Sinne trägt der Ausdruck „Verlorenheit in das Man“ keine negative oder inferiore Konnotation. Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit bezüglich der Seinsweise des Daseins besagt keine Gegenüberstellung in „gut“ und „böse“. Wie kommt denn nicht nur die eigentliche, sondern auch die uneigentliche Seinsweise des Daseins zur Erscheinung? Eine Antwort für diese phänomenologische Frage finde ich im Wesen der Daseinsexistenz selbst als Geschehen. Das geschehende Dasein hat seine eigene Geschichte und eine Geschichte kann erzählt werden. Durch die Erzählung seiner eigenen Geschichte versteht das Dasein sein Sein als seiniges, sowohl eigentlich als auch uneigentlich. Die Individualität des jeweiligen Daseins und die Einzelheiten seiner Geschichte werden in dem Akt der Erzählung nicht in das Man verloren (vgl. SuZ 274).72 Im 8. Kapitel

71 „Being guilty is a matter of being responsible for, being the basis of, a nullity. But then the ontic phenomenon of guilt reflects the fundamental ontological structure of Dasein’s existence as thrown projection.“ (Mulhall, Heidegger, S. 128) 72 „Die Verlorenheit in das Man“ (SuZ 274) in Bezug auf das Sichrufen des Daseins bedeutet nicht die „Verlorenheit der Einzelheiten des individuellen Daseins“. Allerdings der Ausdruck „Man“ wird in dieser Dissertation abweichend von der Bedeutung Heideggers verstanden. Das Sein des Daseins als je seiniges bzw. individuelles ist verloren nicht in den uneigentlichen Alltag, sondern in das anonyme Subjekt der traditionellen Metaphysik als Seiendes, das ich als „das Man“ verstehe.

§ 18 Selbstrufen des Daseins: Freiheit

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wird die Phänomenologie des Daseins in Bezug auf die Erzählung seiner existenzialen Geschichte dargestellt.

§ 18 Selbstrufen des Daseins: Freiheit 1. Selbstrufen des Daseins als der Anfang der Erzählung In diesem Zusammenhang bezeichne ich den Akt des Zurückrufens seines Selbst von der „Verlorenheit in das Man“ (SuZ 274) als den Grund für den Akt der Erzählung. In dem rein rational reduzierten Begriff der Subjektivität unterliegt die Seinigkeit des Daseins als praktisch lebendes Individuum dem Anonymus vom „Man“. Jedoch kann die Individualität und die Einzelheit des Daseins als „je meines“ (SuZ 278) durch den phänomenologischen Akt des Sich-zeigens gerettet werden, wenn das Dasein „im Gewissen sich selbst“ (SuZ 275) ruft. Der Ruf des Daseins im Gewissen ist der „Ruf der Sorge“ (SuZ 277), der „das Selbst des Daseins“ (SuZ 274) aus der „Verlorenheit in das Man“ (SuZ 274) aufruft. Dieser Akt des Selbstrufens ermöglicht das Erzählen seiner eigenen Geschichte des Daseins. Als zeitliches Geschehen erzählt das Dasein seine eigene Geschichte. Mit dem Selbstruf des Daseins kann der Prozess des „Sich-um-seinSein-Kümmerns“ 73 bzw. der Sorge anfangen, denn das Gewissen ist „im Grunde und Wesen je meines“ (SuZ 278), wie meine eigenste Seinsmöglichkeit des Todes im Grunde und Wesen je meines ist. Demgemäß reflektiert die Struktur des Prozesses Sorge die Struktur des Rufs: „Der Ruf kommt aus mir und doch über mich.“ (SuZ 275) Aus diesem Grund bezeichnet Heidegger den Ruf des Gewissens als den vorrufenden Rückruf (vgl. SuZ 287). Nicht nur der Rufer bzw. Erzähler, sondern auch der Zuhörer dieses Rufens ist das Dasein selbst. Das Erzählen des geschehenden Daseins ist ein ontologischer Begriff. Und der Sinn des Erzählens des Daseins liegt in dem Geschehen der Existenz selbst. In diesem Zusammenhang fungiert das Erzählen des Daseins als ein ontologischer Prozess, der durch das Phänomen des Geschehens das Seinsverständnis seines Selbst ermöglicht. Im Prozess des Erzählens enthüllt sich der Prozess der Daseinsexistenz als Sorge. Allerdings ist die Geschichte, die das Dasein erzählt, keine Geschichte vom Seienden in der Welt, sondern die Geschichte seines Seins selbst. Der erste Schritt der Philosophie liegt im „Keine-Geschichtevon-den-Seienden-in-der-Welt-Erzählen“. Vielmehr soll die Philosophie des Daseins die Geschichte seines eigensten Seinkönnen erzählen. Wenn die Angst das Dasein zum Tode bringt, beginnt der phänomenologische Prozess des verstehenden Existierens des Daseins. Durch den Prozess des Erzäh73 In diesem Zusammenhang interpretiere ich den Begriff „cura“ in einer positiven Hinsicht. Das Wort „Sich-kümmern“ impliziert die positive Interpretation der Sorge als „Verantwortlichsein für mein eigenes Leben bzw. eigentliche und uneigentliche Seinsmöglichkeiten“.

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4. Kap.: Schuldigsein: Nichtigkeit und Freiheit

lens kommt das Geschehen bzw. die Geschichte des Daseins zur Erscheinung. Das heißt: Das Phänomen bzw. das, was in diesem Prozess des „Sich-Zeigens“ zur Erscheinung kommt, ist die Existenz des Daseins selbst als eine aktive und lebendige Bewegung im Geschehen, d. h. das Sein als Sorge. Wenn die Angst als die Grundbefindlichkeit den Prozess der Phänomenalisierung74 anfangen lässt, ist das die Sorge selbst als das Sein des Daseins, das sichtbar wird. Was das Dasein für sich selbst erzählt, ist sein Sein selbst, das als Sorge sich im Prozess des geworfenen Entwurfs enthüllt. Aufgrund dessen, dass das Dasein so existiert, dass es zeitlich geschieht, kann und dergleichen soll es sein Sein als Geschichte verstehen, d. h. erzählen. Jedoch besteht das Merkmal der Erzählung seiner eigenen Geschichte des Daseins darin, dass das Dasein als der Erzähler seiner eigensten Geschichte auch der Zuhörer seiner Geschichte ist. Für sich selbst erzählt das Dasein seine eigene Geschichte. 2. Selbstrufen des Gewissens Wie der Begriff Schuld ist Gewissen auch ein gewöhnlicher Begriff, der im Alltag bezüglich der moralischen Haltungen und Gesinnungen häufig verwendet wird. Der Begriff Gewissen soll auch wie die ontologische Auslegung der Schuld unterschiedlich von dem alltäglichen Verständnis des Begriffs angewandt werden. Im ontologischen Sinne bedeutet das Gewissen des Daseins nicht ein gutes oder schlechtes Gewissen, in das man jemandem redet. Das Gewissen des Daseins aus ontologischer Perspektive weist auf weder moralische Schänden noch Gewissensangst in der sittlichen Beziehung hin, sondern es offenbart sich als ein Ruf, der sich in der Sorge gründet. Der Ruf im Gewissen ist das Selbstrufen des Daseins aus dem Verfallen-Sein in das Man75. Das Dasein muss sich selbst im Gewissen rufen76, damit es sein Sein frei und eigentlich als seiniges zu sein hat. Wie kann 74

In dem Sinne von „zur Erscheinung bringen.“ Das Verfallen bzw. die Verlorenheit in das Man ist im Rahmen der Daseinsanalytik uneigentlich, dies gibt aber keine ethische Bewertung ab, wie in der Struktur der Gegenüberstellung von gut vs. böse oder moralisch vs. unmoralisch. 76 Den begrifflichen Hintergrund des Rufs und des Hörens erklärt Heidegger in „Sein und Zeit“ nicht. Inwiefern kann und soll der Begriff Ruf (ebenso wie der Begriff Schuld) im Zusammenhang mit dem eigentlichen Seinsverstehen des Daseins gesehen werden? Einen Hinweis für eine mögliche Antwort auf diese Frage finde ich in der Interpretation der Daseinsanalytik in Bezug auf die Auslegung der außergöttlichen Welt im theogonischen Prozess. In der „Philosophie der Offenbarung“ schreibt Schelling: „Die jetzige Welt ist eine außergöttliche; wir müssen verlangen, dass sie als solche uns begreiflich werde. Dazu ruft uns das Gefühl unserer Freiheit auf, dass nur in einem freien Verhältnis zu Gott befriedigt ist.“ (Schelling: Die Entstehung der außergöttlichen Welt. Veränderungen im theogonischen Prozess, in: Philosophie der Offenbarung. Berliner Vorlesung Wintersemester 1841/42, Frankfurt am Main 1977, S. 198). Durch den Akt des Aufrufens des Gefühls der Freiheit von sich selbst kann das menschliche Dasein den geschehenden Prozess der außergöttlichen bzw. menschlichen Welt. In dieser Erläuterung enthüllt Schelling die notwendige Verbindung zwischen einem aktiven Akt 75

§ 18 Selbstrufen des Daseins: Freiheit

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es sich selbst rufen? Durch Angst kann dieser Ruf gestimmt werden (vgl. SuZ 277), weil das Dasein durch den Akt des Selbstrufens sich selbst aus der Verlorenheit in das Man zurückrufen und sich ängstigend zu seiner eigensten Seinsmöglichkeit vorlaufen lässt. Das heißt: das Dasein ruft sich selbst aus der alltäglichen und uneigentlichen Art und Weise des Lebens zurück zu dem eigentlichen Seinsverstehen, d. h. dem Selbstverstehen aus der Möglichkeit des Nicht-Seins bzw. dem Tod als Grund des Prozesses der Existenz, wenn Angst das Dasein zu diesem Ende des Nichts bringt. In diesem Kontext meint Heidegger, dass der Ruf des Daseins „im unheimlichen77 Modus des Schweigens“ (SuZ 277) redet. Auf der Angst basiert die unheimliche Stimme. Der Ruf redet demnach Nichts, weil die Angst, nämlich die Grundbefindlichkeit dem Dasein das Nichts78 als das eigenste Seinkönnen des Daseins erschließt. Das bedeutet, dass der Ruf sich im Grunde auf die Nichtigkeit des Daseins bezieht. Der Modus des Schweigens richtet sich auf Nichts. Das heißt: Der Inhalt des Rufs ist Nichts, d. h. die Seinsmöglichkeit des Todes. Durch den Ruf kann sich das Dasein in seiner Geworfenheit auf sein eigenstes Seinkönnen entwerfen, das im Grunde genommen sein Nichts, d. h. die Möglichkeit des Todes als seine eigenste Seinsmöglichkeit bedeutet (vgl. SuZ 277). „Durch und durch von Nichtigkeit“ (SuZ 285) ist das Sein des Daseins als Sorge bzw. der Prozess des geworfenen Entwurfs durchgesetzt. Das eigenste Seinkönnen des Daseins liegt in seinem endlichen Wesen. Demnach meint Heidegger, dass der Ruf des Gewissens inhaltlich Nichts offenbart. In seiner Geworfenheit ruft sich das Sich-um-Nichts-ängstigende-Dasein, das ist der Ruf der Sorge (vgl. SuZ 277). Jedoch ist der Rufer und der Zuhörer dieses Rufes zugleich das Dasein selbst. Im Gewissen ruft das Dasein sich selbst. „Im Grunde und Wesen“ (SuZ 278) ist dieses Gewissen demnach „je meines“ (SuZ 278), d. h. das eigene des jeweiligen Daseins. Das rechte Hören des Anrufs kommt daher aus „einem Sichverstehen in seinem eigensten Seinkönnen“ (SuZ 287).79 Dieses Sichverstehen bezeichnet Heidegger als „das Sichentwerfen auf das eigenste eigentliche Schuldigwerdendes Menschen (Sich-Aufrufen) und der Möglichkeit des Verstehens der Welt und des Geschehens des Menschen, das nach Schelling zum Verstehen der Schöpfung Gottes. 77 Der unheimliche Modus bezieht sich auf die Grundbefindlichkeit der Angst. Heidegger verwendet diesen Begriff Unheimlichkeit mit seiner eigenen Interpretation. Anstatt der alltäglichen Bedeutung des Wortes interpretiert er diesen Begriff als die Kombination dem Präfix „un-“ und dem Wort „Heim“ im Sinne des „zu Hause.“ In dieser Hinsicht bedeutet das Adjektiv „unheimlich“ „nicht zu Hause“ also „ungemütlich wie nicht zu Hause.“ 78 Nichts meint in diesem Zusammenhang nicht „Nicht-vorhandensein“ in dem Sinne von „es gibt keine Gegenstände,“ sondern die Nichtigkeit des Daseins, d. h. seinen Tod. Denn der Inhalt des Rufs der Sorge ontologisch ist Nichts, redet der Ruf logischerweise im Modus des Schweigens. 79 Aus diesem Grund ist das Verstehen das Hören. (Vgl. Verstehen ist Hören: SuZ 183, Fußnote.)

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4. Kap.: Schuldigsein: Nichtigkeit und Freiheit

können“ (SuZ 287). In diesem Zusammenhang bedeutet das Schuldigsein das Verantwortlichsein des Daseins für sein eigenstes Seinkönnen bzw. die Seinsmöglichkeit der Nichtigkeit, die im Grunde „das entschlossene existenzielle Verstehen des Nichtigkeit“ (SuZ 330) besagt. Im Sichverstehen des Daseins liegt der ekstatische Charakter der ursprünglichen Zeit (vgl. SuZ 330), der die Struktur des „Auf-sich-zukommens“ 80 der Zeitlichkeit enthüllt. Das ursprüngliche und eigentliche Auf-sich-zukommen zeigt den Sinn des Existierens, d. h. woraufhin sich der Prozess der Existenz richtet, als Prozess des „Seins-zum-Tode“. Bereits manifestiert der Ausdruck „Auf-sich-Kommen“ in sich selbst die Prozessualität und die Bewegtheit des existenzialen Prozesses als der Sinn der Sorge. In diesem beweglichen bzw. prozessualen Sinn der Sorge ruft das Dasein sich selbst und mit diesem Selbstrufen kann es sein Sein zum Ganzen, d. h. die Grundverfassung seines Seins im Ganzen verstehen. Im Verstehen seines Seins zum Ganzen versteht das Dasein sein Sein nicht nur eigentlich, sondern auch uneigentlich. Das heißt, im ganzen Prozess des „Seins-zum-Tode“ ist das Dasein nicht nur immer eigentlich bzw. in dem Gedanken an den Tod, d. h. in der Angst, sondern meistens, vielmehr zunächst und zumeist ist es im Alltag uneigentlich. Das Selbstrufen fängt in diesem uneigentlichen Moment an und das Rufen ermöglicht das eigentliche Verstehen des Daseins. Dennoch ist der existenziale Prozess des Verstehens nicht vollkommen, wenn das Dasein sein uneigentliches Leben aufgibt oder völlig verliert. Zuerst ist es überhaupt unmöglich, das Sein des Daseins ohne den Anschluss an den uneigentliche Teil bzw. das normale und alltägliche Leben zu denken. Denn, im Prozess des Seins-zum-Tode als Geschehen ist das alltägliche und uneigentliche Leben auch drin. Nach dem Zurückrufen seines Selbst muss das Dasein jetzt sein Sein, d. h. sein Geschehen als seine eigene Geschichte erzählen, um sich selbst im Ganzen zu verstehen. In diesem Zusammenhang impliziert die „Verlorenheit in das Man“ nicht eine negative Interpretation des alltäglichen Lebens oder die sekundäre Stellung der uneigentlichen Art und Weise des Seins, sondern die „Verlorenheit“ der Individualität und Einzelheiten, d. h. der Seinigkeit des je lebendigen Daseins unter dem rational reduzierten Begriff des „Ich“ oder „Subjekt“. 3. Die Freiheit zum Tode Aus sich und doch „über sich“ kommt das Rufen des Daseins (vgl. SuZ 275). Insofern ist der Ruf des Daseins das Selbstrufen. Der Ausdruck „aus mir und über mich selbst“ weist auf die Möglichkeit und die Struktur der Freiheit des Daseins hin. Als Akt des Daseins offenbart das Selbstrufen „aus mir und über mich selbst“ das Schuldigsein des Daseins. Schuld und Freiheit: allerdings inwiefern können diese beiden zusammenhängen? Ist es nicht eher so, dass man frei von 80

Siehe 2. Kapitel: Zeitlichkeit.

§ 18 Selbstrufen des Daseins: Freiheit

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Schuld sein muss? Wie kann Schuld das Dasein durch das Selbstrufen frei sein lassen? Wenn das Dasein vor seiner Nichtigkeit bzw. seinem Tod steht, lässt Angst das Dasein sich rufen – aus der Verlorenheit in das Man. Dann hört das Dasein Nichts, wenn es sich ängstigend selbst ruft. Weil seine Angst auf dem Nichts beruht. In der Nichtigkeit, Endlichkeit gründet sich das existenziale Verstehen des Daseins, und gleichermaßen hört das Dasein Nichts beim Sich-Rufen. Angst, die das Dasein vor den Tod bringt, ist aber nicht das selbe Gefühl von der Furcht vor etwas. Der Gegenstand der Angst ist Nichts, während Furcht immer Furcht vor etwas ist. Das Verstehen der Möglichkeit der Nichtigkeit ruft die Angst hervor. Keine alltägliche und anheimelnde Situation ist es für das Dasein, zu seinem Tod vorzulaufen, d. h. vor der Möglichkeit seiner Nichtigkeit zu stehen. Diese Angst lässt das Dasein sich rufen und zu seinem Tod vorlaufen. Den Prozess des Vorlaufens-zum-Tode des Daseins bezeichnet Heidegger als das Sein des Daseins selbst, d. h. Sorge. Weil das Dasein schuldig für sein eigenstes Seinkönnen, d. h. Tod ist, kann es sich geworfen-sichentwerfend um sein Sein sorgen. Sorge als das Übernehmen der Verantwortlichkeit für seinen eigenen Tod meint die Freiheit des Daseins. Man kann also die Prozedur, das gänzliche Schema der Existenz des menschlichen, d.h. des endlichen doch freien Daseins als Sein-zum-Tode durch Angst, Schuld und Sorge wie folgt auffassen: 1. Das Dasein ist in die Möglichkeit des Todes geworfen; 2. Angst bringt das Dasein selbst vor seine eigenste Seinsmöglichkeit bzw. den Tod, und lässt den Prozess der Sorge anfangen; 3. das Dasein sorgt sich um seinen Tod, das heißt, sein Sein, weil es für seinen Tod in dem Sinne von seinem eigenen Sein schuldig bzw. verantwortlich ist. Daher ist diese Schuld der Grund dafür, dass das Dasein sich um seine Nichtigkeit kümmern kann. Jedoch gründet sich dieser Grund in der Freiheit des Daseins. Denn Verantwortung setzt das Freisein von dem Träger der Verantwortung voraus. Das Freisein des Daseins ist sein Verantwortlichseinkönnen. Es will überhaupt erst für seinen Tod verantwortlich sein, weil es immer schon in ihn geworfen ist, solange es existiert. Sein Worumwillen des Seins ist seine Möglichkeit der Unmöglichkeit – Endlichkeit. 4. Die Bedeutung der Schuld im menschlichen Freisein Inwiefern verwendet Heidegger aber den Begriff Schuld im Rahmen der Auslegung der menschlichen Existenz? Aus welchem Grund bezeichnet er das Verantwortlichsein des Daseins für seinen Tod als Schuldigsein? Warum nennt er das Schuldigsein nicht einfach Verantwortlichsein? Woher kommt dieser Begriff besonders im Zusammenhang mit der menschlichen Freiheit? Diese Fragen müssen noch gestellt werden, obgleich – oder weil – Heidegger selbst den Grund der Anwendung dieses Begriffs nicht erklärt. Vielmehr scheint die Verbindung dieser

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4. Kap.: Schuldigsein: Nichtigkeit und Freiheit

beiden Begriffe widersprüchlich: Schuld als Grund der menschlichen Freiheit. Ist es nicht normalerweise so, dass man nicht frei sein kann, wenn man eine Schuld tragen muss? Die Erläuterung, dass der Begriff der Schuld im Rahmen der Daseinsanalytik im existenzialen Sinne bzw. abweichend von der normalen Anwendung des Begriffs verwendet wird, erklärt auch nicht völlig, wieso der Begriff Schuld anstatt des eindeutigen Worts „Verantwortung“ angewandt werden muss. Sicher scheint es nicht so, dass Heidegger lediglich seiner Analyse noch einen weiteren verwirrenden Begriff hinzufügen wollte. Warum also muss er die Verantwortung des menschlichen Daseins für seine Nichtigkeit als „Schuld“ betrachten? Einen möglichen Hinweis auf die Antwort für diese Frage sehe ich im Buch Genesis 3: „Und Gott sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!“ 81 Was in der Schöpfungsgeschichte Gottes den Anfang des menschlichen, d. h. endlichen Seins ermöglicht, ist der Sündenfall des Menschen. Der Tod ist das Sein des Menschen geworden, als Adam und Eva schuldig geworden sind. Dieses Ereignis würde doch im daseinsphilosophischen Kontext nicht als Sünde, sondern als Schuld bezeichnet. Das Merkmal des Begriffs Schuld in der Daseinsanalytik besteht darin, dass das Schuldigsein keine Erbsünde im moralischen und religiösen Sinn bedeutet. Das heißt: das Schuldigsein des Daseins weist auf keinen negativen Grund des Sündenfalls der Menschheit, sondern auf das Freisein des menschlichen Daseins mit der Verantwortung für seine eigene Existenz, d. h. sein Sein und seinen Tod. Durch den versteckten Hinweis auf die Geschichte des Anfangs des endlichen Seins des Menschen und die Nebenbedeutung der Verantwortlichkeit bringt der Begriff Schuld bzw. Schuldigsein eher eine positive Annahme der beiden entgegen gesetzten Seiten des Wesens des menschlichen Seins zum Ausdruck: Endlichkeit und Freiheit in seinem Grunde und Wesen. Schuldig ist man, das heißt, verantwortlich für die Endlichkeit seines Seins. Das bedeutet auch, der Mensch war frei, als er die Sünde begangen hat. Man kann nur für etwas verantwortlich sein, wenn man frei ist. Die Schuld öffnet dem Menschen das Schweigen des Nichts. Das Nichts lässt den Menschen die Verantwortung für sein eigenes Sein, d. h. seinen Tod tragen. In dieser Hinsicht ist Schuld eine Antwort auf die Frage, warum der Mensch endlich ist, d. h. warum das Dasein sterben muss. Schuld als Grund also gründet sich dennoch im Freisein des Daseins. 5. Aus mir und über mich Das Merkmal des Rufs des Daseins besteht darin, dass der Akt des Selbstrufens im Gewissen aus Verfallen „aus dem Dasein sich selbst und doch über 81

Genesis 3, 22.

§ 18 Selbstrufen des Daseins: Freiheit

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sich“ kommt. Weil das Gewissen je meines ist, kommt der Ruf aus mir und über mich (vgl. SuZ 275). Die Aus-mir-über-mich Struktur wurde bereits im Bezug auf die ekstatische Struktur der Zeitlichkeit und die Transzendenz des Daseins dargelegt: Außer sich für sich selbst des „™kstatikün“ 82; Über sich selbst aus der Transzendenz.83 Wie die Struktur der Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge, bewegt sich der Prozess Aus-mir-über-mich in einer zirkularen Form. Im Grunde genommen manifestiert diese zirkulare Struktur im lebendigen Prozess des Rufs die „Grundstruktur“ der Existenz bzw. der Seinsweise des Daseins: Die zeitliche und ekstatische Struktur der Sorge als geworfener Entwurf; die Struktur der Transzendenz und der Freiheit. Eine zirkulare und kontinuierliche Bewegung in der Einheit zwischen den beiden Punkten ist die Grundart des Seins des Daseins, deren ursprünglicher Sinn in der eigensten Nichtigkeit des Daseins liegt.84 Im nächsten Kapitel werde ich die Transzendenz des Daseins und ihre Struktur als Über sich selbst aus zur Welt näher erläutern.

82

Siehe 2. Kapitel. Siehe 5. Kapitel. 84 Im 6. Kapitel werde ich Diskurse über diese Grundstruktur des Prozesses darstellen und sie noch näher analysieren. 83

5. Kapitel

Transzendenz und Freiheit § 19 Zum Begriff der Transzendenz 1. Zur Definition In der Daseinsanalytik wird der Begriff der Transzendenz wie der Begriff des Daseins in ihrer einzigartigen Art und Weise der Auslegung verwendet. Die Fülle der Bedeutungen, die der Begriff Transzendenz verleiht, wurzelt in der Geschichte der Philosophie. Schon in der vorsokratischen Philosophie beginnt die Begriffs- und Problemgeschichte der Transzendenz.85 Notwendigerweise hängt das Verständnis des Begriffs Transzendenz mit dem Begriff Immanenz zusammen. Wenn der Begriff Transzendenz, der von dem lateinischen Verbum transcendere herstammt, „hinübersteigen“ oder „überschreiten“ besagt, bedeutet der Begriff Immanenz von immanere „darin bleiben“ als die „komplementäre Gegenvorstellung“ 86 der Transzendenz87. Eine Definition der Transzendenz lautet wie folgt: „Transzendenz kann einmal die absolute Differenz zwischen dem Bedingten und seinem Grund bezeichnen als auch diesen Grund selbst sowie den Akt der Überschreitens (transzendieren). Leitend für die Begriffsbildung ist zunächst ein räumliches Schema.“ 88 Bei dieser Begriffsbestimmung werden schon einige Schlüsselbegriffe zum Verständnis des Begriffs Transzendenz erwähnt: Hauptsächlich geht es um das Problem des Grundes, Überschreitens bezüglich räumliches Schemas. Die Frage nach dem Begriff der Transzendenz führt schließlich zur Frage nach den Begriffen „Grund“, „das Absoulte“, „Subjekt“ und „Welt“. Darin besteht die fundamentale Frage nach dem Grund des Seins, der letztlich auf das Problem der Freiheit eingeht. 2. Die Begriffsgeschichte In der Begriffsgeschichte der Transzendenz liegen die kritischen Momente zuerst in der theologischen Tradition der Interpretation der Begriffe Transzendenz 85 „Sowie in der philosophischen Kritik an der griechischen Mythologie und ihren Göttern.“ (Christian Danz: Immanenz/Transzendenz, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie der Philosophie, Hamburg 2010, 1080) 86 Danz, Immanenz/Transzendenz, 1079b. 87 Vgl. Danz, Immanenz/Transzendenz, 1079b. 88 Danz, Immanenz/Transzendenz, 1079b.

§ 19 Zum Begriff der Transzendenz

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und Immanenz, danach in der Transzendentalphilosophie von Kant, und zuletzt in der Phänomenologie Husserls. In den nächsten Abschnitten soll die Begriffsund Problemgeschichte des Begriffs Transzendenz in drei Teilen nach diesen entscheidenden Momenten der Geschichte eingeteilt und näher erörtert werden. a) Transzendenz als Gottesgedanke Die Idee der Transzendenz bezieht sich auf den letzten Grund, der selbst keiner weiteren Begründung bedarf. In dieser Beziehung wurde der Begriff Transzendenz in ihrem Zusammenhang mit dem Gottesbegriff betrachtet und behandelt. Platon stellt zuerst die Idee der Transzendenz in Bezug auf den Gottesbegriff in der Politeia dar. In der Nachfolge Platons entwickelten Denker wie Augustinus und der Neuplatoniker Proklos den Begriff der Transzendenz weiter. Darauffolgend eröffnet Aristoteles eine Möglichkeit für ein neues Verständnis des Begriffs Transzendenz in Bezug auf den unbewegten Beweger89. Im Mittelalter führten verschiedene Philosophen und Theologen die Idee der Transzendenz in Hinsicht auf den transzendierenden Gott als causa prima und causa finalis ein.90 b) Transzendentalphilosophie Kants In der Neuzeit markiert die Transzendentalphilosophie Kants eine wichtige Wende zum Verständnis des Begriffs Transzendenz. Zum ersten bestimmt er in seiner Erkenntnistheorie die Begriffe Transzendenz und Immanenz neu und unterscheidet die Bedeutungen der beiden Ausdrücke „transzendent“ und „transzendental“ 91. Das Transzendente bedeutet dasjenige, was unsere Erfahrung überschreitet.92 Demgegenüber bezeichnet Kant als transzendental „alle Erkenntnis a priori, die sich nicht mit den Dingen selbst, sondern mit der Erkenntnis derselben, sofern sie a priori möglich sein soll, beschäftigt“ 93. Das heißt: für Kant ist alle Erkenntnis transzendental. In dieser Beziehung wird die Verbindung des Begriffs Transzendenz mit der erkenntnistheoretischen Fragestellung dargestellt. Die Idee der Transzendenz Kants wurde von den nachkantischen Denkern des Deutschen Idealismus Fichte, Schelling und Hegel aufgenommen. Diese nach-

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Aristoteles, Metaphysik, XII. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1080–1080b. 91 Offensichtlich merkt sich Heidegger auch – wie die anderen Nachkantischen Philosophen z. B. Husserl – die Differenz zwischen den Begriffen „transzendent“ und „transzendental“ in seiner Daseinsanalytik. In Bezug auf die sich-zeitigende Welt bezeichnet er die Welt als transzendent. 92 Friedrich Kirchner: Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe, Leipzig 1907. 93 Kirchner, Grundbegriffe: Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt am Main 1974, Einleitung S. 1–16. 90

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5. Kap.: Transzendenz und Freiheit

kantischen Denker arbeiteten nun an dem Begriff der Transzendenz mit Hilfe eines neuen Begriff des „Absoluten“.94 c) Transzendentale Phänomenologie Husserls In der Philosophie des 20. Jahrhunderts bezieht sich der Begriff Transzendenz auf „eine Weise von Reflexivität im Selbstverhältnis des menschlichen Bewusstseins“.95 Im Zentrum der neuen Strömung der Auslegung der Transzendenz als Bewusstsein im 20. Jahrhundert steht die transzendentale Phänomenologie Edmund Husserls. Seine transzendentale Phänomenologie verdankt ihre grundsätzliche Idee der neuzeitlichen bzw. kantischen Transzendentalphilosophie, wie Husserl selbst erläutert.96 Freilich verwendet er den Begriff Transzendenz abweichend von den vorhergehenden Theorien: In der Phänomenologie Husserls wird Transzendenz als „Abwehr eines naiven Realismus“ 97 bezeichnet. Demzufolge wird die transzendentale Philosophie in der Phänomenologie Husserls dem Objektivismus entgegengesetzt.98 Das Merkmal des transzendentalen Bewusstseins liegt darin, dass sich der „Seinssinn“ der vorgegebenen Welt als „subjektives Gebilde“ offenbart. Hingegen geht es dem Objektivismus um die „objektive Wahrheit“ von der durch Erfahrung selbstverständlich vorgegebenen Welt.99 Für Husserl ist das Bewusstsein immer das Bewusstsein von etwas, weil das Bewusstsein in seinem Akt immer etwas – die Gegenstände der Erkenntnis, d. h. die Welt – offenbart. Anders ausgedrückt: Das Bewusstsein bringt die Welt in seinem Akt zur Erscheinung. Die Charakteristik des Bewusstseins, dass das Bewusstsein die Welt als Gegenstände der Erkenntnis, als Phänomen – Bewusstseinsphänomen100 – zur Erscheinung bringt bzw. durchleuchtet, betrachtet Hus94 Schelling schreibt, dass die Philosophie Kants nur die Resultate gegeben hat, wobei die Prämissen noch fehlen. (Vgl. F. W. J. Schelling/H. Fuhrmans (Hrsg.): Briefe und Dokumente, Bd. II, Bonn, Bouvier 1962–1975, S. 57, in: Alexander Schnell: Der Transzendentale Idealismus Fichtes und Schellings, S. 1.) Das absolute Sein Fichtes und die absolute Identität Schellings fangen „mit dem Ziel, diese Prämissen zu liefern, [. . .] den Status des höchsten Prinzips der Kantischen Philosophie aufzuklären und dieses als ,absolutes Ich‘ umzubestimmen“ (Schnell, Idealismus, S. 2), an. 95 Danz, Immanenz/Transzendenz, 1081b. 96 Vgl. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 1982, S. 108 ff. 97 Danz, Immanenz/Transzendenz, 1081b. 98 Vgl. Husserl, Krisis, S. 75 ff. 99 Vgl. Husserl, Krisis, S. 75. 100 Für Husserl bedeutet Bewusstsein nicht die ideelle Subjektivität, die von der Welt völlig getrennt ist, sondern, dass das Bewusstsein und sein Objekt sich vereinigen. Die Vereinigung bzw. die Einheit des Subjekts und des Objekts der Erkenntnis wird ermöglicht durch die „intentionalen Erlebnisse“, die immanent bezogen sind. Im folgenden Zitat wird der Charakter der intentionalen Erlebnisse ausführlich erläutert: „Unter immanent gerichteten Akten, allgemeiner gefaßt, unter immanent bezogenen intentionalen Erlebnissen verstehen wir solche, zu deren Wesen es gehört, daß ihre intentionalen Ge-

§ 19 Zum Begriff der Transzendenz

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serl als die „Intentionalität“ des Bewusstseins. „Das Bewusstsein ist ,intentional‘, das heißt: es ist in jedem seiner Akte Bewußtsein-von-etwas.“ 101 Der Akt des Bewusstseins bedeutet demnach das „die Welt als Bewusstseinsphänomen zur Erscheinung bringen“. Aus diesem Grund betrachtet Husserl das Bewusstsein als den „Ort des Erscheinens der Welt“.102 In der transzendentalen Phänomenologie Husserls zeigt sich die Welt dem Bewusstsein in jedem seiner Akte, damit kann die Welt als Objekt der Erkenntnis des Bewusstseins bzw. Subjekts erkannt werden. „Die transzendentale Phänomenologie sieht nicht von der Welt ab zugunsten des Bewußtseins, sondern ihr Interesse gilt gerade in der Durchleuchtung der Bewußtseinsphänomene der Welt.“ 103 In der transzendentalen Phänomenologie Husserls sehen wir einen weiteren wichtigen Begriff zum Verständnis der Transzendenz in Bezug auf Heideggers Anwendung des Begriffs in der Daseinsanalytik: „Husserls prägnante Metapher für Transzendenz ist der Horizont, in dem jede Erfahrung steht und durch den sie ihre Bedeutung erhält. Das Moment des Überschreitens, welches auch in dem überlieferten Transzendenz Begriff aufgenommen ist, kommt mit dem Horizontbegriff zum Ausdruck.“ 104 Im folgenden Zitat wird die Anwendungslogik des Begriffs Horizont bei Husserl in Beziehung auf die Transzendenz näher erklärt: „Husserl hat die alltagssprachliche Bedeutung des Wortes ,Horizont‘ aufgenomgenstände, wenn sie überhaupt existieren, zu demselben Erlebnisstrom gehören wie sie selbst. Das trifft also z. B. überall zu, wo ein Akt auf einen Akt (eine cogitatio auf eine cogitatio) desselben Ich bezogen ist, oder ebenso ein Akt auf ein sinnliches Gefühlsdatum desselben Ich usw. Das Bewußtsein und sein Objekt bilden eine individuelle rein durch Erlebnisse hergestellte Einheit.“ (Husserl: Die Phänomenologische Fundamentalbetrachtung, in: Die Phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I, Stuttgart 1990, S. 157). Die immanent bezogenen intentionalen Erlebnisse sind aber, laut Husserl, gleichzeitig transzendent gerichtet. „Transzendent gerichtet sind intentionale Erlebnisse, für die das nicht statthat; wie z. B. alle auf Wesen gerichtete Akte, oder auf intentionale Erlebnisse anderer Ich mit anderen Erlebnisströmen; ebenso alle auf Dinge gerichteten Akte, auf Realitäten überhaupt, wie sich noch zeigen wird.“ (Husserl, Phänomenologische Methode, S. 157). In diesem Zusammenhang können wir die immanente Transzendenz Husserls verstehen. Die Welt ist transzendent in dem Sinne, dass ihre Realität die Fähigkeit der menschlichen Erkenntnis überschreitet (transzendieren). Als Gegenstände der Erkenntnis jedoch wird die Welt durch die Bewusstseinsphänomene erkannt. Aufgrund dessen, dass die immanenten Tätigkeiten im Subjekt vollzogen werden und in diesem bleiben (vgl. Danz, Immanenz/Transzendenz, 1079b), ist die Transzendenz für Husserl immanent. Die transzendente Welt als Gegenstand der Erkenntnis zeigt sich durch den Akt des Bewusstseins in der Einheit mit dem Subjekt der Erkenntnis. Dennoch in der Hinsicht, dass der Diskurs über die Realität der Welt einfach schuldig bleibt, ist es schwierig für Husserl die Kritik zu vermeiden, dass sein Verständnis der Transzendentalen Subjektivität und die Interpretation der vorgegebenen Welt seiner transzendentalen Phänomenologie zu naiv ist. 101 Klaus Held: Einleitung, in: Husserl, Phänomenologische Methode, S. 23. 102 Held, Einleitung, in: Husserl, Phänomenologische Methode, S. 41. 103 Held, Einleitung, in: Husserl, Phänomenologische Methode, S. 41. 104 Danz, Immanenz/Transzendenz, 1082.

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5. Kap.: Transzendenz und Freiheit

men und erweitert. Der Horizont ist in einem umfassenden Sinne mein Gesichtskreis, der Umkreis, der um mich als Mittelpunkt orientierten Welt; er verschiebt sich mit den Positionsveränderungen des Subjekts.“ 105 Heidegger entlehnt seinen Horizontbegriff in „Sein und Zeit“ von dem Husserl’schen Begriff, um die Transzendenz der Welt in der zeitlich-existenzialen Seinsverfassung des Daseins zu begreifen. Die ekstatische Einheit der zeitlichen Schemata Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart bezeichnet Heidegger als den Horizont der Zeitlichkeit (vgl. SuZ 365). In den folgenden Abschnitten werde ich den Heidegger’schen Horizontbegriff in Hinsicht auf die Transzendenz der Welt näher erörtern.

§ 20 Transzendenz in der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit Im Rahmen der Daseinsanalytik Heideggers knüpft der Begriff der Transzendenz an die Welt des zeitlich existierenden Daseins an. Der Begriff der Welt spielt eine erhebliche Rolle in der Analytik des Daseins, weil das Dasein als Inder-Welt-sein existiert. Nicht nur als der Ort der Existenz des Daseins, sondern auch als das ursprüngliche konstitutive Element seiner Existenz zeigt sich die Welt des Daseins in dem Prozess der Zeitlichkeit: „Die ontologische Verfassung der Welt muß (sich) [. . .] in der Zeitlichkeit gründen.“ (SuZ 365) Denn das Sein des Daseins gründet sich völlig in der Zeitlichkeit, muss und kann die Zeitlichkeit das In-der-Welt-sein und die Transzendenz des Daseins ermöglichen (vgl. SuZ 364). Zeitlichkeit enthüllt als „™kstatikün“ ihre Bewegungsweise bzw. die Struktur des zeitlichen Prozesses als das ursprüngliche „Außer-sich“ (an und) für sich selbst, das im Grunde genommen die Seinsart des Daseins offenbart. Das „™kstatikün“ als das ursprüngliche „Außer-sich“ für sich selbst zeigt die Charaktere der zeitlichen Phänomene Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart, welche in ihrer ekstatischen Einheit die Grundart des Seins des Daseins als Zeitlichkeit, d. h. den vollständigen Selbstvollzug der Existenz des Daseins enthüllen.106 Das ekstatische „Außer-sich“ für sich selbst der Zeitlichkeit in der Form des „Über-sich-hinaus-Gehens“ zur Welt, in die das Dasein geworfen ist, bezieht sich grundsätzlich auf die Transzendenz des Daseins. In diesem Aspekt zeigt die Transzendenz der Welt des In-der-Welt-seins bzw. des Daseins ein zeitliches Problem. 1. Die Erschlossenheit der Welt Wenn das Dasein in seiner selbstverstehenden Art und Weise der Existenz sein Da erschließt, ist die Welt auch erschlossen: „In der Erschlossenheit des Da ist 105 106

Held, Einleitung, in: Husserl, Phänomenologische Methode, S. 33. Siehe 2. Kapitel.

§ 20 Transzendenz in der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit

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Welt miterschlossen.“ (SuZ 365). Eine Welt muss dem Dasein „mit der faktischen Existenz des Daseins“ (SuZ 364) erschlossen sein, sofern das Dasein „wesenhaft als In-der-Welt-sein existiert“ (SuZ 364). Dass das Dasein im Wesentlichen das In-der-Welt-sein ist, zeigt den ontologischen Status der Welt, die ihr Schicksal notwendigerweise mit der Existenz des Daseins teilt. „Wenn kein Dasein existiert, ist auch keine Welt ,da‘.“ (SuZ 365) Denn das Dasein ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern existiert in der sich zeitigenden Zeitlichkeit, ist die Welt auch „weder vorhanden noch zuhanden, sondern zeitigt sich in der Zeitlichkeit.“ (SuZ 365) Die Welt kann „mit dem Außer-sich der Ekstasen“ (SuZ 365) „da“ sein. „Sofern Dasein sich zeitigt, ist auch eine Welt.“ (SuZ 365) 2. Der Horizont der Zeitlichkeit Als erschlossenes „Da“ des Daseins beruht die Welt auf den Horizont der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit. „Die existenzial-zeitliche Bedingung der Möglichkeit der Welt liegt darin, daß die Zeitlichkeit als ekstatische Einheit so etwas einen Horizont hat.“ (SuZ 365) Hier im Kontext von der Einheit der Ekstasen begegnen wir nochmal einem gewöhnlichen Wort – Horizont: In Bezug auf die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit nimmt Heidegger den Horizontbegriff Husserls auf: Zeitlichkeit als ekstatische Einheit hat einen Horizont. Der ekstatische Horizont ist in jeder der drei Ekstasen verschieden (vgl. SuZ 364): 1. Der ekstatische Horizont in der Zukunft offenbart das „Auf-sich-zukommen“ des Daseins als „Umwillen“ seines Seinkönnens durch sein Sichentwerfen; 2. Der Horizont der Gewesenheit enthüllt die Geworfenheit des Daseins, das immer schon „Da“sein, das in die Welt geworfen ist; 3. In der Gegenwart zeigt der ekstatische Horizont das Sein des Daseins, das in der Welt anwesend ist. Diese drei Ekstasen der Zeitlichkeit, die in sich selbst die zeitlich-existenziale Bewegung des Daseins manifestieren, konstituieren in sich selbst einen Horizont. Als horizontale Schemata offenbaren sich die drei Ekstasen gleichzeitig in der Einheit. Eine solche Einheit bedeutet die Einheit der ganzen Zeitlichkeit, welche die Verfassungsganzheit des zeitlichen Daseins darstellt. In der Daseinsanalytik Heideggers weist der Horizont der ganzen Zeitlichkeit nämlich auf die Einheit der „horizontalen Schemata von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart“ (SuZ 365) hin. Das heißt: Die drei horizontalen Schemata entsprechen den drei Ekstasen der Zeitlichkeit. Im Horizont der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit ist die Welt dem je Dasein selbst erschlossen. Der Horizont der Zeitlichkeit im Rahmen der Daseinsanalytik Heideggers betrachte ich demnach als den Umkreis des Verstehens des Daseins, in dem es sich bewegt bzw. sich zeitigend existiert. Das heißt: Die Zeitlichkeit zeitigt sich im Umkreis des Horizonts, in deren ekstatischem Prozess – der Zeitigung – das „Da“ des je Daseins erschlossen wird. „Auf dem Grund der horizontalen Verfassung der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit gehört zum Sei-

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5. Kap.: Transzendenz und Freiheit

enden, das je sein Da ist, so etwas wie erschlossene Welt.“ (SuZ 365) Im Horizont enthüllt sich die Welt, meine Welt, da sie dem Dasein, das ich je bin, zeitlich „da“ erschlossen ist. Das Dasein geht über sich selbst – außer sich hinaus in die Zukunft – und zurück zur Welt, seiner gewesend-gegenwärtigenden (vgl. SuZ 350) Welt – für sich selbst – zurückkommt. Diese ekstatische Seinsweise des Daseins begründet den Horizont der einheitlichen Zeitlichkeit. 3. Die ekstatisch-horizontal fundierte Transzendenz der Welt Innerhalb seines Akts erscheint die Welt für das Bewusstsein als Gegenstand der Erkenntnis bzw. Bewusstseinsphänomen. Dagegen ist die Welt für das Dasein sowohl der Ort als auch die ontologische Bedingung der praktischen und faktischen Existenz des Daseins. In dieser Beziehung wird die Welt des Daseins als meine Welt, in der ich existiere, erschlossen. Obwohl der Horizont des Bewusstseins bei der Phänomenologie Husserls auch „mein Gesichtskreis, der Umkreis der um mich als Mittelpunkt orientierten Welt“ 107 zeigt, konstituiert dieser Gesichtskreis weder ontologische Voraussetzung noch Faktizität des Seins bzw. der Existenz des Subjekts. Die Welt als Gegenstand der Erkenntnis kann nur durch die Bewusstseinsphänomene, die durch den Akt des Subjekts, d. i. Bewusstseins möglich sind, erkannt werden. Das heißt, die Realität bzw. Objektivität dieser Welt überschreitet bzw. transzendiert die Fähigkeit der menschlichen Erkenntnis. In diesem Sinne ist diese Welt transzendent. Gleichzeitig ist diese Transzendenz aber auch immanent, aufgrund dessen, dass die immanenten Tätigkeiten im Subjekt des Bewusstseins vollzogen werden und da bleiben. Die Welt ist für Heidegger transzendent „in der horizontalen Einheit der ekstatischen Zeitlichkeit gründend“ (SuZ 366). Da die Existenz des Daseins die Welt voraussetzt, muss die Welt des Daseins transzendent sein. Sofern ich existiere, ist die Welt schon „Da“. Dem Dasein selbst ist seine Welt erschlossen in seiner ursprünglichen Grundart des Seins. Das heißt, in der zeitlichen Seinsweise des selbstverstehenden Daseins ist sie als sein „Da“ erschlossen. Dem Dasein muss die Welt – nicht als Erscheinung, sondern als konkreter und faktischer Ort seiner Existenz – immer schon „Da“ erschlossen sein, damit das Dasein als In-der-Welt-sein zeitlich existieren kann. Weil das Dasein im Wesentlichen als In-der-Welt-sein existiert, ist die Welt für das Dasein die ursprüngliche Bedingung seines Seins, d. h. der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit. Die drei Ekstasen als die Horizonte der Zeitlichkeit können sich in der Einheit bewegen, solange die Welt „Da“ ist. Die Transzendenz der Welt ist deshalb in dem Sein des Daseins horizontal und existenzial fundiert. 107

Husserl, Phänomenologische Methode, S. 33.

§ 21 Transzendenz des Daseins

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Die Welt ist für das Dasein kein Gegenstand seiner Erkenntnis, sondern existenzial-horizontale Bedingung seiner Existenz. In diesem Sinne ist die Welt transzendent. Nicht weil die Realität der Welt unsere Fähigkeit der Erkenntnis überscheitet, sondern weil die Welt die absolut notwendige Voraussetzung der Existenz des Daseins ist. Das Dasein kann sein Sein in der Einheit der Zeitlichkeit bzw. „immer aus seiner Existenz“ (SuZ 12) verstehen. Das Verstehen des Daseins ist selbst ein Prozess in seiner zeitlichen Bewegung, daher bewegt sich das Verstehen des Daseins auch mit seiner Existenz. 4. Transzendenz und Objektivität Für Husserl kann der Horizont als rein subjektiver Bezirk des Bewusstseins die Realität der Welt nicht in sich umfassen.108 Die Realität bzw. Objektivität der transzendenten Welt überschreitet für Husserl die Fähigkeit bzw. Kapazität einer Erkenntnis, d. h. des Verstehens vom Bewusstsein. Hingegen ist die Welt des Daseins schon „ekstatisch erschlossen“ (SuZ 366), damit ist die Erkenntnis des Daseins von seiner Welt ermöglicht, d. h. das Dasein versteht seine Welt ekstatisch. Diese Welt des Daseins kann als „subjektiv“ betrachtet werden, weil das „Subjekt“ der Welt das Dasein ist: „Wenn das ,Subjekt‘ ontologisch als existierendes Dasein begriffen wird, dessen Sein in der Zeitlichkeit gründet, dann muß gesagt werden: Welt ist ,subjektiv‘. Diese ,Subjektive‘ Welt aber ist dann als zeitlichtranszendente ,objektiver‘ als jedes mögliche ,Objekt‘.“ (SuZ 366) Wenn das Dasein faktisch und zeitlich als In-der-Welt-sein existiert, ist die Welt immer schon „Da“ in seiner Grundart des Seins, d. h. transzendent. Diese erschlossene Welt als die Grundbedingung der faktischen Existenz des Daseins ist „Da“ erschlossen nicht als Objekt der Erkenntnis, sondern als praktischer Ort der faktischen Existenz des Daseins. Das faktische „Da“-(erschlossen)-sein der Welt infolgedessen begründet die Objektivität der Welt.

§ 21 Transzendenz des Daseins Transzendenz als „Übersteigen“ des Daseins bedeutet den zeitlichen Prozess seiner Existenz selbst: Das Dasein geht über sich hinaus, um zu seinem Tod vorzulaufen. Dieses Vorlaufen ist möglich lediglich unter der Bedingung, dass das Dasein als In-der-Welt-sein immer auf sich selbst zurückkommt. Diese einheitliche und gänzliche Bewegung der Zeitlichkeit bzw. der Existenz des Daseins wird als „Überstieg zur Welt“ bezeichnet. Das heißt: die Transzendenz des Daseins weist auf den Prozess des Daseins hin, in dem es als In-der-Welt-sein über sich 108 Die Welt als Gegenstand der Erkenntnis ist das Objekt des Akts des Bewusstseins und es vereinigt sich mit dem Subjekt bzw. Bewusstsein. Aber die Welt als Objekt erscheint in diesem Zusammenhang als subjektives Gebilde. Das heißt, die Realität bzw. Objektivität überwinden nicht den Rahmen des Akts des Subjekts.

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5. Kap.: Transzendenz und Freiheit

selbst geht und auf sein In-der-Welt-sein zurückkommt. In einem solchem zeitlichen Prozess existiert das Dasein als Entschlossenheit. Das ekstatische „Außersich für sich selbst“ des Daseins offenbart das Wesen des Daseins als freies Seiendes, d. h. als das Seiende, das in der Weise existiert, dass es sich selbst versteht. Die Freiheit des Daseins als dasjenige Seiende, das sich um sein Sein selbst sorgt, gründet sich in der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit, die mit der Transzendenz des Daseins zusammenhängt. Der Diskurs über Transzendenz und Freiheit führt zur Frage nach dem Grund der Zeitlichkeit des Daseins. 1. Transzendenz und die Frage nach dem Anfang Der Ort des anwesenden109 Seins des Dasein, das je wir selber sind, ist die Welt. Die Räumlichkeit des Seins des Daseins spielt eine wichtige Rolle, in Hinsicht darauf, dass das Dasein „in-der-Welt“ existiert. Das „In-der-Welt-sein“ zeigt ein wesentliches Moment der Seinsart des Daseins. Der Ort des Daseins ist, genau wie der Name „Da-sein“ schon offenlegt, die grundsätzliche Bedingung der Existenz des Daseins. Das Dasein existiert in der Welt und nur „da“ kann es existieren. Ein interessanter Punkt in Bezug auf das „In-der-Welt-sein“ des Daseins ist, dass Heidegger diesen räumlichen Hintergrund der Existenz des Daseins mit dem Begriff „Transzendenz“, die er in „Vom Wesen des Grundes“ als den Bezirk der Frage nach dem Wesen des Grundes110 bezeichnet, zusammenhängt. Nach Heideggers Interpretation des Begriffs Transzendenz ist die Beziehung von der Transzendenz und dem Grund nicht zufällig. Heidegger weist darauf hin, dass Transzendenz „Überstieg“ 111 bedeutet. Dieser Überstieg ist der Überstieg zur Welt und ereignet sich als Geschehen eines Seienden.112 Heidegger definiert den Begriff Transzendenz in der Beziehung auf das menschliche Dasein wie folgt: „Die Transzendenz in der zu klärenden und auszuweisenden terminologischen Bedeutung meint solches, was dem menschlichen Dasein eignet, und zwar nicht als eine unter anderen mögliche, zuweilen in Vollzug gesetzte Verhaltungsweise, sondern als vor aller Verhaltung geschehende Grundverfassung dieses Seienden.“ 113 Transzendenz des Daseins bezieht sich auf die Existenz bzw. das Sein des Daseins selbst als Geschehen. Und dieses Geschehen geschieht in der Welt. 2. Der Grund der Existenz und die Transzendenz Die Welt liegt in dem Wesen des Daseins in dem Sinne, dass das „In-der-Weltsein“ die notwendige Bedingung seiner Existenz ist. Die ausschlaggebende Be109 110 111 112 113

Vgl. SuZ, S. 346, 359, 369, 423. Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 18 ff. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 18. Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 18 ff. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 18.

§ 21 Transzendenz des Daseins

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ziehung von der Welt und dem Dasein wird auch mit dem neuen ontischen Existenzverständnis im Christentum verdeutlicht: „Die Beziehung [von küsmoò und menschlichem Dasein] wird so ursprünglich erfahren, daß küsmoò nunmehr direkt als Titel für eine bestimmte Grundart menschlicher Existenz in Gebrauch kommt. Küsmoò o£toò bedeutet bei Paulus (vgl. 1. Kor. u. Gal.) [. . .] den Zustand und die Lage des Menschen [. . .].“ 114 Demzufolge bezieht sich der Begriff Transzendenz grundsätzlich auf den Weltbegriff des Daseins. Der Überstieg bzw. die Transzendenz geschieht „mit“ der Faktizität des Daseins, dass das Dasein in der Welt existiert. Die Transzendenz ist als „In-der-Welt-sein“ bestimmt. In diesem Sinne erklärt Heidegger, dass die einheitliche Struktur der Transzendenz durch die Welt ausgemacht wird.115 Die Beziehung von der Transzendenz, dem Dasein und der Welt wird in dem folgenden Zitat ausführlich expliziert: „Welteingang ist kein Vorgang am eingehenden Seienden, sondern etwas, das ,mit‘ dem Seienden ,geschieht‘. Und dieses Geschehen ist das Existieren von Dasein, das als existierendes transzendiert.“ 116 Die menschliche Transzendenz geschieht mit der Faktizität des Daseins, das je selbst in der Welt existiert. Der Heidegger’sche Begriff Transzendenz ist abweichend von dem Verständnis, in dem die Transzendenz mit „Subjektivität“ oder „Bewusstsein“ gleichgesetzt wird,117 zu verstehen. Das Wesen der Transzendenz bei Heidegger liegt in dem Wesen des Daseins: „In der Grundverfassung des Inder-Welt-seins bekundet sich das ursprüngliche Wesen der Transzendenz.“ 118 Die Beziehung von der Transzendenz und dem Wesen des Daseins wird in dem Namen dieses Seienden, d. h. des „Da-seins“ ausdrücklich erschlossen: das „Dasein“ bzw. „In-der-Welt-sein“ ist die Grundverfassung der Transzendenz, daher ist die Transzendenz dem Dasein selbst enthüllt.119 3. Das ™pÝkeina als über sich selbst Dasein ist ein Seiendes, das in seinem Sein über sich selbst hinaus ist, weil sein Sein durch das In-der-Welt-sein konstituiert wird. Heidegger erläutert, dass das ™pÝkeina [darüber hinaus] zu seiner eigensten Seinsstruktur gehört. Das ™pÝkeina bedeutet die Transzendenz. Die einzigartige Auslegung der Transzendenz bei Heidegger liegt genau in diesem Punkt, dass ein solches ™pÝkeina 114

Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 24. Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 20. 116 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 39. 117 Vgl. Feick: Index zu Heideggers Sein und Zeit, Tübingen 1968, S. 86. 118 Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie. Marburger Vorlesung Sommersemester 1927, Frankfurt am Main 1975, S. 426. 119 Vgl. Heidegger, Phänomenologie, S. 426. 115

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5. Kap.: Transzendenz und Freiheit

„nicht nur und nicht primär ein Sichbeziehen eines Subjekts auf ein Objekt“ 120 betrifft, sondern die Transzendenz bei Heidegger „sich aus einer Welt verstehen“ 121 bedeutet. Dasein ist als solches über sich selbst hinaus d. h. es existiert als Transzendenz. Aus diesem Grund bezieht sich der Begriff Transzendenz bei Heidegger vollständig auf die Seinsart des Daseins. Das ursprüngliche Moment der Transzendenz liegt in der Struktur der Zeitlichkeit, die selbst im Grunde die Seinsart des Daseins als „In-der-Welt-sein“ zeigt. Heideggers Begriff Transzendenz ist aus ekstatischer Zeitlichkeit des Seins-verstehenden Daseins bestimmt:122 „Die Transzendenz des In-der-Welt-seins gründet in ihrer spezifischen Ganzheit in der ursprünglichen ekstatisch-horizontalen Einheit der Zeitlichkeit.“ 123 4. Transzendenz und Freiheit Der auffallende Punkt in dem Wesen der Transzendenz besteht darin, dass Transzendenz für das Dasein die Freiheit bedeutet, d. h. der Überstieg zur Welt selbst bezeichnet die Freiheit.124 Weil die Freiheit des Daseins in seiner eigenen und eigentlichen Seinsart liegt: Dasein als „In-der-Welt-sein“ versteht sich aus einer Welt. Wenngleich das Dasein in der Welt endlich existiert, existiert es in der Art und Weise, dass es sein Sein selbst von seinem eigenen Sein als „In-derWelt-sein“ versteht, so dass es in einer freien und lebendigen Weise existiert. Es entwirft folglich ständig sein Sein auf Möglichkeiten. Der Anfang des Prozesses der Zeitlichkeit liegt genau in diesem Moment der Freiheit des Daseins: Dasein existiert in der Welt. In diesem Sinne ist die Freiheit als Transzendenz jedoch nicht nur eine eigene „Art“ von Grund, sondern der Ursprung von Grund überhaupt. Freiheit als Transzendenz ist Freiheit zum Grunde.125 Der Satz „sein [des Daseins] Wesen liegt vielmehr darin, dass es je sein Sein als seiniges zu sein hat“ (SuZ 12) beschreibt die Freiheit als Wesen des Daseins: Jedes einzelne Dasein existiert selbst in der Welt, in der Weise, dass es sein eigenes Sein versteht und sich auf Möglichkeiten entwirft. Das Sein des Daseins ist grundsätzlich ein Freies und diese Freiheit des Daseins bzw. die Transzendenz ist zugleich der Grund der Zeitlichkeit, d. h. der Anfangspunkt der Zeitlichkeit als die Grundart des Daseins. „Freiheit ist die Bedingung der Möglichkeit der Offen-

120 121 122 123 124 125

Heidegger, Phänomenologie, S. 425. Heidegger, Phänomenologie, S. 425. Vgl. Feick, Heidegger, S. 86. Heidegger, Phänomenologie, S. 429. Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 43. Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 44.

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barkeit des Seins von Seiendem, des Seinsverständnisses.“ 126 Diese Freiheit des Daseins ist aber eine endliche Freiheit, aufgrund dessen, dass das Dasein als Inder-Welt-sein endlich existiert. 5. Das Erste und das Letzte Die Frage nach dem Anfang der Zeitlichkeit ist hauptsächlich eine Frage nach dem Grund der Existenz des Daseins. Die Antwort auf diese Frage liegt im Wesen des Daseins. Der Anfang ist das Erste bzw. die ˜rxÞ, die im Prinzip der letzte Grund des Prozesses ist.127 Der anfängliche Bezug zum ersten Anfang steht jederzeit unter dem ersten Anfang selbst.128 Anders ausgedrückt: Das höchste Prinzip soll nicht wieder durch ein anderes Prinzip erkennbar werden.129 Der erste Anfang des Seins des Daseins, der als alle anderen Anfänge anfänglicher ist, gründet sich in dem „Da-sein“ des Daseins als freies Seinkönnen. „Das Da-sein ist und nur es ist das Geworfene – dem Offenen des ersten Entwurfs des ersten Anfangs Ausgesezte.“ 130 6. Der Grund im Wesen des Daseins als Geschichtliches Die Tatsache selbst, dass das Dasein als freies und endliches Seinkönnen in der Welt existiert, ist das Erste, der Anfang der Existenz des Daseins. Gewesenheit, Gegenwart und Zukunft des Daseins ist in alldem als einheitlicher und lebendiger Prozess des Seins des Daseins selbst. Darum soll die Frage nach dem Anfang dieses Prozesses nicht zeitlich sondern geschichtlich formuliert werden, in Hinblick darauf, dass das Dasein selbst ein geschichtliches ist. Im 8. Kapitel Geschichte und Erzählung des Daseins werde ich den Begriff der Geschichtlichkeit im Rahmen der grundsätzlichen Seinsart des Daseins näher analysieren. Dabei soll die strukturelle Beziehung der Zeitlichkeit und der Geschichtlichkeit in der existenzialen Struktur des Daseins erläutert werden. Im letzten Kapitel interpretiere ich die Einzigartigkeit der Daseinsanalytik in Bezug darauf, inwiefern und auf welche Weise die Frage des Daseins nach dem Sinn von Sein über den „Horizont“ der traditionellen Metaphysik hinausgeht, aus einem neuen Blickwinkel der Phänomenologie des Erzählens. Der Begriff der Geschichtlichkeit in Bezug auf das Phänomen der Erzählung, oder eher die Phänomenalisierung der Geschichte wird durch den Akt des Erzählens zur Erscheinung 126 Heidegger: Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Freiburger Vorlesung Sommersemester 1930, Frankfurt am Main 1982, S. 303. 127 Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 7. 128 Vgl. Heidegger: Die Geschichte des Seyns, Frankfurt am Main 1998, S. 23. 129 Vgl. Schelling: Vom Ich als Prinzip der Philosophie, Tübingen 1795, § 1 ff. 130 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, S. 23.

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5. Kap.: Transzendenz und Freiheit

gebracht. Die Transzendenz des Daseins bezieht sich notwendigerweise auf seine Zeitlichkeit und geschichtliche Seinsverfassungsganzheit. In der ekstatischen Einheit seiner zeitlichen Horizonte versteht das Dasein sein eigenes Geschehen. Die Geschichtlichkeit des verstehend geschehenden Daseins konstituiert die Phänomenologie seines Seins.

§ 22 Freiheit des Daseins 1. Freisein als geworfener Entwurf Wenn die Transzendenz als Freiheit, als der Grund der Existenz des Daseins, bezeichnet wird, enthüllt sich noch ein wesenhaftes Moment in dem Wesen der Freiheit des Daseins bzw. der Seinsart des Daseins. Das ist die Grundbedingung der Struktur der Seinsart des Daseins: das Dasein ist in die Welt geworfen, aber gleichzeitig entwirft es sich auf Möglichkeiten. Die Geworfenheit des Daseins zeigt die Endlichkeit dieses Seienden und diese Endlichkeit ist die notwendige Bedingung des Freiseins dieses Seienden. Im folgenden Zitat wird veranschaulicht, dass der Entwurf des Daseins als freier Entwurf bzw. der Entwurf seines Umwillens immer das Zurückkommen auf seine Geworfenheit voraussetzt: „Dieses erste Gründen ist nichts anderes als der Entwurf des Umwillen. [. . .] Zwar liegt im Weltentwurf des Daseins immer, daß es in und durch den Überstieg auf Seiendes als solches zurückkommt.“ 131 Die wechselseitige Beziehung zwischen der Geworfenheit (Passivität) und dem Entwurf (Aktivität) des Daseins, die die gemeinsamen nötigen Bedingungen des Seins des Daseins sind, zeigt den grundsätzlichen Zustand seiner Existenz. Nur durch die Art und Weise des Entwurfs kann das Dasein existieren. Aller Weltentwurf des Daseins ist geworfener.132 „Das Dasein ist nicht deshalb ein In-derWelt-sein, weil und nur weil es faktisch existiert, sondern umgekehrt, es kann nur als existierendes sein, d. h. als Dasein, weil seine Wesensverfassung im Inder-Welt-sein liegt.“ 133 Die Struktur der menschlichen Freiheit im Heidegger’schen Sinne gründet sich darin, dass das Dasein als geworfenes Entwerfendes durch sein „In-der-Welt-sein“ verstehend über sich selbst aus zur Welt transzendiert. 2. Grundstruktur der Freiheit In der Transzendenz als Freiheit zum Grunde enthüllt sich das Wesen der Endlichkeit des Daseins134 in der Hinsicht, dass die Transzendenz den Überstieg des 131 132 133 134

Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 45. Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 54. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 22. Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 54.

§ 22 Freiheit des Daseins

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Daseins zur Welt bedeutet. Das heißt, der Überstieg zur Welt begründet die Endlichkeit des Daseins, indem diese menschliche Endlichkeit überhaupt erst durch die Struktur der Zeitlichkeit die Transzendenz ermöglicht. Diese Transzendenz ist nicht die Transzendenz über die Welt sondern zu der Welt über sich selbst aus. Daseins „Über sich selbst aus“ ist nur unter der Bedingung der Endlichkeit bzw. des Todes des Daseins möglich. Die notwendige Bedingung des Todes liegt in seinem „In-der-Welt-sein“. Durch den Prozess des Vorlaufens zum Tode und des Zurückkommens zu seinem „Da-sein“ überschreitet dieses endliche Seiende sich selbst. Das Wesen der Transzendenz des menschlichen Daseins liegt in der Endlichkeit des Menschen selbst. Die Transzendenz des Daseins übersteigt nicht die Welt, d. h. seine Endlichkeit, sondern sie übernimmt die Welt als ihre Grundbedingung des Seins. Das Sein des Daseins ist 135 das Sein und der Tod zugleich: der Prozess als Geschehen zwischen diesen entgegengesetzten Polen ist die Seinsart des Daseins. Auf welcher strukturellen Bedingung gründet sich denn dieser Prozess des Daseins? Inwiefern kann die Beziehung zwischen dem Sein und dem Tode in einer gänzlichen und geschlossenen Struktur analysiert werden? Auf welche Weise konstituieren und offenbaren die entgegengesetzten Pole, Sein und Tod, Möglichkeit und Unmöglichkeit, Aktivität und Passivität, Freiheit und Endlichkeit usw. zugleich in einer prozessualen Struktur die Grundverfassung der Freiheit und Existenz des menschlichen Daseins? Auf diese Fragen werde ich im nächsten Kapitel ¢H ˜rxÌ kaÍ tÎ tÝloò im Zirkel zurückkommen und eine Auslegung vorschlagen.

135

Als Prozess!

6. Kapitel

¢H ˜rxÌ kaÍ tÎ tÝloò im Zirkel § 23 Polemik über die Struktur des Seins im Prozess „Was ist überhaupt der Sinn des Lebens? [. . .] Will man sagen, der Sinn des Lebens sei es zu sterben, so scheint dies abermals ein Widerspruch.“ 136

Der Sinn der Sorge, welchen die Existenz des menschlichen Daseins besitzt, solange es lebt 137, gründet sich im Prozess der Zeitlichkeit, in dem sich das Dasein um eines Ziels willen bewegt. Was ist das Ziel, oder vielmehr, was ist das Ende, als der Sinn dieses Prozesses? Der Tod ist es. Im zeitlichen Prozess existiert das Dasein in der Weise, dass es zu seinem Tod vorläuft. Das Sein-zum-Tode ist das Sein des Daseins selbst in seinem Grunde und Wesen. Ist der Sinn des Lebens bzw. der Existenz des Daseins also sein Tod, weil er sein Ende ist? Wie soll man diese ganze Struktur des Seins des Daseins benennen? Der Sinn der Existenz als Tod scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Ist die Struktur des Seins-zum-Tode aber tatsächlich in sich selbst widersprüchlich? Diese Frage bezieht sich auf die Problematik der Struktur der Zeitlichkeit als geworfener Entwurf. Aufgrund dessen, dass die Struktur des einheitlichen Prozesses zwischen der Geworfenheit (Da-sein in der Welt) und dem Tod als die eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins durch diese Frage sichtbar und schließlich verständlich werden kann, ist es notwendig in diesem Zusammenhang diese Frage zu stellen: Was ist überhaupt der Sinn des Lebens? Steht der Sinn des menschlich-existenzialen Prozesses bzw. des Seins-zum-Tode im Widerspruch zu sich selbst? In Bezug auf das eigentlich-existenziale Selbstverstehen des Daseins beschreibt Schmidt-Biggemann die Ganzheit der menschlichen, d. h. endlichen Existenz des Daseins zwischen dem Moment der Geworfenheit und dem Tod als seinem Ende. „Erst dadurch, daß das Dasein sich der Geworfenheit in seiner Situation bewußt wird und sich seiner Endlichkeit, die durch den Tod begrenzt und damit bestimmt wird, stellt, kommt es ,in die Existenz‘. In dieser Begrenzung merkt es, was das je-Seinige, seine persönliche Identität, was existentialistisch ,eigentlich‘ ist, was das ihm Gehörige ist. Das ,eigentliche‘ Denken definiert sich 136 137

Kierkegaard, Entweder-Oder, S. 41. Vgl. Fabel der Cura (SuZ 198).

§ 23 Polemik über die Struktur des Seins im Prozess

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vom eigenen Ende her und bekommt erst dadurch die Ganzheit, die die Identität des ,Daseins‘ ermöglicht.“ 138 Aber die Eigentlichkeit des Daseins als Sein-zum-Tode führt danach zu der Frage, ob man nicht versuchen müsste, „das Vorlaufen des Daseins an sein Ende zu erweitern und die Frage nach dem Sein des Seienden nicht anhand des Daseins zu stellen.“ 139 Das ist ein Versuch „nicht das Dasein, sondern das Sein insgesamt vor seine Negation, vor das Nichts zu stellen.“ 140 Demnach stellt Heidegger „die Leibnizfrage ,Cur potius aliquid quam nihil?‘“ 141 erneut. Diese Frage, „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ 142 versetzt das Nichts in die Struktur des Seins bzw. in den Prozess des Werdens. Schmidt-Biggemann weist darauf hin, dass diese Frage belegt, „daß das Sein im Nichts – eine Formulierung aus Jacob Böhme – urständet, das Sein ohne das Nichts nicht denkbar ist und daß das Nichts sich als Verlust und Ermöglichung des Seins zeigt, so wie im Sein das Nichts ,nichtet‘, also wird. [. . .] Der absolute Anfang dessen, was wird, kommt immer aus dem Nichts. Das ist so: Immer, wenn etwas wird, ist nachher etwas, was vorher nicht war. [. . .] Das heißt: etwas wird aus nichts, und das ist ein Aspekt dessen, was Heidegger in den ,Beiträgen zur Philosophie‘ ,Ereignis‘ nennt.“ 143 Dieses Ereignis im Veränderungsprozess des Werdens vom Nichts zum Sein zeigt das Sein als Geschichte: „Das Sein als Ereignis ist Geschichte.“ 144 Im Sein geschieht dieser Prozess der Veränderung wie Kierkegaard, sich mehrfach intensiv mit dem Werdensbegriff Hegels auseinandersetzend, folgendermaßen erklärt: „Diese Veränderung [des Werdens] geschieht also nicht im Wesen, sondern im Sein und geschieht vom Nichtsein zum Sein.“ 145 Die Geschichte des Daseins, d.h. sein Sein als Ereignis im Prozess des Werdens geschieht zwischen seiner 138 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Geschichte als absoluter Begriff, Frankfurt am Main 1991, S. 77. 139 Schmidt-Biggemann, Geschichte, S. 82. 140 Schmidt-Biggemann, Geschichte, S. 82. 141 Schmidt-Biggemann, Geschichte, S. 82. Diese Frage wurde in der Freiburg Antrittsvorlesung von Heidegger „Was ist Metaphysik?“ gestellt. „Leibniz hatte diese Frage, die für ihn den größten Kompetenzbereich alles Denkbaren umfaßte, gestellt, um damit den Satz vom zureichenden Grunde und den Satz vom Widerspruch zu fassen. Heidegger, dem Phänomenologen des Seins – wenn er denn so zu bezeichnet ist –, ging es nicht um den Satz des Widerspruchs, auch nicht um den ,Grund‘ als ratio.“ (SchmidtBiggemann, Geschichte, S. 82) 142 Heideggers Übersetzung der Formel von Leibniz. 143 Schmidt-Biggemann, Geschichte, S. 83: Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (1936/37), Frankfurt am Main 1989, S. 30 f. 144 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt am Main 1989, S. 494. 145 Søren Kierkegaard: Philosophische Brocken, 3. Auflage, Hamburg 2002, S. 67: Vgl. die Struktur des Werdens von Hegel als der Prozess des Werdens von Entstehen und Vergehen.

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6. Kap.: ¢H ˜rxÌ kaÍ tÎ tÝloò im Zirkel

Geworfenheit (Sein: In-der-Welt-sein) und dem Tod (Nichtsein: sein eigenstes Seinkönnen). In der Weise, dass das Dasein sich auf zukünftiges bzw. mögliches Seinkönnen entwirft und zu seiner wirklichen, gegenwärtigen Geworfenheit zurückkommt, geschieht das Ereignis des Daseins. „Die Veränderung des Werdens ist der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit,“ 146 so Kierkegaard. Wirklichkeit ist aber auch die Bedingung der Ermöglichung der Möglichkeit. Ohne Wirklichkeit ist Möglichkeit (ebenso wie Nicht-Möglichkeit als Seinkönnen) nicht denkbar, genau wie Wirklichkeit nicht denkbar ohne Möglichkeit ist. Hier kommt es vielmehr auf den Prozess zwischen den beiden an, der als eine unmittelbare Wechselwirkung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit zu verstehen wäre. Sein und Nichts hängen in diesem Geschehen zusammen in einer einheitlichen Struktur, ermöglichend einander gleichzeitig. Entweder als ein Übergang vom Nichts zum Sein oder eher umgekehrt vom Sein zum Nichts wird hier das Sein als Ereignis bestimmt. Dieses Entweder-Oder zwischen Nichts und Sein in Bezug auf die zwei Enden als Anfang und Ende ist möglich lediglich in einem Prozess, der in einer zyklischen Form denkbar ist. In der Beziehung der beiden Momente des Daseins, d. h. der Geworfenheit zum gegenwärtigen Dasein und Entwurf auf Möglichkeiten seines Seins, liegt aber auch die Möglichkeit der Freiheit des Daseins. Als In-die-Welt-geworfenesSeiendes besitzt das Dasein eine unvermeidliche Begrenztheit in seinem Sein. Der Ort seines Seins ist die Welt, über die es nicht hinausgehen kann, aber zu der es über sich selbst hinausgehen muss. Wie oben gezeigt bedeutet für Heidegger die Transzendenz des Daseins nicht den Überstieg über die Welt hinaus, sondern vielmehr zur Welt hin. Der Überstieg des Daseins zur Welt hin zeigt das Moment der Gegenüberstellung der beiden konstitutiven Momente des Daseins, in dem Sinne, dass die beiden Momente der Geworfenheit und des eigenen Seinkönnens zusammen einen einheitlichen Prozess der Existenz des Daseins in Gang setzen. Das heißt, nicht dass die Welt, welche die räumliche Bedingung der Endlichkeit des Daseins konstituiert, die Begrenztheit des menschlichen Daseins in einem negativen Sinne einschließt, sondern dass sie eine der notwendigen Voraussetzungen des Prozesses der Existenz des Daseins ist. In diesem Zusammenhang entsteht eine hermeneutische Frage nach der Grundstruktur des Prozesses. Die Frage lautet: Wie soll man die beiden Momente des Prozesses – Geworfenheit (das anwesende Sein in der Welt) und Tod, Zurückkommen und Sichentwerfen, Passivität und Aktivität, Endlichkeit und Freiheit usw. – in Bezug zueinander setzen? Ist die Beziehung der beiden entgegengesetzten Punkte komplementär oder paradox? Oder lässt sich eine solche Frage gar nicht beantworten, weil die Zeitlichkeit als lebendiger Prozess bzw. die Existenz des Daseins als Praxis jeden theoretischen Rahmen überschreiten muss? Ich

146

Kierkegaard, Philosophische Brocken, S. 67; vgl. Aristoteles, Physik, 200 B ff.

§ 23 Polemik über die Struktur des Seins im Prozess

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werde drei Interpretationen dafür anbieten und ihre jeweilige Problematik erörtern. 1. Komplementarität Wie sollte man die Beziehung der Geworfenheit und des Todes in einer gänzlichen und einheitlichen Struktur auffassen? Ist „Geworfenheit – Tod“ komplementär zum Dasein? Die Beziehung der beiden Momente der Struktur des Daseins, die Geworfenheit und der Tod als das Sein und die Nichtigkeit, kann als komplementär aufgefasst werden, in Hinblick darauf, dass die beiden ohne ihre gegenseitige Voraussetzung nicht in der Lage wären, einen vollständigen Prozess des Daseins zu vollziehen. In dem Sinne, dass die beiden gleichzeitig die jeweils notwendigen Komponenten des ganzen Prozesses sind und miteinander zusammenhängen, sind die beiden entgegengesetzten Momente durchaus in ihrer Funktion zueinander komplementär stehende Elemente innerhalb eines Prozesses. Der Begriff der Komplementarität beruht auf dem Wort Komplement im Sinne der Ergänzung.147 „Die Begriffe Komplementarität oder auch ,komplementär‘ verwendet man in logischen oder rhetorischen Kontexten allerdings häufiger auch in einem weiteren Sinne, etwa nur um ein Verhältnis von Gegenständen untereinander zu bezeichnen, die sich in ihrer begrifflichen Beziehung unterscheiden, sich aber je nach Sachbezug auch gegenseitig ergänzen können (LichtSchatten, Tag-Nacht, Körper-Seele). [. . .] Komplementarität wird je nach Kontext oft auch Verhältnissen zugeschrieben, die als ,Wechselwirkung‘, als ,Interdependenz‘ oder als ,Realrepugnanz‘ bezeichnet werden.“ 148 Das repräsentative Modell der Komplementarität ist das Prinzip von Yin und Yang (㦢㟧; 褋蛈 ), das wörtlich Schatten und Licht bedeutet. Die beiden 褋蛈 hängen im Ganzen zusammen, stehen aber auch zueinander im Gegensatz. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Aber Komplementarität als theoretisches Prinzip „erscheint im Denken selbst“ 149. Für begriffliches und theoretisches Verstehen setzen die beiden sich einander voraus. Das Merkmal des Prinzips Komplementarität liegt darin, dass die beiden zusammen ein Ganzes konstituieren. Im Ganzen begründen die beiden die Balance und die Stabilität zum Ganzen. Allerdings unterscheidet sich diese stabile Balance der beiden von einem einheitlichen und beweglichen Prozess des Werdens. Das Balancieren zwischen diesen beiden Polen kann man nicht als geschichtlichen Akt im Sinne von Gesche147 Vgl. „Komplementarität ist ein Merkmal zur Bestimmung eines ,Komplement‘ genannten Faktors oder Verhältnisses i. S. von Ergänzung, insbes. zur Bezeichnung eines zusätzlichen Faktors. Ein solches Verhältnis kann unter den hier dargestellten Bedingungen als ,komplementär‘ bezeichnet werden.“ (Michael Otte: Komplementarität, in: Sandkühler, Enzyklopädie Philosophie, 1273a). 148 Otte, Komplementarität, 1273a–1273b. 149 Otte, Komplementarität, 1273a–1273b.

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6. Kap.: ¢H ˜rxÌ kaÍ tÎ tÝloò im Zirkel

hen bezeichnen. Bei der Daseinsanalytik entsteht das Ereignis vom Sein (Existieren) des Daseins durch den verstehenden Akt des Daseins, d. h. Sichentwerfen und Zurückkommen. Der zeitliche Prozess des Daseins als Geschehen bewegt sich ständig. Das Ereignis „Sein zum Nichts“ oder „Nichts zum Sein“ zeigt den beweglichen bzw. lebendigen Prozess des Werdens bzw. des Seins. Dagegen liegt aber die bedeutsamste Charakteristik der Komplementarität in der Stabilität. Der Prozess der Zeitlichkeit ist ein lebendiger Prozess, der sich ständig bewegt. Demnach kollidieren die Stabilität der Komplementarität und die Lebendigkeit des zeitlichen Prozesses in Bezug auf den Charakter der Beweglichkeit des Prozesses. 2. Paradox Ist also das Sein-zum-Tode ein Paradox? Das Sein (Geworfenheit) und das Nichts (Tod) sind Gegensätze wie Licht und Schatten im Sinne von der Komplementarität, aber Sein und Nichts bewegen sich auch innerhalb eines lebendigen Prozesses, was mit dem komplementären Prinzip nicht mehr vereinbar zu sein scheint. In diesem einheitlichen Prozess zwischen Sein und Tod geschieht das Sein des Daseins. Dieses Sein bezeichnet Heidegger als Sein-zum-Tode. Verbirgt sich aber in dieser Formulierung vom „Sein-zum-Tode“ nicht ein Paradox? Das Sein ist das Nichts und das Nichts ist das Sein im Prozess des Werdens. Dies scheint ein Widerspruch in sich zu sein, wie auch Kierkegaard konstatiert. Allerdings zeigt das Sein-zum-Tode in der Daseinsanalytik auch die Wahrheit der Seinsart des Daseins. Mithin müsste das Sein-zum-Tode hier als ein wahrer Widerspruch oder eine widersprüchliche Wahrheit aufgefasst werden, was der Begriff des Paradoxes in diesem Zusammenhang nahelegt. Was versteht man aber überhaupt unter dem Begriff Paradox? Kierkegaard bezeichnet Paradox als „die Leidenschaft des Gedankens.“ 150 Jedoch betrachtet er Paradox als etwas, das für den Denker nicht leicht zu vermeiden ist. Er sagt: „ein Denker, der ohne Paradox ist, ist wie ein Liebhaber ohne Leidenschaft.“ 151 Der Begriff Paradox bezieht sich notwendigerweise auf die Logik, die sich auf die Problematik der Wahrheit gründet. Die Problematik der Wahrheit, ˜lÞqeia, bildet die Grundlage für die Hauptthese zur Seinsproblematik in der Daseinsanalytik Heideggers, weil das Dasein als das Sich-verstehendexistierende-Seiende nach dem Sinn von Sein, d. h. nach der ˜lÞqeia fragt. Die Wahrheit, ˜lÞqeia, bezeichnet das Ziel, woraufhin sich die Seinsfrage bzw. das Verstehen des Daseins richtet. Mithin erhellt sich die unvermeidliche Verbindung der Logik mit der Seinsproblematik an dem Berührungspunkt der Wahrheit des Seins, d. h. der ˜lÞqeia. Hingegen offenbart das Paradox in der Logik, das all

150 151

Kierkegaard, Philosophische Brocken, S. 36. Kierkegaard, Philosophische Brocken, S. 36.

§ 23 Polemik über die Struktur des Seins im Prozess

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jenen absurden, unsinnigen oder widersinnigen Konklusionen nachgibt, nicht die Wahrheit des Daseins. Dass das Dasein in seinem Wesen und Grunde den Tod als Grundbedingung seiner Existenz hat und der Tod des Daseins als seine Begrenztheit zugleich der Grund seines Freiseins ist, zeigt einen paradoxen Befund. Das heißt, das Sein und der Tod, die beiden als ganzer und einheitlicher Prozess zusammengenommen, scheinen einen Widerspruch zu bilden, wie Plus und Minus in der Formel A und -A. Trotzdem – oder man könnte sagen paradoxerweise – weist dieser Widerspruch auf die Wahrheit der Seinsart des Daseins hin. Der Begriff parÜdocoò bedeutet „unerwartet“ oder „widersprüchlich zur Erwartung“.152 Die Einheit von Tod und Sein in dem gesamten Prozess des Existierens ist allerdings keineswegs ein unerwartetes Ereignis. Der Tod des Daseins ist zur Existenz des Daseins nicht widersprüchlich, sondern konstituiert selbst die Existenz des Daseins. Mit dem Tod in sich selbst fängt das Sein des Daseins an. Die Pointe der Beziehung der Nichtigkeit und der Existenz des Daseins besteht darin, dass die beiden Punkte grundsätzlich Eins sind und zeigt sich in der ursprünglichen und absoluten Einheit: ˜lÞqeia – in der Unverborgenheit. Da das Dasein als Sein-zum-Tode existiert, kann man es somit nicht ein Paradox nennen. 3. Indetermination153 Nachdem die beiden Begriffe Komplementarität und Paradox in Bezug auf mögliche Interpretationen für die Struktur der Daseinsexistenz näher erörtert werden, sollte die Möglichkeit der Indetermination noch in einem weiteren Schritt in Betracht gezogen werden. Der Prozess der Zeitlichkeit ist keine logische Formel, sondern zeigt das praktische und faktische Sein des Daseins selbst. Unter dieser Voraussetzung gibt es jedoch auch die Möglichkeit, die Frage nach der Struktur der Zeitlichkeit einfach als sinnlos zu bestimmen. Man kann sich fragen, aus welchem Grund die Struktur des Seinsprozesses überhaupt definiert werden soll.154 Trotz des Zweifels an der grundsätzlichen Bedeutung der Frage ist diese Frage nach der Struktur des Prozesses nicht ohne Belang. Denn diese Frage bezieht sich auf das existenziale Verstehen des Daseins. Im Grunde genommen liegt die Konzeption der Analyse des Daseins darin, eine hermeneuti-

152 Vgl. „[. . .] die höchste Potenz jeder Leidenschaft des Denkens [Paradox] ist immer, ihren eigenen Untergang zu wollen. Und so sit es auch des Verstandes höchste Leidenschaft, den Anstoß zu wollen, obgleich der Anstoß auf die eine oder andere Art sein Untergang werden muß. Dies ist also das höchste Paradox des Denkens, etwas zu entdecken, was es selbst nicht denken kann.“ (Kierkegaard, Philosophische Brocken, S. 36). 153 In dem Sinne der „Unbestimmtheit“. 154 Die Bedeutung der Frage nach der Struktur des Prozesses wird in den folgenden Abschnitten erläutert. Siehe § 24, 2. Sein und Tod.

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6. Kap.: ¢H ˜rxÌ kaÍ tÎ tÝloò im Zirkel

sche Auslegung der Existenz des Daseins zu entfalten. Dabei ist der Sinn des zeitlichen Prozesses des Daseins dem Sinn des Verstehens immanent. Als die eigenste Seinsweise des menschlichen Daseins stellt der Prozess des Verstehens in sich selbst eine hermeneutische Forderung nach einem phänomenologischen Nachweis der Analyse des Daseins. In diesem Zusammenhang ist die Indetermination auch eine mögliche Interpretation der Grundstruktur des Prozesses. Obgleich die Indetermination inhaltlich eine leere Interpretation ist, ist die Indetermination als eine Interpretation selbst wiederum eine Determination. Die Auslegung der Determination der Indetermination kann deswegen kein praktisches und lebendiges Seinsverstehen des Daseins offenbaren. Das ironische Moment der Determination der Indetermination besteht genau in dem Punkt, dass die Determination der Indetermination nur die höchste Theorie in sich selbst ist.

§ 24 Der Anfang und das Ende 1. Der Prozess im Ganzen Der Prozess der Zeitlichkeit ist in sich selbst vollkommen und geschlossen. Die Geworfenheit und der Tod des Daseins bilden einen beweglichen Zirkel, der selbst das Sein des Daseins ist. In seiner zirkulären Struktur besteht der entscheidende Punkt für das Verstehen des Prozesses. Das Da-sein und die Nichtigkeit – diese beiden entgegengesetzten Momente der Existenz zusammen – konstituieren einen vollkommenen Zirkel als Prozess. Nur in einem Prozess kann das Sein gleichzeitig das Nichts sein und das Nichts das Sein. Die beiden sind auch nicht widersprüchlich zueinander, wenn sie zusammen einen Prozess ausmachen. Der Prozess mit dem Sein und dem Nichts bleibt dabei immer lebendig, damit kann jedes Moment der Existenz des Daseins immer gegenwärtig und neu sein. Der Anfang bzw. der Grund des Prozesses basieren auch auf diesem in sich geschlossenen Prozess. In einem Prozess ist das Ende als Tod auch der Grund und der Anfang zeigt immer schon das Ende bzw. den Tod in sich selbst. Anfang und Ende, Sein und Nichts, diese beiden entgegengesetzten Elemente sind selbst das Sein des Daseins in einem Prozess. Das heißt, die Grundstruktur des Prozesses liegt in der Übereinstimmung der beiden Momente, die man durch das Annehmen der Contradictio verstehen kann. 2. Sein und Tod Der Prozess der Zeitlichkeit in einer zyklischen Form ist eine kontinuierliche und sich vollziehende Bewegung. Die Frage danach, wie diese Bewegung konstituiert ist, wird von der Frage nach der Grundstruktur des Prozesses umgriffen. Die beiden Endpunkte Geworfenheit (Sein) und Tod (Nicht-sein) zeigen auf zwei

§ 24 Der Anfang und das Ende

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entgegengesetzte Punkte: einmal den Punkt der Möglichkeit (des Seins) und den anderen der Möglichkeit der Unmöglichkeit (der Möglichkeit des Nicht-seins). Wenngleich Möglichkeit und Unmöglichkeit zueinander widersprüchlich zu sein scheinen, leugnen diese beiden Endpunkte einander nicht in dem Prozess der Zeitlichkeit. Vielmehr sind sie die konstitutiven Punkte bzw. die strukturellen Elemente der Bewegung im Prozess, wobei sie nicht gegen einander, sondern auf einander zulaufen. Die Bewegung zwischen den beiden Punkten ist Eins in dem Sinne, dass diese zwei Punkte in einem einheitlichen Prozess vereint sind. Innerhalb des Prozesses sind die beiden different aber zugleich identisch. Zwischen Sein und Tod, den entgegengesetzten Punkten ist diese einheitliche Bewegung jedoch nicht dialektisch. Die Bewegung ist da, aber nicht als die dritte Phase oder die dialektische Lösung des vulgären Paradoxes.155 Zwischen diesen beiden Punkten besteht keine platonische Hierarchie. Das heißt: Diese Punkte, Sein und Tod, Möglichkeit und Unmöglichkeit stehen nicht einander entgegen wie in einer hierarchischen Struktur, wie z. B. gut vs. böse, Sein vs. Schein, und so weiter. Sie sind keine These und Antithese; vielmehr sind sie notwendigerweise ursprünglich miteinander verbunden, als Eins vereint, in der Art und Weise einer unmittelbaren Übereinstimmung.156 Die beiden übereinstimmenden Punkte sind aufgeteilt in zwei aber auch Eins.157 Nicht bestehen diese beiden Punkte in einem logischen Widerspruch, der ein Ausschlusskriterium für die Wahrheit darstellen würde. Denn Sein ist nicht Nicht-Tod, sondern Sein ist Tod. Der Logos der Wahrheit (˜lÞqeia) liegt in der Offenbarung des Seins, die das Verstehen des Seins und des Todes allererst ermöglicht, d. h. das Strukturganze des Seins sichtbar macht. Die Einheit bzw. einheitliche Wahrheit der beiden Punkte bedeutet die Übereinstimmung von Sein und Nichts. Diese übereinstimmende Einheit ist jedoch nicht nachträglich. Das heißt: Die Vereinbarung der beiden Punkte folgt nicht erst auf die Unterscheidung der beiden. Es ist nicht so, dass es zwei differente Punkte gibt und danach entsteht eine Bewegung zwischen ihnen, sondern die beiden Punkte sind schon Eins und gleichzeitig different. In dieser Einheit gründet sich die Bewegung zwischen Sein und Tod. Mithin ist diese Einheit lebendig und 155 Vgl. Jacques Derrida: Aporien. Sterben – auf die „Grenzen der Wahrheit“ gefasst sein, München 1998, S. 30–35. Derrida bezeichnet die „exoterische Aporie“ (vgl. Derrida, Aporien, S. 31) als „die blendende Ausformung des vulgären Paradoxes“ (vgl. Derrida, Aporien, S. 32), die die Hegel’sche Dialektik impliziert. 156 Die These, dass eine solche einheitliche Bewegung nicht als Dialektik zu betrachten sei, ist gewissermaßen der Theorie der Aporien von Jacques Derrida vergleichbar. Dennoch kann man die Struktur des zeitlichen Ereignisses des Daseins auch nicht als Aporie bezeichnen. Denn die beiden Punkte des Prozesses der Wahrheit dekonstruieren die strukturelle Einheit nicht, sondern die beiden Punkte sind ursprünglich und wesentlich Eins. 157 Diese Einheit ist abweichend von der Dialektik Kants oder Hegels.

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beweglich. Die begriffliche und theoretische Idee von Identität und Differenz kommen erst nachträglich in diese performative und prozessuale Einheit hinein. Ursprünglich sind diese beiden nicht voneinander trennbar. Heidegger gibt allerdings der Struktur dieser einheitlichen Bewegung keinen Namen. Man kann sich jedoch durchaus die Frage stellen, ob eine solche Namensgebung nicht eine klärende Funktion hätte. Was ist der Sinn von einem Akt der Namensgebung? Der Sinn der Namensgebung liegt darin, dass ein Name einem Gegenstand einen ontologischen Sinn gibt. Hier kommt die ursprüngliche Struktur der Existenz zur Erscheinung, sobald man ihr einen Namen gibt. Der Akt der Namensgebung wirkt daran mit, ein Phänomen sich zeigen zu lassen, d. h. es sichtbar und damit uns verständlich zu machen. Um das Moment der Einheit zu erfassen, verwende ich den Begriff der Contradictio158 für die ursprünglich einheitliche Struktur zwischen Sein und Tod, Möglichkeit und Unmöglichkeit. Der Begriff Contradictio159 soll von dem Be158 Der Begriff Contradictio wird in dieser Dissertation immer kursiv ausgedrückt, damit er von dem alten logischen Begriff Contradictio unterschiedlich verstanden werden kann. 159 Die Beziehung der beiden entgegengesetzten Punkte wurde bereits von Schelling als contradictio betrachtet: „Dies Dritte kann nicht reines Seinkönnen, auch nicht reines Sein sein; denn diese Orte [reines Seinkönnen als Potenz oder reines Sein] sind schon genommen. Es kann nur sein, was im Sein Potenz, und als Potenz Sein ist, worin die contradictio zwischen Potenz und Sein in Identität gesetzt ist“ (Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 106). Als Potenz bezeichnet Schelling das „nur im Gegensatz gegen das Wirklichseiende“ (Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 105). Die erste Möglichkeit ist für Schelling die „des sinnlosen, schrankenlosen Seins“ (Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 102) und die zweite bedeutet „eine solche, die erst ins Sein gebracht werden muss durch Ausschließung, sie ist für sich impotent“ (Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 103). Zwischen dem Seinkönnen als der ersten Möglichkeit des „Nur-seinkönnens“ (Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 104) und dem Nichtseinkönnen als der zweiten Möglichkeit des „rein Seienden“ (Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 105) ist die dritte Möglichkeit frei schwebend (vgl. Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 103). In den beiden folgenden Zitat von Schelling werden die drei Möglichkeiten und ihre Beziehung zueinander näher erläutert: „das NurSeinkönnen ist nur die erste Möglichkeit. Die zweite, weil die zweite, kann nicht das Unmittelbar-Seinkönnen sein; im Gegenteil ist sie das unmittelbar nur Nichtseinkönnen. Aber das Unmittelbar-Nichtseinkönnen kann nur das sein, was schon über das Sein hinaus ist, was ohne eine Spur von Negation (denn diese würde es zum Übergehen nötigen), das ganz und rein Seiende ist. Das rein Seiende ist also die zweite Potenz, das rein, d. h. ohne Potenz Seiende.“ (Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 104–105) „Das Seinkönnen überhaupt schwebt zwischen Sein und Nichtsein; die erste Möglichkeit aber hat ein unmittelbares Verhältnis zum Sein, die zweite nur ein mittelbares. Denn nur durch Ausschließung wird sie ein Seinkönnen. Die dritte ist das vom Sein am meisten freie, unmittelbar mit ihm gar nicht in Berührung Kommende.“ (Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 103) Die dritte Möglichkeit als „was im Sein Potenz ist und nicht aufhört Potenz zu sein, und umgekehrt, was Potenz ist, die ins Sein übergehen kann, ohne von ihrer Macht (über das Sein) zu verlieren, was also sein und nicht sein kann, das ist das vollkommen Freie, das mit seinem Können tun kann, was es will, weil es in seinem Sein nicht aufhört Potenz zu sein, und um diese zu sein, nicht aufhört zu wirken,“ (Schelling, Philosophie der Offenbarung, 106) nennt Schelling Geist (vgl.

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griff Differenz abweichend verstanden werden, wenn die Prämisse des Begriffs Differenz darin besteht, dass die Differenz zuerst da ist, damit werden die differenten Teile nachträglich zum einheitlichen Ganzen. Hingegen setzt der Begriff Contradictio die ursprüngliche Einheit des Prozesses als ihre fundamentale Bedingung voraus. Das Annehmen der Contradictio ist, diese ursprüngliche Einheit von Sein und Tod zu erkennen und zu akzeptieren. Diese Einheit ist nicht die Vereinigung von zwei ursprünglich differenten Elementen oder Teilen. Vielmehr sind die zwei immer schon Eins. Dasein und Tod, Existieren und Nicht-Existieren, Sein und Nichts ist in einem einheitlichen Prozess. Das heißt, Sein ist Tod in dem Sein-zum-Tode. 3. Übereinstimmung des Anfangs und des Endes: Annahme der Contradictio Der Begriff Contradictio soll in diesem Kontext abweichend von dem Begriff Widerspruch in der Sprache der Logik verstanden werden. Die beiden entgegengesetzten Momente, d. h. das Sein und das Nicht-sein160, konstituieren übereinstimmend einen vollkommenen Prozess. Als Sein-zum-Tode befindet sich der Sinn der Sorge in seinem Sein selbst. Das Sein und das Nichts sind nicht nur in seiner Struktur eingeschlossen, sondern sie ergeben auch zusammen einen Sinn. Geworfenheit und Tod, als die beiden Enden des Zeitlichkeitsprozesses, stehen nicht in Widerspruch zueinander, sondern sie vollziehen einen einheitlichen und in sich geschlossenen Prozess. Das heißt, die beiden stimmen miteinander überein, indem die Begrenztheit bzw. die Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins überwunden wird und mein Sein als je mein Freisein den eigentlichen Sinn bekommen kann. Das Sein ist der Tod und der Anfang ist das Ende. Dass man die Contradictio annimmt, bedeutet daher ein Übersteigen der Contradictio, indem das Sein des Daseins als Praxis seinen eigenen Sinn erhält und die Existenz des menschlichen Daseins als Phänomen zum Verstehen kommt. Dadurch, dass man den Tod als das eigenste Seinkönnen des Menschen annimmt, kann man auch die Contradictio in dem Wesen des menschlichen Seienden. Im Moment des Anfangs vom Sein ist das Dasein schon in den Tod geworfen. Auf das Sein und den Tod zugleich richtet sich der Prozess der Zeitlichkeit. Das Sich-Entwerfen als Freiheit und der Tod des In-der-Welt-seins als Endlichkeit zusammen konstituieren den einheitlichen Prozess der Zeitlichkeit als Sinn Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 102–107). In der Daseinsanalytik übertrage ich das Schema eines solchen geistigen und freien Denkprozesses bzw. der dritten Möglichkeit auf den Prozess der Existenz des Daseins – aber nicht als bloßen theoretischen Prozess im Denken, sondern als den Prozess des praktischen und faktischen Seins des je individuellen Daseins als endliches und freies In-der-Welt-sein. 160 Nichtigkeit: „Nicht-sein“ im Sinne vom „Nichts“ als nicht-existierendes; nicht als die Negation des Prädikats in der Form des „Nicht-etwas-seins“.

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6. Kap.: ¢H ˜rxÌ kaÍ tÎ tÝloò im Zirkel

der Sorge. Der Sinn von Sein enthüllt sich für das Dasein als der Sinn von seinem eigenen Sein. Nicht der Sinn von Sein zeigt den Sinn vom Dasein, sondern der Sinn vom Dasein als „je meines“ offenbart den Sinn von Sein. 4. ¢H ˜rxÌ kaÍ tÎ tÝloò In der Frage nach dem Anfang und Ende, zeigt sich die Frage nach dem Grund des Seins als die Frage nach dem Anfang des Prozesses des Existierens, und zwar nicht nur als ein Endpunkt, sondern als der Ursprung, der die vollkommene Bewegung allererst ermöglicht. Die ganze kontinuierliche Bewegung ist frei und gründet sich auch in der Freiheit. Freiheit ist die ˜rxÌ, das prµtoò der Existenz. Als der Anfang konstituiert die Freiheit die Bewegung der Daseinsexistenz. In der Analyse der Freiheit Schellings161 wurde bereits die Freiheit als der erste Grund des sich selbstgenügenden und vollständigen Prozesses dargestellt. Den Schelling’schen Begriff Freiheit als ˜rxÌ bezeichnet Schmidt-Biggemann als den ursprünglichen Willen: „über sich hinaus zu sein“.162 Dieser „auf sich selbst beruhende Wille“ 163 bedeutet „das durch-sich-selbst-Sein“ 164, das auf den absoluten Anfang, den ersten Beweger165 hinweist. Der Anfang als Motiv des „primum mobile“ 166 impliziert auch die „Folge“ und „damit Bewegung“ 167. Diese Bewegung, der bewegliche Prozess, der sich in der Freiheit gründet, erhellt das Sein. „Die Existenz ist bereits das Ergebnis eines Prozesses“ 168, der sich in der Bewegungsform des Werdens zwischen den beiden Punkten Sein und Tod, Existenz und Nichts zeigt. „Jedes Werden ist ein Übergang vom Nichts zur Existenz.“ 169 In diesem Zusammenhang ist das Nichts das tÝloò, das den Prozess des Werdens vollkommen macht. Im Prozess des menschlichen Seins bezeichnet das tÝloò den Tod des Daseins als die eigenste Seinsmöglichkeit, die den Prozess der Existenz vollzieht. Daher † ˜rxÌ (™stÍ) tÎ tÝloò. Die Freiheit des Daseins ist menschlich, d.h. endlich. Aber diese „endliche Freiheit“ ist kein Paradox, das sich erst aus der Unwahrheit ergibt, sondern sie offenbart die Wahrheit des menschlichen Wesens vom Dasein überhaupt. Der Prozess der Zeitlichkeit, d. h. des Existierens des Daseins zeigt sich in der über161

Vgl. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Stuttgart 2003. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Schellings Weltalter: Ausklang und romantische Wiederbelebung der Philosophia Perennis, in: Philosophia Perennis, Frankfurt am Main 1998, S. 711. 163 Schmidt-Biggemann, Philosophia Perennis, S. 712. 164 Schmidt-Biggemann, Philosophia Perennis, S. 709. 165 Vgl. Schmidt-Biggemann, Philosophia Perennis, S. 712. 166 Schmidt-Biggemann, Philosophia Perennis, S. 711. 167 Schmidt-Biggemann, Philosophia Perennis, S. 709. 168 Schmidt-Biggemann, Philosophia Perennis, S. 714. 169 Schmidt-Biggemann, Philosophia Perennis, S. 713. 162

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einstimmenden Contradictio170: Die Freiheit und die Endlichkeit des Daseins bilden dabei keine zwei gegensätzlichen bzw. gute oder böse Seiten des menschlichen Wesens, sondern diese beiden sind immer schon Eins im Sein des Daseins selbst als einheitlicher Prozess. Das heißt: Freiheit und Endlichkeit des Daseins zeigen sich in einem in sich geschlossenen vollkommenen Prozess der Existenz. Aber wie kommt dieser Prozess zur Erscheinung? In diesem Zusammenhang muss eine methodologische Frage, d. h. wie diese Struktur sichtbar und verständlich werden kann, noch gestellt werden. Diese Wie-Frage ist die Frage nach der Methode, nämlich der Phänomenologie als Methode der Daseinsontologie. Mit der Erklärung des Begriffs Phänomen sollte die Analyse dieser Frage angefangen werden. Inwiefern bezieht sich Phänomen und Phänomenologie auf die Methode des Daseinsverstehens? Einen Leitfaden kann man in dem Mythos der Cura finden. Aus welchem Grund erzählt Heidegger die Fabel der Sorge? Inwiefern nennt er die Sorge das Grundphänomen? Im folgenden Kapitel soll auf diese Fragen näher eingegangen werden.

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Contradictio der endlichen Freiheit.

7. Kapitel

Sorge als Grundphänomen § 25 Mythos der Cura 1. Cura enim quia prima finxit In der Daseinsanalytik wird der Mythos der „cura“ 171 in Bezug auf die „Selbstauslegung des Daseins als ,Sorge‘“ (SuZ 198) dargestellt. Das lateinische Wort „cura“ selbst bedeutet „Sorge“ in dem Sinne des „Sich-Kümmerns“ 172. Die Geschichte der Sorge lautet folgendermaßen: Die Sorge bzw. Cura formte ein Stück Ton, als sie über einen Fluss ging. Nachdem Jupiter dem geformten Stück Geist verlieh, stritten die Sorge, Jupiter und die Erde (Tellus) über den Name des Geformten. Da nahmen die Streitenden Saturn, die „Zeit“, zum Richter. (Vgl. SuZ 198) Daraufhin entschied der Richter Saturn: „Du, Jupiter, weil du den Geist gegeben hast, sollst bei seinem Tode den Geist, du Erde, weil du den Körper geschenkt hast, sollst den Körper empfangen. Weil aber die ,Sorge‘ dieses Wesen zuerst gebildet, so möge, solange es lebt, die ,Sorge‘ es besitzen. Weil aber über den Namen Streit besteht, so möge es ,homo‘ heißen, da es aus humus (Erde) gemacht ist.“ (SuZ 198) In dieser antiken Fabel von der Cura wird die Grundlage der Analyse der Sorge als grundsätzliche Seinsart des Daseins, des „homo“ vor171 „Cura cum fluvium transiret, videt cretosum lutum sustulitque cogitabunda atque coepit fingere. Dum deliberat quid iam fecisset, Jovis intervenit. Rogat eum Cura ut det illi spiritum, et facile impetrate. Cui cum vellet Cura nomen ex sese ipsa imponere, Jovis prohibuit suumque nomen ei damdum esse dictitat. Dum Cura et Jovis disceptant, Tellus surrexit simul suumque nomen esse volt cui corpus praebuerit suum. Sumpserunt Saturnum iudicem, is sic aecus iudicat: ’tu Jovis quia spricitum dedisti, in morte spiritum, tuque Tellus, quia dedisti corpus, corpus recipito, Cura enim quia prima finxit, teneat quamdiu vixerit. Sed quae nunc de nomine eius vobis controversia est, homo vocetur, quia videtur esse factus ex humo.“ (SuZ 198). Diese Fabel des Hyginus ist „dadurch über alle mögliche Berühmtheit in ihrer Gattung hinausgewachsen, dass sie von Heidegger in ,Sein und Zeit‘ aufgenommen wurde.“ (Hans Blumenberg: Daseins Sorge, in: Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 197) Blumenberg schreibt über die Verbindung der Daseinsanalytik zu Goethes „Faust“ in Bezug auf diese Fabel der Sorge: „Heidegger hatte Konrad Burdachs 1923 erschienene und das erste Heft von Rothackers ,Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte‘ eröffnende Abhandlung über ,Faust und die Sorge‘ gelesen. Dort war nachgewiesen, dass Goethe die Gestalt der Sorge aus Herders Bearbeitung der CuraFabel in der Sammlung des Hyginus, aus dem Gedicht ,Das Kind der Sorge‘, entnommen hatte.“ (Blumenberg, Sorge, S. 197). 172 „Sich-sorgen“ bzw. „care“ auf Englisch.

§ 25 Mythos der Cura

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bereitet. Die Analyse des „homo“ in Beziehung auf die Sorge soll näher ausgeführt werden. Die Sorge gründet sich in dem Wesen des Daseins, denn „cura enim quia prima finxit, teneat quamdiu vixerit.“ (SuZ 198) Solange „homo“, das menschliche Dasein existiert, besitzt die Sorge dieses Seiende, weil die Sorge es prima finxit.173 Was diese alte Geschichte von der Sorge sichtbar macht, ist die notwendige Beziehung der Sorge und der Existenz des menschlichen Daseins auf das innere Verhalten des Daseins. Die Symbole der Geschichte sind metaphysische Begriffe, die dargelegt werden, um das Wesen des menschlichen Seins zu erklären. Die Pointe des Erzählens dieser Geschichte besteht jedoch darin, dass das Erzählen einer Geschichte mit Symbolen nicht als philosophische Methode der Untersuchung angesehen wird. Die Frage ist: Was ist dann der Zweck des Erzählens von der Geschichte der Cura in der Daseinsanalytik? 173 In der Cura-Fabel wird die Sorge zur allegorischen Figur gemacht und die Geschichte beginnt, als sie einen Fluss überquerte. Blumenberg stellt einige interessante und auch kluge Fragen nach den Lücken der Fabel und analysiert das Ereignis der Geschichte von einem neuen Gesichtspunkt: „Wie es die Fabel will, um auf das Stück tonhaltigen Lehms zu stoßen, aus dem sich etwas formen läßt. Wie kommt es zu dem Gebilde aus Lehm, das die Sorge überlegen läßt, was es wohl sei? Ist das nur ein Spiel mit zufälligem Ausgang, mit nachträglicher Absegnung durch die Geistesgabe des Jupiter? Es ist da etwas nicht in Ordnung im Gang der Fabel, und nicht nur etwas Beiläufiges. Vielmehr nimmt es sich so aus, als sei das Kernstück herausgeschnitten, welches erklären könnte, wie es zum Gebilde kommt und zu gerade diesem. Der Mangel hängt zusammen mit dem Anschein der Beliebigkeit, die am Sachverhalt stört, daß die Sorge über den Fluß geht. Wo sie doch, um auf Lehm zu stoßen, genausogut am Fluß entlang gehen könnte. [. . .] Indem ich auf die Lücke im Zentrum der Fabel stoße, wird mir unverkennbar, daß es sich um einen gnostischen Mythos handelt. [. . .] Cura geht über den Fluß, damit sie sich in ihm spiegeln kann. Spiegelungen gehören in den gnostischen Grundmythos. [. . .] Dieses Kernstück fehlt in der Fabel von Cura und damit die Verständlichkeit ihres Verhaltens: Ihr Spiegelbild, auf der Oberfläche des Flusses entstanden, zugleich auf die Masse des Lehms auf seinem Grund projiziert, enthielte ohne jede weitere Erläuterung so etwas wie die Gebrauchsanweisung für das bildnerische Gelüst. Es ist auch das des biblischen Menschenschöpfers, der Wesen nach seinem Bild und Gleichnis aus Lehm erzeugt. [. . .] Nicht also, wie es im Schiedsspruch des Saturn den Anschein bekommt, darf die Sorge den Menschen lebenslang besitzen, weil sie ihn erfunden hat, sondern weil er nach ihrem Bild und Gleichnis gemacht wurde, ihres Wesens ist.“ (Blumenberg, Sorge, S. 198–199) Die Fragestellung und Interpretation der Cura-Fabel von Blumenberg offenbart eine neue Möglichkeit des Verstehens der Sorgeanalyse in Rahmen der Daseinsphilosophie bezüglich des Wesens des menschlichen Daseins. Die neue Interpretation und Problemstellung von Blumenberg finde ich ausgezeichnet, in dem Sinne, dass seine Auslegung und Wieder-erzählung der Geschichte die offenen und reichen hermeneutischen Möglichkeiten der (Erzählung der) Geschichte mit dem je eigenen Gesichtpunkt zeigt. Wenn eine Geschichte erzählt wird, kann die Geschichte von einem anderen Erzähler nie genauso, wie sie erzählt wurde, wiederholt werden. Weil der zweite Erzähler die Geschichte immer mit seinem eigenen Verständnis erzählt. Obwohl die Erzählung der Fabel der Cura inmitten der Daseinsanalytik wie eine untergeordnete Hinzufügung scheint, sieht es nicht so aus, als sei das für die Daseinsanalyse ohne Belang. Auf die Frage, warum die Geschichte der Sorge in diesem Kontext erzählt werden muss, werde ich im 8. Kapitel zurückkommen.

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7. Kap.: Sorge als Grundphänomen

Durch das Erzählen von der Geschichte der Sorge offenbart sich die Sorge als etwas, das das menschliche Dasein besitzt, solange es in der Welt existiert. Der Akt des Erzählens ermöglicht diesen Offenbarungsprozess. Dennoch kann das Dasein sein Sein nicht bloß durch das Hören dieser Geschichte verstehen. Es muss seine eigene Geschichte selbst erzählen, damit es sein eigenstes Seinkönnen selbst sichtbar machen und verstehen kann. Allerdings verlangt diese Geschichte der Sorge noch eine philosophische Untersuchung des jeweiligen Daseins, d. h. die phänomenologische und hermeneutische Methode. Das ist der ontologische Nachweis der Geschichte, den Heidegger erwähnt. Symbolisch impliziert die Geschichte der Cura die Universalität der Philosophie der anonymen Subjektivität. Jedoch ist die Cura-Geschichte nicht meine Geschichte, daher kann ich durch diese Geschichte meine eigene Geschichte weder selbst erzählen noch verstehen. Wenn der Akt des Erzählens aber völlig mein Akt ist, enthüllt er die ursprüngliche Möglichkeit seines eigenen Seinsverstehens. Die Geschichte der Sorge174 lässt sich zunächst als eine sinnbildliche Darstellung der ontologischen Struktur des Daseins sehen. Dies zeigt der Punkt, wo die Daseinsanalytik als universale und verständliche Theorie der Philosophie das eigenste Verstehen meines Seins offenbart. Im 8. Kapitel Geschichte und Erzählung des Daseins soll der Verstehensprozess meiner je eigenen Geschichte ausführlich analysiert werden. In diesem Kapitel aber wird zuerst der Sinn der Sorge als Zeitlichkeit und ihre zweifache Struktur näher dargelegt. Da werde ich die Bedeutung des Begriffs Sinn in Bezug auf den Begriff der Handlung analysieren und beweisen, inwiefern die Zeitlichkeit der Sinn der Sorge ist. Die Bewegung der Zeitlichkeit interpretiere ich als Prozess.175 Der Prozess der Zeitlichkeit reflektiert die Struktur des existenzialen Verstehens des Daseins. Im Grunde genommen bezieht sich die zeitliche Struktur des Verstehens auf die Selbstauslegung des Daseins in seinem Freisein bzw. seiner Hermeneutik. „Wie“ das Dasein sich selbst versteht bzw. auslegt, ist eine Frage nach der Methode. Die Methode, wie das Dasein sein Sein für sich selbst offenbart bzw. sichtbar und verständlich macht, bedeutet die Phänomenologie des Daseins. In der Phänomenologie als Methode des Daseinsverstehens steht die Sorge noch im Zentrum des Diskurses, weil sie in der Daseinsanalytik ein existenzial-ontologisches Grundphänomen meint. Aus diesem Grund wird die Ontologie des Daseins im Anschluss an seine Phänomenologie und Hermeneutik näher erläutert. Zunächst werde ich die Grundbegriffe der Phänomeno-

174 Man muss diese alte Geschichte der Sorge, d. h., die Tradition, schließlich überschreiten und seine eigene Geschichte verstehen. Damit ist nicht gemeint, dass man die Tradition vollständig destruieren soll, in dem Sinne, dass man nichts von der vorgängigen Geschichte übernehmen sollte. Wir stehen noch auf dem Boden der Tradition. Die Art und Weise der Destruktion bedeutet die Überwindung der alten, vielleicht missverstandenen und verlaufenen Philosophie, nicht die Vernichtung oder vollständige Demolierung der Tradition. 175 Siehe 2. Kapitel.

§ 25 Mythos der Cura

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logie, nämlich Phänomen und Logos im Rahmen der Heidegger’schen Daseinsanalytik veranschaulichen. Danach sollen die Grundstücke der Phänomenologie, d. h. Reduktion, Konstruktion, Destruktion nach der Heidegger’schen Darstellung des Begriffs Phänomenologie dargelegt werden. Danach werde ich die Phänomenologie als die Methode der Ontologie des Daseins bzw. die Hermeneutik seiner Existenz darstellen. Schließlich soll nachgewiesen werden, aus welchem Grund die Phänomenologie des Daseins als die Erzählung der Geschichte des Daseins interpretiert werden kann. 2. Das In-der-Welt-sein Die Sorge kann nur während des Verlaufs des Lebens Dasein besitzen. Insofern der homo lebt, lebt er in der Welt. Anders ausgedrückt: Das Dasein wird „von diesem Ursprung [Sorge] nicht entlassen, sondern festgehalten, und von ihm [Sorge] beherrscht, solange dieses Seiende ,in der Welt ist‘.“ (SuZ 198) Die räumliche Vorraussetzung des Seins des Daseins als In-der-Welt-sein konstituiert die Grundart der Existenz des Daseins. Dasein existiert in der Welt, solange es lebt. Als In-der-Welt-sein sorgt das Dasein sich um sein Sein, weil das Wesen dieses Seienden auf der Sorge beruht. Da enthüllt die Sorge des Daseins die Grundverfassung des Daseins als das Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht. Der Sinn der Sorge offenbart sich in der Zeitlichkeit, in deren Prozess sich das Dasein als endliches Seiendes um sein Sein sorgt. Auf die Endlichkeit seines eigenen Seins bezieht sich die Sorge des Daseins. Das heißt, die Sorge des Daseins gründet sich in dem Wesen des menschlichen Daseins als endliches Seiendes. Dass sich das Dasein als In-der-Welt-sein um sein eigenstes Seinkönnen sorgt, bedeutet: Das Dasein entwirft sich ständig auf Möglichkeit seines Seins, indem es zu seinem Tod vorlaufen kann. Dieses Sichentwerfen des Daseins ist doch immer ein geworfener Entwurf, weil das Dasein im Grunde genommen das In-der-Welt-sein ist. Nur wenn es in die Welt geworfen ist, kann es als sich-sorgendes Seiendes existieren. Denn, „solange dieses Seiende ,in der Welt ist‘“ (SuZ 198), besitzt es die Sorge. 3. Die zweifache Struktur der Sorge In der Struktur der Geworfenheit und des Entwurfs wird die Grundart der Existenz des Daseins enthüllt: Als In-die-Welt-geworfenes-Sein entwirft sich das Dasein ständig auf Möglichkeiten seines Seins. Das Sichentwerfen des Daseins weist auf den Hauptcharakter der Sorge hin. Um Möglichkeiten seines Seins, auf die sich das Dasein entwirft, sorgt sich dieses Seiende. Der Entwurf des Daseins als Akt des Sich-Kümmerns wird als Sorge bezeichnet. Diese „cura“ (Sorge) ermöglicht das Sich-Kümmern des Daseins während seines Existierens in der Welt. Aber es ist das „finis“ (Ende) des Daseins, das als Tod eine notwendige konstruk-

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7. Kap.: Sorge als Grundphänomen

tive Bedingung der Struktur der Sorge konstituiert. Als Sein-zum-Tode zeigt das „Vorlaufen zum Tode“ des Daseins das endgültige Entwerfen bzw. Sich-Sorgen des Daseins. Das heißt, das endliche Dasein ist in der Welt. Die Geworfenheit-in-die-Welt ermöglicht das Zurückkommen des Daseins, in dem Sinne, dass das Zurückkommen aus seinem Vorlaufen-zum-Tode überhaupt das Zurückkommen auf sein faktisches Da bzw. die Geworfenheit bedeutet. Zusammen mit dem Sichentwerfen konstituiert das Zurückkommen auf sein In-der-Welt-Sein die andere strukturelle Bedingung für die Sorge. Infolgedessen kann sich die Sorgestruktur in einem Prozess zwischen den beiden Punkten der Geworfenheit und des Todes vollziehen. Diesen Prozess bezeichnet die Zeitlichkeit als geworfener Entwurf. Allerdings gelangt dieser Prozess auf keinen Fall zur Vollendung, es sei denn, dass das Dasein als endliches Seiendes schon in die Welt geworfen ist. Zunächst muss das Dasein in der Welt sein bzw. existieren, um sich „im Werfen“ auf Möglichkeiten entwerfen zu können. Die Sorge offenbart die Grundart des Seins des Daseins „in ihrer wesenhaft zweifachen Struktur176 des geworfenen Entwurfs“ (SuZ 199). Im folgenden Zitat Heideggers lässt sich die Grundverfassung der Seinsart des Daseins als Sorge zeigen: „Die perfectio des Menschen, das Werden zu dem, was er in seinem Freisein für seine eigensten Möglichkeiten (dem Entwurf) sein kann, ist eine ,Leistung‘ der ,Sorge‘. Gleichursprünglich bestimmt sie aber die Grundart dieses Seienden, gemäß der es an die besorgten Welt ausgeliefert ist (Geworfenheit).“ (SuZ 199) Das Sein des Daseins konstituiert also das Endlichsein und das Freisein des Daseins zusammen.

§ 26 Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge Nach der Erläuterung der Struktur der Sorge werde ich nun auf das innere Verhalten der zweifachen Struktur der Zeitlichkeit in einem Prozess als Sinn der Sorge eingehen. In der zweifachen Struktur der Geworfenheit und des Entwurfs gründet sich die Zeitigung der Zeitlichkeit als performativer177 Prozess. In diesem lebendigen Prozess vollzieht sich das Ganzseinkönnen des Daseins. Als Zeitlichkeit178 ist das Dasein bestimmt (vgl. SuZ 326) und die Zeitlichkeit enthüllt sich als der Sinn der Sorge (vgl. SuZ 326).

176 Die Struktur der Sorge ist im Wesentlichen zweifach, daher besteht die Struktur in einem performativen Prozess. 177 Ein lebendig-geschehender Prozess. 178 „Sofern das Dasein als Zeitlichkeit bestimmt ist, ermöglicht es ihm selbst das gekennzeichnete eigentliche Ganzseinkönnen der vorlaufenden Entschlossenheit.“ (SuZ 326) Das Dasein kann sein eigentliches Ganzseinkönnen der vorlaufenden Entschlossenheit in seinem Schuldigsein verstehen. Im 4. Kapitel wird das Schuldigsein des Daseins in Bezug auf den Grund der Zeitlichkeit näher erläutert.

§ 26 Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge

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1. Omne agens agit propter finem: Das Ziel der Zeitlichkeit Als Zeitlichkeit offenbart der Sinn der Sorge in ihrem Strukturganzen das Wesen der Sorge, das sich in der Endlichkeit des menschlichen Daseins gründet. Das heißt: Die Endlichkeit des Daseins als Sein-zum-Tode konstituiert den Prozess der Zeitlichkeit. Was verstehen wir aber unter dem Begriff „Sinn“? Inwiefern ist die Zeitlichkeit der Sinn der Sorge? Der Begriff Sinn bezieht sich auf der Zweckmäßigkeit innerhalb eines Verhalten des Daseins. Dieses Verhalten kann als Handlung erklärt werden. Die Grundfrage hinsichtlich des Sinns als Handlung im Prozess der Zeitlichkeit lautet: Zu welchem Zwecke bewegt sich dieser Prozess? Diese Frage führt zu dem berühmten Satz des Thomas von Aquin, der ursprünglich von Aristoteles Metaphysik stammt: omne agens agit propter finem. Das heißt: Alles Handeln handelt um eines Zieles willen. Die Frage nach dem Sinn ist demnach die Frage nach dem Ziel. Dann können wir jetzt noch mal die Frage nach dem Sinn der Sorge wieder richtig stellen: Zu welchem Zwecke bewegt sich die Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge bzw. woraufhin richtet sich der Sinn der Sorge? Dies ist eine Frage nach dem tÝloò, d. h. finis. Woraufhin sich der Prozess der Zeitlichkeit richtet, ist das finis seines Seins, das heißt, sein eigenstes Seinkönnen als Möglichkeit in dem vollkommenen Prozess der Zeitlichkeit. Dasein existiert endlich und sein Ende als eigenste Seinsmöglichkeit ermöglicht seine Existenz zum Ganzen. Als endliches Seiendes ist das Dasein seines Endes, d. h. seines Todes schuldig, das bedeutet, es ist verantwortlich für seine Nichtigkeit.179 Die Nichtigkeit des Daseins als sein eigenstes Seinkönnen konstituiert das ursprüngliche „Woraufhin“ des Prozesses der Existenz und lässt den Prozess zum Ganzen sich vollziehen. In dem vollkommenen Prozess der Zeitlichkeit liegt der Sinn der Existenz. Der Sinn der Sorge nämlich ist die Zeitlichkeit. Der Begriff des Sinns als Handlung enthüllt die Bewegungsweise und das Ziel des Prozesses der Zeitlichkeit als geworfener Entwurf. Die Struktur der Sorge erhellt das eigentliche Verstehen des Daseins zu seiner eigensten Grundverfassung als Sein-zum-Tode, das in dem lebendigen Prozess der Zeitlichkeit an sein Ziel kommt: Omne agens agit propter finem. 2. Der Prozess der Zeitlichkeit Die Grundart der Existenz des Daseins sieht so aus: Das Dasein ist in die Welt geworfen (Geworfenheit) und solange es so ist, entwirft es sich ständig auf Möglichkeiten (Entwurf). Dass das Dasein als In-der-Welt-sein im lebendigen Prozess des geworfenen Entwurf existiert, führt die Faktizität der Existenz des Daseins an. Das Dasein kann überhaupt sich auf Möglichkeiten seines Seins entwerfen, weil das Dasein auf seine gewesende Geworfenheit zurückkommt (vgl. SuZ 326). Die Geworfenheit des Daseins bedeutet, dass das Dasein immer schon in der 179

Siehe 4. Kapitel.

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7. Kap.: Sorge als Grundphänomen

Welt als „ich bin-gewesen“ (SuZ 326) ist. Die Gewesenheit180 der Geworfenheit in der Form von „ich bin-gewesen“ manifestiert nicht das Vergangene des Daseins, das nicht mehr vorhanden ist, sondern das faktische und anwesende Wesen der Existenz des Daseins. Zusammen mit seinem ständigen Sichentwerfen auf Möglichkeiten seines Seins konstituiert das Zurückkommen des Daseins auf seine gewesende Geworfenheit den lebendigen Prozess der Zeitlichkeit. Diese zweifache Bewegungsstruktur der Zeitlichkeit hat ihre Wurzeln in der zweifachen Struktur der Sorge. Das Sein des Daseins wird als Sorge verstanden und die Sorge gründet sich in der Zeitlichkeit (vgl. SuZ 382). Im folgenden Zitat von Heidegger wird die Verbindung der Sorge und der Zeitlichkeit zum Ausdruck gebracht: „Wenngleich im einzelnen viele Strukturen des Daseins noch im Dunkel liegen, so scheint doch mit der Aufhellung der Zeitlichkeit als ursprünglicher Bedingung der Möglichkeit der Sorge die geforderte ursprüngliche Interpretation des Daseins erreicht zu sein. Die Zeitlichkeit wurde im Hinblick auf das eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins herausgestellt. Die zeitliche Interpretation der Sorge bewährte sich sodann durch den Nachweis der Zeitlichkeit des besorgenden In-der-Welt-seins.“ (SuZ 372) Die Endlichkeit des Daseins als die eigenste Möglichkeit seines Seins ergreift das Ganze der Seinsverfassung. Aus diesem Grund richtet sich die Bewegung der Zeitlichkeit im Grunde als die ursprüngliche Seinsweise des Daseins auf die Zukunft, indem das Dasein zu seiner Endlichkeit bzw. zum Tod vorläuft. 3. Zeit als Zeitigung der Zeitlichkeit Die Zeitlichkeit „ist“ 181 jedoch kein Seiendes, darum verfängt es sich in Widersprüchen, Zeitlichkeit als etwas zu definieren. Die Zeitlichkeit kann nicht etwas sein, denn: „Die Zeitlichkeit ,ist‘ überhaupt kein Seiendes, sie ist nicht, sondern zeitigt sich.“ (SuZ 328) Im Prozess besteht, so die These dieser Arbeit, die Zeitlichkeit als Bewegung, die als Zeitigung bezeichnet werden kann. Der Prozess der Zeitigung der Zeitlichkeit weist auf die Seinsart des Daseins hin. Für das Dasein ist Zeit als Zeitigung der Zeitlichkeit: „Zeit ist ursprünglich als Zeitigung der Zeitlichkeit, als welche sie die Konstitution der Sorgestruktur ermöglicht“ (SuZ 331), so Heidegger. Die Zeit als Zeitigung der Zeitlichkeit des Daseins ist die ursprüngliche Zeit. Allerdings ist die ursprüngliche Zeit endlich (vgl. SuZ 331), denn die Zeitigung der Zeitlichkeit ist die Zeit des Daseins. Demgemäß ist die Zeitlichkeit „wesenhaft ekstatisch“ (SuZ 331), in dem Sinne, dass 180 Die Gewesenheit der Geworfenheit des Daseins wird im 3. Kapitel im Vergleich zur Analyse der Husserlschen Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins näher erläutert werden (vgl. Husserl, Zeitbewußtsein). Die Gegenwärtigkeit der gewesenden Geworfenheit des Daseins weist nicht darauf hin, dass die Vergangenheit des Daseins im zukünftigen Prozess der Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge eliminiert ist. 181 Nicht in dem Sinne des Existierens.

§ 27 Selbstauslegung des Daseins in seinem Freisein

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sie sich „ursprünglich aus der Zukunft“ (SuZ 331) zeitigt. Die ursprüngliche Zeit für das Dasein ist die Zeitlichkeit (vgl. SuZ 329), die seine Seinsart als Sorge strukturiert. Saturnus, der sich im Mythos der Cura als „Zeit“ (vgl. SuZ 199) präsentiert, kommt als Richter für die Streitenden. Die „gigantomaxßa perÍ t‰ò ožsßaò“ (SuZ 2) wird durch die „Zeit“ in Ordnung gebracht (vgl. SuZ 198–199). In der Fabel der Sorge ist die Zeit nicht als ein Element der Konstruktion des „homo“ vorausgesetzt, sondern spielt die Rolle des Richters für die Streitenden, von denen jeder einen Teil zur Formulierung des „homo“ beigetragen hat. Trotzdem ist es schließlich Zeit, die die Entstehung des „homo“ vollzieht. Zeit ermöglicht die Konstitution der Grundstruktur des „homo“; sie lässt die Sorge „homo“ besitzen, solange er lebt. Allerdings kommt die Zeit in der Reihenfolge der Geschichte hinterher. In der wesentlichen Seinsverfassung des Daseins kommt die Zeitlichkeit als die Grundstruktur seines Seins vor der Zeit. Zeitlichkeit ist ursprünglicher als Zeit: „Wenn daher die der Verständigkeit des Daseins zugängliche ,Zeit‘ als nicht ursprünglich und vielmehr entspringend aus der eigentlichen Zeitlichkeit nachgewiesen wird, dann rechtfertigt sich gemäß dem Satze, a potiori fit denominatio, die Benennung der jetzt freigelegten Zeitlichkeit als ursprüngliche Zeit.“ (SuZ 329) Als der Sinn der Sorge ist die Zeitlichkeit des Daseins geschichtlich in der Beziehung auf das Geschehen des je-meinigen Daseins als Ereignis der je eigenen Existenz. Zeit als Zeitigung der Zeitlichkeit ist die ontologische Zeit des Daseins, die unterschiedlich von dem alltäglichen Begriff der Zeit, welche eine Reihenfolge hat, d. h. zählbar und doch unendlich ist. Die Zeit des Daseins als Zeitigung der Zeitlichkeit ist die ursprüngliche Zeit, die auf dem ursprünglichen Seinkönnen des Daseins basiert und durch das je Freiwerden des Daseins erzeugt wird.

§ 27 Selbstauslegung des Daseins in seinem Freisein 1. Perfectio hominis In seiner eigenen Seinsart besitzt das Dasein die Möglichkeit des Selbstverstehens, dessen Verfassung die Freiheit des Daseins für seine eigentliche existenzielle Möglichkeit offenbart. „Das Dasein ist Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses Selbst geht. Das ,es geht um . . .‘ hat sich verdeutlicht in der Seinsverfassung des Verstehens als des sich entwerfenden Seins zum eigensten Seinkönnen.“ (SuZ 191) Als In-der-Welt-sein entwirft sich das Dasein auf Möglichkeiten seines Seins, indem es sich aus seiner Möglichkeit bzw. aus der Zukunft verstehen kann. Im Hinblick darauf, dass das Dasein sich verstehend existiert, bezieht sich das eigenste Seinkönnen des Daseins auf sein eigentliches Verstehen seines Seins.

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7. Kap.: Sorge als Grundphänomen

In dieser Beziehung betrifft die Struktur des Verstehens als geworfenes Sichentwerfen im Grunde genommen die Seinsstruktur des Daseins als Sorge. „Diese Seinsstruktur des wesenhaften ,es geht um . . .‘ fassen wir als das Sichvorweg-sein des Daseins“ (SuZ 192), das voller gefasst besagt: „Sich-vorweg-imschon-sein-in-einer-Welt“ (SuZ 192). In der Struktur Sich-vorweg-im-schon-seinin-einer-Welt versteht das Dasein die Grundart seines Seins als In-der-Welt-sein, indem es überhaupt in der Lage ist, sich auf Möglichkeiten zu entwerfen. Der Akt des Entwurfs offenbart das Freisein des Daseins als In-der-Welt-sein, damit es über sich hinaus ist. „Dasein ist immer schon ,über sich hinaus‘ [. . .] als Sein zum Seinkönnen, das es selbst ist“ (SuZ 192), so Heidegger. Die Struktur „über sich hinaus“ enthüllt die Struktur der Sorge im Prozess der Zeitlichkeit: Das Dasein als In-die-Welt-geworfen-sein entwirft sich auf Möglichkeiten, indem es eigentlich und ursprünglich zum Tode vorläuft. Diese „wesenhaft einheitliche Struktur“ (SuZ 192) als Sich-vorweg-im-schonsein-in-einer-Welt ist „der phänomenale Ausdruck der ursprünglich ganzen Verfassung des Daseins“ (SuZ 192), d. h. „das Ganze der Daseinsverfassung“ (SuZ 192), das im Wesentlichen die Struktur der Sorge besagt. Diese zweifache Struktur der Sorge als geworfener Entwurf ermöglicht die Freiheit des Daseins: Das Wesen dieses Seienden liegt darin, dass „es je sein Sein als seiniges zu sein hat.“ (SuZ 12) In seiner eigensten Grundart des Seins hat das faktisch-seiende Dasein die Freiheit für seine existenziellen Möglichkeiten, in der Weise, dass es als das Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, d. h. als Sorge, existiert. „Im Sich-vorweg-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen liegt die existenzial-ontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten. Das Seinkönnen ist es, worumwillen182 das Dasein je ist, wie es faktisch ist.“ (SuZ 193) „Das Werden zu dem, was er in seinem Freisein für seine eigensten Möglichkeiten (dem Entwurf) sein kann“ (SuZ 199), weist auf „die Perfectio des Menschen“ (SuZ 199) hin. Im Prozess der Zeitlichkeit entwirft sich das Dasein im Werfen auf Möglichkeiten hin, wobei das Dasein sich aus seiner Möglichkeit versteht: der Tod des Daseins, der die Seinsart des Daseins als Sorge vollzieht, lässt das Sein des Daseins in sich vollkommen werden. Perfectio hominis ist „eine ,Leistung‘ der ,Sorge‘“ (SuZ 199), in der Hinsicht, dass die Freiheit des Dasein sich in dem Wesen des geworfenen Entwurfs gründet. Obgleich das Dasein als Sorge endlich existiert, geht es in seiner eigensten Seinsart über sich hinaus, damit es als Freisein existieren kann. In Bezug auf die Perfectio hominis im Grund und Wesen der Sorge stellt Heidegger einen Teil von dem letzten Brief von Seneca dar: „,Unter den vier existierenden Naturen (Baum, 182 Worumwillen impliziert das Ziel der Handlung bzw. den Sinn der Existenz des Daseins als Zeitlichkeit.

§ 27 Selbstauslegung des Daseins in seinem Freisein

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Tier, Mensch, Gott) unterscheiden sich die beiden letzten, die allein mit Vernunft begabt sind, dadurch, dass Gott unsterblich, der Mensch sterblich ist. Bei ihnen nun vollendet das Gute des Einen, nämlich Gottes, seine Natur, bei dem anderen, dem Menschen, die Sorge (cura): unius bonum natura perficit, dei scilicet, alterius cura, hominis‘.“ (SuZ 199) 2. Die vorontologische Auslegung des Daseins Das Dasein existiert geschichtlich als geworfener Entwurf.183 Im Prozess der Zeitlichkeit geschieht das Sein des Daseins. Diese Geschichtlichkeit des Daseins verlangt nun eine einzigartige Methode des Verstehens seines Seins. Heidegger schreibt: „Wenn das Dasein im Grunde seines Seins ,geschichtlich‘ ist, dann erhält eine Aussage, die aus seiner Geschichte kommt und in sie zurückgeht und überdies vor aller Wissenschaft liegt, ein besonderes, freilich nie rein ontologisches Gewicht. Das im Dasein selbst liegende Seinsverständnis spricht sich vorontologisch aus“ (SuZ 197). Die vorontologische Art und Weise des Seinsverstehens des Daseins bezieht sich auf die phänomenologische Methode der Daseinsanalytik. Der Begriff Phänomen soll in Bezug auf die Grundart des Daseins als Sorge im folgenden Abschnitt noch näher erklärt werden. Aufgrund dessen, dass das Dasein als Geschichtliches für das eigentliche Seinsverständnis seiner selbst eine vorontologische und phänomenologische Methode fordert, „soll jetzt ein vorontologisches Zeugnis angeführt werden, dessen Beweiskraft zwar ,nur geschichtlich‘ ist“ (SuZ 197). Das Dasein braucht ein Zeugnis, in dem es sich „über sich selbst aus, ,ursprünglich‘“ (SuZ 197) sprechen kann. Als das vorontologische Zeugnis soll deshalb die Geschichte der Sorge dargestellt, oder eher erzählt 184 werden. Die Geschichte der Sorge betrifft die Geschichtlichkeit des Daseins, die sich in der Struktur der Sorge enthüllt. Durch die Geschichtlichkeit ist das Dasein charakterisiert. Jedoch betont Heidegger, dass dieser Charakter des Daseins erst „ontologisch nachgewiesen werden“ (SuZ 197) muss. Was er aber unter dem Ausdruck „ontologischer Nachweis“ versteht, soll noch erklärt werden. Der Charakter der Geschichtlichkeit von dem Dasein gründet sich in der Struktur der Sorge als die Grundart des Daseins, die von dem Dasein selbst nur vorontologisch ausgelegt werden kann: „Die ontologische Interpretation des Daseins hat die vorontologische Selbstauslegung dieses Seienden als ,Sorge‘ auf den existenzialen Begriff der Sorge gebracht.“ (SuZ 200) Als Sorge offenbart sich der Prozess der vorontologischen Selbstauslegung des Daseins in seiner Geschichtlichkeit phänomenologisch, denn die Sorge ist das „Grundphänomen“ (SuZ 196) 183

Siehe 8. Kapitel. Die Beziehung der Geschichte und des Akts des Erzählens soll im 8. Kapitel noch näher betrachtet und ausführlich erläutert werden. 184

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7. Kap.: Sorge als Grundphänomen

des Daseins. In diesem Sinne sollte der ontologische Nachweis in Bezug auf den Charakter des geschichtlichen Daseins als phänomenologisch betrachtet werden. 3. Sorge als Grundphänomen Wie das Dasein sein Sein selbst vorontologisch auslegt, ist eine Frage nach der Methode. Der Charakter der Sorge als die Grundart des Daseins bietet einen Leitfaden für die Grundmethode der Selbstauslegung des Daseins. Die Struktur der Sorge (geworfener Entwurf) als Prozess des Verstehens zeigt selbst den Grundcharakter des Daseins in seiner Geschichtlichkeit: Dasein ist das Seiende, das in dem Selbstverstehen seines Seins existiert. Die Grundart dieses Seienden ist das Verstehen, in dem es sich bewegt, d. h. geschieht. Als verstehendes Geschehen soll das Dasein sein Sein selbst auf phänomenologische Weise auslegen, denn der Begriff Phänomen in dem Sinne des „Sichzeigens“ bezieht sich auf die Offenbarung der Sich-verstehenden-Struktur des Daseins. In der Struktur der Sorge gründet sich das Wesen des Selbstverstehens des Daseins: Dasein kann die Grundverfassung seines Seins im Ganzen begreifen, nur weil es als das Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein selbst geht, existiert. Nämlich, es sorgt sich um sein Sein bzw. seinen Tod. In Hinblick darauf, dass die Sorge die Grundart des Seins des Daseins enthüllt bzw. sichtbar und verständlich macht, sollte die Sorge als ein Phänomen bezeichnet werden. In dieser Beziehung veranschaulicht Heidegger: „Der Ausdruck ,Sorge‘ meint ein existenzial-ontologisches Grundphänomen.“ (SuZ 196)

§ 28 Ontologie: phänomenologische Hermeneutik des Daseins 1. Phänomen a) Phänomen als —ainümenon Vor dem Diskurs über die phänomenologische Methode des Daseins als Sorge, soll der Begriff des Phänomens zunächst näher erklärt werden. Der Begriff des Phänomens bezieht sich wesenhaft auf den Begriff Erscheinung in dem Sinne des „Sich-zeigens“. Im gegebenen Fall wird der Ausdruck Phänomen auch als Synonym von Erscheinung betrachtet: „,Phänomen‘ bezeichnet das, was in der sinnlichen Erfahrung gegeben ist, unabhängig von jeglicher theoretischen Konstruktion. In diesem Sinn wird es oft als Synonym von ,Erscheinung‘ (lat. ,apparentia‘) verwendet.“ 185 Heidegger betrachtet allerdings den Begriff Phänomen nicht notwendig als Synonym von Erscheinung. Er interpretiert den Ausdruck Phäno185

Gianfranco Soldati: Phänomen, in: Sandkühler, Enzyklopädie Philosophie, 1943a.

§ 28 Ontologie: phänomenologische Hermeneutik des Daseins

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men zunächst etymologisch, indem er die Bedeutungen der verwandten Begriffe Phänomen, Schein und Erscheinung unterscheidet. Phänomen bedeutet im Grunde genommen „Sich-zeigen“: „Der griechische Ausdruck —ainümenon186, auf den der Terminus ,Phänomen‘ zurückgeht, leitet sich von dem Verbum —aßnesqai her, das bedeutet: sich zeigen.“ (SuZ 28) Der reflexive Ausdruck „Sich-zeigen“ hat seinen Ursprung in der medialen Bildung des Worts —aßnw. Dieser sich-reflektierende Charakter des —ainümenon bedeutet das „Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare“ (SuZ 28). Nach der Heideggerschen Interpretation des Begriffs besagt demnach Phänomen das Sich-an-ihmselbst-zeigen. b) Schein Von dem Ausdruck —ainümenon stammen aber auch privative Bedeutungen. Das bedeutet: Das Sich-zeigen zeigt nicht unbedingt immer das wahre Offenbare, d. h. das Sich-zeigen zeigt auch etwas, das wie so scheint, als etwas, das nicht wirklich das ist. Das ist Schein. Wie der Begriff Phänomen rührt der Begriff Schein auch von —ainümenon her. Trotzdem bedeutet das Scheinen nicht wirklich „Sich-zeigen“. In dem Sinne von „so aussehen wie . . .“ 187 meint Schein etwas, das „in Wirklichkeit“ nicht das ist (vgl. SuZ 28–29). In der Daseinsanalytik verzichtet der Begriff „Phänomen“ auf die privativen Bedeutungen von —ainümenon, wie „Schein“ als „so aussehen wie . . .“: „Wir weisen den Titel ,Phänomen‘ terminologisch der positiven und ursprünglichen Bedeutung von —ainümenon zu und unterscheiden Phänomen von Schein als der privativen Modifikation von Phänomen.“ (SuZ 29) Phänomen als Schein trägt eine negative Konnotation. Der Ausdruck „so aussehen wie . . .“ zeigt die Mangelhaftigkeit des Begriffs Schein aus dem Grund, dass Schein nicht als die wahre Offenbarung, d. h. ˜lÞqeia, sondern als Wie-etwas-Aussehendes sich zeigt. c) Erscheinung Demgegenüber kann man Erscheinen gebrauchen „als Titel für den echten Sinn von Phänomen als Sichzeigen“ (SuZ 30).188 Der Terminus Erscheinen be186 „Fainümenon besagt daher: das, was sich zeigt, das Sichzeigende, das Offenbare; faßnesqai selbst ist eine mediale Bildung von faßnw, an den Tag bringen, in die Helle stellen; faßnw gehört zum Stamm fa- wie fµò, das Licht, die Helle, d. h. das, worin etwas offenbar, an ihm selbst sichtbar werden kann. Als Bedeutung des Ausdrucks ,Phänomen‘ ist daher festzuhalten: das Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare.“ (SuZ 28). 187 Das Aussehende ist das „Scheinbare.“ 188 Heidegger führt verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks Erscheinung wie folgt aus: 1. Erscheinen als Sich-meldens als Sich-nicht-zeigen; 2. Das Meldende selbst, das in seinem Sichzeigen etwas Sich-nicht-zeigen anzeigt; 3. Erscheinen als Titel für den

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7. Kap.: Sorge als Grundphänomen

deutet einen Prozess des „Zur-Erscheinung-kommens“. Erscheinen bedeutet nicht etwas, das etwas sich selbst zeigt, sondern „Erscheinen ist das Sich-melden durch etwas, was sich zeigt.“ (SuZ 29) Infolgedessen ist Erscheinung kein Synonym von dem Phänomen als Sich-an-ihm-selbst-zeigen. Erscheinen beruht trotzdem auf dem Wesen des Phänomens im Sinne des —aßnesqai. Wenn etwas zur Erscheinung kommt, offenbart es sich durch das, was sich zeigt: „Erscheinung als Erscheinung ,von etwas‘ besagt demnach gerade nicht: sich selbst zeigen, sondern das Sichmelden von etwas, das sich nicht zeigt, durch etwas, was sich zeigt.“ (SuZ 29) Phänomene sind dementsprechend „nie Erscheinungen“ (SuZ 30). Jedoch zeigt Heidegger einen entscheidenden Punkt über die Beziehung von Erscheinung und Phänomen auf. „Wohl aber ist jede Erscheinung angewiesen auf Phänomene“ (SuZ 30), so Heidegger. Wenn das Verweisen der Erscheinung sich an ihm selbst zeigt, d. h. Phänomen ist, zeigt dieser Verweisungsbezug im Seienden Selbst den Sinn des Phänomens. Im folgenden Zitat wird die Beziehung von Phänomen und Erscheinung ausführlich erläutert: „Phänomen – das Sich-an-ihm-selbst-zeigen – bedeutet eine ausgezeichnete Begegnisart von etwas. Erscheinung dagegen meint einen seienden Verweisungsbezug im Seienden selbst, so zwar, daß das Verweisende (Meldende) seiner möglichen Funktion nur genügen kann, wenn es sich an ihm selbst zeigt, ,Phänomen‘ ist.“ (SuZ 31) Das heißt: Wenn etwas sich an ihm selbst zeigt, ist es das Phänomen. Allerdings wenn etwas durch dieses Phänomen sich meldet, ist dieses Sich-melden (Selbstverweisung) das Erscheinen. Denn das Erscheinen verweist auf sich selbst durch das Phänomen. In diesem Sinne nennt Heidegger Erscheinen „sich-nicht-zeigen“ (SuZ 30). Aber wenn das „Wozu“ des Sich-Zeigens des Phänomens sich auf sich selbst richtet, wird es als Erscheinen bezeich-

echten Sinn von Phänomen als Sichzeigen; 4. Erscheinen im Sinne von bloßer Erscheinung, deren Sichzeigendes ist zugleich Erscheinung als meldende Ausstrahlung von etwas, was in der Erscheinung vergibt. Dieses verhüllende Nichtzeigen ist doch nicht Schein (vgl. SuZ 30). Erscheinung kann jedoch zu bloßem Schein werden: „Sofern für ,Erscheinung‘ in der Bedeutung von Sich-melden durch ein Sichzeigendes ein Phänomen konstitutiv ist, dieses aber privativ sich abwandeln kann zu Schein, so kann auch Erscheinung zu bloßem Schein werden. In bestimmter Beleuchtung kann jemand so aussehen, als hätte er gerötete Wangen, welche sich zeigende Röte als Meldung vom Vorhandensein von Fieber genommen werden kann, was seinerseits noch wieder eine Störung im Organismus indiziert.“ (SuZ 30–31) Die verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks Erscheinung können verwirrend sein, wie Heidegger selbst bemerkt. Den Ausdruck Erscheinung im Sinne von „Zur-Erscheinung-kommen“ gebrauche ich aber hier als Titel für den echten Sinn von Phänomen. Wenn etwas durch „das-Sich-an-ihmselbst-zeigen“ d. h. Phänomen zur Erscheinung kommt, vergibt sich es nicht in der Erscheinung, sondern das „Sich-an-ihm-selbst-zeigen“ verweist auf sich selbst in Wirklichkeit, d. h. nicht als bloßes Schein. Der Sinn des Phänomens besagt, worauf sich das Phänomen richtet, d. h. verweist. Das heißt: Wenn das „Sich-an-ihm-selbst-zeigen“ das Sich-meldende (Verweisende) ist, enthüllt der Prozess des „Zur-Erscheinung-kommen“ den echten Sinn des Phänomens.

§ 28 Ontologie: phänomenologische Hermeneutik des Daseins

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net. Erscheinung kann in Bezug auf die Wozu-struktur des Sich-zeigens als der echte Sinn189 von Phänomen verstanden werden. Die Seinsart des Daseins als Sorge kann zur Erscheinung kommen, wenn sich die Sorge als existenzial-ontologisches Grundphänomen des Daseins enthüllt. Wie die Sorge sich offenbart, bedeutet die Methode der Selbstauslegung des Daseins, die im Rahmen der Daseinsanalytik als „Phänomenologie“ bezeichnet werden soll. Den Ausdruck „Phänomenologie“ nennt Heidegger „primär einen Methodenbegriff “ (SuZ 27). Durch das Phänomen der Sorge soll das Wesen des Seins des Daseins sich melden, d. h. erscheinen im Sinne von Sich-an-ihm-selbstzeigen. Das ist es, „woraufhin“ die Sorge als Grundphänomen sich schließlich richtet. 2. Phänomenologie a) „Zu den Sachen selbst“ Auf den ersten Blick kann man den Terminus Phänomenologie als Komposition der beiden Wörter „Phänomen“ und „Logos“ als Wissenschaft des Phänomens interpretieren. Was bedeutet aber die Wissenschaft des Phänomens? Angesichts dessen, dass der Begriff Phänomen das „Sich-zeigen“ von etwas ausführt, bezieht sich der Ausdruck Phänomenologie auf die Methode der Offenbarung von etwas. Etwas, das sich enthüllt, zeigt die Sachen selbst, die als Phänomene im wahrsten Sinne des Wortes zur Erscheinung kommen. Aus diesem Grund gibt Heidegger den Grundsatz der Phänomenologie kund: „Der Titel ,Phänomenologie‘ drückt eine Maxime aus, die also formuliert werden kann: ,zu den Sachen selbst!‘.“ (SuZ 27) Der Ausdruck Phänomenologie „charakterisiert nicht das sachhaltige Was der Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie dieser“ (SuZ 27), das heißt, wie die Sachen selbst zur Erscheinung kommen. b) Logos als Rede Der Offenbarungscharakter der Phänomenologie wird auch von lügoò manifestiert. Der Begriff lügoò trägt auch selbst eine lange etymologische Geschichte mit verschiedenen Möglichkeiten der Auslegung und Anwendung wie „Phänomen“. In der Daseinsanalytik wird lügoò jedoch als Rede interpretiert: „lügoò als Rede190 besagt vielmehr soviel wie dhlo¯n191, offenbar machen das, wovon in der Rede ,die Rede‘ ist.“ (SuZ 32). 189

Als Handlung, die um Zieles willen handelt: Entelechie. Der Aussage (lügoò) wird von Aristoteles als das Reden bestimmt, das entweder wahr oder falsch sein kann. Jedes Reden bedeutet etwas, d. h. weist auf etwas hin. Aufweisend, sehenlassend ist nicht jedes Reden Aussage, sondern nur das, darin das Wahrsein oder Falschsein vorkommt (vgl. Heidegger: Logik, Die Frage nach der Wahrheit. 190

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7. Kap.: Sorge als Grundphänomen

Als Rede bezieht sich der lügoò auch auf —aßnesqai192. In der Theorie von Aristoteles findet Heidegger den Grund für seine Interpretation: „Aristoteles hat diese Funktion der Rede schärfer expliziert als ˜po—aßnesqai. Der lügoò läßt etwas sehen (—aßnesqai), nämlich das, worüber die Rede ist und zwar für den Redenen (Medium) bzw. für die miteinander Redenden. Die Rede ,läßt sehen‘ ˜pÎ193 . . . von dem selbst her, wovon die Rede ist.“ (SuZ 32) Die Rede, die lässt „von dem Selbst her“ (˜pÎ . . .) sehen, bedeutet in diesem Zusammenhang primär die Aufzeigung (SuZ 154) in dem Sinne der Aussage (vgl. SuZ 154). Aussage als Aufzeigung meint nämlich die Rede als „˜po—ansiò“ 194. Das, was im lügoò als ˜po—ansiò sich enthüllt bzw. aufgezeigt wird, ist das, worüber es geredet wird. Der Ausdruck lügoò als ˜po—ansiò gründet sich in der Interpretation des Begriffs lügoò bei Aristoteles als lügoò ˜po—antiküò195, „diejenige Rede und Redeform, deren Funktion es ist, das Seiende so, wie es ist, aufzuzeigen.“ 196 Die aufzeigende Rede, lügoò ˜po—antiküò offenbart (—aßnesqai) von dem Seienden selbst her (˜pÎ . . .), das über sich selbst redet, das, worüber dieses Seiende redet. Das ist die Struktur des lügoò ˜po—antiküò bzw. lügoò als ˜po—ansiò, was Heidegger als Rede bezeichnet. Im folgenden Zitat wird die Struktur der Rede näher erklärt: „In der Rede (˜po—ansiò) soll, wofern sie echt ist, das was geredet ist, aus dem, worüber geredet wird, geschöpft sein, so dass die redende Mitteilung in ihrem Gesagten das, worüber sie redet, offenbar und so dem anderen zugänglich macht.“ (SuZ 32)

Marburger Vorlesung Wintersemester 1925/26, Frankfurt am Main 1976, S. 129). „æsti de lügoò Ñpaò mÊn shmantiküò, . . . ˜pofantikÎò dÊ ož p@ò, ˜ll' ™n õ Á tÎ ˜lhqeýein í yeýdesqai pÜrxei.“ (Aristoteles, De interpretatione, 4, 17a 1–3). 191 „dhlüw: to make visible or manifest.“ (Liddell and Scott, Greek-English Lexicon). 192 Das Wesen des lügoò ist das ˜pofaßnesqai – „sehen lassen ein Seiendes, ˜pü: von ihm selbst her.“ (Heidegger, Logik, S. 133) Dieses Sehenlassen ist dhlo¯n, das der „Redesinn“ (Heidegger, Logik, S. 133) der Aussage, lügoò als ˜pofansiò bedeutet. „Der lügoò ist ˜pofantiküò, dessen auszeichende Möglichkeit des Redens im Sehenlassen liegt, der seiner Redewendung nach etwas zum Sehen bringen kann.“ (Heidegger, Logik, S. 133) Das heißt: lügoò als ˜pofansiò besagt „Aufzeigung.“ (Heidegger, Logik, 133) „Aussage: Gesagtes von der Sache selbst her sagen, so dass in dieser Rede ihr Worüber sichtbar, zugänglich für das Erfassen wird.“ (Heidegger, Logik, S. 133) Das Reden ist deshalb „aufweisend sehen lassend (Aussage).“ (Heidegger, Logik, S. 133) In diesem Sinne ist die Wahrheit als ˜lhqeýein, d. h. Unverborgenheit, Enthülltheit der Ort des lügoò (vgl. Heidegger, Logik, S. 127–135). 193 „˜pÎ: from, away from.“ (Liddell and Scott, Greek-English Lexicon). 194 Im lebendigen Reden ist ˜pofansiò Aussage in den drei Bedeutungen. Die unterscheidenden Fixierungen von lügoò als Aussage (˜pofansiò) 1. als Aufzeigung, 2. als Bestimmung, 3. als Mitteilung sind sachliche Anweisungen für die Untersuchung des Phänomens selbst (vgl. Heidegger, Logik, S. 134). 195 Aristoteles, De interpretatione, 4, 16b 26 f., in: Heidegger, Phänomenologie, S. 255–256. 196 Heidegger, Phänomenologie, S. 256.

§ 28 Ontologie: phänomenologische Hermeneutik des Daseins

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Demzufolge lässt sich der Ausdruck Phänomenologie so formulieren: lÝgein – im Sinne des ˜po—aßnesqai ± tJ —ainümena (vgl. SuZ 34), das heißt: „Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.“ (SuZ 34) Phänomen als Sich-an-ihm-selbst-zeigende (—ainümenon) und Logos als Aussage (˜po—ansiò), die beiden Begriffe beziehen sich auf das Sich-zeigen. Phänomenologie bedeutet demnach wie (Sich-an-ihm-selbst-zeigen) und wozu (Aufzeigung – wozu Logos als Aussage zeigt) des Prozesses des Sich-zeigens, d. h. Enthülltheit. In dieser Hinsicht ist Wahrheit als ˜lÞqeia (Unverborgenheit – Enthülltheit) der Ort des lügoò ˜po—antiküò und der Prozess der Enthülltheit heißt das Sich-an-ihm-selbst-zeigen (Phänomen). c) Grundstücke der phänomenologischen Methode Phänomenologie als ˜po—aßnesqai tJ —ainümena stellt ihre drei konstitutiven Grundstücke dar. Die drei Grundstücke der phänomenologischen Methode werden in „Die Grundprobleme der Phänomenologie“ 197 von Heidegger ausführlich erörtert: Phänomenologische Reduktion, Konstruktion, Destruktion.198 Das erste Grundstück ist die phänomenologische Reduktion199, die auf die Rückkehr zum vergessenen Sein vom Seienden hinweist. Die Geschichte200 der Metaphysik, die nicht an das Sein denkt201, sondern ständig „Seiendes als Seiendes“ 202 (ïn ÷  én) vorstellt, hat die Seinsproblematik nicht richtig behandelt. Die Frage nach dem Sinn von Sein soll daher wieder gestellt und erneut konstituiert werden. Dafür braucht man eine neue Methode der philosophischen Untersuchung des Seins: Die angeeignete Methode der Ontologie ist die phänomenologische Hermeneutik bzw. Selbstauslegung des Daseins.203 Wie folgt definiert Heidegger die phänomenologische Reduktion: „Das Grundstück der phänomenologischen Methode im Sinne der Rückführung des untersuchenden Blicks vom naiv erfassten Seienden zum Sein bezeichnen wir als phänomenologische Reduktion.“ 204

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Heidegger, Phänomenologie. Vgl. Heidegger, Phänomenologie, S. 29–30. 199 Abweichend von dem Sinne der logischen Reduktion. 200 Die seinsvergessende Tradition der Metaphysik. 201 Vgl. Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 9. 202 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 9. 203 Die Jeweiligkeit des Daseins muss in der phänomenologischen Reduktion vorgegeben werden. Denn die Auslegung des Daseins ist möglich „in seiner Jeweiligkeit.“ (Heidegger: Ontologie, Frankfurt am Main 1923, S. 7). 204 Heidegger, Phänomenologie, S. 29. 198

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7. Kap.: Sorge als Grundphänomen

Das zweite Grundstück heißt die Konstruktion, welche eigentlich die phänomenologische Reduktion ermöglicht und zugleich selbst in ihr ermöglicht wird. Die phänomenologische Konstruktion besagt grundsätzlich die existenziale Struktur des Daseins als geworfener Entwurf, in dessen Struktur das Seinsvertändnis ermöglicht wird. „Das Sein wird nicht so zugänglich wie Seiendes, wir finden es nicht einfach vor, sondern es muss, wie zu zeigen sein wird, jeweils in einem freien Entwurf in den Blick gebracht werden. Dieses Entwerfen des vorgegebenen Seienden auf sein Sein und dessen Strukturen bezeichnen wir als phänomenologische Konstruktion“ 205, so Heidegger. Zur begrifflichen Interpretation des Seins und seiner Strukturen, d. h. zur reduktiven Konstruktion des Seins gehört notwendig eine Destruktion, d. h. ein kritischer Abbau der überkommenen und zunächst notwendig zu verwendenden Begriffe auf die Quellen206: Das dritte Grundstück ist phänomenologische Destruktion. Die phänomenologische Konstruktion des Daseins verlangt die erneute Frage nach dem Sinn von Sein, die in der Tradition der Metaphysik vergessen wurde. Um die Frage nach dem Sinn von Sein richtig und eigentlich wieder zu stellen, muss man notwendigerweise die Geschichte der Seinsvergessenheit destruieren. Inhaltlich allerdings gehören diese drei Grundstücke der phänomenologischen Methode: Reduktion, Konstruktion, Destruktion zusammen. In ihrer Zusammengehörigkeit werden sie begründet.207 Diese drei Grundtücke der Phänomenologie zeigen nämlich einheitlich zusammen die Grundmethode der Phänomenologie, welche den Weg für die Ontologie des Daseins als Hermeneutik eines Selbstverstehens des Seins eröffnet. Die Möglichkeit des Seinsverstehens des Daseins besteht in den drei phänomenologischen Grundstücken, die im Wesentlichen in der Einheit die Methode der Phänomenologie konstituieren. Durch die Konstruktion der existenzialen Struktur des Daseins können wir die seinsvergessene Tradition überkommen und destruieren, damit können wir selbst zur Seinsfrage und schließlich zum Seinsverständnis zurückführen. Das Seinsverstehen des Daseins zeigt sich und das Sein des Daseins kommt zur Erscheinung durch die Methode der Phänomenologie. In diesem Sinne ist die Phänomenologie die Methode der Ontologie, Hermeneutik des Daseins. Im folgenden Bild wird das zusammenhängende Verhältnis der drei Grundstücke der Phänomenologie visualisiert:

205 206 207

Heidegger, Phänomenologie, S. 29–30. Vgl. Heidegger, Phänomenologie, S. 31. Vgl. Heidegger, Phänomenologie, S. 31.

§ 28 Ontologie: phänomenologische Hermeneutik des Daseins

125

Abbildung 4: Grundstücke der Phänomenologie

Die phänomenologische Reduktion, Konstruktion, Destruktion und ihre zusammenhängende Beziehung offenbaren den phänomenologischen Weg der Hermeneutik für die Faktizität208 des Daseins, d. h. Daseinsanalytik als Fundamentalontologie. 3. Hermeneutik des Daseins a) Phänomenologie als die Methode der Ontologie Worauf die phänomenologische Methode zeigt ist schließlich das Dasein und sein Verstehen seines Seins. Phänomenologie ist die Methode für das Seinsverständnis, d. h. Ontologie. Als „Lehre vom Sein“ 209 verlangt Ontologie jedoch „sich den Zugang zu dem innerhalb der philosophischen Problematik entscheidenden Seienden: Dem Dasein aus dem und für das Philosophie ,ist‘.“ 210 Denn die einzige Möglichkeit des Verstehens des Seins für uns besteht grundsätzlich im Selbstverstehen des Daseins. Worum die Maxime der Phänomenologie „zu den Sachen selbst!“ (SuZ 27) geht, ist deshalb das Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein selbst geht: „Sachhaltig genommen ist die Phänomenologie die Wissenschaft vom Sein des Seienden – Ontologie.“ (SuZ 37) b) Logos der Phänomenologie als Šrmhneýein Als die Methode der Ontologie geht die Phänomenologie um die Selbstauslegung des Daseins. „Der methodische Sinn der phänomenologischen Deskription ist Auslegung“ (SuZ 37). In seinem Sein d. h. der Selbstauslegung seines Seins kann das Dasein sich verstehen. Das Seinsverständnis des Daseins offenbart sich in der Phänomenologie. Die phänomenologische Art und Weise der Auslegung seines Seins von dem Dasein wird als „Hermeneutik“ bezeichnet: „Phänomeno208 209 210

Vgl. Heidegger, Ontologie, S. 67 ff. Heidegger, Ontologie, S. 1. Heidegger, Ontologie, S. 3.

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7. Kap.: Sorge als Grundphänomen

logie des Daseins ist Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, wonach es das Geschäft des Auslegung bezeichnet.“ (SuZ 37) Obwohl der etymologische Hintergrund des Wortes Hermeneutik unklar211 ist, weist „,Hermeneutik‘ im Sinne der Ausarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit jeder ontologischen Untersuchung“ (SuZ 37) auf den Ansatz zum eigentlichen Seinsverstehen hin. Heidegger erklärt, dass der lügoò der Phänomenologie des Daseins „den Charakter des Šrmhneýein212“ (SuZ 37) in dem Sinne der Auslegung hat. Durch Šrmhneýein des Daseins werden sowohl das zum Dasein selbst gehörige Seinsverständnis der eigentliche Sinn von Sein als auch die Grundstruktur seines eigenen Seins kundgegeben (vgl. SuZ 37). Als Hermeneutik ist die Selbstauslegung des Daseins nämlich die Grundlage der phänomenologischen Ontologie. Phänomenologie, Hermeneutik and Ontologie sind demnach notwendig zusammenhängende Begriffe zur ursprünglichen Untersuchung der Philosophie: „Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins“ (SuZ 38) als Daseinsanalytik bzw. „Analytik der Existenz“ (SuZ 38). c) Der Vorrang des Daseins in der Ontologie Die phänomenologische Ontologie bzw. Hermeneutik, ist überhaupt nur möglich unter der Bedingung der Existenz des Daseins als Verstehen. In Hinsehen darauf, dass das Seinsverständnis nur durch die Selbstauslegung des Daseins das Seinsverständnis ermöglicht wird, besitzt dieses verstehende Seiende „demnach in der Problematik der Ontologie einen ausgezeichneten Vorrang“ 213. Sofern das Dasein, das im Grunde genommen geschichtlich ist, „vor allem Seiendem den ontologischen Vorrang“ (SuZ 37) hat, wird in der Hermeneutik die Geschichtlichkeit des Daseins ontologisch ausgearbeitet. Wie214 das Dasein seine eigene Geschichte auslegt bzw. die Geschichtlichkeit des Daseins als Phänomen zur Erscheinung kommt, wird in dem Wesen des Seins des Daseins enthüllt: Das Sein des Daseins „ist das transcendens schlechthin“ (SuZ 38). d) Veritas transcendentalis Als das Ekstatische ist die Transzendenz des Daseins festzuhalten (vgl. SuZ 38). Der zeitliche Prozess der Existenz enthüllt die Struktur der ekstatischen Transzendenz des Daseins. In Hinblick darauf, dass die Zeitlichkeit des Daseins die Grundart des Seins des Daseins als Geschehen offenbart215, zeigt die Zeit211

Vgl. Heidegger, Ontologie, S. 9. Vgl. Heidegger, Ontologie, S. 9 ff. 213 Heidegger, Phänomenologie, S. 26. 214 Das „Wie“ bezieht sich auf die Phänomenologie als Methode. 215 „Transzendenz aber von Wahrheit des Seyns her: das Ereignis“ (SuZ 38, Fußnote) bzw. Geschehen. 212

§ 29 Rede als Erzählung: Phänomenologie des Daseins

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lichkeit die transzendentale Wahrheit216 des Daseins, die letztlich die phänomenologische Wahrheit in Bezug auf die Offenbarung der Seinsverfassung des Daseins betrifft: „Phänomenologische Wahrheit (Erschlossenheit von Sein) ist veritas transcendentalis.“ (SuZ 38) Die Transzendenz des geschichtlichen Daseins in dem Prozess der Zeitlichkeit bedingt die Jeweiligkeit des Daseins. Solange das Dasein als je seiniges sich verstehend existiert, kann es als „Sein-zum-Tode“ im Grunde über sich hinausgeht – zur Welt in seiner Freiheit. „Die Transzendenz des Seins des Daseins ist eine ausgezeichnete, sofern in ihr die Möglichkeit und Notwendigkeit der radikalsten Individuation liegt“ (SuZ 38). Die Individualität des Daseins bzw. die Jemeinigkeit des Daseins ist die Grundbedingung der Selbstauslegung des Daseins. Als freies Seiendes hat das Dasein sein Sein als je seiniges zu sein. „In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein.“ 217 Das jeweilige Dasein bedeutet trotzdem weder einen Begriff des isolierten Individuums noch „das Subjekt (Ich) gegenüber dem Objekt (nicht Ich)“ 218. Das Dasein spricht über sich selbst, was es selbst ist. Als Geschehen versteht das Dasein sein Sein und legt sich selbst aus. In seiner eigenen Geschichtlichkeit gründet sich die Selbstauslegung des Daseins.

§ 29 Rede als Erzählung: Phänomenologie des Daseins 1. Geschichte des Daseins In der Hinsicht, dass das Dasein durch seine Geschichtlichkeit charakterisiert wird (vgl. SuZ 197), soll die Geschichte des Daseins in Bezug auf das Selbstverstehen des Daseins noch näher analysiert werden. Wenn das Dasein als Geschehen existiert, meint dieses Geschehen nicht eine normale Geschichte, welche die vergangenen Geschehenen behandelt. Während sich eine normale Geschichte auf die Vergangenheit richtet, läuft die Geschichte des Daseins als sein geschehenes Sein auf die Zukunft. In dem existenzial-zeitlichen Prozess des geworfenen Entwurfs geschieht das Geschehen des Daseins zukünftig. In dem Prozess, dass das

216 Die Transzendenz des geschichtlichen Daseins als Zeitlichkeit bezieht sich auch auf die Freiheit des Daseins, in dem Sinne, dass die Struktur der Zeitlichkeit als geworfener Entwurf die Freiheit des Daseins bedient. Die Selbstauslegung seiner Existenz und das Seinsverständnis des Daseins als freies Seiendes begründet in sich selbst die Grundlage für alle möglichen – und ursprünglichen – Untersuchung der Philosophie und weitergehend Wissenschaften. „Die Möglichkeiten und Schicksale der Philosophie sind als Werke der Freiheit des Daseins des Menschen dessen Existenz, d. h. der Zeitlichkeit und damit der Geschichtlichkeit verhaftet, und zwar in einem ursprünglicheren Sinne als jede andere Wissenschaft.“ (Heidegger, Phänomenologie, S. 26–27). 217 Heidegger, Ontologie, S. 15. 218 Heidegger, Ontologie, S. 47.

128

7. Kap.: Sorge als Grundphänomen

Dasein als geworfenes sich selbst auf die Möglichkeit der Zukunft entwirft, geschieht das Ereignis des Seins als Sorge auf die Zukunft. Angesichts dessen, dass sich die Geschichte des Daseins auf die Zukunft bewegt, muss die existenziale Geschichte des Daseins abweichend von der normalen Geschichte verstanden werden. Nicht als eine Geschichte als die Rekonstruktion der vergangenen Zeit bzw. des Geschehenen, sondern als die Grundart der Existenz offenbart das Geschehen des geworfenen Entwurfs die Grundverfassung des Daseins. Für das Dasein ist die Sorge selbst das Geschehen bzw. seine eigenste Geschichte. Wenn die Sorge des Daseins als das Grundphänomen die ˜lÞqeia, d. h. Unverborgenheit als die erschlossene Wahrheit des Seins (des Daseins) offenbart, enthüllt sich das Geschehen des Daseins in dem Prozess des geworfenen Entwurfs als die Grundverfassung der Existenz. Durch Logos muss dieses Phänomen sich offenbaren, den Heidegger als lügoò als ˜po—ansiò bezeichnet. Diesen Logos der Offenbarung nennt Heidegger Rede. Wie offenbart sich denn der Logos des Daseins, damit enthüllt sich das Phänomen des Seins für das Dasein? Die Rede als Logos ˜po—antiküò zeigt aber nicht das Wie der Offenbarung des Logos im Sinne der Phänomenologie, d. h. wie diese Rede zur Erscheinung kommt. Der lügoò als Rede besagt soviel wie dhlo¯n im Sinne der Offenbarung. Wie redet denn das Dasein? 2. Daseins Logos als Erzählung Aufgrund dessen, dass das Sein des Daseins als Sorge geschieht, sollte sich der Logos des Daseins darin gründet, dass das Sein der Sorge als Geschehen bzw. Geschichte offenbart. Die Sorge selbst ist die Geschichte für das Dasein. In diesem Punkt liegt das Wesen des Logos von dem Dasein. Wie kann man eine Geschichte behandeln? Eine Geschichte muss man erzählen. Das heißt: Der Logos des Daseins, der das Sein als Sorge offenbart, wird in dieser Arbeit als Erzählung bezeichnet. Logos ˜po—antiküò als Rede ist die Erzählung für das geschehende Dasein. Als das Wie des Logos ˜po—antiküò erschließt die Erzählung des Daseins sein Sein als Sorge. 3. Phänomenologie des Daseins Existenzial redet das Dasein durch die Erzählung, damit ist es in der Lage sein Sein als seiniges [Ontologie] zu erschließen [Phänomenologie] und zu verstehen [Hermeneutik]. Durch die Erzählung seiner Geschichte als seiniges bringt das Dasein sein Sein zur Erscheinung. Das ist die Phänomenologie der Erzählung, die das Seinsverstehen des Daseins ermöglicht. Allerdings ist es noch nicht klar geworden, wie die Erzählung des Daseins im Prozess des Verstehens bzw. der

§ 29 Rede als Erzählung: Phänomenologie des Daseins

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Offenbarung der ˜lÞqeia fungiert. In der Beziehung, dass das Geschehen des Daseins ein zukünftiges ist, soll sich die Handlung der Geschichte bzw. der Prozess der Erzählung von der Handlung einer normalen Geschichte unterscheiden. Worin liegt denn der Sinn der existenzial-zukünftigen Geschichte? Und wie erzählt das Dasein seine Geschichte als seiniges? Im nächsten Kapitel sollen diese Fragen näher behandelt werden.

8. Kapitel

Geschichte und Erzählung des Daseins Das Erzählen einer Geschichte wird meistens nicht als eine geeignete wissenschaftliche Methode betrachtet. Besonders im Kontext einer logischen Analytik sollte man keine Geschichte erzählen, da dies oft als bloßes Phantasieprodukt missverstanden werden kann. Dennoch eröffnet in der Daseinsanalytik das Erzählen einer Geschichte als ein verstehender Akt des Daseins einen Weg zum phänomenologischen Verstehen des Prozesses von dem Selbstverständnis des Daseins. Im Wort „Phänomenologie“ liegt der Schwerpunkt dieser Interpretation des Erzählens einer Geschichte. Den Prozess, in dem der Akt des Erzählens das Dasein als „Geschehen“ zur Erscheinung bringt, werde ich in diesem Kapitel näher erläutern. Im phänomenologischen Prozess des Erzählens kommt die Verfassungsganzheit des Seins des Daseins ans Licht. „Eine ursprüngliche ontologische Interpretation“ (SuZ 232) des Daseins verlangt „eine in phänomenaler Anmessung gesicherte hermeneutische Situation“ (SuZ 232). Eine solche hermeneutische Situation des Verstehens von dem je eigenen Sein des Daseins offenbart sich im Prozess des Erzählens. Jedoch stellt sich noch eine Frage nach der widersprüchlichen Beziehung der Charaktere der Erzählung und der logischen bzw. rationalen Methode. Das Erzählen von Geschichten wird nicht gleichbedeutend mit der rationalen Analyse verwendet in der Philosophie. Philosophisch oder analytisch ist eine andere Polemik über den Begriff Erzählen aber noch möglich. Eine mögliche Auslegung des Begriffs Erzählen bezieht sich auf das Zählen in der Form 1, 2, 3, usw. und in diesem Sinne einen Schritt weiter auch auf die Zahlen. Im Charakter des Zählens bekommt der Akt des Erzählens seinen Sinn als Prozess. Trotzdem bezeugt der zählende Prozess nach der Reihenfolge der Zahlen nicht den reduzierenden Prozess der Rationalität. Die rationale Reduktion korrespondiert nicht mit dem Charakter des Erzählens. Allerdings besteht die Pointe des Phänomens des Erzählens darin, dass die rationale Reduktion kein Synonym der Objektivität ist. Obwohl eine Geschichte im Prozess des Erzählens nicht rational reduziert wird, bedeutet dies nicht, dass der Akt des Erzählens kein objektiver Prozess ist. Hingegen verlangt das Phänomen219 des Erzählens Objektivität, weil das Erzählen immer zuerst den Erzähler und den Zuhörer voraussetzt und es so219 Oder eher Phänomenalisierung, in dem Sinne, dass der Akt des Erzählens eine Geschichte zur Erscheinung bringt.

8. Kap.: Geschichte und Erzählung des Daseins

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wohl dem Erzähler als auch dem Zuhörer verständlich sein muss. Im Prozess der Objektivierung einer Geschichte erhält der Akt des Erzählens eine Möglichkeit der Verständlichkeit. In der Verständlichkeit der Erzählung einer Geschichte gründet sich die Möglichkeit der Überwindung der rationalen Subjektivität, d. h. des rein ideellen „Ich“ von der traditionellen Metaphysik. Das Verstehen seiner Einzelheiten und Individualität, d. h. der „Jeseinigkeit“ des Daseins kann auch durch den Akt des Erzählens garantiert werden. In der Phänomenologie der Erzählung seiner Geschichten des Daseins befindet sich auch die ausgezeichnete Bedeutung der transzendentalen Existenz des Daseins. Auf seine eigene Geschichte weist die Geschichte des Daseins hin, die grundsätzlich das Verstehen seines eigenen Seins als zeitliches Geschehen zeigt. Auch bekommt die Transzendenz des Daseins eine abweichende Bedeutung von dem konventionellen Verständnis des Begriffs der Transzendenz, wenn die Individualität des je Daseins als dasjenige Seiende, das sein Sein als je seiniges zu sein hat, nicht in dem ideellen Bild des Ichs bzw. der rational reduzierten Subjektivität verloren, sondern als je seiniges enthüllt wird. In der Daseinsanalytik bezieht sich die Transzendenz des Daseins nicht auf die rationale Subjektivität, sondern auf sein jeweiliges und faktisches Sein in der Welt. Die Seinsfrage in „Sein und Zeit“ ist die Frage nach dem Sinn von Sein. Das heißt, dass die Seinsfrage die Frage nach dem Sinn von dem allgemeinen Sein ist. Dennoch ist das Fragende in der Lage, dass es nur durch das Verstehen seines eigenen Seins das Fragen ins Ziel bringen kann. In diesem Sinne bedeutet die jeweilige Seinigkeit bzw. Individualität des Daseins nicht einen völligen Verzicht auf die Universalität der Philosophie. In Bezug auf die Seinsfrage nach dem Sinn von Sein liegt das Merkmal in der Daseinsanalytik darin, dass die Analyse des jeweils eigenen Daseins schließlich zum Sinn von Sein führt. Als Akt enthüllt und auch erfüllt das Erzählen einer Geschichte den Sinn der Daseinsanalytik, in der Beziehung, dass die Individualität des Daseins im Akt des Erzählens nicht verloren wird, sondern das Dasein bekommt den Sinn von Sein durch das lebendige und praktische Selbstverstehen von seinem Sein im wahrsten Sinne über das Phantom der rational reduzierten Subjektivität. Vor der Diskussion über die Geschichte und den Akt der Erzählung des Daseins soll die „kurze Geschichte“ der Geschichtsphilosophie dargestellt werden. Da handelt es um die Kontinuität der Geschichte und die Unterschiedlichkeit der Weltgeschichte, der normalen Geschichte220 und der Geschichte des Daseins in Bezug auf die Struktur der Handlung. 220 Eine normale Geschichte verweist auf die Geschichte, die die vergangenen Geschehnisse [Ereignisse] behandelt. Der Anfangspunkt einer solchen Geschichte liegt im Moment des Jetzt und die Geschichte wendet sich auf die Vergangenheit zurück. Dage-

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8. Kap.: Geschichte und Erzählung des Daseins

§ 30 Einführung zur Geschichtsphilosophie 1. Kontinuität der Geschichte: Lineare oder zyklische Kontinuität der Weltgeschichte In der Geschichtsphilosophie besteht der Diskurs über die Kontinuität der Geschichte im Zentrum als ihre Grundproblematik. Denn die Kontinuität der Geschichte ermöglicht überhaupt die Geschichte selbst, d. h. Erzählung und Schreibung der Geschichte. Hans M. Baumgartner legt die Geschichte der Diskussionen über die Kontinuität der Geschichte in seinem Buch „Kontinuität und Geschichte“ 221 dar. Was versteht man jedoch unter dem Begriff Kontinuität der Geschichte? Karl Löwitz unterscheidet in seinem Buch „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ 222 die Kontinuität der Geschichte als lineare Kontinuität von der zyklischen Kontinuität. In der theologischen „Vorstellung eines sinnvollen Prozess zwischen Schöpfung und Weltgericht“ 223 gründet sich seine These der linearen Kontinuität der Universalgeschichte. Er kritisiert, dass die neuzeitliche Vernunft auf ihre Glaubenslosigkeit achten würde, damit verzichtet sie auf ihre christliche Konzeption von der linearen Kontinuität um der anderen von der zylichen Bewegung willen224. Löwith stellt die lineare Form der Kontinuität zwischen Anfang und Ende: „Um jedoch konsequent zu sein, müßte das Vertrauen in die ,Kontinuität‘ der Geschichte zu der klassischen Theorie einer kreisförmigen Bewegung zurückkehren; denn nur unter der Voraussetzung einer Bewegung, die ohne Anfang und Ende ist, ist Kontinuität wirklich erweisbar. Denn, wie sollte man sich die Geschichte als einen kontinuierlichen Prozess in Form eines geradlinigen Fortschreitens vorstellen können, ohne die Unterbrechung durch einen terminus a quo und ad quem, d. h. ohne Anfang und Ende? Das moderne Geschichtsdenken hat darauf keine eindeutige Antwort. Es entfernt aus einem fortschrittlichen Denken die christlichen Elemente der Schöpfung und Vollendung, während es sich aus der antiken Weltschau die Idee einer endlosen und kontinuierlichen Bewegung aneignet, ohne ihre Kreisstruktur zu übernehmen. Der neuzeitliche Geist ist unentschieden, ob er christlich oder heidnisch denken soll.“ 225

Nach Löwith also sollte die Kontinuität der Universalgeschichte als eine Vorstellung eines sinnvollen Prozesses zwischen Schöpfung und Weltgericht die ligen ist die existenziale Geschichte des Daseins zukünftig, d. h. sie läuft in die Zukunft vor. 221 Hans Michael Baumgartner: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt am Main 1997. 222 Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die Theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, 3. Auflage, Stuttgart 1953. 223 Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 40. 224 Vgl. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 40. 225 Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 189, in: Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 40.

§ 30 Einführung zur Geschichtsphilosophie

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neare Kontinuität der christlichen Eschatologie zwischen Anfang und Ende bedeuten. Auf welchem Grund aber meint er, dass die Form des „sinnvollen Prozesses“ der Weltgeschichte bzw. Universalgeschichte zwischen Schöpfung und Weltgericht als nur eine lineare Kontinuität dargestellt werden muss? Zwischen zwei Endpunkten kann auch eine zyklische Form des Prozesses entstehen. Dagegen legt Schelling die Weltgeschichte als die Schöpfungsgeschichte in der zyklischen Form dar. Der Prozess der Schöpfungsgeschichte, in dem † ˜rxÌ tÎ tÝloò ist, ist der Kreis des Geschehens, der den Prozess der Schöpfung darstellt. Gleichermaßen verlangt doch eine lebendige Zirkelbewegung auch zwei konstitutive Punkte. Lediglich zwischen den beiden Punkten, Anfang und Ende kann ein lebendiger Prozess entstehen. Nach der Interpretation Schellings ist der Prozess des Werdens „vom Nichts zum Sein“ gleichzusetzen mit dem Prozess der Schöpfung. Im menschlichen Sein ist dieser Prozess beschlossen und die Aufgabe der Philosophie des Menschen besteht darin, das Prinzip des Prozesses der Schöpfung im Verstehen des menschlichen Seins zur Erscheinung zu bringen, d. h. sich zeigen zu lassen, damit es uns verständlich wird. In „Philosophie der Offenbarung“ erklärt Schelling, dass der Mensch den Kreis des Geschehens bzw. das Wesen der Schöpfung sich öffnen lassen kann: „Unsere ganze Entwicklung hat ihren Abschluß in der Annahme gefunden, daß im Menschen die Schöpfung beschlossen worden sei. Aber wir sehen, wie mit dem Menschen der Kreis des Geschehens sich wieder öffnet.“ 226

Ein wesentliches Merkmal der menschlichen Existenz in der Weltgeschichte liegt darin, dass der Mensch in seiner eigenen und eigentlichen bzw. verstehenden Seinsweise den Prozess der Schöpfung sich öffnen bzw. sich zeigen lässt. Den Menschen bezeichnet Schelling als den Schöpfer der Welt, in der er selbst existiert: „Der Mensch ward Schöpfer dieser außergöttlichen Welt.“ 227 Diese von Menschen geschöpfte Welt weist auf die Welt hin, in der wir als menschliches Dasein bzw. als freies In-der-Welt-sein existieren. Als der Ort des Existierens gründet sich diese Welt des Menschen im Wesentlichen in dem Sein des Menschen selbst. Im Prozess der Existenz bzw. des Verstehens muss das Dasein als In-der-Welt-sein deshalb notwendigerweise die Welt seines Seins verstehen. Schelling meint: „Die jetzige Welt ist eine außergöttliche; wir müssen verlangen, dass sie als solche uns begreiflich werde. Dazu ruft uns das Gefühl unserer Freiheit auf, dass nur in einem freien Verhältnis zu Gott befriedigt ist.“ 228

226 227 228

Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 199. Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 199. Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 198.

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8. Kap.: Geschichte und Erzählung des Daseins

Er nennt diese Welt die außergöttliche Welt, in dem Sinne, dass diese Welt sich auf die Grundstruktur, d. h. die Grundart des freien Menschen bezieht. Als Schöpfer seiner eigenen Welt fängt der Mensch einen neuen Prozess des Geschehens an und er behandelt sie als freier Mensch, in seinem eigenen Geschehen, um seines eigenen Zieles willen. Sein eigenes Ziel als sein Ende bezieht sich auf die Endlichkeit bzw. den Grundcharakter des Menschen als die Bedingung des menschlichen Seins. In diesem Kontext stellt Schelling eine wichtige Frage nach dem Grund bzw. Anfang für den Prozess des menschlichen Seins: „Die Absicht der Schöpfung war, daß der Mensch i n G o t t r u h e n s o l l t e . Dies fordert uns auf, zu erklären, wie es in der Macht des Menschen lag, daß im Augenblick, da Alles in die Einheit eingehen sollte, Alles in Frage gestellt wurde? Wir müssen erklären, wie der Mensch selbst eine neue Spannung hervorrufen, sich zum Anfang eines neuen Prozesses machen konnte.“ 229

Als der Prozess des Geschehens bzw. Werdens schließt der Prozess der Schöpfung notwendigerweise nicht nur den Prozess „vom Nichts zum Sein“ sondern auch den Prozess „vom Sein zum Nichts“ ein. Der Prozess des Seins-zum-Nichts und der Prozess des Nichts-zum-Sein ist im Grunde Eins oder ein Prozess. In einem zyklischen Prozess ist die Übereinstimmung des Anfang und des Endes bzw. des Seins und des Nichts möglich. 2. Struktur der normalen Geschichte und die Geschichte des Daseins Wenn aber ich als Erzähler nicht die Weltgeschichte zwischen Schöpfung und Weltgericht, sondern eine Geschichte der vergangenen Geschehenen erzähle, wie soll die Geschichte als Prozess verstanden und geschrieben werden? Die Vergangenheit und die Zukunft in dem Prozess einer solchen Geschichte können nicht mich als den Handelnden der Geschichte von dem geschichtlichen Prozess ausschließen. Das heißt: Zunächst muss die Geschichte für mich verständlich und erzählbar sein, das heißt, sie muss von mir gehandelt werden, damit bekommt eine Geschichte erst ihren eigentlichen Sinn von dem Handelnden, d. h. von mir. Wenn eine Geschichte nicht die Weltgeschichte zwischen dem absoluten Anfang und dem absoluten Ende, sondern eine normale bzw. vergangene Geschichte behandelt wird, die ich als Erzähler in dem Punkt des Jetzt anfangen und beenden kann, ist es möglich die beiden konstitutiven Punkte der Struktur der Geschichte bzw. Anfang und Ende in der linearen Kontinuität als AnfangMitte-Ende zu verstehen. In der normalen Geschichte, welche die vergangenen Geschehenen in der Struktur Anfang-Mitte-Ende behandelt, sind der Anfang und das Ende des Prozesses für mich immer verstanden und ergriffen. In der Gegen229

Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 199.

§ 30 Einführung zur Geschichtsphilosophie

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wart des Erzählers beginnt die normale Geschichte der Geschehenen und sie läuft auf die vergangene Zeit zurück. In dem Prozess der Zeitlichkeit hingegen geschieht das Existieren des Daseins zukünftig, in dem das Dasein sein eigenes Sein verstehend als Sein-zum-Tode in der Welt existiert. Das heißt, die Geschichte des Daseins ist die Geschichte der Zukunft. Dieser lebendige Prozess der individuellen Zeitlichkeit ist der Prozess des Verstehens des Daseins, in dem das Dasein sein eigenes Ereignis bzw. Geschehen als seiniges behandelt. Der Sinn dieser Handlung weist auf die Bewegung der Zeitigung selbst hin, in der es auf die Zukunft, d. h. sein Ende vorläuft. In diesem zeitlichen Prozess versteht das Dasein sich selbst. Weil das Dasein als freies Seiendes, dem es in seinem Sein um sein Sein selbst geht, existiert, läuft es auf die Zukunft bzw. zu seinem Tode vor. Damit ist das Dasein in der Lage sein Sein als sein eigenes Geschehen im Ganzen zu verstehen, das heißt, seine eigene Geschichte zu behandeln, oder dergleichen, zu erzählen. Das Freisein des Daseins als Anfang und der Tod als Ende konstituieren den Prozess der Zeitlichkeit des Daseins, d. h. seiner Geschichte. 3. Die Geschichte in der Struktur des menschlichen Handelns In Bezug auf die Struktur der Geschichte bzw. Kontinuität der Geschichte erläutert Landgrebe, dass die Grundlage der philosophischen Probleme der Geschichte sich auf die Struktur des menschlichen Handelns bezieht. In diesem Zusammenhang lehnt er auch die bildliche Idee der historischen Kontinuität ab, entweder im Bild von Linie oder Kreis. Vielmehr interpretiert er die Kontinuität der Geschichte im Rahmen des Kausalgeschehens angesichts des Handelns Gottes ohne die visuelle Vorstellung der Bewegung. „Landgrebe zeigt, daß die philosophisch relevanten Probleme der Geschichte wie das Problem der Zeit, des Endes und der Kontinuität der Geschichte nicht unabhängig von der Struktur des menschlichen Handelns geklärt werden können. Daraus ergibt sich für ihn im Blick auf historische Kontinuität, daß sie weder naiv unter den Bildern von Linie bzw. Kreis, noch objektiv als beruhend auf der Kontinuität eines lückenlosen Kausalgeschehens, noch theologisch als begründet in einem Handelns Gottes gedacht werden kann.“ 230

Für ihn ist die Kontinuität der Geschichte zu begreifen als die Einheit des Geschehens: „[. . .] die Einheit des Geschehens, so wie jederzeit in der Besinnung auf die Möglichkeiten des Handelns in seiner Situation im Rückgang auf die Bedingungen, unter denen sie diese geworden ist, erst immer wieder hergestellt wird, aus welchem Grunde auch die Geschichte immer wieder einmal neu geschrieben werden muss. Es gibt nicht für unsere Erfahrung zuerst das Geschehen in seinem sinnlosen Nachein230

Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 42.

136

8. Kap.: Geschichte und Erzählung des Daseins

ander, in dem wir uns nachträglich finden, sondern seine Vorstellung als Nacheinander mit meßbarem zeitlichen Abstand ist immer zugeordnet auf eine jeweilige Gegenwart hin, von der her die erinnernde Besinnung ,Wie ist es so gekommen?‘ zurückgeht. . . . /. . . So wie die Geschichte ihre Kontinuität und Einheit nicht in sich hat, weil es Geschichte nur durch das Handeln der Menschen gibt, und weil ihre Kontinuität jeweils immer neu hergestellt wird, dort wo das Handeln das Vergangene auf das künftig zu Verwirklichende bezieht, kann über das Ende als Sinn und Ziel des Geschehens nur jeweils im Ereignis des Handelns entschieden werden.“ 231

Die Idee des Handelns als Ereignis in seiner Einheit und Kontinuität bezieht sich bei Landgrebe klar auf die Fundamentalontologie Heideggers, „insbesondere auf deren existenziale Interpretation von Zeitlichkeit und Verstehen“ 232. Bei der Theorie der Kontinuität im Ereignis des Handelns von Landgrebe fehlt allerdings nicht nur die Anmerkung und Analyse des Handelnden, sondern auch die Erklärung der Handlungsstruktur in Bezug auf den Sinn des Prozesses, der schon in der Daseinsphilosophie durchsichtig dargelegt wird – das Ende des Daseins als sein Tod, der die Zeitlichkeit als den Sinn der Sorge zum Ganzen werden lässt. Die Entelechie des Daseins als des Handelndem befindet sich in der Struktur des omne agens agit propter finem. Der lebendige Prozess der Zeitlichkeit des Daseins als Prozess seiner Existenz gründet sich nicht in seinen Erinnerungen und ihrer Rekonstruktion. Eher bewegt sich der zeitliche Prozess des Daseins immer künftig. Dies ist genau der Punkt, von dem die Frage nach der Vergangenheit ausgegangen ist. Die Geschichte des Daseins in der Struktur der Handlung ereignet sich nicht in dem Wiederaufbau der Rückerinnerungen. Das heißt: Das Verstehen der eigenen Geschichte des Daseins beruht nicht auf der Rekonstruktion der zeitlichen Ordnung der Vergangenheit. Das Ereignis des Verstehens des Daseins ist eine Bewegung, die im zyklischen Prozess der Zeitlichkeit immer auf die Zukunft geschieht. In diesem Kreis geschieht die existenziale und zeitlich-ekstatische Bewegung immer neu mit seinem verstandenen Anfang und auch dem Ende. Die Kontinuität dieser Bewegung zwischen Anfang und Ende umfasst das ekstatische Verhältnis der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. 4. Das menschliche Ich und seine Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft Das strukturale Verhältnis von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft entwickelt Droysen in seiner „Historik“ 233. Nach Droysen liegt das Wesen der Ge231 Ludwig Landgrebe: Das philosophische Problem des Endes der Geschichte, in: Phänomenologie und Geschichte, Gütersloh 1968, S. 199 ff., in: Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 42. 232 Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 42. 233 Johann Gustav Droysen/Rudolf Hübner (Hrsg.): Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, 4. Auflage, Darmstadt 1960, in: Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 65.

§ 30 Einführung zur Geschichtsphilosophie

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schichtlichkeit in der kontinuierlichen Bewegung der Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft sind im Moment der Gegenwart durch das Subjekt reflektiert. Im folgenden Zitat betont er, dass die Geschichte als Wissenschaft überhaupt in dem vorhandenen bzw. zugänglichen Moment der Gegenwart möglich ist. „Dies ist der erste große Fundamentalsatz unserer Wissenschaft, daß, was sie über die Vergangenheiten erfahren will, sie nicht in diesen sucht, denn sie sind gar nicht und nirgend mehr vorhanden, sondern in dem, was von ihnen von noch, in welcher Gestalt immer, vorhanden und damit der empirischen Wahrnehmung zugänglich ist.“ 234

Im Rahmen der Geschichtstheorie Droysens lebt das menschliche Ich als das Subjekt des Akts der Reflexion nur in der Gegenwart.235 In seiner Theorie besteht der Begriff Reflexionsakt im Zentrum. Durch den Reflexionsakt entsteht ihm ein Begriff von Geschichte, durch den das Ich sich bewusst wird. Das heißt: Der Akt der Reflexion des menschlichen Ichs ermöglicht und eröffnet allererst Geschichte.236 Nicht nur der Begriff der Geschichte, sondern auch „ein Vorblick auf die Dimension der Zukunft“ 237 eröffnet sich ihm durch denselben Reflexionsakt. In der jeweiligen Gegenwart, in dem das menschliche Ich lebt, ist die Geschichte als Prozess zentriert. In der Gegenwart bewegt sich die Geschichte als Prozess zwischen Vergangenheit und Zukunft, indem die Kontinuität der Geschichte ermöglicht wird. „[. . .] jede Gegenwart ist erfüllt von dem endlosen Mit- und Durcheinanderarbeiten von Zwecken, Interessen und Tätigkeiten ungezählter gleichbewegter Menschenwesen, deren jedes in analoger Weise von dem gewordenen Inhalt seines geistig-sittlichen Lebens bestimmt wird. Und wie heut, gestern, so von Jahrhunderten und Jahrtausenden; und diese Bewegung der Menschenwelt hat sich in rastloser Kontinuität bis auf das Hier und Heut fortgesetzt.“ 238

Die Struktur dieser Gegenwart ist bestimmt durch einen Reflexionsakt in zwei Richtungen: „ihre [Geschichte] Strukturmomente sind Erinnerung, Wollen, Vergangenheit und Zukunft.“ 239 Diese „phänomenologische Einsicht in Form und Struktur des geschichtlichen Prozesses“ 240 zeigt nach Droysen die allgemeine Form des historischen Prozesses.241 In Bezug auf die reflektierte Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart durch das Subjekt kommt die strukturale Beziehung von Gegenwart, Vergangen-

234 235 236 237 238 239 240 241

Droysen, Historik, S. 20, in: Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 65. Vgl. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 65. Vgl. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 66. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 66. Droysen, Historik, S. 20, in: Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 66–67. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 67. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 66. Vgl. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 67.

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8. Kap.: Geschichte und Erzählung des Daseins

heit und Zukunft, indem die Kontinuität der Geschichte ermöglicht wird, in der Analyse von Agnes Heller in „A Theory of History“ zum Ausdruck. „Within given limits, ,now‘ is always transcended. I transform my present into my past, into times past, into the objects of recollection. I always transform my future into my present (in that I ,design‘, as it were, ,a‘ future for myself in the present, on the ground of the present). I transform my present into the future (the obverse side of the above procedure) via decisions, plans and projects and I transform my past into my present through the will to bring it back into my memory.“ 242

Das strukturale Verhältnis von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im Rahmen der Geschichte als Prozess ähnelt bei Droysen der ekstatischen Struktur der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins, in der Hinsicht, dass für Droysen Geschichte als Prozess durch den Reflexionsakt des menschlichen Ichs zustande kommt, und der Prozess der Zeitlichkeit durch den Prozess des Verstehens des Daseins ermöglicht wird. Für Droysen wird Vergangenheit und Zukunft strukturiert im Moment der Gegenwart durch den Akt der Reflexion. Wie das Dasein in der ekstatischen Struktur der Zeitlichkeit jederzeit anwesend-gegenwärtig existiert, lebt das Subjekt des Akts der Reflexion, d. h. das menschliche Ich auch gegenwärtig. Droysen erläutert allerdings nicht genau den Wirkungsmechanismus der Strukturmomente Erinnerung, Wollen, Vergangenheit und Zukunft der Geschichte als Prozess, d. h. wie Vergangenheit und Zukunft im Moment der Gegenwart durch den Reflexionsakt strukturiert werden. Die Hauptthese der Theorie der Strukturmomente Droysens reflektiert Husserls Zeittheorie, d. h. die Idee von Retention und Protention, mit Ausnahme des Punkts, dass Husserl in seiner Theorie die Wirkungsweise von Retention und Protention ausführlich analysiert, während die objektive Zeit eher in Form einer Linie, die aus Jeztpunkten besteht, konstituiert. In den beiden Theorien, der von Husserl als auch der von Droysen, steht das Subjekt des Aktes, das sich seiner selbst bewusst sein kann, im Zentrum. Trotzdem lassen die beiden Theorien die ursprüngliche Analyse des selbstbewussten menschlichen Subjekts aus. Das heißt: Das Sein dieses Subjekts bzw. Ichs kommt in der Problematik der Zeit und Geschichte nicht in Betracht. Habermas dagegen versucht das „praktische“ Leben des bewussten Subjekts zum Ausdruck zu bringen und die Geschichte als Lebenspraxis zu strukturieren. Dies bezeichnet er als „historisches Wissen“.

§ 31 Historisches Wissen als Erzählung 1. Historisches Wissen im Rahmen der Lebenspraxis Habermas definiert historisches Wissen im Rahmen der gegenwärtigen kommunikativen Lebenspraxis. Historisches Wissen bezeichnet Habermas nicht als rein theoretisch. Sondern es bewegt sich, Habermas zufolge, „im Spielraum von 242

Agnes Heller: A Theory of History, London 1982, S. 37.

§ 31 Historisches Wissen als Erzählung

139

prospektiver Antizipation und retrospektiver Konstruktion, der auf je gegenwärtige Lebenspraxis geschlüsselt ist.“ 243 Der Gesichtspunkt der Theorie von Habermas liegt darin, dass historisches Wissen im Rahmen der Praxis des Lebens von dem Subjekt bzw. Handelnden behandelt wird. Der praktisch-lebende Handelnde bzw. der Historiker behandelt historisches Wissen. „(Der Historiker) organisiert sein Wissen gar nicht nach Maßgabe reiner Theorie. Alles, was er historisch wissen kann, kann er nicht unabhängig vom Rahmen der eigenen Lebenspraxis erfassen. Für diese existiert Zukünftiges nur im Horizont von Erwartungen. Und diese Erwartungen ergänzen die Fragmente der bisherigen Überlieferung hypothetisch zur Totalität der vorverstandenen Universalgeschichte, in deren Licht jedes relevante Ereignis prinzipiell so vollständig beschrieben werden kann, wie es für das praktisch wirksame Selbstverständnis seiner sozialen Lebenswelt möglich ist. Implizit verfährt jeder Historiker in der Weise . . . Er antizipiert unter Gesichtspunkten der Praxis Endzustände, von denen her die Mannigfaltigkeit der Ereignisse sich zu handlungsorientierenden Geschichten zwanglos strukturiert.“ 244

Für den Handlungsprozess des historischen Wissens übernimmt Habermas den Begriff Erzählung. Was versteht man aber unter dem Begriff Erzählung? Die Erzählung kann man als „eine mündliche oder schriftliche Darstellung von Geschehnissen“ 245 verstehen. Trotzdem liegt noch nicht eine allgemein akzeptierte Erzähltheorie vor.246 Aus der vorgeschlagenen Definition allerdings ergeben sich weitere Kategorien: „Durch die Erzählperspektive tritt die Erzählinstanz in ein bestimmtes Verhältnis zu dem erzählten Geschehen wie zu den erwarteten Adressaten. Sie lässt ausgewählte Figuren und Gegenstände erscheinen, sie zeigt ausgewähltes Handeln und Veränderung. Zeitlich geordnet ergibt das erzählte Geschehen eine Chronik; durch die Wahl eines bestimmten Anfangs aber und eines bestimmten Endes, verschiedener Erzählstränge und den Wechsel zwischen ihnen, durch Umstellung, Raffung und Dehnung wird aus der Chronik eine Fabel, entsteht ein durch das Erzählen konstituierter Gegenstand. [. . .] Eine grundsätzliche Bedeutung wird dem Erzählen von einigen Wissenschaftstheoretikern zugeschrieben: Arthur C. Danto und Morton White in angelsächs. Sprachraum, Paul Ricœur247 im frz., Hans Michael Baumgartner und Jörn Rüsen im dt. betrachten das Erzählen als eine spezifische Form der wissenschaftlichen Erklärung.“ 248

243

Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 218. Jürgen Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften, in: Philosophische Rundschau, Beiheft 5, Tübingen 1967, S. 166, in: Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 218. 245 „Der Sonderfall der biblischen Erzählung bleibt hier ausgespart.“ (Johannes Süßmann: Erzählung, in: Stefan Jordan (Hrsg.): Lexikon Geschichtswissenschaft Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 85. 246 Vgl. Matias Martinez: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999: Vgl. Süßmann, Erzählung, S. 85. 247 Vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, 3 Bde., 1988–91, frz. 1983–85. 248 Süßmann, Erzählung, S. 85. 244

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8. Kap.: Geschichte und Erzählung des Daseins

Obwohl Erzählung als Begriff noch weitere wissenschaftliche Forschungen und Diskussionen verlangt, zeigt sich der grundsätzliche Charakter der Erzählung bereits in den vorgängigen Definitionen als eine Form der wissenschaftlichen Erklärung, d. h. eine phänomenologische Methode, die Geschehnisse bzw. Geschehen nach einer bestimmten Ordnung verständlich macht d. h. zur Erscheinung bringt. Die Interpretation der Erzählung von Arthur C. Danto beeinflusst Habermas in seiner Theorie des historischen Wissens.249 2. Erzählung: Narrative Aussagen und die konstruierende Struktur der Zeit Durch den von Danto übernommenen Begriff der Erzählung interpretiert Habermas die Struktur des historischen Wissens, der sowohl den retrospektive Charakter als auch den praktischen Charakter des historischen Wissens in der Form der narrativen Aussagen bestätigt250: „Wir beschreiben also das Ereignis in Kategorien, die für den Zeitgenossen nicht als Beobachter, sondern als Handelnden, der Zukünftiges antizipieren kann, relevant gewesen wären. Ereignisse historisch, d. h. in der Form narrativer Aussagen darstellen, heißt: daß wir sie unter dem Schema möglichen Handelns auffassen.“ 251

Unter dem Verständnis der Narrativität Dantos zeigt sich allerdings, dass der Historiker wegen der Unabgeschlossenheit der Geschichte eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende überhaupt nicht erzählen könnte.252 Hingegen begründet die Unabgeschlossenheit der Geschichte als offene Zukunft die Möglichkeit, dass historisches Wissen überhaupt handlungsorientierend sein kann.253 Im Sinne Dantos lässt diese offene Zeit unser Wissen von der Vergangenheit grundsätzlich unvollständig und begrenzt sein.254 Der Akt des Erzählens von Geschichten im praktischen Leben des Handelnden ermöglicht die Konstruktion der vergangenen und zukünftigen Zeit, in deren Kontinuität überhaupt die Möglichkeit einer Geschichte bzw. der Erzählung einer Geschichte besteht. „[. . .] der Begriff der Erzählung nimmt eine zentrale Stellung in der Rekonstruktion des historischen Wissens ein. Er umschreibt zutreffend die logische Form historischer Aussagen und integriert alle wesentlichen Konstitutionselemente des historischen Wissens: gerade weil Geschichte erzählt wird, ist sie nicht unabhängig vom Rahmen der eigenen Lebenspraxis, stellt sie sich dar im Wechselspiel von Antizipa249

Vgl. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 218. Vgl. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 218–219. 251 Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 163, in: Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 219. 252 Vgl. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 219. 253 Vgl. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 220. 254 Vgl. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 220. 250

§ 31 Historisches Wissen als Erzählung

141

tion eines zukünftigen Sinns und retrospektiver Deutung des Vergangenen; als erzählte Geschichte ist sie der Struktur nach hypothetisch konstruierende Organisation des Vergangenen in praktischer Absicht.“ 255

Im Zentrum des Problems der Erzählung liegt eine wichtige Frage: ist Geschichte (history) eine Geschichte (story)? In „A Theory of History“ erklärt Heller, dass History (Geschichte) story (Geschichte) ist.256 Und alle Geschichte muss erzählt werden. „[. . .] we tell our own miraculous stories. ,I wanted to buy a frock last week but . . .‘: we tell our own banal stories. The past, the remote and the recent past, the past of others and ourselves, is above all a tale, a story. History is a story (,Geschichte ist Geschichte‘).“ 257

3. Die Problematik des Zuhörers bei dem Akt der Erzählung Für Habermas liegt ein Merkmal des Geschichtenerzählens im Rahmen der Lebenspraxis darin, dass dieser Akt der Erzählung die Selbstreflexion258 eines Subjekts impliziert. „Der grundlegende Sinn von Geschichte und Erzählung ist daher im Kontext der Geschichtstheorie von Habermas nur aus einer genaueren Analyse der Idee der Selbstreflexion sowie dem ihr korrespondierenden Konzept des Bildungsprozesses zu gewinnen.“ 259

In der Theorie der Geschichte und Erzählung von Habermas bezieht sich die Idee der Selbstreflexion des Subjekts, die inhaltlich in diesem Zusammenhang auf das Interesse des Erzählers, des Historikers hinweist, notwendigerweise auf den Akt der Erzählung als medialem Akt der Kommunikation und Interaktion.260 Der Akt der Erzählung im Sinne der Kommunikation und Interaktion führt zur Frage nach dem Zuhörer der Erzählung. Die Bedingung des Akts des Erzählens und des Erzählers ist der Zuhörer der Erzählung. Der Akt der Kommunikation und Interaktion verlangt notwendigerweise mindestens zwei Akteure: Subjekt und Objekt, in diesem Kontext, Erzähler und Zuhörer. Heller weist darauf hin, dass die Erzählung Zuhörer voraussetzt: „Storytelling presupposes listeners. The most extreme case is if we are the listeners of our own stories.“ 261 In der Daseinsanalytik wird jedoch kein anderes Seiendes als Zuhörer der existenzialen Geschichte des Daseins behandelt. Die Pointe der Erzählung von der 255

Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 220–221. Heller, History, S. 53. 257 Heller, History, S. 53. 258 „Habermas übernimmt die Idee der Selbstreflexion aus der Philosophie des Deutschen Idealismus.“ (Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 226). 259 Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 225. 260 Vgl. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 221. 261 Heller, History, S. 55. 256

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8. Kap.: Geschichte und Erzählung des Daseins

Geschichte des Daseins besteht genau in diesem Punkt, dass das Dasein nicht als reines Subjekt, sondern als der Sich-zuhörende-Erzähler sich selbst seine Geschichte erzählt und hört, d. h. versteht.262 4. Erzählung als Bedingung der Homogenität der Geschichte Nach der Theorie der narrativen Geschichte Dantos kann eine homogene Geschichte, d. h. die Kontinuität der Geschichte nur bestehen, wenn die Geschichte erzählt wird. Nämlich hat Geschichte ihre Homogenität darin, dass sie Geschichten erzählt.263 Aber diese Geschichte ist eine Geschichte der Vergangenheit. Das heißt, Geschichte ist Organisation vergangener Ereignisse. Als solche ist Geschichte abhängig von prinzipiellen Interessen, denen die Historiker folgen.264 Die Möglichkeit der Homogenität der Geschichte findet Danto im Akt der Erzählung, die Geschichten organisiert, in Abhängigkeit von den menschlichen Interessen des Subjekts. Und solche Geschichten, die unter den spezifischen Interessen organisiert und erzählt werden, stellen eine Organisation vergangener Ereignisse dar. Danto schreibt: „Completely to describe an event is to locate it in all the right stories, and this we cannot do. We cannot because we are temporally provincial with regard to the future. We cannot for the same reasons that we cannot achieve a speculative philosophy of history. The complete description then presupposes a narrative organization, and narrative organization is something that we do. Not merely that, but the imposition of a narrative organization logically involves us with an inexpungable subjective factor. There is an element of sheer arbitrariness in it. We organize events relative to some events which we find significant in a sense not touched upon here. It is a sense of significance common, however, to all narratives, and is determined by the topical interests of this human being or that.“ 265

Das Erzählen von Geschichten ist nach der Analyse Dantos „ein Organisieren vergangener Ereignisse unter spezifisch menschlichen Interessen“ 266. In der Hinsicht, dass der Akt der Erzählung von Geschichten spezifische Interesse des menschlichen Ichs bzw. Subjekts reflektiert, stimmt die Theorie von Habermas der Dantos zu, aber anders als die Theorie der Geschichte von Habermas gibt es keinen Platz für die Analyse der Zukunft in der Geschichtstheorie Dantos. Sein Konzept einer homogenen Historie betrachtet Geschichte als narrative Organisation der Vergangenheit.267 In diesem Zusammenhang trägt die Theorie Dantos 262 Die besonderen Charaktere der Erzählung des Daseins im Vergleich zu anderen Geschichtstheorien erläutere ich in diesem Kapitel ausführlich. 263 Vgl. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 273. 264 Vgl. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 273. 265 Arthur C. Danto: Analytical Philosophy of History, Cambridge 1965, S. 142, in: Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 273. 266 Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 273. 267 Vgl. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 274.

§ 31 Historisches Wissen als Erzählung

143

die gleiche Kritik wie die Zeittheorie Husserls ein. Sowohl die homogene Historie Dantos als auch die Reihe der objektiven Zeit bei Husserl bedeuten die Rekonstruktion der Vergangenheit ohne einen Blick auf die Zukunft. Dagegen ist die Theorie des Daseins als zeitliches Geschehen von Heidegger umgekehrt: Im ekstatischen Prozess der Zeitlichkeit ist die Vergangenheit unter dem Begriff der „Gewesenheit“ eingeschlossen und diesen Prozess des Geschehens vollzieht die Zukunft. 5. Der Sinn der Erzählung im Prozess der Zeitlichkeit Ein bemerkenswertes Problem, das den Theorien der Erzählung von Danto und Habermas gemeinsam ist, liegt darin, dass das menschliche Handeln der Geschichte als narrative Aussagen seinen eigenen Sinn in der offenen bzw. endlosen künftigen Zeit verliert. Die Handlung als mein Akt reflektiert nicht das existenziale Verstehen des Ichs. Die Interessen des Handelnden der Geschichte zeigen nicht das ursprünglich ontologische Verstehen seines Seins selbst. Eine weitere wichtige Frage ist in diesem Zusammenhang, inwiefern wird das existenziale Verstehen des Ichs in Bezug auf die Handlung der Geschichte verlangt? Das Merkmal des Handelnden liegt darin, dass er als Subjekt des Akts bzw. der Handlung, als endliches und zeitliches Seiendes existiert. Ohne sein eigenes Geschehen zu verstehen kann ein Erzähler eine Geschichte nicht erzählen. Eine Geschichte kann nur erzählt werden, wenn der Erzähler, der auch sich selbst ein Geschehen ist, d. h. zu jeder erzählten Geschichte gehört, den homogenen Prozess des Geschehens verstehen muss. Alle erzählten Geschichten sind die Geschichten, zu denen das Ich, als der Erzähler, als Geschehender gehört. Der Akt der Erzählung von Geschichten ist selbst ein selbstverständlicher Prozess meines Geschehens bzw. Existierens. Dieser Prozess, der Akt der Erzählung, geschieht im Prozess seiner Zeitlichkeit des jeweilgen Daseins. In der existenzialen Analytik des Daseins geht das Erzählen von Geschichten nicht um die unendliche und objektive Zeit, sondern um meine eigene Zeit, d. h. Zeitlichkeit.

6. Das Erzählen einer Geschichte in der Daseinsanalytik Der große Unterschied zwischen Zeit und Zeitlichkeit im Rahmen der menschlichen Handlung besteht darin, dass Zeit nicht erzählbar aber die Zeitlichkeit als Geschichte erzählbar ist. Die Zeitlichkeit als Geschichte ist das Geschehen, was einem Menschen geschieht, d. h. des menschlichen Daseins, das notwendigerweise immer ein endlicher Prozess ist. Ich als je menschliches Dasein existiert endlich, d. h. stirbt. Das Ende bzw. der Tod bei dem Dasein ist die Bedingung des Prozesses. In diesem Sinne kann die Geschichte des Daseins nicht die Rekonstruktion der Vergangenheit sondern das lebendige Verstehen seines Seins auf zukünftige Weise. Die Kontinuität der Zeitlichkeit des Daseins gründet sich nicht

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8. Kap.: Geschichte und Erzählung des Daseins

im Prozess ohne Anfang und Ende, sondern ist mit den beiden Punkten stetig in dem Prozess eingeschlossen. Denn das menschliche Dasein ist im Wesentlichen ein freies und endliches Seiendes: die Freiheit und der Tod sind der Anfang und das Ende dieses Prozesses. Die zyklische Form des ständig beweglichen Prozesses stellt die Kontinuität, die vollständige Struktur der geschehenden Zeitlichkeit des Daseins zwischen Anfang und Ende dar. Die Geschichte des Daseins ist kontinuierlich nicht im Sinne der Chronik, sondern als der einheitliche Prozess der gewesend-gegenwärtigenden Zukunft (vgl. SuZ 350), d. h. der ekstatisch-zeitliche Prozess der Existenz. Anfang und Ende dieses Prozesses zeigt das Geschehen der Existenz des Daseins zwischen den beiden Punkten, seinem Freisein und dem Tod. In der Zeitlichkeit liegt der Sinn dieses Prozesses, der als Sein-zum-Tode sich selbst verstehend auf Möglichkeiten seines Seins entwirft. Die Geschichte, die das Dasein erzählt, ist im existenzialen Sinne seine eigene Geschichte, durch die das Dasein sein Sein als zeitliches Ereignis zur Erscheinung bringt. Aus diesem Grund ist die Erzählung des Daseins als Akt selbst der Prozess seines existenzialen Verstehens von seinem eigenen Sein. Die Struktur der existenzialen Erzählung wird in der Struktur des Selbstrufens des Daseins enthüllt. Das Dasein ruft sich selbst; es erzählt und hört seine eigene Geschichte. Der Inhalt dieses Rufens von Dasein ist Nichts. Was dieses Nichts von Selbstrufen des Daseins andeutet, ist seine Endlichkeit, d. h. seine eigenste Möglichkeit des Nichts bzw. der Tod. Solange der Prozess des existenzialen Verstehens des Daseins eine menschliche Handlung ist, wird dieser Prozess um des Endes bzw. Zielens willen behandelt: Omne agens agit propter finem. Sein des Daseins als Geschehen zeigt sich in der Struktur von Anfang-MitteEnde, denn solange wir in der Welt endlich existieren, existieren wir im Grunde genommen zwischen Anfang und Ende. Notwendigerweise ist die Philosophie des Daseins die Philosophie des Endes, in den Hinblick darauf, dass das Dasein Sein-zum-Tode ist. Das Ende bzw. der Sinn konstituiert die vollständige Struktur des Geschehens im lebendigen und zirkularen Prozess. Daseinsphilosophie verlangt eine Phänomenologie, in der sich dieser Prozess des jeweiligen Daseins als je individuelles mit seinen Einzelheiten enthüllen kann. Frage nach dem Sinn von Sein offenbart das tÝloò (Sinn als Handlung) des Seinsverstehens, der Daseinsphilosophie. Dieser Sinn des Geschehens (Sein des Daseins) kommt zur Erscheinung durch eine neue Interpretation der phänomenologischen Methode: Geschichte-Erzählen des Daseins. Jeder Sinn (Ende) des Daseins trifft den Anfang seines Geschehens im Prozess in der Struktur der Geschichte. Der Akt des Erzählens seiner Geschichte offenbart den echten Sinn des Daseins. Das Vorlaufen vollzieht sich im Akt bzw. Prozess des Erzählens. Erzählen zeigt im ontologischen Sinne als „Sich-zur-Erscheinung-bringen“ das echte „Sich-an-ihm-selbstzeigen“. Wie eine Geschichte nicht rational reduziert werden kann, kann das Sein des Daseins selbst auch nicht reduziert werden, als Geschehen, in dem jedes

§ 32 Das Dasein als Geschichtliches

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Moment (des Seins) neu und lebendig ist. Darum verlangt die Daseinsphilosophie eine neue Phänomenologie des Daseins. Das Sein des jeweiligen Daseins als je individuelles Geschehen muss und nur kann erzählt werden. Dieses existenziale Erzählen als Akt des Daseins ist eine spezifische Form des Sich-Zeigens und Sich-Verstehens des menschlichen Daseins.

§ 32 Das Dasein als Geschichtliches 1. Geschichte als Geschehen Das Wort „Geschichte“ besitzt eine Besonderheit in der deutschen Sprache, in der Hinsicht, dass es sich strukturell auf den Begriff „Geschehen“ bezieht. Der Akt des Geschehens und das Geschehene als „das, was geschehen ist“ sollten dennoch im Begriff Geschichte unterschieden werden. Während die Geschichte als Geschehenes den Ablauf bzw. die Ansammlung der vergangenen Ereignisse meint, schließt die Geschichte als Akt des Geschehens nicht notwendig eine Bezeichnung für das Vergangene im Sinne des „Nicht-mehr-vorhanden-Seins“ ein. Die Heidegger’sche Darstellung der Geschichte bzw. der Geschichtlichkeit beruht auf der Bedeutung der Geschichte als Akt des Geschehens. Aus diesem Grund fokussiert die Heideggersche Anwendung der Geschichte nicht die Temporalität des Begriffs Geschichte angesichts der Vergangenheit des Geschehenen als „das, was schon geschehen und nicht mehr vorhanden ist“, sondern das Ereignis, d. h. den aktiven Prozess des Geschehens selbst. 2. Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit Heidegger weist darauf hin, dass Geschichte nicht mehr „das Vergangene, das man hinter sich gebracht und abgelegt hat“ 268 ist, sondern „die ständige Werdeform des Geistes selbst“.269 Das Sein des Daseins als Geschehen und der geschichtliche Charakter der Existenz des Daseins soll ausführlich erläutert werden. Das Sein als Geschehen ist das Ereignis der Existenz in dem Prozess der Zeitlichkeit. Das Dasein hat faktisch je seine Geschichte, weil sein Sein durch Geschichtlichkeit konstituiert wird (vgl. SuZ 382). Die Existenz des Daseins ist als geschichtlich bestimmt, d. h. das Schicksal des Daseins als das Seiende mit dem Geschick des Todes liegt in der Geschichtlichkeit, in dem Sinne, dass die Existenz des Daseins als Zeitlichkeit grundsätzlich nur zwischen den beiden Polen der Geworfenheit in die Welt und des Todes geschieht und dergleichen geschehen kann. 268 Heidegger, Schelling: Vom Wesen der Menschlichen Freiheit (1809). Freiburger Vorlesung Sommersemester 1936, Frankfurt am Main 1971, S. 83. 269 Heidegger, Schelling, S. 83.

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8. Kap.: Geschichte und Erzählung des Daseins

Dementsprechend manifestiert das Geschehen des Seins das Bewegungsprinzip des Prozesses der Zeitlichkeit, das selbst im Grunde die Seinsweise des Daseins offenbart. „Nur eigentliche Zeitlichkeit, die zugleich endlich ist, macht so etwas wie Schicksal, das heißt eigentliche Geschichtlichkeit möglich.“ (SuZ 385)270 3. Das verstehende Geschehen „Die eigentliche Geschichtlichkeit“ des Daseins als sein Schicksal wird durch die Zeitlichkeit, d. h. seine Seinsart als geworfener Entwurf in einem lebendigen Prozess, ermöglicht. Als das ausgezeichnete Seiende, das sich in seinem Sein versteht, versteht das Dasein sich in diesem Prozess. Das Schicksal des Daseins gründet sich darin, dass das Dasein dasjenige Seiende, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht, ist. Insofern es in der Welt existiert, geschieht es als das Seiende, das sich im Selbstverstehen seines eigenen Seins bewegt. Dieses verstehende Geschehen des Daseins berührt das Wesen des Philosophierens, das mit der Existenz des menschlichen Daseins zusammen geschieht. Heidegger veranschaulicht, dass die Geschichtlichkeit des Daseins die Grundbedingung des Philosophierens271 ist: „Da unser Dasein aber ein geschichtliches ist, bleibt es dieses auch im Philosophieren.“ 272 4. Erzählen der Geschichte als je meines Die Geschichtlichkeit des Daseins hängt notwendigerweise mit der Erzählung zusammen. Denn eine Geschichte muss und nur kann erzählt werden. Als Akt bringt das Erzählen die Geschichte zur Erscheinung. Das Verstehen einer Ge270 „Nur Seiendes, das wesenhaft in seinem Sein z u k ü n f t i g ist, so dass es frei für seinen Tod an ihm zerschellend auf sein faktisches Da sich zurückwerfen lassen kann, das heißt nur Seiendes, das als zukünftiges gleichursprünglich g e w e s e n d ist, kann, sich selbst die ererbte Möglichkeit überliefernd, die eigene Geworfenheit übernehmen und a u g e n b l i c k l i c h sein für ,seine Zeit‘.“ (SuZ 385) Die gewesende Zukünftigkeit des Prozesses der Zeitlichkeit ist als Geschichtlichkeit bestimmt. In einem solchen zirkulären Prozess sind die beiden Punkte von Anfang und Ende gleichzeitig die Bedingung der Bewegung. Die Geworfenheit und der Tod sind die beiden Pole der Zeitlichkeit, deren Bewegung sich immer auf die Zukunft richtet. Die zukünftige Bewegung des Prozesses der Zeitlichkeit selbst ist der Charakter der Geschichtlichkeit des Daseins, der das Prinzip seines Seins darstellt. 271 Das Philosophieren des menschlichen Daseins ist jedoch in einer Weise in sich widersprüchlich, in dem Sinne, dass das Dasein niemals die absolute Wahrheit sehen kann, zugleich kann es aber genau aus diesem Grund erst philosophieren: das Dasein versteht sich in irgendeiner Weise in seinem Sein, damit es die Frage nach dem Sinn von seinem Sein stellen kann, aber die Wahrheit des Seins kann nicht mit dem Verstand dieses menschlichen Seienden völlig begriffen werden. Ein solcher Zustand der konstitutiven Momente des menschlichen Verstehens des Seins enthüllt auch die hermeneutische Möglichkeit des Verstehens des Daseins. 272 Heidegger, Schelling, S. 18.

§ 33 Geschichte und Erzählen in der Daseinsanalytik

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schichte verlangt eine Bedingung, unter der die Geschichte phänomenalisiert273 wird, damit die Geschichte in einer verständlichen Form strukturiert werden kann. Der Akt des Erzählens ist ein Prozess, in dem eine Geschichte zur Erscheinung kommt. Eine Geschichte kann nur erzählt werden, denn eine Geschichte kann nicht reduziert werden. Die rationale Reduktion ist kein Charakter der Erzählung. Dennoch weist der Charakter des Erzählens nicht unbedingt auf das Gegenteil der Rationalität als die Sprache der Philosophie hin. Der Akt des Erzählens soll in Beziehung auf die Geschichtlichkeit des geschehenden Daseins in einer neuen Dimension ausgelegt werden. Dadurch, dass eine Geschichte nicht rational reduziert sondern nur erzählt werden kann, wird die Seinigkeit des Daseins, d. h. die Individualität und die Einzelheit des je Daseins durch den Prozess des Erzählens nicht in das Man verloren (vgl. SuZ 274) sondern behalten.

§ 33 Geschichte und Erzählen in der Daseinsanalytik 1. Nicht m¯qün tina dihge¦sqai Am Anfang von „Sein und Zeit“ verdeutlicht Heidegger, dass „der erste philosophische Schritt im Verständnis des Seinsproblems darin besteht, nicht m¯qün tina dihge¦sqai, ,keine Geschichte [zu] erzählen‘,“ (SuZ 6). In den folgenden Abschnitten über die Sorge erzählt er allerdings die Geschichte der Cura. Und zwar nicht bloß als irgendeine Geschichte, sondern als die Geschichte, die das ursprüngliche Verstehen der Seinsstruktur des menschlichen Daseins offenbart. Seine Erwähnung des ersten philosophischen Schrittes als „keine Geschichte erzählen“ könnte als eine bewusste Anlehnung an Husserl gedeutet werden, der vertreten hat, dass Philosophie keine Geschichte sein soll. Andernfalls könnte er in diesem Zusammenhang unter Geschichte lediglich die Geschichte der Metaphysik bzw. der traditionellen Metaphysik der Seinsvergessenheit verstanden haben, die Seiendes als Seiendes – ohne die geeignete Frage nach dem Sinn von Sein – betrachtet hat. Wie Heidegger selbst zeigt, stammt der Satz „m¯qün tina dihge¦sqai“ aus einer Szene in Sophistes274, wo der Fremde aus Elea seine Gedanken zu den Geschichten der alten Philosophen über das Seiende ausführt. Angesichts dessen, dass dieses Zitat sich auf die Kritik an verschiedenen Bestimmungen des Seienden (tJ énta) bezieht, scheint es umso mehr so zu sein, dass „m¯qün tina dihge¦sqai“ die seinsvergessende Metaphysik bedeutet. 273

Das heißt: zur Erscheinung kommt. „[CÝnoò] ežkülwò moi doke¦ Parmenßdhò Ìm¦n dieilÝxqai kaÍ p@ò Õstiò pþpote ™pÍ krßsin êrmhse to¯ tJ énta diorßsasqai püsa te kaÍ po¦Ü ™stin. [Qeaßthtoò] pÂh~; [CÝnoò] m¯qün tina ækastoò faßnetaß moi dihge¦sqai paisÍn ò o€sin †m¦n, ‡ mÊn ò trßa tJ énta, poleme¦ dÊ ˜llÞloiò ™nßote ažtµn åtta pÂh, totÊ dÊ kaÍ fßla gignümena gamouò te kaÍ tükouò kaÍ trofJò tµn ™kgünwn parÝxetai: [. . .].“ (Plato, Sophistes, 242c–d). 274

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8. Kap.: Geschichte und Erzählung des Daseins

Das Besondere an diesem Vergleich besteht jedoch darin, dass Heidegger die Philosophie bzw. die Metaphysik der Seinsvergessenheit als Erzählen einer Geschichte betrachtet und speziell darauf bezogen den Ausdruck „m¯qün tina dihge¦sqai“ zitiert. Das Erzählen von Geschichten über das Seiende, die „Seiendes als Seiendes durch Rückführung auf ein anderes Seiendes in seiner Herkunft bestimmen, gleich als hätte Sein den Charakter eines möglichen Seienden“ (SuZ 6), kann nicht die Frage nach dem Sinn von Sein stellen, d. h. nicht den ersten philosophischen Schritt im Seinsverständnis vollziehen. Am Anfang der Seinsphilosophie soll hingegen die Geschichte des Daseins, in der die Frage nach dem Sinn von Sein durch die Analyse der einzigartigen Seinsart des Daseins gestellt wird, erzählt werden. 2. Die Doppeldeutigkeit der Erzählung einer Geschichte Während der erste philosophische Schritt im Verständnis des Seinsproblems in „keine alte Geschichte vom Seienden Erzählen“ besteht, ist das Dasein als „Geschehen“ in der Lage, einen Hinweis auf das Verständnis des Seinsproblems zu geben. Das Dasein ist geschichtlich in dem Sinne, dass es in einem Prozess, d. h. als beweglicher Prozess in der Form der Zeitlichkeit, existiert. Die Geschichte im Rahmen des Geschehens als Prozess soll in diesem Zusammenhang abweichend von den Geschichten alter Philosophen über das Seiende verstanden werden. Die Geschichte des Daseins zeigt keine Geschichte der Metaphysik vom Seienden als Seiendes, sondern den Prozess der Frage des Daseins nach dem Sinn seines Seins, das nicht vom anderen Seienden bestimmt werden kann. In dieser Hinsicht ist das „m¯qün tina dihge¦sqai“ paradoxerweise doppeldeutig. Es meint erstens die traditionelle Metaphysik der Seinsvergessenheit und zweitens die Philosophie des Daseins, dem es in seinem Sein um sein Sein selbst geht. Im folgenden Abschnitt soll näher erklärt werden, wie die Philosophie des Daseins sich auf das „m¯qün tina dihge¦sqai“ bezieht.

§ 34 Dasein, Zeit, Erzählen 1. Die Geschichte der Cura Erzählt wird der Mythos der Cura hinsichtlich der Daseinsanalytik, damit die Struktur der Sorge, welche die ursprüngliche Struktur des Daseins enthüllt, zur Erscheinung gebracht wird. Merkwürdig ist, dass die Geschichte der Cura in der Daseinsanalytik der Leitfaden zum Seinsverständnis des Daseins ist. Der Diskurs der Geschichte führt immer zur Polemik über die Zeit, weil keine Geschichte ohne Referenz an die Zeit erzählt werden kann.275 In „Nachspiel: Ereignis, Zeit, Erzählung Eine geschichtsphilosophische Betrachtung“ erklärt Schmidt-Bigge275

Vgl. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie.

§ 34 Dasein, Zeit, Erzählen

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mann, dass Geschichte ohne das Neue nicht geht.276 Das Neue „entspricht Heideggers emphatisch beschriebenem Ereignis“ 277, das in dieser Arbeit als Geschehen im Sinne des Prozesses bezüglich der Seinsart des Daseins betrachtet wird. „Die Arbeit am Ereignis generiert so evidentermaßen die Zeit.“ 278 Wie der Titel „Sein und Zeit“ selbst zeige, spielt die Zeit eine erhebliche Rolle im Verständnis der Seinsproblematik. Das Dasein bei Heidegger existiert als ständig beweglicher Prozess in der Form der Zeitlichkeit. Ein solcher Prozess ist ein Geschehen, das sich gegenwärtig in der Welt ereignet. Die Existenz des Daseins ist dieses Geschehen. Die Geschichtlichkeit des Daseins weist darauf hin, dass das Dasein als Geschehen existiert. Die Existenz des Daseins als Geschehen konstituiert die Struktur, die in der Daseinsanalytik den kontinuierlichen Prozess der Zeitlichkeit des Daseins ermöglicht. In dieser Struktur kann die Geschichte erzählt werden. Eine solche Struktur ist die Struktur der Zeit, welche die Folge der Ereignisse konstituiert.279 2. Zeit, Zählen, Erzählen Wenn die Rolle der Zeit in der Geschichte der Sorge in Bezug auf die Formulierung des „homo“ genauer betrachtet wird, fällt auf, dass die Zeit in der chaotischen Situation Ordnung schafft. Dies zeigt den besonderen Charakter der Zeit: Die Zeit konstituiert die Folge der Ereignisse. Die objektive Form bzw. Benennung der Folge der Zeit wird durch Zahlen realisiert. Die Zahlen, d. h. die Benennungen der Zeit, zeigen die Ordnung der Folge, die durch den Charakter des Zählens zustande kommt. Das Zählen ordnet die Zahlen in einer bestimmten Reihenfolge, dabei bilden die Zahlen die Folge der Ereignisse ab. So eine Folge kann als Grundstruktur der Geschichte dienen. Die Geschichte hat als zeitliche Abfolge Anfang, Mitte und Ende und kann insofern erzählt werden. Dass das Erzählen immer dem Ablauf der Ereignisse folgt, impliziert die notwendige Verbindung zwischen den beiden Begriffen Zählen und Erzählen. Es ist kein Zufall, dass sich der Begriff „Erzählen“ in den indoeuropäischen Sprachen auf den Begriff „Zählen“ bezieht.280 Der Begriff des Erzählens in Verbindung

276 Vgl. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 362: „Die Genese der Zeit aus dem Ereignis.“ 277 Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 362. 278 Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 363. 279 Vgl. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 364. 280 Der Begriff Erzählen ist verwandt mit dem englischen Wort „tell“. Die altenglische Form dieses Wortes lautet „tellan“, was „zählen“ (to count) bedeutet. Später hat sich die Bedeutung dieses Worts semantisch verändert, so dass es „nachzählen“ oder „erzählen“ (to recount) im Sinne des Erzählens einer Geschichte meint. Die iterative Bedeutung dieses Begriffs ging verloren, trotzdem gibt es noch viele Beispiele in indoeuropäischen Sprachen dafür, dass der Begriff Erzählen mit dem Begriff Zählen verwandt ist.

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8. Kap.: Geschichte und Erzählung des Daseins

mit dem Zählen soll mit der Interpretation der Geschichtlichkeit in Bezug auf das Selbstverstehen des Daseins zusammen behandelt werden.

§ 35 Erzählung als phänomenologische Methode 1. Das Dasein als Geschehen „Durch die Geschichtlichkeit ist das Sein des Daseins charakterisiert.“ (SuZ 197) Im Heideggerschen Sinne bedeutet die Geschichtlichkeit das Geschehen des existierenden Daseins (vgl. SuZ 379). „Das Dasein hat faktisch je seine ,Geschichte‘ und kann dergleichen haben, weil das Sein dieses Seienden durch Geschichtlichkeit konstituiert wird.“ (SuZ 382) Wenn Heidegger erklärt, dass die Verfassungsganzheit der Sorge den möglichen Grund ihrer Einheit in der Zeitlichkeit hat (vgl. SuZ 374), bedeutet die Verfassungsganzheit der Sorge die vollkommene Prozessualität der Zeitigung der Zeitlichkeit, die aus dem Sichentwerfen und der Geworfenheit des Daseins erfolgt. In diesem Sinne ist das Dasein als Sorge das „Zwischen“ zu verstehen (vgl. SuZ 374). Das Merkmal der Geschichte des Daseins jedoch liegt darin, dass sich die existenziale Geschichte des Daseins als Sorge immer auf die Zukunft richtet. Als Sorge geschieht das Dasein auf die Zukunft. 2. Anfang – Mitte – Ende Die wichtigen Momente der Geschichtlichkeit bestehen aus der Anfang-MitteEnde-Struktur, die der Struktur von „Geworfenheit-(zwischen)-Tod“ der faktischen Existenz des Daseins entspricht. Das ganzheitliche Verstehen der Sorgestruktur und der Zeitlichkeit als Prozess wird durch die Geschichtlichkeit möglich, weil die Geschichtlichkeit die Ordnung des Prozesses enthüllt bzw. durch die Geschichtlichkeit wird der Prozess der Sorge und der Zeitlichkeit als Strukturganzes exponiert. Diese Verfassungsganzheit der Struktur ermöglicht das Erzählen der Geschichte. Die Geschichte in diesem Sinne impliziert keine Vergangenheit, sondern die existenziale Konstitution des Daseins als Geschehen in der Zeit, welches das zukünftig-gegenwärtige Gewesensein des Daseins bedeutet (vgl. SuZ 378–379). Das zukünftig-gegenwärtige Gewesensein zeigt hier die sich entwerfende Geworfenheit des Daseins in die Welt als „Ich bin-gewesen“. Ein solches Erzählen der Geschichte des Daseins weist auf die Möglichkeit des Selbstverstehens des Daseins in dem Sinne hin, dass das Dasein durch dieses Erzählen die Ordnung des Prozesses, d. h. den Prozess der Sorgestruktur als seine grundsätzliche Seinsart verstehen kann. 3. Phänomenologie der Erzählung Nach Heidegger muss dieser Prozess des Verstehens „allerdings erst ontologisch nachgewiesen werden“ (SuZ 197). Der ontologische Nachweis bezieht sich

§ 36 Die Geschichte und das Dasein

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notwendigerweise auf die Kennzeichnung der ontischen Auszeichnung des Daseins, dass es ontologisch ist. Der ontologische Charakter des Daseins bedeutet, dass das Dasein dasjenige Seiende ist, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, d. h. es versteht sich in seinem Sein. Das Verstehen des eigenen Seins des Daseins geschieht in einem performativen Prozess. Dieser Prozess des Verstehens selber zeigt die Seinsart des Daseins als Geschehen. Seine eigene Geschichte wird durch das Erzählen enthüllt, d. h. zur Erscheinung gebracht, damit der Prozess des Verstehens, d. h. der Existenz des Daseins, seinen Sinn bekommen kann. Aus diesem Grund ist der ontologische Nachweis des Verstehensprozesses phänomenologisch in dem Sinne des „Zur-Erscheinung-Kommens“. Sofern dieser Prozess offenbar wird, d. h. in Erscheinung tritt, wird er für uns verständlich. Die Geschichte kommt im Prozess des Erzählens zur Erscheinung. Die Beziehung des Erzählens von Geschichten und des Sinns von Sein soll noch näher erläutert werden.

§ 36 Die Geschichte und das Dasein 1. Die Geschichte und die Zeit Die Zeit des Ereignisses setzt den Prozess des Erzählens voraus. Den Begriff Erzählung definiert Schmidt-Biggemann wie folgt: „Das Ereignis konstituiert die Zeit und damit die Folge. Da Zeit Folge von Ereignissen ist, können diese Folgen von Einzelheiten eben nur als Folge von Einzelheiten beschrieben werden. Und das heißt erzählen.“ 281 Das Ereignis ist immer gegenwärtig, weil die Gegenwart genau der Ort des Ereignisses ist,282 d. h. das Ereignis geschieht genau in dem jeweiligen Moment. Die Vollkommenheit dieser Gegenwart zeigt sich jedoch erst in der Zukunft283 bzw. mit dem Ende der Geschichte. Schmidt-Biggemann verdeutlicht, dass das Ereignis zu Ende geht, damit es zum Ganzen wird: „Das Ereignis wird als das Zukünftige erwartet, indem sich die Gegenwart vollenden wird. Dann erreicht sie ihr Ziel, sie wird zum Ganzen und sie geht zu Ende.“ 284 Das Erzählen der Geschichte ist immer auf das Ende gerichtet, indem erst die Geschichte das Strukturganze bildet. Aus diesem Grund ist es klar, dass die Zeitlichkeit der Geschichte immer einen Prozess formt. In dem Punkt, wo dieser Prozess zur Erscheinung kommt, wird das Verstehen möglich. Der Offenbarungsprozess ist das Erzählen. Die Zeitlichkeit der Erzählung einer normalen Geschichte reflektiert den Prozess der Zeitlichkeit des Daseins als seine existenziale Geschichte.

281 282 283 284

Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 364. Vgl. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 362. Vgl. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 367. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 367.

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8. Kap.: Geschichte und Erzählung des Daseins

2. Die Struktur der Geschichte des Daseins Der Prozess der Zeitlichkeit als Ganzes behält seinen Sinn bzw. das Ziel in sich selbst. Auf die Zukunft ist dieser Prozess gerichtet, damit er an jeder Stelle neu sein kann; dieser Prozess ist das Ereignis, das das Neue ist. Der Sinn des Daseins ist die Sorge in dem Sinne, dass die Sorge des Daseins seinem Ende, d. h. seinem Tod gilt. Das Sichentwerfen des Daseins richtet sich immer auf die Zukunft, indem die gegenwärtige Geworfenheit des Daseins vollendet werden kann. Aber das Dasein, das sich auf seine zukünftige Möglichkeit entwirft, kann niemals zur gleichen Gegenwart, aus der es sich entworfen hat, zurückkommen. Denn die Gegenwart als das Moment des Umschlags ist schon vorbei, d. h. vergangen. Die Vergangenheit des Daseins ist schon in dem Prozess verschmolzen. Der Prozess der Sorge ist im Zusammenspiel mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft als vollkommene Einheit strukturiert. 3. Individuelle Finalität Die Zeitigung der Zeitlichkeit des Daseins im Prozess der Sorge hat eine besondere Struktur der Zeit. „Der Prozess der Zeitlichkeit bedeutet: Der Sinn wird zur Erscheinung kommen; er wird offenbar, er wird Bild werden im Verlaufe des Prozesses; am Ende ,erfüllt‘ sich der Sinn: das heißt Entelechie.“ 285 Die im Zitat beschriebene Struktur ist die Zeitlichkeit der Geschichtszeit, die auch die Grundstruktur der Zeitlichkeit des Daseins expliziert. Dieser Prozess der Zeitlichkeit formuliert eine vollständige Struktur, die sich selbst Anfang, Mitte und Ende ist. Das heißt, der sich ständig bewegende Prozess ist selbst vollkommen, indem dieser vollkommene Prozess zur Erscheinung kommt und zugleich das Verstehen dieses Prozesses ermöglicht. In einem solchen Prozess ist es das Ende, das die vollkommene Struktur als Prozess zur Erscheinung bringt; weil es das Ende gibt, kann dieser Prozess ein zyklisch performativer Prozess sein. Ohne das Ende kann diese Bewegung nur ewig ad infinitum verlaufen. Das Ende ermöglicht den Prozess der Zeitlichkeit als einer der zwei Pole der zirkularen Bewegung. In der Grundstruktur der Seinsart des Daseins kann das Dasein nach dem Sichentwerfen zu seinem Geworfensein zurückkommen, nur weil es das Ende schon voraussetzt. Der Grund dieser besonderen Struktur der Geschichtszeit besteht darin, „dass Geschichtszeiten Zeiten von Handlungen sind. Omne agens agit propter finem“ 286. Zwischen diesem Ende und dem Anfang geschieht der existenziale Prozess des Daseins als Zeitlichkeit. Die Entelechie des Daseins ist dieser Prozess selbst bzw. die Zeitlichkeit. In diesem Sinne ist die Zeitlichkeit der Sinn der Sorge. Das Erfragte der 285 286

Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 367. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 367–368.

§ 37 Daseinsphilosophie und Geschichte

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Seinsfrage, der „Sinn von Sein“ (SuZ 6) bzw. „das, wobei das Fragen ins Ziel kommt“ (SuZ 5), zeigt die „individuelle Finalität“ 287 des Daseins, welche die Seinsfrage und das Seinsverstehen des Daseins vollendet.

§ 37 Daseinsphilosophie und Geschichte 1. Entweder Rationalität oder Geschichte288 Die Besonderheit der Geschichte liegt darin, dass es unmöglich ist, die Geschichte zu reduzieren.289 Durch ihre Unumkehrbarkeit sind die Einzelheiten der Geschichte gekennzeichnet. Die Individualität der Geschichte schafft den unvermeidlichen Abstand zwischen der Geschichte und der Rationalität. Alle Geschichten sind individuell, darum kann die Geschichte der Individuen nicht rational bestimmt werden. „Alle Geschichte kann nur erzählt werden.“ 290 Das Erzählen ist der Prozess, der die Einzelheiten des jeweiligen Geschehens offenbart. Nach der bestimmten Ordnung, d. h. der Folge der Einzelheiten kann ein Geschehen bzw. Ereignis erzählt werden. Das Dasein hat seinen formalen Sinn in seiner Individualität; es ist dasjenige Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein selbst geht. Es handelt sich um sein eigenes Sein. Das Gefragte der Seinsfrage ist das Sein des sich-verstehenden Seienden, d. h. des Daseins, und das Befragte der Seinsfrage ist das Dasein selbst (vgl. SuZ 6). Es geht um sein Sein; das Dasein als Geschehen hat je sein Sein als seiniges zu sein (vgl. SuZ 12). So wie die Geschichte der Individuen nur erzählt werden kann, kann die Analyse des Daseins nur auf eine bestimmte Art und Weise offenbar werden. Deswegen ist die Seinsfrage des Daseins nicht die Frage nach dem Sein, sondern die Frage nach dem Sinn von Sein. Der Sinn, auf den diese Frage zielt, erfasst das Dasein jedoch schon im Prozess seines Seins, d. h. in sich selbst. Die vollkommene Einheit seines Seins in einem zeitlichen Prozess ist die grundsätzliche Bedingung der Seinsfrage und zugleich die eigentliche Möglichkeit der Antwort. In Bezug auf die Individualität und Persönlichkeit im Rahmen der Geschichtszeiten stellt Heller eine interessante Interpretation der Persönlichkeit dar. Wenn ich das, was vergangen ist, und das, was kommen wird, als meines transzendiere, bin ich eine Personality. „The result of distinguishing that which is bygone and that which is ,to come‘ from beginning and end is called personality. If what is bygone is ,mine‘, if the years ,to come‘ are ,mine‘, in other words if I transcend my present, then I am a personality. If I reinterpret my past and reconstruct its organic unity with my ,now‘, if I build my future on the foundation of this ,now‘, I am a personality. Goethe formulated this in 287 288 289 290

Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 369. Vgl. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 360. Vgl. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 361. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 362.

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8. Kap.: Geschichte und Erzählung des Daseins

the following way: ,Volk und Knecht und Überwinder, Sie gestehn, zu jeder Zeit:/ Höchstes Glück der Erdenkinder/Sei nur die Persönlichkeit. / Jedes Leben sei zu führen / Wenn man sich nicht selbst vermisst; / Alles könne man verlieren, Wenn man bliebe, was man ist.‘“ 291

2. Erzählen im Rahmen der Daseinsontologie Jedes Dasein hat den je seinigen Prozess der Zeitigung, indem das individuelle Dasein sein eigenes Sein zu sein hat. Das Erzählen seines eigensten Seinkönnen offenbart die individuelle Zeitigung des Geschehens, d. h. Existierens des Daseins. Die Zeitigung einer Geschichte ist unterschieden von allen anderen Geschichten, denn das, was Dasein versteht, ist je sein eigenes Sein. Dieses Erzählen ist nicht ein Erzählen von Seienden in der Welt,292 sondern das Erzählen der Zeitigung seines Existierens. Philosophie soll nicht eine Geschichte von Seienden in der Welt erzählen. Was die Geschichte der Philosophie des Daseins erzählen soll, ist das Geschehen des Daseins. Die Geschichte des Daseins, die erzählt wird, verliert nicht die Einzelheiten und Persönlichkeit des Subjekts, d. h. des Erzählers. Im Geschehen als Sein des Daseins werden die eigentlichen und uneigentlichen Momente des Seins als Ganzes verstanden. Der Sinn dieses Geschehens, d. h. des Seins liegt in dem Geschehen selbst – mit allen seinen Einzelheiten und Individualität. Und das Dasein hört sich selbst, seine eigene Geschichte als der Erzähler und Zuhörer selbst. Wir existieren verstehend, bevor wir wissen, worin der Sinn des Lebens liegt, d. h. bevor wir die Existenz analysieren können. Die wahre Bedeutung der Existenz des Menschen sollte in einer anderen Form des Verstehens gefunden werden: dies finde ich in der Phänomenologie des Erzählens. 3. Die Überwindung der Ineffabilität der Individualität Der Konflikt zwischen der Rationalität und der Geschichte wird in der Daseinsphilosophie bei Heidegger durch die Geschichtlichkeit des Daseins in eine neue Dimension des Diskurses über Geschichte und Zeit erhoben, in dem Sinne, dass das Dasein faktisch je seine Geschichte hat. Das heißt, die Einzelheit des Daseins geht über die Ineffabilität des Individuums293 hinaus, wobei sich die zeitliche Struktur seines eigenen Seins zeigt bzw. in der Sprache der Philosophie äußert. Das Erzählen der Geschichte des je individuellen Daseins impliziert einen Prozess, in dem sein Sein „als Ereignis seinen Namen“ 294 bekommt, nämlich den

291 292 293 294

Heller, History, S. 39. Vgl. SuZ § 14. Vgl. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 361. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 364.

§ 37 Daseinsphilosophie und Geschichte

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Prozess der Zeitlichkeit als Geschehen. „Geschichtliche Gegenstände sind Individuen. [. . .] Individuen wollen in ihrer Besonderheit verstanden werden, sie lassen sich nicht rational reduzieren.“ 295 Genau in diesem Punkt besteht die Besonderheit der Daseinsphilosophie. Das Sein des je einzelnen Daseins, d. h. Individuums, ist inmitten von der „gigantomaxßa perÍ t‰ò ožsßaò“ (SuZ 2) nicht verloren gegangen, sondern tritt als eigenes Sein in Erscheinung, dadurch schafft es einen Sinn in sich selbst. Im Erzählen des Mythos der Cura kommt das Sein des Daseins zur Erscheinung, damit ist das Dasein befreit von der alten anonymen Metaphysik, die ihr Sein verloren hat. Als Individuum konstituiert das Dasein seine eigene Zeit, d. h. seinen Sinn in diesem einzigartigen Prozess des Fragens und Verstehens seines Seins, d. h. in seinem Sein.

295

Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 361.

Schluss

Sorge und Geschichte § 38 Geschichte 1. Geschichte im Sinne des Geschehens Wenn Erzählung als die Phänomenologie des Daseins bezeichnet wird, stellt sich die Frage, was soll und kann das Dasein erzählen? Was erzählt das Dasein? Das, was das Dasein überhaupt erzählen kann, ist seine Geschichte. Aber noch eine weitere Frage muss in diesem Zusammenhang gestellt werden: was versteht man unter der Geschichte vom Dasein? Meint sie eine Rekonstruktion seiner Vergangenheit? Was ist Geschichte? Der merkwürdige Punkt der Analyse der Geschichte des Daseins liegt darin, dass Dasein als Geschehen existiert. Das heißt, Dasein existiert in der Art und Weise, dass es sich auf zukünftige Möglichkeiten seines Seins entwirft und auf seine gegenwärtige Geworfenheit bzw. das Da-in-der-Welt-sein zurückkommt. Diese zweifache Bewegung als geworfener Entwurf ist das Geschehen, d. h. das Sein des Daseins selbst. In diesem Punkt wird das Wesen der Daseinsgeschichte enthüllt: Die Geschichte, die das Dasein als seine Geschichte erzählen kann, ist sein Sein selbst als Geschehen. Heidegger bezeichnet es als Zeitlichkeit, in dem Sinne, dass diese Bewegung ein zeitliches Geschehen ist. Notwendigerweise bezieht sich die wesenhafte Seinsart des Daseins in der Bewegung des geworfenen Entwurfs auf sein Selbstverständnis seines Seins. Auch der Grund, warum die ganze Daseinsanalytik mit der Frage nach dem Sinn von Sein anfangen muss, liegt darin, dass Dasein als das Seiende existiert, das in der Lage ist, nach dem Sinn von seinem Sein zu fragen und sich selbst zu verstehen. Von diesem selbstverstehenden Seienden, das Heidegger Dasein benennt, stammt die Seinsfrage und die Analyse des Daseins. Aufgrund dessen, dass das Dasein als zeitliches Geschehen existiert, verlangt die Daseinsanalytik eine neue Interpretation der Geschichtlichkeit in Bezug auf die Existenz des Daseins, nämlich eine neue Phänomenologie, in der das Verstehen des Daseins zur Erscheinung kommen kann. In dieser Dissertation wird die Erzählung als die Phänomenologie des Daseins gestellt, aus dem Grund, dass eine Geschichte nur erzählt werden kann. Die Frage ist: Wenn die Existenz des Daseins, die in dieser Arbeit als lebendiger bzw. beweglicher Prozess ausgelegt wird, ein zeitliches Geschehen im Prozess ist, wie soll dieses Geschehen für das Dasein selbst enthüllt, d. h. verständlich werden?

§ 38 Geschichte

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Im Grunde genommen, weil das Dasein als das Seiende existiert, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, ist die Frage nach dem Sein und die Suche nach dem Seinsverständnis für das Dasein unvermeidlich, solange es in der Welt ist. In dem Verstehen bzw. im Herzen der Seinsproblematik gründet sich das Wesen des Daseins. Existenzial ist dieses Verstehen des Daseins abweichend von der alltäglichen Anwendung des Begriffs „Verstehen“: Kein intellektueller Prozess ist dieses Verstehen, sondern es zeigt die Grundart der Existenz des Daseins als sichverstehendes Seiendes. Seine eigene Existenz zu verstehen ist die Seinsweise des Daseins selbst. Besonders in der zweifachen Bewegung des geworfenen Entwurfs zeigt der Akt des Sichentwerfens vom Dasein die notwendige Bedingung seines Existierens als verstehendes Seiendes. Denn der existenziale Akt des Entwurfs auf die Möglichkeiten seines Seins als die Seinsweise gründet sich überhaupt in dem Wesen des Selbstverstehens seiner eigenen Existenz. Das heißt: Dasein kann sich auf die Möglichkeiten seines Seins nur entwerfen, weil es ein Seiendes ist, das sein Sein selbst versteht. In diesem Sinne meint Heidegger, dass die Daseinsanalytik die Fundamentalontologie. Durch das Selbstverständnis d. h. die Hermeneutik der Existenz kann das menschliche Dasein überhaupt in der Lage sein, seine eigene Existenz sich enthüllen zu lassen und schließlich die Seinsfrage bzw. die Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen. Als das erste Stadium der Seinsproblematik daher muss die Existenz des Daseins zur Erscheinung gebracht werden. „Wie kommt die Seinsverfassung des Daseins zur Erscheinung?“ ist die Frage der Phänomenologie als methodologische Frage des Verstehens. Zunächst soll aber die Frage „was soll zur Erscheinung kommen?“ vor der methodologischen Frage kommen. Nicht so einfach ist es, eine richtige Antwort zu geben, wie es scheint, weil diese Frage ohne die Frage nach dem Wesen der Existenz des Daseins nicht richtig gestellt werden kann. Heidegger bezeichnet das Dasein als In-der-Welt-sein, das in die Welt geworfen ist und sich selbst auf Möglichkeiten seines Seins entwirft. Im verstehenden Prozess des geworfenen Entwurfs konstituiert diese zweifache Bewegung die Existenz des Daseins. Als Ereignis bzw. Geschehen betrachtet Heidegger diese Bewegung. In der Auslegung der Daseinsexistenz als Geschehen liegt der Schlüssel zur Erklärung der Daseinsgeschichte. Die Geschichte, die das Dasein zur Erscheinung bringen muss, bedeutet die Zeitigung der Zeitlichkeit als beweglicher Prozess, d. h. das Geschchen als sein Sein. Als seine existenziale Geschichte soll das Dasein dieses Geschehen ihm selbst verständlich machen und schlussendlich verstehen. Nun kann die phänomenologische bzw. methodologische Frage wieder gestellt werden: Wie kann die Geschichte zur Erscheinung kommen? Anders ausgedrückt, wie kann die Geschichte verstanden werden? Eine Geschichte muss erzählt werden. Das „Wie“ einer Phänomenologie von der Geschichte ist die Erzählung. Daher soll und kann die Geschichte des Daseins auch nur erzählt werden. Aber gibt es keinen Unterschied bei der Struktur und deren Handlung zwischen

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Schluss: Sorge und Geschichte

der existenzialen Geschichte des Daseins und einer normal erzählten296 Geschichte? Kann man die Geschichte des Daseins wie eine normale Geschichte erzählen? Es ist notwendig, den Charakter der existenzialen Geschichte des Daseins noch näher zu erklären. 2. Geschichte auf die Zukunft Was versteht man unter „Geschichte“? Zunächst bezieht sich der Begriff Geschichte auf die Vergangenheit. Erst nach dem Geschehen kann man etwas als Geschichte behandeln. In diesem Punkt unterscheidet sich die existenziale Geschichte des Daseins von der normal erzählten Geschichte: In der Geschichte des Daseins in seinem existenzialen Prozess des Verstehens handelt sich es nicht um das vergangene Geschehen, sondern um den existenzialen Prozess des Daseins als das Geschehen der Zeitigung, die sich zukünftig bewegt. Nachdem das Dasein sich auf die Möglichkeit seines Seins entwirft, kommt es zum gegenwärtigen Moment der Geworfenheit zurück, das nicht mehr einen vergangenen Punkt zeigt, von woher es vorzulaufen angefangen hat. Dieser Prozess des geworfenen Entwurfs ist deswegen ein rein zukünftiges Geschehen, das sich nicht auf die vergangene Zeit zurück wendet. Das heißt, die existenziale Bewegung des geworfenen Entwurfs richtet sich auf die Zukunft des Daseins, auf die es sich selbst entwirft. Die Richtung dieses Geschehens ist in die Zukunft versetzt. Heidegger betont in „Sein und Zeit“, dass das Dasein zukünftig existiert. Das merkwürdige Moment der Geschichte des Daseins liegt darin, dass sich die Geschichte des Daseins nicht auf die Vergangenheit richtet. Allerdings befindet sich der Ausgangspunkt der Erzählung aller Geschichten, sowohl die der Vergangenheit als auch die der Zukunft, im gegenwärtigen Moment, d. h. in dem Jetztpunkt. Nicht nur die normale Geschichte, welche die vergangenen Geschehnisse in der Struktur von Anfang-Mitte-Ende rekonstruiert, sondern auch die Daseinsgeschichte, die aus dem Sichentwerfen des Daseins auf die künftigen Möglichkeiten besteht, muss und kann nur in dem gegenwärtigen Moment anfangen erzählt zu werden. An dem Zeitpunkt, wo der Erzähler das, was schon geschehen ist, als Geschichte in der Struktur der Geschichte erzählen kann, beginnt die Erzählung. Aber, dieser Anfangspunkt der Erzählung ist das Ende einer Geschichte, in der Hinsicht, dass eine Geschichte erst nach dem Geschehen erzählt werden kann. Das heißt, der Jetztpunkt muss das Ende der Geschichte sein, damit eine Geschichte überhaupt erzählt werden kann. Als Anfangspunkt einer Geschichte konstituiert dieser jetzige Zeitpunkt zugleich auch das Ende der Geschichte.

296 Die Geschichte, die normal erzählt wird, meint die Geschichte, die die vergangene Zeit behandelt.

§ 38 Geschichte

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In der Struktur der Geschichte spielt das Ende eine erhebliche Rolle, weil das Ende den Sinn der Geschichte konstituiert. Damit kann eine Geschichte als Ganzes behandelt werden. In diesem Sinne ist das Ende die konstitutive Grundbedingung für die Ganzheit einer Geschichte. In Bezug auf das Ende einer Geschichte im Ganzen als Geschehen wird die Theorie von Schmidt-Biggemann in dieser Arbeit übernommen. Er interpretiert die Geschichte und die Geschichtszeit in seiner Theorie von Geschichte und Erzählung als die Zeit von Handlungen.297 In der Struktur der Handlung als „Omne agens agit propter finem“ 298 vollzieht sich eine Geschichte durch ihr Ziel bzw. das Ende. Wenn ein Geschehen zu Ende geht, wird es endlich zum Ganzen.299 Infolgedessen richtet sich das Erzählen einer Geschichte immer auf das Ende, indem die Geschichte erst das Strukturganze bilden kann. Wo liegt denn das Ende der Daseinsgeschichte? Ist ihr Ende auch die Gegenwart wie die Geschichte des vergangenen Geschehens? Im Grunde bezieht sich diese Frage auf den Sinn der Existenz des Daseins. Die Auslegung des Begriffs Sinn beruht auf dem Aristotelischen Verständnis der Handlung. In der Struktur des Omne agens agit propter finem gründet sich der „Sinn“. Im Rahmen der Daseinsanalytik bezeichnet Heidegger die Zeitlichkeit als den Sinn der Existenz, die im Wesentlichen die Sorge selbst ist. Dasein als Sorge ist das Sein-zum-Tode, in dessen Strukturganzen die ekstatisch-existenziale Bewegung, d. h. die Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge besteht. Dennoch bedeutet dies nicht, dass der Tod der Sinn der Existenz als Geschehen ist. Dass das Dasein existiert, um zu sterben, ist ein Widerspruch, so fragt sich auch Kierkegaard: „Was ist überhaupt der Sinn des Lebens? [. . .] Will man sagen, der Sinn des Lebens sei es zu sterben, so scheint dies abermals ein Widerspruch.“ 300 Heidegger selbst verdeutlicht, dass der Sinn der Sorge nicht der Tod, sondern die Zeitlichkeit ist. Solange das Dasein als Sorge in der Welt existiert, d. h. seine Existenz als Geschehen versteht, ist der Prozess des Geschehens als geworfener Entwurf selbst der Sinn. Was bedeutet das? Im Grunde und Wesen weicht die Handlung der Sorge als Sein-zum-Tode von der normalen Handlung der Geschichte ab. Deshalb muss der Sinn der Daseinsgeschichte unterschieden von dem gewöhnlichen Verständnis der Handlung behandelt werden. Das Ende der Sorge ist der Anfang des Geschehens. Nur in einem Prozess ist dieser einzigartige Sinn der Geschichte möglich. Das heißt, im performativen Prozess kann der Anfang das Ende, das Ende der Anfang sein. Diesen Prozess bezeichnet die Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge. Unter dem Ausdruck „Sein-zum-Tode“ wird die Prozessualität des Geschehens manifestiert. 297 298 299 300

Vgl. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 367–368. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 368. Vgl. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 367. Kierkegaard, Entweder-Oder, S. 41.

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Schluss: Sorge und Geschichte

Auch zeigt sich die Richtung des Laufs im Prozess durch den Namen des Daseins selbst als „Sein-zum-Tode“. Auf die Zukunft richtet sich der Prozess der Daseinsgeschichte. Als die eigenste Möglichkeit des Seins des Daseins impliziert der Tod im Wesentlichen die Zukunft in seiner ekstatischen Bewegung der Zeitlichkeit. An dem Punkt der Gegenwart kann das Dasein seine Geschichte zu erzählen beginnen. Mit dem Sichentwerfen auf die zukünftigen Seinsmöglichkeiten fängt das Dasein seine Geschichte von dem gegenwärtigen Punkt, d. h. der Geworfenheit an. Trotzdem ist die eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins nicht das Ende dieses Geschehens bzw. der Geschichte. Nach dem Sichentwerfen muss das Dasein zu seiner Geworfenheit zurückkommen. Das Ende der Erzählung von dieser Geschichte ist also der Punkt der Gegenwart, wo das Dasein die Erzählung seiner Geschichte angefangen hat, und wo das Dasein anwesend existiert. In der Struktur der normalen Geschichte muss der Anfangspunkt der Geschichte nicht notwendig die Geburt des Erzählers, oder eben der Welt sein. Obgleich das Ende dieser Geschichte unbedingt Jetzt sein soll, ist der Punkt des Anfangs der Vergangenheit offen. Von dem Erzähler der Geschichte hängt der Anfang einer Geschichte ab. Dagegen ist das Ende der existenzialen Geschichte als der Tod ein offener Punkt, der nur als die eigenste Möglichkeit besteht, solange das Dasein sich verstehend existiert. Der Anfangspunkt dieser Geschichte ist die Gegenwart. Anders als die Handlung der normalen Geschichte, deren Ende in dem gegenwärtigen Moment des Erzählers liegt, bleibt der Zeitpunkt des Todes offen als Möglichkeit. In diesem Sinne kann der Tod nicht das bestimmte Ende der Geschichte des Daseins sein. Vielmehr weist der Tod des Daseins als seine eigenste Seinsmöglichkeit auf die Richtung der existenzial-zeitlichen Bewegung von der Geschichte hin. Als die zukünftige und eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins ist der Tod ein konstitutives Element des ekstatisch-existenzialen Prozesses. Aus diesem Grund ist der Tod die eigenste Möglichkeit des Seins, die sich von dem anwesenden bzw. wirklichen Moment des In-der-Welt-seins des Daseins unterscheidet. Im lebendigen Seinsprozess des Daseins funktioniert der Tod als die konstruktive Bedingung für die prozessuale Bewegung, die zwei konstitutive Pole verlangt, um sich als einheitliches Geschehen im Ganzen zu vollziehen. Nicht als ein wirkliches bzw. verwirklichtes Moment des Seins, sondern als Möglichkeit des Seins lässt der Punkt des Todes den Prozess als Ganzes sich vollziehen. Während der Tod einen der beiden Pole konstituiert, besteht der andere Pol in dem Zeitpunkt der Gegenwart. Jedoch schreitet dieser Punkt der Gegenwart immer auf die Zukunft vor. Das heißt, jeder Moment der Gegenwart ist ein Moment des Umschlags bzw. des Übergangs von der Vergangenheit zur Zukunft. In dem ständigen Voranschreiten des jetzigen Moments entwirft sich das Dasein auf Möglichkeiten hin und kommt zu seiner gegenwärtigen Geworfenheit zurück, de-

§ 38 Geschichte

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ren Moment nicht mehr der gleiche Zeitpunkt ist, von dem her es sich entworfen hat. Die zukünftige Geschichte behandelt das Dasein ständig in dem Prozess des geworfenen Entwurfs als seine verstehende Seinsweise. Demgegenüber ist die Analyse der Vergangenheit in diesem zeitlich-existenzialen Prozess verloren. Wo befindet sich die Vergangenheit im ekstatischen Prozess der Zeitlichkeit? In der Analyse der Zeitlichkeit ersetzt Heidegger Vergangenheit durch seinen Begriff „Gewesenheit“. Dem Begriff Gewesenheit fehlt jedoch eine eindeutige Erklärung der Bedeutung. Was sollte man unter dem Begriff Gewesenheit verstehen und welche Rolle spielt die Vergangenheit im existenzialen Prozess des Daseins? 3. Gewesenheit: Keine Rekonstruktion der Vergangenheit In die Welt ist das Dasein geworfen und an diesem gegenwärtigen Punkt der Geworfenheit beginnt das Dasein den existenzial-verstehenden Prozess seiner Existenz. Auf die Zukunft läuft dieser Prozess, solange das Dasein als sich-sorgendes bzw. sich-verstehendes Seiendes in der Welt existiert. Während dieser Punkt der Geworfenheit nicht den Zeitpunkt der Geburt des Daseins, sondern die Anwesenheit des Daseins, d. h. die Tatsache, dass das Dasein „Da“ in der Welt ist, bedeutet, wird die vergangene Zeit des Daseins vor dem Punkt der Geworfenheit, die auch ständig auf die Zukunft voranschreitet, nicht in der Struktur der Seinsart des Daseins als Zeitlichkeit behandelt. Im Rahmen der ekstatischen Struktur der Zeitlichkeit bezeichnet Heidegger das Moment, das die vergangene Zeit umfasst, als die Gewesenheit. Unter dem Begriff „Gewesenheit“ versteht er wiederum das Da-(in-der-Welt)-sein des Daseins in dem Sinne von „es ist da gewesen“. In dem Sein-verb „ist“ liegt der Schwerpunkt dieses existenzialen Satzes. Das heißt, die Gewesenheit ist ein ausführlicher Ausdruck des anwesenden Seins mit der Betonung des „Schon-daseins“. Grundsätzlich besagt der Ausdruck von „ich bin da gewesen“, dass das gegenwärtige Moment der Geworfenheit nicht auf den ersten Moment der Existenz bzw. den Anfangspunkt des Daseins hinweist. Vielmehr ist das Dasein immer schon da. Damit kann das Dasein ständig in der zukünftigen Weise, d. h. in dem existenzialen Prozess des geworfenen Entwurfs als Sein-zum-Tode existieren. Wenn das Moment der Geworfenheit, von dem das Dasein sich entwirft, und auf das es zurückkommen muss, nicht mehr gegenwärtig, sondern vergangen an dem Zeitpunkt, wenn es auf das zurückkommt, ist, kann sich die zweifache Bewegung des geworfenen Entwurfs nicht als ein vollkommener und einheitlicher Prozess vollziehen. In diesem zukünftigen Prozess der Zeitlichkeit sieht es so aus, dass die Vergangenheit keine wichtige Rolle spielt. Das „Immer-schonda-sein“ offenbart keine vergangene Zeit des Daseins, sondern nur das anwesende und faktische Da-sein dieses Seienden. Wie soll man die vergangene Zeit behandeln? Im Rahmen der Daseinsanalytik scheint es zumindest so, als ob diese Frage absichtlich übersehen wird. In „Sein

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und Zeit“ wird der Grund oder die Absicht dieses riesigen Auslassens der Vergangenheit nirgendwo dargelegt. Wie ist es jedoch möglich, die Struktur der Zeitlichkeit ohne Analyse der Vergangenheit zu verstehen? In Bezug auf die Analyse der vergangenen Zeit wird in dieser Arbeit die Theorie der objektiven Zeit Husserls als eine mögliche Interpretation der Vergangenheit dargestellt. Die Gewesenheit interpretiert Theunissen im Rahmen der Theorie der Retention Husserls wie folgt: „,Gewesenheit‘ steht also in der Nachfolge des retentionalen Gegenwartshorizontes.“ 301 Durch die Retention versucht Husserl eine Reihe der objektiven Zeit zu konstruieren. An jedem Jetztpunkt rekonstruieren die vergangenen Momente eine Linie der Erinnerungen in den verschiedenen Stufen und die Punkte des Jetzt zusammen konstruieren die Reihe der Zeit, die Husserl als die Reihe der objektiven Zeit bezeichnet. Das Merkmal dieser Reihe der Zeit bei Husserl besteht jedoch darin, dass sie im Grunde die Rekonstruktion der vergangenen Zeit ist. Das heißt: Die Theorie der objektiven Zeitreihe durch die Rekonstruktion bzw. den Akt der Retention fehlt eine ausführliche Auslegung der zukünftigen Zeit. Aus diesem Grund kann die Zeittheorie Husserls die Heidegger’sche Analyse der Struktur der Zeitlichkeit, die in der ekstatisch-transzendentalen Struktur auf die Zukunft läuft, nicht völlig ersetzen. Die Gewesenheit im Prozess der Daseinszeitlichkeit bedeutet nicht eine theoretische Rekonstruktion der vergangenen Zeit, sondern ein ekstatisches Moment, das mit den anderen beiden ekstatischen Momenten, d. h. Gegenwart und Zukunft zusammen den einheitlichen existenzialen Prozess der Zeitlichkeit konstituiert. Diese drei ekstatischen Momente sind immer in den beweglichen und progressiven Prozess der Existenz versetzt. Dagegen funktioniert der Punkt des Jetzt in der Rekonstruktion der Vergangenheit als der letzte Punkt, das Ende der Reihe der objektiven Zeit. Während jeder Punkt des Jetzt in der Theorie der Retention Husserls der letzte Punkt der vorgängigen Jetztpunkte ist, welcher den Endpunkt der Zeitreihe konstituiert, ist das Moment der Gegenwart in dem lebendigen Prozess der Zeitlichkeit der Anfangspunkt der Existenz, der sich in die Zukunft richtet. Während es sich um die Zukunft bei der Analyse der Zeitlichkeit im Rahmen der Daseinsanalytik handelt, behandelt die Reihe der objektiven Zeit Husserls hingegen lediglich die vergangene Zeit, nicht die Zeit im gänzlichen Rahmen des vollständigen Zeitraums von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Da besteht die Schwierigkeit, die Theorie der Retention Husserls an dem Verständnis des Strukturganzen der Daseinszeitlichkeit anzupassen. Wie Heidegger bei dem Ausdruck „Gewesenheit“ als „schon-in-der-Welt-sein“ keine Analyse der vergangenen Zeit geben kann, garantiert die Theorie der objektiven Zeit Husserls auch nicht die Objektivität der Zeit, die durch Erinnerun301

Theunissen, Negative Theologie, S. 344.

§ 38 Geschichte

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gen rekonstruiert wird. Vielmehr legt Husserl die Zeit durch die rekonstruierte Reihe der Zeit nur als vergangene Zeit fest. In diesem Sinne sieht es eher so aus, als ob die Husserl’sche Theorie der Rekonstruktion der Zeit nicht so objektiv, sondern subjektiv ist, wie die Heidegger’sche Formulierung der Zeitlichkeit des jeweiligen Daseins. Obgleich Heidegger Erinnerung nicht als ein Element bezeichnet, das das Entwerfen ermöglicht, müsste sich die Möglichkeit des Sichentwerfens als die zukünftige Bewegung in den Erinnerungen des Daseins selbst gründen. Wenn man sich auf die Möglichkeit seines Seins in der Zukunft entwirft, muss man schon seine Erinnerungen an die vorgängigen Erfahrungen besitzen, z. B. nach dem Seminar nach Hause fahren und eine Flasche Bier trinken. Damit kann man einen möglichen Plan, der in diesem Kontext als ein Beispiel für ein (uneigentliches) Seinkönnen dargestellt werden kann, für die künftige Zeit entwerfen. Auch wenn das Dasein sich entwirft, ist jedes Moment des Entwurfs immer schon vergangen. Der Begriff „Gewesenheit“ expliziert allerdings nicht diese Seite des Prozesses, d. h. die Seite der Vergangenheit. 4. Geschehen als Ganzes in der Struktur der Handlung Als zukünftiges Geschehen vollzieht sich die Bewegung der Existenz des Daseins. In Hinsicht darauf, dass sich dieser existenziale Prozess des Verstehens als Geschehen enthüllt, wird die phänomenologische Methode der Ontologie des Daseins in dieser Arbeit als Phänomenologie der Erzählung bezeichnet. Denn alle Geschichten müssen und können nur erzählt werden. Ist es aber überhaupt möglich eine Geschichte zu erzählen, ohne einen Anschluss an die Vergangenheit? Was bedeutet die Erzählung der existenzialen Geschichte des Daseins? Die Struktur der Handlung des omne agnes agit proper finem habe ich als das Strukturganze des Geschehens übernommen: Alles Handeln handelt um eines Zieles willen. In dieser Struktur vollendet das Ende bzw. das Ziel die Handlung als Ganzes. Wenn man das Geschehen, d. h. die Geschichte des Daseins als Handlung behandelt, spielt das Ende des Geschehens daher eine entscheidende Rolle, in der Hinsicht, dass das Ende das Geschehen ein Ganzes macht. In diesem Zusammenhang zeigt das Ende als Ziel den Sinn der Handlung. Was ist der Sinn des existenzialen Geschehens des Daseins? Heidegger stellt die Zeitlichkeit, die die Grundverfassung seiner Existenz offenbart, als den Sinn der Existenz dar. Inwiefern kann die Zeitlichkeit als das Ziel in Beziehung auf den Sinn begriffen werden? Möglich ist die Zeitlichkeit als Ende zu verstehen, nur wenn sich die Zeitlichkeit in einem einheitlichen und gänzlichen Prozess bewegt. Notwendigerweise verlangt diese Bewegung des Prozesses ein konstitutives Element, das den Prozess zum Ganzen werden lässt. Das ist das Ende des Prozesses. In dem existenzialen Prozess des geworfenen Entwurfs besteht das Ende dieses Prozesses in der eigensten Möglichkeit des Daseins. Das Merkmal des Endes in der Zeitlich-

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keit liegt darin, dass der Tod die eigenste Seinsmöglichkeit, d. h. eine Möglichkeit des Seins meint. Das Ende als Tod ist nicht ein Moment des verwirklichten Seins. Hingegen offenbart sich der Anfangspunkt des Prozesses als Geworfenheit des wirklichen Da-(in-der-Welt)-seins. Zwischen der Wirklichkeit und der Möglichkeit seines Seins bewegt sich das Dasein. Diese Bewegung ist das Geschehen der Zeitlichkeit als Prozess. Das heißt: der Tod als Ende ist ein Moment der Seinsmöglichkeit des Daseins, das als die notwendige konstitutive Bedingung des gänzlichen Geschehens funktioniert. Zum Ende läuft das Dasein (vor), damit vollzieht sich der Sinn seiner Existenz als Sorge in der Struktur der Handlung. Im Prozess des Seins-zum-Tode ermöglicht der Tod als das Ende das Sichentwerfen und das Zurückkommen des Daseins. Wenn sich das Geschehen des Daseins in der Struktur der Handlung omne agens agit propter finem manifestiert, zeigt sich das Geschehen als Ganzes, das sich ständig auf das Ziel bewegt. Der Sinn der Sorge als zeitliches Geschehen enthüllt sich durch den Tod als sein Ende, in einem Prozess, der sich zukünftig bewegt. Als Ganzes also soll dieses Geschehen erzählt werden. Allerdings richtet sich diese Geschichte als Ganzes auf die Zukunft. Die Art und Weise der Erzählung von dieser Geschichte soll demnach unterschiedlich von einer normalen Geschichte, die sich in der Vergangenheit gründet und sich auf die Vergangenheit richtet, verstanden werden. Zwischen der Vergangenheit und dem gegenwärtigen Moment geschieht die Geschichte des Daseins nicht, sondern der Prozess der Erzählung von dieser Geschichte läuft von dem gegenwärtigen Moment zum möglichen Moment der Zukunft vor und kommt zur Gegenwart zurück, indem die Erzählung einer solchen zukünftigen existenzialen Geschichte des Daseins ermöglicht wird. 5. Struktur des Geschehens Dass das Dasein als das Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein selbst geht, sich verstehend existiert, bedeutet, dass es als In-der-Welt-sein sich auf Möglichkeiten seines Seins entwirft und zu seiner Geworfenheit zurückkommt. Diesen ganzen Prozess nennt Heidegger Ereignis. In der zweifachen Bewegung des geworfenen Entwurfs liegt daher die Struktur des Geschehens zum Ganzen. Zwischen den beiden Punkten, d. h. die Geworfenheit in die Welt und die Möglichkeit seines Seins entsteht eine vollkommene zyklische Bewegung, d. h. die Existenz des Daseins. Anwesend ist dieses Geschehen immer. Aber es schreitet immer auch auf die Zukunft vor. Nämlich, das Dasein, das immer schon in der Welt anwesend ist, läuft ständig durch das Sichentwerfen auf die Zukunft vor. In dem existenzialen Geschehen existiert das Dasein gegenwärtig zwischen Gewesenheit und Zukunft. Diese Bewegung des Geschehens manifestiert die ekstatisch-existenziale Struktur der Zeitlichkeit. Als Grundverfassung der Daseinsexistenz enthüllt sich die Zeitlichkeit in ihrer ekstatischen Struktur. Auf Gewesenheit, Gegenwart und Zukunft weisen die drei

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Ekstasen der Zeitlichkeit hin, die nicht drei bestimmte und fixierte Zeitpunkte, sondern die drei phänomenalen Charaktere der Zeitlichkeit bedeuten. Wie folgt beschreibt Heidegger diese drei Ekstasen mit den Verhältniswörtern, welche die Orientierungscharaktere der zeitlichen Ekstasen zeigen: „Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des ,Auf-sich-zu‘, des ,Zurück auf‘, des ,Begegnenlassens von‘. Die Phänomene des zu. . ., auf. . ., bei. . . offenbaren die Zeitlichkeit als das ™kstatikün schlechthin. Zeitlichkeit ist das ursprüngliche ,Außer-sich‘ an und für sich selbst.“ (SuZ 329) Darin liegt das Merkmal der Charaktere der Ekstasen von Heidegger, dass die Ekstasen der Zeitlichkeit prozessual sind. Die drei Ekstasen als Gewesenheit, Gegenwart, Zukunft zeigen die Richtung der zeitlichen Bewegungen, die das existenziale Geschehen konstituieren. In einem lebendigen Prozess der Zeitlichkeit bewegen sie sich, was das Existieren des Daseins selbst konstituiert. In der Struktur der Zeitlichkeit gründet sich daher die Struktur des Geschehens als die Grundverfassung der Existenz des Daseins. Der Name dieses zeitlich-existenzialen Geschehens ist, Heidegger zufolge, Sorge.

§ 39 Sorge 1. Sorge als ontologisches Grundphänomen Als den Sinn der Sorge bezeichnet Heidegger die Zeitlichkeit. In der Daseinsanalytik besitzt der Begriff Sorge einen besonderen Status, angesichts dessen, dass Sorge der eigentliche Name der Existenz des Daseins ist. Wie meint Heidegger denn unter dem Begriff Sorge? Zuerst nennt er die Sorge das Grundphänomen des Daseins. In diesem Punkt besteht der Grund, inwiefern dieses ganze Projekt der Daseinsanalytik eine phänomenologische Untersuchung heißen sollte. Durch Geschichtlichkeit ist das Dasein charakterisiert (vgl. SuZ 197), in dem Sinne, dass es als Geschehen existiert. Allerdings muss die Geschichtlichkeit des Daseins als sein Grundcharakter, nach Heidegger, „ontologisch nachgewiesen werden“ (SuZ 197). Aber was soll man unter dem Ausdruck „ontologisch“ im Rahmen der Daseinsanalytik verstehen? Heidegger interpretiert die Ontologie des Daseins in Bezug auf die Hermeneutik bzw. die Selbstauslegung des Daseins. In diesem Zusammenhang besteht eine Frage nach der Methode der Hermeneutik, d. h. wie die Selbstauslegung bzw. das Verstehen des Daseins ermöglicht werden. In der Struktur der Sorge als Grundart des Daseins bzw. des geworfenen Entwurfs gründet sich der Charakter der Geschichtlichkeit. Von dem Dasein selbst kann und muss die Sorge als Grundart des Daseins vorontologisch ausgelegt werden. Im Rahmen der Daseinsanalytik bringt die ontologische Interpretation des Daseins die vorontologische Selbstauslegung des Daseins als Sorge auf den existenzialen Begriff (vgl. SuZ 200). Wie das Dasein sein Sein selbst vorontologisch

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auslegt, ist eine Frage nach der Methode. Was ist denn die Bedingung des Verstehens? Wie kann man etwas verstehen? Das, was man verstehen kann, soll zuerst offenbar werden, d. h. sich zeigen. Damit ist das Verstehen überhaupt möglich. Wenn etwas sich zeigt, wird es erst verständlich. Hingegen kann man etwas, das verborgen ist, d. h. das nicht sich zeigt, nicht verstehen. Als die notwendige Bedingung des Verstehens enthüllt das „Sich-zeigen“ das kritische Moment der Existenz des Daseins als Verstehen. Dieses „Sich-zeigen“ wird als „Phänomen“ bezeichnet. Auf den griechischen Ausdruck —ainümenon geht der Begriff Phänomen zurück, der von dem Verbum —aßnesqai herleitet, das „sich zeigen“ bedeutet (vgl. SuZ 28). Als verstehendes Geschehen ist das Dasein in der Lage seine eigene Existenz selbst auf phänomenologische Weise auszulegen. Phänomen in dem Sinne des „Sich-zeigens“ bezieht sich auf die Offenbarung der existenzialen Struktur der Sorge, d. h. Sich-verstehende-Struktur des Daseins. In der Hinsicht, dass die Grundart des Daseins in der Struktur der Sorge zur Erscheinung kommt, meint der Terminus „Sorge“ „ein existenzial-ontologisches Grundphänomen“ (SuZ 196). Wie die Sorge zur Erscheinung kommt, oder sich zeigt, betrifft die Methode der Selbstauslegung des Daseins, was Heidegger in der Daseinsanalytik als „Phänomenologie“ bezeichnet. Dass das Dasein durch das Phänomen der Sorge sich selbst versteht, besagt die Hermeneutik des Daseins als seine Ontologie. Phänomenologie bedeutet in diesem Zusammenhang primär einen Methodenbegriff (vgl. SuZ 27). Um seine eigene Existenz selbst auszulegen, muss das Dasein demnach zuerst das Phänomen der Sorge verstehen. Als Sorge enthüllt sich die Grundart der Existenz und die Zeitlichkeit ist der Sinn der Sorge. Was bedeutet das? Was die Sorge als das Wesen des Daseins zur Erscheinung bringt, ist das Geschehen des geworfenen Entwurfs. Sorge ist demnach der Name für das Geschehen des Daseins. Da muss noch eine wichtige Frage gestellt werden: Warum nennt Heidegger das Geschehen der geworfenen Entwurfs „Sorge“? Was meint er unter diesem Ausdruck? Zunächst muss man fragen, um was sich das Dasein sorgt, wenn sich das Wesen der Daseinsexistenz in der Sorge gründet. Das Merkmal des Begriffs Dasein bei der Daseinsanalytik Heideggers besteht darin, dass Heidegger Dasein als dasjenige Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein selbst geht, interpretiert. In dieser Definition liegt das Wesen der Sorge bzw. der Kern und das ganze Bild des Projekts der Daseinsanalytik: Das Dasein sorgt sich um sich selbst, d. h. sein eigenes Sein. Wie es sich um sein Sein sorgt, bezeichnet den Prozess der Zeitlichkeit als geworfenen Entwurf. Im Prozess des geworfenen Entwurfs geschieht das Verstehen des Daseins. Wegen des Wesens als Selbstverstehendes Seiendes kann das Dasein sich selbst auf Möglichkeiten entwerfen. Jedoch ist das Sichentwerfen des Daseins nur möglich unter der Bedingung, dass es schon in die Welt

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geworfen ist. Als sich sorgendes Seiendes existiert das Dasein in einem lebendigen Prozess des zeitlichen Geschehens. In diesem Kontext ist der Ausdruck „Sorge“ der Name für das Geschehen der Daseinsexistenz zum Ganzen, der als Phänomen die Grundart des Seins des Daseins sichtbar macht, d. h. sich zeigen lässt. Damit wird das Sichverstehen des Daseins ermöglicht. Aus diesem Grund bezeichnet Sorge das existenzial-ontologische Grundphänomen.

2. Sinn der Sorge: Sorge als Handlung Der Sinn der Sorge offenbart sich als Zeitlichkeit. In dem Strukturganzen der Zeitlichkeit besteht das Wesen der Sorge, das sich in der Endlichkeit des menschlichen Daseins gründet. In diesem Sinne geht die Grundstruktur der Sorge zurück auf die Handlungsstruktur. Auf die Frage nach dem Ziel, d. h. Ende der Zeitlichkeit bezieht sich diese Struktur. Als Sein-zum-Tode vollzieht die Endlichkeit des Daseins den Prozess der Exsitenz als zeitliches Geschehen. In der Handlungsstruktur beruht der Begriff „Sinn“ auf der Zweckmäßigkeit innerhalb eines Verhaltens des Daseins. Wie oben bereits erklärt wird, bedeutet diese bestimmte Formulierung die Handlungsstruktur. In Bezug auf den Sinn der Handlung kann die folgende Frage nach dem Sinn des zeitlichen Prozesses von der Sorge gestellt werden: Zu welchem Zwecke bewegt sich der Prozess der Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge? Das heißt, woraufhin richtet sich der Sinn der Sorge? Im Grunde genommen ist diese Frage eine Frage nach dem tÝloò, d. h. finis. Woraufhin sich der Prozess der Zeitlichkeit richtet, zeigt das finis seines Seins, d. h. sein eigenstes Seinkönnen als Möglichkeit der Nichtigkeit. Endlich existiert das Dasein im Grunde und Wesen. Dass es im Werfen in die Welt geworfen ist, bezieht sich auf die Endlichkeit seines Seins. In dem Sinne, dass der Tod des Daseins als das Ende den Prozess seiner Existenz zum Ganzen werden lässt, ist die Frage nach dem Ende die Kernfrage zum Verstehen des Daseins. Als das eigenste Seinkönnen des Daseins zeigt die Nichtigkeit bzw. der Tod das ursprüngliche „Woraufhin“ des Prozesses der Existenz des Daseins. In der Handlungsstruktur enthüllt der „Sinn“ die Bewegungsweise und das Ziel des Prozesses als geworfener Entwurf, d. h. des verstehenden Geschehens der Sorge. Im Prozess des Seins-zum-Tode offenbart sich die zeitlich-existenziale Struktur der Sorge als verstehendes Geschehen, das in dem lebendigen Prozess der Zeitlichkeit selbst in sein Ziel kommt. In der Hinsicht darauf, dass das Dasein schon in die Möglichkeit der Nichtigkeit geworfen, wenn das Dasein existiert (vgl. SuZ 251), konstituiert der Tod als „die Möglichkeit der schlechthinnige Daseinsunmöglichkeit“ (SuZ 250) den Grund der Daseinsexistenz. In seinem existenzial-zeitlichen Prozess des Seins entwirft sich das Dasein auf Möglichkeiten seines Seins. Zu den Seinsmöglich-

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keiten des Daseins gehört doch auch die Möglichkeit der Nichtigkeit, d. h. die Möglichkeit der Unmöglichkeit des Seins. „Als die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit“ (SuZ 250) des Daseins offenbart sich der Tod. Durch das Sichentwerfen bzw. das Vorlaufen zum Tode hat das Dasein selbst den Tod als je seine Seinsmöglichkeit zu übernehmen (vgl. SuZ 250). „Die Sorge selbst ist in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt“ (SuZ 285), so Heidegger. Als Sorge versteht das Dasein sein Sein selbst, indem der existenziale Prozess der Existenz die wesentliche bzw. eigenste Möglichkeit des Seins, d. h. die Möglichkeit des Todes offenbart. Sorge als geworfener Entwurf enthüllt sich selbst als das endliche Sein des menschlichen Daseins. In seinem endlichen Sein ist das Dasein im Grund und Wesen seines Seins (und deswegen auch seines Todes als das eigenste Seinkönnen) schuldig. Schuldig kann das Dasein sein, nur weil es als dasjenige Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, existiert. In dem existenzialen Zusammenhang der Daseinsanalytik muss allerdings der Begriff „Schuld“ abweichend von der alltäglichen Anwendung des Terminus verstanden werden. Vielmehr weist das Schuldigsein des Daseins auf das Verantwortlichsein für sein Sein hin. Heidegger verwendet den Begriff „Schuld“ in Bezug auf das Grundsein des Daseins als Sorge. „Seiendes, dessen Sein Sorge ist, kann sich nicht nur mit faktischer Schuld beladen, sondern ist im Grunde seines Seins schuldig, welches Schuldigsein allererst die ontologische Bedingung dafür gibt, dass das Dasein faktisch existierend schuldig werden kann.“ (SuZ 286) Im Verantwortlichsein des Daseins für seine Nichtigkeit, d. h. sein Sein gründet sich das Wesen der Sorge als Sein-zum-Tode. Schuldigsein bezieht sich deshalb auf die Endlichkeit und die Verantwortlichkeit des Daseins für sein Sein, nämlich das endliche Sein. Im Alltag ist das Dasein jedoch „in das Man verloren“ (SuZ 287), dabei es nicht eigentlich für seine Existenz verantwortlich sein kann. Aus dieser Verlorenheit ruft das Dasein aber sich selbst durch das Gewissen zurück. Durch das Sichrufen des Gewissens wird das Schuldigsein des Daseins ermöglicht. Dem Dasein gibt das Selbstrufen durch das Gewissen zu verstehen, dass es sich aus der „Verlorenheit in das Man“ zu ihm selbst zurückholen soll, das heißt: es ist schuldig (vgl. SuZ 287). „Schuld“ ist in diesem Sinne ein ontisches Phänomen des Daseins, das die ontologische Struktur des Daseins als geworfener Entwurf, d. h. den Sinn der Sorge offenbart. Das Merkmal des Seins von dem Dasein als Sorge, das in seinem endlichen Wesen schuldig, oder eher verantwortlich für seine Endlichkeit, nämlich sein Sein ist, liegt darin, dass nicht der Tod, sondern die Zeitlichkeit, d. h. der lebendige Prozess selbst der Sinn der Sorge ist. Von dem Sinn der normalen Handlung in dem Sinne, dass sich der Sinn der Handlung am Ende des Prozesses befindet, unterscheidet sich demnach die sich in dem Schuldig-Sein gründende Struktur der Sorge. In der Handlung der Sorge gründet sich der Sinn der Handlung nicht

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in ihrem Ende, sondern in der Prozessualität der Handlung selbst, in der Struktur der Handlung als Sorge. Nicht nur das Ende, sondern auch der Anfang des Prozesses konstituiert den Sinn. In dieser Struktur ist der Anfang das Ende, das Ende der Anfang in einem einheitlichen Prozess. Alles handeln handelt also um eines Zieles und eines Anfangs willen. Sowohl das Ende als auch den Anfang verlangt der Prozess der Sorge, um zum Ganzen zu werden. Das Ende beruht eigentlich auf dem Anfang, d. h. Grund des Daseins als Sein-zum-Tode bzw. Sorge. Als Sorge hat das Geschehen der Existenz des Daseins seinen Sinn nicht in seinem Tod als Ende, sondern in der Prozessualität der Zeitlichkeit. 3. Sorge und Freiheit Um sich selbst auf Möglichkeiten zu entwerfen, muss das Dasein zunächst in die Welt geworfen sein. Aus dem Sichentwerfen muss das Dasein immer zu seinem gegenwärtigen In-der-Welt-sein zurückkommen. Damit vollzieht sich die Existenz des Daseins als Sorge in einem vollkommenen Prozess. In der Nichtigkeit gründet sich der existenziale Prozess des Daseins. Die gemeinte Nichtigkeit, aus der das Sein der Sorge als Geschehen zum Ganzen werden, „gehört zum Freisein des Daseins für seine existenziellen Möglichkeiten“ (SuZ 285). Im Grunde genommen weist das „in-den-Tod-geworfene-sein“ auf das Schuldigsein des Daseins hin, „dem das Dasein als In-der-Welt-sein überantwortet ist.“ (SuZ 188) Zu seinem eigensten Seinkönnen ruft sich das Dasein selbst „in der Geworfenheit (Schon-sein-in . . .)“ (SuZ 277). Als „Schon-in-die-Welt-geworfenes-sein“ bzw. „In-den-Tod-geworfenes-sein“ begründet die Geworfenheit die Möglichkeit des aktiven Verantwortlichseins für das Dasein. Für je sein eigenes Sein kann das Dasein verantwortlich sein durch das Selbstrufen, was die Struktur der Freiheit als „aus sich und doch über sich selbst“ zeigt. In dem Wesen der Zeitlichkeit befindet sich diese Struktur „aus sich und doch über sich selbst“, die Heidegger als „™kstatikün“ bezeichnet. Als „™kstatikün“ erschließt die Zeitlichkeit ihre Struktur des Prozesses, d. h. das ursprüngliche „Außer-sich“ (an und) für sich selbst, das grundsätzlich die Seinsart des Daseins manifestiert. Das „™kstatikün“ als das ursprüngliche „Außer-sich“ für sich selbst zeigt die Charaktere der zeitlichen Phänomene bzw. die drei Ekstasen als Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart, die in ihrer ekstatischen Einheit die Grundart des Daseins als Zeitlichkeit enthüllen. Das heißt, die drei Ekstasen in einem einheitlichen Prozess offenbaren den Selbstvollzug der Existenz des Daseins. Zeitlichkeit ist das ursprüngliche „,Außer-sich‘ an und für sich selbst“ (SuZ 329). Und das ekstatische „Außer-sich“ für sich selbst der Zeitlichkeit als „Über-sich-hinaus-gehen“ zur Welt, in die das Dasein geworfen ist, betrifft die Transzendenz des Daseins. Auf die Seinsmöglichkeiten der Zukunft läuft das Dasein vor, indem es über seine gewesend-gegenwärtigende Geworfenheit hinausgeht. An dem Punkt, wo

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Schluss: Sorge und Geschichte

das Dasein über sich hinausgeht, fängt der Akt des Zukommens an, d. h. das Sichentwerfen des Daseins. Als Ausgangspunkt der existenzialen Bewegung des Daseins zeigt das „Über-sich-hinaus-gehen“ das „Außer-sich“ von „™kstatikün“. Allerdings wird diese über sich hinaus gehende Bewegung nur zum Ganzen, erst wenn das über sich hinaus gegangene Dasein auf sich selbst zurückkommt. Demnach ist das ursprüngliche „Außer-sich“ immer für sich selbst. Aus diesem Grund bedeutet Zeitlichkeit als das „™kstatikün“ das ursprüngliche „Außer-sich“ an und für sich selbst, was auf die Struktur der Transzendenz des Daseins hinweist. In dem Prozess des „Außer-sich“ und für sich selbst existiert das Dasein als Entschlossenheit. Das heißt, das Phänomen des „Außer-sich“ für sich selbst zeigt das Wesen des Daseins als freies Seiendes. Als dasjenige Seiende, das sich um sein Sein selbst sorgt, hat das Dasein seine Freiheit in der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit, die strukturell die Transzendenz des Daseins betrifft. Notwendigerweise aber bezieht sich der Begriff der Transzendenz des Daseins auf seine Welt. Aufgrund dessen, dass das Dasein als In-der-Welt-sein existiert, spielt die Welt eine erhebliche Rolle in der Daseinsanalytik. „In der Grundverfassung des In-der-Welt-seins bekundet sich das ursprüngliche Wesen der Transzendenz“ 302, so Heidegger. In dem Prozess der Zeitlichkeit zeigt sich die Welt nicht nur als der Ort der Existenz des Daseins, sondern auch als das ursprüngliche konstitutive Element des Daseins. Das heißt, in der Zeitlichkeit gründet sich die „ontologische Verfassung der Welt“ (SuZ 365). Diesen räumlichen Hintergrund des Daseins verbindet Heidegger mit der Transzendenz. Er interpretiert die Transzendenz als den „Überstieg“ 303 zur Welt, der sich als Geschehen ereignet. Dieser Überstieg bedeutet die Freiheit des Daseins.304 Als „In-der-Welt-sein“ versteht das Dasein sich aus einer Welt. Obgleich das Dasein in der Welt endlich existiert, existiert es sich verstehend als In-der-Welt-sein, nämlich als das freie Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht. Das Selbstverstehen des Daseins demnach begründet die Freiheit des Daseins. In dem Moment der Freiheit besteht der Anfang bzw. der Grund des Seins des Daseins als Sorge. Freiheit als Transzendenz ist Freiheit zum Grunde.305 Das Wesen des Daseins liegt darin, „dass es je sein Sein als seiniges zu sein hat.“ (SuZ 12) Das heißt: Sein eigenes Sein verstehend und sich auf Möglichkeiten entwerfend existiert jedes einzelne Dasein als In-der-Welt-sein. Im Grunde und Wesen ist das Dasein frei. Dementsprechend konstituiert die Freiheit der Trans-

302 303 304 305

Heidegger, Phänomenologie, S. 426. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 18. Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 43. Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 44.

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zendenz den Grund der Sorge, d. h. den Anfangspunkt des Prozesses der Zeitlichkeit in der Struktur „Außer-sich“ für sich selbst als die Grundart des Daseins. In Bezug auf Freiheit als Grund schreibt Heidegger wie folgt: „Freiheit ist die Bedingung der Möglichkeit der Offenbarkeit des Seins von Seiendem, des Seinsverständnisses.“ 306 Allerdings setzt das Verstehen des Daseins im freien Sichentwerfen bzw. „als der Entwurf des Umwillen“ 307 notwendigerweise das Zurückkommen auf seine Geworfenheit voraus. Demnach ist aller Entwurf ein geworfener Entwurf.308 Unter der Bedingung, dass die Wesensverfassung des Daseins im In-der-Welt-sein liegt, kann das Dasein nur als existierendes sein, d. h. als Dasein faktisch existieren.309 In diesem Zusammenhang gründet sich die Struktur der menschlichen Freiheit darin, dass das Dasein als In-der-Welt-sein sich selbst verstehend im Prozess des geworfenen Entwurfs über sich selbst hinaus zur Welt transzendiert. Da übersteigt die Transzendenz des Daseins nicht die Welt, d. h. seine Endlichkeit, sondern sie übernimmt die Welt als die Grundbedingung des Seins. Zusammenfassend kann man die Freiheit des Daseins wie folgt formulieren: Das Sein als Sorge selbst bezeichnet das Freisein des Daseins. Dass es sich um sein Sein sorgt, bedeutet die Freiheit des Daseins als das sich verstehendes Seiende. Deshalb bedeutet die Freiheit für das Dasein das Verstehen des Daseins bzw. sein Sein als Sorge selbst. In diesem Sinne meint Heidegger, dass die phänomenologische Wahrheit (Erschlossenheit des Seins als Sorge) veritas transcendentalis ist. (vgl. SuZ 38) Die Freiheit des Daseins als Sorge ist die Freiheit des jeweiligen Daseins als Individuum. 4. Individualität des Daseins Solange das Dasein als Sorge je sein Sein als seiniges verstehend existiert, kann es als „Sein-zum-Tode“ über sich hinausgehen, d. h. als freies Seiendes transzendieren. In Bezug auf die Transzendenz des Daseins betont Heidegger, dass sich die Transzendenz in der Seinigkeit des Daseins gründet. Er meint: „Die Transzendenz des Seins des Daseins ist eine ausgezeichnete, sofern in ihr die Möglichkeit und Notwendigkeit der radikalsten Individuation liegt.“ (SuZ 38) Als seiniges hat das Dasein je sein Sein zu sein (vgl. SuZ 12). Darin liegt das Wesen des freien Daseins, dass sich das Dasein um je sein Sein als seiniges sorgt. Das, was das Dasein überhaupt verstehen kann, ist, nicht erst den Sinn von Sein, sondern den Sinn seines Seins als Sorge. Als seiniges geschieht das Sein 306 307 308 309

Heidegger, Vom Wesen der Menschlichen Freiheit, S. 303. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 45. Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 54. Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 22.

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der Sorge in dem Prozess der Zeitlichkeit. In der ekstatischen Struktur der Zeitlichkeit bzw. Transzendenz als „Außer-sich“ für sich selbst existiert das Dasein als Geschehen. Das Merkmal dieser Struktur besteht darin, dass das Dasein sich selbst im Zentrum des Geschehens befindet. Außer sich für sich selbst geht das Dasein, indem sein Sein als Sorge bzw. als seiniges geschieht. In dem Wesen des Daseins als sich verstehendes Seiendes, d. h. in der Sorge liegt der individuellen Charakter der Daseinsexistenz als je individuelle. Allerdings soll die Individualität des Daseins nicht als Individualismus verstanden werden, der zu Vereinzelung und sozialer Isolation führt. Unter dem Ausdruck „Individualität“ des Daseins kommt vielmehr der ursprüngliche ontologische Status des menschlichen Daseins als das freie Seiende im Ganzen zur Erscheinung. Als Sorge existiert das Dasein frei in der Weise, dass es je sein Sein als seiniges zu sein hat. Im Wesentlichen ist die Zeitlichkeit demnach immer meine eigene Zeitlichkeit, die sich von der Reihe der objektiven Zeit unterscheidet. In dieser Arbeit wird also diese eigene bzw. individuelle Zeitlichkeit als die jemeinige eigene Geschichte bezeichnet. Als Einzelne und Individuelle besitzt die Geschichte des je-weiligen Daseins ihre Einzigartigkeit in sich selbst. Zu dem jeweiligen Dasein gehört der Prozess der Zeitlichkeit als eigenes Geschehen. In dieser Hinsicht wird die Erzählung einer Geschichte als die einzigartige Phänomenologie des Daseins dargestellt. Weil eine Geschichte nicht reduziert werden kann, kann eine Geschichte als meinige oder seinige nur erzählt werden. Dagegen gehört die rationale Reduktion nicht zum Charakter der Erzählung. In Bezug auf die Geschichtlichkeit des geschehenden Daseins muss die Erzählung einer Geschichte in einer neuen Dimension ausgelegt werden. Durch die Erzählung seiner Geschichte, indem die Geschichte nicht rational reduziert, sondern erzählt wird, geht die Seinigkeit des Daseins, d. h. die Individualität und die Einzelheiten des jeweiligen Daseins nicht in das Man verloren. Trotzdem kann man in diesem Zusammenhang Kritik daran üben, dass der Prozess der Zeitlichkeit als geworfener Entwurf die eigentliche Seinsart des Daseins als Sein-zum-Tode meint, die sich von der uneigentlichen Seinsart unterscheidet. Im Prozess des Seins-zum-Tode existiert das Dasein als das Seiende, das sich um sein Sein als endliches, d. h. um seinen Tod sorgt. Die Einzelheiten des Seins für das Dasein meinen die Uneigentlichkeiten des Alltäglichkeit als eine Grundart des Seins, die Heidegger als „Verfallen“ (SuZ 175) bezeichnet. Allerdings zeigt das Verfallen des Daseins nicht die Vergessenheit des Seins, oder die Verlorenheit des Seinsverstehens des je individuellen und faktisch existierenden Daseins. Vielmehr ist das Dasein verloren, in der seinsvergessenen traditionellen Metaphysik, in der sich das Sein des je faktisch existierenden Daseins unter dem rational reduzierten „Subjekt“ versteckt.

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5. Eigentlichkeit, Uneigentlichkeit In dem ekstatisch-zeitlichen Prozess der Sorge als Sein-zum-Tode läuft das Dasein auf die Zukunft vor, damit es sich verstehend zukünftig existieren kann. Als die Grundart des Seins des Daseins ermöglicht der Prozess der Zeitlichkeit verschiedene Seinsmodi des Daseins, entweder eigentlich oder uneigentlich. „Zeitlichkeit zeitigt und zwar mögliche Weisen ihrer selbst. Diese ermöglichen die Mannigfaltigkeit der Seinsmodi des Daseins, vor allem die Grundmöglichkeit der eigentlichen und uneigentlichen Existenz“ (SuZ 328), so Heidegger. Heidegger definiert die Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Seinmodi des Daseins, die sich darin gründen, dass es als Einzelnes durch Jemeinigkeit bestimmt ist (vgl. SuZ 43). Eigentlich existiert das Dasein, wenn es als Sorge so existiert, dass es sich um sein eigenes Sein, nämlich um seinen Tod sorgt. Das Existieren als Sorge selbst bedeutet die Eigentlichkeit. Hingegen bezieht sich die Uneigentlichkeit auf die Alltäglichkeit bzw. die Indifferenz der Alltäglichkeit. Das heißt, im Alltag sorgen wir uns doch nicht jederzeit nur um den Tod. Diese Indifferenz der Alltäglichkeit bezeichnet Heidegger als einen positiven phänomenalen Charakter des Daseins (vgl. SuZ 43). Unter dem „positiven phänomenalen Charakter“ versteht Heidegger Folgendes: „Aus dieser Seinsart [Uneigentlichkeit] heraus und in sie zurück ist alles Existieren, wie es ist.“ (SuZ 43) Diese Indifferenz der Alltäglichkeit nennt Heidegger Durchschnittlichkeit (vgl. SuZ 43). Immer schon versteht das Dasein sein Sein durchschnittlich, indem die Seinsart des Daseins als Existenz bzw. Sorge zunächst und zumeist aufgedeckt wird. Damit kann das Dasein überhaupt sein Sein als Sorge verstehen, d. h. eigentlich existieren. In diesem Sinne wird die Wahrheit der Uneigentlichkeit erschlossen: Die Uneigentlichkeit des Daseins bedeutet „nicht etwa ein ,weniger‘ Sein oder einen ,niedrigeren‘ Seinsgrad“ (SuZ 43). Im Modus der Uneigentlichkeit selbst liegt „a priori die Struktur der Existenzialität“ (SuZ 44). Die beiden Seinsmodi Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit stehen nicht im Widerspruch, sondern sie liegen notwendigerweise zusammen in der Existenz des Daseins. Auch besteht zwischen den beiden Seinsmodi keine Hierarchie. Das heißt, die Uneigentlichkeit des Daseins als Alltäglichkeit bedeutet weder „Nichts“ in der Existenz des Dasein, noch einen negativen und unmoralischen Seinsmodus gegen die Eigentlichkeit. Vielmehr kann die Uneigentlichkeit das Dasein „nach seiner vollsten Konkretion“ (SuZ 43) bestimmen. Durch die Indifferenz der Alltäglichkeit wird die Existenz des Daseins zum Ganzen als faktisches und lebendiges mit den Einzelheiten des Seins des Daseins. Die Pointe der Indifferenz der Alltäglichkeit liegt darin, dass die Indifferenz als das kritische Moment, wo das Dasein in seinem eigentlichen Seinsmodus der Existenz die Jemeinigkeit meines Seins durch seine lebendigen und eige-

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Schluss: Sorge und Geschichte

nen Einzelheiten sichert und festhält, sich enthüllt. In Bezug auf den Seinsmodus der Uneigentlichkeit, zeigt sich die Bedeutung des Begriffs „Sorge“ als Grundart des Seins besser in dem lateinischen Wort „cura“ in dem Sinne des „care“ – wie Sich-kümmern mit der positiven Konnotation des Wortes – als in dem Wort „Sorge“ mit der negativen Konnotation. Dasein als freies Seiendes versteht sein Sein und sich um sein Sein „curat“. Im Prozess des geworfenen Entwurfs läuft das Dasein nicht immer nur zum Tod. Der Punkt des Todes ist da als die eigenste Möglichkeit des Seins. Aber Dasein entwirft sich auf die uneigentliche Möglichkeiten des Seins, d. h. die Einzelheiten bzw. die Kleinigkeiten des praktisch lebenden Seins des je Daseins.

§ 40 Erzählung als Phänomenologie des Daseins 1. Logos als Erzählung: Phänomenologie des Daseins Durch Geschichtlichkeit wird das Dasein als Sorge charakterisiert, d. h. Dasein existiert als Geschehen. Jedoch ist die existenziale Geschichte des Daseins unterschiedlich von einer normalen Geschichte, die von den vergangenen Geschehenen strukturiert wird. Als das geschehene Sein läuft die Geschichte des Daseins auf die Zukunft, während sich eine normale Geschichte auf die Vergangenheit richtet. Zukünftig geschieht das Sein des Daseins in dem zeitlichen Prozess des geworfenen Entwurfs. In dem Prozess der Zeitlichkeit entwirft das Dasein sich auf die Möglichkeit der Zukunft. In diesem Sinne ist die Geschichte des Daseins nicht eine Rekonstruktion der vergangenen Zeit, sondern sie enthüllt die Grundart der Existenz. Sorge selbst ist das Geschehen bzw. die eigene Geschichte des Daseins. Als das Grundphänomen offenbart die Sorge demnach die ˜lÞqeia, d. h. Unverborgenheit als die erschlossene Wahrheit des Seins des Daseins. Dieses Grundphänomen kann aber nur durch den Logos enthüllt werden, den Heidegger lügoò als ˜po—ansiò nennt. In der Daseinsanalytik wird lügoò als Rede interpretiert. Als Rede lässt der lügoò etwas sehen, d. h. —aßnesqai (vgl. SuZ 32): „Die Rede ,läßt sehen‘ ˜pÎ . . . von dem selbst her, wovon die Rede ist“ (SuZ 32), was primär die Aufzeigung in dem Sinne der Aussage (vgl. SuZ 154) bedeutet. Durch den lügoò als ˜po—ansiò bzw. die Rede als Aussage, zeigt sich das, was geredet ist. Wie redet denn das Dasein? Weil das Sein der Sorge als Geschehen bzw. Geschichte offenbart wird, muss das Sein als Geschehen behandelt bzw. geredet werden. Für das Dasein ist die Sorge seine eigene Geschichte. Eine Geschichte muss erzählt werden. Das heißt: Der lügoò als ˜po—ansiò für das Dasein ist die Erzählung für das geschehende Dasein. Durch Erzählung redet das Dasein existenzial, damit kann es überhaupt sein Sein als seiniges sich zeigen lassen und verstehen. Als seiniges kommt die

§ 40 Erzählung als Phänomenologie des Daseins

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Geschichte des Daseins durch Erzählung zur Erscheinung. Dies zeigt die Phänomenologie der Erzählung, durch die das Selbstverstehen des Daseins ermöglicht wird. Dieses Verhalten des Seinsverstehens des Daseins zeigt die Phänomenologie und Hermeneutik des Daseins in Bezug auf seine Ontologie. 2. Erzählung als Akt des Verstehens Wie erzählt das Dasein seine Geschichte? Durch den Akt des Sichentwerfens als Geworfenes erzählt es seine existenziale Geschichte als Seinige. Für das Dasein ist der Prozess der Zeitlichkeit selbst der Prozess des Verstehens, in dem es sich selbst verstehend existiert. Das, was von dem Dasein in diesem Prozess verstanden wird, ist sein Sein selbst als seine eigene Geschichte, nicht die vergangenen Geschehenen, die durch Erinnerungen rekonstruiert werden. Gleichermaßen zeigt der Prozess des Selbstverstehens den Prozess der Erzählung für das Dasein. In dem Prozess der Sorge bzw. des geworfenen Entwurfs kann das Dasein sich selbst verstehend sein Sein als seiniges zu sein haben. Diese Geschichte der Sorge lässt das Dasein sehen bzw. sich zeigen, durch sein aktives und freies Sichverstehen. Als Akt der Erzählung offenbart sich dieser Prozess des Selbstverstehens. Das Geschehen der Sorge, in dem das Dasein sich auf Seinsmöglichkeiten entwirft und auf sich zurückkommt, zeigt den Akt des Verstehens, d. h. das aktive Moment des lügoò ˜po—antiküò als Erzählung. Das Merkmal dieser Erzählung als Daseins Akt des Verstehens liegt darin, dass der Zuhörer dieser Erzählung der existenzialen und verstehenden Geschichte das Dasein selbst ist. Heidegger betrachtet das Verstehen des Seins als Hören. Wenn das Dasein sich ruft, hört es sich selbst. Damit wird der Prozess des Verstehens ermöglicht. Seine eigene Geschichte erzählt das Dasein für sich selbst. Durch das Hören seiner Geschichte versteht das Dasein sein Sein als seiniges. Jedoch bedeutet die Erzählung der existenzialen Geschichte des Daseins nicht den Prozess der Rekonstruktion der Erinnerungen. Worum sich das Dasein sorgt, ist nicht seine Vergangenheit bzw. seine Erinnerungen, sondern das gegenwärtige Geschehen selbst, das immer auf die Zukunft fortschreitet. In jedem Moment der Existenz konstituiert das Sich-Sorgen des Daseins seine Geschichte selbst. Diesen Prozess der Sorge selbst besagt die Erzählung der Geschichte des Daseins. „Das Dasein hat faktisch je seine ,Geschichte‘ und kann dergleichen haben, weil das Sein dieses Seienden durch Geschichtlichkeit konstituiert wird.“ (SuZ 382) Die Geschichte des je faktisch existierenden Daseins, die durch Geschichtlichkeit konstituiert wird, ist das Geschehen, das immer auf die Zukunft zuläuft. Da erzählt das Dasein seine eigene Geschichte, die zukünftig geschieht.

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Schluss: Sorge und Geschichte

3. Uneigentliche Einzelheiten des individuellen Daseins Nach Schmidt-Biggemann liegt die Besonderheit der Geschichte darin, dass es unmöglich ist, die Geschichte rational zu rekonstruieren.310 Individuell ist jede Geschichte wegen ihrer Unumkehrbarkeit. In diesem Punkt unterscheidet sich die Geschichte von der Rationalität. Weil alle Geschichten individuell sind, kann die Geschichte des jeweiligen Individuums nicht rational bestimmt werden. „Alle Geschichte kann nur erzählt werden.“ 311 Damit verlieren die Geschichten ihre Einzelheiten nicht. Als Prozess offenbart die Erzählung die Einzelheiten des jeweiligen Geschehens. Dass die Folge von Einzelheiten, die von dem Ereignis konstituiert wird, beschrieben wird, nennt Schmidt-Biggemann „Erzählen“.312 In der Jemeinigkeit besitzt das Dasein seinen formalen Sinn. Das heißt, Dasein als das Seiende, dem in seinem Sein selbst um sein Sein geht, hat je sein Sein als seiniges zu sein. Das Dasein stellt sein Sein als das Gefragte der Seinsfrage dar. Das Befragte der Seinsfrage ist das Dasein selbst. Auch den Sinn, auf den die Seinsfrage zielt, erfasst das Dasein in dem Prozess seines Seins als Zeitlichkeit. Als sein Sein hat das je Dasein seinen eigenen Prozess der Zeitlichkeit bzw. seine eigene Zeitigung. In diesem Sinne ist das Sein des jeweiligen Daseins je seiniges. Nur durch Erzählung kann sich die individuelle Zeitigung des Geschehens, d. h. sein eigenes Seinkönnen offenbaren. Was das Dasein existenzial erzählen muss, ist nicht eine Geschichte von Seienden in der Welt, sondern das Geschehen der Sorge als sein eigenes Sein. Durch Erzählung geht die Einzelheit des Daseins über die Ineffabilität des Individuums313 hinaus. Als Ereignis bekommt das Sein des jeweiligen Daseins als seiniges „seinen Namen“ 314 im Prozess der Erzählung. Geschichten sind Individuen, die nicht rational reduziert werden können, sondern in ihrer Besonderheit verstanden werden wollen. Als seiniges ist das Sein des je einzelnen Daseins nicht verloren inmitten der „gigantomaxßa perÍ t‰ò ožsßaò“ (SuZ 2), sondern sein Sein kommt als eigenes Sein zur Erscheinung. Damit versteht es sich selbst als seiniges mit allen seinen Einzelheiten der Existenz. Als Individuum konstituiert das Dasein in dem einzigartigen Prozess des Verstehens seines Seins als Erzählen seine eigene Zeit, d. h. die Zeitlichkeit als seinen Sinn. In diesem Prozess der Erzählung des Daseins von seiner eigenen Geschichte behält das Dasein die Einzelheiten seines jeweiligen Seins. Nicht an den Tod, sondern an das nächste Moment der Seinsmöglichkeit als seinen uneigentlichen Seinsmodus denkt das Dasein. In dem uneigentlichen Seinmodus enthüllen die 310 311 312 313 314

Vgl. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 361. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 362. Vgl. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 364. Vgl. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 361. Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, S. 364.

§ 40 Erzählung als Phänomenologie des Daseins

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Einzelheiten des alltäglichen Lebens in einem positiven Sinne des Seins. In jedem Moment der Zeitlichkeit konstruiert der Prozess den Sinn des Seins des Daseins. Die Existenzialität des Daseins liegt a priori in diesem uneigentlichen Seinsmodus. 4. Sorge-Geschichte-Erzählung Sorge ist der Name für das Geschehen, die Geschichte des Daseins. Als Grundphänomen bringt Sorge die Seinsart des Daseins zur Erscheinung. Durch die Phänomenologie des Daseins sollte die ˜lÞqeia, die Wahrheit des Daseins sich zeigen. Damit kann das Dasein sich selbst auslegen und verstehen. Dies bedeutet die Hermeneutik und die Ontologie des Daseins. Als Phänomen offenbart die Sorge die Grundart der Daseinsexistenz in der Struktur des geworfenen Entwurfs. Den Prozess dieser Offenbarung enthüllt der Logos als die Rede des Daseins. Was die Rede des Daseins zeigt, ist die Wahrheit, das existenziale Verstehen des Daseins. Weil das Dasein im Grunde und Wesen als Geschehen existiert, das heißt, durch seine Geschichtlichkeit charakterisiert wird, muss sein Sein als Geschehen bzw. Geschichte behandelt werden. Eine Geschichte muss und kann nur erzählt werden. Darin besteht der Grund, warum sich die Phänomenologie des Daseins als Erzählung seiner Geschichte enthüllt. Allerdings muss die existenziale Geschichte des Daseins als Sorge abweichend von normalen Geschichten begriffen werden. Auf die Zukunft richtet sich diese Geschichte in dem Prozess des geworfenen Entwurfs, während sich die normale Geschichte in der Vergangenheit gründet. Durch die Erzählung seiner Geschichte als Sorge erhält das Dasein seine Individualität und die Einzelheiten seines je Seins. Wenn das Dasein als In-die-Welt-geworfenes-Sein sich selbst sorgt bzw. auf Möglichkeit der Zukunft entwirft, sorgt sich das jeweilige Dasein um seine eigene Existenz bzw. die Einzelheiten des je Seins des individuellen Daseins. Im Prozess des Erzählens offenbart und rettet der Logos der Daseinsphänomenologie all diese Einzelheiten des jeweiligen Daseins, die im Wesentlichen in der Struktur der Sorge zur Erscheinung gebracht werden. Der Sinn der Sorge als Zeitlichkeit liegt daher nicht in dem Tode, d. h. der Endlichkeit des menschlichen Daseins, sondern in der Zeitlichkeit selbst als lebendiger Prozess. Der Prozess des Seins als Zeitlichkeit selbst ist der Sinn des Seins als Sorge. Dies ist eine positive und praktische Interpretation der endlichen Existenz des Daseins als Sorge, die das Existieren des Daseins nicht als rational reduziertes Subjekt versteckt, sondern als mein faktisches Sein selbst enthüllt. „Was ist überhaupt der Sinn des Lebens?“ 315 Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst. Die Entelechie des Daseins liegt in dem Prozess der Zeitlichkeit, in seinem Sein selbst als Sorge: „Werde, was du bist!“ (SuZ 145)

315

Kierkegaard, Entweder-Oder, S. 41.

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Sachwortverzeichnis \AlÞqeia 33, 100, 101, 103, 119, 123, 128, 129, 174, 177 Anfang 19, 21, 23, 24, 25, 55, 56, 57, 75, 76, 80, 90, 92, 93, 97, 98, 102, 105, 106, 132, 133, 134, 135, 136, 139, 140, 144, 146, 147, 149, 150, 152, 158, 159, 160, 169, 170 Angst 72, 75, 76, 77, 78, 79 Aporie 103 A priori 83, 173, 177 \ArxÌ 96, 106 Aufzeigung 122, 123, 174 Befindlichkeit 32, 33, 34, 35, 36, 38, 39, 40, 72 Beweglicher Zirkel 16 Bewegung 16, 17, 18, 19, 20, 22, 23, 40, 46, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 64, 65, 66, 71, 76, 81, 87, 89, 102, 103, 104, 106, 110, 113, 114, 132, 135, 136, 137, 152, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 163, 164, 165, 167, 170 Contradictio 20, 21, 24, 102, 104, 105, 107 Cura 75, 96, 107, 108, 109, 110, 111, 115, 117, 147, 148, 155, 174 Dasein 15, 16, 17, 18 ff. Daseinsanalytik 15, 18, 21, 22 ff. Daseinsontologie 107, 154 Daseinsverständnis 27, 28 Daseinsverstehen 23, 42, 107, 110 Destruktion 59, 63, 110, 111, 123, 124, 125 Different 24, 40, 103, 105 Differenz 104, 105

Eigentlichkeit 72, 74, 97, 173, 174 Einheit 17, 22, 24, 36, 40, 46, 52, 53, 54, 81, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 92, 94, 101, 103, 104, 105, 107, 134, 135, 136, 150, 152, 153, 169, 170 Einzelheiten 25, 74, 78, 131, 144, 151, 153, 154, 172, 173, 174, 176, 177 Einzigartige Seinsart 21, 28, 61 Ekstasen 22, 50, 51, 52, 53, 87, 88, 165, 169 \Ekstatikün 22, 50, 51, 52, 53, 55, 81, 86, 165, 169, 170 Ekstatisch 22, 24, 53, 55, 64, 69, 70, 71, 78, 81, 86, 87, 88, 89, 90, 92, 94, 114, 126, 136, 138, 143, 159, 160, 161, 162, 164, 169, 170, 172, 173 Ekstatisch-horizontal 88, 92 Ende 19, 21, 23, 24 ff. Endlichkeit 17, 19, 24, 43, 45, 46, 54, 55, 70, 71, 79, 80, 94, 95, 96, 98, 105, 107, 111, 113, 114, 134, 144, 167, 168, 171, 177 Entschlossenheit 45, 47, 50, 53, 54, 90, 112, 170 Entwurf 16, 18, 19, 20 ff. \EpÝkeina 91 Erscheinung 20, 21, 24, 25, 26, 46, 47, 50, 51, 54, 63, 74, 76, 84, 85, 88, 93, 104, 107, 118, 119, 120, 121, 124, 126, 128, 130, 133, 140, 144, 146, 147, 148, 151, 152, 155, 156, 157, 166, 172, 175, 176, 177 Erschlossenheit 28, 29, 31, 32, 33 ff. Erzählen 21, 25, 26, 30, 75, 76, 78, 93, 109, 110, 117, 128, 130, 131, 135, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 153, 154, 156, 158, 159, 160, 163, 176, 177 Existenzial 21, 22, 23, 24 ff.

Sachwortverzeichnis

185

Existenziell 42, 55, 71, 78, 115, 116, 169 Existenz 16, 19, 20, 21 ff.

Hermeneutik 25, 110, 111, 118, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 157, 165, 166, 175, 177

Faktizität 32, 33, 34, 43 ff. Finalität 152, 153 Frage nach dem Sinn von Sein 25, 29, 30, 31, 42, 123, 124, 131, 144, 146, 147, 148, 153, 156, 157 Freiheit 17, 19, 21, 22 ff. Fundamentalontologie 125, 136, 157 Furcht 79

Historizität 62 Homo 108, 109, 111, 115, 149 Homogenität 142 Horizont 66, 85, 86, 87, 88, 89, 93, 94 Ich 15, 16, 18, 78, 127, 137, 138, 142 Identität 96, 97, 104 Immanenz 82, 83

Gegenwärtigkeit 69, 114 Geschehen 17, 20, 21, 22 ff. Geschichte 25, 26, 29, 30 ff. Geschichtlichkeit 23, 25, 58, 59 ff. Gewesend-gegenwärtigend 19, 49, 50, 60, 61, 64, 68, 88, 144, 169 Gewesenheit 22, 23, 42, 48 ff. Gewissen 60, 74, 75, 76, 77, 80, 81, 168 Geworfener Entwurf 19, 36, 41, 42, 70, 71, 72, 73, 81, 96, 96, 111, 112, 113, 116, 117, 118, 124, 127, 146, 156, 159, 167, 168, 171, 172 Geworfenheit 16, 17, 19, 21 ff. Gigantomaxßa perÍ t‰ò ožsßaò 26, 29, 115, 155, 176 Gleichursprünglich 34, 36, 40, 112, 146 Gnostisch 109 Grund 19, 23, 56, 57 ff. Grundart 18, 19, 20, 21 ff. Grundbefindlichkeit 72, 76, 77 Grundphänomen 24, 25, 107, 108, 110, 118, 121, 128, 165, 166, 167, 174, 177 Grundsein 23, 24, 70, 73, 168 Grundstruktur 18, 20, 24, 32, 34, 35, 36, 37, 39, 40, 43, 52, 53, 54, 62, 81, 94, 98, 102, 115, 126, 134, 149, 152, 167 Grundverfassung 20, 28, 29, 31 ff. Handlung 25, 110, 113, 116, 121, 129, 131, 135, 136, 139, 140, 143, 144, 152, 157, 159, 160, 163, 164, 167, 168, 169

In-der-Welt-sein 17, 19, 21, 22 ff. Indetermination 101, 102 Indifferenz 173 Individualität 60, 74, 75, 78, 127, 131, 147, 153, 154, 171, 172, 177 Ineffabilität 20, 25, 154, 176 Jemeinigkeit 21, 63, 127, 173, 176 Jetztpunkt 64, 65, 66, 68, 158, 162 Komplementarität 99, 100, 101 Kontinuität 64, 66, 67, 68, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 140, 142, 143, 144 Konstruktion 111, 115, 118, 123, 124, 125, 128, 136, 139, 140, 143 Lebenspraxis 138, 139, 140, 141 Lineare Kontinuität 132, 133 Logik 17, 57, 100, 105 Logos 103, 111, 121, 123, 125, 128, 174, 177 Menschliches Dasein 133, 143 Metaphysik 15, 26, 29, 30 ff. Methode 25, 107, 109, 110, 111, 117, 118, 121, 123, 124, 125, 130, 140, 144, 163, 165, 166 Mythos 23, 107, 108, 109, 115, 148, 155

186

Sachwortverzeichnis

Narrativität 140 Nichtigkeit 17, 23, 55, 59, 60, 70, 71, 72, 73, 74, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 99, 101, 102, 105, 113, 167, 168, 169 Nichts 17, 77, 79, 80, 97, 98, 100, 102, 103, 105, 106, 133, 134, 144, 173 Nicht-sein 24, 72, 77, 102, 103, 105 Nichtseinkönnen 104 Objektivität 88, 89, 130, 162 Offenbarung 20, 41, 103, 118, 119, 121, 127, 128, 129, 133, 166, 177 Ontisch 27, 28, 30, 31, 42, 62, 74, 91, 151, 168 Ontische Auszeichnung 27, 30 Ontologie 15, 25, 59, 63, 107, 110, 111, 118, 123, 124, 125, 126, 128, 163, 165, 166, 175, 177 Ontologisch 25, 27, 31, 33 ff. Paradox 100, 101, 103, 106 Perfectio hominis 115, 116 Phänomen 20, 22, 47, 48 ff. Phänomenologie 20, 21, 23, 25 ff. Praxis 15, 16, 50, 98, 105, 139 Protention 66, 68, 69, 138 Prozess 17, 18, 19, 20 ff. Rationalität 130, 147, 153, 154, 176 Rede 31, 121, 122, 127, 128, 174, 177 Reduktion 111, 123, 124, 125, 130, 147, 172 Rekonstruktion 56, 57, 58, 64, 67, 128, 136, 140, 143, 156, 161, 162, 163, 174, 175 Retention 56, 57, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 138, 162 Schein 119, 120 Schuld 23, 70, 73, 74, 76, 78, 79, 80, 168 Seiendes 19, 21, 22, 27 ff. Seinigkeit 20, 75, 78, 131, 147, 171, 172 Seinkönnen 19, 32, 37, 38 ff. Seinsart 16, 18, 20, 28 ff.

Seinsfrage 21, 29, 30, 31, 33, 45, 61, 62, 100, 124, 131, 153, 156, 157, 176 Seinsmöglichkeit 22, 23, 24, 25 ff. Seinsproblematik 16, 21, 29, 30, 61, 100, 123, 149, 157 Seinsvergessenheit 29, 63, 124, 147, 148 Seinsweise 20, 40, 42, 43, 44, 47, 48, 54, 55, 58, 59, 60, 61, 64, 68, 70, 72, 73, 74, 81, 88, 102, 114, 133, 146, 157, 161 Sein-zum-Tode 22, 25, 41, 42, 56, 70, 73, 79, 96, 97, 100, 101, 105, 112, 113, 127, 135, 144, 159, 160, 161, 167, 168, 169, 171, 172, 173 Selbstauslegung 25, 108, 110, 115, 117, 118, 121, 123, 125, 126, 127, 165, 166 Selbstrufen 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 144, 168, 169 Schweigen 70, 77, 80 Sich entwerfen 19, 20, 21, 27 ff. Sinn 18, 24, 25, 26 ff. Soeben gewesen 66, 68 Sorge 16, 18, 20, 22 ff. Subjekt 15, 50, 74, 78, 82, 84, 85, 86, 88, 89, 92, 127, 137, 138, 139, 141, 142, 143, 154, 172, 177 Subjektivität 18, 29, 75, 84, 85, 91, 110, 131 TÝloò 25, 106, 113, 133, 144, 167 Theorie 15, 16, 102 Tod 16, 17, 19, 21 ff. Tradition 29, 62, 63, 82, 110, 124 Transzendent 83, 85, 88, 89 Transzendental 83, 84, 85, 127, 131, 162 Transzendentalphilosphie 83, 84 Transzendenz 19, 22, 24, 28, 29, 36, 50, 51, 53, 60, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 88, 89, 90, 91, 92, 94, 95, 98, 126, 127, 131, 169, 170, 171, 172 Übereinstimmung 17, 20, 21, 24, 102, 103, 105, 134 Uneigentlichkeit 74, 84 Unheimlich 77

Sachwortverzeichnis Unverborgenheit 33, 101, 122, 123, 128, 174 Verfassungsganzheit 87, 94, 130, 150 Vergangenheit 22, 23, 46, 47, 48, 55, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 114, 127, 131, 134, 136, 137, 138, 140, 142, 143, 145, 150, 152, 156, 158, 130, 161, 162, 163, 164, 174, 175, 177 Vergangenheitshorizont 64, 65, 66 Veritas transcendentalis 126, 127, 171 Verstehen 16, 21, 22, 25 ff. Vorlaufen-zum-Tode 42, 73, 112 Vorontologisch 25, 117, 118, 165 Vorweg 42, 43, 44, 45, 60, 67, 116 Wahrheit 17, 33, 84, 100, 101, 103, 106, 121, 122, 123, 126, 127, 128, 146, 171, 173, 174, 177

187

Welt 15, 16, 17, 19 ff. Weltgeschichte 131, 132, 133, 134 Werden 16, 17 Woraufhin 44, 45, 46, 54, 113, 121, 167 Zählen 130 Zeit 15, 23, 26, 47, 49, 50, 53, 54 ff. Zeitbewusstsein 58, 67, 68 Zeitigung 18, 43, 49, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 61, 64, 68, 87, 112, 114, 115, 135, 150, 152, 154, 157, 158, 176 Zeitlichkeit 16, 17, 18, 19 ff. Ziel 20, 45, 84, 96, 100, 113, 116, 121, 131, 134, 136, 144, 151, 152, 153, 159, 163, 164, 167, 169 Zukunft 22, 23, 39, 41 ff. Zukünftigkeit 42, 44, 47, 53, 59, 146 Zyklische Kontinuität 132