Die Sorge um die Theorie: Bildanschauungen und Blickoperationen mit Martin Heidegger und Michael Brötje 9783770560240, 3770560248


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German Pages [241] Year 2016

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Table of contents :
DIE SORGE UM DIE THEORIE Bildanschauungen und Blickoperationen mit Martin Heidegger und Michael Brötje
Inhalt
Einführung
I. Heidegger und Panofsky
II. Raffaels Sixtinische Madonna
III. Die Madonna della Sedia
IV. Die Giottos der Arenakapelle
V. Van Goghs Stuhl und die Bauernschuhe
VI. Caravaggios Enthauptung des Johannes
VII Chardins und Morandis Stilleben
VIII. Dürers Elisabeth Tucher
IX. Die Melencolia I
Anhang
Kurzer »praktischer Abriss« – Sehoperationen
Literatur
Abbildungsverzeichnis
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Die Sorge um die Theorie: Bildanschauungen und Blickoperationen mit Martin Heidegger und Michael Brötje
 9783770560240, 3770560248

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Jürgen Stöhr DIE SORGE UM DIE THEORIE

Jürgen Stöhr

DIE SORGE UM DIE THEORIE Bildanschauungen und Blickoperationen mit Martin Heidegger und Michael Brötje

Wilhelm Fink

Umschlagabbildung: Sixtinische Madonna, Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden (alte Rahmung und Hängung). SLUB, Deutsche Fotothek, Fotograf: Richard Petersen, 1964, Ausschnitt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2016 Wilhelm Fink, Paderborn Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-6024-0

  Inhalt        

Einführung  

 

 

 

 

 

7  

Die  Sorge  um  die  Theorie   I.

Heidegger und Panofsky

19

II.

Raffaels Sixtinische Madonna

29

III.

Die Madonna della Sedia

37

IV.

Die Giottos der Arenakapelle

62

V.

Van Goghs Stuhl und die Bauernschuhe

90

VI.

Caravaggios Enthauptung des Johannes

111

VII

Chardins und Morandis Stilleben

137

VIII.

Dürers Elisabeth Tucher

165

IX.

Die Melencolia I

179

Anhang   Kurzer »praktischer Abriss« – Sehoperationen.

  Literatur    

 

 

 

 

 

210

             219  

So bleibt es dabei, dass der Ausgangspunkt aller Bemühungen um das Wesen der Kunst die Erfahrung des Kunstwerkes sein muss, aber so, dass danach gefragt wird, was in ihr begegnet, ob also darin etwa »das Absolute« erfahren wird.“ (WEISCHEDEL 1952, 10)

„Die Sprecher der Existenz bewegen sich auf heroisierende Mythologie zu, auch wo sie es nicht bemerken.“ (ADORNO 1964, 108)

Ist die Kunst vielleicht ein Brautkleid, in dem es gar keine Braut gibt? „Entweder gibt es nur das Kleid, also nichts als Kunst, oder es gibt jenseits der Kunst etwas anderes, für das die Kunst selbst nur ein Kleid ist.“ (BELTING 1992, 90)

„Wir beschäftigen uns mit einer Theorie des künstlerischen Bildes. Diese ist kein Derivat einer überholten Einfühlungsromantik, auch keines der Wahrnehmungspsychologie. Auch setzt sie weder die wirkliche Existenz von Transzendenz noch den Glauben an diese voraus.“ „Unter Transzendierung wird hier [...] eine Verfasstheit des Werkes selbst, d.h. ein in der Anschauung unmittelbar eingelöstes Erscheinungs»geschehnis«“ verstanden. „Das Kunstwerk entwirft eine Ebene der visuellen Erfahrung“, die das „Dargestellte unwiderruflich übersteigt“. (BRÖTJE 2001, 141, 1990, 12

Einführung   1.   Eine  Vorsichtsmaßnahme Dieses Buch ist eine Bauchrednerei. Der Bauchredner manipuliere seine Stimme in einer Art, heißt es, dass sie von einer anderen Person, einer Puppe oder aus einer anderen Richtung zu kommen scheint. Er spricht Worte und Sätze mit einer fremden Stimme, ohne den Mund oder die Lippen zu bewegen. Tritt der Bauchredner dann nach einigem Üben auf, entstehen so in den meisten Fällen inszenierte Dialoge: Der Bauchredner führt ein Gespräch mit einer Figur oder Gestalt, die er meist mitbringt und die in der Folge häufig ein aufmüpfiges Eigenleben gewinnt. In dieser Konstellation kann der Bauchredner über seine Figuren fiktive Szenen und Diskussionen entstehen lassen und wieder aufführen. Diese Szenarien wären unter normalen Umständen auf den ersten Blick vielleicht seltsam ungewohnt – und im Ton und im Jargon würde man wahrscheinlich mit ihnen fremdeln. Die Gedankenwelt und die Sätze, die hier in diesem Buch nun „aus einer anderen Richtung“ kommen, kann man nicht (mehr) ohne weiteres, »eigentlich«, ausformulieren. Sie müssen aus dem Bauch kommen, weil sie ansonsten eben etwas unzeitgemäß erscheinen würden, oft leicht krude, zu exzentrisch und im hohen Maße eigenwillig, aber dennoch um so spannender! Es sind theoretische Positionen zur Kunst aus dem Text-Pool der deutschen Existential-Hermeneutik. Sie sind vielleicht verstaubt und ideologisch angeschlagen, aber sie können sich dennoch als äußerst wertvoll erweisen. Dazu muss man die Texte und die Akteure aber bauchrednern. Ihre mögliche oder unmögliche reale Anwesenheit wäre weder hilfreich noch zielführend, weil sich die Autoren aus heutiger Sicht eher selber im Wege stehen würden. Außerdem ist damit zu rechnen, dass ihre Texte im Korpus eines »modernen« Wissenschaftsbetriebs ohnehin nichts anderes als Bauchgefühle aus der »Tiefe« von Gemälden vermitteln würden. Die Vorurteile sind also vermutlich nicht so leicht abzuschütteln, so dass Vorsichtsmaßnahmen von Nöten sind. Aber die Vorbehaltlichkeit des Bauchredners schützt auch die Vertreter dieser existential-hermeneutischen Kunstwissenschaft selbst davor, hier allzu verfälscht wiedergegeben zu werden. Ihre eigentlichen Texte bleiben insofern ein wenig unberührt als sie

„...  geduldige  Ver-­‐ suche,  alles  zu     sehen“       „Es  ist  ein  typi-­‐ scher  Effekt  von   extremem  close   reading,  dass  es   außerhalb  der   normalen  Inter-­‐ pretationsberei-­‐ che  liegt  und  in   allgemeineren   Darstellungen   übersprungen   wird.“   (ELKINS,  in  ähnli-­‐ chem  Kontext,   2007,  115f.)       »total-­‐hermeneu-­‐   tisch«,  das  Ziel,  voll-­‐ kommen  zu  ver-­‐   stehen  bleibt  zwar     uneingelöst,  aber  es     geht  darum,  soweit     wie  möglich  zu     kommen...        

eben in einer Aufführung vorgeführt werden. Sie sprechen zwar selbst, aber in der inszenierten Regie eines anderen, der sie neu anordnet und darüber hinaus auch noch kürzt, mischt oder in neue Zusammenhänge »verpflanzt«. Einerseits hätte also alles auch so gesagt werden können, oder ist auch so gesagt worden, was hier zitiert und collagiert wurde. Aber andererseits ist es den betreffenden Protagonisten, den Philosophen und Kunstwissenschaftlern, doch im hier nun vorliegenden Textes in den Mund gelegt worden. Insbesondere gilt dies für ein Textkonvolut (ab 1969), das im ersten Moment vielleicht schwer zurückzuholen ist in das Spektrum »veritabler« oder verhandelbarer Bildtheorien. Aber dies kann auch täuschen. Die Rede ist von den kunstwissenschaftlichen Schriften von Michael Brötje (1938-2013). Brötje war der Autor einiger der eigenwilligsten Untersuchungen, die einem kunstwissenschaftlich interessierten Publikum überhaupt begegnen können. Und ihr Verfasser hatte selbst schon zu Protokoll gegeben, in den „langen Jahrzehnten der völligen wissenschaftlichen Isolation in Deutschland“ immerzu gemieden worden zu sein. Es war genau diese disziplinäre Quarantäne, die verhindert hat, dass die Texte würdigend rezipiert worden sind. Genauer betrachtet, handelt es sich dabei um Schätze – antiquarisch und visionär zugleich. Man darf in Brötje sicherlich ohne jede Böswilligkeit ein »wunderbares« Fossil erkennen. Der Autor war eine aus der Zeit gefallene Ausnahmeerscheinung. Eigentlich gehört er mit einem Bein in die »dunklen« 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Permanent geht es in seinen genial akribischen, manchmal etwas (w)irren Bildanalysen, um ein Klima der »Transzendenz« und um das, was in den besagten 50er Jahren zum Beispiel unergründliche »Tiefe« und »Metaphysik« des Bildes hieß. Aber auf der anderen Seite ist sein phänomenologisches Detailsehen vielen zeitgeistigen Tendenzen in der heutigen Kunstwissenschaft weit überlegen. Brötjes Schriften erscheinen also als die glückliche Entdeckung einer vergessen geglaubten Spezies. Mit ihnen liegt ein verblüffend umfangreiches Konvolut auf dem Tisch, das der Autor einer weitgehend ignoranten Öffentlichkeit hinterlassen hat. In einer fast 40-jährigen Forschungstätigkeit hatte Brötje »im stillen Kämmerchen« vier Bücher und noch zahlreiche Aufsätze verfasst, die bisher weitgehend unbeachtet geblieben sind. Lediglich im polnischen Poznan, am Instytut Historii Sztuki, stieß er auf Gegenliebe.

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So liegt eigentlich alles ausgebreitet da, doch mit dem Beigeschmack eines abgelaufenen Verfallsdatums und mit dem Stigma der Kunst-Religiosität abgestempelt. Das Establishment zierte sich einfach. Daher mag es zunächst scheinbar kontra-intuitiv erscheinen, ausgerechnet diese Schriften wiederzulesen. Es lohnt sich aber! Befasst man sich nämlich mit den Schriften Brötjes, findet man zum einen eine bemerkenswerte und bisher ungenutzte »Schule des Sehens« vor. Zum anderen hat man den Eindruck, ihr Verfasser ziehe die »Wurzel« aus einer ungelösten Gleichung, die die Kunstphilosophie und -wissenschaft der 30er und 50er Jahre ihrer Disziplin als ungewolltes Erbe hinterlassen hatte. Die unkomfortable oder unbefriedigende Situation lag dabei darin begründet, dass in Deutschland zwei gleichermaßen ontologisch ausgerichtete »Kunsttheorien« nicht wirklich zueinander fanden. Da war auf der einen Seite Heideggers Ereignisdenken und seine folgenreiche Hinwendung auf die Seinsfragen. Für die Rolle der Kunst war dabei bekanntlich vorgesehen, dass sie von sich aus ereignishaft, Ich-bezogen und amethodisch die „Wahrheit des Seins“ „ins Werk setzt“. Wie und was genau dies bedeuten sollte, füllt bis heute Bibliotheken. Auf der anderen (gleichen) Seite fanden sich vielseitige Aufbrüche im Methodendenken der deutschen Kunstwissenschaft mit Hans Sedlmayr, Martin Gosebruch, Werner Hager, Hans Jantzen, Theodor Hetzer, Kurt Badt und Kurt Bauch, etwas später mit Günther Fiensch und Max Imdahl. Deren Gemeinsamkeit bestand darin, dass sie sich „den »Luxus« deutender Bemühungen um das Kunstwerk leisten“. (GOSEBRUCH 1957, 40) Gosebruch fasste diese Fraktion damals im weitern Sinne als „strukturanalytisch“ zusammen. (EBD., 49)

     

„Wie  weit  reicht  die  Kunst  [...]  ins  Innere  der   Welt?“   (BADT  1956,  9)       „Es  mag  den  Kundigen  befremde[n  ...],  dass     unter  denen,  die  die  Kunst  »metaphysisch«     betrachten,  auch  Heidegger  erwähnt  wurde,   bei  dem  doch  von  Veröffentlichung  zu  Veröf-­‐ fentlichung  deutlicher  wird,  wie  schroff  er  sein   »Denken«  von  aller  metaphysischen  Bemü-­‐ hung  absetzt.“  Doch  „zeigt  sich  ein  Überein-­‐ stimmendes.  [...]  Für  beide  ist  jedoch  das  Sein,   in  einem  formalen  Sinne  verstanden,  das,  was   nicht  in  der  nächst  gegebenen  Wirklichkeit   aufgeht  und  das  doch  –  in  einer  je  verschieden   gedeuteten  Weise  –  in  dieser  »anwesend«  ist   und  sie  gründet.  Eben  das  umreißt  in  einer   vorläufigen  Kennzeichnung  jenes  »Metaphysi-­‐ sche«,  nach  dem  in  der  Besinnung  auf  das  We-­‐ sen  der  Kunst  gesucht  wird.“       „Die  Frage  ist  zunächst,  ob  überhaupt  in  der   Erfahrung  des  Kunstwerks  etwas  dergleichen   begegnet.“     (WEISCHEDEL  1952,  11)    

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Eine praktische und tragfähige gemeinsame Basis fanden diese beiden ähnlich gelagerten Konzepte aber eben nicht wirklich. Der Grund war dabei folgender: Während die »Ereignisdenker« über ihre konkrete Kunsterfahrung weitgehend schwiegen, aber nicht aufhörten dem Werk dabei eine überbietende Erkenntnisfunktion und Wahrheit einzuräumen, setzten die »Bild-Seher« auf einen „ästhetischen Betrachter“. (EBD., 51) Sie kamen dabei der Gemachtheit des Werkes und der ästhetischen Erfahrung auf die Spur. Allerdings stellte sich zunehmend auch die eher bange Frage, ob denn auch „noch Transcendenz aus strukturalistischen Begriffen gewonnen werden wird“ (EBD., 49). Was Gosebruch hier „strukturanalytisch“ nennt, hat nichts mit dem Strukturalismus zu tun. Eher handelt es sich um einen frühen Hilfsbegriff, der die werkimmanent operierenden Positionen sammeln sollte. Man ahnte schnell, dass diesen „strukturanalytischen“ Ansätzen zunehmend „die Dimension der Transcendenz“ abhanden kommen musste. (HAGER 1955, zitiert EBD., 51) Das unmittelbar ereignishafte und in „seelischer Einstimmung“ Erlebte, zerlegte sich zusehends in kristalline Analysesätze und klang bestenfalls bekenntnishaft noch in akademischen Protokollsätzen an. Aus dem Kunsterlebnis wurde eine abgekühlte und verwissenschaftlichte ästhetische Erfahrung. Die „Wissenschaft der Kunst“ verliere so „die Spannung zu ihren Objekten; sie ist ohne Transcendenz“, klagte man schließlich. (GOSEBRUCH 1978, 164) Daher stammen auch die immer wieder gesuchten Anschmiegungen der »metaphysischen« Kunstwissenschaft an Martin Heidegger: „nicht wegen des Pathos der Existenz, ist hier Heidegger zu nennen“, sondern, weil sein Denken „nicht mehr materiell feste [Bild-]Punkte und die Linien dazwischen [kennt], sondern je im »Wurf« sich Erfüllendes“. Denn Kunst sei „wesentlich im Einen des Wurfs zu erfassen, nicht im Nacheinander von »geistiger« und »ästhetischer« Schicht.“ (DERS., 1954, 39) „Vor  Jahren  hatten  wir  selber  geglaubt,  mit  Heidegger  den  Abschluss  der  kritischen   Auseinandersetzung  mit  der  Ikonografie  finden  zu  können...“     Aber   dann   schon   resignierender:   „Was   aber   nutzt   Heideggers   Rede   von   Kunst   als   Ins-­‐Werksetzung   der   Wahrheit,   wenn   er   vor   van   Goghs   Schuhen   sentimental   wird,   worin   unterschiedet   sich   Gadamer,   der   an   den   Abstrakten   das   Verstummen   des   Bildes  preist,  von  irgendeinem  Feuilletonredakteur?“     (GOSEBRUCH  1969,  124/1978,  164)  

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Das war ungefähr die Lage der Dinge, bis man schließlich das ganze Hintergrundrauschen der Existentialphilosophie und der Kunstmetaphysik wie das Kind mit dem Bade ausschüttete und entmythologisierte. Danach hütete sich die Kunstwissenschaft davor, noch einmal mit einer Wahrheitsästhetik zu »überziehen«. Der in disziplinärer Quarantäne verschollene und hier wieder freigesetzte fleißige »Ungeist« Michael Brötje hatte aber – zurück in die Zukunft – keine Probleme mit alten, aber klaren Formeln und Ansagen, denen man ein „Raunen“ noch anhört: …   dass   das   Kunstwerk   „zu   einer   ganz   neuen,   seelischen   Verge-­‐ wisserung  einer  Wahrheit  des  Seienden  ermächtigt“.     (BRÖTJE  2001,  23)    

Erlebbar werden und ereignen soll sich dies in einem intuitiven Erschließen der Sinnautonomie und „Direktverbindlichkeit“ des Bildes. Man kann Brötje nur mit gewissen Bauchschmerzen zur Lektüre weiterempfehlen. Und es geht auch nicht darum, wieder »gläubig« zu werden. Man muss nicht zuerst an den Glauben glauben, wie es Martin Heidegger als Voraussetzung aller „theologischen Erkenntnis“ herausgestellt hatte. (1927a, 21-27) Sondern es geht vielmehr darum zu beobachten, was mit den Bildern und mir passiert, wenn man sie über diese Umwege und Flashbacks neu betrachtet. In der Latenzzeit der Isolation ist nämlich mit Brötje unbemerkt etwas amalgiert: Eine existentialhermeneutische, metaphysische Grundhaltung ist mit einer kühn weiterentwickelten Praxis einer manchmal großartig exzessiven Bildanschauung in Kontakt gekommen. Dieser Position wird hier eine verstellte Stimme gegeben – mit vielen Auslassungen, Verzerrungen und Sprüngen. Über die Bauchrednerei werden die Kunstwerke auf diese Weise umkreist. In einem anderen Zusammenhang hatte dies schon Kurt Badt in den 50er Jahren ähnlich vorgeschlagen als er schrieb, dass das „Fragen nach dem Wesen der Kunst [...] sich auf dem Umwege der Umkreisung zu vollziehen“ habe, „da weder vom Künstler noch vom Können der Kunst noch von dem Werke der Ausgangspunkt genommen“ werden kann. „Eingedenk dieser Tatsache ist das vorliegende Buch nicht in fortlaufender Folge angelegt...“ (BADT 1956, 9) Was bei diesem Umkreisen genau passieren würde, war dem Bauchredner nicht vorhersehbar. Aber die Bilder werden nicht ganz die gleichen bleiben. Mit der von fremden Stimmen gesteuerten Anschauung werden sie sich für die Lesenden verwandeln.

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Aber wieso sollte man einen solchen Diskurs und Dialog, eine solche Redeweise über Kunst, überhaupt nachsprechen und nachspielen? Das hat einen einfachen Grund: Innerhalb der Texte – und damit vielleicht innerhalb der Werke – also innerhalb der hier behandelten Schriften, die das Eigentliche der Kunstwerke umkreisen oder treffen wollen, gibt es so provozierende Signifikanten wie »transzendieren«, »Evident-Sein« und – etwas bürokratischer formuliert: »das Referentielle«. Man sollte diese Bezeichnungen nicht einfach nur disqualifizieren, sondern man sollte in sie hineinhorchen und fragen, was sie umhüllen und was noch in und hinter ihnen steckt und wie und worauf sie noch verweisen. Wo ist ihr »Inhalt« oder was ist die Referenz der Referenz? Der Philosoph und Heidegger Schüler Georg Picht hatte das Ganze so auf den Punkt gebracht als er großartig formulierte, man könne „ein Zeichen nicht mehr verstehen, wenn man die Möglichkeit dessen leugnet, was es bezeichnet.“ Und er hatte hinzugefügt, dass „Chiffren“ oder Worte wie »die Transzendenz«, »die Ewigkeit«, »das Absolute« uns heute, zu Recht oder zu Unrecht, als bloßer Schein [gelten].“ Und dabei hatte er offen gelassen, „ob das nun daran liegt, dass sie nichts als Schein sind, oder daran, dass wir das, was in diesem Schein zur Erscheinung kam, nicht mehr begreifen...“ (PICHT 1973, 239) Aber diese frommen Signifikanten bezeichnen eben Erlebnisse der »Überschreitung«... oder die Möglichkeit eines »Übergreifenden«. Sie formulieren verschiedene Level von Differenzen von Immanenz und Transzendenz . Sie haben Kopfschmerzen und Ekstasen erzeugt; sie waren für Halluzinationen und Zusammenbrüche verantwortlich. Und „deshalb könnte das Wort »REFERENT«“, so hatte es Jacques Derrida noch formuliert, „störend sein, wenn der Kontext es nicht neu formieren würde“ (1981a, 13) Definieren also die hier zu betrachtenden Texte und Bilder erst, was Begriffe wie »die Transzendenz«, »die Ewigkeit«, »das Absolute« und »das Referentielle« bezeichnen? Dann müsste nur versucht werden...    

„...   das   innere   und   geregelte   Spiel   dieser   Philosopheme   und   Episteme   so   streng   wie   möglich  zu  respektieren,  indem  ich  sie  dahingleiten  lasse,  ohne  sie  bis  zu  ihrer  Unerheb-­‐ lichkeit,   ihrer   Erschöpfung   und   ihrem   Ende   zu   misshandeln.   [...]   »dekonstruieren«   be-­‐ stünde   demnach   darin,   die   strukturierte   Genealogie   ihrer   Begriffe   zwar   in   der   getreust   möglichen  Weise  und  von  einem  ganz  Inneren  her  zu  denken,  aber  gleichzeitig  von  einem   gewissen,   für   sie   selbst   unbestimmbaren,   nicht   benennbaren   Draußen   her   festzulegen,   was  [sich]  verbergen  oder  verbieten  konnte...“     (DERRIDA  1972,  38)  

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Für alle, die sich auf »die Dekonstruktion« immer noch nicht so recht einlassen wollen – oder schon nicht mehr –, kann man Derrida auch anwendungsfreundlicher umformulieren. Rein technisch gesprochen handelt es sich im vorliegenden Buch um zwei Operationen, die ineinander verwoben sind: In der ersten geht es um die Rekonstruktion von existential-hermeneutischen Theorietraditionen und Denkbewegungen in ihrer Eigenlogik. In der zweiten Operation geht es dann darum, sich von diesen Traditionen auch wieder zu lösen, um in den so »entkleideten« Schwundformen dieser Konstruktionen systematischer nach deren Operationen und der Anschauungslogik zu fragen.

2.   Rahmungen  und  Unterbrechungen   Neben dem, was hier mit der Metapher der Bauchrednerei bezeichnet wird, gibt es noch eine zweite Maßnahme, um die verhandelten fremden Schriften auf Nahdistanz zu halten. Dazu wird im folgenden Text dieses Buches nach und nach eine kleine fiktive Geschichte erzählt. Das Buch beginnt mit dem Anfang dieser Geschichte. Sie ist durch Kursivsetzung abgehoben vom übrigen Text, rahmt und unterbricht dann und wann den Fließtext. Gleichzeitig sind diese Episoden aber auch mit dem Haupttext verzahnt. Die Unterbrechungen hinein ins Fiktive und Dramatische geschehen nicht willkürlich, sondern sie setzen etwa immer dann ein, wenn der kunstwissenschaftliche Diskurs ins Stocken gerät oder nicht mehr weiterweiß, oder aber wenn er durch die erzählte Geschichte erläutert werden kann. Die geschilderte Story ist nicht erfunden, sondern im Ganzen nur geborgt. Sie wird nur in einer Abwandlung nacherzählt. Es handelt sich um Honoré de Balzacs berühmte Novelle: Das unbekannte Meisterwerk (1831). Diese Geschichte wird hier, wie gesagt, nacherzählt. Allerdings wurden die Protagonisten ausgetauscht. In dem berühmten Text geht es bekanntlich darum: Ein junger Maler ist im Dezember 1612 auf dem Weg zu einem Meister, der im Text Porbus heißt. Er will sich bei diesem vorstellen, um dann von ihm zu lernen. In einem Treppenhaus trifft er dabei auf einen alten Herrn, dem er sich anschließen kann und als dessen Begleiter er besagten Porbus aufsucht. Im Gespräch und da-

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rüber hinaus erweist sich dieser Alte, Frenhofer sein Name, als meisterlicher und maßlos fanatischer Maler, der nahe am Abgrund vollkommen obsessiv und seit Jahren dabei ist, das absolute Kunstwerk zu erschaffen. Dieses Bild soll sich selbst »transzendieren« können, indem auf der Leinwand eine begehrte Frau in all ihrer Schönheit und Lebendigkeit wiedererweckt worden sei. Ganz am Ende der Geschichte dürfen der junge Mann und Porbus bekanntlich Frenhofers fetischisiertes Gemälde ansehen. Was sie erwartet, ist ein Meisterwerk, „in dem man fast nichts sieht, auf das man aber die Idee des Absoluten übertragt.“ (BELTING 1992, 90) Künstler haben sich mit der Erzählung identifiziert und Kunsthistoriker haben sie immer wieder gedeutet. Letztere fassten sie meist als (romantische) kunsttheoretische Novelle über die Beseelung der Malerei und einen mächtigen Mythos der Kunst auf. Hier nun aber wird, wie schon angedeutet, das Personal gezielt ausgetauscht, während die Geschichte im Grunde die gleiche bleibt. Aus dem genial-besessenen Malergreis Frenhofer wird ein eigensinniger alter Kunstwissenschaftler. Aus Meister Porbus wird hilfsweise ein deutscher Philosoph und der neugierige Schüler wird nolens volens vom Verfasser gespielt. Alles weitere wird sich zeigen. Dabei ist das Ganze kein Kasperle-Theater. Es wird davon ausgegangen, dass nicht nur ein Maler »besessen« sein kann von der „Gabe“ des Bildes und von der „Beinahe-Halluzination“ einer „leibhaftigen Malerei“ (DIDI-HUBERMAN 1985, 63) Auch ein Kunstwissenschaftler könnte zuweilen zum Obsessiven tendieren. In dieser Leidenschaft ginge es weniger um eine erträumte Verlebendigung und Überschreitung der Repräsentation in Präsenz. Sein Begehren läge darin, das Bild als Medium in ein »Transzendentes« zu begreifen – ein erträumtes „Referentielles“ (DERRIDA 1981a, 39), eine Art »Berührung« mit dem »Jenseits« des Bildes. Man muss Balzacs Novelle nur entsprechend ein wenig umformen. Was dann zwischen den Zeilen sichtbar wird, ist ein unberechenbarer REST, der sich jeder analytischen Kritik entzieht, der aber gleichwohl »da ist«. Dieser Rest war schon Roland Barthes aufgefallen als er am Ende einer Reihe von aufklärenden „Entmythologisierungen“ etwas unverhofft von einer auffälligen „Aporie“ und von „Amputation“ sprach. Der bemühte Analytiker – in Barthes Worten: der „Mythologe“ – stecke nämlich in einem unauflösbaren „Dilemma“. Bildlich gesprochen: Der „Mythologe“ sei nämlich dazu verurteilt, sich bei all seinem Bemühen um Einsicht stets nur mit so etwas wie „der Güte eines Weins“ aus-

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einander setzen zu müssen, er könne sich aber nie „mit dem Wein selbst“ befassen (BARTHES 1957, 150) – man könnte auch sagen: nie mit dem Wesen des Weins. Dabei bestand schon für den großen Semiotiker Roland Barthes die entscheidende Einsicht in Folgendem: Dieses transzendente „letztlich undurchdringliche, nicht reduzierbare“ Wesentliche, diesen unanalysierbaren REST – für Brötje gab es diesen REST natürlich auch – diesen besten REST könne man überhaupt nur auf „poetisierende“ Weise erreichen. „In einem Wort“, schrieb er damals, „ich sehe noch keine Synthese von Ideologie[Kritik] und Poesie“. „Ich verstehe unter Poesie“, fügte er abschließend hinzu, „auf eine sehr allgemeine Weise die Suche nach dem nicht entfremdeten Sinn der Dinge.“ (EBD., 151) Wenn man so will, sucht dieses Buch auch nach einem Niemandsland oder einem unerklärlichen Rest-»Sinn« der Kunstwerke und darüber hinaus nach einer Schreibweise, die dem näher zu kommen versucht. Die Kenner/Innen wissen außerdem, dass Roland Barthes selbst Jahre später einen Ausweg aus diesem Dilemma vorzuführen beabsichtigt hatte. In S/Z sprach er von einer mitproduzierenden, schreibenden Lektüre: „Denn das Schritt für Schritt“-Mitproduzieren umgehe „gerade durch seine Langsamkeit und seine Zerstreuung das Eindringen in den Bezugstext“ oder das Bezugswerk. Das Schritt für Schritt „vermeidet es“, diese Texte und Kunstwerke „umzukehren“ und nur analytisch anzueignen. Stattdessen gäbe es „immer nur Dekomposition der Lektüre-Arbeit: eine Zeitlupe, wenn man so will, weder ganz Bild noch ganz Analyse...“ (BARTHES 1970a, 17) Darum geht es auch hier. Noch ein Hinweis vorab: Übrigens kommt auch der „alte Pan“, Erwin Panofsky, gleich zu Anfang in einer kleinen Nebenrolle in der imitierten Novelle vor. Er erscheint so, wie ihn auch schon damals ein Teil seiner Deutschen Kollegen gesehen hatten: Gemeinsam standen diese Kunsthistoriker mit Heidegger im Rücken in kritischer methodologischer Distanz zu den ehemaligen Hamburgern: dem Ikonografen Panofsky und Warburg, dem „Historiker symbolischer Bildinhalte“. (GOSEBRUCH 1969, 130) Diese Hamburger würden, so sahen es die süddeutschen Kollegen, vom anderen „Ufer“ aus „auf denselben Strom“ blicken. (DERS., 1978, 163) Dass Panofsky vom falschen Gegenufer aus die Kunst untersuchte, verstand sich daraus, dass dieser „offenbar [...] nicht mehr ahnte, was am Kunstwerk die unvergleichliche Kostbarkeit ausmacht: die Einheit von Form und Bedeutung in meinem Mal hervorzubringen“. Panofsky habe sich stattdessen „daran gewöhnt, Kunstwerke als Zeichen für vorgegebenen Sinn zu nehmen, und sie damit um ihr Wesen zu brin-

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gen [, denn] dann ist van Eyck um das Wunder seiner Malerei gebracht.“ (EBD., 162) – Aber auch Panofsky lag wohl seinerseits vieles auf der Zunge, was hier nicht zum Thema gehört und nicht verhandelt werden kann. Es würde die Untertöne des hier Gesagten betreffen. Wer will, kann seine Stimme aber noch hören. „Was  aber  Heidegger  betrifft  [...]  so  ist  das  [...]  »ein  zu  weites  Feld«.     Nur   das   Eine   möchte   ich   sagen   dürfen:   Es   ist   nicht   die   Tatsache   seiner   Rektoratsüber-­‐ nahme,   sondern   der   tatsächliche   Inhalt   seiner   Rede1  (und   manches   andere),   das   ich   ihm   nicht  verzeihen  kann.“     (PANOFSKY  1958,  268,  26.  April)   Dann  aber:   „Und   wenn   Herr   Heidegger   von   Vöge   [Panofskys   verehrter   Lehrer]   so   begeistert   war,   wie   Sie  schreiben,  soll  ihm  anderes  verziehen  sein.“     (EBD.,  270/Brief  an  Kurt  Bauch:  5.  Mai  1958)  

Der Aufbau des vorliegenden Textes ist unkompliziert: Vom Ablauf her gesehen beginnen die hier ausgebreiteten Untersuchungen zunächst recht abrupt, etwas erzählerisch und »methodisch« bei einem kleinen Streit zwischen Martin Heidegger und Erwin Panofsky. Sie werden dann philosophischer, weil es zur geistesgeschichtlichen Kontextualisierung notwendig ist, ganz kurz doch noch einmal etwas zu »heideggern«2. Die Beobachtungen werden dann aber zunehmend immer phänomenologischer und Bild fixierter bis sich alles auf die Frage zuspitzt: »Können Sie etwas erkennen?« Mit dieser Frage am Ende des Buches verbindet sich der Anschauungs-Exzess und vermutlich das produktive »Scheitern« des Autors Michael Brötje – und das letztendliche Scheitern jeder Brötje-Lektüre. Zuletzt nämlich – wenn es abschließend um den Nachvollzug seiner Deutung der Melencolia I von Dürer geht – zuletzt werden die Darstellungen Brötjes dann doch zunehmend immer »anspruchsvoller« und unnachvollziehbarer. „In der Stimme des Rezitators“ (und Bauchredners) schrieb Roland Barthes, „vereinen sich [dann] in der Tat: übertriebene Deklamation, Tremolo, ein schriller [...] Ton, Erschöpfung, Tränen, Anfälle von Wut, von Klagen, von Flehen, unerträgliches Pathos...“ (1970b, 70)

1  Am  27.  Mai  1933  an  der  Universität  Freiburg.  

2  Wenn  dabei  hier  und  da  auch  einmal  der  Kunstwerkaufsatz  von  Heidegger  wiedergele-­‐

sen  wird,  dann  betrachte  ich  ihn  als  einen  in  sich  geschlossenen  Text  so  wie  er  ist,  quasi   selbst   als   »Werk«   –   und   zwar   ganz   unabhängig   von   nachträglichen   Anmerkungen   oder   philosophischen   Kontroversen   oder   seiner   Rezeptionsgeschichte.   Auch   geht   es   nie   um   einen  „urbanisierten  Heideggerianismus“  (M.  Frank).  

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Man kann dem, was der Meisterseher zu erkennen glaubte, einfach nicht mehr ganz folgen. Dieses Unnachvollziehbar-Werden ist aber als Vorgang selbst so aufschlussreich, dass es hier nicht einfach weggelassen werden kann. Es gehört zu einer abenteuerlichen Bildbetrachtung und einer gewagten und experimentellen Anschauungsleistung dazu. Dabei wirkt das überfordernde Übermaß an »Anschauungserkenntnis« auch wieder befreiend: Man kann miterleben, wie eine existential-hermeneutische Bildtheorie, die sowohl auf unmittelbare Evidenz wie auch auf absolute Kontrollier- und Protokollierbarkeit der Sehvollzüge setzt, etwas aus dem Ruder läuft, sich verselbständigt und das ganze Gegenteil ihrer Ausgangsbedingungen mithervorbringt: Bei völlig konsequenter, absoluter, Durchführung der »Methode« gelangt man plötzlich unweigerlich auf die »andere Seite der Medaille«: die totale Auflösung von Sinn im Exzessiven. Was dann alleine noch bleibt, sind die exorbitanten Seh-Operationen selbst! Im Anhang schließlich findet sich somit ein praktischer Abriss, der ein Spektrum von Sehoperationen auflistet, das im Laufe des Buches eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Darüber hinaus lassen sich diese »Anschauungsanweisungen vom Bilde her« auf viele andere Werke übertragen, ohne dass damit einmal mehr eine »To do-Liste« im Sinne einer »Einführung in die Bildanalyse« verabreicht werden soll. Stattdessen zeigt die Zusammenstellung vielmehr – nun ganz pragmatisch und unabhängig von vielleicht strittigen ideologischen Deutungsmustern – den Grad der Eigenständigkeit und der fast vergessenen Innovativität des bildtheoretischen Denkens von Michael Brötje. Des Öfteren schieben sich zudem noch seitlich und in abgesetzter Typografie gehaltene Textbausteine in den Fließtext ein. Viele dieser Einschübe erläutern mit Originalzitaten den Haupttext. Man kann sie mitlesen oder auslassen. Einige unterbrechen die Untersuchungen aber auch durch markante und wichtig Statements, die für den Fortgang unverzichtbar sind. P.S.: Man darf bei all dem nicht vergessen: Letztlich bleiben die Bauchrednerei, die fiktiven Szenen und die Unterbrechungen des Fließtextes am Ende Mittel der Darstellung. Denn letzten Endes manipuliert der Bauchredner die Rede der Anderen, die im Verborgenen doch seine eigene ist. Wer daher mehr oder ursprünglicheres hören will, dem seien die unverzichtbaren Originaltexte in den Schoß und ans Herz gelegt. Mein Dank gilt einer weiteren Stimme im Hintergrund: Frau Dr. Andrea Wandschneider, die mir einige sehr aufschlussreiche handschriftliche Notizen von Michael Brötje zur Verfügung stellte.

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Alles  bleibt  „dis-­‐ kontinuierlich,   codiert  und  einer   Ironie  unterwor-­‐ fen,  sofern  man   diesem  Ausdruck   alles  Ätzende   nimmt.“     (BARTHES  1970b,   71)  

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I.     Die Geschichte vom Besuch bei einem einsamen Kunsthistoriker beginnt zunächst vor einer Hütte: Gegen Ende des Jahres, an einem kalten Dezembermorgen, ging ein junger Mann, dessen Kleidung recht dürftig aussah, vor der Türe einer bei Todtnauberg im Schwarzwald gelegenen Hütte auf und ab.3 Nachdem er ziemlich lange mit der Unentschlossenheit eines Liebhabers, der seiner ersten Geliebten nicht unter die Augen zu treten wagte, auf dem Weg unschlüssig hin und her gelaufen war, schritt er schließlich die Schwelle jener Tür und fragte, ob Meister Heidegger da sei. Auf die bejahende Antwort hin, die ihm eine alte Bäuerin erteilte, stieg der junge Man langsam eine kleine Treppe empor, hielt aber – wie ein Abb.:  Martin  Heidegger  (1889-­‐1976)   frischgebackener Höfling, der über den Empfang beunruhigt ist, den ihm der König bereiten wird – auf jeder Stufe kurz inne. Als er endlich oben angelangt war, verweilte er einen Augenblick auf dem Treppenabsatz, unsicher, ob er den kargen Türklopfer ergreifen sollte, der die Tür des Raumes schmückte, in dem zweifellos der Autor vom ‚Ursprung des Kunstwerks’ an seinem Schreibtisch saß und weiterdachte. Schon vor langer Zeit aber hatte die deutsche Kunstgeschichte diesen Eigenbrödler, der sich nun hier in seinem Arbeitszimmer aufhalten sollte, zugunsten des »Alten Pan« ohne große Umschweife fallengelassen. [...]

Fachlich gesehen ereignete sich dieses Fallengelassen-Werden in zwei Phasen. Um zuvor aber etwas Übersicht über die Lage zu erhalten, wäre dabei zunächst folgendes unbedingt zu erwähnen: Aus einem noch aufzuklärenden Missverständnis heraus erwähnte der junge Erwin Panofsky, später der »Alte Pan«, am 3  Die  

kursiv   gesetzten   Textteile   erzählen   Honoré   de   Balzacs   Novelle:   Das   unbekannte   Meisterwerk  (1831)  nach.  Allerdings  wurden  die  Figuren  und  Orte  ausgetauscht.  Aus  den   Malern  wurden  zwei  Kunsthistoriker  und  ein  Philosoph.  Die  Geschichte  bleibt  dabei  fast   die  gleiche.  Vgl.  zur  näheren  Erläuterung  hier  die  Einführung.  

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20. Mai 1931 mehrfach einen Heidegger-Text, als er vor der Kieler Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft vortrug. Dies ist hinlänglich bekannt und auch untersucht. (THÜRLEMANN 2009) Dabei wird davon ausgegangen, Panofsky habe an diesem Abend einer seiner Meinung nach unangemessenen „subjektive[n] Gewaltanwendung“ entgegentreten wollen, die bei jeglichem Interpretationsversuch immer schon am Werke sein müsse. In diesem Sinne habe sich Panofsky streiterisch gegen eine Selbstbeobachtung gewandt, die Herr Heidegger exemplarisch an sich wahrgenommen haben wollte. Demnach müsse man „notwendige Gewalt“ gebrauchen, um dem, was die Worte sagen, auch „dasjenige abzuringen, was sie sagen wollen.“ (HEIDEGGER 1927, 192f.) Es  lohnt  sich,  Panofskys  Ausführungen  dazu  in  ganzer  Länge  wiederzugeben:     „In  Heideggers  Kantbuch  finden  sich  einige  bemerkenswerte  Sätze  über  das  Wesen  der   Interpretation   –   Sätze,   die   sich   zunächst   nur   auf   die   Auslegung   philosophischer   Schriften   beziehen,   die   aber   im   Grunde   das   Problem   jeglicher  Interpretation  bezeichnen:       »Gibt   nun   eine   Interpretation   lediglich   das   wieder,   was   Kant   ausdrücklich   gesagt   hat,  dann  ist  sie  von  vornherein  keine  Aus-­‐ legung,   sofern   einer   solchen   die   Aufgabe   gestellt   bleibt,   dasjenige   eigens   sichtbar   zu   machen,   was   Kant   über   die   ausdrückliche   Formulierung  hinaus  in  seiner  Grundlegung   ans  Licht  gebracht  hat;  dies  aber  vermochte   Kant   selbst   nicht   zu   sagen,   wie   denn   überhaupt   in   jeder   philosophischen   Er-­‐ kenntnis   nicht   das   entscheidend   werden   Abb.:  Erwin  Panofsky  (1892-­‐1968) muss,   was   sie   in   den   ausgesprochenen   Sätzen   sagt,   sondern   was   sie   als   noch   Ungesagtes   durch   das   Gesagte   vor   Augen   legt.   […]   Um   freilich   dem,   was   die   Worte   (die   Werke)   sagen,   dasjenige   abzuringen,   was   sie   sagen   wollen,   muss   jede   Interpretation   notwendige  Gewalt  brauchen.«“  (Heidegger  zitiert  in  PANOFSKY  1932,  198)    

Klar ist erst einmal: Panofsky muss sich zu diesem Zeitpunkt, und zumal als Kunsthistoriker, von dieser Problematik angesprochen und sogar herausgefordert gefühlt haben. Denn er äußerte direkt dazu: „Wir werden einsehen müssen, dass auch unsere bescheidenen Bildbeschreibungen und Inhaltsdeutungen, insofern sie eben nicht einfache Konstatierungen, sondern auch schon Interpretationen sind, durch diese Sätze betroffen werden.“ Denn „auch sie, sogar das scheinbar unproblematische Aufzeigen eines bloßen Phänomensinns, legen im Grunde »Ungesagtes vor Auge«“. Auch „sie gebrauchen daher, um mit Heidegger

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zu reden, »Gewalt«. Und damit erhebt sich die schicksalsschwere Frage: Wer oder was setzt dieser Gewalt eine Grenze?“ (PANOFSKY 1932, 199) Panofskys Antwort, welche Instanz der gewalttätigen Interpretation Einhalt gebieten soll, fällt für die heutigen Leser vertraut und simpel aus: „Gestaltungsgeschichte“ und „Typengeschichte“ werden ab jetzt im methodologischen Korsett von Ikonographie und Ikonologie die Interpretationen als „objektive Korrektive“ vor der Gewalt eines willkürlichen Subjektivismus schützen. Soviel ist seit dem 20. Mai 1931 klar. Die Kunstgeschichte entschied sich für Panofsky und ließ den vermeintlich »gewalttätigen« Heidegger fallen. Man wollte sich an „objektiver Geschichtlichkeit“ orientieren, statt als Einzelkämpfer bedingungslos zu denken und zu forschen. Heidegger dagegen hatte dazu im nächsten Satz, den Panofsky nicht mehr zitieren wollte, weiter ausgeführt: „... die Kraft einer vorausleuchtenden Idee muss die Auslegung treiben und leiten“. Die Kunsthistoriker hatte dies offenbar nicht überzeugt. Und Panofskys Zitat bricht, fast gewalttätig   ab, bevor von der „vorausleuchtende Idee“ die   Rede ist. Offenbar wollte Panofsky Heidegger Aber  auch  Panofskys  eigene  „Ein-­‐ einerseits gar nicht weiter verstehen. Er bezelanalysen  in  Studies  in  Iconology   nutzte ihn nur, um die Notwendigkeit eingren(1939)  und  in  Meaning  in  the  Vi-­‐ zender Kriterien begründen zu können. Andesual  Arts  (1955)  sind  keine   rerseits war er in seinen eigenen Analysen oft Exemplifikationen  des  voran  ge-­‐ induktiver und kreativer als er sich selbst versetzten  methodologischen  Textes.   Es  sind  höchst  Gelehrte  ikonogra-­‐ stand.     phische  Analysen,  die  nicht  nur  

Dies ist Phase eins. Allerdings muss es sich einen  kunsthistorischen  Neophy-­‐ an diesem Abend in Kiel um ein doppeltes ten  durch  die  immense  Text-­‐  und   Bildkenntnis  des  Autors  einzu-­‐ Missverständnis gehandelt haben. Heidegger schüchtern  vermögen.“     war wohl absichtlich verkürzt wiedergegeben (THÜRLEMANN  2009,  221)   worden, damit man ihn schneller beiseite lassen konnte. Das zweite Missverständnis bestand dann in der Tatsache, dass Panofsky mit seiner methodischen Ausrichtung von Heidegger gar nicht gemeint gewesen sein konnte, auch wenn er selbst dies annahm: Er war nämlich von Heideggers Ausführungen zur erkenntniserschließenden Interpretation gar nicht betroffen. Vorikonographische Beschreibung und Ikonographie bringen so oder so nichts Ungesagtes im Sinne Heideggers vor Augen. Und das System der Ikonologie war auf alle Fälle rein deduktiv und „quasi-erklärend“ gedacht. Es ging gar nicht um ein „Verstehen“. (BÄTSCHMANN 1978, 468f./ 985, 111) Dementsprechend bezeichnete auch Heidegger eine derartige Auslegung, die mit allgemeinen Voraussetzungen arbeitet, seinerseits als einen üblen „Überfall“. (1935,

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23) Panofsky hatte sich also in Kiel ausdrücklich gegen interpretatorische Gewaltangriffe gewandt. In Wirklichkeit aber überfiel er selbst seine Gegenstände mit einer Armada von Sekundärkontexten. Kurze Zeit später war dies auch Panofsky selbst klar geworden. 1939 hatte er seinen Vortragstext völlig neu überarbeitet. 1955 erschien der geänderte Methodentext dann in englischer Übersetzung. In der Neufassung war die Auseinandersetzung mit Heidegger nicht mehr enthalten. Dieses Missverständnis hatte Panofsky aus seinem amerikanischen Exil aus nachträglich richtig gestellt. In der von den Nationalsozialisten erzwungenen Emigration endete die kurze Debatte über die Gewalt der Interpretation an einem realgeschichtlichen Überfall auf die Weimarer Republik und der anschließenden Machtübernahme. Dies war Phase zwei. Damit war die Nabelschnur zur deutschen Existential-Hermeneutik unmissverständlich und endgültig gekappt. Früher oder später folgte die Mehrheit der Kunsthistoriker dem ikonographischen Paradigma. Und unzweifelhaft ist, dass es zur „wohl bedeutendsten bildanalytischen Methode des 20. Jahrhunderts“ wurde. (MICHELS 1998) Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der zweiten Version des Textes hätte auch schon klar sein können: Dem Freiburger Philosophieprofessor war es nie um ein verschultes und intellektuelles Verfahren der Interpretation eines Kunstwerks gegangen. Kunstwerke lassen geschehen, sie zeigen von sich her. Mit ihnen hat man ein „Spontaneinvernehmen“. Ihnen tut man sicher keine rohe Gewalt an. Stattdessen ist man von ihnen „einberufen“. (BRÖTJE 1990, 135/205) Jede Interpretation ist von vornherein unnötig und unangemessen.   „...  so  galt  die  radikale  ontolo-­‐ gische  Besinnung  Heideggers   der  Aufgabe,  durch  eine   »transzendentale  Analytik   des  Daseins«  die  Struktur  des   Daseins  aufzuklären.  Er  ent-­‐ hüllte  den  Entwurfscharakter   allen  Verstehens  und  dachte   das  Verstehen  selbst  als  die   Bewegung  der  Transzendenz,   des  Überstiegs  über  das  Sei-­‐ ende.“  (GADAMER  1960,  246)  

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Dies stellte das letzte Missverständnis Panofskys dar: Heidegger hatte im Kant-Text tatsächlich das Interpretieren philosophischer Texte gemeint – und dieses Interpretieren hatte eine klare Positionierung in der Konstellation seines Denkens: „[P]hilosophische Interpretation“ stelle eine „abgeleitete Weise[ ] von Verstehen und Auslegen“ dar. „Auslegung“ nennt Heidegger dabei die „Ausbildung des Verstehens“. „In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu.“ Auslegung gründe so „existential im Verstehen, und nicht entsteht dieses durch jene.“ „Im Verstehen [wiederum] liegt existential die Seinsart des Daseins als Seinkönnen.“ (HEIDEGGER 1927, 143ff.) Verstehen entwirft das Dasein immer schon; es gehört zur Struktur des Daseins selbst. Genau diese Struktur ist es,

die die Existentialphilosophie/die Fundamentalontologie aufklären will. Das fundamentale Wesen des Daseins erfährt man dabei durch und im Leben selbst – nicht durch metaphysische oder methodologische Apriori – und vielleicht eben auch, wenn Kunst und Dichtung sich ereignen. Zu Kunstwerken hatte sich der Philosoph bis 1935 nicht geäußert. Es sieht einen Augenblick so aus, als hätte der mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten einsetzende Kulturbruch auch eine kunsthistorische Leerstelle hinterlassen. Das existenzphilosophische Denken Heideggers über den Ursprung des Kunstwerk fällt dann zusammen mit Panofskys erzwungener und endgültiger Ausreise aus Deutschland. Im November 1935, im gleichen Jahr als dieser Hamburg verließ, um schließlich in Princeton eine Inauguralprofessur am Institut for Advanced Study anzunehmen, begann Heidegger in Freiburg über die »Funktion«, oder besser „das Wesen“ der Kunst zu sprechen. Wenn man den entsprechenden Text liest, wird klar, warum der Ikonologe in Amerika auf jede weitere Auseinandersetzung mit Heidegger verzichtet hatte. Panofskys Hinweise auf den Freiburger Konkurrenten hatten sich mit dessen Kunstwerk-Aufsatz buchstäblich erledigt. Von einer interpretativen Aggression des Rezipienten war überhaupt keine Rede. Auch jeder angebliche Subjektivismus-Vorwurf zerrinnt dem Kritiker zwischen den Fingern. Denn nun lesen wir, dass im Werk Wahrheit geschehe. Das Kunstwerk erst erlaubt uns, ein „Er-sehen zu vermögen.“ (HEIDEGGER 1935, 47) Die Dominanz des Interpreten ist gewendet in die Zumutung, dem Werk stattdessen „zu entsprechen“. Es bedarf nicht einmal mehr einer „vorausleuchtenden Idee“, die die Auslegung treiben und leiten müsste. Auch sie ist schon deswegen unnötig geworden, weil Kunstwerke gar nicht interpretiert werden können oder müssen. Sie „wesen“ einfach unabhängig von uns. Zu „wesen“ meint, dass sie in einer ganz bestimmten Weise da sind: Kunstwerke sind offenbar im Unterschied zu normalen Dingen so da, dass sie sich nicht im Sinne eines Objekts aneignen lassen (sollten). „Ob  wir  es  einmal  noch  erkennen,  Hölderlin  Dichtung  ist  uns  ein  Schicksal.  Es  wartet  darauf,   dass  die  Sterblichen  ihm  entsprechen.  [...]  Doch  wie  sollen  wir  dies  alles  erkennen  und  behal-­‐ ten?  Dadurch,  dass  wir  auf  Hölderlins  Dichtung  hören.  (HEIDEGGER  1959,  Vorbemerkung)   „Das  Kunstwerk  gab  zu  wissen,  was  das  Schuhzeug  in  Wahrheit  ist.“     (DERS.,  1935,  29f,  hierzu  vgl.  das  Kapitel  V:  VAN  GOGHS  Stuhl  und  die  Bauernschuhe)   „Was   das   Zeug   sei,   ließen   wir   uns   durch   ein   Werk   sagen.   Dadurch   kam,  gleichsam   unter   der   Hand,  an  den  Tag,  was  im  Werk  am  Werk  ist:  die  Eröffnung  des  Seienden  in  seinem  Sein:  das   Geschehnis  der  Wahrheit.“  (EBD.,  33)  

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Die Begegnung mit dem Werk regelt sich anders und ganz von alleine. Alles Wesentliche sieht man dem Dargestellten im Bilde an. (EBD., 28) „Im Werk hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt.“ (EBD., 30) Die Interpretation dieses Satzes hat sich als Sisyphos-Arbeit für etliche Fakultäten herausgestellt. Deswegen ist es besser, ihm erst einmal keine weitere Gewalt mehr anzutun. Trotz oder gerade wegen seiner Abwesenheit entschied sich die deutsche Kunstgeschichte also für den Methodiker Erwin Panofsky und gegen den „Weserich im Garten der Philosophie“, Martin Heidegger. „Weserich“ nannte der Ikonologe seinen Antipoden einmal. (MICHELS 1994, 64) Panofskys Bezeichnung für Heidegger ist nicht nur polemisch, sondern auch in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Der metaphorische Ausflug in die Botanik, der zu der Titulierung „Weserich“ – etwa in Abwandlung von „Knöterich“ – geführt haben mag, lässt Heidegger als ein krautiges Gewächs erscheinen. Dabei kommt der Nickname dadurch zustande, dass der Philosoph zur Präzisierung bestimmter Zustände das Verb „wesen“ – in eigenwilliger Abwandlung zu „ist“ und „sein“ – geprägt und so oft wie nötig, ziemlich häufig also, gebraucht hatte. Sich darüber hinaus die Königsdisziplin Philosophie als „Garten“ vorzustellen, ist ebenfalls vielsagend: Nun mag sich jeder selbst ausmalen, wie wohl ein Garten aussehen kann: Vom rationalistischen Barockgarten zum scheinbar freiwachsenden englischen Landschaftsgarten mit seinen mäandernden Wegen und Pseudoruinen bis zum privaten kleinen Schrebergarten. Allerdings hätte Panofsky vielleicht einen Gemüsegarten mit ordentlicher Sortierung der angebauten Nutzpflanzen als Visualisierung der Philosophie bevorzugt. Die Ikonologie hätte dort die benötigten Gewächse nach Rezept ziehen können. Den Weserich sah der Amerikaner wider Willen sicherlich in einem verwilderten Gartenreich unkontrolliert sprießen – sich selbst verortete der Kunsthistoriker dagegen übrigens im Garten Eden: Er nannte seinen erzwungenen Aufenthalt in Princeton bekanntlich: „Ins Paradies vertrieben“. Die Gartenmetapher wird aber in all ihren möglichen Facetten auch zum Bild für den schwelenden Antagonismus von Wahrheit und Methode. Der Weserich im Garten ist die Horrorvorstellung eines amethodisch-analytisches Denken, dem Panofskys größte Vorbehalte galten. So gab es für Heidegger zum Beispiel eminente Werke, die „zu bestehen [...] noch bevorsteht“. (1935, 81) Möglich werden könne dies aber nur, „wenn wir uns selbst unserer Gewöhnlichkeit entrücken und in das vom Werk Eröffnete einrücken, um so un-

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ser Wesen selbst in der Wahrheit des Seienden zum Stehen zu bringen“. (EBD., 77) Die Anforderungen an die Betrachtenden sind einfach, amethodisch und ahistorisch und vor allem deswegen unbestimmt, weil man eben nicht vorher weiß, wie es im „Ereignis“ der Bildanschauung werden wird. Die Anweisung vom Kunstwerk her lautet zunächst lediglich: »bewahre mich«. „Dieses: das Werk ein Werk sein zu lassen, nennen wir die Bewahrung des Werkes. Für die Bewahrung erst gibt sich das Werk in seinem Geschaffensein als das wirkliche, d.h. jetzt: werkhaft anwesende.“ (EBD., 67) Vernehmende Bewahrung ist der Rezeptionsmodus, in dem das Werk „seiend wird“. Für den Freiburger Philosophen hatte Panofsky diesem Modus ästhetischer Erfahrung leider schon lange abgeschworen. Was dieser in seinem Methodenkatalog nachträglich anbot, war allenfalls noch Nostalgie in einem akademischen Methodenpanzer – oder „Kunstbetrieb“. Denn „[s]obald jener Stoß ins Ungeheure im Geläufigen und Kennerischen abgefangen wird, hat um die Werke schon der Kunstbetrieb begonnen. Selbst die sorgfältige Überlieferung der Werke, die wissenschaftlichen Versuche zu ihrer Rückgewinnung erreichen dann nie mehr das Werksein selbst, sondern nur eine Erinnerung daran“, schreibt Heidegger eben im Jahre 1935. (EBD., 69f.) Damit war auch Panofsky gemeint. Dieser operiere aus einer Perspektive der Nachträglichkeit, aus der heraus das „Werk und die Wahrheit des Werkes [schon] vergessen“ seien. (EBD., 68) Es geht an dieser Stelle nicht darum, endlich herausfinden zu wollen, wie ein Werkgeschehen im Konkreten genau tatsächlich eintreten oder ablaufen soll. Dieses große Mysterium des Kunstwerk-Aufsatzes steht immer noch bevor. Im Moment befand sich Panofsky im methodologischen Notwehr-Modus. Die ikonographische Raffinesse eines Werkes durchschaut man nicht als gewalttätiger „Weserich“, sondern mit geduldigem Studium. In Panofskys letzter Fußnote heißt es am Ende: „Es  lässt  sich  ja  eine  Betrachtungsweise  denken,  die  sich  von  den  historischen   Korrektiven  grundsätzlich  unabhängig  erklärt  und  nur  die  einzige  Forderung   anerkennt,   dass   das   von   ihr   entworfene   Bild   der   jeweils   betrachteten   Einzel-­‐ erscheinung  ein  in  sich  einheitliches  und  sinnvolles  sei,  gleichviel  ob  es  in  ir-­‐ gendwelche   geschichtlichen   Zusammenhänge   hineinpasst   oder   nicht.   Eine   sol-­‐ che  Betrachtungsweise  [...]  ist  solange  unangreifbar,  als  sie  sich  ihrer  überhis-­‐ torischen  oder  besser  außerhistorischen  Zielsetzung  bewusst  bleibt,  wird  aber   in  dem  Augenblick  bekämpft  werden  müssen,  in  dem  sie  die  Historie  durch  ei-­‐ nen  anders  gearteten  Anspruch  in  Notwehr  versetzt.“  (PANOFSKY  1932,  206)  

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Die  Begegnung   mit  dem  Kunst-­‐ werk  ist  ein     „Erscheinungs-­‐ geschehnis“.     (BRÖTJE  1990,   12)  

Die Historie oder die erklärend-argumentierende Kunstgeschichte wird hier durch ein ahistorisches Wahrheitsversprechen in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Heidegger machte – vor mancher Kryptik, die dann folgen sollte – zwei nicht unattraktive Alternativangebote an eine eher intuitiv-unmittelbare Werkbegegnung: Zum einen Werkimmanenz: „Das Werk gehört einzig in den Bereich, der durch es selbst eröffnet wird.“ (HEIDEGGER 1935, 37) (Das Dumme daran war nur, dass es die Großmacht Philosophie war, die dem Kunstwerk diese Garantie zusagte. Darunter litt der Autonomieanspruch des Werkes ein wenig.) Zum anderen sollte vorab ebenso garantiert sein, dass es zwischen Kunstwerk und den „existentiell einverpflichteten“ Lesern und Betrachtern tatsächlich auch zur vernehmenden Verständigung kommt. Heidegger äußert sich dazu nicht explizit. Es liegt im Wesen der Wahrheit selbst, einfach zu geschehen – und im Wesen des Seins, sich auf besondere Weise zu entbergen. Das ist eben so. Im Falle des Kunstwerks besteht die zusätzliche Bedingung des „In-der-Welt-Seins“ mit dem Werk. Man muss den Horizont des Werkes noch teilen können, sonst wird es schwieriger mit der Unmittelbarkeit. Später wird Heideggers Schüler Hans-Georg Gadamer für die immer schon bestehende Verbundenheit zwischen Kunstwerk und Mensch ein einprägsames Bild finden: Das Bild der durch eine Scherbe garantierten Gastfreundschaft. „Was   heißt   Symbol?   [...]   Ein   Gastfreund   gibt   seinem   Gast   die   soge-­‐ nannte   »tessera   hospitalis«,   d.h.   er   bricht   eine   Scherbe   durch,   be-­‐ hält   die   eine   Hälfte   und   gibt   die   andere   Hälft   dem   Gastfreund,   da-­‐ mit,   wenn   in   dreißig   oder   vierzig   Jahren   ein   Nachkomme   dieses   Gastfreundes  einmal  wieder  ins  Haus  kommt,  man  einander  im  Zu-­‐ sammenfügen   der   Scherben   zu   einem   Ganzen   erkennt.   [...]   Das   Symbol   dagegen,   das   Erfahren   des   Symbolischen,   meint,   dass   sich   dies  Einzelne,  Besondere  wie  ein  Seinsbruchstück  darstellt,  das  ein   ihm  entsprechendes  zum  Heilen  und  Ganzen  zu  ergänzen  verheißt,   oder   auch,   dass   es   das   zum   Ganzen   ergänzende   immer   gesuchte   andere   Bruchstück   zu   unserem   Lebensfragment   ist.   [...]   Kunst   [...]   ist   die   Beschwörung   einer   möglichen   heilen   Ordnung,   wo   immer   es   sei.“  (GADAMER  1977,  41ff.)  

Um dieses Bild einer geheilten Einheit von Werk und Rezipient hätte Panofsky seine Gegenspieler eigentlich beneiden müssen, denn für eine Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin gibt es so einen Kontrakt der Teilhabe selbstverständlich nicht. Nur unter Aussetzung dieser Bedingung kann erst die bedeutungserforschende Arbeit des Ikonologen überhaupt einsetzen.

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Selbst die ideologisch weniger verfängliche, aber sehr ähnlich zu Heidegger lautende Passage aus der Ästhetischen Theorie Adornos, überzeugte die Fachdisziplin nicht mehr. Auch sie klang noch ebenso esoterisch und gab genauso wenig konkret-fachliche Verhaltensanweisung: „Der Betrachter“, so Adorno, unterschreibe, „unwillkürlich und ohne Bewusstsein einen Vertrag mit dem Werk, ihm sich zu fügen, damit es spreche.“ (1969, 114) Und ebenso liefern die ausführlichen Hinweise, man habe ein Kunstwerk nachzuvollziehen in der Gesamtheit seiner Gestalt, statt den aussichtslosen Versuch zu unternehmen, es erklären zu wollen, den Ikonographen zu wenig Praktikables. Was Adorno „Mimesis“ nannte – das unbewusste sich dem Kunstwerk überlassen – roch zu sehr nach privatistischem und schweigendem Vollzug. Heidegger und Adorno hatten ansonsten wenig gemeinsam. Aber für „Theorie  der  Kunst  darf  ihr  nicht   letzteren war Askese eine veritable Option angejenseitig  sein,  sondern  muss  ihren   sichts eines Gesellschaftszustandes, der sich beBewegungsgesetzen  sich  überlas-­‐ bekanntlich dadurch auszuzeichnen schien, sen,  gegen  deren  Bewusstsein  die   dass das Ganze das Unwahre sei. Werke  hermetisch  sich  abdich-­‐ ten.“   Adorno fehlte zwar der pathetische „Jargon   der Eigentlichkeit“, den er im Dunstkreis Hei„Kunst  wird  zum  Rätsel,  weil  sie   deggers vehement kritisierte. Dafür hatte er seierscheint,  als  hätte  sie  gelöst,  was   nen eigenen unnachahmlichen Schreibstil. Wie am  Dasein  Rätsel  ist,  während  am   Panofsky war auch er bekanntlich zunächst in bloß  Seienden  das  Rätsel  verges-­‐ die USA emigriert. Aber was für Heidegger sen  ward  durch  seine  eigene  über-­‐ »Wahrheit« war, war bei Adorno darüber hinaus wältigende  Verhärtung.  [...]  Kunst   die »Unbegreiflichkeit« des Kunstwerks selber. sucht,  schwach,  wie  mit  rasch  er-­‐ Weder »Wahrheit« noch fundamentale »Rätselmüdender  Gebärde,  das  wieder-­‐ haftigkeit« der Werke waren aber im Rahmen eigutzumachen.“     ner universitären Kunstgeschichte lehr- und (ADORNO  1969,  194,  191:  Rät-­‐ lernbar. Daher schieden Heidegger und Adorno selcharakter,  Wahrheitsgehalt,     Metaphysik)   als Vorbilder für die Disziplin aus. Ikonographie   und Ikonologie wollten Rätsel lösen, statt sie sein zu lassen. Der Vollständigkeit halber sei noch angemerkt, dass Heideggers Überlegungen zur Gewalt der Interpretation und zur Funktion der „vorausleuchtenden Idee“ so anmaßend willkürlich gar nicht waren. Panofsky hatte seinen Zuhörern und Lesern dies eben nur verschwiegen. Es lohnt immer den Zusammenhang eines Zitats als Kontrollinstanz der Interpretation einzusehen. Dazu hatte Max Imdahl die gesamte Passage in Heideggers Kantbuch von Anfang bis Ende gelesen. Er bezieht sich dabei hauptsächlich auf das, was Panofsky nicht mehr erwähnte. Denn weiter heißt es dort bei Heidegger:

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„... Die Kraft einer vorausleuchtenden Idee“ müsse „die Auslegung treiben und leiten. Nur in Kraft dieser kann eine Interpretation das jederzeit vermessene wagen, sich der verborgenen inneren Leidenschaft eines Werkes anzuvertrauen, um durch diese in das Ungesagte hineingestellt und zum Sagen desselben gezwungen zu werden. Das aber ist ein Weg, auf dem die leitende Idee selbst in der Kraft zur Durchleuchtung an den Tag kommt.“ (HEIDEGGER bei IMDAHL 1979, 454) Entscheidend ist hier zweierlei: Die vorausleuchtende Idee ist bei weitem keine wirre subjektive Vorannahme. Sondern: Dem Verstehen geht das immer Schon-Verstandensein voraus. „Alle Auslegung, die Verständnis beistellen soll“, sagt Heidegger, „muss schon das Auszulegende verstanden haben. [...] Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis [...], sondern er ist Ausdruck der existenzialen Vor-Struktur des Daseins selbst. [...] In ihm verbirgt sich eine positive Möglichkeit ursprünglichsten Verstehens.“ (1927, 152-153) Panofsky unterschlug diese Passage vielleicht einfach deswegen, weil er das Ganze als Methodiker doch für zirkulär, für einen klaren circulus vitiosus gehalten hatte. „Natürlich  hat  jede   Interpretation,  die   auf  die  Identität  des   Bildes  zielt  und  damit   auf  das,  was  ein  Bild   eigentlich  sagen  will,   etwas  Vermessenes.   Was  die  Vermessen-­‐ heit  eines  solchen   Anspruchs  angeht,   darf  ich  abschließend   verweisen  auf  einen   Satz  Heidegger:  ...“     (IMDAHL  1977,  454)  

Und außerdem: Max Imdahl seinerseits führte genau diese ausgewählte Sequenz des Heidegger-Zitats am Ende seines eigenen Textes aus gutem Grunde an. Er hatte gerade eine »gewaltige« und „vermessene“ Giotto-Interpretation präsentiert und musste vermuten, dass er nicht nur Zustimmung ernten würde. Mit seinem Text versuchte der Autor in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine wissenschaftlich fundierte Überschreitung der Panofsky’schen Schemata zugunsten dessen, was er dann Ikonik nannte. Die Ikonik ihrerseits folgt dabei der vorausleuchtenden Idee, dass den alten Giottos ein modern anmutendes formalästhetisches Gerüst innewohnt, das Ikonographen und Ikonologen gar nicht erst sehen können, weil ihre Arbeit diese Idee nicht vorsieht. Ansonsten kommt Heidegger in der Anschauungslogik der Ikonik leider kein einziges Mal mehr vor. Vermutlich hat Imdahl Heidegger auch gar nicht (ausführlich) gelesen. Nur in Teilen Süddeutschlands – zumeist bei seinen Freunden – findet man zunächst noch Anknüpfungspunkte der Kunstgeschichte an das Denken Heideggers: etwas bei Kurt Bauch, Theodor Hetzer, Hans Jantzen oder Georg Picht. Auf die Curricula des Faches Kunstgeschichte hatten die Schriften Heideggers danach keinen Einfluss mehr. Sie wurden bald schon fallen gelassen.

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  II.   [...] Der wissbegierige Jüngling fasste nach der Türklinge zum Arbeitszimmer. Vom Elend niedergedrückt und in diesem Augenblick über seine eigene Vermessenheit bestürzt, wäre der arme Neophyt bei dem Philosophen, dem wir auch die wunderbare Interpretation der ‚Sixtina’ von Raffael verdanken, gar nicht eingetreten, hätte ihm nicht der Zufall eine außerordentliche Hilfe geschickt. Soeben kam ein Greis die Stufen hinauf. An seiner wunderlichen Kleidung und der ins Auge fallenden Sicherheit seiner Haltung erriet der junge Mann, dass es sich bei dieser Persönlichkeit wohl um einen entfernten Freund des Philosophen handeln musste. Er trat auf dem Treppenabsatz einen Schritt zurück, um ihm Platz zu machen und betrachtete ihn aufmerksam und voller Neugier. Das Gesicht war von den Beschwerlichkeiten des Alters und mehr noch von den Gedanken, die den Körper und die Seele gleichermaßen aushöhlten, seltsam welk geworden. Der Greis warf dem jungen Mann einen klug forschenden Blick zu, klopfte dreimal an die Tür und sagte: »Guten Tag, Meister«. Heidegger öffnete, verneigte sich; er ließ auch den jungen Mann eintreten, in der Meinung, der Greis habe ihn mitgebracht, und kümmerte sich um so weniger um ihn, als der Neophyt unter dem Zauber verharrte, den der Anblick eines Arbeitszimmers emporruft, das man erblickt und in dem sich einige der großen Gedankengänge auftun, die von hier ausgegangen sein mögen. Die Aufmerksamkeit des jungen Mannes wurde alsbald ausschließlich von einem Aufsatztitel gefesselt, der in diesen wirren Zeiten schon berühmt geworden war und den einige jener Starrköpfe zu lesen pflegten, denen es zu verdanken ist, dass in den Tagen des Unheils das heilige Feuer erhalten blieb. Der schöne Text handelte von der ‚Sixtina’ Raffaels, die das Jesuskind hält. Der Meistertext war ursprünglich an Theodor Hetzer gerichtet Abb.:  Raffael:  Sixtinische  Madonna,  1512/13,  Öl   auf  Leinwand,  269,5  x  201  cm,  Dresden,   gewesen, wurde in der Folge aber immer Neue  Rahmung.   seltener rezipiert.

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»Dein Text gefällt mir«, sagte der Greis zum Philosophen. »Ich würde auch darüber schreiben, doch liegt mir Raffaels ‚Madonna della Sedia’ ein wenig näher«. »Ihr findet ihn gut?« »Nun ja«, meinte der Greis, »gut? Ja und Nein. Die Passage da ist nicht übel geraten, aber sie lebt nicht. Ihr glaubt immer alles getan zu haben, wenn ihr einen Text sauber durchdacht und jeder Einzelheit den Platz zugewiesen habt, der ihr zukommt. Und weil ihr von Zeit zu Zeit eine Abbildung des Bildes betrachtet, glaubt ihr, das Kunstwerk beschrieben zu haben, bildet ihr euch ein, Kunstbetrachter zu sein und dem Sein auf diese Weise sein Geheimnis entwendet zu haben...! Brrr! Um ein großer Dichter zu sein, genügt es nicht, das Denken von Grund auf zu beherrschen und keine sprachlichen Fehler zu machen! Schau dir deinen Text zu deiner Heiligen an. Heidegger! Auf den ersten Blick scheint alles wunderbar zu sein, aber beim zweiten Lesen und einem vergleichenden Betrachten bemerkt man, dass du zu wenig an den Details interessiert bist. Auch vermag ich nicht sofort zu glauben, wie dieses Bild das ‚verborgen Bergende miterbringt’, wie du schreibst.« Der Greis machte eine kurze Pause um dann fortzufahren. »Nein, mein Freund, deine Maria soll alle noch ungeklärten Fragen nach der Kunst und dem Kunstwerk enthalten, aber dein Text ist ein wenig zu kurz und zu schwer. Hier ist eine Frau, da eine Statue, dort ein Kindlein – wo ist das Antlitz in deinem Sinne, wenn du von Ankunft sprichst? Nicht jeder sieht sofort, wie alles geschehen und erscheinen soll.« »Du konntest den Zeilen noch nicht die Glaubwürdigkeit einhauchen, die auch einen jungen Leser überzeugt.« »Aber warum?« »Nun ja« antwortete der Greis, »du hast zu sehr komprimiert und hast unentschlossen zwischen zwei Systemen geschwankt«. [...]

Heideggers Text zur Sixtinischen Madonna agiert auf zwei Ebenen. Er soll hier noch einmal Satz für Satz gelesen und an den entscheidenden Stellen ergänzt werden, denn, so der Autor: „Um dieses Bild versammeln sich alle noch ungelösten Fragen nach der Kunst und dem Kunstwerk.“ (1955, 119) Auf der einen Ebene der kurzen Schrift geht es scheinbar zunächst lediglich um Heideggers Bestürzung darüber, dass sein verehrter Schulfreund, der Kunsthistoriker Theodor Hetzer,

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fälschlich folgendes angemerkt hatte: Das Bild Raffaels sei „nicht an eine Kirche gebunden“ und verlange dementsprechend „nicht nach einer bestimmten Aufstellung“. (EBD., 120) Hier war Heidegger vollkommen anderer Meinung. Auf der anderen Ebene erlaubt sich der Autor – „weder befugt noch gerüstet“, wie er selbst sagt – einige Bemerkungen, die aber reine „Spekulationen“ bleiben müss   ten. Im Rahmen dieser kurzen Spekulatio„Freilich  ist  speculari  auch  ein  Schauen,   nen wird dann beschrieben, wie das Altaraber  ein  unsinnliches.“     bild der Sixtinischen Madonna „west“. Dass „...  ihrem  Bildwesen  nach“  gehört  die  Six-­‐ das Werk „entbergend“ „west“ und eben tina  „in  die  eine  Kirche  nach  Piacenza“.   nicht einfach irgendwo ist oder beliebig (HEIDEGGER,  1955,  120)   aufgestellt werden kann, wird die beiden Ebenen verbinden. Oder anders gesagt: Die „Die  Sixtinische  Madonna  wurde  bereits   Sixtinische Madonna „west“ nur an, bezieseit  Eröffnung  der  Sempergalerie  1856   hungsweise mit ihrem Bestimmungsort. In eigenständig  museal  präsentiert.  Raffael   allen anderen Fällen und anderen „Stellen“ schuf  die  Sixtinische  Madonna  für  den   sei das Bild nur in der „Ausstellung“. Hochaltar  der  Klosterkirche  San  Sisto  in   Piacenza.  Der  Chor  und  der  Hauptaltar  

Weder für Theodor Hetzer noch für Erwin der  Kirche  wurden  im  16.  und  17.  Jh.   Panofsky „weste“ ein Kunstwerk. Es war umgebaut,  von  dem  ursprünglichen  Rah-­‐ nur da als Anschauungs- und Formen  ist  nichts  bekannt.  1983  wurde  der   schungsobjekt. Die Ortsspezifik, der räumbestehende  vergoldete  Plattenrahmen  zu   einer  verglasten  Wandvitrine  umgebaut.   liche Kontext oder die äußeren ZugangsFür  eine  Neurahmung  von  Raffaels  Ge-­‐ bedingungen waren reine Überlegungen mälde  zum  500.  Geburtstag  bot  sich  letzt-­‐ zur historischen Rekonstruktion einer verendlich  der  Weg  einer  historisch  getreuen   gangenen Situation. Rekonstruktion  eines  Renaissance-­‐Altar-­‐ Hetzer hatte es so für möglich halten rahmens  an.  Von  Raffael  selbst  gibt  es   können, dass sich das Kirchenbild ohne keine  Rahmenentwürfe,  die  sich  für  eine   Abstriche in Dresden musealisieren und Rekonstruktion  angeboten  hätten.  Die   zugleich ästhetisch erfahren lasse. HeidegEntscheidung  fiel  auf  einen  originalen  Ta-­‐ gers Begründung, warum nun diese Vorbernakelrahmen,  der  in  der  Bologneser   stellung vom Kunstwerk und warum nun Kirche  San  Giovanni  in  Monte  noch  heute   dieser wissenschaftliche Bildbegriff falsch ein  großes  Gemälde  von  Lorenzo  Costa   rahmt.“     seien, führt tatsächlich in eine Zone unge(Zitatzusammenfassung;  MURRER  2012)   löster Fragen. Wir treten in diese Zone ein, wenn wir danach fragen, weshalb oder wie Raffaels Bild „Altarbild in einem viel tiefe„Als  nächstes  sind  die  Zeugnisse  zu  »dechiff-­‐ rieren«  und  interpretieren...“     ren Sinne [ist]“. (EBD., 120) (PANOFSKY  1940,  13)   Denn „allein das Bild ist kein Abbild und kein Sinnbild nur der heiligen Wandlung“ (EBD., 121), weswegen es auch nicht ausreichen wird, es bloß zu „dechiffrieren und zu interpretieren“, wie es Panofsky getan hätte. Aber wie ist nun für Heidegger das Bild in einem viel tieferen Sinne »Altarbild«?

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Abb.:   San   Sisto   in   Piacenza,   Blick   durch   das   Mittelschiff   zum   Hochaltar   mit   der   Kopie   der   Sixtinischen   Madonna,   Photogra-­‐ phie,  um  1915–1920,  Florenz,  Alinari.  

„Aber     das  Bild   kommt  je  nur   jäh  in  sein   Scheinen,  ist   nichts  anderes   als  die  Jähe   dieses  Schei-­‐ nens...“   (HEIDEGGER   1955,  120)  

Heideggers Antwort unterscheidet zunächst knapp Historizität von Aktualität, denn: „Das Gemalte dauert auf seine Weise...“ (EBD., 120) Als materielles Artefakt, Öl auf Leinwand, ist die Sixtina nichts anderes als ein „antiquarisches“ Objekt. Aber als einzigartiges Bild ist es – „je“ und „jäh“ – ein einzigartiges Ereignis. In der Beschreibungssprache Heideggers entzieht sich aber dieses gepriesene Ereignis für den Leser immer wieder, weil der Philosoph nie konkret wird. Es wird eine hochaufgeladene Prozessualität und Ereignishaftigkeit verkündet, die bildprozessual, als bildimmanentes Geschehnis, im Text jedoch nie á detail zum Ausdruck kommt. Es und Etwas kommt ins Scheinen, ohne jede Angabe eines „wie“. Das Bild grenze „das Offene des Durchscheinens“ ein, „um es durch die Grenze in eine Freigabe des Scheinens zu versammeln“, sagt uns Heidegger. „Doch ich merke, all dies bleibt ein unzureichendes Stammeln.“ (EBD., 120f.)

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Heidegger scheint das Ganze auf der Ebene des Bildes nicht einleuchtender formulieren zu können, weil ein adäquater Bildbegriff wohl fehlt. Er glaubt, philosophisch prägnant bestimmt zu haben, was ein Bild ist, kann aber nicht sagen, wie er es phänomenologisch, in seinem Sinne prozessual ansieht. Das Offene... durch die Grenze... in ein Scheinen zu versammeln... Heidegger ringt darüber hinaus um einen Begriff von Medialität, darf aber nicht »Medium« sagen, weil es die »falsche«, weil technisch-gestellte Sprache wäre.

[...] »Analysieren wir nichts, es würde dich zur Verzweiflung bringen.« Der Greis setzte sich auf einen Schemel, stützte den Kopf in die Hände und verharrte schweigend. »Es ist nicht die Aufgabe der Kunst, den Menschen zu kopieren, sondern ihn auszudrücken! Künstler sind keine gewöhnlichen Kopisten, sondern Dichter!« rief der Greis, sich in Übereinstimmung mit dem Philosophen wissend, lebhaft aus.« »Ihr versenkt euch nicht tief genug in die Form, spürt ihren verborgenen Krümmungen, ihrem Ausweichen nicht liebevoll genug nach. Alles zusammen ist eine schwierige Sache, die sich so nicht greifen lässt. Die Form ist ein Proteus, der noch viel schwerer zu fassen ist als der Proteus der Fabel; erst nach langen Abb.:  Raffael:  Sixtinische  Madonna,     Kämpfen kann man sie zwingen, ihr wahres Detail.  Marias  haltende  Hände. Wesen zu enthüllen. Ihr gebt euch mit der ersten Erscheinung zufrieden, in der sie vor euch hintritt, oder wenn es hoch kommt, mit der zweiten oder dritten; das ist nicht die Art, in der siegreiche Kämpfer handeln. Jene unbesiegbaren Maler lassen sich nicht durch solche Winkelzüge irreführen, sie harren standhaft aus, bis das Bild so weit gebändigt ist und sich die Wahrheit in ihrem wahren Wesen zeigt. So ist Raffael verfahren«, sagte der Greis und nahm sein schwarzes Samtkäppchen ab, um die Ehrfurcht zu bekunden, die ihm der König der Kunst einflößte. »Seine große Überlegenheit entspringt dem Sinn für das Wesentliche. Er will die Form vom Grunde her zur Erscheinung kommen lassen.« [...]

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Heidegger sagt in Hinblick auf die Sixtina dann aber noch, was in der Jähe des Scheinens als wesentliche Bildschöpfung erscheint: nämlich das unvordenkliche Bedingungsverhältnis zwischen Maria, Jesus und dem Bild selbst. Der Jesusknabe ist es, der Maria in ihre Ankunft bringt. Ohne das Jesuskind bedürfte es keiner Maria. „Das  Bild  [...]  ist  nichts   Die Ankunft der Mutter Gottes im Bild, ihr Auftreten, anderes  als  die  Jähe  die-­‐ wird vom kleinen Gottessohn hervorgebracht. Die Silses  Scheinens.     bentrennungen Heideggers sind ereignishaft gemeint:   „Maria bringt den Jesusknaben so, dass sie selbst erst   Maria  bringt  den  Jesus-­‐ durch ihn her-vor-gebraucht wird...“. Zuerst „her“ (in knaben  so,  dass  sie   ihre Ankunft) und dann „vor“ (in ihre Erscheinung in selbst  erst  durch  ihn   der Bildmitte) gebracht wird – und zwar von Jesus, her-­‐vor-­‐gebracht  wird  in   den sie eigentlich, rein motivisch, zu tragen scheint. ihre  Ankunft,     Die Gottesmutter wird von dem hervorgebracht, den   sie selbst hervorbringen wird. Sie wird nur und nur in   dem Moment sichtbar, in dem sie Jesus als den ande...  die  in  sich  jeweils  das   ren ihrer selbst hervorbringt. So wird sie von dem zur verborgen  Bergende  ih-­‐ Mutter gemacht, dessen Ursprung sie selber ist. Ihre rer  Herkunft  mit-­‐er-­‐ Ursprünglichkeit ist eine nachträgliche. bringt.“                   „Das  Bringen,  worin  Ma-­‐ ria  und  der  Jesus-­‐Knabe   wesen,  versammelt  sein   Geschehen  in  das  bli-­‐ ckende  Schauen,  darein   das  Wesen  beider  ge-­‐ stellt...“   (HEIDEGGER  1955,  120)  

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Theologisch mag dies klar sein, es mag auch thematisch von Raffael so genial umgesetzt sein. Aber vor allem steckt hinter Heideggers etwas kryptischer Formulierung eine spannende bildspezifische Beobachtung. Denn das Bedingungsverhältnis zwischen Jesuskind und Maria wiederholt sich im Verhältnis von Maria (ihre Ankunft als Gestaltwerdung im Bild) und dem Bildgrund selbst. Wiederum ist Heideggers Beschreibung dunkel: Marias Ankunft erbringe, indem sie ankommt, das verborgen Bergende ihrer Herkunft mit. Dass Maria ihre Herkunft mit-er-bringe, lässt sich auch so formulieren: Nur indem im Bild die Gestalt der Madonna als Frauenfigur in der gemalten Bildwelt erscheint, kann sich auch das von ihr verschiedene – der Bildgrund selbst – anzeigen. Maria bringt nicht nur den Jesusknaben auf dem Arm. Sie bringt auch das, woheraus alle Bild-Erscheinung stammt, den Malgrund, zur Miterscheinung. Sie bringt ihn so zur Miterscheinung, dass sie ihn als ihre Differenz, als das, was sie nicht ist, miterbringt. Zugleich erscheint sie aber auch selbst als aus ihm Hervorgegangene – in Ankunft.

So bringt sie erst zur Erscheinung, was ihr vorausgeht und woheraus sie hervorgeht.

„Die  Bildebene  trägt  bergend  das  Erscheinende“.  (BRÖTJE  2001,  36)  

Als das Andere des Sichtbargewordenen kann der Bildgrund nur erfahren werden, indem er sich verbirgt und zurückzieht hinter dem, was er aus sich entstehen lässt und was er nicht (mehr) ist. Daher sagt Heidegger uns, er sei „verborgen bergend“. Erst durch Marias Gestaltwerdung im Bild wird auch das sie Hervorbringende, der Bildgrund, als Bedingung jeder Hervorbringung miterlebbar. Die Gottesmutter bringt so zwei Mal ihren jeweiligen Grund zur Miterscheinung: ihren Gottessohn und den Bild- und Malgrund. Sie trägt Jesus als von ihm getragene, und sie bringt mit ihrer Erscheinung den – ihren – Erscheinungsgrund als Möglichkeitsbedingung ihrer Erscheinung mit sich: Als „Schöpfungs-Apriori“ für alles zeigt sich der Bildgrund damit als quasitranszendente Erstsetzung eines Sinn-Grundes“, der alles trägt (BRÖTJE 1990, 19, 24) – Heidegger sagte dazu er „versammelt“. All dies, diese Ereignisse einer Differenzeröffnung, sollen sich in und durch das Bild ereignen – als zweimalige Einheit in der Differenz: Sohn und Mutter und Bildgrund und Bildwelt. Die Mutter kann immer nur angesprochen werden im Unterschied zu dem, was sich aus ihr bereits – sie selbst erst hervorbringend – differenziert hat – der Gottessohn; und der Bildgrund ebenso nur in der Ankunft der Maria. Und Sohn, Maria und die ganze Bildwelt müssen sich immer schon herausdifferenziert haben, bevor ich Mutter und Grund sagen kann. Beides entsteht gleichzeitig in der untrennbaren Einheit der Differenz. Im Bild und in der Anschauung würden sich so im „Erscheinenden zugleich der entbergende, sinn- und ordnungsgebende Erscheinungsgrund desselben“ einlösen. (BRÖTJE 2001, 33) So ist es hier gesehen und gedacht.

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„Im  Bild,  als  dieses  Bild  geschieht  das  Scheinen  der  Menschwerdung  Gottes,  geschieht   jene  Verwandlung,  die  auf  dem  Altar  »die  Wandlung«,  als  das  Eigenste  des  Messopfers   sich  ereignet.“  (HEIDEGGER  1955,  121)  

Die Sixtinische Madonna stellt für Heidegger offenbar keine übernatürliche himmlische Vision einer anderen Welt oder eine Epiphanie einfach dar. Sie ist aus dieser Sichtweise auch keine. Stattdessen werden das christliche Mysterium und das Bildmysterium hier deckungsgleich, synonym oder äquivalent: als Bild geschieht jene „Wandlung“... Genau aus diesem Grund glaubte Heidegger eben auch, dass die Sixtina nie vom Hochalter in San Sista hätte entfernt werden dürfen. Der ganze „tiefere Sinn“ „geschieht“ für mich nur an einem Ort, der nach dem Bild „ruft“, so wie das Bild nach seinem Ort „rufe“. Ansonsten, im Museum, könnte jene erlebte »Transsubstantiation« auch als banales Phänomen aufgefasst werden: Immer sobald der erste Pinselstrich bezogen ist, erscheint der Bildgrund mit, der den ersten Strich erbringt, so wie dieser seinen Grund miterbringt. Das ist halt grundsätzlich so. In San Sista beginnt damit aber das Mysterium. Indes, Heidegger formuliert das alles nicht weiter aus. Warum nicht? Weil es falsch wäre, zu viel zu sagen? Weil es überflüssig ist, mehr zu sagen? Weil es reicht, gesagt zu haben, dass es ein ganz spezifisches »So-Und-Nicht-Anderes-Bringen« ist, das hier geschieht: In diesem Bringen „wesen“ Maria und der Jesusknabe. Fertig? Aber Heidegger sagt „so“ und nicht „so-und-so...“, das heißt, er sagt nicht, wie im Bild alles anschaulich organisiert sein könnte. Er sagt es so, wie er es sagt: präzise und dunkel, in resultativen Sätzen, im Einzelnen unnachvollziehbar. Ein paar einzigartige Sätze, die selbst ein Ereignisgeschehen sein könnten. Was bringt es also, die Zeilen Heideggers auszulegen? Der Auslegung bleibe, so hatte Heidegger selbst formuliert, „die Aufgabe gestellt, dasjenige eigens sichtbar zu machen, was [der Autor] über die ausdrückliche Formulierung hinaus in seiner Grundlegung ans Licht gebracht hat; dies aber vermochte [er] selbst nicht zu sagen, wie denn überhaupt in jeder philosophischen Erkenntnis nicht das entscheidend werden muss, was sie in den ausgesprochenen Sätzen sagt, sondern was sie als noch Ungesagtes durch das Gesagte vor Augen legt“. (1927, 192f.) Liegt das Ungesagte durch das Gesagte nun „vor Augen“? Das heißt: Lässt es sich am Bild nun ersehen?

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III.   [...] »Aber diese heilige Madonna und dieser Text dazu sind doch wunderbarer, guter Mann!« rief mit lauter Stimme der Jüngling, der wie aus einem tiefen Traum emportauchte. »Gehört das Bürschchen da zu Euch?« fragte Heidegger den Greis. »Ach, Meister, verzeiht mir meine Kühnheit«, antwortete der Neuling, in dem er errötete. »Ich bin unbekannt, Text-Schreiber aus innerem Antrieb und vor kurzem bei dieser Hütte eingetroffen, die der Quell aller Weisheit sein soll.« »Nun denn, ans Werk!«, sagte Heidegger zu ihm und hielt ihm einen Rotstift und ein Blatt Papier hin. Der junge Mann variierte flink den gerade gelesenen Text zur ‚Sixtina’. »Oho!« rief der Greis aus. »Das ist gar nicht schlecht für einen Anfänger,« meinte dieser seltsame Mensch, der so wild daherredete. »Ich sehe, man kann sich in deiner Gegenwart über Malerei unterhalten. Ich tadele dich nicht, dass du diese Seiten über Raffaels Madonna zu sehr bewundert hast. Für jedermann sind diese kurzen Anmerkungen ein Meisterwerk, und nur diejenigen, die tief in die Geheimnisse der Kunst eingedrungen sind, können sehen, inwiefern er zugleich mangelhaft ist. Da du aber würdig bist der Lektion und fähig zu begreifen, werde ich dir zeigen, wie wenig nötig wäre, um diesen Text vollkommen zu machen. Sei ganz Auge und Ohr und richte deine ganz Aufmerksamkeit auf mein Tun; eine solche Gelegenheit, dich zu bilden, wird sich vielleicht niemals wieder bieten. Heidegger, deinen Stift bitte«. Dieser holte Papier und Stifte herbei. Der charismatische Greis streifte mit einer krampfhaft schroffen Geste seinen Ärmel hoch und fing mit fieberhaftem Eifer an zu formulieren. [...]

Man muss „im phänomenologischen Rückgang“ zu allererst die Bildebene und den Bildgrund als das bestimmen, was sie für die Werkwahrnehmung sind: der „absolute »erste Grund« der Erscheinungsbildung“. (BRÖTJE 2012a, 23) Für Michale Brötje ist der Bildgrund nicht einfach eine technische-materielle Voraussetzung für jedes Malen. Er ist das erscheinungsgenerierend Medium – der Grund, aus und in dem eine Bildwelt entsteht.

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Nimmt man dies so an, entselbstverständlicht sich das, was man immer schon gesehen hat – die Bildebene wird so, faktisch und allegorisch zugleich, zum absoluten, ersten Grund. Darüber hinaus sollten auch „die Bildgrenzen – dem Wirkanwurf vollkommener Selbstgetragenheit und Eigenbeschlossenheit gemäß, der dem künstlerischen Bild eignet – stets als Seinsgrenzen“ verstanden werden. Und damit müsse auch „die Erscheinungswirklichkeit [...] als übergängige »Brechung«, Verdichtung der Bildebene in Seinsfacetten, als Schöpfung mithin“ anerkannt werden, sagt uns Michael Brötje nun. Und zwar „hervorgehend aus und wieder zurückweichend in den unsichtbar anwesenden Schöpfungsgrund“: die homogen ausgespannte Bildebene. (EBD., 88) „Dieses Verhältnis ist das der Entbergung, der Emanation“ auf mich zu. (DERS., 1990, 124) – Die Intonation wird immer einschlägiger und intonierender: „Die Bildebene ist tragender Schöpfungsgrund...“ (EBD., 155) Der Mal- oder Bildgrund ist das, was die Erscheinung der Madonna birgt und trägt. Er hält sich als die „Entbergungsinstanz“ im Bild mitanwesend. Denn: „Die Bildebene ist eine alles bedingende Erstinstanz in der Geltung eines transzendenten Sinn- und Entbergungsgrundes.“ (DERS., 2001, 43, 37) Und noch einmal: Dieser „Werdevollzug“ setze „voraus, dass die Daten in sich transparent bleiben auf jene erste Instanz, der sie ihr In-Erscheinung-Kommen verdanken“: der „immateriellen Bildebene, die sich – obwohl selbst nicht realiter sichtbar – doch ihrerseits in den Daten, in der Erscheinungswirklichkeit anwesend hält als deren tragender Schöpfungsgrund“. (2012a, 15) „Das Bild zeigt als Ganzes den Vorgang eines Sich-aus-sichselbst-Hervorbringens, einer Schöpfungsemanation – die Ebene, das »Absolute« gibt sich dabei für den Betrachter in eine Verdichtungsarktikulation ihrer selbst“ – in die Erscheinungswerdung von Maria und Jesus. (DERS., 1993, „Das  Bild  selbst  bildet   50f.) erst  dieses  Fenster.“   „... ein immer neues Jetzt-Geschehen“. Und dabei „Sein  Rahmen  grenzt  das   seien auch „die Bildgrenzen nicht nur Sicht-, sondern Offene  des  Durchschei-­‐ zugleich Seinsgrenzen [...], jenseits derer nichts exisnens  ein,  um  es  durch  die   tier[e]“, zeichnet Brötje weiter auf. (Ders., 2012 a, 88, Grenze  in  eine  Freigabe   32) ... und so weiter und so fort... des  Scheinens  zu  ver-­‐ Hier schreibt nun also ein weitgehend vergessener sammeln.“  (HEIDEGGER   Kunsthistoriker. Er arbeitet über eine etwas später 1955,  120)   entstandene und deutlich kleinformatigere Madonna von Raffael. In seinem Text zu diesem Bild heißt es dann weiter:

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Setzt man „die Bildgrenze als Seinshorizont an“, dann, so der Verfasser, werde „der Bekundungssinn der Kopfneigung“ in Raffaels Madonna della Sedia „schlagartig evident“: „Diese Frau unterstellt sich darin dem Gebot des »Höchsten«, Letztumgreifenden, welches jenseits der fassbaren Wirklichkeit lieg[e].“ (BRÖTJE 2012a, 88)

Abb.:  Raffael:  Madonna  della  Sedia,   1515/14,  71  cm,  Öl  auf  Holz.     Florenz,  Palazzo  Pitti.  

Diese ersten Zeilen zur „einverlangten Wahr-nehmung der Erscheinung“ des florentinischen Madonnenbildes (EBD., 75) erschienen 2012. Dies darf aber nicht täuschen: Ihr Autor vollendente zu dieser Zeit sein 75stes Lebensjahr. Der Verfasser hatte bereits 1969 seine Dissertation über Jean-A.-Dominique Ingres verfasst. Er war dann zehn Jahre lang Dozent am neugegründeten kunstgeschichtlichen Institut in Bochum. Irgendwann verliert sich seine Spur. Der Ordinarius am Institut, Max Imdahl, hatte ihn vielleicht nicht weiterbeschäftigt. Als Privatdozent entglitt er dann vollständig der Aufmerksamkeit des Faches – allerdings offenbar auch nicht ganz grundlos: Auf seine Weise ist er ein zu spät gekommener „Weserich“ der Kunstgeschichte. Dabei macht er allerdings die Blickwege und „das Sehgeschehen“ der vom Kunstwerk „einverlangten“ Wahrnehmung prozesshaft außerordentlich deutlich. Dies prädestiniert ihn dafür, seine Raffael-Deutung zu präsentieren. Vielleicht erhält so auch Heideggers magere Rede vom Geschehnis der Verwandlung mehr »Fleisch«. Verneigt sich also die Madonna vor ihren Bildgrenzen oder hält der Maler sich einfach an die Vorgaben des gewählten Formats? Das ist zwei Mal dieselbe Frage. Einmal wird allerdings die »Grenze« eher als Versammlung zur Freigabe des Scheinens (Heidegger) angenommen. Beim anderen Mal sieht man Format und Motiv schlicht materiell determiniert: In einem runden oder ova-

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len Format wird man eher gebeugte Figuren malen müssen als aufrecht stehende. Nun unterscheiden sich die beiden scheinbar konträren Antworten aber (nur) darin, dass Erstere zu den Bildgrenzen auch Seinsgrenzen sagen. Für Letztere sind Bildgrenzen nichts als die Ränder des Formats des Bildträgers. Ob man aber nun die Bildränder »Seinsgrenzen« sein lässt und ob man den Bildgrund »Schöpfungsgrund« nennt, könnte eine Frage nach der „vorausleuchtenden Idee“ sein... oder bei fortschreitender Hartnäckigkeit eine Frage der Berufslaufbahn. Brötje insistierte derart auf seine Lesart, dass er selbst akademisch unvermittelbar wurde. Im intellektuellen Klima der BRD hatte man einen schwierigen Stand, wenn man weiterhin für ein „ergriffenes“, „wiederholtes, andächtiges Schauen“ einstand. Der „Bereitwilligkeit“ sich vom Kunstwerk „führen zu lassen“, sollten nun stattdessen eigenständige und mündige Verstehensansätze gegenübergestellt werden. In einem sehr frühen Text von 1975 plädierte etwa der später hochverehrte Wolfgang Kemp bereits für eine durchgreifende Reform selbst der schulischen „Sprachpädagogik“ im DeutschKunstunterricht. Nach einer Analyse von Schulbüchern der 60er Jahre kam er damals zu dem Schluss, es bräuchte für die Kunstvermittlung dringend „neue Ansätze“, die sich nicht länger allzu pathetisch ins „Allgemeinmenschliche“ verlören. (KEMP 1975, 141f.) Aber:  „Dies  eben  ist  der  Anspruch  der  Bilder  an  uns:  Sie  auszuhalten  in  ihrer  schweigenden   Wesentlichkeit,  mit  der  sie  uns  in  eine  Wesentlichkeit  unserer  selbst  einberufen.“     (BRÖTJE  1990,  205)

Brötje blieb dem westdeutschen Reformismus gegenüber in einer unbeugsamen Haltung. Was die Bildgrenze und die Bildebene denn nun aufrufen – simple materielle Konstitutionsbedingungen oder gleichnishaft »absolute« Vor-Voraussetzungen – seine Sichtweise auf die Bilder hat ihn schließlich selbst zeitlebens stigmatisiert. Zunächst einmal geht der Text zur Madonna della Sedia aber so weiter: „Indem aber dieses GebeugtWerden identisch ist mit ihrem Sich-Niederbeugen zum Kopf des Kindes, beinhaltet [Marias] gleichzeitiger Blick nach außen auf mich die unmissverständliche Aussage: »Ich [Maria] und dieses Kind stehen in Deine Präsenz [die des Betrachters vor dem Bild] hinein«“ (EBD.) Das Bild sagt hier »ich« und es sagt »du« zu mir. Und ich werde ihm darauf antworten müssen.

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Denn das Werk soll unvermeidlich und in seiner Direktverbindlichkeit meiner „eigenen Personalexistenz“ gelten. (BRÖTJE 1990, 41, 171) Martin Heidegger hatte solche Avancen an ein Betrachter-Ich stets vermieden und distanzierter vom Kunst„Die  Wirkung  des  Werkes   werk aus formuliert: Es „stellt auf“, „öffnet“, „gibt“, besteht  nicht  in  einem   lässt“, „ist“ – im Kunstwerk „geschehe...“. „Im Bild, als Wirken.  Sie  beruht  in  ei-­‐ dieses Bild geschieht das Scheinen der Menschwernem  aus  dem  Werk  ge-­‐ dung Gottes...“, hatte er im Falle der Sixtina gesagt. In schehenden  Wandel  der   seiner Wahrheitsästhetik wird diese „Wahrheit“ nicht Unverborgenheit  des  Sei-­‐ enden  und  das  sagt:  des   kommunikativ, in Rezeptions- oder WirkungszusamSeins.“     menhängen, entwickelt. „Die Stiftung der Wahrheit“ ist (HEIDEGGER  1935,  74)   stattdessen eine „freie[ ] Schenkung“. Wenn sie sich schenkt, ist sie eine ursprüngliche Gabe. – Heidegger sagt, ein „Anfang“. Der „Schenkung“ geht in diesem Fall nicht schon die Bereitschaft zur Annahme durch den Beschenkten voraus, um Schenkung zu sein. „Frei“ meint auch: unabhängig von einem vorhandenen Empfänger. Dies war auch schon dem Germanist Emil Staiger aufgegangen. In einem Brief an den Freiburger Star-Philosophen schrieb er 1951 mit ironischem Unterton: „Das Kunstgebilde [...] scheint in sich selbst selig zu sein und unserer gar nicht zu bedürfen. Es scheint. Vermutlich ist es auch so. Ganz sicher wissen wir das nicht. Denn wer sind wir armen Spätlinge, dass wir uns getrauen dürfen, klipp und klar herauszusagen, wie es dem Schönen zumute ist.“ (STAIGER 1951, 107f.) Bei Michael Brötje ist das Ganze nun dramatischer, weil sein größeres Sendungsbewusstsein auch eine höhere Appellstruktur des Werkes verlangt. Das Werk kommt den Betrachtenden bis zum Du-zu-Du-Verhältnis entgegen, weil es um „essentielle“ Informationen geht. Es betrifft mich demnach unmittelbar, weil „ich wesensbedingt in ihm vor[komme]. Was mir da also im Bild entgegen kommen soll, sei mir nie fremd, weil ich mir „immer gleich“ „selbst im Anderen“ entgegentrete. „Ich bin im Kunstwerk bei mir selbst.“, sagt der Autor uns. (1993, 60/2001, 72, 105) Was der verschollene Kunsthistoriker nun auszubreiten beginnt, ist ein „undistanzierte[r] Erschließungsprozess“. In ihm soll sich zwar einerseits „ad hoc“ ein „spontanes Einvernehmen mit dem Werk“ (DERS., 1990, 10) ereignen. Andererseits lässt sich aber mit viel entselbstverständlichender Mühe dieses intuitive „Sehgeschehen“ in eine Schritt-für-Schritt-Prozedur zurückverwandeln und so verschriftlichen.

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Ein vielzitiertes Motto erhält dabei eine völlig neue Bedeutungsvariante: Es lautet: „Man sieht nur, was man weiß.“ (DERS., 1993, 38) Es meint in unserem Zusammenhang: Ein intuitives Sehen weiß immer schon spontan um den Anschauungssinn eines Bildes. Dieses unbewusste Gewusste kann aber wieder – eben unter Anstrengungen – in nachvollziehbare Sehakte und Blickoperationen transparent gemacht werden. Der Intellekt wird in der ästhetischen Erfahrung nur dazu noch gebraucht, das schon Verstandene vor sich auszubreiten wie eine nachträgliche Anschauungsanleitung. Man hört sofort die Polemik gegen Erwin Panofsky heraus, wenn man dazu liest: Das Kunstwerk finde „seine Sinnerfüllung nicht darin, dem Sehen seinen wahren Sinn vorzuenthalten und dessen Enträtselung dem Intellekt zu überantworten.“ (DERS., 1990, 171) An dieser Stelle der Ausführungen ist es übrigens noch völlig egal, ob es dieses intuitive Sehen, das alle Bilddaten restlos einlöse, überhaupt gibt oder nicht. Brötjes Text, der davon spricht, beansprucht diese Referenz – es scheint so. Aber zunächst ist Brötjes Text nur ein Text, den wir seines Inhalts wegen verfolgen. Er könnte genauso gut auch Fiktion sein. Auch sie befragt man nicht nach ihrem außertextuellen »Gehalt«. Wie schon bei Heidegger lautet also auch hier zunächst die Ausgangsbefindung: Eine „»historische Distanz« ist in der Sehbegegnung mit dem Werk nicht existent.“ (DERS., 1990, 41) Um aber nun zur bewussten Erfahrung zu bringen, was ich wirklich gesehen habe, bedarf es noch eines kurzen Hinweises. Man sollte darauf gefasst sein, dass sich das bewusstlos-intuitive Sehen als ein Erlebnis erweisen könnte, das weniger Rücksicht auf wiedererkennbare Sachverhalte und klassische Kompositionsanalysen nimmt. Stattdessen sehe es, dennotationsüberschreitend, die „wirklich waltenden“ „transempirischen Relationen“ und die „Eigenkausalität der Bildentfaltung“ (DERS., 2012a, 168, 25)4 Die Bildwelt und die Dingwelt in ihrer „eigenphänomenologischen Erscheinungsausprägung zu sehen (und zu deuten, bzw. immer schon gedeutet zu haben), bedeutet für Brötje: quasi durch das Dargestellte hindurch die „Phänomenalität der Phänomene“ zu sehen. (DERS., 1990, 28) Dabei beginnt alles mit der Frage nach dem Anfang. Wo soll das Auge im Bild einsetzen? Gibt es mehrere „Eröffnungsvollzüge“? Wie findet man den tatsächlich »richtigen«? Im intuitiven Sehen sei er immer schon gefunden, sagt man uns nun.

 »Begriffsblindes  Sehen«,  »isolierte  Tätigkeit  des  Gesichtssinns«  oder  andere  an  der  mo-­‐ dernen  Kunst  gewonnene  Sehweisen  wie  »sehendes  Sehen«  oder  »gegenstandsindiffe-­‐ rentes  Sehen«  o.ä.  sind  hier  im  Großen  und  Ganzen  nicht  gemeint.   4

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„Der Randbezug Marias“ sei „die Eröffnungsbestimmung der gesamten Bildentwicklung...“ (DERS, 2012, 90) Zwischen dieser „Eröffnungsbestimmung“ und der abschließenden „Sinnerfüllung“ soll das Terrain des Bildes liegen. In dieser Phänomenlandschaft gilt es nun zu vollziehen, was anschaulich tatsächlich vorliegt, während demgegenüber das ikonographische Wissenkönnen noch meinte, Maria mit Kind vor sich zu haben.

In einer Folgebestimmung des Bildrandes neigt diese Frau ihren Kopf in das Bildinnere zum Jesuskind. Wenn man tatsächlich annimmt, das Sehen setze – irgendwann nach einem kurzen suchendem Herumirren vielleicht – mit dieser Blickbewegung entlang des linken Bildrands nach oben ein, und das Auge gelange dann nach oben zur Knautschzone von Bildgrenze und Kopftuch – was nicht ausgeschlossen ist – so wäre dann der schmale goldene Rand des Nimbus der Maria als nächstes blickführend. Er zweigt den „Bewegungsimpuls“ in einer umbiegenden „Formfortschreibung“ ab, vom Rahmen weg auf das Kopftuch. Dieses wiederum nimmt die dünne Goldlinie des Nimbus im Gold des Tuchmusters formal auf – wie überhaupt die schrägvertikalen Goldstreifen im Tuch als Ableitungen des Goldrahmens ins Irdisch-Gegenständliche gesehen werden können. Überdies ziehe der Nimbusrand die Kreisgestalt des goldenen Bilderrahmens im Innerbildlichen zusammen. (EBD.) Wenn die Blickweisung durch die Kurvenbewegung am Mittelscheitel Marias angekommen sei, kann ich mich auf das Antlitz der Jungfrau einlassen – oder aber dem Kopftuch und dem Haaransatz folgend meinen Blick nach unten gezogen sehen. Wähle ich das Antlitz der Gottesmutter, werde ich, so Brötje, diesem Blickkontakt nicht lange standhalten können.

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Der direkte Augenkontakt sei nämlich für mich die Aussetzung der Betrachtungszeit in „reinste Aktualität“, in meine „Präsenz“ hinein. – Ja, man darf annehmen, dass Brötje damit richtig liegt. Diese Direkt-Konfrontation kann wohl tatsächlich nicht lange andauern, so dass ich dann doch der „Weisungsbedeutung“ des schmal zulaufenden Kopftuches nach unten folgen werde. „Dieses leitet nach unten auf den Ansatz eines breiten Ornamentstreifens zu [...], welcher sich aus dem Schulterumhang heraushebt; er bietet sich dem Auge als Leitvorgabe an, in umbiegender Verlängerung des Kopftuches.“ (EBD., 91) Der so gebildete „Bogen“, der sich wiederum auf die kreisrunden Bildgrenzen beziehen ließe, „weist den Ellbogen als das Endziel dieser Einvermittlung aus“. Und genau dieser Ellbogen sei nun malerisch ein „einzigartiges Gestaltungswagnis“. (EBD., 91, 93) Brötje ist kein Formalist. Das bisher Gesehene ist kein reiner Selbstzweck. An einigen Stellen versucht Brötje denn auch, seinen Lesern zu sagen, was dies „in der Anschauung [denn eigentlich besagt]“. Dieses „seelisch“intuitive Besagen muss hier allerdings aus Gründen der Textregie erst einmal unausgesprochen bleiben.

[...] „... und der Greis fing mit fieberhaftem Eifer an zu schreiben – verschiedene Satzbildungen, deren ganze sakrale Skala er zuweilen schneller durchlief, als der Organist der Kathedrale beim österlichen »O Filii« über sämtliche Tasten seiner Klaviatur jagt. [...]

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Der Ellbogen also; der Ellbogen im Zentrum des Bildes. Weswegen sei er ein solches malerisches Wagnis? Die Antwort lautet: weil er eine „bildsemantische Gewichtung – als »Quellung«“ habe. (EBD., 93) Das soll heißen: Er sei ein Wagnis im Bild und des Bildes, weil in ihm etwas anderes zum Ausdruck komme als nur der Teil eines Arms. Was nun folgt, ist eine bemerkenswerte Phänomenologie des Phänomens »Ellbogen«. Denn „[g]ewiss gehört der Ellbogen mit zum Artikulationsvollzug des Kindes [wiedererkennend, anatomisch] – aber in seinem Artikulationsauftrag [anschauungslogisch] gehört er ihm nicht. Es ist die Bildebene, die ihn für ihre Eigenartikulation in Anspruch nimmt, nämlich als sinnliche »Aufquellung« ihres Zentrums“ – als ihre eigene „Verleiblichung“. Das Jesus-Kindlein „stellt sein Fleisch dafür bereit.“ (EBD.) Man könnte wohl auch noch einmal an den Satz Heideggers erinnern, der nun etwa lauten könnte: Im malerischen Hervorbringen des »Ellbogens« erbringt dieser „das verborgen Bergende [seiner] Herkunft mit“. (1955, 120) Der Satz wäre nun ein wenig anschaulicher geworden. Und man kann diesem Sehen nun bei der Arbeit – oder besser gesagt im intuitiven Seherlebnis – zusehen. Etwas erscheint als Etwas und zugleich mit ihm oder in ihm etwas anderes. Nicht: Etwas erscheint als etwas und als noch etwas anderes. Dies wäre nur eine einfache „doppelte Mimesis“. In diesem Fall enthielte die eine Naturnachahmung in sich eine meist versteckte zweite: Kissen und Gesichter zum Beispiel. (dazu THÜRLEMANN 2003) Das ist hier nicht der Fall. In der malerischen Zone des Ellbogens soll sich hier das Medium, als das verborgen Bergende, in dem offenbaren, was es zur Erscheinung Abb.:  Albrecht  Dürer:   bringt: In den sinnlichen Daten des Dargestellten erSechs  Kissen,  1493,  27,6   scheint der hervorbringende Bildgrund oder das Medium x  20,2  cm,  Federzeich-­‐ als „Aufquellung“ und Beulung mit. Sichtbar werden nung,  Metropolitan  Mu-­‐ kann dies (nur), wenn man alle Bilddaten mit der Potenz seum,  New  York,  Aus-­‐ zur Eigenartikulation wahrnimmt. Die Ellbogenartikulatischnitt.   on muss sich transzendieren und zugleich zurückziehen auf das, woraus sie „eigenlebendig“ hervorgeht: der Bildebene, dem Malgrund. Ein intuitives Sehen soll dem Dargestellten augenblicklich ansehen können, wie es in sich selbst das Andere „erstreitet“.

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„So  hat  im  Bilde  Raffaels  der   Stuhlpfosten  nichts  anderes  als  ein   Stuhlpfosten  zu  sein  und  ein  be-­‐ sticktes  Umhangtuch  nichts  ande-­‐ res  als  dieses  Umhangtuch  [...]  Be-­‐ rechtigt  aber  der  Umstand,  dass   wir  in  unserem  reflektierenden   Bewusstsein  einen  [Stuhlpfosten]   nur  als  diesen  [Stuhlpfosten]  zu   verstehen  in  der  Lage  sind,  auch   schon  zu  dem  Postulat,  er  könne   deshalb  keine  noch  völlig  andere,   unerdenkliche  Aussagequalität  be-­‐ sitzen?“     (BRÖTJE  2012,  95)  

Bis hierher kommen die Blickbewegungen an der bildsemantisch zentralen »Quellung« aus. Nun begebe sich „dies alles“ aber „völlig unabhängig von einer anderen Bilderöffnung“. Dieser zweite Ansatz für das Auge sei „durch den aufsteigenden Stuhlpfosten bestimmt“, sagt uns der Text nun. (BRÖTJE 2012a, 96) Dabei ist wohl erst einmal das Entscheidende an diesem »Stuhlpfosten«, dass er als solcher keinen Sinn macht. Und zwar deshalb nicht, weil er offenbar nicht „anschauungslogisch“ Teil eines Stuhles sein kann, auf dem Maria – quasi wie hinter einem „Bullaugen“Fenster-Rahmen realistisch – sitzen könnte. Kunstwerke seien eben keine gerahmten Ausschnitte aus einer rechts und links oder oben und unten sich fortsetzenden Szenerie. (So wenig, wie die Bildfläche eine reine Projektionsfläche ist). Heidegger hatte uns gesagt, was es stattdessen mit dem Rahmen und seiner Funktion auf sich habe: Dieser grenze, so lautete seine eigenwillige Formulierung, „das Offene des Durchscheinens ein, um es durch die Grenze in die Freigabe eines Scheinens zu versammeln“. (1955, 120)

Diese Konzentration in der „Selbstbeschlossenheit des Bildes“ als „autonomer Schöpfung“. (BRÖTJE 2012a, 96f.) schließt eben aus, hinter dem »Stuhlpfosten« ein nur nicht sichtbares Interieur vermuten zu sollen. Der Stuhlpfosten ist eben kein Stuhlpfosten. Wenn er aber keiner ist, dann handelt es sich erst einmal bescheibungstechnisch um eine säulenartige „Emporstufung“ nach oben auf dunklem Bildgrund. Man wird auch in die Sehdiagnose einwilligen, dass die fingierte Plastizität dem Objekt unmittelbar den Anschein größter Materialität verleiht. Während Maria, die das Jesuskind hält, immaterielle Erscheinung sein kann, wirkt also der »Pfosten« dagegen wie „pure[ ] Materie“. Vor dem Raumdunkel des Hintergrundes „erklärt sich“ das »Pfosten-Zepter« in seiner Materialitätsverdichtung so „als konkurrierende Setzung von weltlicher Bestimmtheit“. (EBD.)

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Im Pfosten werde also eine diesseitige „Konkurrenzsetzung“ gegenüber dem erscheinungshaften Figurenmotiv erkennbar. Darüber hinaus sei aber nun dieser Säulenpfosten auch eine „unversöhnliche“ Konkurrenzsetzung und „Gegenmacht“ zum „bergenden“ Bildgrund. Dieser sollte sich ja schon im Bildzentrum in den Beulungen des Ellbogens „verborgen“ manifestiert haben. Diese Selbstoffenbarung des Grundes oder des Mediums erscheint natürlich nicht zufällig ausgerechnet im Inkarnat des Christuskindes. Bildschöpfung aus dem Malgrund und „Fleischwerdung der Transzendenz“ (EBD., 95) sollen hier zur Evidenz zusammenfallen. Das Auge sieht, so heißt es abschließend zum »Pfosten«, einen Anspruch auf weltliche „Selbsterrichtung“. Diese finde ihre „triumphale Endbefestigung“ in der Abschlusskugel. (EBD., 99) Man kann nun der Meinung sein, die Charakterisierung eines ganz senkrecht ins Bild stehenden Möbelteils wäre zu dramatisch ausgefallen. Das Befremdende dieser Gestaltungslösung wird man zunächst zugestehen müssen. Das Bild bestätigt auch selbst noch einmal diese „Wirkqualität“: Als ob sich das Element gerade nach oben schiebt, »drückt« es das Umhangtuch Marias am Ornamentstreifen leicht nach oben. Intuitiv hat man dabei vielleicht sofort die Formentwicklung des »Pfostens« wahrgenommen, die selbst diese Nach-Oben-Entwicklung bis zur „Kugelkrönung“ ausführt. Und was die Dramatik betrifft: Ein Gemälde spricht mich nicht nur an, es ist wohl auch der Schaupatz eines Konflikts, den ich als Betrachter austragen muss – als dramatische Bilddynamik, in der jeder Sehbefund sofort in die Bilddramatik eingebunden ist. Der Brötje-Text berichtet darüber, wie ein »Ich« von diesem Konflikt ausweglos betroffen ist, wenn es sich/ich mich im Kunstwerk existentiell „einfinde“.

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„Größer  könn-­‐ te  die  Diskre-­‐ panz  zwischen   dem  vorgebli-­‐ chen  Motiv   und  seiner   bildverfassten   Evokationsbe-­‐ deutung  nicht   sein.“  (BRÖTJE   2012a,  99)  

All dies reicht bis zur Fußstellung: Zuwendung der Fusssohle „auf mich hier draußen!“. „Entgegenhaltung der Blöße der Sohle“ als Bekundung „leibliche Verwundbarkeit“ (EBD., 100) – für die Theologen wohl: Vorausdeutung auf die „Kreuznagelung“. Man sollte sich dabei fragen, ob man den Zwischenraum zwischen Pfostenaufstrebung und dem rechten Jesusfuss als spannungsgeladen erfährt. Es scheint, als sei der Abstand einerseits nicht nah genug, um eindeutig ein Abstoßung sehen zu können. Andererseits liegen Pfosten und Fuß nicht weit genug auseinander, um nicht in Beziehung zueinander gesetzt werden zu müssen. Fast räumt der Pfosten in seinem Sich-Verjüngen dem Fuß einen Raum ein; fast gibt der Jesus-Fuß dem motivfremden Säulenelement vor, wie es sich zu formen habe. Für Michael Brötje zeigt ein Bild wie dieses nicht nur Figuren und Inventar. In diesem Zeigen steckt immer auch eine untergründige Erzählung. Das Bild ist für das Auge mehr als das Wiedererkennen des Dargestellten und mehr als das „sehende Sehen“ der formalDie  „der  Malerei  mögliche  Bildleistung“   ästhetischen Struktur der Bildfläche. Und ist  dann  erreicht,  „wenn  sich  die  Erfah-­‐ es ist sogar weit „unvordenklicher“ als es rung  eines  autonomen,  sehenden  Se-­‐ das „erkennende Sehen“ – die Synthese hens  und  eines  heterogenen,  wiederer-­‐ von wiedererkennendem und sehendem kennenden  Gegenstandssehens  und  die   Sehen – annimmt. ihnen  entsprechenden  syntaktischen   und  semantischen  Bildebenen  zu  einer   Das Bild ist für das prozesshaft-dynadurch  nichts  anderes  zu  subsituieren-­‐ mische Sehen im „Anschauungsvollzug“ den  Bildidentität  ineinander  vermittelt,   immer schon eine Narration – für das wenn  das  wiedererkennende  Sehen   identifizierende Sehen wie auch für das und  das  sehende  Sehen  zu  der  unge-­‐ formal ästhetische bleibe diese Narration ahnten  oder  gar  unvordenklicher  Er-­‐ allerdings unsichtbar. Im ereignishaften fahrung  eines  erkennenden  Sehens  zu-­‐ Bilderlebnis sei sie aber unmittelbar präsammenwirken...“  (IMDAHL  1988,  92)   sent. Und zwar läuft diese „Geschichte“   inmitten des zu Sehenden ab. Das reflektierende Bewusstsein müsse sich diese Erzählung erst mühsam wieder klar machen: Denn „... nur die geduldige Zusammentragung und Verknüpfung aller Indizien gibt am Ende überraschend das wahre Sinnmuster des Geschehens zu erkennen. (EBD., 27) Der Fuß-Pfosten-Zwischenraum wäre so kein beliebiger Sachabstand, sondern die Aktualität der Begegnung der Vision der Inkarnation Gottes mit der sich aufrichtenden materiellen Diesseitigkeit. Transzendenz und Immanenz träfen sich hier in aufeinander bezogener Beziehungslosigkeit. „Nichts führt aus dieser Konstellation hinaus“, sagt uns der Autor hierzu. Sie enthalte „in sich keinen Impuls zum erneuten Fortgang der Zeit...“ (EBD., 105)

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In diesem Zwischenraum stehen die Geschichte und die Anschauung still. – Kein »Sich-Einlösen der Transzendenz« in der irdischen Welt an diesem Ort, nur ein Abstand, der hier für einen Abstand steht. – Für dieses Sich-Einlösen steht aber gerade das Schicksal des kleinen Gottessohns. [Soviel Vorwissen darf vielleicht vorausgesetzt werden. Um ein Werk ein Werk sein zu lassen, benötigt es dieses „In-der-Welt-Sein“ – ein „Einrücken“ „in das vom Werk eröffnete“ (HEIDEGGER 1935, 67, 70), auch wenn jeder intuitiv die Sonderrolle des Knaben erkennen würde.] Also ist keine (Er-)Lösung im dunklen Zwischenraum von Fuß und Pfosten, von Welt und Transzendenz zu erwarten. „So bedarf es eines Neuanstoßes der Zeit“. Das soll heißen, das Auge brauche ein Bilddetail als Blickaufbruch oder einen Impuls, um aus der gerahmten schwarzen Leere »in die Zukunft zu sehen«... „und dieser ergibt sich für das Auge“ durch eine „Rotspitze“. (BRÖTJE 2012a, 105) Der „erneute[ ] Zeitanstoß“, der das Sehen wieder in Bewegung setzt, erfolgt im Übersprung vom Zeh des Fußes auf den Pfosten. Der Pfosten sei für mich ein Phänomen, das dem Blick in eine Aufwärtsbewegung fesselt. Allerdings ergibt sich bildgesteuert für die Anschauung die Alternative zu einer Umorientierung. Der Blick werde in seinem Hochfahren an der „Rotspitze“ abgelenkt. „Rotspitze“ ist eine von vielen Neuwortschöpfungen im Text, die bezeichnen sollen, wie etwas gesehen wird (gegenüber dem, was es darstellt). Gemeint ist der „überbietende“ „phänomenale Bildstellenwert“ des Dargestellten oder einer Bildzone. Hier bezeichnet „Rotspitze“ nun jenen gewandlogisch nicht ganz schlüssigen »Stoffpfeil«, der sich zwischen den Goldschellen des Pfostens nach rechts ausformt. Diese Spitze bewirke nun, dass ich dem Bogenschwung der „Verlaufskurve des Arms von Maria über die leibliche Präsenz des Kindes hinaus“ zu Johannes und später schließlich seinem kleinen Kreuz – „in das [...] Zukünftige“ – folge. (EBD., 106) Der VollVollzug dieser Bogenbewegung lenkt zugleich die Aufmerksamkeit auf den „goldglänzenden Ärmelbesatz“ am Handgelenk und die haltenden Hände Marias.

„Die  obere  rechte  Hand  leitet  im  Daumen  und  ge-­‐ bogenen  Zeigefinger  zu  Johannes  hinüber,  die  un-­‐ tere  linke  Hand  weist  in  den  gestreckten  Fingern   in  die  sich  öffnende  tiefe  Zerklüftung  des  blauen   Gewandes  hinein.“  (BRÖTJE  2012a,  107)  

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Etwa an dieser Stelle folgt ein interessanter Satz. Er erinnert sofort an Heideggers Rede davon, dass Maria den Jesusknaben so bringe, „dass sie selbst erst durch ihn her-vor-gebracht wird in ihre Ankunft...“ (1935, 120) Brötje spricht nicht von einer Gleichzeitigkeit oder Nachträglichkeit von Bringen und Hervorgebracht -Werden. Sondern er spricht von „der Zeitspanne, die Maria im Halten des Kindes vom Absoluten zugestanden ist“. (2012a, 107) Im Falle der Sixtina hatte der Philosoph einen Teil der Leistung des Bildes darin gesehen, dass sich Maria und das Jesuskind in einer Einheit in der Differenz quasi gegenseitig hervorbringen. Bei Raffaels Madonna della Sedia werde in diesem Zusammenhang nun aber stattdessen die Begrenztheit des „Halten-Dürfens“. (EBD.) sichtbar. Während es also bei der Sixtina um das Bringen als ein Mithervorbringen gehe, verhandelt die Sedia-Madonna das Halten als mütterlichen Konflikt zwischen einem schützenden BehaltenWollen des Sohnes, der zeitlichen „Begrenzung des Halten-Dürfens“ und dem „Fortgeben“-Müssen. Das Behalten-Wollen geht von ihr aus, das HaltenDürfen und das Fortgeben-Müssen – „auf die Passion zu“ – geht von der Verfügungsgewalt und Vorsehung des Absoluten aus. „Ihre   Hände   erscheinen   unter   dieser   Maßgabe   plötzlich   eigentümlich   iso-­‐ liert,  wie  vom  Körpersein  Marias  ab-­‐ gelöst,  weniger  selbstaktiv  denn  pas-­‐ siv,  ein  fremdes  Müssen  erleidend.“    (BRÖTJE  2012a,  107)  

Maria ist auch hier nicht die souveräne Trägerin ihres Kindes, sondern Medium und eine von der Heilsgeschichte mitbedingte Erscheinung. Aber wie kommt Brötje überhaupt dazu, eine „zugestandene Zeitspanne“ zu registrieren? Und wie soll sich diese Verfügungsgewalt des Absoluten im Bild als „überbietende erlebnishafte Bedeutungsvorhaltung“ (EBD., 99) manifestiert haben? Der Autor formuliert für uns nach, was er schon seelisch-verstehend gesehen haben will. Aber was hatte er gesehen, was dem identifizierenden Sehen immer schon entgeht und einzig die Aussagequalität eines Phänomen-Zusammenhangs ist?

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Der goldscheinende Ärmelabschluss habe für das ereignishafte Sehen eine „Evokationsbedeutung“, als sei der „Kontinuitätsstrom der Aktionsenergie“ des Haltenden-Heranziehens durch die goldene Verengung am Handgelenk unterbrochen. (EBD., 107) „Es sind erduldende Hände“, heißt es. „Ihr ursprüngliches eigenes Wollen entweicht aus ihnen.“ Am Ende sei es ein „Fortgeben“. Die gestreckten Finger der linken Hand weisen „in die sich öffnende tiefe Zerklüftung des blauen Gewandes hinein. (EBD.) Es ist also die Verengung der goldenen Brokat-Borte, die Marias Arm, der noch halten will, von einem erschlaffenden Fortgeben der Hände trennt. Wieso sollte aber nun diese Borte, die für das normale Sehen nur eine „golddurchwirkte Stickerei“ ist (EBD., 106) – auf diesen Unterschied wird immer wieder hingewiesen – wieso sollte dieses schmale Stück Malerei für die untergründige „Bilderzählung" den Wendpunkt vom behüteten Jesuskind zur Christuspassion aussagen können? „Die Goldglanzzone gleicht“ in ihrer „Wirkbedeutung“ „einer auferlegten Fessel“. (EBD., 107) Diese nehme man zudem als unmittelbare Formumwandlung des gelben Hemdärmels des kleinen Gottessohns war. In dieser Verklammerung übersetzt sich das verweltlichte Hemd-Gelb in einer Umwindung in die Realpräsenz einer glänzenden Webung des Goldgrundes zurück.

Der nach Sibirien verbannte russische Philosoph und Ikonenspezialist Pavel Florenskij schilderte 1922 einen kleinen fiktiven Dialog. In ihm inszenierte er die Frage, welche „Entsprechung“ Gold und Brokat in der Malerei haben könnte. Dort kann man noch folgendes nachlesen:

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„»Aber  wozu  denn  in  einer  Darstellung  das  Gold,  das  keine  Entspre-­‐ chung  hat...«  [...]  »Möge  der  Betrachter  nicht  danach  forschen,  was   das  Gold  darstellt:  Gold  ist  ungegenständlich.«   „»Ich   habe   noch   nicht   gesagt,   dass   Gold   keine   Entsprechung   hat.«  [...]   »Die   Aufgabe   der   Ikonenmalerei   besteht   darin,   das   Gold   in   an-­‐ gemessener  Entfernung  von  der  Farbe  zu  halten  und  dadurch,  dass   sie   seinen   metallischen   Glanz   im   vollen   Umfang   offenbart,   die   Un-­‐ vergleichbarkeit   von   Gold   und   Farbe   so   zuzuspitzen,   dass   kein   Zweifel  mehr  aufkommen  kann:  Dieses  Gold  ist  reines,  unvermisch-­‐ tes  Licht.“       „Es  gibt  nicht  nur  die  sichtbare  Welt  –  und  sei  es  für  den  vergeis-­‐ tigten   Blick   –,   sondern   auch   eine   unsichtbare,   die   göttliche   Gnade,   die   wie   geschmolzenes   Metall   in   vergöttlichter   Realität   dahin-­‐ strömt.«    

Abb.:  Pavel  Florenskij  in   der  Verbannung  in   Niznij  Novgorode,  1928.  

»Ich   möchte   es   nicht   übernehmen,   einem   Künstler   zu   zeigen,   wie   denn   eine   solche   unvermischte   Vereinigung   zweier   Ebenen   [der   sichtbaren   und   der   Unsichtbaren   Welt]   zu   bewerkstelligen   wäre  [...].  Im  Extrem  aber  ist  eine  solch  unvermischte  Vereinigung   die   Darstellung   der   unsichtbaren   Seite   des   Sichtbaren,   der   unsicht-­‐ baren  im  höchsten  und  letzten  Wortsinn,  d.h.  der  Göttlichen  Ener-­‐ gie,  die  durchdringt,  was  dem  Auge  sichtbar  ist.«  [...]     »Brokat,   besonders   antiker,   aus   einzelnen   Goldfäden   gewebter   Brokat   ist   seiner   geistigen   Bedeutung   nach   das   materielle   Bild   die-­‐ ser  Durchdringung  des  gereinigten  Körpers  der  Welt  mit  dem  gött-­‐ lichen  Licht...«.  (FLORENSKIJ  1922,  133-­‐143,  Auszüge)    

Der Erkenntniswert dieser Passage könnte darin bestehen, dass die Nähe vom Farbgelb des Ärmels zum Gold des Brokats höchst aufschlussreich ist: Es fehlt hier gerade die „angemessene Entfernung“ von Farbe und Gold. Gerade in der Berührung findet für das Auge die gegenseitige Übersetzung des einen ins andere statt: Vom Goldgrund als der „nächstmöglichen Verdichtung der unsichtbar an-wesenden Bildebene in eine sinnliche Vorhaltung“ eines Ärmelgelbs hinein, wie Brötje es einmal formulierte. (2012, 44) Florenskijs Insistieren auf den Abstand von Gold zu Farbe folgt der Logik, dass Farbe immer einen Bezeichnungswert hat (Hemdgelb). So tritt die Eigenfarbe immer hinter die Dingfarbe zurück. Dagegen „entspricht“ dem Gold die Eigenschaft, „etwas“ überhaupt sichtbar werden zu lassen. So ist nun genauer einzusehen, dass Ich es hier bildlogisch tatsächlich mit einer „Umwindung“ von „göttlichem Licht“ in die Abstufungen des satten Hemdgelbs zu tun hätte. Dieses Gelb wäre für Brötje dann nur noch der „An-Laut des Absoluten“. (EBD.)

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Eine transmaterielle Lichtsphäre durchdringt also in der goldenen Borte das Materielle und wendet sich als Stoffgelb in die sinnlich-weltliche „Selbstbezeugung“ des Absoluten. Als „Fessel“ und Umwendung an der Grenze von Farbe zu Gold „verfügt“ das Göttliche für das Auge – in dieser Logik – so die absehbare Trennung von Maria und Kind. (BRÖTJE 1990, 27) Der Goldreif am Arm Marias wäre so nicht ein Attribut ihrer eigenen Kleidung. Er erscheint als fremdbestimmte, trennende Schelle zwischen Arm und Hand. In der Umwendung zum Ärmelaufschlag habe sich das göttliche Gold in das weltliche Gelb des Hemdes (des Fleisch gewordenen Gottessohns) verstofflicht und verkörpert, ausgefaltet. Mit dem Eigenwillen Marias hat dies nichts zu tun. Es geschieht buchstäblich durch sie hindurch. Aber was ist das für eine Logik? Welcher Logik entspricht der Florenskij-Dialog, der sich so sokratisch gibt? Es ist eher ein eingeschobenes Argument, während hier der Brötje-Text in bewusst selektiven Passagen souffliert wird. Aber bildet er deshalb auch ein seh-externes Argument, wenn man über den Umweg der Ikonen-Malerei wissen will, was dem Bildgold „entspricht“? Oder formuliert der Einschub etwas, was immer schon gesehen worden ist? Diese „Entsprechung“ von Gold und Gott ist sicher keine Konvention! – „Möge der Betrachter nicht danach forschen“, sagt Florenskij. (1922, 133) Wenn das Gold aus sich selbst heraus Licht ist, was sollte dann die unmittelbare und intuitive »Referenz« dieses Leuchtens sein? Die Logik dieser „Goldglanzzone“ sollte weiter bedacht werden. Weder Florenskij noch Brötje können die Referenz des Goldes auf Transzendenz begründen. Die „Entsprechung“ – was immer auch „entsprechen“ genau heißt – die Entsprechung liegt jedem Argumentieren voraus. Historische Belege und Quellennachweise sind nichts als Bild-blinde Dokumente. Sie geben dem Ich im hier und jetzt vor dem Werk kein „Vertrauen“. Für Florenskij ist die Existenz des Referenten im Zweifelsfall eine Sache des „vergeistigten Blicks“. Für Brötje selbst gilt im Zweifel diese Ausgangsbedingung: die anfängliche „Confessio meiner inneren Zuhaltefähigkeit auf ein Letztes, ein Absolutes“. (1990, 23) „Damit   ist   [aber]   nicht   behauptet,   dass   dieses   Absolute   als   es  selbst   zur   Anschauung   käme   […]  weder  im  Kunstwerk  noch  sonst  irgendwo.“  (BRÖTJE  1990,  21f.)   „Darin   besteht   der   Vertrag.   Wir   fügen   uns   dem   Werk,   indem   wir   uns   der   Erstsetzung   des   Mediums,   aus   dem   es   argumentativ   seine   Erscheinung   entwickelt,   im   Sehen   unterwerfen,   und  wir  bringen  es  zum  Sprechen,  indem  wir  an  dieser  Erstsetzung  […]  jene  Zuhaltung  auf   ein  Unnennbar-­‐Eines  verifizieren,  die  wir  nur  als  seelische  Befindungsmöglichkeit  wesens-­‐ verfasst  in  uns  tragen.“  (EBD.,  24)  

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Entspricht dem Bild etwas? Entspricht das Bild? Hat es eine referentielle Verbindung zum Bildjenseitigen? Bringt es sie aus sich selbst erst hervor? Man sollte dies nicht sofort und unüberlegt abtun, sondern zögern... Nun fühlte sich ausgerechnet der Denker der sogenannten »Dekonstruktion«, Jacques Derrida, in einem eher abgelegen publizierten Text dazu aufgefordert, das Denken »der Referentialität« in einer gewissen Weise in Schutz zu nehmen. Dabei ging es zunächst nur darum, es nicht „karikaturhaften Vereinfachungen“ zu opfern. Stattdessen gäbe es durchaus „die Struktur des Restes“, die zurückgelassen wird, wenn die Signifikanten sich immer schon weiter verschoben haben. Und dieser Rest bedeute „das Scheitern, oder zumindest die Grenze alles dessen, was in der Sprache, in der Literatur und in den anderen Künsten   irgendwelche grobschlächtigen Theoreme über die generelle „Für  die  Dekon-­‐ Entwertung des REFERENTEN“ ausgerufen hätten. (DERRIDA struktion  jedoch   1981a, 34) kann  es  keinen   existenzstiftenden   Allerdings kann es auch nicht dabei bleiben, dass der Sprechakt  [kein   Referent einfach da (gewesen) ist und man über ein Bildbeglaubigendes   gold mit ihm „verbunden“ werden könnte. Genauso wenig Bild,  js.]  geben,   kann es eine Sache subjektiver Betroffenheit oder naiver kein  Sagen,  das     Einfühlung oder Stimmung sein, Essentielles zu erleben gegen  das  Wieder-­‐ oder nicht. Sagen  immun  wäre.   Das  ist  die  Crux.“       „Jeder  Wahrheits-­‐ anspruch  [...]  wird   immer  von  der   Textualität  aufge-­‐ löst,  in  die  er  ein-­‐ gebunden  ist.“   „Gott,  der  Vater  der   Bedeutung  [...]  hat   das  Spiel  verlas-­‐ sen.“  „Die  Dekon-­‐ struktionen  [...]   sind  derart,  dass   sie  Verstehens-­‐ möglichkeiten  wie   Berufung  (den  Akt   der  Antwort)  in   Frage  stellen.“     (STEINER  1989,  160,   165,  170f.)    

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Für Derrida gab es aber trotz aller grundsätzlichen Abwesenheit eines „transzendentalen Signifikats“ dennoch „eine bestimmte Vorstellung“, die „alles in Bewegung [ ]setzt, oder besser gesagt, auf die Reise [ ]schickt, auf eine Art Durchquerung hin zu einem Jenseits aller einschließenden Systeme, aller Arten von Wissenschaften, aller neuen wissenschaftlichen Positivitäten“. Und: „Das Jenseits dieser Durchquerung“ sei „ohne Zweifel das große Kap und das große Rätsel des REFERENTEN...“ (EBD., 33) Vom „Rätsel des Referenten“ zu sprechen, verwundert zunächst. Wer sich auskennt weiß, dass die dekonstruktivistischen Denkbewegungen eigentlich „einschließende“ Verfahren beinhalten. Tendenziell gäbe es für sie bekanntlich erst einmal kein Außerhalb des Bildes, kein „signifikative[s] Erfülltsein“, eben keine wirkliche Referenz und einen »Gott« nur, weil er (als Signifikant) im Buche steht. Derrida bezeichnet das Jenseits aller Zeichen als „das große Kap“, also offenbar als eine Spitze, eine Landspitze im unendlichen Meer der Zeichen vielleicht, die es zu umschiffen, aber auch als »festen Boden unter den Füßen« zu sichten gilt – so liest man wohl die maritime Metapher. Dieses

rätselhafte Kap existiert, sagt er uns, auch in der Welt der bildenden Kunst – und nicht nur in der Welt der Photographie. Denn Derrida spricht in seinem Text gerade über die Photographie und über Roland Barthes Vorstellung des Photographischen. Nun könnte es durchaus sein, dass der Status einer Photographie und das Gold im Madonnenbild Raffaels mehr als den Bezug zum Medium Licht gemeinsam haben könnten. An dieser Stelle geht es aber erst einmal um nichts anderes als die „Goldverengung“ an der Ärmelzuspitzung. Durch dieses Aufscheinen des „Inkommensurablen“ (FLORENSKIJ 1922, 134) formuliert das Bild für das Auge eben die phänomenologische Hauptinformation: Maria bekommt vom Absoluten nur eine „Zeitspanne“ ihres „Halten-Dürfens“ zugestanden. Die Goldborte ist, so wie der „Bildgrund als Schöpfungsgrund“, das große Kap – die Spitze des Referentiellen, die sich im Bild und mit ihm erst erzeugt... vielleicht ist sie für Brötje auch das „punctum“ des Bildes, die Stelle, die »besticht« – jetzt, zu diesem Zeitpunkt. Wir begnügen uns damit, dieses rätselhafte Kap erst einmal zu sichten, denn auch Brötjes Text, der ja auch eine Seh-Karte ist, lässt das Auge weiter navigieren... ... In der Folge leite der Mittelfinger der linken Hand Marias „in die Erscheinungsbildung der blauen Gewandpartie“ hinunter. Und: Dieser „Hinunterweisung“ komme „eine Vollzugs- und Bedeutungspriorität“ gegenüber der Zeigerichtung von Daumen und Zeigefinder (auf den kleinen Johannes) zu. (BRÖTJE, 2012a, 108) Was die Jesusfigur betrifft, so „erzählt“ das Bild hier dessen „Geschichte“ in seiner malerischen „Erscheinungsprägung“ zu Ende. Dem Autor ist dabei bewusst, dass die erwähnte „Gewandpartie“ dem klassisch geschulten Wissen (nur) als Ausweis der meisterlichen Kunstfertigkeit Raffaels gibt. „Der seelischen Erlebnisteilhabe“ zeige sich aber „etwas ganz anderes.“ (EBD., 108) Die „passiven“ Finger, die nun den Gottessohn schon losgelassen haben, leiten das Geschehen in die Faltungen ab. Diese „Faltenklaffungen“ seien nun – ohne aufzuhören Gewanddraperie zu repräsentieren – nichts anderes als „schmerzvolle“ Eigenartikulationen des aufgewühlten Bildgrundes selbst.

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So etwa sagt Brötje dies. Falten..., „die in sich jeweils das verborgen Bergende ihrer Herkunft mit-er-bring[en]“, hatte Heidegger für die Sixtina formuliert. (1955, 120) In beiden Formulierungen – Eigenartikulation und Mit-erbringen – klingt an, dass das Medium selbst das eigentlich Tragend-Bringende ist. Es trägt die Mutter mit Kind und verfügt ihr Verhältnis zueinander. Mit ihrem Rückbezug zu Bildrand und Goldrahmen unten, so Brötje, bedeuten die »Falten« als schmerzvolle Eigenartikulation in ihrer „Erlebniseinlösung“ schließlich die „Zurücknahme“ der „Leibpräsenz“ Jesus „in den Schöpfungshorizont“. (2012a, 108f.) Für mich vor dem Bild gibt es nun an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt „nur eine Möglichkeit [...vom Rand], in die Welt zurückzufinden“, heißt es nun: (EBD.) Ich bin immer noch im FaltenGebirge. Aber nicht über die mittlere Falte hinweg kann mein Blick wieder aufsteigen. Diese wird mir an ihrem hellen Rand oben wieder abgebogen. Der Blickaufstieg gelänge stattdessen nur, „indem der letzte Dunkelspalt [ganz rechts] als Richtvorgabe genommen wird für den Blickübersprung“ nach oben „auf das versetzt-gleichgerichtete Kreuz“ zu. (EBD.) An diesem Kreuz nun erscheint letztmalig das Gold; wie auch das Kreuz selbst erst aus dem Bildgrund hervorgehoben werde. Wenn die Anschauung hier wirklich enden sollte, wäre dies auch der Endhinweis für mich...

[...] »Siehst du, junger Mann«, sagte der Greis, ohne sich umzudrehen, »siehst du, wie man mit drei oder vier Seiten Text das Kopftuch der armen Heiligen zum Ausgangspunkt einer dichten Atmo-

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sphäre machen kann. Schau, wie das Gewand jetzt flattert, wie man spürt, dass der Geist es bauscht. Vorher sah es aus wie drapiert. Bemerkst du, wie gut meine Sehweise die erstarrten Formen wieder belebt und dem Inhalt Aktualität einhaucht. Junger Mann, junger Mann, was ich dir hier zeige, könnte dir kein anderer Meister beibringen. Ich habe keinen Schüler gehabt, und ich bin alt. Du bist klug genug, um das übrige zu erraten, wenn ich dir einiges hier andeute.« Während er sprach, ließ der seltsame Greis keine Stelle des Gemäldes unberührt. Er arbeitete und schrieb mit einem so leidenschaftlichen Eifer, dass auf seiner kahlen Stirn der Schweiß perlte. Der übernatürliche Glanz der Augen, die Zuckungen, die einem Widerstand zu entspringen schienen, gaben den Vorstellung des Greises einen Anstrich von Wirklichkeit, was auf die Einbildungskraft des jungen Mannes großen Eindruck machte. Nun sprach der fremde Alte weiter: »Siehst du, Freundchen, entscheidend ist allein das Sehen. Die Kunstgeschichte hat hunderte von Texten gebraucht, um dem Bilde näher zu kommen; ich gebe nur einen dazu und alles wird stimmig. Niemand weiß uns Dank für das, was in den Zeilen steckt. Merk dir das gut!« Endlich hielt er inne und sagte zu Heidegger gewandt, der die Zeit über stumm geblieben war: »Das ist noch nicht so gut wie meine anderen Interpretationen, aber unter diesen Text konnte ich immerhin meinen Namen setzen. Er nahm den Originaltext und sah ihn noch einmal an. »So jetzt gehen wir frühstücken«, sagte er dann. »Kommt alle beide mit in meine Wohnung. Auf denn, trotz der unseligen Zeiten werden wir uns über Malerei unterhalten! Davon verstehen wir was.« [...]

Brötje wollte in seinem Raffael-Text ausgelegt haben, was in einem unvermittelten Seh-Verstehen zum „bildlich-anschaulichen Vortrag“ (2012a, 92) gekommen war. Stellt sich die Frage: Hatte Michael Brötje dies alles wirklich „erlebt“, bevor er sich schreibend Rechenschaft darüber abgab, was sein Sehen schon gewusst haben wollte? Und sehen wir dies auch? Wir sehen vielleicht erst, was wir zuvor gelesen haben. Es wird zu einem Nach-Sehen mit Rücktrittsrecht für den Fall, dass der Text irgendwann ins Unnachvollziehbare abschmiert. Aber vielleicht haben wir es ja doch gesehen – immer noch ohne es zu wissen – oder etwas anderes, was hier noch gar

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nicht erwähnt wurde. Und trotzdem haben wir etwas über die Madonna della Sedia dazugelernt und neu gesehen. So viel, dass uns ein weiterer Satz Heideggers vielleicht deutlicher vorkommt als vorher. Denn auch Heidegger hatte klar gemacht, dass die Sixtina kein einfaches Abbild sei. Er sah sie undetailliert – scheinbar simultan, als ob er sie sofort überschaut hätte. Aber in dieser Totalwahrnehmung registrierte er ebenfalls die gleiche Prozessualität im Bild wie Brötje. Dieser sah ja die Erscheinung Jesu am Ende zurückgenommen in die Bedingung ihrer Möglichkeit: den „verborgen Bergenden“ und „tragenden“ Bildgrund, der alles aus sich entlässt und zum Vorschein kommen lässt – der das Entstandene aber ebenso wieder in sich zurücknimmt und einbehält. Für Heidegger war dieser Prozess der Körperwerdung und Nichtung identisch gewesen mit der kirchlichen Eucharistiefeier selbst. Diese sieht er als das eigentliche Bildereignis der Sixtina: „Im Bild, als dieses Bild“ geschehe „das Scheinen der Menschwerdung Gottes, geschieht jene Verwandlung, die auf dem Altar als „die Wandlung“ als das Eigenste des Meßopfers gefeiert wird“, um es noch einmal zu zitieren. (1955, 121) Diese „Wandlung“ vollzieht das Bild in sich (als es selbst): Es lässt Jesus und Maria und die Bildwelt um sie herum zur Erscheinung kommen, bringt sie hervor, teilt sie als das andere seiner selbst von sich ab. In diesem „Lichten“ zieht sich der hervorbringende Grund zugleich zurück. Erst in diesem „Verbergen“ kann auch er noch hindurch scheinend mitanwesend werden. Die „Menschwerdung Gottes“ geschieht im Bild als die Verwandlung des Bildgrundes in Figuration. Daher kann Heidegger auch sagen, „das Bild ist“ der Ort der Feier des Messopfers, der Transsubstantiation, der Inkarnation. Wenn sich aber alles im Tafelbild selbst abspielt, warum hatte der Philosoph seinem Freund, dem Kunsthistoriker Theodor Hetzer, widersprochen und darüber hinaus die ortsspezifische Situation für wesentlich erklärt? Warum hielt Heidegger es für zentral, dass dieser bildimmanente Prozess der „Wandlung“ zurückgebunden bleibt an den spezifischen Ort des Abendmahls. Wohl kaum, weil das Kunstwerk seinen „Sinn“ erst aus seiner sakralen Kontextualisierung oder Funktionalisierung erhalten würde. Im Gegenteil: Der besondere Ort „rufe“ sogar von sich aus nach dem unverwechselbaren und passenden Kunstwerk. „Das  Bild  ist  das  Scheinen  des  Zeit-­‐Spiel-­‐Raumes  als  des  Ortes,  an  dem  das  Meßopfer  gefeiert   wird.“     (HEIDEGGER  1955,  121)  

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Es ist wohl genau genommen so, dass das Bild den rituellen Raum – den Zeit-Spiel-Raum, der die Kirche ist, – zusammen mit sich selbst erst zum Scheinen bringt. Das heißt: Durch das intuitive Verstehen der „Bildwandlung“ wird mir der tiefere Sinn des Ortes erst vertrauter. Daher sagt Heidegger auch: Genau dieses Bild Raffaels „gründet und vollendet den Bau der Kirche.“ Das Bild schafft erst den Ort der Wandlungsfeier, weil es sein Wesen auf den Raum überträgt. „So bildet das Bild den Ort des entbergenden Bergens...“ (EBD.) Vom antiken Apollon-Tempel auf der Peleponnes hatte Heidegger noch gesagt: „Durch den Tempel west der Gott im Tempel an.“ (DERS., 1935, 37) In der Kirche in San Sisto in Piacenza räumt die Sixtinische Madonna dem Heiligen erst einen Ort ein. Das Altarbild bringt mit seinem Erscheinen die Bedeutung der Kirche zu sich selbst, so wie das Bringen Marias ein MitGebracht-Werden vom Jesuskindes her gewesen ist. Indem die Sixtina im Hervorbringen des Ortes diese Kirche „gründet“, erzeugt das Bild-Werk auch seine eigene »Referenz« erst mit. Sie erhält so ihre essentielle Be  Abb.:  San  Sisto  in  Piacenza,  Mittelschiff  zum     ziehung und Verbindung nach draußen,  Hochaltar  mit  der  Kopie  der  Sixtinischen     nach »oben«. Nur so werden die bildim  Madonna,  Photographie,  um  1915–1920,        Florenz,  Alinari.   manenten ästhetischen Prozesse, denen Brötje so viel Aufmerksamkeit gewidmet hatte, essentiell referentialisierbar: der Bildprozess ist Transsubstantiation, ganz so, wie sie im Sakralraum vollzogen werden wird.  

„Die  Erfahrungswirklichkeit,  die  sich  im  Kunstwerk  mit  dem  Transparentwerden  des  Sei-­‐ enden  [des  Dargestellten]  auf  die  [Bild]Ebene  zu  für  das  Sehen  [...]  eröffnet,  verhält  sich   also   unmittelbar   kongruent   zum   Glaubenspostulat   einer   Hinterfangenheit   der   realen   Welt  von  einem  Schöpfungsgrund,  von  Transzendenz.“  (BRÖTJE  1990,  22f.,  Klammern  js)  

So soll es gehen!? Das ist die „vorausleuchtende Idee“!? Dabei denkt Heidegger seinerseits das, worauf das Kunstwerk eingerichtet und verortet ist, nicht metaphysisch und theologisch. Solange das Kunstwerk alles selbst erst einrichtet, geht es gar nicht um die Bewahrheitung der Frage nach einem übersinnlichen Gott der Kirche.

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Und auch bei Brötje war es das Bild, das von sich aus alles initiiert. Nichts muss „wie eine von außerhalb des entstehenden [Bildes] eingedrungene Essenzen behandelt“ werden, die „philosophische Allgemeingültigkeit beanspruchen könnte“. Maria und Jesus, Gott und Transzendenz „besitzen ihre Wahrheit zunächst nur innerhalb einer unersetzbaren [...] Komposition“. (So lautete in einem andern Fall Derridas Einschätzung. Dort bezogen auf die »Referenz« der Photographie: 1981b,18).

„Die  Kunst  geschieht  als   Dichtung.  Diese  ist  Stif-­‐ tung  im  dreifachen  Sinne   der  Schenkung,  Grün-­‐ dung  und  des  Anfangs.“   (HEIDEGGER  1935,     80)     „Die  Kunst  und  ihr  Werk   sind  nur  notwendig  als   ein  Weg  und  als  ein  Auf-­‐ enthalt  des  Menschen,  in   dem  ihm  die  Wahrheit   des  Seienden  im  Ganzen,   d.h.  das  Unbedingte,  Ab-­‐ solute  sich  eröffnet.“     (DERS.,  1936f.,  100)       „Schönheit  ist  eine  Wei-­‐ se,  wie  Wahrheit  als  Un-­‐ verborgenheit  west.“     (DERS.,  1935,  55)  

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Zum Schluss resümiert Heidegger daher auch noch ganz unmetaphysisch: „Die Wahrheit des Bildes ist seine Schönheit“. (1955, 121) Dieser letzte Satz ist auf den ersten Blick schon mysteriös genug. Scheint er doch die ästhetisch-theologische Äquivalenz schon wieder in Zweifel zu ziehen? Dabei sieht es zunächst so aus, als würde sich der Autor am Ende überraschend doch noch dem Urteil seines alten Freiburger Freundes Kurt Bauch anschließen: Dieser hatte – ähnlich wie schon Theodor Hetzer – in seiner Abhandlung zur Abendländischen Kunst die Sixtina als emanzipiert beschrieben. Das Bild sei „nicht mehr nur als Retabel zu verstehen, das mit den Mitteln der Kunst zu Kultzwecken hergestellt wäre und von dorther seinen Sinn empfinge.“ Dies hatte Heidegger ja auch ausgeschlossen, allerdings ja mit dem Hinweis, dass die Sixtina deswegen mehr als nur eine Retabel sei, weil sie mitwirkt dem Heiligen einen Ort einzuräumen. Dann aber schreibt Bauch weiter: „Es ist ein selbstherrliches Kunstwerk, das sich freiwillig einer hohen religiösen Aufgabe leiht. Schon in sich selbst spricht es sich völlig aus.“ „Die Mutter, das Kind, der Kirchenfürst und die Heilige – sie erscheinen in der Welt der reinen Schönheit.“ (BAUCH 1952, 164f.) Insofern könnte man es wohl auch aus Bauchs Sicht ohne Bedenken von seinem Ort entfernen. Aber Heidegger meint eine ganz andere „Schönheit“ als die autonom ästhetische. Diese koppelt die Sixtinische Madonna wiederum an den Ort, den sie eröffnet.

In seinen Nietzsche-Vorlesungen hatte er sich in der Zeit zwischen 1936-40 weitere Gedanken zur „Aufgabe“ des Kunstwerks gemacht: Dort heißt es dann: „Notwendig“ seien Kunstwerke deshalb, „weil sie innerhalb des geschichtlichen Daseins des Menschen eine entscheidende Aufgabe vollbringen: nämlich in der Weise des Werkes offenbar zu machen, was das Seiende im Ganzen ist, und die Offenbarkeit im Werk zu wahren.“ (HEIDEGGER 1936f. 100) Wenn diese „Wahrheit des Seienden im Ganzen“ im Werk aufscheint, dann und nur dann spricht der ExistentialPhilosoph von „Schönheit“. Und offenbar ist Heidegger hier der Meinung, dass Raffaels Gemälde nicht alles „versammelt“, was es von sich aus einbezieht, wenn es isoliert präsentiert würde. Seine ganze „Wahrheit“ und „Schönheit“ ist auf den Kirchenraum bezogen: Hier „fügt“ das Werk erst, schreibt er an anderer Stelle – hier „fügt es erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall“ – das „Geschick“ des „Menschenwesen“ „Gestalt“ gewinnen. (DERS., 1935, 37) In diesem Sinne geht mich das Kunstwerk existentiell an. Es spielt erst einmal keine Rolle, ob die „Wahrheit“ metaphysisch wie bei Brötje oder „seingeschichtlich“ wie bei Heidegger ist: Beide sehen etwas in ihren Raffael-Bildern, was in ihren Augen jede Neutralität des Kunsthistorikers zunichte macht: elementare Ich-Betroffenheit. Denn „[n]icht wir verhandeln uns vor den Werken, sondern diese verhandeln uns in dem, was wir essentiell […] sind“, ruf Brötje (1990, 40) uns aus einer gewissen „Ekstase“, aus einem gewissen wissenden „Wahnsinn“ zu.

 Abb.:  Sixtinische  Madonna,  Gemäldegalerie  Alte      Meister,  Staatliche  Kunstsammlungen  Dresden.  

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IV.   [...] „Danach stiegen alle drei von der Hütte hinunter, und während sie über die Künste plauderten, schlenderten sie über den Weg zum Hause des Greises... Ganz in Gedanken fand sich der junge Mann, der künftig auch das Schreiben kunstfertiger Texte lernen wollte, unversehens in einem niedrigen Saal vor einem wärmenden Feuer und an einer mit appetitlichen Gerichten beladenen Tafel, überdies in der Gesellschaft zweier so wohlmeinender großer Denker, mit denen ein unerhörter Glücksfall ihn zusammengeführt hatte. »Junger Mann«, sagte der Alte, als er diesen wie erstarrt vor einem Buche stehen sah, »schaut nicht zuviel in diesen Text, sonst geratet ihr in Verzweiflung.« Das betreffende Buch stammte von einem großen Autor namens Imdahl. Und es war die Arenakapelle, die dieser hier behandelt hatte, um aus dem Gefängnis der Ikonographie entfliehen zu können. Seine Lehrer hatten ihm dabei den Weg gewiesen. Dieser Schrift über Giotto wohnte in der Tat eine solche Kraft des Unvordenklichen inne, dass der Junge von diesem Augenblick an den wahren Sinn der wirren Reden des Greises zu verstehen begann. Dieser betrachtete seinerseits den Text Imdahls mit zufriedener Miene, aber ohne Begeisterung, als wollte er sagen: »Ich habe Besseres gemacht!« »Es steckt eine exzellente Anschauungsleistung darin«, sagte er, »mein armer Meister hat sich hier übertroffen; aber im Hintergrund der Fresken Giottos, im Hintergrund seines großen GiottoTextes, fehlt noch ein wenig Wahrheit. Die Fresken des Malers werden durch diese Buch durchaus ganz neu gesehen. Aber die Luft, der Himmel, der Wind, das, was wir atmen, sehen und spüren, das ist nicht da. Alles dort müsste etwas mehr Göttliches und Transzendentes in sich haben, und das fehlt gänzlich.« Der junge Schreiberling sah mit unruhiger Neugier abwechselnd auf den Greis und auf Heidegger. Er näherte sich diesem, wie um ihn nach dem Namen ihres Gastgebers zu fragen. Dieser legte mit geheimnisvoller Miene einen Finger an die Lippen, und der wissbegierige junge Mann bewahrte Stillschweigen, in der Hoffnung, früher oder später werde ihm irgendein Wort erlauben, den Namen seines Gastgebers zu erraten, von dessen Fähigkeiten die hier im Zimmer angehäuften Schriften hinreichend Zeugnis abzulegen schienen.“ [...]

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Zunächst zurück zu dem bemerkenswerten Giotto-Buch: Schon in den 70er Jahren hatte Max IMDAHL tatsächlich mit seiner Studie zu den Wandmalereien in Padua einen methodologischen Durchbruch und Befreiungsschlag erzielt. Bekannter Weise geht es dabei darum, die Vorstellungen seines Lehrers Günther Fiensch zu einer eigenständigen Bildtheorie, der Ikonik, auszubauen. Auch Michael Brötje hatte seiner Zeit bei Günther Fiensch an der Justus-Liebig Universität in Gießen promoviert. Imdahl wiederum studierte u.a. bei Fiensch, als dieser noch in Münster wirkte. Später wurde er dort Assistent am kunsthistorischen Institut. Mitte der 60er Jahre erhielt der ältere Fiensch dann einen Ruf nach Gießen und der jüngere Imdahl den seinen an die Reform-Universität Bochum. Ab den 70er Jahren war Michael Brötje dann eben wohl selbst Mitarbeiter am Bochumer Institut gewesen. So müsste er eigentlich die Arbeiten seines Chefs an den Giotto-Texten unmittelbar mitverfolgt haben. Die Ausgangspunkte von Imdahl und Brötje sind damit in einem Aspekt von vornherein recht identisch und fußen auf den methodologischen „Voraussetzungen“, die Fiensch 1951 in seiner Habilitationsschrift an der Philosophischen Fakultät der Universität Münster aufgestellt, aber erst 1961 publiziert hatte. Dabei geht es um drei Aussagen, die für die jeweiligen Giotto-Deutungen wegweisend werden sollten: Erstens sei nämlich die „Sinnqualität“ eines Kunstwerks „einmalig und unwiederholbar ein Korrelat der einmaligen und unwiederholbaren Form“. Dass Sinn und Form sich wechselseitig bedingen sollen – der Sinn die Form schafft und das Formgebilde den Sinn bedingt – hat die zweite Aussage zur Folge: „Inhalts-Kommentierung, als Ikonographie im weitesten Sinne, kann zur Interpretation [...] nichts beitragen.“ In der Konsequenz sei die „Form“ – drittens – „keinen »Gründen« verpflichtet und überhaupt auf keine Weise als Funktion »von etwas« erklärbar.“ (FIENSCH 1961, 102)

„Das  Kunstgebilde  ver-­‐ gangener  Zeiten  kann  als   Formgebilde  nur  unter   dem  Form-­‐  und  Kunst-­‐ begriff  der  Betrachter-­‐ Gegenwart  als  Kunst-­‐ werk  »verstanden«   werden.  Oder  es  wird   überhaupt  nicht  ver-­‐ standen.  Wir  »postulie-­‐ ren«  diesen  Kunstbegriff   nicht,  wir  haben  ihn;   und  vielleicht  wäre  es   sogar  zutreffender  zu   sagen:  Er  hat  uns.  [...]   Erst  ein  solchermaßen   methodisch  autonom   gesetzter  Gegenstand   kann  Objekt  eines  ge-­‐ schichtlichen  Bezugs-­‐ denkens  werden.“   (FIENSCH  1961,  103)  

Günther Fienschs Einsichten in die Interaktion von „Form und Gegenstand“ – d.h. die „Verknüpfung“ von „Gegenstandsfläche“ und „ungegenständliche[r] Fläche“ („artistischer Figuren“) (EBD., 4, 34) – war bei den Kollegen seiner Generation weitgehend unbeachtet geblieben. Für Imdahl war damit aber der Weg frei. Er konnte nun die Formen in den Wandbildern Giottos als autonome Lineamente auf der Bildfläche aktivieren; und er konnte ihnen so ihre eigenständige „Sinnqualität“ ansehen.

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Brötje war das jedoch irgendwann nicht mehr genug. Er ging methodisch und in seinen Sehoperationen einen ganzen, gewagten Schritt weiter. Er wollten nun an den Formengebilden nicht mehr nur ihre Flächenstruktur sinnhaft deuten. Darüber hinaus sollte eben auch ihre „transempirische Wirkbedeutung“, ihr intuitiver „Suggestiveindruck“, mitvollzogen werden. (BRÖTJE 2012a, 106, 104) Für seinen eigenen Zugang zu den Fresken in der Arenakapelle in Padua hat dies weitreichende und hoch interessante Folgen. Was dies bedeuten wird, lässt sich schon in den Einleitungssequenzen zu den beiden nun konkurrierenden Giotto-Texten von Brötje und Imdahl erahnen. Für ersteren beginnt alles schon damit, dass wir (ich) es vor jeder Einzelbildbetrachtung von Anfang an mit einer existentiellen Schwellen- und Überwältigungserfahrung zu tun habe(n): „Beim   Eintritt   in   die   Arena-­‐Kapelle   sieht   man   sich   unvermittelt   von   einer  Bildwelt  umschlossen,  »erfasst«,  die  in  ihrer  Ausbreitung  über   alle   Wände   des   Raums,   in   ihrem   Alleinanspruch   auf   seine   Prägung   und   Gliederung   eine   geradezu   körperlich   bedrängende   Wirkungsin-­‐ tensität   besitzt   –   eine   Distanzierung   ist   nicht   möglich,   es   bleibt   nur   die   Wahl,   dem   Präsenzdruck   dieser   Bildwelt   standzuhalten,   ihren   strengen   Richtungsanweisungen   Folge   zu   leisten   oder   den   Raum   wieder  zu  verlassen.  [...]     Dabei   verleugnet   diese   Bildwelt   in   ihrer   (noch   näher   zu   bestim-­‐ menden)  So-­‐Beschaffenheit  nirgends  ihre  Affinität  zur  Wand,  im  Ge-­‐ genteil,  sie  unterstreicht  nachdrücklich  die  Erstreckungshomogenität   und  Widerständigkeit  der  Wände  und  hält  diese  so  als  ihren  wahren   Erscheinungs-­‐Grund   gegenwärtig   –   d.h.   sie   gibt   sich   als   eine   Vision   (nicht   aber   Illusion   [...])   zu   erkennen,   die   nur   in   Ansehung   des   Rau-­‐ mes  [...]  Offenbarungsmöglichkeit  gewinnt.   Indem   ich   in   die   Kapelle   eintretend   diese   als   den   Ort   des   Hier-­‐ und-­‐Jetzt-­‐Vollzugs   meiner   körperlichen   Realexistenz   in   Anspruch   nehme,  trete  ich  auch  unter  das  Geltungsdiktat,  das  Sinnverfügungs-­‐ recht  der  diesen  Ort  definierenden  Bildwelt.     Eine  gedankliche  Distanzierung,  Vorbehaltserklärung  aus  meinem   geschichtlichen   Bewusstsein   –   »alles   dies   dokumentiert   die   versun-­‐ kene   Glaubens-­‐   und   Vorstellungswelt   einer   anderen   Zeit«   –   stellt   nur   ein   Betrugsmanöver   dar,   mit   dem   ich   mich   aus   der   Verantwortlich-­‐ keit  meines  eigenen  Tuns  zu  stehlen  versuche,  mich  in  einen  Wider-­‐ spruch   zu   meiner   existentiell   personalen   Einvernehmensverhaltung   gegenüber  dem  Raum  stelle.“  (BRÖTJE  1990,  57)  

Die Einstiegspassage hat eine so hohe Eloquenz, dass sich Imdahls Einleitung dagegen zunächst wie ein Schulaufsatz liest:

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„Giottos   Ereignisbilder   in   der   Arena-­‐Kapelle   in   Padua   wurden   um   1305   geschaffen,   sie   gehören   zu   den   berühmtesten   Ereignisbildern   der   Kunstgeschichte   und   bezeichnen   einen   Neubeginn   der   Ereignis-­‐ darstellung.   Sie   sind   Ereignisbilder   der   Heilsgeschichte   und   [...]   auf   Konnotation   angewiesen:   Was   im   Bild   dargestellt   ist,   hat   Bezug   auf   außerbildlich  vorgegebene  und  schon  bekannte  Inhalte,  und  zwar  ist   die   Darstellungsweise   selbst   eine   solche,   die   die   Kenntnis   vom   Ge-­‐ genstande,  das  heißt  die  Denotation  eines  empirisch  Gegebenen  ein-­‐ schließt.“  (IMDAHL  1980,  7)  

»Ich habe besseres gemacht!«, heißt hier so viel wie: Imdahl kuschst noch vor der „Sachvorhaltung“ und vor den Wissensbeständen, die ein Panofsky noch glaubte hervorholen zu müssen, statt sich ganz undistanziert in eine existentielle Verbindlichkeit einberufen zu lassen. Und dann sieht das Betrachter-Ich zuerst, weit bevor es Einzelbilder wahrnimmt, die man analysieren könnte – wie Imdahl es sofort unternimmt – dann sehe ich zuerst die „Erstreckungshomogenität der Wände“. Wiederum hatte schon Kurt Bauch auf die Besonderheit dieser Kirche hingewiesen. Es handelt sich nämlich tatsächlich um eine reine „Bildwelt“ – „glatte Flächen ohne jedes Relief“: (BAUCH 1959, 7) „In diesem Bau gibt es keine Dienste mehr, keine Rippe, kein Gesims, nicht einmal mehr einen Sockel – alles ist von Giotto nur gemalt.“ Die „gemalten Sockel und Gesimse und Pilaster. Sie täusch[en] den gebauten Raum vor.“ (DERS., 1952, 180) Die Registrierung, von einem malerischen Environment umschlossen zu sein, das sich auf den Wänden ausgebreitet hat, ist für den „Geltungsanwurf“ an „mich“ entscheidend. Doch bevor zur Geltung kommt, dass alles hier nicht wirklich ist – „doch ist alles nur gemalt.“ (DERS., 1959, 7) – erlebe das Ich das „Antipodische“ von Himmelsgewölbe und „Himmelssphäre“ in Absetzung zur Sockelzone der Marmortafeln und Figurennischen. Für Brötje ist dies aber kein neutrales zur Kenntnis Nehmen eines So-Seins einer Wandabwicklung. Stattdessen gibt der Raum mir so ganz elementar zu verstehen, „welches »mein Teil« der InAnspruch-Nahme dieses Raums ist“. (BRÖTJE 1990, 57) Diese untere Zone der gräulichen „Materialverdichtung“ werde mir, unmittelbar evident und relational als „meine Existenzsphäre“ zugestanden. Und zwar einfach deshalb, weil ich in Augenhöhe dieser Malerei im Raum unterwegs bin. Wenn überhaupt, so stehe ich dieser Sockelzone mit den Marmi Finti und der farblosen Grisaille-Malerei gegenüber. Jeder andere Verhaltens- oder Sehakt ist dann der eines Aufschauens zu den Ereignisbildern oberhalb.

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„…  jener  seeli-­‐ schen  Erstzu-­‐ stimmung  des   Subjekts  an  das   Werk,  mit  der  es   sich  in  eine  Ver-­‐ antwortung  zur   Erscheinung   stellt,  sie  in  ih-­‐ rem  jetzt-­‐ betreffenden,   existentiellen   Geltungsanwurf   annimmt.     (BRÖTJE  2001,   17)

Dass das Ich dabei dann ein totales Raumbild vor und um sich hat (und nicht nur ein System von Wandbildern abhandeln kann), verdankt sich unter anderem einer extrem wirksamen Entscheidung Giottos: Er lässt die „Krümmung der Tonnenwölbung noch auf die obere Bildreihe übergreif[en]“. (EBD., 60) Sehresultativ wird dadurch das Blau aktiviert und in einer scheinbaren „Eigenbewegung der Himmelszone“ in die obere Bildreihe herabgeleitet. Für das Auge werden so Wandgrund und Blaugrund identisch. Das Blau durchläuft als Wand- und Bildgrund durchgängig alle Decken- und Bildzonen bis hinunter zum abgesetzten Materie-, Material-Sockel: dem vorgetäuschten Marmor. Auf dieses homogene „körperlose“ Himmels-Wand-Blau legen sich erst die Schmuckbänder und Scheinrahmungen, in denen sich die Erzählbilder dann auszuformen und abzuspielen beginnen. „...  innerhalb  der  weiß  hervortretenden  Randleisten  des  rot  gemusterten  Schmuckbandes  lässt   Giotto   die   Ziegelbraune   Wand   erscheinen   und   in   ihr   das   Bild,   umgeben   von   einem   schmalen   grünblauen  Streifen.“  (BAUCH  1959,  24;  Beweinung)  

Vor diesem „Hintergrund“ wird klar, dass ich künftig in den „illusionistischen“ Feldern der Ereignisbilder nie (wieder) einen irgendwie nachgeahmten blauen Himmel, einen Wirklichkeitsausschnitt, werde erkennen können. Was ich stattdessen (ab jetzt) immer schon mitsehen soll, ist die „Erstreckungshomogenität“ der Bild-Wand-Ebene: die „Hinterfangenheit“ aller Ereigniserzählung von der „Immaterialität“ des Blaus. (EBD., 59) Frage,  die  entscheidende  Frage  lautet  dabei:   „...  verhält  sich  die  Bildebene  zu  all  diesen  immanenten  Differenzierungsmomen-­‐ ten  als  Anschauungssynonym  für  die  übergeordnete,  nie  selbst  erkennend  »fass-­‐ bare«  und  doch  gegenwärtige  Transzendenz?“  (BRÖTJE  1990,  64)  

    Abb.:     Giotto:     Cappella  degli  Scrovegni   (Arenakapelle),  Padua   1305.   Amateurphotographie,   Innenraumaufnahme   mit  Besuchern  zum     Größenvergleich.

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Nun ist es aber so, dass Brötjes Giotto-Text ganz entschieden die Frage nach der „Instanzqualität“, d.h. der Bedeutung, der Referenz des wandblauen Grundes stellt. Allerdings wird die Entscheidung, den Blaugrund als „Instanzqualität des Absoluten“ (EBD., 64), „als Anschauungssynonym für...“, „kongruent zu...“ usw. anzusehen noch für eine Weile offen gelassen. So haben wir die Zeit, nach der Art dieser Begriffe zu fragen und den Sehfortschritt im Kirchenraum weiter zu verfolgen. Denn im Zuge dieser Seherkenntnis tun sich nun – für den Folge leistenden Betrachter – weitere Einsichten auf. Stellt man sich vor, neben Michael Brötje dort mitten in dem hohen und eher schmalen Kapellenraum in Padua zu stehen, würde man irgendwann wieder vom »Himmel« nach unten auf „meine Existenzsphäre“ zurück schauen: auf die Marmor applizierten Wände auf Augenhöhe. Die dort ausgeführte Trompel’œil-Architektur geräte schnell in Diskrepanz zur völligen Ebenheit der Wand. Für Brötje ist dies entscheidend, denn für das intuitive Verstehen, leitet sich damit für ihn eine bedeutsame Umkehrung von Realität und Fiktion, Wahrheit und Unwahrheit ein. Denn das mir vertrauteste „in der realen Welt, aus der ich komme“, eine Steinwand, erlebe ich hier als Fiktion. Im großen Sehabenteuer „entlarvt“ sich das „draußen“ Gültige – dass Marmor auch Marmor ist – „hier“ als „falsche[r] Glanz“: „nur gemalt“ (EBD., 58f.) – oder: als überzeugend unüberzeugende Fiktion. Was hier zur Geltung kommt ist elementar. Daher lohnt es sich, dem Autor noch einen Augenblick länger über die Schulter zu schauen. Man übersieht es sonst vielleicht, weil es schlicht zu einfach erscheint. Nun soll nämlich quasi unmittelbar in einer Art „seelischer Vergewisserung“ und „Sinneinlösung“ auch der Umkehrschluss sich in mir immer schon vollzogen haben: Wenn das Untere der fingierte, falsche Schein und das Un   gültige ist, muss das Andere  Beschreibungsversuche:     Obere das Gültige und „Darum  fühlt  sich  das  religiöse  Bewusstsein  in  seinem  Inners-­‐ Wahre sein! (DERS., 2001, ten  bedroht  durch  den  Verdacht,  dass  sein  Inhalt  auf  Fiktion   23, 83) – oder: „wirksame beruhe.“  „Der  Realität  entgegengesetzt  werden  nur  diejenigen   Irrealität“. Man könnte Fiktionen,  die  nicht  überzeugen.“  –  Wenn  eine  Fiktion  über-­‐ im Heidegger-Jargon zeugt,  ist  sie  keine  Fiktion  mehr,  sondern  Metaphysik.“     wohl sagen: Die Malerei (PANNENBERG  1983,  33)   räume dem Heiligen hier „…  wirksame  Irrealität  […],  die  auch  als  solche  bekannt  ist,   einen Ort ein, indem sich ohne  dass  man  sie  doch  als  Fiktion  beschreiben  könnte.“     das Irreale als das wirk(ISER  1983,  12)   lich Wirkliche zur „realen“ Erscheinung bringt.

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Dieses zur Geltung kommende Irreal-Reale, gegenüber der bloßen Fiktion der Marmorverkleidung, wäre der „heilsgeschichtliche Offenbarungssinn“ des ganzen Geschehens (DERS., 1990, 35), das sich in den gestaffelten Bildzonen vor dem Blaugrund entfaltet. Daher kann Brötje wohl auch sagen, es handele sich dabei um eine „Vision“. Gegenüber der als Fiktion erkannten Marmorinkrustation scheint die Vision so um so realer. Für alle Beteiligten wären dies keine akademischen Schreibtisch-Analysen, sondern ein metaphysischer Feldversuch im Großraum von Bildwänden. Wenn ein „Ich“ – vom Marmor ge- und enttäuscht – nach oben blickt, ist das ein körperlich-performativer Akt. Zur Aktualisierung einer „Visions“-Wahrnehmung durch mich hier unten auf dem Niveau „meiner weltlichaktuellen Existenz“ gehöre aber auch noch etwas anders: Diese „Bildwelt“ müsse – um Vision zu sein oder werden zu können – die „widerständigen“ Wände „als ihren wahren ErscheinungsGrund gegenwärtig“ halten. (EBD., 57) So vermittelte es uns der Autor. Zunächst einmal scheint ein entscheidender Unterschied also der zu sein: Die Sockelzone mit den Schein-Nischen werde von mir nicht als „Bild“(-Welt) wahrgenommen. Ich sehe sie räumlich-architektonisch, nicht bildlich. Sie ist mir mehr Trompe-l’œil, transparente Illusion auf etwas zu, an dem sie nicht selbst Teil hat. Man könnet auch sagen: Als reine Illusion tritt sie nicht „geschöpft“ aus der Wandebene hervor. Und sie stellt sich auch nicht als Teil von ihr in diese zurück. Die Illusion bedeckt und verdeckt die Wand nur wie darüber tapeziert. Als Folie, als all-over-Maskierung, hat das Dargestellte zu seinem „Medium“ keinen Kontakt und keinen Bezug. Demgegenüber soll ich der ganzen Bildwelt, den Figuren und Figurationen, Wir  „betrachten  die  gesamte  Bewegung   dem »Himmel«, der Landschaft und den des  Sich-­‐Entfaltens  der  Phänomenalität   gemalten Räumen – allen Bild-Erals  ein  Schauspiel,  das  sich  vor  unseren   scheinungen – die Bedingung der MögAugen  abspielt.“   lichkeit ihres Erscheinens, ihren „Horizont“, mitansehen (können). „Betrachten  wir  genauer,  was  sich  auf  ei-­‐

„Ich-­‐Aufrichtung“  und   „Werk-­‐Aufrichtung“  gehören   zusammen.   (BRÖTJE  1990,  41)  

nem  Bild  von  sich  her  zeigt,  so  stellt  sich,   wie  wir  nun  sagen  können,  heraus,  dass   sich  auf  diesem  Bild  nicht  nur  diese  oder   jene  künstlerischen  Phänomene,  sondern   zugleich  auch  Horizont  und  Phänomenali-­‐ tät  der  Phänomene  für  den  Betrachter  des   Bildes  zeigen.“  (PICHT  1973,  251,  323)  

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Vordergründig soll dies wiederum am Blau des Bildgrundes auffallen: Das Blau erscheint an und in die Wand-Ebene zurückgebunden und öffnet sich zugleich zum oder als Himmel. Der Freiburger Philosoph, der Weserich, hätte vielleicht in seiner Sprache formuliert:

Indem die Malerei einen Himmel öffnet und eine Welt aufstellt, lässt sie die Wand hervortreten...                    „Indem  das  Werk  eine  Welt  aufstellt,  stellt  es  die  Erde  her.“  (HEIDEGGER  1935,  43)  

Denn zum Tempel selbst hatte Heidegger bekanntlich geschrieben: „Das Tempel-Werk dagegen lässt, indem es eine Welt aufstellt [etwas Gestalt werden lässt, js] den Stoff nicht verschwinden, sondern allererst hervorkommen, und zwar im Offenen der Welt des Werks: Der Fels kommt zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels [...]. All dies kommt hervor“, so die berühmte Passage, „indem das Werk sich zurückstellt, in das Massige und Schwere des Steins [...], in das Leuchten und Dunkel der Farbe...“ (1935, 42) Und hatte nicht immerhin auch Theodor Hetzer dies zuallererst auch bei Giotto schon gesehen? „Wenn   wir   die   Arenakapelle   an   einem   hellen   Tag   betreten   und   unser   Auge  von  der  starken  Sonne  nicht  mehr  geblendet  wird,  so  ist  unser   erster  Eindruck  der,  dass  der  gesamte  Raum  von  kräftiger  Farbe  er-­‐ füllt  ist  und  gerade  auch  dadurch  die  Farbe  einheitlich  wirkt.  Als  vor-­‐ herrschend  sehen  wir  Blau.  Es  erscheint  in  großen  und  doch  fest  ge-­‐ fassten   Flächen   am   Tonnengewölbe,   es   ist   in   jedem   der   Fresken  [...]   ausgedehnt...“  

Und dann heißt es „mit anderen Worten, Giotto hat der Farbe das magische, unbestimmt leuchtende [...] genommen“. (HETZER 1941, 172, 175) Denn magische Farben sind zu einer Art Dialektik oder zu einer Einheit in der Differenz von „Welt“ und „Stoff“ nicht fähig. Denn es liegt stattdessen in der Logik der Magie, Prozesse der Wandlung unsichtbar zu halten, während es Heidegger und Brötje gerade um dieses sichtbare (Be-)Wirken zu gehen scheint, das bei Giotto vielleicht zum ersten Mal so im Werk am Werke ist. Aber ist das nicht dennoch Philosophen-Halluzination? Vielleicht habe ich dies alles die ganze Zeit schon mitgesehen und unbewusst vollzogen, was hier gerade zur Ausführung kam: Die paradoxe Einheit von Himmel und Wand als Bedingung für das Sehen einer „Vision“, wie es Brötje will. Vielleicht auch nicht? Jedenfalls kann ich nicht (mehr) sicher sagen, wie und wo, an welcher Stelle der Wand, sich dies ereignet hat oder immer schon in meiner Anschauung der Wand-Bild-Welt geschehen sein soll. Und dann – darüber hinaus noch – das »Referentielle«, diese Instanz außerhalb...! „Die Metaphysik der Darstellungsfläche...“, hatte Florenskij ja noch betont. (1922, 113) Und auch IMDAHL hatte bei Giotto noch das „Absolute“ gesehen. (1980, 25) Allerdings hatte er von einer ästhetischen Abso-

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lutheit der Szenen gesprochen. Diese ästhetische Evidenz stand dann ein oder war Äquivalent für einen göttlichen Willen, der sich in der Strenge des Bildaufbaus zeige. (vgl. STÖHR 2008, 77ff.) Aber wahrscheinlich ist alles doch eher so ein Bauch-Gefühl während des Sehens; eben nur aus dem Bauch heraus. Nichts Fixier- und Dokumentierbares. Etwas für die „innere Zuständigkeit“. (Brötje 2001, 23) Und auch Hetzer hatte noch eine gewisse Antenne dafür. Vielleicht hatte man damals in den 50er und 60er Jahren im Anschluss an Heidegger solche Art Empfänglichkeiten; und Michael Brötje ist einfach nur ein zu spät gekommener Herum-Geisterer, oder ein Relikt – die schleppende Nachhut eines „existential-hermeneutischen Ansatzes“ (DERS., 2012c, letzte Seite), der man heute bequem in den Rücken fällt, weil sie sich weigerte, auf jeden zeitgeistigen (Geister-)Zug aufzuspringen. Und dennoch...

(BRÖTJE  2002,   140)  

[...] Als der junge Schreibschüler in der guten Stube des Greises auf der dunkeln Eichentäfelung eines weitern Buches ansichtig wurde, rief er aus: »Was für ein schöner Band!« »Nein«, erwiderte der Greis, »Ihr seht da eine meiner ersten Sudeleien...« »Alle Wetter! Ich bin also beim Gott der Einfühlung in die Malerei angekommen!«, sagte der Jüngling naiv. Der Greis lächelte wie ein Mann, dem solche gut gemeinten Kommentare seit langem gefehlt haben. „Meister Brötje«, meinte Heidegger, »könntet Ihr nicht einen Krug von Eurem guten Trunk kommen lassen? Und wollte Ihr mich euren Giotto-Text nicht weiterlesen lassen.« »Meinen Text lesen lassen!«, sagte der Greis voller Bewegung. »Nein, nein! Ich muss ihn noch vervollkommnen. Gestern, gegen Abend« meinte er, »glaubte ich, ihn fertig zu haben. Ich konnte die ganze Heilsgeschichte im Bild finden und in meinem Text wiedergeben. Es kann keinen Irrtum geben. Aber wie kann ich wirklich sicher sein? Ich habe die Sehwege und Mittel gefunden, ich habe von Grund auf die großen Meister der Farbe studiert, habe die Bilder in ‚vielmonatige[r] analytische[r] Gewaltanstrengung‘ Schritt für Schritt untersucht. Ich habe gesehen, wie die Malerfürsten die Gestalten in hellem Ton mit einer kräftigen Farbe aus dem Grund herausgearbeitet haben, merk auch du dir das, junger Freund! Dann habe ich mich von neuen ans Schreiben gemacht. Ich habe

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die Fehler, in die viele der Berühmtesten verfallen sind vermieden, nicht geschwärmt von der Göttlichkeit der Werke. Ich habe von der Voraussetzung und vom Vertrag gesprochen, unter denen die Bilder zu mir zu sprechen begannen. Und doch bin ich nicht zufrieden, habe ich Zweifel, verstanden worden zu sein. Vielleicht sollte man nicht eine einzelne Zeile schreiben. O Bild, Bild, wer ist dir je auf deine Schliche gekommen? Seht, das Übermaß an Wissen führt ebenso wie die Unwissenheit zu einer Negation. Ich zweifle ein wenig am ‚Vertrauen und an der Kraft zur Weiterentwicklung’ meines Ansatzes. Und doch ist er der einzig mögliche.« Der Greis machte eine Pause...“ [...]

... oder hat doch alles seine Bildlogik, die Logik, die Brötje vorschlägt und die angesichts der Marmor-Imitationen sofort Sinn macht. Die Sockelzone zielt nicht auf Bildlichkeit, das erhellt ein kurzer Vergleich unglaublich schnell.

Abb.   links:   Giotto:   Arenakapelle,   fingierte   Marmorinkrustation   (Ausschnitt),   1305.   Abb.   rechts:   Fra   Angelico:   Die  Madonna  der  Schatten,   untere   Bildzone   (Ausschnitt)  Kloster  San  Marco,  Ostkorridor  Florenz  1438-­‐1450.  

Brötje selbst vermeidet Bildvergleiche, weil sie die Konzentration auf das Einberufungs-Ereignis und die Sagkraft des Einzelwerks ablenken. Wer die Essenzen sehen will, kann sich nicht auf sprunghafte Differenzen von einem Bild zum anderen einlassen. Und doch lohnt einmal mehr ein Vergleich zwischen Giotto und Fra Angelico. Er zeigt nämlich, wie „malerisch“ (statt täuschend) Marmor zur Anschauung kommen kann. Fra Angelicos MarmorBilder befinden sich zum Beispiel im Ostkorridor des Klosters

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(BRÖTJE  2012c,  84)  

San Marco unterhalb oder als Teil der Madonna der Schatten auf Augenhöhe der Betrachtenden. Sie fingieren dort Marmor, ohne sich in dieser Funktionalisierung zu erschöpfen. Ohne aufzuhören Marmor zu imitieren, präsentieren die gestischen Farbfelder mit ihren materiellen Spuren von Farbklecksen vor allem sich selbst als konkrete Malerei. Insofern sind diese Marmor-Gemälde etwas anderem ähnlich – dem Marmor nämlich, den sie repräsentieren und vertreten – und zugleich bleiben sie mit sich selbst identisch. „Das  Bild  des  Göttlichen  soll   Beides zugleich und gleichzeitig sein zu köndas  Göttliche  nicht  bedeuten,   nen, macht sie auf „unähnliche“ Weise „ähnlich“ sondern  nach  dem  Bilde  des   zum „unbegreifliche[n] Mysterium“ der InkarnaGöttlichen  sein.  [...]  So  muss   tion, der Hostie, einem Gott, der Gestalt werden die  Figur  des  Göttlichen  also   eine  gestaltlose  Gestalt  sein...“   kann und ebenso gestaltlos bleibt usf.. Auf „un„Wir  befinden  uns  hier  am   ähnliche Weise“ ähnlich zu sein, bedeutet bei Gegenpol  zu  jeder  Ikonogra-­‐ Didi-Huberman, der diese Phänomene unverphie.“   gleichlich gut beschrieben hat, so etwas wie eine ...   strukturelle Analogien zu bilden, statt abzubilden. (1990b) „Eine  solche  Malerei  wird   versuchen,  über  die  reprä-­‐ Im Vergleich dazu sind die Marmor-Trompesentierte  historia  hinauszu-­‐ l’œils bei Giotto nicht etwa nur weniger „radikal“ gehen,  um  in  sich  selbst  et-­‐ (EBD., 68): Sie erweisen sich auch als grundverwas  zu  präsentieren,  was  der   schieden, weil sie nichts bildlich (be-)wirken. Sie frommen  Nachahmung  jener   bleiben reine Imitation. Bildlichkeit und Vision Mysterien  gleicht,  die  sie  de-­‐ ereignen sich erst im Nach-Oben-Sehen. So hatmütig  und  auf  Umwegen  –   te es Brötje vorgesehen. Erst dort, hoch über durch  Anzeichen  und  Spuren   dem nur Fiktiven, empfinde ich eine bemer–  vor  Augen  führen  will.“   kenswerte „Widerständigkeit“, die so viele Bild(DIDI-­‐HUBERMAN  1990b,  57,   theorien für Kunst-konstitutiv halten. 233)   Man muss das, was der Autor des Fra Angelico-Buches hier schreibt, noch einmal in die Sprache Heideggers oder Brötjes zurückübersetzen und in die Begriffe ihres Bildbegriffes verschieben. Dann sieht man die Besonderheiten gegenüber den gängigen Konzepten. – Und man wird ein Stück weiter erahnen können, wie es um die Frage nach der »Transzendenz« und »Referenzen« – dem Göttlichen – bestellt ist. Demnach gäbe es also einen „Schauplatz“ im Bild, wo das stattfindet und sich ereignet, was figürlich nicht darstellbar ist. Zur „höchsten Abb.:  Fra  Angelico:  Madonna  der   Ausprägung“ kämen diese Zonen eben in den Schatten,  Gesamtaufnahme,  Ost-­‐ reinen »Farbklecksserien« im Korridor des Kloskorridor,  Kloster  San  Marco,  Flo-­‐ ters San Marco. (DIDI-HUBERMAN 1990, 12) renz,1438-­‐1450.  

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„Wir  haben  die  spezifisch   pikturale  Form  dieser  Bewegtheit  und  Unru-­‐ he   hier   mit   dem   –   Proustschen   –   Namen   pan   de   peinture   bezeichnet,   ein   Name   für   jene   Zonen   oder   Momente   im   Gemälde,   wo   das   Sichtbare   ins   Schwanken   gerät   und   ins   Visuelle   umkippt.   [...]   Tatsächlich   ver-­‐ wenden   die   Bilder   recht   häufig   einen   Teil   ihrer   selbst,   um   das   zu   ne-­‐ gieren  oder  ins  Dunkel  zu  tauchen,  was  sie  im  mimetischen  Bereich  af-­‐ firmieren.  [...]  Diese  Fremdheit  [...]  ist  nichts  anderes  als  die  Malerei  in   potentia,   das   Symptom   und   das   Material   der   Malerei.   Kurz,   diese   Fremdheit  ist  die  Farbe  selbst  ...“  (EBD.,  15)  

Hier bleibe „die Farbmaterie als Stoff sichtbar“, im rein Visuellen präsentiere sich die Malerei nicht als Zeichen, sondern als Anzeichen für etwas, das unsichtbar bleiben müsse. (EBD., 233) Wie in vielen dualistischen oder „dialektischen“ Bildtheorien werden Abweichungen und Störungen der Mimesis, visuelle Divergenzen jeder Art auch hier als produktive Unterbrechungen der Fiktion betrachtet. Sie sollen stets selbstreflexiv die Bildlichkeit gegenüber der reinen Abbildlichkeit ins Spiel bringen. Auch Didi-Huberman spricht deswegen etwa in Hinblick auf seine »Marmor«-Phänomene von einer „Dialektik“ und einer „relativen Defiguration“. (EBD., 72, 41) Nun dienen eben diese Zonen eingeschränkter Deutlichkeit oder „purer Visualität“ wiederum ihrerseits als besondere Zeichen. Diese sollen einem starken Zug und etwas Verbindendes zum »Transzendenten« haben, indem sie Spur, Abdruck, Symptom, Index, Hindeutung, Anzeichen „des Mysteriums“ sein sollen. Besonders „faszinierend“, berichtet der Autor nämlich, sei „jedoch zu entdecken, dass – mitten im Quattrocento – gerade diese exzessive Betonung der Materialität der Malerei in den Dienst des Mysteriums [...] gestellt werden konnte.“ (EBD., 15) Aber wie geschieht dieses symptomatische Im-Dienste-Sein dieser Indexikalität und diese »Referentialisierung« genau? Wieso sollte ein Stück pan de peinture nun Anzeichen für... sein? Oder besser gesagt, wieso war eine solche „bunte Fläche“ mit einer metaphysischen Referenz verbunden? Und genauer gesagt: Wie war sie verbunden gewesen? Denn der Verfasser schreibt in der Vergangenheitsform. Demnach handelt es sich um eine Referenz im Plusquamperfekt: „es gab“ sie und sie ist gegeben gewesen. Der Zusammenhang ist aber unterbrochen, weil wir schon lange nicht mehr in der Welt der Mönche in Florenz mitten im 15. Jahrhundert weilen. Aber vielleicht fehlt es Didi-Huberman und den zeitgenössischen Betrachtern auch nur an einer gewissen „Ent-schlossenheit“ – eine “Ent-schlossenheit des existierenden Übersichhinausgehens“, wie Heidegger es formulierte: Wir könnten nämlich

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doch noch vor den Bildern Fra Angelicos oder Giottos sein. Zumindest kann es sein, dass ein Werk aus dem 14. oder 15. Jahrhundert „auf die Bewahrenden erst nur wartet und deren Einkehr in seine Wahrheit erwirbt und erharrt“. (HEIDEGGER 1935, 68f.) Es kann gut sein, dass Herr Brötje etwas übermotiviert und zu entschlossen ist, aber trotzdem: Vielleicht ist es dennoch „das ekstatische Sicheinlassen des existierenden Menschen in die Unvorborgenheit des Seins“. (EBD.) Vielleicht hilft es ja. Didi-Huberman hat die Beziehung zwischen den malerischen Zeichen im Werk und dem »Transzendenten« „entdeckt“, betont er für seine Leser/Innen auf den ersten Seiten. Aber er lässt sie doch einiger Maße im Unklaren, wie genau so eine (Wieder-) „Entdeckung“ von statten geht. Darauf scheint es aber gerade anzukommen. Denn wie gesagt: Als beispielsweise Michael Brötje den Bildgrund für sich als „Schöpfungsgrund“ erlebte, hielt man ihn für reichlich überspannt. Man schenkte der leicht sektiererischen Entdeckung, die im Predigtstil daher kam, einfach keine Aufmerksamkeit, während der französische Kunstwissenschaftler mit seiner ähnlich lautenden Diagnose berühmt wurde. Nun ist die Konzentration Didi-Hubermans ganz ausschließlich auf die begrenzten Flächen und auf die Malweise von Marmor gerichtet – nicht auf das Bild im Ganzen. Und es geht speziell und ausschließlich um den einen Wandlungsprozess, der sich dem Sehen nur an diesen Zonen so darbieten soll. Und nur an diesen Bereichen soll eine übertragene Bedeutung vom Sehprozess auf ein damit bedeutetes „Mysterium“ ihren Platz finden.

„Wenn  aber  ein  Werk  die   Bewahrenden  nicht  findet,   nicht  unmittelbar  so  findet,   dass  sie  der  im  Werk  ge-­‐ schaffenen  Wahrheit  ent-­‐ sprechen...“   (HEIDEGGER  1935,  68)  

Abb.:  Fra  Angelico:  Detail:  „Marmor-­‐Bilder“  unterhalb  der  Madonna  der  Schat-­‐ ten,  Ostkorridor,  Kloster  San  Marco,  Florenz,  1438-­‐1450.  

Genauso gut könnte man aber auch das ganze Bild-Phänomen ein „Zweifach-Gleiches“ nennen. Diesen Begriff verwendet Brötje (1990, 140), wenn er sagen will, wie sich eine im Bild sichtbare

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Welt, das gegenständlich Verbildlichte, zum Mal- und Bildgrund verhalten kann. Nämlich als „Zweifach-Gleiches“, wenn „das Eine der Bildebene“ in eine Gegenstandswelt „verdichtet“ und „umgesetzt wird“. Und auch er verdeutlicht dies unter anderem an der Fläche eines Wandpfeilers. Phänomenlogisch kommt dieser hier dem Marmor Didi-Hubermans gleich. Dabei entfaltet sich diese Gegenstandswelt (Wandpfeiler-Fläche) immer so, dass eine „Rückverschmelzung“ mit dem Schöpfungs-Horizont stets offengehalten werde. Denn auch eine gemalte Hauswand ist eine „Beunruhigung“ und „prozessuale Verdichtung“, eine „Heraussetzung“ einer Bildwirklichkeit aus dem „Unveränderlich Einen, Zeitlos-Ruhenden der Bildebene“. Diese „überlässt sich“ dem Motiv, ohne in ihm aufzugehen usw.. (BRÖTJE 2001, 130) Was ist also der Unterschied, wenn der eine Autor im Marmor „ein Sich-Überlappen von sichtbaren Ähnlichkeiten und visuellen Unähnlichkeiten“ entdeckt (DIDI-HUBERMAN 1990b, 233) und der andere an einem Wandpfeiler ein „Zweifach-Gleiches“ erlebt? Was ist der Unterschied, wenn der eine in allem, „was derart vom üblichen absticht, [und] einen Fleck bildet“, ein christliches „Mysterium an[ge]deutet“ sehen will (EBD., 69), während der andere die „Mitenthüllung des Seinsgrundes“, „des Absoluten“ „auf mich zu“ vorgefunden haben wollte? (BRÖTJE 1990, 138f.) In eine existential-hermeneutische »Alt-Sprache« zurückübersetzt, heißt es etwa: „Das  Werk  rückt  und  hält  die  Erde  selbst  in  das  Offene  einer  Welt.  Das  Werk  lässt  die  Erde  eine   Erde  sein.“  (HEIDEGGER  1935,  43)   „...  Erde  ist  in  Wahrheit  nicht  Stoff,  sondern  das,  woraus  alles  hervorkommt  und  wohinein  al-­‐ les   eingeht.“   „Das   Bild   ist   ein   Seinsvorgang   –   in   ihm   kommt   Sein   zur   sinnvoll-­‐sichtbaren   Er-­‐ scheinung...“  (GADAMER  1960a,  106)   „In   der   Kunst   [bringen   sich]   auch   die   Bedingungen   der   Möglichkeit   dieser   Phänomene,   ihr  Horizont  und  ihre  Phänomenalität  mit  zur  Darstellung.“  (PICHT  1973,  323)   „Die  Farbe  [...]  ist  dem  Elementaren,  dem  Urgrund,  daraus  Gestaltung  kommt,  näher.  [...]  Der   Künstler  bildet  in  farbiger  Substanz,  jedes  Bild  hat  sein  farbiges  Ornament;  auf  dem  Zueinan-­‐ der   von   Ornament   und   Natur   beruht   [das]   Unerschöpfliche   des   Kunstwerks.“   (HETZER   1947,   32)  

Offenbar sehen Brötje und Didi-Huberman beide etwas ganz Ähnliches. Alle hatten es in Bildern auf ihre Weise gesehen: Heidegger (als „Welt und Erde“), Gadamer (als „Nichtunterscheidbarkeit“), Picht (als „Darstellung und Horizont“), Hetzer (als das „Unerschöpfliche“) usf.. Und sie sahen etwas, auf das die meisten Studierenden der Kunstwissenschaft heute schon im ersten Semester aufmerksam gemacht werden. Allerdings wird ihnen dieses Phänomen als Seh-Alternative, „Dialektik“, „Dichotomie“, als „Doppelcharakter“, als „antagonis-

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tische Verfassung des Bildes“ oder als „Chiasmus“ usw. vorgestellt: „Die von keinem Kunstwerk zu schlichtende Divergenz des Konstruktiven und des Mimetischen“. (ADORNO 1969, 180) Die Autoren der alten Schule sahen dagegen, wie schon gehört, so etwas wie eine Einheit in der Differenz – ein Zweifach-Gleiches. Sie sahen damit nicht eine Störung, sondern eine »Schöpfung« vor sich. Das ist ein nicht unerheblicher Unterschied. „Der Streit“ zwischen den jeweiligen Polen ist, dann nämlich, „kein Riss als ein Aufreißen einer bloßen Kluft, sondern der   Streit   ist   die   Innigkeit   des   Sichzugehörens   der   Streitenden.   Die-­‐ ser   Riss   reißt   die   Gegenwendigen   [die   Differenz   von   Hervorge-­‐ brachtem   und   Hervorbringenden,   Malgrund   Bildebene   und   Darge-­‐ stelltem,   Welt   und   Erde,   js]   in   die   Herkunft   ihrer   Einheit   aus   dem   einigen  Grund  zusammen.  (HEIDEGGER  1935,  63)  

Daher muss Michael Brötje auch die spontan auffällige „Widerständigkeit“ der Wand in der Arenakapelle so ausdrücklich hervorheben. Die Kirchenwände sind nicht an sich von vornherein widerständig. Sie zeigen sich erst als mit-anwesend, in dem Moment, wo die narrative Bildwelt auf ihnen zu entstehen beginnt. Im „Zu-Malen“ weicht der tragende Grund der Wand nicht nur zurück, sondern das »Medium« zeigt sich während seines Verschwindens. Daher konnte Brötje auch sagen, er habe keine pure Illusion vor sich. Sein Gegenbegriff lautete daher erst einmal „Vision“; Wolfgang Iser prägte den Begriff einer „wirksamen Irrealität“. (1983, 12) Auf eine Interaktion mit der Wand hatte im übrigen schon Theodor Hetzer ausdrücklich aufmerksam gemacht als er schrieb: Giotto mache „uns in jedem seiner Bilder [...] eindrücklich, dass die Malerei eine Kunst der Fläche sei und deren Grundtatsachen zu berücksichtigen habe: Ausdehnung und Begrenzung, Senkrechte und Waagerechte. Dadurch aber wird jedes Fresko auf die Grundtatsachen der Mauer bezogen, auf die es gemalt ist“. (HETZER 1944, 257) Aber all dies beantwortet noch nicht die entscheidende Frage, die Didi-Huberman pro forma noch einmal gestellt hatte: „Wie konnten figurlose bunte Flächen zu Bedeutungsträgern werden?“ (1990b, 10) Ja, wie konnten sie das bei dem Einen und wie bei den Anderen? Der entscheidende Unterschied liegt wahrscheinlich im Folgenden: Kommen wir nämlich auf die Frage zurück, wie die Fragenden jeweils die »Mysteriösität« ihrer Bildzonen entdeckt haben, so hören wir einerseits: „Dahinter“ habe „eine ganze the-

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ologische Tradition der »dissimilitudo«, der Unähnlichkeit als Ideal aller Bilder und Figuren des Göttlichen“ gestanden. (DIDIHUBERMANN 1990b, 12) Nichts als Bücher und Bibliotheken stünden hinter den beobachteten Bildsymptomen. Es wäre hier vielleicht nichts als pure Ikonologie betrieben worden. Und doch besteht ein bemerkenswerter Unterschied zum Ikonologischen, wie der Verfasser selber feststellt: Ein Bild „illustriert“ in diesem Fall das Theologische nicht, sondern es „produzier[e]“ das Theologische. (EBD., 70) Das kann aber nicht so verstanden werden, als gäbe es ein vorauslaufendes Bildphänomen wie die Marmor-Malerei, die von sich aus einen präzisen theologischen Diskurs initiiert. Dass das Bild das Theologische produziere, muss sich auf das Bilderlebnis der Anschauenden beziehen. Für mich als Betrachtenden erschafft das Bild eine erlebbare Mysteriösität in der Figur einer „unähnlichen Ähnlichkeit“ oder des „Zweifach-Gleichen“. Es repräsentiert das (undarstellbare) Mysterium also einerseits nicht bloß. Andererseits mussten die Ordensbrüder der Dominikaner aber um die theologischen Reflexionen vorab schon wissen. Ansonsten hätten sie in dieser „unähnlichen Ähnlichkeit“ nur eine unähnliche Ähnlichkeit im Sinne einer unschönen Imitation gesehen und keine Anzeige des »Absoluten« wahrgenommen. Andererseits hören wir dagegen von Brötje: Es zeige sich dem intuitiven Verstehen in denselben Zonen unmittelbar das Mysterium der Bildschöpfung selbst. In ihnen ahmt sich das Mysterium der Schöpfung „gleichnishaft“ nach und vollzieht sich zugleich auch konkret. Während der ikonologische Pfadfinder Didi-Huberman durch sein Studium einen verborgenen Zusammenhang zur Referenz der Bildzonen wiederentdeckt, erschaut das betroffene Ich Brötjes, was im Erschauen anschaulich wird und hält es von sich aus für „gleichnishaft“. Während der eine demnach die Malerei methodisch »korrekt« theologisch kontextualisiert, soll der andere eine eklatante Theologisierung der Kunst betrieben haben. ... „Ich bin bei den Schlafenden“, so hat sich Michael Brötje bei einer dieser markanten Marmor-Flächen in der Arenakapelle eingefunden. Er hat seinen Blick von der Sockelzone auf die Ereignisbilder vor dem blauen Bildgrund gerichtet. Er wählt zwei Bilder zur eingehenden Beschreibung aus und wir greifen den Moment heraus, in dem der Existen-

  „In  all  diesen   bunten  Fle-­‐ cken  gab  es   einen  Akt  der   Nachahmung“.     (DIDI-­‐ HUBERMAN   1990b,  10)   „Das  Sich-­‐ Zeigen  eines   Phänomens  ist   eine  Bewe-­‐ gung,  die  eine   Sphäre  durch-­‐ läuft,  die  wir   nicht  kennen.“     (PICHT  1973,   323)

Abb.:  Giotto:  Noli  me  tangere,  Arenaka-­‐ pelle,  Padua,  1305.  

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tial-Hermeneutiker vom Fresko der Beweinung hinüber schaut auf die benachbarte Darstellung des Noli me tangere. Durch eine bestimmte vom Bild ausgehende Blickanweisung, auf die noch einzugehen sein wird, hatte er den Fortgang seines Sehvollzugs dann aussetzen müssen, wie er sagt. Durch diese Unterbrechung „der An-Sich-Entwicklung des Bildes“ und der erzählten Geschichte (BRÖTJE 2012, 75) sieht er sich nun mit der markanten Marmorfläche des Sarkophags direkt konfrontiert: „das Grab Christi – eine herrliche Farbfläche (pan de couleur), die den Hintergrund für den Schlaf der römischen Soldaten abgibt“, hatte Didi-Huberman dazu bemerkt. (1990b, 69) Es seien Flächen gestaltloser Farben, die den Ort frontalisieren und gleichzeitig die ganze Dynamik einer Virtualität entfalten...“ (EBD., 206) Diese Frontalisierung und „Wirkungsmacht“ „der Rechteckgestalt“ registriert natürlich auch Brötje: (1990b, 75) Die Sarkophagwand“ werde „mir zu einer eigenständigen Bildebene im Bild“. Diese gelte „für mich“ und trete in eine „innerbildliche Opposition. Sie setze sich in eine „Konkurrenzbehauptung zur [Bild-]Ebene selbst“. (EBD.) In diesem Zusammenhang nimmt die Bildwahrnehmung eine entscheidende Wende. Brötje entdeckt in diesem Marmor keine Dialektik von „sichtbaren Ähnlichkeiten und visuellen Unähnlichkeiten“ im Dienste oder als „Spur“ des Mysteriums. Stattdessen meint er im Gegenteil, eine „total gesetzte Materialprägung“ – meine „Realität“ – „das Welthafte, Diesseitige“ vor sich zu haben. (EBD.) In der Konsequenz rückt er quasi körperlich mittig vor dem Bild stehend ein Stück nach links in diese Zone ein. Das Bild verschiebt ihn auf diese Weise aus der „Vision“ des Heilsgeschehen mit Jesus, Magdalena und den Engeln in die Sarkophagwelt der schlafenden Menschen. Wie kann es dazu kommen, dass der eine, Didi-Huberman, wiederum ein Mysterium im Marmor diagnostiziert und der andere, Brötje, nur reine Marmor-Imitation sieht, wie schon in der Sockelzone – und damit nichts als materielle Diesseitigkeit erkennt? Nach wie vor betrachten beide dasselbe Bildphänomen. Für Brötje ist der Marmor im Bild dem wirklichen Marmor und dem architektonischen Marmor in der Sockelzone zu ähnlich. Er kann ihn deswegen nicht „unähnlich“, als etwas anderes als diese Stein-Illusion, wahrnehmen. Dabei bleibt es einfach.

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Das Mysterium liegt gerade nicht im Marmor begraben. Sonst wäre das gesamte dargestellte Bildgeschehen mit Engel und Christus demgegenüber bloße Repräsentation. Im Gegenteil also: Durch das illusionistische Bild im Bild, das die Marmorwand vorstellt, bringe sich das Fresko als Werk in sich selbst erst als Vision „in Verhandlung“. (EBD.) Dahinter scheint aber ein völlig anderer Bildbegriff zu stehen – und auch ein anderes Verständnis von Selbstreflexivität. Denn auch für den Franzosen waren Marmorzonen verbunden mit einer Aussetzung und Unterbrechung der Narration. Auch für ihn kam darin etwas anderes zur Sprache: das Undarstellbare. Für Brötje verhält es sich dagegen nun genau umgekehrt. Für ihn ist das Bild das Mysterium; und innerhalb davon erklärt sich eine Marmorzone zur bloßen Vortäuschung, zum Schein. Aber was war dem Betrachter überhaupt zugestoßen, bevor er so oder so vom Bild den unbedingten Anstoß zur Unterbrechung seines Anschauungsprozesses erhalten hatte? Der Übergang von der Beweinung zu Noli me tangere erfolgte für Brötje über eine „Zukunftsweisung der Klammeröffnung von Borte und Baum nach rechts, mit der mich die Beweinung entlässt“. (EBD., 73) Gemeint ist damit die Abschlusspartie der Beweinung. Baumverästelung nach rechts, der Stamm und seine Wiederaufnahme im Gewandsaum der letzten Figur seien so gestaltet, dass alles zusammengenommen die phänomenologische Ausprägung und Bedeutung einer nach rechts geöffneten Klammer erhält. Ausdrücklich werde damit auf den „Fortgang“ des Felsens auf gleicher Höhe aufmerksam gemacht. Aber es gehe dabei nicht um einen nur narrativen Anschluss der beiden Szenen. Wichtiger noch ist die Fortsetzung und spiegelbildliche Umkehrung der Teilung von homogenem Blaugrund und irdisch ausdifferenziertem Felsmassiv – wohlgemerkt nicht von „Himmel“ und Fels, sondern eben von „Blaugrund“ und Fels. Was der Betrachter hier sehe, sei ein „Absinken“ des Blaus. Dieses war in der Grablegung durch den „Aufstieg“ des Felsens immer weiter verdrängt worden. Ein intuitives Verstehen muss klarer Weise nicht argumentieren. Deshalb lautet der anschließende Satz in Brötjes Beschreibung zum Noli me tangere-Bild auch einfach: „Das Absolute gibt sich [im Blau] nach unten zuAbb.:  Giotto:  Beweinung  /  Noli  me  tangere,  Arena-­‐ kapelle,  Padua,  1305,  oben  Details.   rück ...“ (EBD.)

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[...] Der Greis machte eine Pause und fuhr dann fort: »Es sind jetzt 25 Jahre, junger Mann, dass ich an Giotto arbeite, aber was sind 25 kurze Jahre, wenn es darum geht, die Bilder zu schauen. Keiner weiß wie lange man braucht, bis man im Blau die ‚sinnliche Vorhaltung’ der ‚nächstmöglichen Verdichtung der unsichtbar anwesenden Bildebene’ gesehen hat – den ‚Anlaut des Absoluten, so wie Gold dessen blendender Glanz ist’«. »Jetzt unterhält er sich mit seinem Geist«, sagte Heidegger leise, »von einem ‚Sich-Ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden’ hat er sich in die Metaphysik verflüchtigt.« Bei diesen Worten wurde der Jüngling mit Macht von einer unerklärlichen Neugier auf Kunst ergriffen. Dieser Greis mit den klaren Augen, der so aufmerksam und zugleich starrsinnig dasaß und der für ihn mehr geworden war als ein gewöhnlicher Mensch, schien ihm wie ein seltsames Genie, dass in einer unbekannten Sphäre lebte. Es erweckt in der Seele tausend wirre Vorstellungen. [...]

„... Will aber mein Blick dem Absinken des Blaus über die Felsenkontur (in Weisungsrichtung der beiden Hände der Engel) folgen, werde dieser Blickverlauf jedoch kurze Zeit später „durch die Querstellung eines Stabes als Grenzsetzung abgeblockt“, so Brötje weiter. (1990, 73) An dieser Gelenkstelle, die der »Stab« für mich sei, passiere für das Auge nun vieles: Frontalstellung der Engelsfigur, ihre Blickrichtung, ihr Lächeln und so weiter. Vor allen Dingen aber geschehe eines: Die „Teilung des Engels durch den Stab. Diese letzte Maßnahme sei von höchst verstörender Wirkung. Denn der »Stab« bezeichne die Grenzscheide zwischen Vergangenheit (links) und Zukunft (rechts)“. So werde der »Stab« zu einer „Nulline“, einem „Nullwert“. (EBD., 74) Als bloßer Strich auf der Wand, nicht als empirischer »Stab« in einer Bildwirklichkeit, habe dieser nun die „Wirkpotenz einer lokalen Binnenverletzung, »Zer-

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schneidung der Ebene selbst“. (EBD.) Hier wird es für den Leser jetzt besonders interessant: Denn diese sichtbare „Umfunktionalisierung“ des Stabes zu einer Grenze und Nulllinie in der Bild-WandEbene ist erst einmal eine kühne Anschauungsanmutung. Gelangt man zu diesem Eindruck eines Risses in der Narration, wäre die sinnhafte Eigenstringenz der dargestellten und erzählten Geschichte daran kurzfristig „zerbrochen“. Für Brötje würde im Sehen intuitiv klar, dass sich die imaginäre fließende Bildwelt hier in der Kirche nicht für sich selbst zeigt, als rein illusionistischer Selbstzweck. Man soll sie nicht einfach mit dem Auge ablaufen können und sich so im Schein der Bildwelt verlieren.

Anschauungsablauf  bis  jetzt:     „A-­‐priori-­‐Setzung  der  Bildebe-­‐ ne,     Teilung  derselben  durch  den   Felskontur,  Teilung  des  Felsens   durch  den  Engel  im  Gegenüber   zu  mir,  [...]  Teilung  des  Engels   durch  den  Stab...“   Die  „Teilungsstrecke  des  Sta-­‐ bes“  „erweist  sich  damit  für   mich  als  das  Instrument  einer   lokal  Aussetzung  und  Umverfü-­‐ gung  der  Fallbewegung  des  Fel-­‐ sens.“  (BRÖTJE  1990,  73f.)    

In Folge der „Zerschneidung der Ebene“ durch den Stab-Strich bliebe mir nun gar nichts anderes übrig als mich auf eben diesen Engel zu konzentrieren. Denn nur im Kontext des Engels „kann ich“ den Stillstand bzw. die „Bruchsetzung zwischen Zeitentwicklung (Fels) und Zeitspaltung (Stab)“ überwinden. (EBD., 74) Dies gehe allerdings nur auf einem Wege: „indem ich“, so die Blickverfügung weiter, die Stab-Linie dadurch „entkräfte“, indem ich sie „richtungsverlängernd“ in die Gewandorganisation des Unterkörpers fortschreibe. Hier fächert sich die Abwärtsenergie in die Falten und dann in die Marmorfläche auf. Genau dies war übrigens die Situation gewesen, als Brötje glaubte anerkennen zu müssen, dass hier vor der Marmor-Wand der eigentliche Ort des Bildbetrachters liege: „Ich-Einfindung bei den Schlafenden“. „Mein Platz“ liegt »im Bild im Bild« der irdischen Menschen vor dem zu „realistischen“ Marmorsarkophag, hatte er ja schließlich befunden.

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Wenn dem so wäre, wie könnte das Ich dann aber aus dieser abgedrängten Selbstpositionierung wieder in die Vision des heilsgeschichtlichen Ereignisses zurückfinden? Nach einem längeren Sehaufenthalt bei den schlafenden Kriegern, der hier nicht weiter erörtert wird, gelinge mir die „Herauslösung“ „aus dem Bannfeld des Sarkophags“ mit Hilfe der knienden Figur „unter dem Schirm des ausgebreiteten Flügels. Über diesen Flügelverlauf nehme das Auge den Konturverlauf des Felsens schließlich wieder auf. (EBD., 77) Es sei an dieser Stelle einmal dahingestellt, wie genau eine Blick-Umorientierung von statten geht. Festzustellen bleibt wohl, dass jede wie auch immer gewiesene Sehwanderung tatsächlich früher oder später bei den Flügelfedern landen wird – und dass das „Ich“ sich darauf wird einlassen müssen, diese auffällig unnatürliche Flügelstellung zu aktualisieren. Aber noch einmal zurück: Wieso sollte ich überhaupt durch den schwarzen Schrägstrich, der doch genauso nur das Abbild eines Engelsstabes gewesen sein könnte, aus der Sehbahn geworfen worden sein. Was will das Bild von mir?  „Es   gibt   im   Bild   eine   Arbeit   des   Negativen,   eine   »dunkle«   Wirkungsweise,   die   sozusagen   das   Sichtbare   zerfurcht   [...].“   „[E]s   ist   die   Präsentation,   welche   die   Repräsentation   streift,   [...]   es   ist   das  Visuelle,  welches  das  Sichtbare  streift...“  (DIDI-­‐HUBERMAN  1990a,  149f.)  

„Was heißt das“, fragt auch Didi-Huberman in einem sehr ähnlichen Zusammenhang. Auch er registriert „Risse“ im Gewebe der Repräsentation: Bei Giotto wäre es vielleicht auch für ihn die Gegenwart dieses graden Strichs gewesen, der die Darstellung des Engels frontal teilt – „streift“, würde er wohl in seiner Terminologie sagen. Das ganze Bemühen dieses Kunstwissenschaftlers richtet sich auf die immer neue Erforschung solcher teils „aufreißender“ oder „klaffender“ Zonen der Instabilität und Unsicherheit, der Dysfunktion und der Negativität,... oder aber der Hysterie, der Ekstase und des Exzesses und des Zusammenbruchs. Und auch bei ihm stehen immer „wir“ im Jetzt ganz konkret, vertreten durch ihn, „vor einem Bild“: „Dort stehen wir vor ei-

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nem Bild, wie vor einer klaffenden Grenze, einem zerrüttenden Ort. [...] Die Frontalität, vor die uns das Bild gestellt hatte, zerreißt plötzlich“, so erlebt es Didi-Huberman, „doch jetzt wird der Riss Frontalität – eine Frontalität, die uns in Atem hält, festhält, uns, die wir einen Augenblick lang nicht mehr wissen, was wir unter dem Blick dieses Bildes eigentlich sehen“. (1990a, 234) Der Kunstphilosoph will die „unheimliche Wirkkraft“ (EBD., 167) der Bilder begreifen lernen und findet sie in einem immer wieder mit-auftauchenden „Anderen“. Dieses „Andere“ ist eine Macht im Bild, die man wohl sehen, von der man aber in actu ikonografisch nichts wissen kann. Früher, zu Heideggers Zeiten, sprach man auch von der „Macht der Entrückung“, der ich im Werk begegne. Ihr kam man näher durch „Besinnung“. (WEISCHEDEL 1952, 14) Nur in der unmittelbaren Besinnung auf das Fresko Giottos konnte mir der »Stab« zum einschneidenden Strich auf der Wand werden: „Durch die Vordergründigkeit [Repräsentation, js] des Bildes, des Tones, des Wortes hindurch kündigt sich etwas an, was nicht von dieser Vordergründigkeit selber ist.“ „... jenes Geheimnisvolle, das den Aufgeschlossenen immer wieder in das Anschauen zwingt“. Wer könnte diesen Satz geschrieben haben? Brötje, Didi-Hubermann oder etwa Wilhelm Weischedel? Hat ein Katholik, ein „Dekonstruktivist“ oder ein Metaphysiker hier vom Geheimnis gesprochen? Und wann? 1935, 1950 oder 1990? Was wäre der Unterschied?! Oder was bedeutet es andererseits, wenn man nicht ad hoc sagen könnte, von wem der Satz wirklich stammt?! Besteht der Unterschied darin, dass Didi-Huberman »ungläubig« und Brötje »gläubig« ist. Erstgenannter spricht in seinen Schriften bei aller ansetzenden Emphase vom metaphysischen „Symptom“ eher so wie der Drogenberater über ein Rauschmittel. Vielleicht kennt er es nicht aus eigener Erfahrung – nur durch seine angelesenen theologischen Texte und durch eine reflektierte Simulation. Es ist eine inszenierte Erfahrung, die nur so tut, als sei man dabei gewesen. Und doch besitzen seine Texte eine nachträgliche Evidenz: Am Ende macht er uns glauben, all die „unlesbaren“ Zonen doch lesen und sogar – für uns, die wir fast dabei gewesen wären – dann doch noch richtig verstanden zu haben. Irgendwie glaubt er, die Unähnlichkeiten, Störungen und Unlesbarkeiten richtig verstanden zu haben. Oder besteht der Unterschied darin, dass Brötje das »Wesen der Malerei« empfangen zu haben glaubt, während Didi-Huberman die widersprüchliche Logik einer Bildstruktur durchschaut, bzw. durchdacht haben will?

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„Überall  deutet  sich   die  seltsame  Macht   des  Kunstwerks  an.   Woher  sie  aber  kom-­‐ me,  und  worin  sie   gründe,  ist  bislang   nicht  deutlich  gewor-­‐ den.  [...]  So  ist  denn   erneut  die  Erfahrung   des  Kunstwerks  zu   befragen.“  (WEISCHE-­‐ DEL  1952,  19f.)    

Für den Metaphysiker muss jede Selbstreflexion des Malerischen am Ende auf den Bildgrund als Schöpfungsmetapher („Synonymgeltung“) zurückführen. Und zwar deshalb, weil die Selbstthematisierung der Bildebene – nichts anderes   wäre dieser Strich für beide Autoren ja – nicht ein„Sondern,  weil  es  nicht  nur   fach ein (negierender) Widerstand in der Repräsentadas  ist,  als  was  es  sich  dem   tion sein darf – keine Metamalerei und kein Selbstnächsten  Augenblick  zeigt.   zweck, der auf nichts anderes als auf die eigene GeWeil  es  ein  Anderes,  ein   machtheit verweisen würde. Stattdessen muss die Tieferes  birgt.  Weil  wir  im   Line ein „Riss“ sein, der so oder so bejahend die Angesicht  des  Kunstwerks   „Hinterfangenheit“ aller Erscheinung erkennbar werspüren:  hier  ist  die  Stätte   des  Erscheinens  der  Tiefe.“   den lasse. Dieser schwarze Strich als Widerrufung,   als „gegenwirkende Anweisung vom Medium her“, sei „...  Tiefe.  Sie  ist  uns  nur  da-­‐ eine „Aufhebung“ des Dargestellten „im Sinnhorizont rin  gegeben,  dass  jenes   des Anderen, des Absoluten“, sagt uns Brötje. (1990, [Werk]  auf  sie  verweist.  Sie   26, 15) Vor einem anderen Hintergrund könnte dies öffnet  sich  nur  im  Werk.   auch Didi-Huberman geschrieben haben. Wie groß Das  aber  besagt  zugleich:   sind die Unterschiede zwischen »Selbstdekonstruktisie  verhüllt  sich  in  das   on« und Kunstmetaphysik wirklich noch? Werk.“  Die  Tiefe  „verbirgt   sich  in  ihrem  Erscheinen“.     (WEISCHEDEL  1952,  22f.)  

Beiden geht es auf ihre Art um das Geheimnisvolle der Bilder. Und man hat den Eindruck als verhandelten beide den gleichen „Horizont“ der Bilder. Wilhelm Weischedel nannte „Horizont“ damals in seiner Sprache auch „Tiefe“. Es war seine Metapher für den Bildgrund und das Mediale, das als transzendentaler Schöpfungsgrund veranschlagt ist. Giottos schräge schwarze Linie mahnt so vielleicht an diese „Endmaßgeblichkeit der Ebene“. (BRÖTJE 1990, 78) Vielleicht handelt es sich auch nicht um Unterschiede, sondern um eine „Aporie“ oder ein „Dilemma“ zwischen Analyse (Didi-Huberman) und Ereignis (Brötje). Dem Semiotiker Roland Barthes war dies schon Mitte der 50er Jahre klar geworden. Am Ende einer Reihe von Untersuchungen, die er selbst durchgeführt hatte, bemühte er zur Beschreibung dieses Dilemmas eine Wein-Metapher, die für das Kunstwerk einstehen kann: Der Analytiker sei nämlich dazu verurteilt, schrieb er, sich bei all seinem Bemühen um Einsicht stets mit so etwas wie „der Güte eines Weins“ auseinander setzen zu müssen. Er könne sich aber nie „mit dem Wein selbst“ befassen (BARTHES 1957, 150) – wenn man so will: nie mit dem »Wesen« des Weins. Das kann nur der in das Ereignis selbst „Einberufene“ und Verstrickte. Aber vielleicht ist auch der »Stab« nur ein einfacher Stab und sonst nichts. Vielleicht überschreitet er gar nicht seine Dingbedeutung. Wer will das wissen, wenn die Macht des Bildes –

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und da sind sich beide wieder einig – kein Gegenstand reinen Wissens ist. Aber dennoch: Michael Brötje hatte uns gesagt: Diese schwarze Linie zwinge uns nur für kurze Zeit in eine Reflexion unserer Betrachterposition. Nach diesem „Aufenthalt“ bei den Hirten war uns sein Blick schon weiter, zum Bogenverlauf des Engelflügels, vorausgeeilt. Dieser Flügelbogen initiierte „als Folgeanweisung“ die Wiederaufnahme der Fallbewegung des Felsens und mit ihr die „Zukunftsentwicklung des Welt-Grund-Verhältnisses“. (BRÖTJE 1990, 77)

Die Felsentwicklung endet in den Gewandfalten der schreitenden Jesus-Figur, die sich in einer Abwendungsbewegung zum Bildrand hin befindet. Das ist soweit klar. Entscheidend in der rein visuellen Bildargumentation sei nun aber „[d]as gebieterische Halt, das die Figur“ noch in der Drehbewegung „mit der ausgestreckten Hand gegenüber der Fallbewegung des Felsens [...] ausspricht“. (EBD., 78) Es geht offenbar darum, dass die Figur nicht einfach einen so-und-so vorhandenen Felsverlauf berührt. Sondern was wirklich bildkausal zu sehen wäre, sei so etwas wie: Jesus drückt die Felskontur an dieser Stelle ein. Dies ist eine eminente Botschaft an mich, der ich Zeuge dieser Verfügungsgewalt werde. Damit manipuliert der Auferstandene die Art und Weise der „weiteren Absenkung, Annäherung des blauen Grundes nach unten“. (EBD.) Und weiter: „So ergibt sich als Seherkenntnis für den Betrachter, dass der Schreitende dort die bisherige Selbstauslegung der Ebene in das Grund-Fels-Gegenüber anhält...“ (EBD., 79) ... und sich selbst als neues vermittelndes Prinzip zwischen das Irdische und das Absolute (Blau) bringt. Denn in der Folge tritt diese Figur an die Stelle der Fels- und Blaugrund-Rela-

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tion – unerreichbar für die irdische Figur, die in der Erzählung Magdalena heißt und nach Jesus verlangt. Was sich für das wiedererkennende Sehen als ein davor darstellt – Jesus steht vor dem Felsen –, wäre anschauungslogisch also ein stattdessen: Jesus ersetzt die Blaugrund/Fels-Relation. Wäre es ein allzu rhetorischer Trick, nun zu formulieren: Er löse die Welt-GrundRelation durch sich selbst ab – er erlöse sie mit dem Einsatz seiner Körperexistenz...? Gleichzeitig ergebe sich zudem für das Sehen ein direkter Zug vom ausgestreckten Arm der Figur über den Faltenwurf des Obergewands nach oben: zur Fahne. Durch die Berührung mit dem Bildrand werde nun diese Fahne „im Oben“ „verankert“. „Durch diese formale »Anheftung«“ gewinne der „Formwert“ Fahne so „die Wirkpotenz einer Teilung des blauen Grundes...“ (EBD., 78f.) Damit behaupte sich in der Anschauung schließlich „die Kreuz-Fahne“ „als das Dokument einer Synthese, Sinnbesiegelung der gesamten Bildentwicklung.“ Als ein solches Sinn besiegelndes »Happy-End« garantiere sie schließlich – durch Jesus vermittelt – „die Rückverankerung der Welt „in der Instanz der Transzendenz“! (EBD.) „...  doch  ganz  dichterische  Schau“.  (BAUCH  1959,  7)  

   

„Ikonik  basiert  auf  dem   „Konzept  der  struktura-­‐ len  Bildanlage:  Sie  re-­‐ flektiert  diese...“     (vgl.  ausführlich  Brötjes   schlaue  Ikonik-­‐Kritik:   2001,  42-­‐44)

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Brötje hatte seinen Text, den so gut wie niemand zur Kenntnis nahm, ultimativ damit begonnen, die Arenakapelle maximal betroffen zu betreten. Max Imdahls berühmtes Giotto-Buch startete dagegen unaufgeregt mit einem leicht devoten Rekurs auf Erwin Panofskys Ikonographie. Für ihn betraf das ganze (vor-)ikonographische szenische Schema bekanntlich alleine das „wiedererkennende Sehen“; Didi-Huberman nannte es „das Wissen“. Aus Imdahls Perspektive ging es demgegenüber darum, den eminenten Anteil eines „sehenden Sehens“ an jeder Anschauungserkenntnis zu zeigen. Das alles ist hinlänglich bekannt. Dagegen wären für Brötje die wiedererkennbaren Partien – jede „sachfixierte Urteilsbildung“ – überhaupt schon fraglich. Diese würden in der „Erlebnisanmutung“ sowieso „außer Geltung gesetzt“ durch „formgenetische »Hervortreibungen«, „dingautonome Uminstrumentalisierungen“ (wie Falten zur Klammer) „Gestaltverdichtungen“, „innere Energiedrängungen“, „Einfaltungen“, „Sehübergängigkeiten“ und „Brechungen“ usf.. (DERS., 2012 a, 165; 2001, 210)

Man ahnt nun, dass Brötje auch dieses „sehende Sehen“ Imdahls nicht konsequent genug war und nicht weit genug ging. Oder mehr noch: Man könnte vermuten, dass selbst schon die Entgegensetzung von wiedererkennendem und sehendem Sehen zu hoch bewertet sein könnte. Als Oppositionsschema verdeckt es sogar im Grunde eher das komplexe Gewebe der Phänomenalität der Phänomene: die subtilen Formüberleitungen und – transformationen. Man könnte behaupten: Tendenziell unterdrückt und unterschätzt diese Spaltung des Sehens in zwei konkurrierende Sehmodi die „Operations- und Entdeckungsfähigkeit des Sehens“ sogar. (DERS., 2001, 206) Vielmehr spielt sich diese gerade im Zwischenraum und der Grauzone zwischen wiedererkennendem und sehendem Sehen ab. Das liegt vor allem daran, dass Imdahls Methodik, seine Ikonik, vornehmlich eine eher formal-lineare Flächen- oder Bildfeldlogik praktizierte. So konnte die Bildfläche nie als Bildgrund zur Wirkung kommen. In der Arenakapelle gibt es etwa im Fresko der Gefangennahme eine Gewandpartie, zu der Max Imdahl kein Wort verliert. Das Bild ist zu einer Inkunabel seiner rezeptionsästhetischen Bildwahrnehmung gemacht worden. Imdahl sieht bekanntlich eine imaginäre „Schräge“ inmitten der Bildfläche. Dieser füge sich das gesamte dramatische Handlungsgeschehen im Bildfeld. Die Pointe besteht nun darin: Man erkenne, dass diese formale Flächenordnung nicht einfach irgendein Kompositionsschema ist. Stattdessen weise sie allen Akteuren im Bildganzen einen vorbestimmten Platz zu. Genau darin visualisiere sich die heilsgeschichtliche Vorbestimmtheit und Unausweichlichkeit des gezeigten Ereignisses. Durch die „Schräge“ organisiere das Bild so seinen gesamten „sinnlichen Sinn“. Denn die formale Kohärenz und Unveränderlichkeit des Bildganzen stehe ein für die Unabänderlichkeit des biblischen Ereignisses. (IMDAHL 1980, 107)5 Wenn man so will, sieht der Autor den ganzen göttlichen Willen – bei Brötje heißt es ja „das Absolute“ – konzentriert in dieser sichtbar werdenden formalen Bildanlage. In ihr seien alle inhaltlich verhandelten Über- und Unterlegenheitsverhältnisse der Figuren schon vorab ausgehandelt. Einem anderen „energetischen Entfaltungsprozess“ (BRÖTJE 2001, 161) schenkt er dagegen überhaupt keine 5  Zu  weiterführenden  Ausführungen  zur  Anschauungslogik  Max  Imdahls  siehe  ausführ-­‐

lich  das  vorausgehende  Buch  des  Verfasser:  STÖHR  2010a.  

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Aufmerksamkeit. Denn man könnte genauso gut davon ausgehen, dass der eigentliche Akteur in diesem Bild der gelbe Gewandstoff ist, der Judas umhüllt. Und zwar umhüllt er Judas nicht im Sinne des „reflektierenden Bewusstseins“ so, dass man sagen könnte: Die Erstreckung des Gewandes sei motivisch und „wirklichkeitsgetreu“, dadurch begründet, dass Judas handlungslogisch Jesus umfasse. Sondern ich sehe dieses Umfassen von Judas her nur, um im nächsten Moment in einer Blickumkehrung die „wirkliche“ Bedeutung dieser „Formausdehnung“ intuitiv zu erkennen: Judas umfasst Jesus nur so und nicht anders, weil in der „visuellen Leitverbindlichkeit“ alle Entfaltungsenergie vom roten Kragenbesatz der Jesusfigur ausgeht. Von dort her entfaltet sich die Gewandprägung als Formkraft auf Judas zu. In der „Seheinlösung“ wird so die Handlungsrichtung dahingehend annulliert und umgekehrt: Nicht Judas umfängt Jesus, sondern von Jesus aus erfolgt die Einhüllung des Judas. (Die zitiert gesetzten Begriffe stammen von Brötje und wurden hier »ausprobiert«.) Es handelt sich in gleichen Maße um eine Energiebündelung nach oben auf Jesus zu, wie um einen von dort auch einsetzenden energetischen Entfaltungsprozess. Dieser »Vorhang« umreißt halbkreisförmig eine Zone, die für jedes nur wiedererkennende Sehen die Körperformen des Judas wären, die sich unter dem gelben »Mantel« abzeichnen. Für jeden Brötje-Freak wäre aber in den lichtgelben Partien keine Körpervolumenentfaltung zu sehen. Was sich dem Auge darbieten würde, wäre nichts anderes als eine leichte Binnenartikulation der Bildebene selbst – ähnlich den Ellbogen-»Beulen« bei Raffaels Madonna della Sedia. Man wird nun mutiger: Zu sehen wäre damit – inmitten des Bildes – wie sich das Mimetische in „die Tiefe“ des Bildgrundes, des »Transzendenten«, aufhebt, bevor es sich zu einem Mantelstoff zu den Rändern wieder konkretisiert. Diese Selbstmanifestation des Grundes geschähe genau im Rücken der Fi„Erst  im  Bild  ist  die  Schrä-­‐ gurengestalt, die im Verrat an Jesus zum treusten Agenten der Erfüllung des Heilsplans wird. ge  ein  formale  Einheit  und   Totalität  begründender   Wert  [und  …]  zugleich  ein   Sichtbarkeitsausdruck  so-­‐ wohl  der  Unterlegenheit   als  auch  der  Überlegenheit   Jesu“.     (IMDAHL  1980,  107)  

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Eigentlich hätte dieses Sehergebnis hervorragend mit Imdahls Leseweise seiner „Schräge“ korrespondiert. Denn auch im Mantel wird die scheinbare Unterlegenheit Jesu in Überlegenheit umgewendet. Aber das ikonische Sehen schaut lieber nach „einer an sich leeren Rahmensetzung, die durch die Feldliniensysteme eine

Aktivierung als Spannungsfeld erfährt.“ Damit entfalle aber die Bildfläche „in ihrer Eigenschaft eines Entlassungs-Grundes für die im Bild erscheinende Wirklichkeit. [...] Dazu eben müsste die Bildebene in ihrer metaphysischen Verfasstheit eines Ur-Grundes anerkannt werden“, so kritisierte Brötje seinen damaligen Chef. (2001, 44) Aber das Wühlen in den Tiefen des Bildgrunds war dem fortschrittlichen Bochumer wahrscheinlich auch schlicht zu national-katholisch. En vogue war zu dieser Zeit stattdessen das modernistische Diktum der »Flatness« des Amerikaners Clement Greenberg (1909-94). Wer wie Imdahl mit der konkreten Kunst und der Minimal Art sympathisierte, erwartete auch bei einem Giotto eine einfache dominierende Grade, die alle Spannung mit sich bringt. Michael Brötje dagegen war eben mit Heideggers existentialhermeneutischer Kunstphilosophie unterwegs. Und die hält sich nicht mit akademischen Unterscheidungen zwischen einem formalen und einem semantischen Sehen auf. Die Aufgeregtheit Didi-Hubermans, die sich gelegentlich in seinen Texten zeigt, und das leicht Fanatische Michael Brötjes rühren daher, dass beide davon ausgehen, dass Doppelwertigkeiten vom Auge sofort realisiert und ausgewertet werden. Der „Phänomensinn der Phänomene“ wird in der Bildanschauung immer sofort „eingelöst“. Das versuchen die Texte der Autoren mehr oder weniger mitzumachen. Das Erkennen braucht kein Lineal. Für Heidegger geschieht Wahrheit im Kunstwerk „aus sich selbst heraus“ und ohne mein Zutun; wahrscheinlich sogar ganz ohne mich. Daher wartet es auch nicht auf meine Auslegungskunst. Und daher fitzelt der Freiburger Großphilosoph selbst auch gar nicht erst an Bilddetails herum. Alles geschehe als „Wurf“ – und als „Anwurf an uns“. (BRÖTJE 2010, 9) Michael Brötje versucht hingegen eine slow-motion-Aufzeichnung dieser »Transzendenzerfahrung.« Gemeinsam ist ihnen die »Besinnung« auf das, was in der Kunst »sich ankündigt«. „Es  mag  den  Kundigen  [bisher]  befremdet  haben,  dass  unter  denen,  die  die  Kunst  »meta-­‐ physisch«   betrachten,   auch   Heidegger   erwähnt   wurde,   bei   dem   doch   von   Veröffentlichung   zu   Veröffentlichung   deutlicher   wird,   wie   schroff   er   sein   »Denken«   von   aller   metaphysi-­‐ schen   Bemühung   absetzt.   Was   er   als   »Metaphysik«   bekämpft,   ist   nun   freilich   die   besonde-­‐ re   Gestalt,   die   sie   in   der   Geschichte   der   abendländischen   Philosophie   angenommen   hat.   Doch  [...]  zeigt  sich  ein  Übereinstimmendes:  Heidegger  ebenso  wie  die  traditionelle  Philo-­‐ sophie   fragen   nach   dem   Sein.   Beide   unterscheiden   sich   zwar   [...]   grundlegend   in   dessen   näherer  Bestimmung.  Für  beide  ist  jedoch  das  Sein,  in  einem  formalen  Sinne  verstanden,   das,  was  nicht  in  der  nächst  gegebenen  Wirklichkeit  aufgeht,   und   was   doch   [...]   in   dieser   »anwesend«  ist  und  sie  gründet.   Eben   das   umreißt   in   einer   vorläufigen   Kennzeichnung   jenes   »Metaphysische«,   nach   dem   in  der  Besinnung  auf  das  Wesen  der  Kunst  gesucht  wird.“  (WEISCHEDEL  1952,  11)  

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V.   [...] Der junge Schüler war nun verunsichert, aber durchaus angetan. »Ja, mein Lieber,« begann Brötje noch einmal, »was mir bis jetzt gefehlt hat in all der Einsamkeit und Isolation meines getreuen Anschauen und Schreibens, war die Begegnung mit jemandem, der mir hätte beistehen können, ein für alle Mal das unabweisliche und doch so fragile Gleichnis von Bildgrund und Seinsgrund, von Bildebene und Transzendenz für alle einsichtig zu machen. Oh, um für einen Augenblick, ein einziges Mal richtig sagen zu können, wie die Referenz ins Bild kommt... ‚Überall deutet sich eine seltsame Macht des Kunstwerks an. Woher sie ihm aber komme, und worin sie gründe, ist bislang nicht deutlich geworden.’ Wie könnte ich einen Weg finden über die Transzendenz so zu sprechen, dass sie ‚nicht wie eine von außerhalb des entstehenden Textes eingedrungene Essenzen behandelt wird’, als vorausgesetzte metaphysische und transzendente Referenz,   ‚die philosophische Allgemeingültigkeit beanspruchen   könnten. Sie besitzt doch ihre Wahrheit nur innerhalb (*die  Sequenz  im  Fließtext   einer unersetzbaren Komposition. Mehr ist sie Motiv.’* stammt  von  DERRIDA   Denn es ist ja doch so: ‚Die hier entwickelte Theorie des 1981b,  41)   künstlerischen Bildes […] setzt weder die wirkliche   Existenz von Transzendenz noch den Glauben an diese „Man  kann  –  oder  sollte  –   voraus. Sie greift lediglich in der Frage nach dem diese  Werte  [...]  nicht  ein-­‐ Grund der Kunst im Menschen auf eine wesensimmafach  abtun.  Man  muss  ei-­‐ nente Veranlagung desselben zurück auf das Urnen  neuen  Raum  und  eine   Bedürfnis der Vergewisserung eines letzten Grundes, neue  Form  sozusagen  kon-­‐ struieren,  um  eine  neue   der das Sein, die Wirklichkeit hinterfängt.’ Und auch ist Art  des  [kunstwissen-­‐ doch ‚zu betonen, dass mit der Synonymgeltung von schaftlichen  Denkens]  zu   Ebene und Absolutem nicht eine reale Gegenwart des gestalten,  in  die  diese   letzteren gegeben ist. Es handelt sich lediglich um eine Themen  oder  Werte  neu   Anmutung seitens des Bildes an das Ich…’«. (Brötje, eingebracht  sind,  nachdem   2001, 141) Der Gelehrte schnappte ein wenig nach Luft. sie  ihre  äußere  Vorherr-­‐ Was folgte, war eine kurze Pause, bevor der Monoschaft  verloren  haben.“     log des Greises endete: »Dies zu zeigen, dafür gäbe ich (DERRIDA  1989,  71)   mein ganzes Vermögen hin. Wie Orpheus stiege ich den Orkus der Kunsttheorie hinab, um den Glauben an das Transzendente von dort zurückzuholen.« »Wir können aufbrechen,« sagte der Philosoph. »Er hört uns nicht mehr, sieht uns nicht mehr!«

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»Gehen wir in sein Arbeitszimmer,« antwortete der verwunderte junge Mann. »Oh, der greise Eremit hat sich gegen jedes Eindringen gründlich gesichert. Seine Texte sind verborgene Schätze, die sich durch ihre Überzogenheit dagegen zur Wehr setzen, dass wir zu ihrem Nutzen gelangen können.« »Es gibt also einen wertvollen Schatz in den Schriften?« »Ja. Der alte Brötje ist ein Mann, der unsere Kunst leidenschaftlich liebt, der höher und weiter sieht als die Anderen. Er hat gründlich über die Phänomene nachgedacht, über die absolute Wahrheit der Ebene und so fort, aber aufgrund seiner Untersuchungen zweifelte man am Sinn eines Forschens. In den Augenblicken seiner einsamen Verzweiflung behauptete er immer noch, in der Tiefe des Schöpfungsgrundes den Verweis auf das Absolute erblicken zu können. Doch die größere Wahrheit ist, dass Beobachtung alles ist und dass man, wenn Vernunft und Kunst im Streit liegen, bei einem gewissen lohnenden Wahnsinn anlangen kann wie unser guter Alter, der ebenso ein Verrückter wie ein Kunstwissenschaftler ist – ein hervorragender Kunstwissenschaftler, nur hatte er das Pech, seine bibeltreue Phantasie allzu sehr schweifen zu lassen. Eifert ihm nicht nach!« »Wir werden hineingelangen!« rief der junge Mann, der nicht mehr zuhörte und an nichts mehr zweifelte. [...]

Im Korpus der Schriften Michael Brötjes gibt es einen Text, der wohl zweifellos mit großer Absicht wahnsinnig nah an Heideggers Kunstwerkaufsatz kommen will. Die Berührung der beiden Autoren ergibt sich erst einmal durch die jeweils gewählten Bildbeispiele. Es dürfte allgemein bekannt sein, dass Heidegger an einer bestimmten Stelle und in einer bestimmten Phase seiner Argumentation ausgerechnet van Goghs Bauernschuhe heranzieht. Mit eben solcher Bedachtsamkeit wählt Brötje demgegenüber den Stuhl van Goghs aus. Man könnte nun sagen, dass Brötjes Stuhl-Beschreibung wie eine nachträgliche Sehanweisung der Schuhe gelesen werden kann. Dies wäre schon deshalb interessant, weil Heidegger ja eben jede detailliertere Bildbeschreibung vermieden hatte. Umgekehrt blieben Heideggers eigene Aussagen zu den Schuhen „absolut modern, selbst wenn er die Wahrheit in Bauernschuhen austrägt“. (WYSS 1996, 60)

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Heideggers   Kunstwerkauf-­‐ satz  am  schöns-­‐ ten  beschrieben   bei  WYSS  1996,   35-­‐78.  

Abb.:  Vincent  van  Gogh:  Links:  O.T./Schuhe  [Ein  Paar  Schuhe,  van  Goghs  Schuhe],  1886,  37,5  x  45  cm,   Van  Gogh  Museum,  Amsterdam.  Rechts:  Der  Stuhl  [Van  Goghs  Stuhl;  Vincents  Stuhl  mit  Pfeife],  1888,     93  x  73,5  cm,  National  Gallery,  London.  

Nun ist zunächst einmal dankenswert, dass Brötje Heideggers Text grundsätzlich so gut wie unerwähnt lässt. Man muss nur um ihn wissen. Dies folgt vielleicht der Einsicht, dass man den Aufsatz Zum Ursprung des Kunstwerkes eigentlich weder kurz referieren noch anwenden kann, ohne ihn zu zerstören. Allenfalls kann man versuchen, ihn bis zu einem gewissen Punkt der Abweichung von Innen her nachzuvollziehen. Jede Perspektive »von außen« macht ihn nur zum operationalisierbaren Objekt. Also nimmt Brötje van Goghs Stuhl-Bild, um durch ein zweites Gemälde in einen quasi endoskopischen Dialog mit Heideggers Aufsatz treten zu können – oder der Bauchredner macht es so. Der erste Satz der Abhandlung, die Brötje dann schließlich über den Stuhl verfasst, klingt ein wenig so, als habe sich der Autor selbst etwas gewundert: Einmal über die erstaunliche, aber nun wohl erwiesene Stichhaltigkeit seines eigenen Ansatzes. Zum anderen über die tatsächlich so enorme Visualisierungsstringenz des ausgesuchten Bildes: Er fragt, ob beziehungsweise wie es möglich sein könne, dass ein „Bild mit so minimalem Motivstand“ wie das Stuhlgemälde „dennoch in paradigmatischer Weise die Schöpfung in Gänze versinnlichen“ könne – von „Keimung“ und „Entfaltung“ bis zur „Auflösung“. Und: „Den Schöpfungsbeginn signalisiert der Pflanzkasten links“. Dieser sei nicht als im Bildausschnitt nur

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angeschnitten zu sehen, sondern phänomenal als spitzes Dreieck und „Anfangsimpuls“ vom Bildrand her zu verstehen. (BRÖTJE 2012b, 209) Aber vielleicht hatte sich der Verfasser auch gar nicht über sich oder das Bild gewundert. Seine Frage könnte auch nur rhetorisch gewesen sein. Denn schon hier liegt alles auf der Hand: Die motivisch dargestellte Keimung einer Blumenzwiebel – erste „Hervorsetzung der [Bild-] Wirklichkeit“ – zeigt doch gleich, was Malerei eigentlich ist: eine (mit Vincent signierte) Bildschöpfung aus dem Grund: „Es Werde“, so Brötje! Er nennt diese malerischen Keime: Erste „Seinsverdichtung“ zu etwas vegetativ-Förmlichen. (EBD.) Dabei hätte diese Beschreibung des Blumenkastens als „Schöpfungskonzept“ fast sogar tiefgehende kunsthistorische Wurzeln: Denn schon in der Stillebenmalerei des 17. Jahrhunderts habe man nämlich das Bildfeld („Pictura Acker“) als „Campus, Grund oder Boden“ betrachtet, aus dessen „Tiefe“ „Einzelformen sich lösen und an die Oberfläche kommen“. In diesem fruchtbaren (Bild-)Feld könne dann etwas „wachsen“: „Stellen wir uns vor [...] der Maler bewirtschaftet so ein Feld, wie ein Gärtner, Bauer oder Feldarbeiter.“ (LEONHARD 2013, 4ff.) – Und auch Heidegger hatte sich ja schnell an Bauern erinnert gefühlt. Aber auch auf eine andere Art hat nun diese Sichtweise eine eigentümliche Ähnlichkeit zu Heideggers Betrachtung des Schuh-Bildes. Der erste Satz seiner Ekphrasis lautet dort: „Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeugs starrt die Mühsal der Arbeitsschritte.“ (1935, 27) Was hat es mit diesem „ausgetreten Inwendigen“ auf sich? Offensichtlich bezieht es sich zunächst auf das Dargestellte, die Zone des Schuhschaftes. Genauso gut könnte aber auch mit diesem „ausgetreten Inwendigen“ Brötjes erste „Seinsverdichtung“ „einbenannt“ sein. Kompliziert im Jargon formuliert: gemeint sein könnte auch der sich zum in Erscheinung-Kommen des Schuhinnenleders entziehende Grund des Bildes. Das Medium offenbart sich nur in dem, was es zur Erscheinung bringt. Es ist nämlich vermutlich so: Die berühmte Beschreibung der Bauernschuhe steht relativ am Anfang des Kunstwerkaufsatzes. Vorher hatte Heidegger noch nach dem Dinghaften gefragt. Dann

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„Aber  was   ist  da  viel  zu   sehen?“   (HEIDEGGER   1935,  26)  

    „Professor  Hei-­‐ degger  [...]  the   picture  he  has  in   mind.“   „In  reply  to  my   question,  Pro-­‐ fessor  Heidegger   has  kindly  writ-­‐ ten  me  that  the   picture  to  which   he  referred     in  one  that  he   saw  in  a  show     at  Amsterdam     in  March  1930.“   (SCHAPIRO  1968,   205)  

aber beginnt er, nach dem „Zeug“ zu forschen und wählt zur Erläuterung die gemalten Schuhe, die aber eigentlich „ein Paar Bauernschuhe und nichts weiter“ seien. Mit einem „Und dennoch“ folgt dann die berühmte Passage der Bildbeschreibung. (EBD., 27-28) Drei Seiten später, nach seiner Ekphrasis, fragt Heidegger (sich): „Was geschieht hier? Was ist im Werk am Werk?“ (EBD., 30) Wahrscheinlich ist in der Zwischenzeit folgendes geschehen: Während Heidegger noch glaubte, nur das Schuhzeug, das er im Bild abgebildet sah, beschrieben zu haben, hatte er damit eigentlich auch schon die Arbeit des Bildes und das „Wesen des Kunstwerks“ bestimmt. Er hatte schon hier – unmittelbar und 50 Seiten vor dem Ende seines Aufsatzes – die „Wahrheit“ des Werks an van Goghs Schuhen schon erlebt. Und zwar bevor sein philosophischen „Bedenken“ überhaupt richtig begonnen hatte. Als er schrieb: „Auf dem Leder“ liege „das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges...“ (EBD. 27) – als er dies formulierte, hatte er nicht nur das Zeug, sondern auch schon den besonderen Offenbarungscharakter des Werkes erfasst. Was im Stuhlbild bei Brötje die „Keimung“ im Pflanzkasten ist, kündigt sich bei den Schuhen als das „ausgetreten Inwendige“ an: Es ist genau das, was Heidegger erst später abstrakt durchdenken wird, wenn er fragt: „Deshalb suchen wir [...] die Wirklichkeit des Werkes. Worin besteht sie?“ (EBD., 35) Bei der Beantwortung dieser Frage wird er dann nicht mehr auf van Goghs Bild zurückkommen. Aber die Antwort hatte sich ihm dort im Grund schon gezeigt: Die „Wirklichkeit des Werkes“ begegnet im nach außen getretenen Inwendigen – modern: vom Medium her – und in den aus dem Bild starrenden Arbeitsschritten. Seine eigentümliche Bildbeschreibung erfolgte übrigens aus der Erinnerung. Das Bild muss ihm beim denkenden Schreiben wieder eingefallen sein. Die Aussagen geschehen nicht mehr direkt vor dem Werk, sondern mit Abstand. Als er seinen Text endgültig zu verfassen begann, lag die Begegnung mit dem Original bereits fünf Jahre zurück. Im Zuge seines Aufenthalts in Amsterdam im März 1930 hatte er es dort sehen können. Er hielt sich zu einem Vortrag zu der Heutigen Lage der Philosophie in der Stadt auf. Währenddessen besuchte er die van GoghAusstellung im Stedelijk Museum. Schon lange wieder zu Hause glaubte er zum Auftakt seiner Rekapitulation des Bildes, diesen Schuhen bereits damals die „Mühsal der Arbeitsschritte“ einer Bäuerin „angesehen“ zu haben. Aber wie kam er wohl zu diesem Zeitpunkt darauf?

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Vielleicht könnte es sich auch nur um eine „Projektion“ gehandelt haben: Bekanntermaßen wirft man dem Gelehrten gerne vor, ein eher verklärtes Idealbild von Bäuerlichkeit gepflegt zu haben. Der Philosoph könnte diese vielleicht nachträglich in das Schuh-Bild hineingesehen haben. Ebenso gut hätten es auch gar keine Bauernschuhe sein müssen, sondern stattdessen van Goghs eigene Schuhe, gemalt als eine Art Selbstportrait usw.. Wir kennen die Geschichten. (SCHAPIRO 1968, DERRIDA 1978) Wenn dem so wäre, könnten wir an dieser Stelle abbrechen. Es könnte sich stattdessen aber auch um eine sehr passende Deckerinnerung gehandelt haben. Heidegger glaubte, die Arbeitsschritte einer Bäuerin gesehen zu haben. Tatsächlich ausgelöst wurde diese Erinnerung aber dadurch, dass er die Arbeit des Bildes selbst erlebt hatte: wie nämlich ein Schuh sich „mit größter Evidenz als Transformations-Vorgang der Bildebene aus[weist]“. So sieht Brötje es jedenfalls im Falle seines Stuhl-Bildes. (2012, 215) Aus der Ferne machte Heidegger aus der Arbeit des Bildes, die Arbeit einer nicht zu sehenden Bauersfrau. Wenn der Philosoph nun also „aus der dunklen Öffnung“ die „Mühsal der Arbeitsschritte“ „starren“ sieht, dann steckt hinter dieser Anmutung eine verschwiegene Operation. Es geht um eine überschnelle Übertragung der Bildprozessualität auf die Bewegungsassoziation einer in ursprünglichem Schöpfungsgleichgewicht lebenden Bäuerin in ihrer Welt. Heidegger hat das Bild vor dem inneren Auge, beschreibt aber nicht mehr, was er bildimmanent gesehen hatte, sondern nun formuliert er, was im übertragenen Sinne damit »gemeint« gewesen sein mag. Wie man weiß, hielt Jacques Derrida, der ein großartiger Heidegger-Leser gewesen ist, diese Stelle im Kunstwerk-Aufsatz für den „Moment eines pathetischen, lächerlichen und symptomatischen, bezeichnenden Zusammenbruchs“. (DERRIDA 1978, 309, 343) Der Franzose begründete dies so: Der Autor habe sich mit diesen Zeilen leider auf fatale Weise von seiner eigenen, der „heideggerischen Fragestellung“, entfernt. Von der „festen Notwendigkeit“ dieser Fragestellung war Derrida indes fest „überzeugt“ gewesen. (EBD.) Aber vielleicht hatte sich Heidegger mit den paar „Assoziationen“ doch nicht so weit vom Kerngedanken entfernt. Die Ekphrasis erfolgt also aus dem Kopf – vielleicht anhand einer Reproduktion? Das Bild ist nicht mehr da. Und doch war sich Heidegger vollkommen bewusst, was gerade während seiner Bildbeschreibung passiert war. Er weiß: „Im Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt“. Im Falle des erin-

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„Wir  nennen   es  die  Verläss-­‐ lichkeit“.  (HEI-­‐ DEGGER  1935,   28)  

nerten Bildes bedeutete dies bekanntlich konkret: Es hat sich durch das Gemälde ins Werk gesetzt, „was das Zeug, das Paar Bauernschuhe, in Wahrheit ist.“ (EBD., 30) Nicht durch ihn oder ausgelöst durch seine Beschreibung war dies der Fall gewesen. Sondern diese Wahrheit (des Seins, des Seienden) hatte sich schon vorher, bei und mit der Entstehung des Gemäldes (von) selbst her geschehend ins Werk gesetzt – »geschenkt«. Aber wie nur? Brötje hatte seinerseits in seinem Stuhl-Bild zunächst einen „Schöpfungs-Anstoß im spitzen Kastenvortrieb“ gesehen, der „über sich hinaus auf den Stuhl“ ziele. Dieser Stuhl nehme mit der „Richtungsverlängerung [...] in der mittleren Querstrebe seiner Rückenlehne“ die Bildentwicklung auf. Dabei „figurier[e] der Stuhl ein Entfaltungsgeschehen“ aus der „Leitdirektive“ vom „Vorstoß und Naturkeimung“ her (EBD.) – das heißt also vom »Pflanzkasten« her. In diesem Sinne würden auch schon die Keime die vertikalen Pfosten des Stuhls präfigurieren. In den Querstreben verdreifacht sich der Impuls nach rechts bis hin zum hintern Pfosten, „dann absinkend...“ über die seitliche Sitzkante, dann so oder so bis zum untern Ende des vorderen Stuhlbeins. Dieses sei dem unteren Bildrand zugewiesen und dort „verankert“, während alles andere „immer stärker in eine Abwärtsneigung des Bodens übergeht“. (EBD.) Man kann diese „Folgesuggestion“ (EBD.) für Blödsinn halten oder eben nicht. Und natürlich kann mein Blick machen, was er will. „Und dennoch“. Allen anderen Orientierungen baut das Bild doch subtile Hindernisse auf: das kleine Astloch oben am Pfosten irritiert den Blickweg nach oben. Die ins rechte Stuhlbein geführten Quersprossen unten existieren als SehHindernisse, damit ich nicht schon diesem Bein nach unten folge. Brötje erwähnt diese Hindernisse nicht. Die intuitive Anschauung hat sie immer schon im Bruchteil einer Sekunde verarbeitet. – Hier am Ende des Stuhlbeins stoppt jedenfalls die „Entfaltung“ für einen Augenblick. Auch für den Bildbetrachter aus Freiburg ergibt sich in seinem Schuh-Bild ebenfalls ein „Entfaltungsgeschehen“ – allerdings erinnert Heidegger es zunächst als „aufgestaute Zähigkeit“: „In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeugs“, sagt er, „ist aufge-

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staut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers.“ (1935, 28) Was hat es mit diesem Satz auf sich? Phantasiert Heidegger hier wirklich? Nicht unbedingt. Je nachdem, wie man den Satz liest. Denn die „philosophische Arbeit verläuft nicht als abseitige Beschäftigung eines Sonderlings. Die gehört mitten hinein in die Arbeit der Bauern“. Denn Heidegger sitzt „zur Zeit der Arbeitspause abends mit den Bauern auf der Ofenbank...“ „...   oder   am   Tisch   im   Herrgottswinkel,   dann   reden   wir   meist   gar   nicht.  Wir  rauchen  schweigend  unsere  Pfeifen“.     (Nachlese  zu  Heidegger,  zitiert  nach  ADORNO  1964,  47f.)  

Heidegger erwähnt die „Furchen des Ackers“. Und auch für Brötje würde es zum Beispiel wohl keinen großen Unterschied machen, ob vom »Acker« oder vom »Grund« die Rede wäre: Dafür spricht seine weitere Betrachtung des Stuhls. Am Ende der Erscheinungsentfaltung, so heißt es dort, wird dieses Bild meine Aufmerksamkeit auf die hellblautürkise Türfläche ganz rechts im Bild lenken. In ihr verstrahlt sich das Gelb des Stuhls. Für das wiedererkennende Sehen wären diese Energien nur ein ornamentales Türdetail: zwei hellgelbe rahmende Linien als Türdekor. In dieser Zone ziehe „sich das Absolute“, das sich zum Stuhl entfaltet hatte, wieder „auf sich selbst zurück“. (BRÖTJE 2012b, 210) – in den »Farbacker«. Dem Sehen habe sich dies schon von selbst erschlossen: Hier habe sich einmal mehr die Erscheinung eines Stücks »Türe« – eines »Türausschnitts« – in das In-Erscheinung-Treten der Bildebene „zurückgezogen“. Aber soweit ist Heidegger bei den Bauernschuhen noch nicht: Bei ihm geht es in der Erscheinungsentfaltung erst noch um ein Aufgestautes und Zähes. Dies ist ihm in Erinnerung geblieben. Viele Seiten später, nachdem der Leser seine Beschreibung des Bildes schon fast vergessen hat, reflektiert er seinen Eindruck des Zähen und Aufgestauten im Begriff des „Zurückstellens“. Man muss sich das so vorstellen: Das Bild zeigt die Schuhe, die erschaut werden sollen, nie als abgeschlossene Erscheinung. Stattdessen werden diese Schuhe immer wieder »eingeholt«, zurückgestellt in den Malgrund – ...und was das Werk „in diesem SichZurückstellen hervorkommen lässt, nannten wir die Erde. Sie ist das Hervorkommend-Bergende“. (HEIDEGGER 1935, 42f.)

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„Indem  aber  eine  Welt  sich  öffnet,   kommt  die  Erde  zum  Ragen.  Sie   zeigt  sich  als  das  alles  Tragende,   als  das  in  sein  Gesetz  Geborgene   und  ständig  sich  Verschließende.“     (HEIDEGGER  1935,  63)  

Daher kann man wahrscheinlich sagen: Die „derbgediegene Schwere“ und der „langsame Gang“ durch die Furchen betreffen gleichermaßen das deutlich werdende »Wesen« des Schuhzeugs wie auch „die Wirklichkeit, das Werksein des Werkes“ . (EBD., 45)

Nimmt man Heideggers Ekphrasis trotz allem also ernst, müsste das „Entfaltungsgeschehen“ seh-logisch mit der Blickkonzentration auf die „dunkle Öffnung“ im linken Schuhinneren ansetzen. Denn damit beginnt sein Text. Er sieht zuerst, dass ihn diese „Dunkelöffnung“ anstarrt, bzw., dass ihn aus dieser Öffnung etwas anstarrt. Der rechte Teil des heruntergeklappten Schuhs leitet dann meinen Blick auf den rechten Stiefel. Die Dunkelöffnung ist hier abgelöst durch den aufgerichteten hohen Schaft. Brötje hätte sicher gesagt: »vom noch Eingerollten zum Entfalteten. Vom Sichtbaren des Inwendigen zum AufGestellten des Schuhes«. In der Parallelisierung der beiden Bilder – Stuhl und Schuhe – wäre man nun mit Brötjes Hilfe an einem entscheidenden Punkt: Dem aufgestellten Schuh entspräche die ausgebreitete Sitzfläche des Stuhls, bzw. dann der Stuhl als ganzer: Für diesen gelte nämlich nun folgendes. Die Sitzfläche erweise sich als „Brechungsrelationen“ zur Bildebene. Die spröde Bezeichnung „Brechungsrelation“ ist hierbei schlauer gemeint als sie klingt: Es ist vielleicht wieder nur ein Bauchgefühl, aber tatsächlich könnte die Sitzfläche als „verdichtete »Herumdrehung«“ der Bildebene hin zu einem „räumlichen Gebilde“ erscheinen. „[A]ls Schöpfungsprodukte“ haben der Stuhl mit seiner Sitzfläche, „gleichermaßen Teil am zeitenthobenen Absoluten wie an meiner zeitgebundenen Ich-Existenz, in der Ortsbereitung »hier in der Welt«“. So werde der Stuhl zur Verständigungsbrücke zwischen dem Absoluten und mir selbst.“ Dem Auge bietet sich dieser „Sitz“ als „Vermittlungsangebot“ zwischen Transzendenz und weltlicher Immanenz an. Dieses „Bekenntnis“ könne natürlich nur das intuitive Verstehen „spontan realisieren“. (2012, 210ff.)

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Was wäre nun, wenn man dem, ganz unspontan, im nachhinein also, tatsächlich zustimmen könnte? Das Ganze ist nicht so weit hergeholt. Und was wäre, wenn man genau dies auch für die Schuhe sehen und sagen könnte: Die Schuhe als ein solches ungeheures Angebot!? Sie stünden im und als Bild da, um mir einen „Ort zu bereiten“ oder besser gesagt: für „meine“ Schritte – „in Erwartung“ so wie die leere Sitzfläche – in Erwartung für meine Verständigungsschritte „zwischen dem Absoluten und mir selbst“ bereitgestellt. (EBD., 212) Das Sensationelle dabei ist, dass Heidegger dies möglicherweise auch spontan selbst schon für sich so realisiert hatte. Er hat dieses Vermittlungs- und Verständigungsangebot nur in seine Sprache übersetzt: Denn in seiner Ekphrasis heißt es nun weiter: Durch dieses Schuh-Zeug ziehe „das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes.“ (1935, 27f.) Nichts anderes als das Ganze sieht Heidegger in den Schuhen hier aufgerufen. Das ist seine Beschreibung dafür, wie die Schuhe gleichermaßen »teilhaben« – wie dann wieder Brötje sagt – „teilhaben am zeitenthobenen Absoluten [...] wie auch an meiner zeitgebundenen Ich-Existenz, in der Ortsbereitung hier in der Welt“. (EBD., 210) Überdies führt Heidegger weiter aus, im „Schuhzeug schwing[e] der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken (des reifen Korns) und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache (des winterlichen Feldes).“ (1935, 27f.) Später wird er auch diesen Satz seiner pathetischen Ekphrasis philosophisch so reformulieren: Das Werk lasse, „indem es eine Welt aufstellt“, indem es etwas Gestalt werden lässt, „den Stoff nicht verschwinden, sondern allererst hervorkommen, und zwar im Offenen der Welt es Werkes“: „die Farbe [kommt] zum Leuchten ...“ (EBD., 42) Aus Mal-Farbe werde – durch die Gestaltwerdung des Bildes hindurch – „Erde“. Das ist wichtig und muss noch einmal entschieden betont werden. Wenn man der Einfachheit halber aus „Erde“ Material oder die Materialität des Bildes machen würde, verschenkt man alles, was hier rekapituliert werden soll.6 6  Gottfried  Boehm  nimmt  an,  dass  Heideggers  philosophische  Ausführungen,  die  sich  an  

die  kurzen  »Assoziationen«  zu  den  Schuhen  anschließen,  „nicht  mehr“  „auf  die  Betrach-­‐ tung   des   Van   Gogh-­‐Stillebens   zurück[wirken]“.   Bild   und   Text   hätten   also   nichts   mitei-­‐ nander  zu  tun.  Stattdessen  bedürfte  es  „eines  neuen  Gedankengangs“,  „um  das  Gemälde   nicht   nur   als   Illustration   [...]   zu   nutzen,   sondern   als   Werk   selbst   ernst   zu   nehmen.   Hei-­‐ deggers  Beschreibung  ist,  im  Lichte  seiner  eigenen  Einsichten,  im  Grunde  zu  eng  und  zu   literarisch.“   (BOEHM  1989,   272)   Die   hier   angeregte   Lektüre   versucht   das   Gegenteil   zu   zei-­‐ gen.  

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„Das  Aufstellen   einer  Welt  und   das  Herstellen   der  Erde  sind   zwei  Wesenszü-­‐ ge  im  Werksein   des  Werkes.  Sie   gehören  aber  in   die  Einheit  des   Werkes  zusam-­‐ men.“   (HEIDEGGER   1935,  45)

Farbe und Bildgrund als „Erde“ verstanden, verbrauchen sich nicht im Herstellen des Werkes. Farbe als „Erde“ ist so etwas wie der bleibende, uneinholbare Rest vor jeder Differenz oder Form: „das noch Unentschiedene und Maßlose“. Dieses ist gerade nicht – wie das Material – von vornherein da, sondern „gelangt“ erst, indem eine Welt aufgestellt wird, zum Vorschein, ins Unverborgene. (EBD., 63) Heidegger  schreibt:  In  der  Erde  „gründet  der  geschichtliche  Mensch  sein  Wohnen  in  der  Welt“.     (EBD.,  43)     Brötje  sagt  ganz  ähnlich:  „...  die  Erfahrung  eines  Gegebenseins  der  Welt  aus  dem  Grund  der  Trans-­‐ zendenz“.  (1990,  105)  

Viele haben über den Unterschied von Farb-Material und „Erde“ geschrieben, aber erst bei Brötje wird dies zu einer Ästhetik des Bildgrunds noch einmal klar konzeptualisiert. Für die hier behandelte Fraktion ist ganz klar: Es geht keineswegs um einen oberflächlichen Umgang mit bloßem Material! Es geht viel eher darum zuzusehen, was sich in diesem Wirken „schenkt“ und erzeugt: eine »Referenz«, »Transzendenz« oder eine »Wahrheit«. Dem einen, Heidegger, geht es um eine »Wahrheit« des Seins, die sich zu Zeiten als Kunst ereignen soll. Dem anderen, Brötje, geht es um ein Höchstes. Das sollten wir im Nachspielen und Nachsagen dieses Diskurses nicht vergessen. Deswegen mahnt Heidegger seine Leser auch zur Umkehr, denn: „Wir haben nicht mehr einen wesentlichen Bezug zur Kunst.“ Und fordernder klingt es, wenn er anschließt: „Wir bleiben [...] hinter den wesentlichen Entscheidungen und ihrer Vorbereitung zurück.“ (1953, XIII)7 Und Brötje schlägt in die selbe Kerbe, wenn er seinen Lesern klar zu machen versucht: „Um  einen  einfachen  Bauernstuhl  mittels  energetischer  Pinselführung  in  seiner  substantiel-­‐ len  Dichte,  Solidität,  Ausdruckskraft  und  Eigenwürde  vorzuführen,  bedarf  es  nicht  des  Ge-­‐ nies  eines  van  Gogh,  das  können  auch  minderbegabte  Maler.“  (BRÖTJE  2012b,  216)  

„Das hätten wir. – Bevor wir weiter gehen...“ (DERRIDA 1978, 346) Vielleicht sind diese Schuhe eine „Vorbereitung“ für uns? „Und diese Schuhe schauen uns an. Sie sehen/gehen uns an. Ihre Aufgelöstheit ist evident. Aufgeschnürt, vernachlässigt, abgelöst von Subjekt (Träger, Inhaber oder Eigentümer, sogar Au-

7  „Die  

Übersetzung   von   Heideggers   Werkkonzept   in   analytische   Kategorien   kunstge-­‐ schichtlicher  Art  vernachlässigen  zweifellos  manche  Facette  seines  Denkens“,  resümiert   Gottfried   Boehm.   (1989,   285)   Das   stimmt   nicht.   Jeder   dieser   Versuche   entzieht   dem   Werkkonzept  sogar  den  Grund  und  Boden.      

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tor-Unterzeichner) und aufgelöst in sich selbst.“ Und weiter: Die „Schnürbänder sind gelöst“, protokollierte nun nicht Michael Brötje und auch nicht Martin Heidegger, sondern der französische Dekonstrutivist Jacques Derrida. (1978, 308) Das Auge hat vielleicht schon realisiert, dass diese Schuhe auf diese Weise für mich bereitgestellt sein könnten und zwischen mir und einem „Absoluten“ vermitteln können sollten. Deshalb schauen mich diese Schuhe wohl auch an. Im Sehen habe ich es schon gewusst: nur für mich stehen sie ein Stück weit offen. Die in diesem Zusammenhang viel diskutierte Frage lautete nicht zuletzt auch bei Derrida: Wie sind die halb offenen Schuhe geschnürt? Beim rechten anders als beim linken Stiefel. Drunter oder Drüber...? Wie wir wissen, wollte Derrida mit seiner Frage auf etwas anderes hinaus als noch Heidegger: Für den Gelehrten in Paris wurden die Schnürriemen zur Allegorie der bindenden und entbindenden Kraft der Malerei. Aber das konnte er wohl unmöglich im Schuh-Bild selbst gesehen haben – Ein Paar Bauernschuhe, und nichts weiter. Wenn jemand sein philosophisches Weltbild in van Goghs Werk projiziert, dann vielleicht an dieser Stelle am ehesten Derrida. Verlasse ich mich also lieber auf mein intuitives Sehverstehen, wie es Brötje jedem rät.

Was so zu sehen wäre, wenn der Blick sich schließlich in die Schlaufen und Riemen verstricken würde, wäre etwas gänzlich anderes. Es wäre ein Hin und Her und ein Drunter und Drüber – ein vorgeführtes Sich-Verstricken von „Welt“ und „Erde“ – „in Innigkeit“ und „aufgelöst in sich selbst“. Als nun wiederum Heidegger zu Hause an seinem Schreibtisch saß, schrieb er dazu auf, dass das „Gegeneinander von

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„Das  Gegeneinander  von  Welt   und  Erde  ist  ein  Streit“.  (etwa   verstanden  als  ein  Ringen).   „Das  Werksein  des  Werkes  be-­‐ steht  in  der  Bestreitung  des   Streits  zwischen  Welt  und  Er-­‐ de.“  Die  Wahrheit  kommt  „als   Streit  zwischen  Lichtung  und   Verbergung  in  der  Gegenwen-­‐ digkeit  von  Welt  und  Erde“  zum   Vorschein.   (HEIDEGGER  1935,  47,  63)    

Frage:  „Inwiefern  geschieht     in  der  Bestreitung  des  Streits   von  Welt  und  Erde  die  Wahr-­‐ heit?  Was  ist  Wahrheit?“  –  „das   Wesen  der  Wahrheit“?     Antwort:  Wahrheit  „heißt  die   Unverborgenheit  des  Seien-­‐ den“.     „Aber  wie  geht  das  zu?  Wie  ge-­‐ schieht  die  Wahrheit  als  diese   Unverborgenheit?  Doch  zuvor   ist  noch  deutlicher  zu  sagen,   was  diese  Unverborgenheit   selbst“  im  allgemeinen  ist:     „Inmitten  des  Seienden  im  Gan-­‐ zen  west  eine  offene  Stelle.  Eine   Lichtung  ist.“   „Zum  Wesen  der  Wahrheit  als   der  Unverborgenheit  gehört“   aber  ebenso  ein  „Verweigern  in   der  Weise  des  [...]  Verbergens.“     Damit  „soll  im  Wesen  der   Wahrheit  jenes  Gegenwendige   genannt  sein,  das  im  Wesen  der   Wahrheit  zwischen  Lichtung   und  Verbergung  steht.  Es  ist   das  Gegeneinander  des  ur-­‐ sprünglichen  Streites.  Das  We-­‐ sen  der  Wahrheit  ist  in  sich   selbst  der  Urstreit.“  (HEIDEGGER   1935,  47-­‐53,  Auszüge)  

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Welt und Erde“ „ein Streit“ sei. In oder aus diesem Streit bestehe, das „Werksein des Werkes“. In diesen Formulierungen kann man unschwer erkennen: Die Erinnerung an das In-Erscheinung-Kommen der Schnürsenkel bei van Gogh liegt förmlich noch in der Luft. Van Gogh scheint nichts anderes gemalt zu haben als genau diese Bindung und Lösung der Schnur-Welt an... die „Erde“. Auch Derrida hatte es sehen können: „Die Lösung der Schnürbänder ist nicht absolut, sie spricht nicht frei, entbindet nicht, durchtrennt nicht“, hatte er einerseits bemerkt. (1978, 396) Aber, so Derrida, es zeige sich andererseits auch keine Bindung, kein Halt in den Schürriemen. Derrida hatte nicht das Verhältnis von Bild und Grund gemeint, sondern der Lehrer der »Dekonstruktion« hatte mit dieser Diagnose auf die Unzuverlässigkeit der malerischen Signifikanten schließen wollen. Diese halten sich offen und schieben auf, worauf sie verweisen wollen. Van Goghs Bild stelle dies großartig aus, sonst nichts. Für Heidegger (und Brötje) lassen die Schnürbänder aber den Streit von „Welt und Erde“ „in das Offene“ „stehen“, und sie schnüren die Streitenden als Streitende zur Einheit in der Differenz zusammen – und dies, noch dazu, auf mich zu, für mich. Einer sieht also im „Urstreit“ von „Welt und Erde“ „das Wesen der Wahrheit“ selbst ins Werk gesetzt. (EBD., 1935, 53) Ein Anderer würde – wie im Falle des Schuh-Inwendigen oder des StuhlSitzes – gesehen haben, wie sich das »Transzendente« von der Bildebene her in die Welt wendet. Und ein Dritter sieht in der Schnürung schließlich sehr verbindlich die Unverbindlichkeit der Zeichen gezeigt. Bei allen Dreien bleibt es am Ende nicht bei einer bildimmanenten Lektüre. Das Bild wird überschritten, es macht einen Schritt auf eine »Wahrheit«, auf eine »Transzendenz« oder auf eine Struktur oder »Logik von Zeichen« hinaus.

Alles führt über das Schuh-Bild hinaus. Dabei kann man einzig sicher sehen, dass die Schnürsenkel von den Schuhen weglaufen und mich in den hellen (Hinter-)Grund hinein verweisen. Für die Anschauung bleibt dabei zu bedenken: Gerade die langen Enden der Schnüre wirken versteift wie kleine Äste. Auf der einen Art gehören diese Enden noch den Schnürsenkeln an. Auf der andern Art heben sie sich aber auch viel zu hölzern von der Schnürung ab. – Mehr auf der Leinwandoberfläche liegen sie als auf oder neben den Schuhen entlang. Es gibt zwei Bahnen dieser scheinbar zu »Ästen« erstarrten Schnüre. Der linke »Zweig« leitet den Blick nach vorne auf mich zu und dann über die Schuhspitze hinunter zur rechten Bildecke. Rechts wiederum fallen die AstRiemen steil nach unten ab. Wäre man ein Brötje, würde man diese Phänomenalität der Phänomene wohl so sehen: Über die Zweigverhärtung der Schnüre gelingt es mir, sich von dem Bild gewordenen „innigen“ Streit der Streitenden wieder zu lösen. Im Abgleiten bietet das Bild dem Blick dann ganz unten die Möglichkeit, sich wieder zu sammeln. Es versammelt den Blick buchstäblich in einem fast geschlossenen Kreis auf dem Bildgrund. Irgendwann wird aus jedem Sehen ein Deuten. Und wäre man wirklich ein Brötje, müsste der nächste Satz nun wohl lauten: Über die Ableitung des Blicks über die Schnürsenkelstarre wäre mir vom Bild her gedeutet: Das Vermittlungsangebot, das die Schuhe für mich bereitgestellt haben, währt nur kurz und wird mir durch die Weisungsautorität der Schnürsenkel-Zweige abrupt wieder entzogen. Als Ersatz dafür, dass die leeren Schuhe mir diese Vermittlung von Welt und »Transzendenz« nur für einen Augenblick anbieten konnten, lässt mich das Bild dann aber in der offenen Kreisform Ruhe finden. – So oder so ähnlich. Das Seherlebnis und die „Wirkungsqualität“ der beiden von oben zusammenlaufenden Schnürsenkel wäre die: Das Ich sähe eine »Zweig-Ader« – wie abgebrochen oder angeschnitten – mit Trieben nach unten und oben? Als ob in diesen Bahnen eine Energie aus der Bildmitte sich ableiten würde. „... sie bietet an ihrem Extrempunkt einen wie vorläufig offenen Kreis, bereit sich wieder zu schließen, wie eine Zange oder ein Schlüsselring. Eine Leine, die sich in der untern Ecke befindet, wo sie symmetrisch der roten und unter-

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Abb.:  Anonym:   Graphische  Darstel-­‐ lung  eines  abge-­‐ schnittenen  Zweiges.  

strichenen Signatur von »Vincent« [oben links] gegenübersteht.“ Diese Form, so sieht es Derrida, „nimmt da einen Platz ein, der üblicher Weise der Signatur des Künstlers vorbehalten ist.“ (1978, 326) Für Didi-Huberman wiederum wäre dies wohl die verstörteste Stelle/Form und der Zeitpunkt im Schuh-Werk, um nun von einem „souveräne[n] Unfall“ zu sprechen. (1985a, 159) Man muss wissen: In Didi-Hubermans »Drehbüchern« seiner Bilderfahrungen finden diese Unfälle oder Anfälle des Bildes immer dann statt, wenn etwa an einer Stelle die Konturen grundlos und unvorhersehbar verwischen und sich das dargestellte Detail in der Farbe selbst zum Verschwinden bringt. (EBD., 154) „Unfälle“ im Bild werden wahrnehmbar, wenn die „Aufdringlichkeit“ der Farbe als „Materialursache“, als „Hinweis“, „Signal“ oder „Symptom“ plötzlich so verstörend die Existenz der Leinwand vor Augen treten lässt. „Souverän“ seien diese Unfälle deshalb, weil das Bild sie verfügt. Sie entstehen nicht aus Dilettantismus, sondern mit Absicht.

 

„...  unidentifiable“.   (DIDI-­‐HUBERMAN   1985a,  155)   „It  frays  out  un-­‐ reasonably,  right  in   front  of  our  eyes,  like     a  sudden  affirmation   –  in  no  way  calcula-­‐ ted,  apparently  –  of   the  vertical,  frontal   existence  of  the  can-­‐ vas.“  (Ebd.,  154)     Beschrieben  werden   hier  die  »roten  Fä-­‐ den«  in  Vermeers   Spitzenklöpplerin.  

Heidegger und Brötje hätten in den senkrecht ansetzenden Zweigadern vielleicht das Versickern der Energien der Gegenstandsentfaltung in dem so erst sichtbar werdenden Urgrund sehen wollen: ein Sich-Zurück- und Zusammenziehen, ein Sich-Verschließen der Gegenstandswelt – ein letztes »Versammeln« vielleicht. Dagegen kann man mit Didi-Hubermans Hinweis auf Sigmund Freud an dieser Stelle (in scheinbar völliger Verkehrung der identischen Phänomenalität) so etwas wie einen Unfall oder auch einen unverständlichen „hysterischen Anfall“ des Gemäldes erkennen. (1985a, 159) „Der   Anfall   wird   dadurch   unverständlich,   dass   er   in   demselben   Material   gleichzeitig   mehrere   Phantasien   zur   Darstellung   bringt,   also   durch   Verdichtung.   [...]   Die   so   zur   Deckung   gebrachten   Phantasien   sind   oft   ganz   verschiedener  Art...“  (FREUD  1909,  10)  

Ein hysterischer Anfall im Bild sei demnach vergleichbar mit einer körperlichen Entgleisung bei einer Hysterikerin. In einem solchen Fall zeige  

Abb.:  Professor  Jean-­‐Martin  Charcot  zeigt  seinen  Studenten  einen     hysterischen  Anfall  bei  „Blanche"  Wittman,  1887;  Ausschnitt.  

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sich den Beobachtern in unvorhersehbaren, unverständlichen und sich widersprechenden Bewegungen die unmittelbare Botschaften des Körpers (EBD.) – man könnte auch sagen: des Mediums. In der Übertragung auf van Goghs Schuhe könnte man annehmen, es läge dort unten in der Bildecke genau der Ausbruch eines solchen akuten Anfalls vor. Nun wäre die Beobachtung eines solchen Un- oder Anfalls im Bild eine höchst aufschlussreiche Sache, weil – hielte man sich an Freud – damit auf unverständliche Weise mehrere „Phantasien“ der Malerei „zur Darstellung“ kämen: Verdichtet würde sich vielleicht auf diese Weise so auch das »Wesen der Malerei« enthüllen? Denn die Verfassung dieser Zone zeige die pikturale Selbstpräsentation der Malerei. Irgendwie sprechen alle vom Selben, nur anders. In diesem Sinne pflegte es schon George Didi-Hubermans großer Lehrer, der Philosoph Louis Marin, zu sagen. Marin nannte das, was er zu bestimmen vorhatte nicht »das Wesen der Malerei«, und auch nicht einen »hysterischen Anfall«. Aber auf den Punkt kommen wollte er dennoch. Denn „[j]ede Malerei, jedes malerische Kunstwerk“ sei nämlich „selbstkritisch, und zwar in dem Sinne, dass es piktural die grundlegenden Probleme stellt, die in der Malerei, in der malerischen Repräsentation als solcher liegen.“ „Zu sagen, dass die Repräsentation piktural die grundlegenden Probleme der Malerei“ stelle, bedeute dabei, dass die Malerei „die Repräsentation selbst, den Prozess, der sie hervorgebracht hat, präsentiert, zu sehen gibt.“ (MARIN 1981, 133) „Ist  ein  Diskurs   über  das  Kunst-­‐ werk  in  der  Malerei   möglich?  Ist  ein   Diskurs  über  das   Kunstwerk  in  der   Malerei  möglich,   der  nichts  anderes   wäre  als  der  Dis-­‐ kurs  des  Werkes   selbst?“  (MARIN   1981,  29)  

Im Falle der undeutlichen und unmotivierten Schuhriemen-Farb-Zweig-Ader-Ausfransung wäre die Überspanntheit und Nervosität, mit der die Malerei auf ihren eigenen Zustand hinzuweisen scheint, ein offener hysterischer Ausbruch (aus der Repräsentation). Die „Selbstkritik“ geschähe nicht überlegt und wohl inszeniert auf der Bühne der Repräsentation. Marins Untersuchungen hatten sich eher auf die Diagnose solcher »dezenten« innerdiegetischen Praktiken konzentriert. Aber wie dem auch sei: Marin und Didi-Huberman geht es zuletzt darum, dass jede Malerei, jedes malerische Kunstwerk, dieses Stadium der Selbstkritik inkubiert. Wenn man nun verstehen will, wieso die einen in van Goghs Bild das „Sich-Ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden“ sehen wollten, die anderen aber ein eher pathologisch, selbstkriti-

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sches Aufgewühltsein der Malerei hätten verzeichnen wollen – wenn man sich diese offensichtliche Abweichung klar zu machen versucht, muss man wohl folgender Maßen vorgehen: Man muss sehen: Der „Streit zwischen Lichtung und Verbergung“, zwischen „Welt und Erde“, einerseits oder ein „hysterischer Anfall“ andererseits sollen gleichermaßen die Essenz des Kunstwerkes ausmachen. Man könnte sagen, dass dabei vom selben phänomenalen Zustand des Gemäldes ausgegangen wird. Für Didi-Huberman oder Marin bliebe der Streit oder Anfall „nichts anderes“ als ein begrenzter innerästhetischer und selbstreflexiver Vorgang im »Körper« des Kunstwerks: Eine punktuelle Negation des Illusionismus, mit der das Bild sich selbst als Täuschung kritisiert – vielleicht wäre es sogar ein punktuelles Mysterium. Für Heidegger und Brötje dagegen hätte sich in dieser Bestreitung immer schon gleichzeitig etwas anderes – außerästhetische »Wahrheit« oder »Transzendenz« – ins Werk gesetzt. Der Unterschied liegt darin, dass für Brötje Selbstreflexion im Bild immer schon zugleich »Transzendenz-Offenbarung« ist – und für die anderen nicht. Denn nur, so argumentiert diese Bildtheorie hier, denn nur, „indem die selbstregulative räumliche wie strukturale Entwicklung der Gegenstandswelt für das Auge an entscheidender Stelle [...] zerbricht“ – man könnte eben auch sagen: ein hysterischer Anfall auftritt –, nur indem sich dieses Zerbrechen für mich ereignet, wird von Bild selbst aus „auf das Eine der Bildebene zurück[verwiesen]“ – auf das »Absolute«. (BRÖTJE 2001, 77) Die punktuelle Störung, „an entscheidender Stelle“, ruft offenbar augenblicklich den „Schöpfungsgrund“ selbst als Ganzen in Anwesenheit. Während für die andern das Bild punktuell implodiert, hallt für Brötje in jeder entscheidenden Bildstörung das Hintergrundrauschen des Urknalls der Bild(Welt)werdung aus dem „Grund aller Erscheinung“ wider. (EBD., 54) »Transzendenz«-Erfahrung im Modus von Selbstreferenz, könnte man sagen! Könnte es sich so ereignet haben? Unternehmen wir einen neuen Versuch: Ist das, heute noch, für mich möglich oder unmöglich? Lautet die Antwort vielleicht „vielleicht“? Es könnte sich als möglich und unmöglich zugleich erweisen. ...  und  „warum  hier  »möglich«  und  »unmöglich«  dasselbe  bedeuten.“  (Derrida  2001,  16)  

Dazu bedarf es einer kleineren Erläuterung: Heidegger und Brötje gingen gemeinsam davon aus, dass das Kunsterlebnis ein „Ereignis“ sei. (z.B.: 1935, 91/1993, 65) Es muss vom „Ereignis“ aus gedacht werden. Das Ereignis ist das konstitutive Geschehen

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überhaupt. Alles „gründet“ im Ereignis. Und der „Ereignisort der Wiedereinberufung der Transzendenz“ sei eben „zugleich der einer Rückkehr des Bildes zu sich selbst“. (BRÖTJE 2001, 300) Über das »Ereignis« selbst lässt sich nicht theoretisieren. Es ist unmittelbar und plötzlich, wenn es eintritt. Aber kann es überhaupt eintreten? Gibt es überhaupt so etwas wie ein (Kunst-)Ereignis? Derrida hatte dazu einige bemerkenswerte Überlegungen angestellt. In ihnen kündigen sich aber auch Verkomplizierungen des Ereignisdenkens an: Um nämlich möglich sein zu können, müsse ein „Ereignis [...] außerordentlich sein, und dieser Singularität“ oder dieser „ungeregelten Ausnahme“ könne auch nur ausnahms   weise „stattgegeben“ werden. Und zwar könne es sich   nur dann überhaupt um ein statthaftes „Ereignis“ han„Ich  bestehe  auf  der   Vertikalität  des  Gesche-­‐ deln, wenn es „Symptom“ wäre: „Ein Symptom“, erläuhens,  weil  die  Überra-­‐ tert Derrida weiter, sei „etwas, das von oben kommt und schung  immer  nur  von   über uns hereinbricht.“ Und in jedem Ereignis gebe „es oben  kommen  kann.“   Geheimnis und Symptomatologie“. (2001, 50)

„Das  heißt  nur,  dass  das  

Ereignis  als  solches,  als   Vielleicht haben wir auch nur verdrängt, dass van Goabsolute  Überraschung,   ghs Stuhl und seine Bauernschuhe in ihrer ganzen Sinüber  mich  hereinbre-­‐ gularität für uns einmal solche Ereignisse waren – jedes chen  muss.“     Bild für sich ein „Stoß“, eine „Einkehr in den Aufenthalt (Derrida  2001,  34f.)   im Ereignis“? (HEIDEGGER, SEUBOLD 1996, 59f.) Aber die Sache hat sich in der Zwischenzeit auch verkompliziert. Denn somit gäbe es „Ereignis nur, insofern das, was geschieht, nicht vorhergesagt war“. (DERRIDA 2001, 47) Allerdings hat das Ganze einen entscheidenden kleinen Haken: Ein Ereignis als Symptom und Geheimnis, das „über mich hereinbricht“ und von dem ich „getroffen werde“, ist vielleicht gar nicht möglich? Warum nicht?

Derrida gibt ein Beispiel, das uns früher schon bei Gadamer begegnet war: Das Ankommen eines Gastes. Zunächst zurück zu Gadamer: (1977, 41f.) In seiner Szene war der Gast ein Nachkomme eines früheren Gastes, der schon einmal da war. Der Nachkomme besucht nun den Gastgeber nach „dreißig oder vierzig Jahren“ „einmal wieder“. Dieser erkennt den Gastfreund an einer zerbrochenen Scherbe (wieder), weil er selbst den anderen Teil der Scherbe besitzt. Für Gadamer war die Scherbe dabei zugleich eine Metapher für Verstehen gewesen. Für Derrida wäre nun diese Begegnung, egal nach wie viel Jahren oder wie unerwartet auch immer sie eintreten mag, kein „Ereignis“. Denn zum einen ist im ursprünglichen Akt der Zerteilung der Scherbe eine Wiederkehr schon antizipiert. Die An-

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kunft des Gastes wird nur eine Wiederholung sein werden. Zum anderen ist mit dem kommenden Zusammenfügen der Scherbenstücke eine Verständigung schon vorbereitet, bevor sie stattfinden wird. Schon bevor der Gast Gast sein wird oder überhaupt eintrifft, ist er erwartet und willkommen. Alleine die Bezeichnung „Gast“ nimmt alles vorweg. Ganz im Gegenteil dazu könne man sich die Szene als „Ereignis“ nur so vorstellen, dass die „Ankunft des Ankömmlings [...] nur da ein Ereignis sein [wird], wo ich nicht in der Lage bin, ihn zu empfangen“. „Die Ankunft des Ankömmlings“ – nicht des Gastes – sei dann „das absolut Andere“, das überraschend „über     mich hereinbricht“ – als „Heimsuchung“. (DERRIDA 2001,   34, 60) Bevor der Ankömmling mich nicht überrascht hat, „[...]  Das  Möglich-­‐Un-­‐ hätte ich dieses „Ereignis“ für unmöglich gehalten. Desmögliche,  über  das  ich   wegen ist jedes Ereignis unmöglich – ein unmögliches Ergesprochen  habe,  ist   eignis, ein für unmöglich gehaltenes Ereignis – bis es sich dieses  »Vielleicht«“.     (EBD.,  50f.)   ereignet, obwohl es sich gar nicht ereignen kann – oder hätte ereignen können. Ein „Ereignis“ nähme also „die Form des Möglich-Unmöglichen an“. (EBD., 51) Was bedeutet das nun für die »Schnürsenkel« und für die beiden Bilder van Goghs: die Schuhe und den Stuhl? Befindet sich alles einfach in einer „vielversprechenden Aporie“, die „die Form des Möglich-Unmöglichen“ angenommen hat? Wenn es ein BildEreignis gibt, dann gibt es es also »vielleicht«. Und Derrida fügte noch an: „Wenn es es gibt, darf man nicht davon sprechen können, darf man sich [...] nicht sicher sein. (EBD., 51f.) Und vielleicht ist das auch das ganze Problem: dass sich Brötje stets so sicher war. Aber kommen wir dabei noch einmal auf das Stuhlbein in van Gogh Bild zurück. Der Stuhl war ja „für uns“ ein „in Erwartung“-Halten“: (BRÖTJE 2012, 212) Die Einberaumung einer Vermittlung zwischen »Transzendenz« und meiner diesseitigen Wirklichkeit. Er war bereitgestellt aus der Bildebene heraus auf mich zu. Durch seinen Bezug zum unteren Bildrand hatte der Stuhl eine gewisse Befestigung gegenüber einem Abrutschen nach unten erhalten. Durch das Stämmen und Halten des linken Stuhlbeins kippt auch die Sitzfläche nicht in der Dramatik nach vorne wie es der Boden tut. In der Sitzfläche werde das Auge auf den tiefsten, rötlichdunklen Punkt des Bildes gezogen: In ihm laufen die Teilformen des Stuhlsitzes grob zusammen. Ebenso zieht sich hier auch die Sitz-Ebene selbst in sich zusammen. Erst nachdem ich dies gesehen habe, so Brötje weiter, kann ich der Pfeife direkt daneben

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Aufmerksamkeit schenken. Der Ansatz des Pfeifenkopfs liegt übrigens genau im Zentrum des gesamten Bildes. Was nun folgt sei eine von mir „widerwillig“ ausgeführte Lesung des Pfeifenstiels nach links hinüber“ zum Tabakbeutel. Pfeife und Beutel würden sich dabei als „bedeutungsneuralgische Fixpunkte der Strukturentwicklung“ des Bildes erweisen. Denn der „eigene Bekundungswille“ von Pfeife und Tabaksbeutel „zeigt Resignation“! (EBD.) Wegen dieser Utensilien und ihrer morbiden Selbstbekundung, die sich in ihrer Malweise äußert, müsse schließlich die Stuhlfläche als „der Ort der Einfindung“ von mir und gegen meinen Willen wieder „aufgegeben werden für ein unumgänglich vorgesehenes Seinsgeschick“ – „Zerfall“. (EBD.) Einfacher gesagt: Brötje glaubte gesehen zu haben, dass der Stuhl schon von etwas anderem, einem fremden Anderen, besetzt ist. Damit halte der Stuhl nicht mehr meine Begegnung mit dem Transzendenten »in Anwesenheit«. Stattdessen ist diese Möglichkeit ab jetzt gestört. Natürlich hätte ich das auch schon vorher gesehen haben können. Und ob ich „Resignation“ erkennen kann, muss ich noch länger prüfen. Aber erst jetzt werde diese Konstellation wirklich bedeutungsrelevant. Pfeife und Beutel würden sich damit jetzt als „Konträrsetzungen“ erweisen. Rein bildimmanent fungieren sie in der prozesshaften Anschauung als die „Widerrufung“ des Vermittlungsangebots, das der Stuhl mir als „Ortseröffnung“ zuvor eingeräumt hatte. (EBD., 213) Im Anschluss an diese Einsicht werden nun einige Bilddetails bedeutungsrelevant: Der Zeige-Zipfel des Tabakbeutels, die Zeige-Bekundung der Stuhlbeinkante, das Schon-Sichtbar-Werden der Türfläche zwischen dem Rand von Sitzfläche und rechtem Stuhlbein. Alle diese Kleinigkeiten deuten nach rechts. Wir verfolgen den Sehweg Michael Brötjes nicht mehr im Detail weiter. Insgesamt muss man aber sagen, dass es offenbar darum geht, wie das Auge nach dieser „Resignation“ „erlösend“

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am Ende die Türinnenfläche ganz rechts „erreicht“ und „aufnehmen“ kann. (EBD.) In diesem Türblatt zeige sich mir wiederum ein „ZweifachGleiches“: Das Türblatt als die Selbstbekundung der Bildebene und des Malgrundes – und die Bildebene oder der Malgrund als Türblatt. Für das intuitive Verstehen sei diese Endabschließung des Bildes eine andere, aber erneute „Zusage“ an „das Absolute“. (EBD., 215) Diese erfolge ebenen hier, nachdem der Stuhl als Medium die Begegnung mit dem Absoluten zwar in Aussicht gestellt, aber durch seine Belegung auch wieder entzogen worden war. Zusammengefasst hätte das betrachtende Ich also folgenden „anschaulichen Erkenntnisvollzug“ (EBD., 213) hinter sich: Vom Pflanzkasten und den Sprossen über die Stuhl-Architektur und über das Angebot oder die „Ankündigung“ einer „Begegnung“ (EBD., 215), dann zur Sitzfläche und von dort zur wirklichen Fläche des Türblatt-Grunds. Visuell ausgehandelt wäre im Stuhlbild die Frage, wo das angekündigte Anwesen des Absoluten mir begegnen kann: Im (bild-)weltlich-konkreten des Stuhls oder doch letztlich »nur« in der Erstinstanz des Bildfeldes selbst. Nun ist es so: Man kann den Blickweg finden wie man will. Eines ist aber unabweisbar: Denkt man nicht die Referenz auf »das Absolute« mit, sind diese Sehbewegungen sinnlos und reine Spielerei. Wenn ich den Bild-Parcours sinnvoll machen will, muss die Bildanschauung in ihrem Vollzug auch die »Referenz« des Bildes aufrufen: das »Transzendente«. Das Bild müsste sie irgendwann im Laufe der Sehbewegung aus sich selbst heraus erzeugen, wenn es auf diese Weise sinnvoll sein will. Und in diesem Sinne wären die halb of   fenen Schuhe ein Pendant post factum zum „Ob  wir  es  einmal  noch  erkennen,   Stuhl. Auch in ihnen würde mir diese „Anvan  Goghs  Malerei  ist  uns  ein  Schick-­‐ kündigung eines Anwesens“ begegnen – sal.  Es  wartet  darauf,  dass  die  Sterb-­‐ vielleicht“. In diesem Fall wäre auch die etlichen  ihm  entsprechen.  [...]  Doch  wie   was dümmliche Frage irrelevant, wem die sollen  wir  dies  alles  erkennen  und   behalten?  Dadurch,  dass  wir  auf  van   Schuhe »in Wirklichkeit« gehört haben. Sie Goghs  Malerei  sehen.“     würden in das »Ins-Anwesen-Kommen des (HEIDEGGER  1959/     Transzendenten« gehören... abgewandeltes  Zitat!  Wortlaut  im   Wer weiß. Ob wir es einmal noch erkenOriginal  vgl.  hier  S.  23)   nen...

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VI. [...] Nach mühseligem und angestrengtem Nachgrübeln kehrte der junge Mann langsamen Schrittes nach Hause zurück und ging, ohne es zu merken, an der bescheidenen Herberge vorbei, wo er wohnte. Mit unruhevoller Behändigkeit betrat er den Flur und gelangte in ein hohes Zimmer. Dicht bei dem einzig trüben Fenster dieses Raums sah er einen höchst interessant wirkenden Mann an einer Fensterbank sitzen, den er zu sich gebeten hatte. Der Gast richtet sich beim Geräusch der Türe leicht erschrocken auf; er hatte den jungen Schreiberling so bald nicht zurückerwartet.

Abb.:   Jacques  Derrida     (1930-­‐2004)  

»Was hast du?« fragte er. »Was ich habe? Ich kann vor Freude kaum sprechen.« »Ich habe mich als einen echten Versteher der Malerei gefühlt. Bis jetzt hatte ich an mir gezweifelt, aber heute morgen hatte ich das Gefühl, zu wissen was ein gutes Bild ist und wie man überdies gute Texte schreibt. Schau Jacques, ich werde berühmt sein, in diesem Füller hier steckt alle Bedeutung der Bilder.« Plötzlich aber verstummte er. Sein ernstes, kraftvolles Gesicht verlor seinen fröhlichen Ausdruck, als er die Unermesslichkeit seiner Hoffnung mit der Bescheidenheit seiner Mittel verglich. Die Regale waren mit dünnen Manuskripten auf einfachen Papierblättern bedeckt. Doch inmitten dieses Elends besaß und empfand er die reiche Fülle der Möglichkeiten. Durch einen befreundeten Edelman oder vielleicht durch sein eigenes Talent nach Paris geführt, hatte er dort gleich diesen wunderbaren Jacques besucht, der ihn fortan, wenn auch eher im Geiste als in seiner Anwesenheit, begleitet hatte. »Hör zu, Jacques, komm!« »O Gott«, rief dieser ganz überrascht aus, »ich werde niemals wagen, ihm zu sagen...« »... Die Wahrheit in der Malerei?« fragt der Junge. »Glaubst du etwa, sie zu kennen?« »Oh, du willst etwas von mir?« »Ja.« »So frag doch. Wir werden sehen.«

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Im  Fließtext   Zitatsplitter   von  Jacques   Derrida.   (1978,  301-­‐ 442)  

»Nun gut«, begann der junge Hermeneut in ernstem Ton von neuem, »wenn es für meinen künftigen Ruhm, damit ich auch ein großer Wissenschaftler werde... – also wärest du bereit, wenn es dazu nötig wäre, mir mit deinem Können und deinem gänzlich anderen Denkmodell zu dienen?« »Du willst mein Denken auf die Probe stellen«, erwiderte Jacques. »Du weist genau, mit welchen Schwierigkeiten das verbunden ist.« »Aber es ist doch nur ein Greis«, begann der jungen Mann noch einmal. »Er wird mit dir ohnehin nichts anzufangen wissen. Er sucht nach der Transzendenz und nach Synonymen für das Absolute, nicht nach dir und deiner Hilfe.« »Frag´ andere um Rat«. »O nein, das soll ein Geheimnis bleiben zwischen uns beiden. Ich will dem Alten nur dein Modell des Denkens zeigen.« Nach einigem Zögern und Zaudern, Aufschieben und Zurückwenden, nach weit wegirrenden Abschweifungen und Zusätzen, Einschränkungen, Rückversicherungen, Kapriolen und Ausflüchten – »Keine Eile hier.« »Und dennoch.« »Ich bemerke in der Tat jetzt eine befremdliche Schleife.« »Das geht viel zu schnell.« »Aha, hier haben wir es.« »Nein, nein, zumindest nicht so schnell.« – nach all dem langen Zieren, für das Jacques so bekannt war, kam er dann doch zu einer vagen Verbindlichkeit. »Nun gut, ich werde dich begleiten; bleib dann aber an der Tür, mit deinem Griffel bewaffnet. Wenn ich schreie, kommst du herein und überrumpelst den genial-verstörten Greis von hinten.« [...]

Kann man – trotz allem – Brötje einfach nachspielen und weiterspinnen – mit einem anderen, weiteren Bild im Kopf? Kann man ... kann ich mehr sehen, wenn ich mich ganz auf das „innere Operieren“ und auf die „transempirische, mediengetragene Eigenkausalität der Bildentfaltung“ existentiell involviert einlasse? (BRÖTJE 2012a, 53) Wie steht es um den phänomenologischen Argumentationsund „Artikulationsauftrag“ und die „Eigenartikulation“ (EBD., 93) des Bildes und wie um ein autonomes, dramatisches und verzeitlichtes Sehen. Kann ich nach dem Erlebnis des Eigenlebens der »Schnürriemen« bei van Gogh an eine andere Schlaufe oder an ein anderes Band anknüpfen? Kann man das „Vermögen des Sich-Entgegen-halten-Könnens auf einen metaphysischen Hori-

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zont zu“ (DERS. 1990, 137) noch einmal simulieren, wenn man ein ganz anderes Bild betrachtet? Habe ich die Möglichkeiten, hat die Kunstwissenschaft die Möglichkeiten anzuknüpfen oder war alles starrsinnig und vergeblich? Kann ich der Entstehung der »Transzendenz« und der «Referenz« – dem „Offenbarungspotential des Geschehens“ – in der Malerei zusehen? Und zwar ganz „unabhängig auch davon, ob [ich] daran glaube oder nicht, davon weiß oder nicht“? Welche „Seherkenntnis“ ruft mir schon ein Schnürchen „in Geltung“ – und zwar so, dass ich „auch in alle Folgeschritte einverpflichtet [werde], die sich daraus ergeben“? (EBD., 138)

Abb.:  Peter   Paul  Rubens:     Haupt  der  Me-­‐ dusa,  1617/18   Detail:  Schlan-­‐ ge  

Ich versuche es alleine! In Caravaggios Enthauptung des Johannes in der Co-Cattedrale di S. Giovanni auf Malta führt ein dünnes Seil ein Eigenleben fast wie das Köpfchen einer Schlange. Auf dem Boden und zugleich vor der Bildebene hebt es die Spitze seines Endes so voll innerer Lebendigkeit an, als wolle es weiterkriechen, als suche es die Verbindung zum eingerollten Tauwerk über sich.

Abb.:  Caravaggio:  Enthauptung  des  Johannes,  1608,  361  x  520  cm.  In  Situ;  Raumansicht,  Co-­‐ Cattedrale  di    S.  Giovanni,  Oratorio,  La  Valletta,  Malta;  rechts:  Detail:  Seilende.  

In der Begegnung mit dem Bild ist dieses SeilKöpfchen mein punctum. Denn „ja, von einem Detail [punctum] erwartete ich die enthüllende Ekstase, den unmittelbaren Zugang [...], einen wie eine Gnade gegebenen Zugang, den man nicht erzwingen kann.“ (DERRIDA 1981a, 12) Diese Stelle in der Enthauptung wendet sich zuerst an mich. Sie „schreibt sich niemals in die homogene Objektivität [ ]eines gerahmten Raums ein, es wohnt oder geistert darin.“ (EBD., 27)

 

„Punctum  übersetzt  eine  Be-­‐ deutung  des  Wortes  ‚Detail‘:  ein   Punkt  der  Singularität  durchlö-­‐ chert  die  Oberfläche  der  Repro-­‐ duktion  […],  von  Analogie,  Ähn-­‐ lichkeit  und  Codes.“   (DERRIDA  1981a,  13)

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Aber ich weiß noch nicht, wie mich diese von innen belebte Schnur betrifft. Stattdessen muss ich zuerst einmal einsehen: Ich werde vom Bild her aus meiner Position mittig im Zentrum vor dem Altar zuerst einmal nach links »verschoben«. Für mich ist zuerst die linke Figurengruppe ausschlaggebend. In Bezug auf sie, die Magd mit der Schale, der Alten, dem Befehlenden und dem gebeugten Henker, verorte ich mich. Führt mich der gebeugte Rücken der Magd als Bildauftakt hinunter zur linken unteren Bildecke? – und von dort entlang der Faltenbahnen wieder hoch zur weißen Bauchtuch-Schnürung der Figur? Dies kann gut sein. Aber warum? Vielleicht gerade deshalb, weil ich in der Totalpräsenz des Bildganzen – im unklaren Hinaufschauen zum Monumentalwerk eben schon zur Figurengruppe nach links verschoben bin. Im ersten Herumirren auf der Bildoberfläche hat so vielleicht, ganz intuitiv(?), die Ableitung vom linken Bildrand eine hohe Leitverbindlichkeit, die mich nun also dazu veranlasst haben mag, bei den unteren Rockbahnen der jungen Magd zu beginnen. Diese Faltenbündel des Rocks führen nun vor den Quadern des Torbogens hoch zur Querfaltung des weißen Bauchtuchs der Magd. Mit eben dieser Querlegung der Bauchbindung wird der Aufwärtsimpuls gestoppt und durch eine Tuchwindung oberhalb der weißen Schärpe in eine Horizontalabstimmung mit dem ersten vollständig sichtbaren Steinquader gebracht. Wiewohl ich diese Figur immer schon in ihrer körperlichen Ganzheit und Intaktheit gesehen habe, »zerbricht« sie mir gleichwohl an der trennenden Bauchbinde. Als »Ersatz« für die Unterbrechung der Figur bietet sich mir an dieser Stelle der aufstrebende Torbogen selbst an. Dass die Körperhaltung der Magd bis hinauf zum Bauchtuch in Rücksicht auf die Torquader, die sie verdeckt, gesehen werden muss, zeigt sich mir auch in einem weiteren Detail: Es scheint mir nun so, als habe die junge Frau ihren Bauch in ihrer Bückbewegung unnatürlich eingezogen – und zwar bildlogisch nur aus einem Grund: um nämlich mit ihrer rechten Rockkontur in eine genaue Vertikalabstimmung mit der Innenkante des Torbogens zu kommen. Was folgt ist eine Aufrichtungsbewegung meines Blicks entlang des Torbogens. Der Blickübersprung weg von der Halbfigur auf den Verlauf des Torbogens zum oberen Bildrand führt über das angeschnittene Torrund in einer massiven Schubbewegung auf

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den Oberkörper des Henkers zu. Dabei wird mir sofort einsichtig: Die ungewöhnlich statische Körperbeugung des Henkers, sein horizontaler Rücken ebenso wie der gestreckte Arm und die stabilisierende »V-Stellung« der Bein-Säulen sind das direkte Resultat des Drucks, der von den Quadern des Torbogens »ausgesprochen wird«. In diesem Sinne drückt zwar der gerade Arm sein Opfer handlungslogisch nach unten. Im Anschauungsbefund stützt er aber zugleich den Oberkörper, zu dem er gehört, gegen den Quaderdruck ab. Zudem kommen die Körperbeugungen von Magd und Henker in eine Horizontal-Abstimmung mit dem Quaderbogen.

In der Verfolgung der Quader, die den Torbogen bilden, kommt überdies zum „Sehaufschluss“, dass sich der Charakter dieser Abschlusssteine zu verändern begonnen hat. Während sie links noch ihre Bindung an und ihr Hervorkommen aus dem Bildgrund aufrecht erhalten, haben sie sich auf dem Weg über den Bogen nach rechts hinunter auf den Henker zu in die »wirklichkeitsgetreue« Wiedergabe einer Gegenstandswelt verwandelt, „umgesetzt“. Mir, der ich nun ein Brötje sein will, wird damit zur Erkenntnis gebracht, dass sich hier von der Bildebene her – und von links nach rechts – eine Wirkgewalt verdiesseitigt hat. „...  unüberbietbar  bedeutsame  Geschichtswirksamkeit  zur  Welt  [...],   ohne  dabei  doch  seinen  Autoritätsbeglaubigung  durch  das  Eine  zu   verlieren.“  (BRÖTJE  1990,  138)  

Wäre ich kein Brötje, wäre dieses „Zweifach-Gleiche“ wohl nur der Regie der Lichtverhältnisse geschuldet. So aber gibt sich der Malgrund in den Quadern Form. Und der Niederdruck auf den Henker, der erst dadurch noch verstärkt wird, dass die Bogenform vom oberen Bildrand unterbrochen wird, dieser Pfeilerdruck bildet zugleich eine optische Grenze: An den Außenkanten der Quadersteine – vertikal, ganz rechts in der Mitte des Bildes – teilt sich das monumentale Gemälde senkrecht in zwei Hälften. Es wird mir genau an der Stelle zu einem Diptychon, wo das Messer im Zentrum des Bildganzen gezückt wird. Hier spaltet sich das Bild und trennt sich auf – in Analogie zur Enthauptung – in eine aktive und eine passive Hälfte.

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„...  ein  Zweifach-­‐ Gleiches...“  „unter   dem  Vorbehalt  –   nämlich  dem  einer   nicht  völligen   Preisgabe  an  die   Gegenstandswelt,   einer  offengehalte-­‐ nen  konstitutionel-­‐ len  Rückver-­‐ schmelzung  mit   dem  geschichtslos   Einen.“  (BRÖTJE   1990,  138)  

Die Abtrennung des Bildes an dieser Stelle teilt sich mir unmissverständlich mit: Wenn der Blick entlang der Quader auf den Henker trifft, dann landet er nicht sofort auf dessen Rücken. Er rutscht erst noch am langen Schenkel des DreieckArms, dem Unterarm, ab zur Messerhand. An dieser Stelle geht es nicht um die Funktion des Messers in der Bildnarration. Hier zerteilt das Messer meinen Blick. (Und vielleicht hat Caravaggio auch nur deshalb eine misslungene Enthauptung gemalt, um in der Mitte des Bildes ein Messer zeigen zu können, das sein Gemälde so in zwei Teile zerschneiden kann.

An dem Geschehen links im Bild kann ich teilhaben und mich wie vorgesehen einfinden. Von dem Wenigen in der rechten Hälfte bin ich noch, oder für immer, ausgeschlossen. Die beiden gefangenen Zuschauer hinter dem vergitterten Fenster gelten mir in besonderer Weise. Nicht nur sollen sie mir weisen, lieber auf das Enthauptungs-Geschehen zu sehen. Mehr noch aber sollen sie mir deuten, von dieser rechten Bildhälfte ausgesperrt zu sein. Ihr Eingesperrt-Sein bedeutet mir mein Ausgeschlossen-Sein. Und doch laufen von oben herab zwei sich überkreuzende Seile leicht quer liegend – und im Kontrast zu den rechteckigen Gitterstäben – das Bild hinunter. Noch machen sie keinen Sinn. Sie erschließen sich nicht vom Gitterfenster her. Bedeutet mir das Messer die Aufspaltung des Bildes in zwei Hälften, so führt mich der schwarze Ledergürtel des Scharfrichters en detail wieder von der Messerklinge ausgehend im 90° Winkel zurück aus dem rechten Bildfeld in das Geschehen der Handlung. Er setzt an der Messerklinge an; und an ihm entlang senkt sich mein Blick über das Zeige-Ende des Gurtes wie ebenso entlang der Vertikalfalten des schmutzig weißen Lendentuchs nach unten. Dann bündelt sich dieser Verlauf in der von

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hinten hervorstechenden abgeschatteten Gewandspitze, die nach unten sticht. Indem dieses Tuchende die Form einer Schwertklinge angenommen hat, kündigt sich in der Dunkelrot-Umrandung dieses Tuch-Schwerts schon der leuchtende Rotton der lang ausgestreckten »Decke« darunter an. Ich sehe dieses Deckenrot als ein Blutrot. Die Direktverbindung von der Decke, dem Rot und dem Blut macht das Bild auch dadurch erfassbar, dass das Armdreieck des Henkers mit dem Messer in der gefesselten Armhaltung des Johannes gespiegelt wird. So wird mir der Fluss des Rots der Decke zum Ersatz für den spärlichen Blutstrom aus der Halswunde des Opfers. Auch teilt das Deckenrot wiederum den Körper des Johannes, indem es ihn nicht nur bedeckt, sondern visuell auch zerschneidet. In dieser gesamten „Weisungsautorität“ des Bildes – bis jetzt – über den Torbogen, mit dem Quaderdruck auf den Henker, der Falten-Schwert-Spitze bis zum Ausfließen dieser Energie in die sanften Wellen der blutroten Deckendraperie – in dieser phänomenalen Weisungsautorität erweist sich so, dass der Henker keine eigenständige, willentlich handelnde Figur im Bild ist. Noch ist der Befehlsempfänger der weisenden Figur neben ihm. Stattdessen sieht es so aus, als erhalte die Henkerfigur alleine aus der sich aus dem Einen des Bildgrundes entfaltenden Rahmenarchitektur des Torbogens ihre »Letztbestimmung«. Für mich aber hat der rote Tuchfluss ganz nach rechts – wieder in den anderen, leeren Bildteil hinein – noch keine Verbindlichkeit. Ich bin noch nicht entlassen aus dem Diesseits des Geschehens. Auch wenn ich es versuchen würde, so muss ich doch noch einmal nach links hinüber und dort dem „Folgeverhältnis aller Bilddaten“ (BRÖTJE 1993, 47) Rechnung tragen. Und so gelten mir die hervorschauenden Fell-Enden am Rande der Decke als Markierung meines „Blickumbruchs“ zurück in die linke Bildhälfte. Was sich durch die Spreizöffnung des Felles dann präsentiert, ist ein Schriftzug. Und wie auch die Blutlache, an der dieser hängt, liegen diese Lettern mehr auf der Bildebene als im illusionierten Tiefenraum der dargestellten Bildwelt.

 [»Ich  habe  mich  als  ech-­‐ ten  Malerei-­‐Versteher   gefühlt.  Bis  jetzt  hatte   ich  an  mir  gezweifelt,   aber  heute  morgen  hatte   ich  das  Gefühl,  zu  wissen   wie  man  gute  Texte   schreibt.     Schau  Jacques,  ich   werde  berühmt  sein,  in   diesem  Füller  hier  steckt   alle  Bedeutung  und  Refe-­‐ renz  der  Bilder.«]  

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Nun ist es aber so: Zu dieser »Signatur« aus der Blutlache ist in neuerer Zeit wiederum einiges Bemerkenswerte gesagt worden: die Farbe, die Blut vortäuscht; damit die Konnotation auf Übergang und Transsubstantiation; das Bild als Täuschung... und Enttäuschung, als Oberfläche und Bruch der Fiktion; der Hinweis auf das Gemachtsein des Gemäldes, die Malerei als Malerei und als Spur... eines Fingers, der mit dem fingierten Blut des Täufers seine Unterschrift gezogen hat: »so ist es gewesen« – oder es wurde nur so getan, als ob mit Kunstblut unterzeichnet worden wäre: »so ist es nicht gewesen«...; und eben wiederum die Kleckse: „peinture pure“, wiederum „pan de peinture“, oder aber auch eine Bekenntnis des Malers, eine eitle Geste: »Ich, Caravaggio, bin es gewesen, der dem heiligen Johannes das ewige Leben im Zeit überdauernden Bild geschenkt hat!« Das alles mag sein. Aber was würde das mich angehen? Beruflich, akademisch kann das interessant sein; als vom Bild Berufener ist das zu wenig. Brötje wäre es viel zu wenig gewesen.

„Counter-­‐   signature“         (DERRIDA,   1994,  18)  

Man muss an diesem Punkt das Brötje-Spielen tatsächlich verstummen lassen und bescheiden werden. Denn der ins Alter gekommene Brötje hatte selbst schon sehr tiefblickend den Sinn einer Inscription verstanden. Fast schon in einer Art Derrida’scher Logik der Nachträglichkeit hatte er geschrieben: „Die Gewährleistung für die wirkliche Identitätsaufgehobenheit und -fortdauer einer Person in einer Inschrift“ könne „immer nur durch den sie Lesenden, durch seine Zeugnisschaft erbracht werden, sonst“, so Brötje weiter, „bleibt ihre Nennung »Schall und Rauch«, toter Buchstabe. Dass in der Namensnennung die Existenz einer Person [...] Gegenwart behält – dies spricht der Lesende der Inschrift aus seiner Gegenwart zu [...,] So ist auch unwichtig, von der konkreten Person zu wissen...“ sondern stattdessen gehe es alleine darum, dass es eben gerade „einer zweiten personalen Identität bedarf, um die erste in ihrer Präsenzgeltung zu bekräftigen“. Insofern sei mit diesem Namen, der Signatur, „stellvertretend jeder Betrachter benannt. [...] Was jetzt zählt ist nur noch die mir gegenwärtige [Unter-]Schrift, hier geschrieben, festgebannt auf der Frontfläche – in Außer-Acht-Setzung alles (nur) Dargestellten dort im Bild.“ (BRÖTJE 1990, 168f./Passage zum Tod des Marat)

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Indem die Buchstaben vom Bildraum hervor auf die Frontfläche der Leinwand treten, schieben „sie sich in meine Gegenwart hinein. [...] Nichts ist mir noch real gegenwärtig außer [sie], auf nichts sonst kann ich mein Hier-Sein und das heißt mein IchSein zur Projektion, Bewährung, Explikation bringen. Ich banne“, so Brötje abschließend, „meine Ich-Habe in die Inschrift wie in eine entgegenhaltende Spiegelung ein.“ (EBD.) Bezogen auf Caravaggio bedeutet dies nun: Wenn ich also in meinem Blick von den Fell-Zipfeln her auf die rote Unterschrift abgelenkt werde, dann wohl aus einem Grund: Auch wenn ich noch nicht weiß, weshalb und in welchem Zusammenhang dies geschieht, so soll ich doch nun von meinem gegenwärtigen „Hier-Sein“ vor dem Altarbild aus die „Präsenzgeltung“ eines anderen „bekräftigen“ und gegenzeichnen. Ich bin am »Zug«. – Und zwar soll ich mein Hier- und Ich-Sein offenbar genau in dem Zusammenhang vergegenwärtigen, in dem mein Auge im nächsten Zug sodann an der Blutspur entlang zum Kopf des gerichteten Johannes zu wandern beginnt. Der Kopf ist durch den Farbstreich optisch schon vom Körper getrennt. Die niederhaltende Hand des Henkers drückt in eigentümlicher Weise nicht wirklich mit Kraft auf diesen Kopf. Vielmehr ist sie etwas oberhalb in den Haarlocken des Johannes verstrickt. Der Erklärungsversuch, der Henker schiebe hier die Haare zur Seite, um die Enthauptung mit dem gezückten Messer vollenden zu können, ignoriert diesen Befund, um das wirklich Gezeigte nicht wahrhaben zu müssen. Mit diesem Satz fühle ich mich wieder ganz nahe an Brötje. Denn hätte er jemals über Caravaggios Enthauptung geschrieben, hätte er uns sicher davon unterrichtet, dass die Haarlocken die Hand ihres Henkers gefangen nehmen. Und zwar tun sie dies sehr ähnlich – in einer visuellen Verdopplung – zu dem, wie die Hand des Johannes als gefesselte zur Geltung kommen soll. Und haben nicht beide »Fesselungen« einen nicht zu übersehen-

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den und nicht zu leugnenden phänomenologischen Letztbezug zu dem »angeschnittenen« Mauerring am rechten Bildrand. In ihm liegen die Bänder frei bis sie ganz nach oben aus dem Bild laufen – oder von diesem Bildrand her kommen, ich weiß noch nicht. Aber warum sollte ich eine »Locken-Fesselung« sehen sollen? Warum sollte der Heilige Johannes – auf der Schnittstelle zwischen Leben und Tod, mit einem geschlossenen und einem noch halb offenen Auge – mit seinen Haaren seinen Henker binden? Ich gedulde mich. Denn vielleicht ist mir doch noch nicht alles sofort verständlich, sobald ich es intuitiv gesehen habe. Aber in der Anordnungsgliederung – von den Fell-Enden zur Blutunterschrift zum Halsschnitt und zur Lockenfesselung – entscheide ich jetzt, vom Kopf zur Schwertklinge zu sehen. Oder das Bild hatte immer schon für mich entschieden, dass man die Dreigliederung von Fell, Schrift und Klinge in ihrer Formabstimmung auch sehend vollenden muss.

Die glänzende Klinge liegt schwer erträglich frei in einer Leere und erzwingt es so wohl, dass man zwischen ihr und irgendetwas anderem einen Seh- oder Bedeutungsbezug herstellt. Das Betrachter-Ich findet dieses Moment oder Element, indem es zur silbernen Schwertklinge die bronzene Schale in Entsprechung bringt. Erleichtert wird mir dies durch das Spielbein und die verfügende Handweisung des Wächters. Diese vermittelt formalästhetisch zwischen Klinge und Schale. In dieser Abstimmung bringt mir das Bild nun aber auch zum ersten Mal den bisher unbeachteten Kopf des Henkers zur bewussten bildthematischen Anschauung. Diese Figur des Henkers stellt sich mir nun selbst wie »geköpft« dar. Auch ihr Haupt ist nicht länger glaubwürdig mit ihrem Torso verbunden, sondern wird durch gezielte bildeigene Mittel gewaltsam amputiert, gleichsam zerschnitten. Besondere Bedeutung kommt dabei den Tuchbahnen und Gewandrändern der Anweisungsfigur des

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Kommandierenden zu. Diese weist nicht nur in die handlungslogische Johannes-Kopf-in-die-Schale Folgebeziehung ein. In ihr ist auch die rein bildimmanente und seh-operative Anweisung eingeschrieben, das Haupt des Henkers als »abgeschnitten« zu erfahren. In der bildlichen Argumentation gehört auch der Kopf des Henkers in die bereitgehaltene Schüssel. Denn für das phänomenale Sehen wird aus dem rechten Verlauf des Mantelsaums, den der Wächter offen trägt, ein visueller »Streich«. An seinem Anfang wird er von einem Lichtreflex an seinem Bartansatz eingeleitet, nach unten von einem »Schattenschlitz« verstärkt und ins Genick des Henkers geführt, ... um unterhalb des Kinns seine Fortführung zu finden. Indem ich in meinem Sehvollzug diese Line als kontinuierlichen Zug ausführe, »enthaupte« ich zugleich den Köpfenden selber. Damit stellt sich mir aber die Frage, welcher Kopf denn eigentlich, jenseits der erzählten Geschichte, in die Schüssel gewiesen wird: Gegen den Uhrzeigersinn der des Täufers oder unmittelbar in Parallelverschiebung von rechts nach links zur Schüssel der Henkerkopf. Eine »Zeigefalte« im Wams des Weisenden direkt über dem Kopf des Henkers ist die Seheinweisung, dessen Haupt vom Körper weg nach links über die Schüssel zu ziehen.

Dann aber muss nun auch der Schlüsselbund, an dem der Kopf quasi »vorbeigeschoben« wird, sinnwirksam werden. Und zwar als er selbst, „in der Anschauungsbestimmung“, „wofür er für mich steht“. (BRÖTJE 1990, 203) Nicht als allégorie réelle und nicht als versteckter Symbolismus, sondern als aus sich selbst „gültige Erscheinungsgestalt“ soll ich ihn in diesem einmaligen Zusammenhang zwischen Kopf und Schüssel „einlösen“. Ich aktualisiere die Bedeutung des Schlüsselbunds in seiner nur temporären „Jetztbedeutung“, indem ich ihn im Direktbezug zu dem geschlossenen Gatter im Hintergrund der Torwölbung setze:

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Durch die tiefenräumliche Anlage des Torbogens ist einerseits deutlich, dass dieses Latten-Gatter hinter oder am Ende des Torbogens liegt und den Szenenraum abschließt. Andererseits gibt es aber auch kein räumlich-empirisches Dahinter. In diesem Sinne wird mir das Gatter nur noch auslegbar als Differenz zum Bildgrund. Mehr als diese Differenz selbst stellt sich in dieser Torbogenfläche nicht mehr dar. Von der hintersten Lage der Bildebene, vom „Seinsgrund des Bildes“ her, würde es sich um ein erstes „In-Ausprägung kommen“ (EBD., 1990, 138) einer Bildwelt handeln: Als Balkenraster im Rot-Braun der Imprimitur des (Hinter)Grundes. Dieser artikuliert sich nur in dem Moment und in dem Maße wie er vergittert wird und sich so buchstäblich zeigend verschließt. „...   die   Farben   entspringen   dem   gemeinsamen   Grund   (fond),   der   ihre  dunkle  Natur  bezeugt.“  (DELEUZE  1988,  56)   „…   kann   nur   so   geschehen,   dass   sich   das   Hervorzubringende   [in   dem  sich  eine  Welt  lichtet]  dem  Sichverschließenden  anvertraut.“   „...   und   so   in   das   gestellt,   d.h.   gesetzt   [ist],   was   als   Sichverschlie-­‐ ßendes  und  Behütendes  ins  Offene  ragt.“  (HEIDEGGER  1935,  64)  

Der Schlüsselbund am Gürtel des Wächters würde so direkt auf das verschlossene Gatter und auf einen Toreinlass verweisen. Die senkrechten Schlüsselstile wären in diesem Sinne eine im Material transformierte und verdichtete Anschauungsanalogie zu der Balkenlattung des Gatters. Man muss Brötje konsequent weiterspielen und mit seinen Augen weitersehen: Denn die Schlüssel werden nie in irgendeiner weltlichen Handlungslogik diese Pforte aufschließen. Sie deuten mir nur ihr Verschlossensein. Es wird kein Eintreten oder Hinausgehen geben. Der „Schöpfungsgrund des Bildes“ entlässt aus seiner Homogenität diese schwärzliche Gatterstruktur. Aber nur um sich im selben Moment zu verschließen. Und er differenziert sich nicht in irgendeine x-beliebige Figur-Grundstreifung aus. Was er hervorbringt, ist eine etwas unregelmäßige Lattung mit einem oberen Horizontalbalken. Zusammen mit der letzten Latte rechts bildet dieser für mich ein Kreuz! Und zwar genau deshalb, weil ganz rechts offenbar eine letzte Latte ausgespart wurde. Sie fehlt. Aber genau so nur kann das Bild mir in der Abschlussstruktur des Gatters ein »Kreuz« zeigen.

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Oder anders gesagt: Was sich von hinten, vom Bildgrund her, zuallererst in der Bildebene in Ausprägung brächte, wäre die Symbolform für das »Transzendente« selbst. Was also in Wirklichkeit – d.h. in der Wirklichkeit der Phänomenalität der Phänomene (und über jede „Dingbedeutung“ hinaus) – erscheint und zugleich verschlossen bliebe, wäre das »Transzendente«, das »Absolute« selbst. Die Bedeutungsdimension der Schlüssel ist in dieser Konstellation für mich nun die folgende: Die Schlüssel geraten in eine unvordenklich neue Funktion: Sie vertreten hier das unbetretbar-verschlossene »Transzendente« im Diesseits der Figurengruppe. – Materialisiert und symbolisch eingeschlossen in den Ring des Schlüsselbundes wird so für mich das abwesende »Absolute« in Stellvertretung gebracht. Der vertikale »Kreuzbalken« stößt, wie schon vorher der lastende Druck des Quaderbogens, nach unten – in diesem Fall nun aber auf die Schulter des Wärters. Optisch verlängert der Kreuzbalken sich dabei, indem er seine Fortsetzung in jener schon erwähnten dunklen Schattenfalte im rechten Obergewand findet. Dieser Schatten selbst war schon Teil der sich einstellenden Anmutung, auch der Henker selber wirke wie enthauptet. In der Direktabstimmung der Schlüssel zur Zeigehand vermittelt sich mir daraufhin ganz dunkel etwas Weiteres. Ich weiß nicht, ob es sein kann: Aber wäre der weltliche Henker hier nicht selbst gezeigt als der Schuldige und immer schon Gerichtete? Und ist es nicht so, dass die Schlüsselbärte weniger am Bein des Wächters hängen, sondern ihre Schatten zu schmerzhaften Einschnitten werden. Bin ich jetzt schon wahnsinnig, in Ekstase und von allen guten Geistern verlassen? Schneidet man sich hier ins eigene Fleisch? „Nicht  führen  die  Werke  eine  eigene  »Sprache«,  die  es  interpre-­‐ tativ  zu  dechiffrieren  gilt  –  wir  ‚sprechen‘  in  den  Werken  mit   uns….“  (BRÖTJE  2001,  63)  

Wenn ich nun intuitiv den abgelösten Henkerkopf nach links hin über die Schale ziehe, käme die alte Magd in Betrachtung. Sie selbst hebt ihren Kopf mit ihren Händen so empor, als würde sie ihn sich geradezu abnehmen wollen. Ihr Kopf und der der jungen Magd, der direkt über der Schale schwebt, sind die Äquivalente für das Aufnehmen und Hineinlegen von Köpfen in diese Schale. Aber all diese Häupter gelten doch wohl dem meinem. So wie der Stuhl

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Transszenisch:   „…ein  Signal,   welches  die  ge-­‐ genständliche   Wirklichkeit   souverän  außer   Geltung  setzt,   obwohl  es  an  ihr   erscheint.“   (BRÖTJE  2012a,   247)  

van Goghs freigehalten bleibt... und wie seine Schuhe bereitgestellt sind für meine Begegnung... Mir wird hier etwas aufgeführt. Auch mein Dasein ist „hineingehalten“ in diese Leere und dieses Nichts, ist in die Waagschale gelegt? Um was für ein „Seinsgeschick“ geht es hier? Gibt es diese „seinsaufschließende Kraft“ des Bildes – hier und jetzt? Und: „Wächst das Rettende auch?“ (PÖGGELER 1989, 3) – trotz all der abgetrennten Köpfe?. Aber Halt. Sollte man hier zögern? Sollte man dies alles lieber aufschieben und warten, Ausflüchte in Erwägung ziehen? „Und   doch   scheint   sich   bereits   jetzt   jenes   gesuchte   »Metaphysische«   anzudeuten.   Sollte   es   etwa   da   zu   finden   sein,   wohin   das   Kunstwerk   als   in   seine   Tiefe   zeigt?   Und   könnte   die   Aufgabe,   der   Verweisung   in   die   Abgründigkeit   der   Werke   denkend   nachzugehen,   zu   einer   solchen   Grundlegung  einer  Metaphysik  der  Kunst  führen,  die  in  der  Erfahrung   ihre  Sicherheit  besäße?“  (WEISCHEDEL  1952,  24)  

Diese goldene Schale ist der Bezugsund Endpunkt aller dieser Köpfe. Und diese bleibt mir als imaginärer Ruhepunkt aller Häupter so oder so ein dominierender Horizontalwert. Als solcher schiebt er sich ins Bild und behauptet sich gegen die gewaltigen drückenden Vertikalkräfte. Über den waagerecht gestreckten Rücken des Henkers hinweg bringt sich diese Schale sodann höhenversetzt in Horizontalabstimmung zur Unterkante der Rahmung des Gitterfensters im rechten Bildteil.

Und zum zweiten Mal begegnet mir auf der Schnittstelle der beiden Bildhälften die Messerklinge. Der Versuch, der Streckung der Fensterbank nach links zu folgen, erweist sich als isolierter Sehakt und so erst einmal als ergebnislos. Stattdessen stellt sich mir die Blickalternative, von der Klinge nun über die Richt-

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anweisung der Messerscheide der äußeren Beinkontur nach unten zu folgen. Damit aber befinde ich mich in der Realisierung der Beinstreckung endgültig im aufgeräumten rechten Bildteil. Durch das Nebeneinander der Zehen des Henkers orientiert sich der Blick von der Vertikalausrichtung des Beins um auf die nun wieder dominierenden Horizontalwerte: auf das rote Tuch, die Wadenbeine des Johannes und schließlich und endlich auf die »Schlangenschnur« mit ihrem erhobenen Köpfchen. Alles weitere erweist sich als eine einzige »Spiritualität« und Energetik all dieser Seile. Sie durchziehen diese Bildhälfte wie Adern oder wie Tentakel, die einander suchen und sich doch noch nicht gefunden und verbunden haben. Die spannungsreichste Zone bildet dabei die Leerstelle, die (noch) zwischen dem »Johannes-Fädchen« und den Seilenden besteht, die entspannt halb durch den Mauerring gezogen, am Boden darüber ausrollen. Hier ist es so, als würde mir das Bild den ganzen Zusammenhang von Tod und möglicher Erlösung als eine kleine, zu überbrückende Distanz zeigen – eine Befreiung nicht durch eine denkmögliche Flucht durch den Torbogen. Die Befreiung zeigt sich mir via eines Entbunden-Werdens vom irdischen Leben. Denn hängen nicht die beiden schweren Seile, sich überkreuzend, vom oberen Bildrand her »hinabgereicht« auf der Bildebene? Und liegen sie nicht wie gelöst in diesem Mauerring, der auch schon deshalb halb offen steht, weil die rechte Bildgrenze ihn »aufgeschnitten« hat? Und bin ich nicht geneigt daran zu glauben, dass diese losen Enden sich verbinden wollen mit dem kleinen Tau. Diese Latenz der Bänder öffnet einen Zwischenraum von »noch nicht« und »nicht mehr«, von einem ursprünglichen Verbunden-Gewesen-Sein und einem in Aussicht gestellten Anfang eines neuen »Bundes«. Das Drama und die Dramatik des Bildes kommen leise schleichend daher. Nicht die spektakuläre Enthauptungsszene ist für das intuitive Sehen das zentrale Ereignis, sondern die wie abgeschnitten und »gekappt« daliegenden und eine Verbindung suchenden Taue sind die Akteure. Sie rufen den Hintergrund des »Transzendenten«

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in Erinnerung. Würden sich die losen Enden tatsächlich noch einmal verbinden, böte sich eine Gelegenheit, vom Körper des toten Johannes dem Linienverlauf bis oben – an das Ende des Bildes – zu folgen. Nur so entkäme Johannes im „seelischen Verstehen“ ins Jenseits des Dargestellten. Und warum soll es an mir liegen, dass ich diese Verbindung imaginär herstelle. Denn rein wirklichkeitsgetreu sollte ich wohl nur ein Seil sehen, das in einer Schlaufe zusammengelegt daliegt. Die „eigentliche Wirkqualität“ ist aber die: Durch die Schlaufenlegung gewinnt das Seil an Länge. Und diese zusätzliche Länge begreife ich als eine Zusicherung: Das kleine Seil vom Johannes her und der in Schlaufe gelegte Strang werden sich erreichen können. Denn gewiss scheint: Die Taue »antworten« aufeinander. Sie kommunizieren. Und so wird mir der offene Mauerring zum Pendant des Schlüsselbundes, der dort am Rand des Werks seine metaphorische Einlösung und Übersetzung findet: Der Freispruch und die Freisetzung geschieht im rechten Teil dieses Diptychons in der Bildsprache von Tauen und dem Halb-Ring. In der Figurenszene mit Wächter und Schlüssel wird es keinen Ausweg geben. In den 50er Jahren, als man so »transzendierend« oder »metaphysisch« hätte sehen können, beschrieb der berühmte italienische Kunsthistoriker Roberto Longhi das Bild schließlich so: „Das klare und träge Licht eines Nachmittags, angefüllt mit lebenslanger Verzweiflung, erfüllt den Gefängnishof, während Sträflinge der Hinrichtung zuschauen, durch Eisengitter nahe bei einem Torweg, in dem ein Fluchtversuch möglich wäre.“ (LONGHI 1952, 53) Diese Passage erinnert im Tenor frappierend an Martin Heideggers Erinnerungen an die Bauernschuhe. Auch hier handelt es sich nicht um eine einfühlend simple Inhaltsangabe von dem, was auf dem Caravaggio auf Malta zu sehen ist. Man könnte fast gewillt sein, Longhis Kettensatz ganz heideggerianisch aufzufassen: In ihm käme, „gleichsam unter der Hand, an den Tag, was im Werk am Werk ist: Die Eröffnung des Seienden   in seinem Sein: das Geschehnis der Wahrheit.“ „Das  [...]  Werk  fügt  erst  und     (HEIDEGGER 1935, 33) sammelt  zugleich  die  Einheit     Denn bemerkenswerter Weise scheint es so, als jener  Bahnen  und  Bezüge  um     benenne Longhi (ohne davon zu wissen?) alles das sich,  in  denen  Geburt  und  Tod,   ein, was Caravaggios Kunstwerk als „Geviert“ erUnheil  und  Segen,  Sieg  und   Schmach,  Ausharren  und  Ver-­‐   öffnen würde. Geviert war für Heidegger das Bild fall  –  dem  Menschenwesen  die   oder die Metapher für „eine ursprüngliche Einheit“ Gestalt  seines  Geschicks  ge-­‐ und den Zusammenhang von „Erde und Himmel, winnen.“   die Göttlichen und die Sterblichen in eins“. (DERS., (HEIDEGGER  1935,  37)   1951a, 151)

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Das Kunstwerk könne diese Einheit fügen. Es versammele diese vier „Bahnen und Bezüge“, indem es Maß nimmt. Diese „im strengsten Sinne des Wortes verstandene Maß-Nahme“ ist es, „durch die der Mensch erst das Maß für die Weite seines Wesens empfängt“. „Im Retten der Erde, im Empfangen des Himmels, im Erwarten der Göttlichen, im Geleiten der Sterblichen ereignet sich [...] das vierfältige Schonen des Gevierts. Diese Einfalt nennen wir“, so die Freiburger Ek-sistenz- und Seyns-Lehre, „das Geviert“. (HEIDEGGER 1951b, 200, 1951a 153) Longhi spricht nun diese versammelte Einheit des Gevierts im Bild sehr präzise an: das Licht vom „Himmel“; die lebenslange Verzweiflung und die Sträflinge als das „Sterbliche“; der Torweg mit Lattenkreuz und die Seil-Energien als das „Erwarten der Göttlichen“. Und der Innenhof des Gefängnisses, sein Boden und diese stets mitpräsente Mauer-Leinwand-Wand, die alles Geschehen erst »garantieren«, indem sie den »Ort bereiten«. Meine ganze Bildanschauung, beginnend in der linken Bildecke bei dem Rockfalten der Magd, über den Torbogen und so weiter – alle „Folgeverfügungen“ (BRÖTJE 1990, 144) – zum »Köpfchen hebenden Schnürchen«, zu den Seilen und mit ihnen hinauf bis zum oberen rechten Bildrand: Alles könnte für mich eine Referenz haben. Das Bild hätte „dem Menschenwesen“ – mir – „die Gestalt seines Geschicks“ gewonnen (HEIDEGGER 1935, 37) und vorgeführt? Aber der Gefängnishof ist in meinem Brötje-Eifer noch nicht ausreichend zur Sprache gekommen. Im Tonfall einer existentialen Bildhermeneutik würde man vielleicht nun sagen können: In den zwei Hälften des Gefängnishofes vollziehe sich die Antithese zweier Wirklichkeitssphären: von Weltlichem und »Transzendentem«. Im linken Bildteil ist der Hof noch besetzt von Menschen. Dort gibt es etwas zu sehen. Der rechte, leerere Teil des Hofes gibt sich zu sehen. Und meine Anschauung hat sich sicherlich von Anfang an schon – unbewusst und unweigerlich – auf diese Differenz und dieses Stück Hof eingelassen. Dieser Gefängnishof bezieht auf der rechten Bildhälfte seine ganze räumliche Artikulation fast nur aus einer einzigen dünnen Trennungslinie. Eigentlich ist es nur ein Farbunterschied in den beiden Braunwerten, der Wand und Boden trennt und damit beides als solches konstituiert. Der Verlauf der Seile trägt an dieser Stelle der Raumlogik Rechnung und knickt nach vorne ab.

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und:     „Das  Werkhaf-­‐ te  der  Kunst   dingt  das  Ge-­‐ viert.“   (PERPEET    nach   Heidegger,   1963,  166)  

Wäre diese Grenze auch nur einen Hauch weniger hervorgesetzt, alles wäre reine Bild-Wand. So aber »entlässt« die Bildwand sich in oder zur Standfläche für die Figuren in ihrer Bildwelt. Die Bild-Wand-Mauer bleibt, fast monochrom gehalten, fast nur als Grundierung im Sinne einer Fundierung als sie selbst »stehen«. Diese Mauer(Lein)wand liegt zwischen dem Vordergrund der Hoffläche und dem Hintergrund des Torinneren. Sie scheint beides einmal nach vorne, einmal nach hinten aus sich hervorzubringen bzw. »freizugeben«. Insofern ist sie mir die Bildebene als solche! Aber... ... heute denkt man anders über das Gleiche. Leute wie Brötje gelten schnell als ideologische Irrläufer und kunstwissenschaftliche Geisterfahrer. Für alle, die heute wie konditioniert nur nach medialer Selbstreflexion suchen, bietet Caravaggio Anlässe genug: Man spricht einmal mehr von seinem Interesse an der kritischen Differenz von Illusion und Oberfläche und so weiter. Für mich in meiner neuen Rolle als »Einberufener«, als jemand der gerade intuitiv aus dem Bauch heraus sieht, als »Bauchseher« also, verlieren diese medienreflexiven Analysen ihre Relevanz. Unter meinen neuen/alten Voraussetzungen werden sie größtenteils zu rein technischen Beschreibungen. Sie können nicht überzeugend sagen, warum das malerische Programm ein »Interesse« an diesen Differenzen haben sollte. Die Antwort könnte lediglich lauten: Das Programm hat ein Selbstinteresse, es stellt sich selber und sein Leistungsvermögen (selbstkritisch) aus. Hier ginge es dann wiederum um Bedingungen von Malerei als Täuschung und Enttäuschung, Versprechen und Betrug und dergleichen. Alles das kann der Fall sein. Es könnte sogar seine Pointen haben: Denn will nicht auch schon der Henker mit dem hinterrücks gezogenen Messer schnell noch einmal über seine »misslungene Hinrichtung« hinwegtäuschen? – und noch dazu mit der fast gleichen tricksenden Handbewegung wie Caravaggio schon seinen Falschspieler (um 1595) eine gezinkte Karte zücken ließ. Und was wäre mit dem ganzen christlichen Inhalt des Bildes, dem Täufer als Märtyrer und all dem, wenn schon der Henker schummeln würde.

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Aus meiner jetzigen, meiner augenblicklich eingenommenen Perspektive müsste man nun aber dennoch einwenden und insistieren: Es geht nicht um die Bedingungen von Malerei »an sich«. Die Malerei beschäftigt sich weniger mit sich selbst als Falschspielerin, die etwas »inkarniert«, was nicht da ist. Und sie reflektiert sich eben nicht dauernd als Kunst der Oberfläche. Stattdessen könnte sie genausgut ihr schweigsames Geheimnis hüten. Martin Heidegger hatte es eben »Wahrheit« genannt und dabei seinen Begriff von »Wahrheit« vollkommen neu formuliert. Wilhelm Weischedel nannte es in seinen Texten die »Tiefe« des Kunstwerks; und er meinte damit keinen nur dargestellten Bildraum. Anfang der 80er Jahre sprach der Imdahl-Schüler Michael Bockemühl dann noch einmal von einer nur zu „erschauenden“ Verbindung zum »Transzendenten«: Denn „die Spiritualität“ eines Bildes liege „im prinzipiellen, alles umfassenden unmittelbaren Sichtbarmachen des Sichtbarwerdens selbst“. (1981, 16/135f.) Bei all dem geht es um das durch die Malerei bedingte und bewirkte: Nämlich auch bei der Enthauptung, einmal mehr, um das „Zweifach-Gleiche“, das die rötlich braune Bild-Mauer-Wand für mich ist: Eine „Instanzeinforderung der Bildebene“ als „Anschauungssynonym für die übergeordnete, nie selbst erkennend »fassbare« und doch gegenwärtige Transzendenz“. So pflegte Brötje dies ja stets zu formulieren. (1990, 64) Vor ihr, der Bildebene, und mit ihrem Zutun (dem Druck des Torbogens zum Beispiel) setze sich hier (m)ein „Geschick“ ins Bild. Jeder Versuch einer Täuschung oder Medienreflektion wäre dabei vollkommen zweitrangig. Ich probiere aus, dies so zu sehen und beobachte, was passiert, wenn man das Erschaute im raunenden Originalton noch einmal wiederschreibt und nachspricht. Hier und jetzt beziehe ich das Kunstdenken des Freiburger „Weserrich“ auf meinen Caravaggio – auf die Enthauptung. Was heißt dann ein Satz wie der folgende also nun? „Das Erscheinen des Gottes“, schrieb Heidegger, bestehe „in einem Enthüllen, das Jenes sehen lässt, was sich verbirgt, aber sehen lässt nicht dadurch, dass es das Verborgene aus seiner Verborgenheit herauszureißen versucht, sondern alleine dadurch, dass es das Verborgene in seinem Sichverbergen hütet“. Dies sei die „Weise, wie der unbekannt bleibende Gott als dieser [...] offenbar ist“. (1951b, 200f.) Sollte sich in der Einheit in der Differenz – zwischen Bildgrund und Erscheinung – ein gehütetes Offenbarwerden ereignen: Immer dann, wenn im Bild etwas zur Erscheinung kommt – enthüllt sich dann nicht auch das verborgene Bedingende mit...

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„So  »verhan-­‐ delt«  das  Bild   sich  selbst  in   seinen  äu-­‐ ßersten  Mög-­‐ lichkeiten  der   Sichtbarkeits-­‐ emanation  des   Seienden  aus   dem  wesens-­‐ bestimmt  Un-­‐ sichtbaren.“     (BRÖTJE,  2001,   54)  

... Einem schmalen rot-brauen Streifen, der genauso Bildstreifen wie Wandstreifen ist und der ganz rechts am Rand – zwischen der Steinrahmung des Gitterfensters und der Bildgrenze – liegt, käme dabei vielleicht eine besondere „Wirkungsgeltung“ zu: Alles wäre nämlich anders und müsste ganz anders gesehen werden, würde das Bild nach rechts mit der Fensterrahmung am Bildrand abschließen. Dann wäre das Kerkerfenster nicht mehr umschlossen von diesem Bildgrund-Wand-Braun. Der verkehrte Effekt bestünde dann darin: Ich hätte das vergitterte Fenster mit seiner massiven Steinrahmung nicht eindeutig als Wandausschnitt, als »Loch« in der Bildwand-Ebene sehen können, so wie ich es jetzt sehen muss. Daher besitzt dieser Streifen seine hohe bildsemantische Bedeutung. Ohne ihn würde das Kerkerfenster nicht als klare Antithese oder als bedeutungshafte Negation zur »Bildwand« erkennbar werden. So aber »räumt« die Wandebene – der Bildgrund – dem Wirklichkeitsausschnitt im Fenster einen wie eingeschnitten wirkenden Gitterraum ein. Damit erst wird mir vom Bild her das außerordentlich Spannungsverhältnis von Bildwelt und Bildebene demonstriert. Aber auch hier wird mir dieses Spannungsverhältnis nicht seiner selbst willen vorgeführt. Vielmehr muss ich – in meiner neuen Bildlogik – im gerahmten Fenster ausdrücklich eine innerbildliche Aussetzung von »Transzendenz« erkennen. Diese wird ersetzt durch Wirklichkeitsprojektion. Diese beiden Köpfe drängen gegen ein zurückgesetztes Gitterraster wie gegen eine »Scheibe«. Was aber sollte es mit dieser Aussetzung von »Transzendenz« in dieser Zelle auf sich haben?

Abb.:  Rechts:  Albrecht  Dürer:  Der  Zeichner  des  liegenden  Weibes,    7,6  x  21,2  cm,  in:  Underweysung  der  Messung,  Nürnberg  1538.  

Zeigt sich in diesem Fenster nun mit Nachdruck noch einmal an, dass diese irdisch-empirische Wirklichkeit der Betrachtenden – und damit auch meine eigene – von allem, was hier im Bild zur Verhandlung kommt, ausgeschlossen ist? Endgültig wäre nun klar: Hinter diesem Fenster ist niemand eingekerkert, sondern in Wahrheit »da draußen« ausgesperrt und ausgeschlossen.

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Und doch nicht ganz ausgeschlossen. Denn zugleich wäre mir angezeigt, dass die »Erlösung«, die Johannes in dieser Bildseite in der Metaphorik der Schnüre und Seile erfährt, auch auf die Betrachtenden »abfärbt«. Denn wäre es dann nicht auch so: Zerteilten die Seile, die über das Gitter laufen, nicht genau genommen den letzten Gitterstab? In meiner rein empirischen Wirklichkeitswahrnehmung überdecken sie ihn nur. Was ich aber tatsächlich zu sehen hätte, wäre, dass sie ihn auf ihrem Weg nach oben ablösen, dass sie an seine Stelle getreten sind und an dieser Stelle das Gitter außer Kraft gesetzt, umgewandelt und freigegeben haben. Dabei überkreuzen sich die beiden Taue sanft – in negierender Analogie zur eisernen Verwobenheit des Gitterstäbe des Zellenfensters. Und dann rufen diese beiden Stränge da noch einen kleinen Haarriss im Fenstersturz in den Blick. In „Absehung“ von seiner Gegenstandsreferenz wird dieser Spalt zur Positivform eines Zeigers nach oben. So wird der Blick über die partielle Aufhebung der Vergitterung dorthin ausgeleitet. Das Herabgehängt-Sein der beiden Taue zu sehen, ist die Vorbedingung, um dann zu erkennen, dass sie in ihrem Herabgereicht-Sein dazu da sind, an ihnen empor nach oben zuschauen. An ihnen entlang blicke ich in ein »Jenseits« des Bildes hinauf. Das war’s vielleicht. Damit könnte meine Bildbetrachtung zu ihrem Abschluss gekommen sein. Max Imdahl pflegte übrigens dieses »Jenseits«, das vom einem Bild aktiv aufgerufen wird, gerne als ein „bildüberschreitendes Plus“ zu bezeichnen. (1987, 239) Er dachte in diesem Zusammenhang beispielsweise an die Zips in Barnett Newmans Bildern. Als Vertikalstreifen durchlaufen sie durchgehend die Bildebene von oben bis unten. Sie machen den Betrachter darauf aufmerksam, dass das im Bild Gezeigte nicht alles ist. Und nebenbei auch noch: Die bildüberschreitenden Seile Caravaggios haben in diesem Sinne letztlich eine gänzlich andere Anschauungsqualität als der oben »angeschnittene« Torbogen im linken Bildteil. Dies ergibt sich daraus, weil der Torbogen seine AbwärtsEnergie auf den Henker zwar ebenfalls aus dem Bild-Jenseits erhält. Ich sehe das obere Rund und den Schlussstein der Bogenkonstruktion nicht. Dabei kann bzw. muss die

           Abb.:  Barnett  Newman:  Fourth  Sta-­‐              tion  of  the  cross,  1960,  198  x  153cm.  

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Bogenform aber von mir imaginär vollendet werden. Der unsichtbare Schlussstein, der Keilstein in der Mitte der Bogenquader, bleibt somit vorstellbar und ergänzbar. Das Woher und Wohin der Seile dagegen prinzipiell nicht! Ich bleibe noch bei der Anschauungssimulation und in der Rhetorik existentialer Betroffenheit, weil der Tonfall eine Verbindlichkeit und eine »Verbindung« heraushören lässt, die man noch einmal von Neuem untersuchen sollte: Versammelt nun also die Enthauptung des Johannes in meinem Beisein und für mich das „Geviert“ und lässt so eine „Wahrheit werden“? Oder wie Réne Berger, der sehr zu Unrecht etwas in Vergessenheit geratene Kunsthistoriker der französischen Schweiz es in seinem ersten Buch mit dem Untertitel „Geheimnis und Gesetz der Malerei“ für ein anderes Bild formulierte: Uns würden so „die Zeichen unseres Schicksals auf[ge]zeigt“. Denn erscheint das Bild uns „nicht so vertraut, dass wir uns schließlich doch seiner faszinierenden Evidenz ergeben? Wer uns, so wie wir sind, auf das Ausmaß unserer Wahrheit erhebt, handelt als Künstler.“ (BERGER 1958, 357) Könnte also letztendlich Caravaggios Bild „was Sein ist, zum Erlebnis werden lassen“? (BRÖTJE 1993, 65) Und noch eine letzte präzisierende und wiederholende Wendung oder Schraube in den existentialistischen Fragen und Phrasen:  „Heidegger  würde  vielleicht  folgendes  sagen:“      (DERRIDA  1992,  293)  

Im Bild „weilen Erde und Himmel“: „Erde“ erscheint in der rot-braunen Mauerwand als das hervorbringend Sich-Entziehende des Grundes von allem. „Himmel“ bringt sich ins Werk als das gemalte Licht im Hof und als der Glanz der Strahlen auf den Dingen. Die Figuren in der Szene sind „die Sterblichen“, die Menschen. „Sie heißen die Sterblichen, weil sie sterben können. Sterben heißt, den Tod als Tod vermögen.“ Genau dies kommt in den Figuren und den Köpfen möglicher Weise tatsächlich zur Verhandlung. Die Taue und Seile „sind die winkenden Boten der Gottheit. Aus dem verborgenen Walten dieser erscheint der Gott in sein Wesen, das ihn jedem Vergleich mit dem Anwesenden entzieht...“ (HEIDEGGER 1950, 180) Oder ist „diese Geschichte [einfach] sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen“ (Thomas MANN 1924, 21) – reine bräunliche Bildgrund-Metaphysik und Bildmystik, sonst nichts!

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[...] »O weh«, »ich glaubte einen Augenblick lang, mein Werk sei vollendet, aber ich habe mich gewiss in einigen Einzelheiten geirrt und werde erst Ruhe finden, wenn ich meine Zweifel geklärt habe. Stand ich im Banne der Laune einer Theorie oder entsprangen die Gedanken jenem seltsamen Fanatismus, der uns befällt, wenn wir lange Zeit mit einem großen Werke schwanger gehen? Konnte man jemals hoffen, mit dieser bizarren Leidenschaft ins reine zu kommen?« [...]

Die Eigenlebendigkeit des Endes einer kleinen Schnur – der »Magnetismus« dieses erhobenen Fadenköpfchens – war mein punctum im Bild der Enthauptung gewesen. Und es ist sicherlich kein Zufall, dass mir dieses Detail ins Auge gesprungen und in Erinnerung geblieben ist. Denn „Beispiele für das   punctum anzuführen bedeutet daher in gewisser Wei„Um  das  punctum  wahr-­‐ se, sich preiszugeben“. „Ein Detail bestimmt plötzlich zunehmen,  wäre  mir   meine ganze Lektüre; mein Interesse wandelt sich daher  keine  Analyse   mit Vehemenz, blitzartig.“ (BARTHES 1980, 53) dienlich...“     Roland Barthes sprach wie Michael Brötje in die„Ich  beschloss  also  bei   sem Zusammenhang stets vom »Ich« und schrieb in meinen  Untersuchun-­‐ der Ich-Form. Diese Ich-Zuweisung war für Barthes gen  von  einigen  ganz   deshalb angemessen und treffend, weil das punctum wenigen  Photographien   eines Bildes jeden einzelnen Betrachter bekanntlich auszugehen,  jenen,  von   ereignishaft trifft und „durchbohrt“. (EBD., 35) Für denen  ich  sicher  war,   Barthes stand fest: »Ich« finde über das punctum in dass  sie  für  mich  exis-­‐ einer Photographie eine einmalige referentielle Bezietierten.“   hung zwischen dem Bild und dem, was ihm zu (BARTHES  1980,  16/52)   Grunde liegt. Durch dieses punctum erst ereignet sich eine aktuelle Verbindung zum Referenten. „...Da ist es!“ (EBD., 89) – gegenüber einem ebenso gültigen „Esist-so-gewesen“. Brötjes und Heideggers »Anschauungslehren« haben ihrerseits eine klare Referenz auf das, was außerhalb des Bildes liegen soll: „indem das konkret Erscheinende über sich hinausweist auf etwas anderes, auf ein »Transzendentes«“ (SCHMIED 1990, 15) und auf eine „Selbst- und Seinsvergewisserung“. (BRÖTJE 2012a, 26)

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„...  denn  punctum,   das  meint  auch:   Stich,  kleines  Loch,   kleiner  Fleck,  klei-­‐ ner  Schnitt  –  und   Wurf  der  Würfel.   Das  punctum  einer   Photographie,  das   ist  jenes  Zufällige   an  ihr,  das  mich  be-­‐ sticht  (mich  aber   auch  verwundet,   trifft).“     (BARTHES  1980,   35f.)  

Bekommt die Malerei vielleicht eine aus sich selbst herausweisende, außerbildliche »Referentialität« – etwas Transzendierendes –, wenn sie mich zuerst durch ein punctum besticht? Eine interessante Frage: Dazu müsste man zunächst Vermutungen dazu anstellen, ob es überhaupt so etwas wie ein punctum außerhalb der Photographie geben könnte. Oder ob es einzig und allein auf die Photographie bezogen »existiert«. (vgl. auch WINTER 2006, 110) Und man müsste wissen können, ob es überhaupt ein punctum gibt; ob dieser Begriff also selbst eine Referenz hat – oder ob das Substantiv nur innerhalb eines Textes, der von einem Mythos der Photographie handelt, seinen Platz einnimmt und nur dort ganz punktuell seinen Sinn trifft – das punctum existierte (nur), weil es im Buche steht – in Roland Barthes kleinem Büchlein – der hellen Kammer Bereits Didi-Huberman hatte versucht, „hysterische“ Bildzonen in der Malerei mit dem punctum in der Photographie in Verbindung zu setzen. Aber er hatte sich mit einem Hinweis begnügt und schnell wieder aufgegeben. Seine Anmerkung bestand dabei darin, dass das punctum zwar eine hohe „phänomenologische[ ] Relevanz gewinnt“, aber „semiologisch“ nicht brauchbar sei. (DIDI-HUBERMAN 1986, 79) Es sei deshalb nicht »vernünftig« behandelbar, weil es ein rein visuelles Phänomen ohne Code sei. Und zuvor war schon Jacques Derrida einen Schritt weiter gegangen als Didi-Huberman. Dabei stellte er die Überlegung an, dass dem punctum in der Photographie zweifellos ein besonderes Verhältnis zum Referenten und zur Referenz innewohne. Das punctum beziehe sich in ausgezeichneter Weise auf das Außerbildliche – auf das „Dasein“. Und dieses Verhältnis sei für die Photographie nun einerseits in jedem Fall ein medienspezifisches Alleinstellungsmerkmal: „Es ist die Beziehung zu einem einzigartigen und unersetzlichen Referenten, die uns interessiert und die unsere intensivste Lektüre, unser studium belebt...“ (DERRIDA 1981a, 45) Im gleichen Zug vermutete Derrida andererseits aber auch, dass genauso gut und gleichzeitig das Gegenteil der Fall sein könnte: Es könnte nämlich ebenso gut nicht auszuschließen sein, dass ein solches punctum mit seiner besonderen referentiellen Anziehungskraft auch außerhalb der Photographie – also auch in der Malerei – anzutreffen sei: Denn das „Haftvermögen des photographischen Referenten“, auf das Roland Barthes „zu Recht besteht, verweist eben weder auf eine Gegenwart noch auf ein Wirkliches, sondern anders auf den anderen, und jedesmal anders je nach dem Typ von Bild...“ (DERRIDA, 1981a/b, 27f./32)

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Für Derrida sind solche Vermutungen eher untypisch. Und es tut hier nicht viel zur Sache, aber der französische Philosoph belegt seine Ausführungen zur Frage der »Referentialität« erwartungsgemäß mit Roland Barthes eigenem Text über die Photographie und über das punctum. Denn, verkürzt gesagt, ereigne sich in dieser Schrift, in dem Aufsatz, den Barthes schrieb, schleichend schon genau die Referentialität, von der der Text (irrtümlich) aussagen will, dass diese ausschließlich nur in der Photographie anzutreffen sei. Genau dieser Text von Barthes stoße aber, so Derrida, durch seine Schreibweise – „unqualifizierbar“ wie das punctum – auf eine „reale Irrealität“ durch. (EBD., 33) Man könnte auch sagen: Es gibt Details in Barthes (persönlichem und zutiefst melancholischem) Text, in denen das Aufgeschriebene eben „anders auf den anderen“ verweist. Für den Leser, für Derrida, der diese Schrift studiert, sind dies Anstöße einer eigenen Betroffenheit, die während des Lesens über „Trauer“ und „Ekstase“ einfach so passieren, die sich plötzlich im Lesen ereignen. Diese Stellen oder Punkte in Barthes Text seien es, die „auf utopische Weise“ eine „referentielle Irreduzibilität“ stiften, so resümiert Derrida schließlich. (1981a, 46) Daher  „muss  man  [»mit  tausend  differentiellen  Vorsichtsmaßnahmen«]  von  einem  punctum   in  jeder  Markierung,  in  jedem  Diskurs  sprechen  können...“  (EBD.,  45;  Klammern  Derrida)  

„Auf utopische Weise...“ impliziert natürlich schon, dass die Frage nach dem irreduziblen »Rest« offenbar wiederum offen bleiben muss. Um dem allerdings überhaupt nachgehen zu können, sei dabei vorausgesetzt, dass man sich nicht an einen naiven oder „realistischen Referentialismus“ klammere. (EBD.) Der irreduzible «Rest«, mit dem die Malerei vielleicht besticht oder trifft, sich »transzendiert« und mich betrifft, bleibt – um mit Wilhelm Weischedel etwas weiter hinter Derrida zurückzugreifen – in der „Fraglichkeit“. Man kann ihn weder leugnen noch voraussetzen. Allerdings war für Weischedel, der 1933 bei Heidegger in Freiburg seine Doktorarbeit abgeschlossen hatte, ziemlich unmissverständlich klar: „worauf das Kunstwerk deutet“ und worüber hinaus es „weist“, sei „das Absolute“. (1952, 67)

 

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    VII.  

  (BRÖTJE  2012c,   Danksagung)  

[...] Drei Wochen nach der Begegnung zwischen dem jungen Mann und Heidegger kamen beide noch einmal zu Meister Brötje zu Besuch. Der Greis war gerade einer jener plötzlichen tiefen Entmutigungen verfallen, die nach Meinung der Mathematiker der Medizin auf eine schlechte Verdauung zurückzuführen sind, nach Meinung der Metaphysiker hingegen auf die Unvollkommenheit unserer geistigen Natur. Der gute Mann war ganz einfach der ewigen Arbeit an seinem geheimnisvollen kunsthistorischen Text wegen müde geworden. Völlig entkräftet saß er in einem breiten, geschnitzten Eichenstuhl, der mit schwarzem Leder bezogen war, und ohne seine schwermütige Haltung aufzugeben, warf er dem Philosophen den Blick eines Mannes zu, der sich mit seinem Kummer abgefunden hat. »Da kommen wir gerade zur rechten Zeit«, sagte der junge Mann, »um Euch bei eurem Text vielleicht doch noch zu helfen.« »Wie denn das?« frage der Greis erstaunt. »Ich werde von einem guten Freund begleitet, der die kunstvollsten Bücher schreibt. Er hat eingewilligt, euch aus eurer misslichen Lage zu befreien. Ihr müsstet uns allerdings wenigstens euren wunderbarsten Text einmal sehen lassen.« Der Greis blieb regungslos in einem Zustand vollständiger Agonie stehen. »Wie«, rief er schließlich schmerzvoll aus, »meine teuren Texte soll ich euch Skeptikern zeigen, meine Schätze?« Schon einmal habe ich Teile davon publik gemacht. Und, was ist geschehen? Man nannte mich einen ‚göttlichen Windmacher‘, der sich jeder Überprüfbarkeit verweigert hat. In den ‚langen Jahrzehnten der völligen wissenschaftlichen Isolation in Deutschland’ habe ich nur mit meinen wertvollen Texten zusammengelebt. Wenige nur gaben mir ‚die Kraft zur Weiterentwicklung des Ansatzes’. Auch ihr werdet sie nur zerpflücken; und ihr könnt sie nicht verstehen, weil sie nur als Ganze in sich schlüssig sind. Ihr verfälscht sie erbärmlich. Das ist es nicht Wert. Es ist auch noch nicht alles ganz fertig, später werde ich sie euch vielleicht sehen lassen. Schande über mich. Aber ich bin ihr Autor; ich lasse sie nicht kommentieren und zerpflücken von Dilettanten. Durch mein Schreiben bekommen Bilder ihre zugesicherte Transzendenz; sie werden so wieder zu dem, was sie immer

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schon waren; ich kann zeigen, dass sie Schöpfungen sind und Schöpfung in ihnen geschieht.« Der Greis schien wieder jung geworden zu sein; seine Augen hatten Glanz und Leben, seine bleichen Wangen waren von einer lebhaften Röte, und seine Hände zitterten aufgeregt. Erstaunt über die leidenschaftliche Gewalt, mit der diese Worte gesprochen wurden, wusste der junge Mann einem solchen Gefühl, das ebenso alt wie tief war, nichts entgegenzusetzen. War der Alte bei Verstand, oder war er wahnsinnig oder genial? »Ihr werdet vielleicht sterben, ohne eurer Ziel erreicht zu haben. Es bedarf noch einiger Überzeugungsarbeit«, warf der Junge ein. »Oh, die Texte sind ja fertig«, sagte der Greis. »Wer sie ganz intensiv läse, würde wirklich schon glauben, in der Malerei die Spiegel und Synonyme des Transzendenten vor sich zu sehen, wenn er ein Bild anblickt. Das große Geheimnis der ‚Gleichnisinstanz’, die ein Werk ist, käme ganz bestimmt zu einer tief befriedigenden ‚Erlebniseinlösung’. Ich bin mir ganz sicher! In jedem Fall würde sich auch zeigen: Ein gutes Bild wirft ‚alle entscheidenden ontologischen Bestimmungen und Entfaltungsstufen der menschlichen Existenz von der Seinsabkunft bis zum Tod, respektive bis in die Zukunft hinein’ auf. Meine Schreibarbeit macht all dies nur zu gut sichtbar. Und dennoch«, fügte der Greis sodann und nun wieder verzweifelt wie zu Beginn hinzu, »ich würde mich gern weiter versichern...« [...]

„... Es bedarf einer langwierigen und immer vom Scheitern bedrohten Analyse“, lässt uns Michael Brötje wissen. (2012b, 121) Dabei ist es nun aber so, dass diese Analyse im Falle und anlässlich der Stillebenmalerei von Jean-Baptiste Siméon Chardin zu einer erstaunlichen und unerwarteten Wende findet. Denn bisher war der Bildgrund stets „die Bewahrheitungsdimension“ (EBD., 118), in der „Transzendenz [...] sich in eine dazu geschöpfte Welt von sich fortgibt“, und sich aus dieser „wieder auf sich zurücknimmt.“ (DERS., 1990, 132) In der Malerei Chardins aber scheint sich dies grundsätzlich zu ändern. Es scheint so, als werde das Seiende, das sich im Kunstwerk zeigt, nicht mehr transparent auf den „Schöpfungsgrund des Bildes“. Es ist, als ob die Dinge ihre „Hinterfangenheit“ von Transzendenz verlören.

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(BRÖTJE  1990,   203)  

Stattdessen sieht es nun erstaunlicher Weise so aus, als sei die Bildebene im Gegenteil jetzt verantwortlich für eine „Maximalsteigerung der »Verschmutzung« der Erscheinung“! (DERS.,2012b, 113) „Natürlich  kennt  die  niederländische  Malerei  des  17.  Jahrhunderts  [...]  die  Eintrübung,  Schumm-­‐ rigkeit  des  Raums,  die  Schmutzigkeit  des  Bodens,  der  Wände...“  „Aber  hier  handelt  es  sich  stets   um  Zustandscharakterisierungen  der  spezifischen  Örtlichkeit,  [...]  der  sachlichen  Oberflächenbe-­‐ schaffenheit   der   Dinge   und   Stoffe,   nicht   aber   wie   bei   Chardin   um   ein   allwaltendes   Seinsphäno-­‐ men.“  (BRÖTJE  2012b,  117)  

   Abb.:  Jean-­‐Baptiste  Siméon  Chardin:  Birnen,  Nüsse  und  Weinglas,  um        1779,  33  x  41  cm,  Louvre,  Paris.  

Brötje war beunruhigt. Diese „Verschmutzung“ sei nun bei weitem keine oberflächliche, sondern sie „dring[e] in die Gegenstände ein“ und greife sie an. Was damit einsetzen soll, sei ein „befremdlicher Effekt“ der Zersetzung der Form und   der „Zernagung“ der Dinge, wie etwa einer Kanne oder Diese  Verschmutzung   von Früchten. Wahrnehmbar sei eine „zerfressende „»frisst«  an  diesen,  derart,   Durchlöcherung“, die sogar noch das klare Glas der dass  selbst  [...]  ein  glatter   abgebildeten Gefäße ergreife – und ihre „innewohnenMetallkörper  wie  hier  der     de[ ] Verderbnis“ erschaubar mache. Diese intuitiv soSilberbecher  eine  poröse     fort einsehbare Verschmutzung betreibe schließlich Erscheinung  gewinnt.  Die   und letztendlich „eine Auflösung des Gegenstandes Dinge  unterliegen  durch   sie  einer  potentiellen  Ge-­‐ hin zur Verschmelzung mit dem wabernden Hinterstalt-­‐diffusion,  mehr  oder   grund“. So verliere zum Beispiel ein Rotweinglas in weniger  starken  Zerset-­‐ einem Chardin-Bild „seine Präsenzgestalt“ und drohe zung...“  (EBD.,  98f.)   „vom Hintergrund verschluckt zu werden“. (EBD., 99f.)

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Chardin:  Der  Silberbecher;  Fette  Mahlzeit  und  Küchengerät;  Birnen,  Nüsse  und  Weinglas,  jeweils   Details.  

Das alles sei auch keine irgendwie nur stilistische Veränderung, sondern das Phänomen sei bei weitem gravierender: Alles fließe „zusammen in einer nicht bloß graduell, sondern radikal gewandelten“ „Wesensprägung des Seienden“. Was ich ganz existentiell involviert vor mir habe, sei ein „tiefgreifender Umbruch in der Wesensauffassung des Seienden“. (EBD., 98f., 234) Was Chardins Stillebenmalerei vom Frühwerk bis ins Spätwerk demnach zutiefst ausmache, sei die „Hervorsetzung einer prinzipiellen Zwiegesichtigkeit alles Seienden“. (EBD., 115) Man ist erstaunt!8 Wie gewinnt man diesen Eindruck? Und wieso sollte ich es nicht länger mit einem „Schöpfungsgrund“ zu tun haben? Ich hatte mich schon daran gewöhnt, im Bild eine „Tiefe“ „als den Ursprung der Dinge“ zu erblicken. (WEISCHEDEL 1952, 48) Wieso ist stattdessen hier nun alles nur noch „verschmutzt“? Und weshalb ist das, was vorher ein Hervorkommen „aus der alles bedingenden Erstsetzung der Bildebene“ war (BRÖTJE 2012b, 115) nun quasi über Nacht zu einem »Steckenbleiben« der Gegenstände im unreinen „Hintergrund“ geworden? Was ist hier los? Wieso diese Störung? Man erinnere sich in diesem Zusammenhang daran, dass bekanntlich schon Diderot entdeckt hatte, dass die Malerei Chardins „mindestens zwei verschiedene Physiognomien (sprich Lesarten) aufweist“. „Aus richtigen Abstand wird seine Gegenständlichkeit ablesbar, aus falscher Distanz »tout se brouille« 8  Zu   »sensualistischen«   Deutungen   Chardins   vgl.   z.B.   Max   Imdahl   (1987,   76-­‐86):   Dem-­‐

nach  werde  das  Motiv  in  seiner  „generellen  Optizität“  gemalt.  So  zählen  die  Dinge  in  „ih-­‐ rer  speziellen,  erfahrungsbedingten  Gesehenheit“.  Das  empirisch  Gegebene  entfalte  sich   als   „koloristisches   Potential“.   So   käme   „in   der   verinnerlichten   visuellen   Erfahrung“   ein   „Gewahren  von  Nichtbegrifflichem“  zur  Anschauungserkenntnis.  Es  sei  auch  erinnert  an   Marcel  Prousts  Chardin-­‐Beschreibungen.  

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„Die  Kunsterfahrung   macht  es  auch  möglich,   das  Wesen  des  Absolu-­‐ ten  in  gewissem  Umfan-­‐ ge  zu  bestimmen.  [...].     Das  erste  ist,  dass  alles   von  ihm  abhängt,  in  ihm   gründet.“  „Urgrund“.   „Zum  zweiten  [...],  dass   das  Absolute  das  Sein   verleiht.“...  „Ursprung“.   „Das  dritte  besagt,  dass   die  Dinge  und  die  Werke   nur  so  lange  im  Sein   verharren  können,  als   das  Absolute  ihnen  sei-­‐ ne  Anwesenheit  nicht   entzieht.  Hält  es  mit  sei-­‐ nem  Gründen  an  sich,  so   müssen  sie  ins  Nichts   versinken.    

und man sieht nur den amorphen Keim der Forminhalte“. (HOFMANN 1996, 1145) Für eine Existential-Hermeneutik á la Michael Brötje ist das Ganze keine Frage der Distanz zum Bild. Und es geht auch in der Sache nicht alleine darum, dass Chardins besondere Malerei „den Beschauer veranlasst, sich seinerseits im Sehen dessen, was im Bild zu sehen ist, ins Sehen wie in einen Ausnahmezustand visueller Erfahrung zu vertiefen“. (IMDAHL 1987, 77) Das wäre zu phänomenologisch und koloristisch gesehen und zugleich nicht phänomenologisch genug. Für Brötje gibt es in den Bildern ein echtes Drama: „Was sich vor Augen abspielt“, sei „der Kampf zwischen der Entborgenheit des Seienden aus dem Absoluten [...] und der widerstreitenden Verderbnis desselben [des Seienden] durch die »Verschmutzung«, die zersetzende »Macht der Finsternis«“, so heißt es nun. (2012b, 100)

Dieses Drama kann vielleicht nur sehen, wer sich nicht nur für die Malweise und das Sehen selbst inteSo  ist  das  Absolute  zu-­‐ ressiert, sondern auch für das ganz konkret, so-undgleich  Abgrund.“   nicht-anders, arrangierte Bildinventar: Man muss sich (WEISCHEDEL  1952,  58f.)   für die einzelnen »Dinghelden« zu interessieren beginnen. Kürzlich hat John Elkins seinen Kollegen genau dies noch einmal ins kunsthistorische Poesiealbum geschrieben: „Kunsthistoriker  und  Kritiker  schenken  Gruppen,  Typen,  Folgen  und  

Reihen   von   Markierungen   wenig   und   einzelnen   Markierungen   prak-­‐ tisch  keine  Aufmerksamkeit.“  Statt  dessen  „stellen  wir  im  allgemei-­‐ nen  lieber  Theorien  über  die  Art  der  Markierungen  auf  als  dass  wir   einzelne  Markierungen  untersuchen.“  (ELKINS  2007,  139)  

Der »eigenbrödlerische« Brötje versuchte aber genau dies: die Einzelheiten in ihrer je vollkommen singulären Ausprägung zu verstehen – wenn auch gewisser Maßen in einem leichten teleologisch-theologischen Wahn. Die Dinge stehen für ihn in Chardins Stilleben auch nicht emblematisch, symbolisch oder allegorisch für etwas anderes. In dieser Hinsicht ist man sich sowieso weitgehend einig: Die Gegenstände stehen für sich selbst. Dies bedeutet aber deswegen nicht zwangsläufig, dass alle Interpreten auch schon dasselbe sehen. Was ein Stilleben von Chardin einer intuitiven Anschauung zu verstehen gibt, scheint über eine Ansammlung von Alltagsdingen weit hinauszugehen – man sieht mehr als man glaubt – oder anders gesagt: Wenn man glaubt, sieht man mehr.

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John Elkins wollte die Kunstwissenschaft ein wenig zurechtweisen: Man möge sich doch bitte einmal die detektivische Besessenheit eines Sherlock Holmes zum Vorbild einer Bildbetrachtung nehmen. Jede Einzelheit könne in einem Fall »zum Sprechen« gebraucht werden. Obwohl Brötje von diesem dringenden Rat sehr wahrscheinlich nichts wusste, empfahl er seinen Lesern selbst das Gleichlautende: Man möge „die folgenden Analysen wie Kriminalfälle [...] lesen“. (2012a, 27) Denn es soll so etwas wie ein versteckter Subtext, eine verborgene Narration, in der Tiefenstruktur der Bilder auffindbar sein. Auf dieser – unbewusst evidenten – Ebene werde „gleichwohl die ganze Geschichte der Menschheit mitgeschrieben“ – förmlich „[ist] die Menschheitsgeschichte zwischen Gut und Böse [in den Bildern] eigentlich gemalt“. (EBD., 205f.) Chardins Stilleben „transzendieren“ in diesem Sinne immer schon die „Sachsituation“. Und ohne aufzuhören Profan-Alltägliches zu sein, haben die Dinge und Früchte und Nüsse in den Werken gerade in ihrem „So-Sein eine überhistorische, existentiell-menschheitsgeschichtliche Dimension.“ „Wie aber soll das gehen...“ (EBD., 117f., 222) Wir werden sehen. Aber vorab sei eingeräumt: Wir lassen hier im Folgenden einiges aus und fügen hier und da etwas gemäßigteres zu Brötjes Arbeiten hinzu. Wir tun dies nicht, um die Bildanschauung im Ganzen zu unterbrechen oder mutwillig zu »entmythologisieren«. Wir schreiten nur ein, um an den theologischen Spitzen zu schleifen. Wir lesen über sie und über einige »Maßlosigkeiten« ein wenig hinweg. Schließlich wird Brötjes Schrift hier auf diese Weise auch verzerrt und verunstaltet. Durch meine Umschreibungen erleidet sie selbst jene »Verschmutzungen«, von denen Brötje bei Chardin spricht. Aber dies geschieht nur, um den Autor vielleicht lesbarer zu machen und um nicht den Text am Ende kopfschüttelnd weglegen zu müsmüssen. Sehen wir uns die Fette Mahlzeit an. Auf den ersten Blick wirke „hier die Folgereihung der Objekte willkürlich und desorganisiert“. Sie komme als ein „dramatisches, unentschiedenes Gewaltgeschehen“ daher. Dabei be-

   Abb.:  Chardin:  Fette  Mahlzeit  und  Küchengerät,  1731,      Öl  auf  Kupfer,  33  x  41  cm,  Paris,  Louvre.  

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ginne, so Brötjes Blickauftakt, „die Abfolge der Objekte“ ganz links mit einem „kleinen, verschlossenen Gefäß“. (2012b, 104) Was wohl in diesem Gefäß verwahrt werde, das sowohl ganz an den linken Bildrand wie ganz an die vordere Tischkante gerückt ist? Mit seiner äußersten Randpositionierung rücke das Töpfchen das Verhältnis von Bildgrenze bzw. Bildebene und illusionistischer Tischebene in die Aufmerksamkeit. Und ebenso verweist es auf die flächige bildebenen-parallele Seiten- bzw. Frontfläche der Tischplatte. Und zwar geschieht dies so, dass das Töpfchen einerseits für mich zum Greifen nahe ist. Andererseits aber präsentiert es sich dagegen in seiner ausdrücklichen Gebundenheit an die Bildebene. Verschlossen und unzugänglich steht es also da, so dass mir nur eine Seh-Möglichkeit bleibe: Ich werde die Gefäßgestalt in ihrer bildnerischen Umformung in das Oval einer Schöpfkelle (oder eines Holzlöffels) realisieren. Indem ich also die Umformung vom »Bauch« des Töpfchens in den »Bauch« der Löffelkelle annehme, stoße ich auch auf den Löffelstiel. Dabei aber widerfährt es mir, dass mein Blick über den markanten Kellenstiel „in scharfkantiger Endung über den Tischrand hinaus“ auf mich zurückgestoßen wird. (EBD., 104) „Ich  erleide  eine  gewalttätige  »Verstoßung«.“  (Ebd.,  105)  

Am Ende dieses „aus der Schöpfkelle [...] hervorschießenden, abwärtsweisenden Holzgriffs“ befinden sich dann die nach unten herabhängenden Schnüre einer Aufhängung. An ihnen »tropft« mein Blick aus dem Bild heraus ab. (EBD., 104) Wenn das so ist oder so sein kann – wenn es so geschieht oder immer wieder schon so geschehen ist (auch wenn wir gar nicht darauf geachtet haben), dann müsste sich mein aus dem Gemälde gewiesener Blick auch wieder auf das Bild hin aufrichten wollen. Meine Wiedereinfindung – meine „erneute Einlassfindung“ ins Bild – geschehe nun, indem ich dieses Mal direkt in den Kupfertopf hineinsehe. Mit seiner auf mich zu „gerichteten Öffnung betont er“, so sieht es Brötje, „seine Bereitschaft zur Aufnahme“. Der „lockende Glanz“ fange so unweigerlich meinen Blick wieder ein. (EBD., 105) Vielleicht ist es so, dass ich jetzt ganz in den Topf hinein auf die Bodenplatte sehen will. Die banale Schrägstellung des Kessels mitsamt seiner Außenwand verhindert dies aber. Da ich mir das Kreisrund des Bodens nur vorstellen, es aber nicht sehen kann, erkenne ich stattdessen eine „hochstehende Linsenform“.

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Teil dieser formalen Linsenbildung ist der linke gewölbte Außenrand des Kessels, der damit wahrnehmungsdominant werde und der seine Wiederholung und Aufnahme im „Bogengriff“ des Kessels erfahre. In dieser Wiederholung von Linsenkante/ Kesselrand und Bogengriff schiebe das Bild meine Aufmerksamkeit wieder weiter nach links zurück. Und indem der Griff seinerseits nun wieder auf den Stiel der Schöpfkelle verweist, werde mein Blick nun von neuem aus dem Bild befördert. Was also in dieser kleinteiligen Gegenstandsanordnung vorläge, wäre folgendes: „Der Kessel“, so Brötjes Text, „ist eine böswillige Falle“. Durch diese geriete ich „in einen ausweglosen Zirkel“. (EBD.) Diesem habe ich zu entkommen, wenn ich weitersehen will. „Aus   diesem   Zirkel   kann   nur   eine   Gewaltmaßnahme   herausreißen,   wie   sie   das   auf-­‐ gehängte  Fleischstück  beschreibt.“  (EBD.)  

Und es gibt diesen Ausweg: Während ein rein wiedererkennendes Sach-Sehen nun in dem abgehängten Fleisch nur eine fette Mahlzeit identifizieren würde, ist einem intuitiven Sehen immer schon etwas völlig anderes klar geworden: Für jeden Brötje – und in diesem Fall dann auch für mich, probeweise – „bezeugt“ dieses aufgehängte Stück KörperFleisch ein schmerzvolles „Lebensopfer“. (EBD.) „Suggestiv vermittelt“ werde mir damit „in der Realisierung der grausam Aufhängung an einem Metallhaken“ das Opfer, das nötig ist: Um mich und meinen Blick aus der Kesselfalle befreien zu können, bedürfe es dieses „Fleischopfers“. Nur an ihm könne „ich mich“ aufrichten. (EBD., 106) Wenn man Brötje durch die disziplinäre Wahrnehmungsträgheit der Kunstgeschichte »coachen« will, sollte man hier schon einmal ein »Monitoring« ansetzen: Diese Blickführung sollte für das Kopfgefühl der Disziplin weniger schwindelerregend sein als sie vielleicht auf den ersten Blick aussehen mag. Was gesehen wurde, hatte erst einmal keinen »Inhalt«. Es handelte sich um eine reine Blickaufzeichnung. Und doch hatte alles sehr wohl einen Eigensinn: »Dramatisch« durchlaufen wurde das schwierige Geschehen, wie ein „Ich“ letztlich ins Bild findet. Es scheint, als lägen die Küchendinge deswegen genau so da, wie sie liegen, damit ich so sehe kann, wie ich gerade gesehen habe. Man könnte dies nun bestreiten, man kann es zur Kenntnis nehmen, oder man kann sich zu fragen beginnen, wozu Chardins kleines Bildchen eigentlich „für mich“ da ist.

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Der hier schon eine ganze Weile lang rekapitulierte metaphysische Diskurs berät uns in dieser Frage des »wozu«/»für mich«. Und mit Brötje oder Weischedel begegnen wir den entsprechenden Texten, die den Fall oder die Frage im Allgemeinen gelöst zu haben glaubten: „Durch   die   Vordergründigkeit   [die   reine   Nachahmung]   des   Bauwerks,   der   Plastik,   des   Bildes,   des   Tones,   des   Wortes   hindurch   kündigt   sich   etwas   an,   was   nicht   von   dieser   Vordergründigkeit  selber  ist...“     „...   jenes   Geheimnisvolle,   das   dem   Aufgeschlossenen   immer   wieder   in   das   Anschauen   zwingt“.   „Es   gibt   die   Kunstwerke   als   vordergründig   wirkliche,   und   es   wird   an   ihnen   ihre   Verweisung  auf  das  Absolute  erfahren.“  (WEISCHEDEL  1952,  20f.)   Und:   „Der   eigentliche   Sinn   jener   Entrückung   ist   es,   dass   der   Betrachter   durch   das   Werk   hindurch   in   die   metaphysische   Wirklichkeit   hineingerückt   wird.   Sofern   er   damit   zugleich   zum   Ursprung   seiner   eigenen   Existenz   vordringt,   erfährt   er   sich   selber   als   verspannt   in   jene.“  (EBD.,  49)  

Das Fleischstück wäre so die Inkarnation, das GegenständlichWerden und die Verfleischlichung, einer für mich »sündhaft« kostspieligen Blickoperation: Sie bestünde darin, über das Stück Fleisch den Blick nach oben „heraus[zu]reißen“, um weiter und mehr sehen zu können als die »höllisch« festgefahrene Kreisbewegung um Kupferkessel und Holzschöpfer. Alles nur Wortspielerei von mir und subjektive Speku   lation von einem Herrn namens Brötje? Auf eine solche „Das  wäre  in  der  Tat  der   Frage kann man wiederum zwei Antworten erhalten. Man Fall,  wenn  es  nicht  auch   kann einen Hinweis auf so etwas wie das »Korrekturprinhier  die  Möglichkeit  ei-­‐ zip« jeder Interpretation bekommen: Dies ist bekanntlich ner  Vergewisserung  gä-­‐ die Utopie vom gemeinsamen „Gespräch“. Wobei dieses be.  [...]   Miteinander-Reden wohl weniger zur Korrektur einer Sie  erwächst  aus  der   Deutung dienen soll. Vielmehr scheint es oft eher dazu Verständigung  im  ge-­‐ einberaumt worden zu sein, um zu einer gemeinsamen meinsamen  Gespräch.  In   ihm  kann  es  geschehen,   Einsicht und Übereinkunft zu gelangen und so von der dass  mir  der  andere  auf-­‐ Richtigkeit einer Deutung überzeugt zu werden. schließt,  was  mir  bislang   Zum einen war „das Ziel aller Verständigung und alverschlossen  war...“     les Verstehens“ schließlich auch bei Hans-Georg Gada(WEISCHEDEL  1952,  41)   mer stets „das Einverständnis in der Sache.“ (1960, 276) Zum anderen bleibe aber darüber hinaus aus Sicht der Existential-Hermeneutik das ganz grundsätzliche „seltsame Anderssein des Kunstwerks [...]. Es muss im Kunstwerk selbst gründen“. (WEISCHEDEL 1952, 45) Damit ergibt sich in der hermeneutischen Logik wieder dieser Bruch zwischen dem, was im Kunstwerk offenbar sprachlich-argumentativ verhandelbar ist und dem, was als ein »selbst-begründetes Anderssein im Werk« unverhandelbar »gründet«.

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Wie könnte angesichts dieses Bruchs hier nun ausgeschlossen werden, dass es sich bei solchen Seh-Befunden, wie sie bei der Fetten Mahlzeit „geschaut“ wurden, um inadäquates oder willkürliches Phantasieren handelt? Ich denke, der Sehweg, der von Brötje vorgeschlagene Wahrnehmungsverlauf, ist verhältnismäßig verhandelbar. Wir könnten miteinander Reden – so wie jetzt – und uns überzeugen lassen: Brötje tastete sich mit einer unvergleichlich sensiblen Wünschelrute durch die Bildlandschaft. Fast wie ein Außerirdischer, der noch nie einen Topf oder einen Löffel gesehen hat, sah er durch die Phänomene auf die sie ausmachende Phänomenalität. Manchmal wirkte er dabei auch wie ein Blindenhund für Kunsthistoriker. Aber wir können ihm noch dankbar dafür sein. Unverhandelbar dagegen ist darüber hinaus das „selbstbegründete Wirken“ des Erschauten. Das im Sehen erwirkte, das Fleisch als »Opfer« usw. – das, was sich durch die „Vordergründigkeit“ der dargestellten Dingwelt hindurch „ankündige“, ist im Doppelsinn des Wortes »indiskutabel«. Entweder es wirkt so oder nicht. Die Antwort, die Wilhelm Weischedel in diesem Zusammenhang damals vorschlug, lautete: „Wirklich ist das, was von sich selbst her wirksam ist.“ Danach, nach der Formulierung dieser Voraussetzung, wendete er sich dem Kunstwerk zu. Die anschließende Frage war: Ist das, was „sich im einzelnen Kunstwerk erschließt“ tatsächlich „von sich selber her wirksam“? Die Antwort lautet kurzerhand und vehement „Ja“: „Der Betrachter stößt [im Kunstwerk] auf ein Wirksames.“ (WEISCHEDEL 1952, 46f.) Da also, so der Schluss, im Kunstwerk etwas „von sich her wirksam ist“, kann dieses Wirksame „zu Recht als Wirklichkeit betrachtet werden.“ (EBD.) Damit war der Syllogismus fertig: Mein Bilderlebnis war und ist »Wirklichkeit«, wenn ich es »habe«. Allerdings mag sich hier für manchen auch ein Zirkelschluss andeuten. Der circulus vitiosus ist bekanntlich ein Beweisfehler derart, dass die gemachten Voraussetzungen das, was bewiesen werden soll, schon enthalten. Dabei ist von Anfang an nicht sicher, ob die Prämissen – „wirklich ist, was von sich selbst her wirksam ist“ – unfragwürdig und gültig sind. Man kann also immer noch nicht sagen, ob der Zirkel der Wahrnehmung um Töpfchen, Topf und Kellenstiel herum bis zum endgültigen Herausreißen des Blicks nach oben über das »Opferfleisch« hinweg – man kann immer noch nicht sagen, ob dieser Wahrnehmungsverlauf auch wirksam ist, weil ich nicht

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wissen kann, ob sich alles einem Zirkelschluss verdankt oder doch evident ist. Evidenzen sind eben Angelegenheiten augenblicklicher Einsicht in das Geschehen. Sie funktionieren nicht im Rahmen von Ableitungen oder Übereinkünften. Aber so oder so: Heute sehe ich mit diesem Blick und in der damit verbundenen Konsequenz. Und zweifelsfrei gewinne ich – um weiter auf Chardins Fette Mahlzeit zu sehen – über das nach oben aufgehängte »Fleischopfer« einen ersten Bezug zum oberen Bildrand. Von dort oben kann ich mich zurückwenden in eine „Senkbewegung“ „über einen sich rechtsseitig absondernden Fleischstumpf nach unten“. Hierbei handele es sich um einen „Empfindungsansatz des Niedergleitens“ „zur Aufnahmebereiten Öffnung einer Schüssel“, in der mein Blick sodann quasi aufgefangen werden soll. (BRÖTJE 2012b, 105) Aber dazu komme es nicht, fährt Brötje fort. Die Seh-Narration soll sich als komplizierter erweisen. Denn nun habe man phänomenlogisch zu realisieren, dass diese Schüssel nicht aufnahmebereit, sondern stattdessen durchgestrichen sei. Der lange Stil eines Siebes durchkreuzt nämlich diese Schlüssel, die meinen Blick aufzunehmen bereit gewesen sein könnte. In Michael Brötjes biblischer Metaphorik handelt es sich hier um die „Widerstreitung“ der „Bewahrungsverheißung der Schüssel“. (EBD., 106) Ganz untheologisch gesehen ist damit zunächst nur gemeint: Mein von Fleischstumpf abgleitender Blick kann sich doch nicht in der Schlüssel ablegen – so wenig wie das Fleischopfer in das Schüssel-»Grab« gelange. Was der Autor uns anbietet, ist ein theologisch-existentialistischer Spannungsbogen, den mein Sehen immer schon absolviert hat, bevor ich davon zu wissen beginne. Ob dieser SehParcours mit seinen Hindernissen nun eine sich verzögernde und unbewusst immer schon erfahrene „Heils- oder Erlösungsgeschichte“ sein muss? – Der »alte« Brötje insistierte natürlich darauf... Und es hat etwas altväterliches, das genauso befremdlich wie merkwürdig attraktiv ist – der Flair von second hand und kunstwissenschaftlichem Trödelmarkt und dennoch bleibt das Gefühl, ein Schätzchen geborgen zu haben.

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Die Konstellationen aus „Niederwerfung und Aufrichtung“ übersteigen jedenfalls die bloße Abbildung einer Küchenszene hin zu einem »Tatort«. Ich rekonstruiere nun, dass das gerade angesprochene Sieb „in dieser niederfahrenden Diagonalquerung“ seinen Ausgang wiederum von der »Kupferkessel-Blickfalle« nimmt. Diese war ja zu Beginn meiner Bildanschauung maßgeblich gewesen. Der Endhaken zur Aufhängung beteuere diesen Bezug von Sieb zu Kessel noch einmal eindringlich. Das eigentliche Siebteil dagegen leite geradewegs zum Fuß eines Kruges. Dieser zeige nun aber „ein nicht weiter steigerungsfähiges Maximum der unheimlichen gegensätzlichen Erscheinungswirkungen“ von Krug-Oberfläche und -„Zernagung“. (EBD., 106f.) Einerseits handele es sich um den „farbigen Oberflächenreiz“ eines repräsentieren Kruges. Andererseits aber in einer „völlig regellosen Schwarzschlierung“ um diese unangenehme „Verschmutzung“, von der schon die Rede war. Dabei wirke der Krug „auch in Wendung auf seine Seinsverfasstheit“ geradezu „schleimig« und »schmierig«“. Statt also Auffang in der Schale zu finden, werde ich auf den Fuß des Kruges verwiesen. In seiner Aufrichtung aber „inkarnier[e]“ dieses Gefäß nun eben „den Triumph des Schmierig-Schleimigen...“ (EBD.) Das kann man vielleicht so sehen. Und auch Kurt Bauch sah schon in Chardins Malerei eher „Farbwerte und Formverfestigungen, in denen das Bild sein Wesen hat.“ Es sei dabei „durchwirkt von einer tupfig fleckigen Oberflächenfüllung“. Denn der Künstler suche „noch mehr die Oberfläche, aber nicht nur die der dargestellten Dinge, sondern auch die der Bildfläche, des Farbkörpers selbst, schon in dem breiten, porig-flekkigen Farbauftrag...“ (BAUCH 1952, 285f.) Statt einer wie auch immer gewährleisteten Rückvermittlung des Krugmotivs zur Bildebene, entsteht für Brötje »nur« so etwas wie eine Verschlammung. Die Dinge kommen nicht zu einem »In-sich-Stehen«, könnte man versucht sein in der hiesigen Terminologie zu formulieren. »Welt und Erde« wären so ineinander verschlungen, dass das Aufstellen einer »Welt« nicht richtig zum Tragen käme. Zwar gäbe es eben diesen „lebendig farbigen Ober-

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flächenreiz“, andererseits aber »dämmerten« die Elemente in eher formlosen Farbzonen und blieben in den Übergängen zum Geformten stecken. In diesem Zusammenhang wäre der Krug eine Zumutung an mich. Und tatsächlich ist sehr wahrscheinlich an ein besonderes „Aktbewusstsein des Sehens“ und an eine innerliche „Versunkenkeit“ im Sehen selbst appelliert. (IMDAHL 1987, 77ff.) Aber entgegen anderen Chardin-Deutungen kommen die Dinge dabei nicht in ihrer jeweiligen Gesehenheit zum Ausdruck. In dieser existential-hermeneutischen Bildtheorie würden die Dinge so stattdessen ihre innere „Seinsverfasstheit“ bemerkbar machen. Wenn Brötje sich für einen Sherlock Holmes hielt, dann meint das hier offensichtlich folgendes: Ein Kriminologe kann nichts zu einem Fall hinzuerfinden. Er kann nur ermitteln, was stattgefunden hat (und vom rationalen Bewusstsein immer schon) vertuscht worden ist. So sind »hinter« den Dingen die Spuren eines tieferen (metaphysischen) Konflikts wiederzuentdecken. Sie müssen nachträglich nur wieder rekonstruiert werden. Dann erst zeigt sich: Die Konstellationen der „Dinge sind die Austragungsmomente dieses Widerstreits; sie »erleiden«“ ihn. (EBD., 100) Ein Bild Chardins „erhebt“ eben „die Welt über ihre Wirklichkeit“. (BAUCH 1952, 286) „Nun   muss   aber   der   metaphysische   Gedanke,   soll   er   begründet   sein,   im   Gegebenen   seinen   Halt   haben.   Die   [ästhetische]   Erfahrung   ihrerseits   hat   sehr   wohl   die   Möglichkeit,   über   die   sinnlich  wahrgenommene  Wirklichkeit  hinaus  zu  dringen...“;  „hinauszureichen“.     (WEISCHEDEL  1952,  10,  12)  

Die Auflösung des »Falls« liest sich dann so: „In Chardins Bildern“ sei „mit der »Verschmutzung« das zeitliche Verderben in das Seiende selbst eingetragen“. Wie die „Zwielichtigkeit des Kruges“ trage jedes Ding „im Vorgang der Gestaltbildung die Auflösung unumgänglich in sich. Vergehen [...] ist die Weise des Existierens selbst“. Wirklichkeit begegnet als „eine zu erleidende“. (BRÖTJE 2012b, 100ff.) „Folgerichtig“ seien unter dem Krug und dem Sieb auch (geöffnete!) Nüsse bzw. Früchte zurückgeblieben. Sie stehen farblich in metonymischer Verschiebung zum »Fleischopfer«, indem sie das dortige Rot-Weiß in ihrem Rotbraun-Weiß wieder aufnehmen. Als „Restnennungen“ und „Abkömmlinge“ (EBD., 106) liegen sie da.

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So erlebe das Ich über den „Eindruck“ der „Vereinsamung der Gegenstände“ die „wesenhafte Verfasstheit [...] der Ausgesetztheit in der Welt“. (EBD., 101) Die umgestürzte und leer neben dem Krug liegende dunkelgrüne Flasche erinnert mich mit ihrer Schnur am Flaschenhals nun noch einmal an den Kellenstiel, der mich ganz zu Beginn aus dem Bild gewiesen hatte. Etwas anders gelagert, führt mich der offene Flaschenhals nun aber zum rechten Bildrand. Und von dort kann ich in Parallelabstimmung mit der letzten aufrecht stehenden Weinflasche meinen Blick nach oben in die Leere der Bildebene heben. Meine „Wiederaufrichtung“ des Blicks komme so einer leisen „Hoffnungsaufrichtung“ gleich. Die „Endkonstellation“ der zwei Flaschen verhalte sich dabei als spiegelverkehrte Wiederholung zur linksseitigen Eingangskonstellation von „Dosenaufrichtung und Löffelniederweisung“. (EBD., 107) In den „Formvariationen“, den „Stadien“ und in der „Verknüpfung und Abfolge der Gegenstände“ „waltet“ somit eine klare Logik, so Brötjes Resümee. (EBD., 101) Wenn das Ich diesen von links nach rechts laufenden Artikulationsgestus realisiert hat, werde letztlich auch die Funktion der Tischkante bewusst: „An   der   vorderen   Tischkante   –   der   irdischen   Zeitschiene   dieser   Entwicklung  –  kommt  es  unterhalb  des  Fleischopfers,  im  Augen-­‐ blick  seiner  Vollbringung,  zu  einer  Rissbildung...“  (EBD.,  107)  

Im Kontrast zu dieser Rissbildung schiebt sich rechts über einen „Kantenvorsprung“ die Tischplatte zu mir nach vorne. Sie „drängt“ mich dabei in meiner „existentiellen Jetzt-Positionierung“ wieder von den beiden Flaschen ab zurück zur Bildmitte. Dabei sollte nun auffallen, dass zwischen Riss und Kantenvorsprung die Signatur – die „eigene Lebenspräsenz“ – Chardins eingetragen ist. (EBD.) Sie befindet sich genau unterhalb der abgelegten Nüsse und Früchte.

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„Hier-­‐und-­‐ Jetzt  »ge-­‐ worfen«“.     (EBD.,  101)    

Mit der Fetten Mahlzeit hätte man im Ganzen gesehen so etwas wie eine Facette des „Seinsgeschicks“ zu „erblicken“. Im Bild Chardins würde sich in und an den Dingen entlang etwas ereignen, in das ich in meinem »Geschick« selbst unhintergehbar eingebunden bin: Ein Widerstreit, der in der Darstellung wie auch im Dargestellten »hausen« würde. ...und ein „Kampf“, den das Betrachter-Ich „in sich   selbst durchstehen“ müsste, „über alle Stadien des ...  wie  das  Sein  sich  mir   neugierigen Hinbegehrens und der zurückstoßenden schickt  –  oder:  wie  ich  in   Verletzung...“ (BRÖTJE 2012b, 108) usf.. der  Welt  bin.  „Inzwischen   Es sieht nun so aus, als wäre dieses „Durchstehörten  wir:  Sein  lichtet   hen“ eines Bilderlebnisses mit Heideggers Kunstwerksich  je  als  ein  Seinsge-­‐ aufsatz zunächst eher inkompatibel. Zu wenig „Geschick“.  (HEIDEGGER  1957,   viert“ würde sich wohl „öffnen“; und es käme wohl zu 169)     wenig „Lichtung“ zum Ereignis – und vielleicht zu viel „Nicht  Bilder  –  sondern   nagende Sorge hätte sich eingeschlichen in die VerZustände“,  notierte  Hei-­‐ fasstheit des Seienden. degger  zu  Paul  Klee.  (nach   SEUBOLD  1996,  132)   Aber dennoch könnten die Verstrickungen, von denen Brötje berichtet, wenn er einen Chardin sieht, „Denken  wir  dem  nach   existentiell sein. Und auch Heidegger fragt nicht zuund  bleiben  wir  in  sol-­‐ letzt ebenso, ob „das Werk nicht als Werk in das dem chem  Denken,  dann   Menschen nicht Verfügbare, in das Sich-Verbergende merken  wir,  dass  wir   zeigen“ müsse? Müsse „das Werk der Kunst nicht das aus  dem  Bereich  des   beschweigen, was sich verbirgt, was als das Sichbisherigen  Denkens  ab-­‐ Verbergende die Scheu wachruft im Menschen vor gesprungen  und  im   dem, was sich weder planen noch steuern, weder beSprung  sind.  Aber  fallen   wir  mit  diesem  Sprung   rechnen noch machen lässt?“ (1967, 21) nicht  ins  Bodenlose?  Ja   und  Nein.“     (HEIDEGGER,  1957,  166)  

Wenn man in einen solchen Bilddiskurs infiltrieren will und ihn als verdeckter Ermittler und als Bauchredner mitmacht und sogar konspirativ und selbständig fortsetzt – wenn man also so verfährt, muss man wissen, worauf man sich einlässt. So einfach kann man nicht mehr aussteigen. Man fühlt sich bald in Geiselhaft genommen. Wie wir hörten, ließ Brötje sein Betrachter-Ich vor dem Bild sagen: Gerade „gerate ich in einem ausweglosen Zirkel“. (EBD., 105) Diese Bemerkung sollte ursprünglich nur eine unglückliche Blickrotation betreffen. Aber methodisch ist vor dem Werk noch etwas anders passiert. Seh-Indizien werden »Be-Deutungen« zugeschrieben. Oder anders gesagt: Aus Blickwegen werden bedeutsame Seh-Ereignisse. Aber diese Ereignis-Bedeutungen haben sich vielleicht nicht detektivisch aus den einzelnen Bildbefunden intuitiv herauskristallisiert und im Verstehen konkretisiert. Sie sind vielleicht auch nicht spontan eingetroffen. Vielleicht wird uns dies nur suggeriert.

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Ich erfahre nicht erst am Ende, dass ich es mit einer existentiellen oder metaphysischen Bildgeschichte zu tun habe. Möglicher Weise hat auch das Bild mir all dies nicht ganz von alleine zu erzählen begonnen. Brötje selber gab an, er hätte die »große Erzählung« vorab vorausgesetzt: Die Bilder „entsprechen“ „gewissermaßen“, „übersetzen“ und „bewahrheiten“ „damit“ nur... Am Bild müsste man nur noch danach suchen, wie die große Hintergrundgeschichte im Detail „je“ in Erfüllungen geht. Die Sehbefunde erhielten ihren Sinn aus der Narration, die sie überformt. Die Bilder variieren diese vorauslaufende und leitverbindliche Grunderzählung jeweils immer nur. Möglicherweise hatte Brötje nur bestätigend erlebt, was er als Erlebniszusammenhang bereits vorausgesetzt hatte. Aber andererseits ist diese Voraussetzung nicht ausschließlich ein übler und unerlaubter circulus vitiosus. Wenn es dem Verstehen und somit auch der Bildanschauung existentieller Weise immer um ein »Sich-Selbst-Verstehen« geht, dann wird man auch immer auf sich selbst treffen und sich selber finden. Der Zirkel ist also beides in einem: Er ist logisch fatal und existentiell zwingend zugleich. Weil ich mir immer schon selbst begegne, treffe ich mich und Aspekte meiner (Seins- oder Heils-) Geschichte immer auch im Kunst-werk an. Befällt mich also etwa eine „Grundstimmung der Angst“ (HEIDEGGER 1929, 35), wenn ich die Stilleben, die natura morta Chardins anzuschauen beginne? Und hatte nicht Brötje genau davon gesprochen: Die dargestellten Gegenstände würden oft so „zusammengedrängt“ wirken als „scharrten“ sie sich ängstlich zueinander. Dabei überließen sie dem »Nichts« viel zu viel Raum. (BRÖTJE 2012b, 101) „In der Angst“, sagt Heidegger, „enthüllt“ sich Sein. Die Angst ist nicht eine Angst vor etwas Bestimmtem. Und: „In der Angst – sagen wir – »ist es einem unheimlich« [...] Alle Dinge und wir selbst versinken in eine Gleichgültigkeit.“ Die Dinge kehren sich uns zu „in ihrem Wegrücken als solchem“. „Dieses Wegrücken des Seienden im Ganzen, das uns in der Angst umdrängt, bedrängt uns. Es bleibt kein Halt. Es bleibt nur und kommt über uns – im Entgleiten des Seienden – dieses »kein«“. Und: Die Angst offenbare „das Nichts“, so der Daseins-Analytiker. (1929, 34f.) Was »verschmutzt« und »zerfrisst« nun in Chardins Stilleben die Dinge? Was befällt die Gleichung vom Absoluten des Bildgrundes als „jener Schöpfungsinstanz, die allem [im Bild] Seiendem vorausliegt“? Und wie wird aus dem Bedingenden ein prekäres

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„Schmutz-Dunkel des Umfeldes“ und letztlich wohl ein Abgrund? (BRÖTJE 2012b, 102, 113) Welcher Virus mistet sich in diese schöne Vorstellung ein, an die wir uns schon so gewöhnt hatten: dass es „zwei Bemessungsvorgaben sind, „...   die   jeder   Betrachter   vor   jedem   Bild   im   Erschließungsprozess   unbewusst   verbindlich   setzt:  die  Ebene,  die  er  als  allumfassende,  letztgültige  Instanz  aufruft  [als]  eines  Absoluten“   und  „die  eigene  Jetzt-­‐Verortung“  vor  dem  Bild.  (BRÖTJE  1990a,  289)  

Die Bildebene kann offenbar Grund und Abgrund zugleich sein, weil in ihr die Dinge hervorgebraucht werden, aber auch an der Grenze ihrer Existenz stehen. Brötje versuchte des Öfteren, diese Wendung vom Grund zum Abgrund mit den Indizes von epochalen Umbrüchen oder Epochenschwellen auszustatten. Fast so als wollte er, völlig entgegen seiner »Methodologie«, in der Logik »symbolischer Formen« denken. So sei „dieses Absolute ins Ungreifbare zurückgewichen“. Es habe „sich in eine Negativgröße [...] verwandelt, in die alles endliche Sein potentiell auszehrende, nichtende Unendlichkeit“. Ab einem bestimmten Zeitpunkt halte die Ebene „in sich die Drohung des Verlöschens der Erscheinung, d.i. des Daseins des Menschen bereit“. Dies drücke sich eben etwa in der „Ausgesetztheit“ und „Isolierung“ oder in einem „»Lasten« des Raums“ auf den Dingen und Figuren aus. (BRÖTJE 2000, 25ff.) Noch deutlicher wird dies, wenn Michael Brötje ein Stilleben von Morandi sah. Die Dinge stehen dort so aufgereiht wie schon bei Chardin. Brötjes Beschreibung der Anschauungserfahrung ist nun so aufgebaut, dass nicht zuerst die Gegenstände erkannt werden: „Genau umgekehrt“, zunächst sei „da als primäre Setzung die Bildebene – diese erfährt zuallererst eine immanente Differenzierung“ in zwei verschieden breite Horizontalstreifen. (1993, 49) Wichtig ist dabei, dass mir unmittelbar klar ist, dass in diesem Fall keine realistische Standfläche und auch keine Rückwand als ein räumlicher Hintergrund gesehen werden kann. Stattdessen teile sich die Bildebene zunächst in sich selbst in zwei voneinander verschiedene „Seins-Sphären“. „Wir  nehmen  irgendeine  Fläche,  ein  Stück  Papier  oder  diese  Tafel,  und  machen  [...]  darauf   einen  Strich.  [...]  Wir  wollen  nun  versuchen,  so  genau  hinzusehen,  dass  wir  entdecken,  was   sich  dabei  zeigt.“  „Das  Feld  hat  von  sich  aus  die  Kraft,  alles  was  auf  ihm  geschieht,  als  Dar-­‐ stellung  zu  manifestieren.  Nicht  wir  stellen  dar,  sondern  das  Feld  stellt  dar.“     (PICHT  1973,  307,  311f.)  

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Abb.:  Giorgio  Morandi:     Natura  morta,  1965,     30,5  x  40,5  cm,     Öl  auf  Leinwand,     Kunstmuseum  Winterthur.  

Diese erste Differenzierung kann erst einmal nur registriert werden. Als was sie »gilt«, ergibt sich mir erst und „alleine durch die Gefäße“. (EBD.) Dabei hat mein Sehen die Objekte immer schon in den unteren Graustreifen »eingetaucht« und schwebend, statt auf einer Tischplatte stehend, wahrgenommen. Dieses »Wie« des Eingetaucht-Seins in den Grund ist quasi das eigentliche Thema des Bildes. Daher handelt es sich für meine Anschauung auch nicht um ein Stilleben im eigentlichen Sinne – eher wieder um ein »Prozess-Erleben«. Schon bei der kleinen weißen »Flasche« wirke die „helle Aussparung“ wie freigekämpft „gegenüber der von außen andrängenden Grausubstanz“. (EBD., 50) – Brötje macht darauf aufmerksam, dass man nur hilfsweise und zur Verständigung von »Flasche« usw. reden sollte. – Im gleichen Jahr spricht ebenso Gottfried Boehm von einer „vorprädikative Stille“ und davon, dass einem „Auge, das nicht vergessen könnte, was es weiß“, „das Glück verschlossen [bleibe], das Morandis Zeichnungen dem aufmerksamen Betrachter antragen“. (1993, 35; 2008, 36) Überhaupt gleichen sich die Texte von Brötje und Boehm sehr. Die methodischen Differenzen werden dabei fast ununsichtbar.

„Die  Evidenz  dieser   Zeichnung  verdankt   sich  mithin  keinen  ex-­‐ ternen  Bezügen,  so   sehr  diese  möglich   sind...“       (BOEHM  2008,  36)  

Dieses lastende Andrängen des Ebenengraus an die linke »Flasche« führe dazu, dass die Konturen überall ein „leises Zittern“ zeigen. Aus der bedrängten „Zelle“ des Flaschenbauchs entwickle sich „ein empordrängender Strang, der die dunkel-verfestigte Grausubstanz oberhalb gleich einer Kruste durchbricht“. (BRÖTJE 1993, 51)

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Gottfried Boehm thematisiert an seinen Bildbeispielen allgemeiner eine „Schwelle“, an der „Sichtbares aus dem Ungeformten hervorkommt oder in ihm verschwindet“. So komme es zu einer „Berührung von Ansicht und Grund“. (2008, 35) Allerdings erspart er sich, die »bildüberschreitenden« Konsequenzen noch einmal anzusprechen. Eine moderne, entmythologisierte Kunstwissenschaft verkneift sich den Rückgriff in die gespenstische deutsche Bild-Grund-Metaphysik. Brötje bleibt näher am Bild und verfolgt Morandis Figuration äußerst genau: Es geht nicht nur allgemein um eine Bildnerei eines „niemals beendeten Hervorkommens“. (BOEHM. EBD., 34) Dies verpasst das ganz konkrete und präzise Geschehnis: Ich kann sehr genau sehen, wie dieser »Flaschenhals« hier für mich unmittelbar das Verhalten des „Hineinwachsens“ in die lichte und hellere obere Schicht hinein aufzeigt. Dass sich damit zugleich eine erste Bildräumlichkeit einstellt, dürfe nicht wundern. Denn hier entwirft sich das Bild zugleich selbst hin auf das, was es nicht ist – hin auf den »Schein«, Dinge hervorzubringen. Wenn auch der englische Kunstkritiker und Schriftsteller John Berger bei Morandi von einer Grenze spricht – einer „frontier of existence“ (2000, 19) – dann ereignet sie sich hier für mich vor meinen Augen. Schon ab den späten 50er Jahren hatte Berger in vielen seiner Bücher für eine ganz und gar unakademische und Ich-bezogene Bildanschauung plädiert (in unserem Zusammenhang besonders: BERGER 1991). Ihm bescherte diese Unkonventionalität große Popularität, während Brötjes anstrengender Pilgermarsch durch das Bild viel weniger dazu geeignet war, irgendwelche Anschlusskommunikation zu erzeugen. Aber was hat es nun mit dieser Schwelle und Grenze zur Existenz auf sich? Von dieser sagt uns Boehm wiederum, „eine sichtbare Welt [trete hier] aus den Konfigurationen“ hervor, „die aus dem Abgrund“ „entstamm[t]“. (2008, 35) Der Abgrund ist bei Boehm das Weiß des Papiers, auf dem Morandi zeichnete. Boehms Bildhermeneutik flirtet wild mit ihren beiden divergierenden Neigungen: der zum gedämpft Existentialistischen, wie auch mit der zum gezähmten, eingenebelten Dekonstruktivismus. Aber sie bezieht keine Position. Sie laviert zu sehr. Bei Brötje erscheint die „Energie des Grundes“ einerseits „gefasst“, zu einem „Ding im Werden“, der »Flasche«. Andererseits aber bleibt dieser „Abgrund“, diese andere Seite der Grenze der Existenz. Gerade deshalb muss ich auch zum mittleren »Gefäß« hinübersehen. Dies geschehe, indem der Blick vom weißen Strang des »Flaschenhalses« zum braunen Rechteck oben „überspringt“. Aus dem weißen »Hals« ist ein beiger »Trichter« geworden, an dem nur noch ein dunkler „Pfropfen“ ganz oben an den

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Halsstrang erinnert. Nun sei es ganz intuitiv so: Während ich die erste »Flasche« ganz unwillkürlich von unten nach oben „aufwachsend“ lese, soll ich das folgende »Gefäß« stattdessen von „oben nach unten sich verbreitend“ wahrnehmen. (BRÖTJE 1993, 51) Das zweite Objekt erscheint dabei dreigegliedert und bringt durch die beiden leichten Bogenformen seiner Konturen Volumen aus sich selbst hervor. Daher erlebe ich die „goldgelbe warm leuchtende Substanz“ auch eher als „Einfließung“ und Füllung, denn als einen reinen Farbunterschied. (EBD., 52) Man muss es sich nicht erklären können, aber auf irgendeine sehr bestimmte Weise wirke nun alles darauf hin, diese „Verdichtungform“ des Goldgelb als „Essenz“ und damit als „höchste Sättigung“ so zu sehen, als ziehe sich hier die Bildebene in sich selbst zurück. (EBD.) Unbewusst trägt zu diesem Eindruck auch bei, dass ich den »Trichter« – auch wenn er umgedreht als Teil des »Gefäßes« erscheint – immer in seiner Einfüllfunktion mitrealisiere. Überdies werde die Fließassoziation, auf den »Trichter« zu, durch die feinen Fließbewegungen der Farbe und der Pinselspuren auf der Bildebene fast unmerklich unterstützt. Es reicht folglich nicht aus, die Dinge wie eingefroren in einem vagen Aggregatzustand zu betrachten. Man muss auch die Energien der Formgenese mitsehen und als Wirkkraft in der Gestalt erkennen – „sprechende Formen“, nennt ein guter Bekannter Brötjes dieses. (LIESBROCK 1993, 12) Was ich vor mir haben soll, wenn ich den leuchtend goldgelben Gefäßbauch betrachte, ist nichts anderes als folgendes: „die unbestimmte Leere des Grundes wendet sich [mir hier] ins Greifbare“. Andernorts sagt auch Boehm dies ziemlich genau so. (2008, 35) In dieser Logik hätte sich damit eine „Füllung des Seins“ vor meinen Augen ereignet. Dieser „kostbaren“ Selbstverdichtung und Er-Füllung des Bildgrundes in diesem »Ding«“ folge nun aber wiederum eine Blickabkehr: Ein nicht näher zuzuordnender gräulicher „Verbindungsbogen“ ziehe meinen Blick wieder weg vom Mittelgefäß zur rechten, dritten »Kanne«. Alleine diese Bogenform verhindere unwillkürlich, dass ich un-

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„...  eine  „»Kraft   des  Evokativen«,   die  in  den  Bil-­‐ dern  aufleuchtet;   eine  Kraft,  die  als   Sammlung,  In-­‐ sich-­‐Ruhen  und   Geheimnis  zum   Betrachter  spre-­‐ chen  kann“.   „...  in  der  Gestalt   der  Dinge,  ihrer   äußeren  Er-­‐ scheinung,  noch   ihr  Eigentliches,   ihre  Wahrheit   erkennen  zu   können.“   (LIESBROCK  1992,   11)  

„Füllung  des  Seins   in  sich  selbst“.     (BRÖTJE  1993,  52)  

gestört von der Gelb-Füllung wieder nach oben über den Trichterhals hinausschauen kann. Diese Form erhebt sich unmotiviert über die horizontale Teilung der Bildebene. Sie tue nichts anderes als direkt in die Rundung der dritten »Kanne« überzuleiten. Darüber hinaus findet der Blick von dort unter Ignorierung dieser »Kanne« den Anschluss zum Bildrand. Dies geschieht über den gleichfarbigen »Farbgürtel« am oberen Kannenrand. Diese »Kanne« erklärt sich zur ersten tendenziell abgeschlossenen, individuellen körperlichen Dingform. Und als die niedrigste der drei Gefäße zeige sie in ihrem oberen Rund eine Art Vertiefung in ihrem »Deckel«. Man muss diese Krönungsform im Anschluss und in Opposition zu den beiden Gefäßen bringen. In dieser Deckel-Vertiefung artikuliere sich nämlich ein ausdrücklicher „Verzicht“ auf ein neuerliches Emporstreben in den oberen Teil der Bildebene. (BRÖTJE 1993, 53) Stattdessen komme es nun aber in der Innendifferenzierung der »Kanne« zu einer vertikalen »Griff«-Bildung nach vorne auf mich zu – aber nicht, damit ich diesen »Griff« imaginär ergreife, sondern das Ding räume so eine Distanz zu mir ein. Das ist der Endpunkt einer Entwicklung, die damit abschließt, dass der »Kannengriff« mir wiederum zu einer „Abstoßungsform“ werde. „So  ist  für  das  Ich  an  diesen  drei  »Gefäßen«  der  Zyklus  des  Sein  selbst  beschrieben  –  von  der  Ab-­‐ stoßung  durch  die  Kanne  kann  es  immer  nur  wieder  zur  eingeborgenen  Keimzelle  links  [gemeint   ist  die  erste  Flasche  links]  zurückkehren.“  (EBD.,  54)  

In dieser Konstellation soll dem Ich endgültig klar sein, dass „das Alltägliche umfassendste Bedeutung“ gewinne. (LIESBROCK, 1993 11) Es gibt darüber hinaus viele Statements in diesem existentialistischen Duktus. Solche wie diese etwa: „In anderen Worten: die Objekte, die Morandi malt, kann man nicht auf einem Flohmarkt kaufen.“ Denn „es handelt sich nicht um Objekte. Es sind Orte; Orte, an denen eine kleine Sache dabei ist, ins Leben zu kommen“. (BERGER 2000). – Oder: „nicht Objekte, sondern Lebensphänomene – man betrachtet sie nicht von außen als so oder so beschaffene Dinge“. Man „fühlt, erlebt sie in ihrem SichBilden“. (BRÖTJE 1993, 50)

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Und,   dass   es   „...   immer   darum   geht,   Seinsstrukturen   offen   zu   legen,   tiefreichende   Zusam-­‐ menhänge  zwischen  Entferntestem,  denen  der  Mensch  schon  lange  fremd  gegenübersteht.“   [nicht  romantisch  gemeint].   Und,   dass   es   ferner   darum   gehe   „...   an   der   Gestalt   der   äußeren   Welt   [...]   die   Ganzheit   des   Wirklichen   zu   erfahren.   Im   intuitiven   Akt   wird   das   sonst   nur   Äußere   zum   lebendigen   Ge-­‐ genüber“.  (LIESBROCK  1993,  11,  70)  

Wenn Brötje ein Werk von Morandi betrachtet, denkt er gar nicht erst ausdrücklich an Martin Heidegger. Man könnte in diesem Zusammenhang aber recht schnell darauf kommen. Und es gehört zum Diskurs, der hier interessiert. Schon Giorgio de Chirico machte diesbezüglich sehr früh eine tiefgründige Bemerkung. Es verhalte sich nämlich so: Morandi betrachte „eine Gruppe von Objekten auf einem Tisch mit dem Gefühl, das einst die Herzen der Reisenden höher schlagen ließ, wenn sie im alten Griechenland die Wälder, die Täler, die Berge bewunderten, welche den erschreckenden, unerreichbar schönen Gottheiten als Wohnstätte gedient haben sollen“. (DE CHIRICO 1922) „Hellas“, Griechenland, gilt hier als eine besondere historische Landschaft. Hier »lichtete« sich den Menschen der Frühantike das »Sein« „anfänglich“ in besonderer Weise. Wenn Morandi auf seine zu malenden Dinge wie auf eine vergangene Landschaft geblickt haben mag, „Am  Beginn  des   bedeutete dies, dass er dem Dingsein der Dinge näher abendländischen  Ge-­‐ gekommen sein dürfte. schickes  stiegen     Und bekanntlich gehörte auch Martin Heidegger zu in  Griechenland  die   den Griechenland-Reisenden, die die fern und fremd Künste  in  die  höchste   gewordene Welterfahrung des Griechentums »nacherHöhe  des  ihnen  ge-­‐ leben« wollten. Und er formulierte dabei deutlicher, währten  Entbergens.   Sie  brachten  die  Ge-­‐ was wohl auch de Chirico auf der Zunge gelegen hagenwart  der  Götter,   ben mag: Im antiken Griechenland – „nur hier in Helbrachten  die  Zwie-­‐ las, wo das Ganze der Welt sich als die φύσις [Natur im sprache  des  göttli-­‐ „anfänglichen Sinn“ „als Aufgehen- und Anwesenchen  und  menschli-­‐ lassen des Anwesenden“; js] dem Menschen zugesprochen  Geschickes  zum   chen hat“ – nur in diesem „gewesenen großen Anfang“ Leuchten.  Und  die   habe sich dem Menschen das Sein wie von selbst entKunst  hieß  nur  τέχνη   borgen. (1967, 14/1967a, 260). [Technik  die  in  einem   Zweimal war Heidegger investigativ als Pauschal-Reisender in Begleitung und per Schiff auf einer Rundfahrt in der „Inselwelt“ der Ägäis unterwegs gewesen. Während andere auf diese Weise ihren Urlaub verbrachten, verstand dieser seine nicht ganz freiwillige Abwesenheit vom häuslichen Schreibtisch als eine Art

Wissen  beruht,  js].  Sie   war  ein  einziges,  viel-­‐ fältiges  Entbergen.“   (HEIDEGGER  1953a,   35)  

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„Gab  Olympia  den   gesuchten  Einblick   in  das  Eigene  der   griechischen  Welt?   Ja  und  Nein.  Ja,  in-­‐ sofern  der  sanfte   Andrang  seiner   sich  lichtenden   Ferne  unmittelbar   aus  den  Bildwer-­‐ ken  sprach.  Aber   sie  standen  im  Mu-­‐ seum.  Deshalb   »nein«...“   (HEIDEGGER  1962,   224)  

philosophischer Exkursion 9 . Im Praxistest sollte auf diese Weise ermittelt werden, was man eigentlich gar nicht so genau wissen wollte: Ob nämlich beim „Besuchen“ und „Begrüßen“ des realen und noch „bestehende[n] Land[es] der Griechen“ weiterhin „gewährt ist“, was Heidegger ein „gelichtete[s] Verweilen bei dem, was die Aletheia ist“, genannt hatte. Wenn man also schon einmal Unterwegs in den Griechenlanden war, sollte im Rahmen einer Art Experimentalphilosophie herausgefunden werden: Kann angesichts der Landschaft und der Tempel-Werke noch „eine Erfahrung“ dessen möglich sein, was die alten Griechen in „ihrem Weltaufenthalt“ bestimmt hatte: Ein Verweilen in der Wahrheit: „die Aletheia, das entbergende Verbergen“. (1962, 216, 232f., 240) Genau diese Aufgabe und dieses Entbergungsgeschehen einer sich »Ins-Werk-Setzenden Wahrheit« hatte der Freiburger Philosoph eben auch schon dem Kunstwerk zugedacht – Und zwar bereits schon 1935. Die Begehung Griechenlands und die Begegnung mit den „Gebilden und Werken“ waren am Ende nur die „gesuchte Bewährung“. (EBD., 233) „Und was suchten wir“, fragte Heidegger zum Auftakt seiner zweiten Reise: Seine Antwort wird später lautet:  „...   heraus-­‐   und   zurückzufinden   in   die   einfache   Anwesenheit   der   wenigen   großen   Dinge.   Zurück?   Nein,   einfach   hin   zum   in   sich   ge-­‐ grenzten  Gebild  und  Gewächs  und  Gebirg,  [...]  hin  vor  die  aus  sich   aufgehende  Welt,  die  ihre  eigene  Zeit  mitbringt  und  jede  historisch   erklärende   Einordnung   verweigert,   weil   sie   anderes   zu   verschen-­‐ ken   hat:   das   entflohene,   aber   nicht   vernichtete   Heilige...“   (1967a,   249,  254)  

Wenn nun der »Metaphysiker« de Chirico mit Blick auf die Stillleben Morandis auf die einstigen Gefühle im alten Griechenland verwies, hatte er das Erlebnis eines solchen »Aufenthalts in der Wahrheit« schon vor Heidegger angerührt. Aus dieser Sicht wird auch klar, dass es völlig egal ist, welche realen Dinge Morandi vor sich aufgestellt hatte, um zu malen. Es geht nicht und niemals um »Krüge« und »Gefäße« etc.. Der Dichter/Maler schaffe sowieso erst „die wahre Wirklichkeit“. Diese hermeneutische Position ist ein geläufiger Topos. Heidegger macht sich dies jedoch während seines Aufenthalts beim „Griechentum“ auf der Insel Ios noch einmal ausdrücklich deutlich:

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Dazu  sehr  »entbergend«:  Peter  GEIMER  2003:  Frühjahr  1962.  Ein  Touristenschicksal.

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Auf Ios, genauer auf dem Pyrgos-Berg, wird das Grab Homers vermutet. Aber anstatt sich die Mühe zu machen, den Berg auch hinaufzuwandern, um zumindest an den möglichen Ort der Stätte zu gelangen, bemerkt Heidegger beiläufig, dass man von dort oben vermutlich sogar eine gute Weitsicht „in der Richtung auf Troja“ habe. Allerdings wäre es, so schließt er an, eigentlich ganz egal, ob sich das Sagen umwogene Troja tatsächlich irgendwo dort draußen befunden habe. Denn der blinde Homer habe ohnehin im „voraus und für immer, alle späteren Funde und alles tatsächlich noch Vorhandene übertreffend, die wahre Wirklichkeit gestiftet“. (EBD., 258) Jede konkrete Suche nach der untergegangenen sagenhaften Stadt wäre demnach nichts als archäologischer Übereifer. In diesem Sinne wäre es wohl auch Kraftverschwendung gewesen, das vermeintliche Grab Homers tatsächlich aufzusuchen. Das Gedichtete und Gemalte stellt also unabhängig von seiner empirischen Wirklichkeitsreferenz als Werk eine eigene Welt auf. Daher kann man sich vorstellen, dass es letztendlich ähnlich unsinnig wäre, in Morandis Bildwelt nur sachliche Objekte wiederzuerkennen. Manch einer könnte so versucht sein, einen Satz aus Heideggers Kunstwerkaufsatz umzumünzen und anzuschließen. Dieser würde dann hier in Abwandlung lauten: „Aber all dieses sehen wir vielleicht den Krügen und Gefäßen [dem Schuhzeug; im Orig.] nur im Bilde an.“ „Im Werk handelt es sich nicht um die Wiedergabe des jeweils vorhandenen einzelnen Seienden, wohl dagegen um die Wiedergabe des allgemeinen Wesens der Dinge.“ (1935, 19, 22) Man weiß ja von Heidegger selbst bereits, worin das Wesen des Kruges als Ding besteht. Wenn man ihn nicht einfach als Behälter, als „Zeug“, benutzt, dann bestehe sein Wesen darin, Nähe und Verweilen zu gewähren. (1950, 170) Angesichts dieses Denkens könnte jemand auf die Idee kommen: Morandi zeige und versammle nun seinerseits sein Dinge ganz offensichtlich so, dass man sie sich nie als irgendwie nützliche vorstellen könnte. Darin ist sich die Forschung auch lange schon einig. Aber dann? Was macht man dann aus dem Befund? Wie geht man darüber hinaus? Der Eine findet dann: „Wirklich  so  schauend,  uns  öffnend  für  die  Gegenwart  der  Dinge,  tun  wir  mehr  als   sie  bloß  anzustarren.  Wir  entdecken  eine  andere  Wirklichkeit,  aber  in  ihr  zugleich   eine  verwandtschaftliche  Ebene.“  (LIESBROCK  1992,  27)  

Und ein Anderer erkennt: „...  wenn  man  nur  weiß,    wie  sie    anzuschauen  sind  [...].  Vertraue,    dass    du    etwas    

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sehen   wirst,   wenn   du   nur   lange   genug   davorstehst.   [...]   Dann   werden   die   Dinge   langsam   in   dein   Bewusstsein   sinken   und   ein   Gewicht   erlangen,   eine   Bedeutsam-­‐ keit...“   (Joel  Meyerowitz;  EBD.)  

„Doch ist ein solches Argument nicht Spekulation? [...] Diese Zweifel scheinen wohlbegründet und fordern uns auf, zu versuchen die hier vorgestellte Position noch weiter zu klären.“ (PICHT 1973) Also Morandis kleine Dingwelt aus »Krügen« und »Töpfen« usw. – ist sie so erfahrbar wie eine griechische Landschaft, deren Belastbarkeit zu studieren Heidegger aufgebrochen war? Aber trotz oder bei aller „echten Begeisterung“ (1967a, 260) für die Welt und Werke der Antike: Heidegger konstatierte während seiner Reise außerdem auch noch – wie so häufig – eine „Flucht der Götter“ und, sehr wahrscheinlich, die realgeschichtliche Unmöglichkeit, einem für immer verlorenen „Weltzustand“ noch einmal nahe zu kommen. Dabei geht es gerade nicht notwendiger Weise um das Bekenntnis zu irgendeinem »Gott«-Glauben. Unabhängig davon, geht es erst einmal nur darum, die Signifikaten für das »Transzendente« nicht endgültig zu löschen. Ihre Inhalte und ihr Begriffsumfang müssen unbedingt mitbedacht bleiben, weil das Menschsein vom Denken und Sprechen über einen Gott oder die Götter existentiell mitverfasst ist.10 Oder mit einem Anderen gesagt: „Das Absolute ist eine Potenz, die man nicht dadurch loswird, dass man nicht mehr an sie glaubt.“ (PICHT 1973, 141) „Die Götter Griechenlands und ihr oberster Gott werden“, so Heideggers Vorbehalt zu Beginn der Kreuzfahrt, „wenn sie je [noch einmal] kommen, nur verwandelt in eine Welt einkehren“ (1962, 216), die sie verdrängt oder vergessen hat. Auf diese Zeit eines erneuerten Idealzustands hinzuwarten, ist das Opportune. Heidegger begnügte sich bekanntlich während dessen – quasi als »Brücke ins Geisterreich« – mit der immer wieder neu einsetzenden Lektüre der Dichtung Hölderlins. Wer nicht warten kann oder wer ebenfalls der Meinung ist, dass sich eine „ursprüngliche Offenheit des Seins“ nicht noch einmal in Hellas und der griechischen Kunst einstellen wird, könnte stattdessen eben versucht sein, abermals auf ein Werk Morandis zu blicken. 10

Prägnant:   „Dass   die   Götter   gewesen   sind,   heißt   nicht,   dass   es   sie   zu   einer   historisch   bestimmbaren   Zeit   einmal   gegeben   hat,   sondern   dass man   sich   noch   nicht   einmal   atheis-­‐ tisch  verstehen  kann,  ohne  von  ihnen  zu  sprechen:  die  Rede  von  den  Göttern  bildet  ein   integrales  Moment  des  Selbstverstehens  auch  dann,   wenn   man   nicht   mehr   an   sie   glaubt.“   (FIGAL  1995,  135,  Herv.  js)

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Vielleicht stellt sich dann ein, was Heidegger selbst bekanntlich erst 1974, sehr spät also, und immer noch ausharrend, über seine Begegnung mit der Malerei Paul Cézannes bemerkt hatte: Zusammengefasst: „In Cézannes Werk ist die metaphysische Differenz zwischen Seiendem und Sein, zwischen Anwesendem und Anwesenheit überwunden.“ In dessen Malerei gehe es Heidegger zufolge nicht mehr um die Darstellung von Anwesendem in seiner Anwesenheit als bloß Seiendes, sondern als Geschehen eines sich gebenden und darin immer auch entziehenden Seins. ... „Aufgehen- und Anwesenlassen“. (HEIDEGGER 1967a, 260)

(vgl.  dazu  SEU-­‐ BOLD  2006,   301f.,  1996,   103ff.)  

Warten... und noch einmal genauer hinsehen. Es muss einen misstrauisch machen, wenn hier auf diesen Seiten schon so lange keine Abbildung eines Bildes mehr nötig war. Dies spricht vielleicht für zu kopflastige Projektionen. Philosophenschach statt „Erlebniskunst“. Kann man ein Bild auch gänzlich ohne Theorieanleitung betrachten? Gibt es das, was der amerikanische Literaturprofessor Paul de Man vielleicht »mere looking«, »bloßes Sehen«, genannt hätte überhaupt? Man muss kein Wort darüber verlieAbb.:  Herbert  List:  Giorgio  Morandi,  1949  und   „das  Rätsel  der  Dinge“.  (De  Chirico  1922)   ren, weil es zu selbstverständlich ist: Michael Brötjes intuitives, seelisches Unmittelbarkeitsverstehen ist ein privilegiertes Kunsterlebnis. Es ist natürlich voraussetzungslos – unter der Voraussetzung, dass die existentialistische Hermeneutik dem Kunstwerk zu Recht Voraussetzungslosigkeit zuerkennt. Aber da ist – beim Werk Morandis – noch immer dieser „hellgraue Verbindungsbogen“ und dieser Zwischenraum zwischen den beiden Gefäßen, der wie ein optischer »Keil« wirkt. Das Ölbild ist relativ klein und der unrealistische Bogen fällt wirklich sofort ins Auge. Ist er eine „Verstörung“? Michael Brötje kennt das Phänomen der „Verstörung“ sehrwohl. (1990, 83) In diesem Bild sieht er aber keine. Warum eigentlich nicht? Aber mich macht die graue Farbbahn darauf aufmerksam, dass ich mich anlässlich ihrer Existenz beim Sehen beobachte: Ich frage mich nämlich nicht nur, ob ich sie gegenständlich und

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sachlich in den Motivzusammenhang einordnen kann. Ich stelle darüber hinaus fest, dass ich mich dies gerade jetzt frage. So stellt diese Zone wohl eine Hier-und-Jetzt-Beziehung zwischen mir und dem Bild her. Sie stiftet nicht alleine den Übergang vom mittleren zum rechten »Gefäß« – die graue Farbbahn spannt überdies den Bogen zur Frage, wie ich sehe und ob ich überhaupt »richtig« Verstehen kann. Wenn ich dieses Aktbewusstsein des Sehens gegenüber der verstörenden Bogenform aufbringe, dann ist jedes „Aufgehen- und Anwesenlassen“ gestört durch dieses selbst anwesende Detail. Vielleicht wäre Heidegger – hätte er das Werk je betrachtet – vor dem Bild eingenickt, wenn es diesen grauen Bogen-KeilZwischenraum nicht gäbe. Es besteht zwar keinen Grund zur Hysterie. Aber das Bild wäre einfach unglaublich unspannend ohne diese Manipuliertes  Natura  morta,  mit  entferntem   Grau-Erhebung. Damit soll nicht „hellgrauen  Verbindungsbogen.“  (js)   gesagt werden, der Streifen wäre ganz selbstreflexiv nur deshalb da, weil das Bild wüsste, dass es sonst wahrscheinlich nur sehr langweilig wäre. Irgendetwas, was ich schon lange erlebt aber noch nicht in ein Wissen gebracht habe – irgendetwas hat es damit auf sich. Brötje gab bei einer anderen Gelegenheit wichtige Hinweise: Dabei kam er zu der „Seherkenntnis“, dass es in Bildern des Öfteren eine „Nicht-Übereinkunft von Erscheinungswelt und Ebene“ gäbe. (1990, 84) Auch der graue Farbbogen lässt sich optisch nicht in die dargestellte Bildwelt integrieren. Ich kann ihn nicht »hinter« den Gegenständen verorten und nicht auf einer »Höhe« mit ihnen. Er hat keinen Platz im Endlichen der weltlichen Dinge, die dort vom Bildgrund her im Werden sind. Ich kann das Phänomen damit „unausweichlich“ nur als gegenläufige „Präsenzgeltung“ der Bildebene selbst sehen. Brötje formuliert dies mit der bereits bekannten Emphase – allerdings etwas umständlich. Gemeint ist, wem es noch nicht hinreichend aufgefallen sein sollte: Einerseits ziehe sich der Bildgrund zurück, indem er die Dingwelt zur Erscheinung kommen lässt. Andererseits hebe er sich in einer Selbstbetonung als diese Instanz an entscheidender Stelle noch einmal hervor. Dies geschehe nicht irgendwelcher artistischer oder medienkritischer Selbstreflexivität wegen. Im Gegenteil: In der Brötje’schen Bildlogik bedeutet mir dies unmittelbar (aber umständlich formuliert):

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„Gerade   in   dem   Maße   wie   mir   das   Versagen   der   Welt   in   der   Bil-­‐ dung  eines  immanenten  Sinnzusammenhangs  an  der  »Verstörung«   gewiss   wird,   bewahrheitet   sich   mir   zugleich   das   Vermögen   der   Ebene,  als  fortbestehende  Einheit  aller  Ordnungswidersprüche,  die   Sinnrelativität   eben   dieser   Welt,   zu   übergreifen,   aufzufangen.“   (BRÖTJE  1990,  84)  

„Alleine dadurch“, so die existentialistische Sicht auf die Dinge, dass die „sinnhafte Eigenstringenz im Für-sich-dort-Sein“ der darstellten Bildwelt gezielt verstört werde, teile sich mir mit: Das Erscheinende ist unwiderruflich abhängig und aufgehoben in „dem anderen »Einen«, das sich mir jetzt und hier unergreifbar entgegenhält“. (BRÖTJE 1990, 83) In diesem Sinne kann ich den mysteriösen Farbbogen nicht verstehen und verstehe ihn doch. Er übergreift Sinn relativierend die Ding-Welt. Er gründet den (Bild-)Grund von neuem – Brötje hätte wohl gesagt: Es zeigt sich, was „antipodisch zum Irdischen noch als andere, transzendente Instanz an-west“. (2012, 10)   Da ist sie wieder: Diese unmittelbare Erlebnisge„Denn  kritisch  Denken   wissheit – dieses »Von-Selbst-Verstehen«. Auch Verstöheißt:  ständig  unterschei-­‐ rungen verstehen sich hier von selbst. – Die „Entwirkden  zwischen  dem,  was  für   lichung“ der Dingwelt „vom Medium her“ (BRÖTJE seine  Rechtfertigung  einen   1990, 15) ist hier ebenso selbstverständlich und im Beweis  erfordert,  und   Bilderlebnis verortbar wie das erst Wirklich-Werden dem,  was  für  seine  Bewäh-­‐ der Dinge im Bild. Langsam haben wir die »Logik« dierung  das  einfache  Erbli-­‐ cken  und  Hinnehmen  ver-­‐ ser Bildtheorie verinnerlicht. Ich kann gar nicht mehr langt.“     anders: (HEIDEGGER  1964,  41)   Die „desillusionierende Vorhaltung“ – die Verstörung – durch den Graubogen, weckt die zur Illusionsbildung gegenläufige Gewahrung der alles Gegenständliche durchstreichenden Selbstgeltung der Bildfläche. Der Hellgraustreifen wäre so ein frei-gesetztes, freigesetztes, »Zeichen«, außerhalb des Zwangs zur Repräsentation; eine Unterbrechung – ein ver-rücktes, verrücktes »Zeichen«. Es beinhaltet die Zurückweisung des Anspruchs, dass im Werden der Dinge auch das Werden des Bildsinns gleich konfliktfrei mitentwickelt wird. Das Bild würde damit einen gegenläufigen und konterkarierenden Eingriff in sich selbst vornehmen. Aber die Verstehenssubversion ist in der „Übergegensätzlichkeit“ des Werkes immer schon eingeplant und miterzählt. Schlussendlich artikulieren die drei »Gefäße« in ihrem SoSein und in dem Zusammenhang, den sie stiften, so Brötje, „die je nur möglichen grundsätzlichen Realisationsstufen individueller körperlicher Existenz“. Und so sei „für das Ich an diesen drei »Gefäßen« der Zyklus des Seins selbst beschrieben...“ (1993, 54) ... und wenn sie nicht gestorben sind...

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„Dazu  rechnet   z.B.  der  zwei-­‐   oder  dreigeteilte   Grund  (»Fondo   bipartito«  oder   »tripartito«)  [...].   So  lässt  sich     z.B.  die  untere   Fläche  räumlich   »tief«  lesen,  zu-­‐ gleich  aber  auch   als  rechteckiges   Feld“,  „auf  dem   das  obere  Recht-­‐ eck  ruht...“     (BOEHM  1993,   18f.)  

By the way: Wie schon erwähnt, Gottfried Boehm ist ein wirklich guter Analytiker der Werke Morandis. Wenn er etwa betont, die Gefäße würden sich oft untereinander „verschwistern“ und „[aus]tauschen“, „Kanäle bilden, in denen sich optische Energien wie in komplexen Leitungssystemen verteilen“ – und „[u]m so mehr dann, wenn die umliegende Fläche da und dort in die Gefäßform eindringt, mit ihr kommuniziert“ – also, dem ehemaligen Leiter des Kunsthistorischen Instituts in Basel gelingen ausgezeichnete Aufzeichnungen zum zeichnerischen und malerischen Werk Morandis. Und Boehm wählt genau die gleiche »Eingangsbefindung« wie Brötje, wenn er bemerkt, „mitunter verschwinde[ ] geradezu die Unterscheidung zwischen Fläche und Ding, Bildgrund und Figur“. (1993, 18f.) Und er kommt sogar zu einem Fazit, das nach Brötje klingt, wenn er unterstreicht, die Bilder würden ein Durchblicken „auf ihren unbestimmten Grund [erlauben]. „Von dort her“ komme „uns der Sinn [...] überzeugend und lebendig entgegen“. (2008, 36) Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Auch Gottfried Boehm stellt, wie John Elkins es ja formuliert hatte, „im allgemeinen lieber Theorien über die Art der Markierungen auf“ als einzelne Markierungen dann auch genau zu untersuchen. Boehm widmet seine Aufmerksamkeit also dem Konzept, nicht den einzelnen Spuren und Phänomenen, die mittels des Konzepts ganz einzigartig erzeugt werden. Daher kann er auch nicht danach fragen, was ein bestimmtes einzelnes Morandi-Bild »wirklich« zu »erzählen« hat. Brötje dagegen hatte das Bild mit den drei Gefäßen sogar »öffentlich« befragt. Denn es gab einige ganz wenige Fälle, in denen Michael Brötje methodologisches Asyl erhalten hatte. Einmal etwa fand er geistigen Unterschlupf bei seinem feinsinnigen Bekannten Hans Liesbrock. Der war damals im Jahr 1993 Leiter des renommierten Westfälischen Kunstvereins in Münster. Von Liesbrock eingeladen kuratierte Brötje die Ausstellung Fragen an vier Bilder, die sich tatsächlich auf nur vier spezielle Gemälde konzentrierte – sonst nichts! Das Werk von Morandi war eines davon. Das kleine Bildchen wurde eigens aus Winterthur ausgeliehen, um – ganz alleine an der Wand – konsultiert zu werden. Brötje setzte darauf, dass sich bei den Betrachtenden in der asketischen Direktkonfrontation ganz intuitiv und evident das Erlebnis einstellen würde, vom dem hier die ganze Zeit die Rede war. Ob dies auch der Fall war, ist nicht überliefert.

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VIII.   [...] In diesem Augenblick war Jacques vor der Wohnung des Greises angelangt. Als er im Begriff war einzutreten, wich der Gelehrte jedoch zurück, als hätte ihn plötzlich eine Ahnung ergriffen. »Aber was will ich eigentlich hier«, fragt er den jungen Mann und sah ihn dabei starr an. »Jacques, mein Freund, du hattest mir versprochen, behilflich zu sein. Du musst nicht viel sagen, es würde schon ausreichen, wenn du mir auf die Sprünge hilfst. Mit deinen Texten wollte ich dem Greis zur Seite stehen. Nur so werden wir seine kühnen Texte, richtig und falsch in Einem, lesen können.« »Nun denn, gehen wir hinein«, fügte Jacques nun hinzu, und es schien ihn eine ungeheure Anstrengung zu kosten. »Wenn auch unsere Freundschaft stirbt«, meinte er noch, »wird nicht dein Ruhm der Lohn für mein Einschreiten sein? Aber lass uns nun eintreten, ich werde weiterleben, indem ich ewiges Andenken in den Texten bin.« Als Jacques schließlich eintrat, stieß er auf die Gesellschaft der anderen. »Seht«, sprach der junge Mann, »wiegt mein lieber Jacques nicht alle Meistertexte der Welt auf?« Der Greis zitterte. Jacques stand da in der gewohnt ungezwungenen Haltung eines eher unterschätzen Philosophen, der von seinem Schreibtisch in Paris entführt worden war. Der Junge war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob es richtig wäre, seinen kostbaren Freund mit seinen Manuskripten hierher gebracht zu haben und fast verfluchte er sich selbst schon. Vielleicht ist es verschwendete Zeit, den Greis mit Jacques Schriften bekannt zu machen. Tausend Gewissenszweifel regten sich. Wie wäre es, in Gedanken Jacques dem Alten für einen Augenblick zu überlassen? Was würde geschehen? Was würde dann in seinen Texten lesbar werden? Was würde sich zeigen? Oder was wäre für immer verloren? Wäre der Greis am Ende einverstanden und würde er dann seinen eigenen Meistertext dem jungen Schreiber zum Lesen anvertrauen? Oder was brächte es überhaupt, die Texte des Alten mit denen Jacques in Kontakt zu bringen? »Ja, vielleicht wäre ich einverstanden...«, brach es aus dem Greis plötzlich hervor. »Oh, lasst mir die Schriften dieses Jacques für einen Augenblick... Ich will sie sehen und mit meinen vergleichen.«

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Der Alte schien für seine eigenen Bücher so viel Gefallen zu hegen und war wohl im voraus sicher, den Triumph seiner Schöpfungen über die des substanzlosen Philosophen davonzutragen. Der junge Mann seinerseits blieb an der Türe der Schreibstube zurück und stand schweigend da. Im Dunkeln so dastehend, glich er einem Verschwörer, der auf die Stunde wartete, um einen dunklen Tyrannen zu erschlagen... Nach einer kurzen Weile wurde die Türe von innen beherzt wieder geöffnet. »Herein, herein,« rief der Greis dem Jungen glückstrahlend zu. »Mein Werk ist vollkommen und nun kann ich es voller Stolz zeigen. Von lebhafter Neugier getrieben, eilten Heidegger und der Junge zur Mitte eines weitläufigen Schreibzimmers, wo alles mit Staub bedeckt und in mäßiger Unordnung war und wo sie hier und da säuberliche Manuskripte auf den Ablagen sahen. Zunächst blieben sie vor einem Deckblatt stehen, das den Titel »J. D. INGRES« in Versalien trug. Es musste sich um ein sehr viel älteres, noch mit der Maschine geschriebenes Typoskript aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts handeln. [...]

Im Jahre 1969 lieferte Michael Brötje seine Dissertation über Ingres an der Philosophischen Fakultät der Justus-Liebig-Universität ab. Der Inhalt dieser Qualifikationsschrift war dabei noch stark von den Arbeiten seines Doktorvaters geprägt. Unter anderem geht es irgendwann um die Untersuchung des Portraits vom Bildhauer Bartolini aus dem Jahre 1820. Was der Autor hier beobachtet, folgt klar den Vorgaben des Giessener Lehrstuhlinhabers Günther Fiensch: Denn es gehe in diesem Bild, so der Promovend damals, zuallererst um eine „unmittelbar primärwertig aus der Bildfläche“ hervorgehende Ordnung. (BRÖTJE 1969, 55)

   Abb.:  Dissertationsdeckblatt;      Handschriftliche  Krikselei:  js  

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„Die  Figur,  obwohl  thematisch  das  Zentrum  des  Bildes,   stellt   nicht   aus   sich   heraus   die   Bildordnung   her,   son-­‐ dern   erscheint   ebenso   als   unselbständiger   Teil   einer   übergeordneten  Seinswirklichkeit...“  (EBD.)

Und zwar sei dies aus folgendem Grunde so: Die Figur des portraitierten Bildhauers könne vor ihrem »Hintergrund« keine Änderung ihrer Haltung vornehmen, ohne dadurch automatisch auch die Flächenordnung, die der Hintergrund bildet, zu zerstören. Denn Ingres Figuren stünden nicht einfach vor einem räumlich »Hintergrund«. Sie sind mit ihm flächenlogisch eins. Figur und „übergreifende Bildflächengliederung“ bildeten eine „Anschauungseinheit“. (EBD.) Die Konturen des Portraitierten umgrenzen diesen nicht einfach in seiner Körperlichkeit, sondern diese Linien seien vielmehr zugleich die Grenzen von „geometrischen Flächen“, die eben in eine „übergreifende Bildgliederung eingebunden“ sind, so Brötje in seiner Dissertation. (EBD., 80) Der umgebende »Bildraum« wäre somit keine Kulisse, vor der der Dargestellte beliebig hätte posieren können. Stattdessen sei durch die strengen „Verhältniswerte“, die sich auf die Bildfläche beziehen, eine „Wirklichkeit“ erfahrbar, die „in ihrem SoSein nur für den Moment des Bildes existent“ sei. „Jede zeitliche Veränderung bringt sie zum Verlöschen.“ (EBD., 69) Bartolini wäre demnach Teil eines einAbb.:  J.  A.  D.  Ingres:  Portrait  des  Bildhauers     maligen formalästhetischen und endgültBartolini,  1820,  108  x  85,7  cm,  Öl  auf  Lein-­‐ igen »Notwendigkeitssystems«, das seine wand,  Louvre,  Paris.   Körperhaltung zusammen mit dem »Hintergrund« erst hervorbringt. Der Begriff des »Notwendigkeitssystems« stammte von Max Imdahl. Dieser wird ihn aber erst Jahre später »erfinden«. Die Bindung der Figur an ihren »Grund« ist hier zunächst noch eine Frage der Form. Aber es ist nur ein kleiner, allerdings existentieller, Schritt vom Denken der Form zum Denken des »Grundes« zu kommen. Auch wenn es hier erst einmal formalästhetisch noch um den Körper des Dargestellten in Beziehung zur „übergreifenden Bildflächenverteilung“ geht – einen Moment später ist die alles entscheidende Frage nach dem Bildgrund schon massiv angelegt. Und dies sogar bereits im Sinne einer existentialistischen Bildhermeneutik. Denn Brötje bleibt nicht dabei, nur ein unverrückbares Formgefüge zu betrachten. Er konstatiert, dass im unteren Viertel des Bildes, auf Höhe des Tisches, die Hände Momente eines „zeitlichen Existenzvollzugs“ zeigen. (EBD., 61ff.)

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Der Fiensch-Schüler denkt nämlich schon weiter: Die Figur werde also durch die „optische Wirklichkeit“ der Formstrenge der Fläche, die sie umgibt (für alle andern: vom »Hintergrund«) in einem zeitlosen Jetzt arretiert. Gleichzeitig „bedeute“ dies aber auch umgekehrt „die Abhängigkeit der formalen Bestimmtheit der [...] Flächen von der momentanen Stellung der Figur im Bildfeld“. Daher kann man genauso gut davon sprechen: Die Figur „enthülle“ „plötzlich“ überhaupt erst die Fläche, indem die Fläche als Fläche erst in und durch die „motivische[ ] Begrenztheit der auftretenden Figur selbst »hervortritt«“. (EBD., 73) „So  entsteht  vor  den  Bildern  Ingres  immer  der  Eindruck,  dass  der  Mensch  in  jedem  Moment   gleichsam   »aus   dem   Nichts   kommt   und   in   ein   Nichts   geht«.   Dies   macht   die   eigentliche   »Wirklichkeit«   seines   Daseins   aus,   gegenüber   der   alle   historischen   Daseinsinhalte   bedeu-­‐ tungslos  werden.“  (EBD.)  

Damit denkt Brötje die Schlüsselfigur einer »Einheit in der Differenz« schon hier klar vor: Der »Grund« enthüllt sich in der Differenz zur Figur, die ihn sowohl verdrängend hervorbringt, wie sie zugleich vom Grund umfangen ist, „als ein[em] alles zeitlich Existierende überdauerndes Sein“. (EBD.) In genau dieser besonderen Konstellation liege nun auch der »existentielle« Konflikt, den die Figuren in der Portraitmalerei Ingres in sich selbst austragen – und der mich als Mensch grundlegend angeht! Denn was ich sehe, sind Personen in den „Bedingungen ihrer Existenz“. (EBD., 75) Die aufgestützte rechte Hand des Bartolini bekunde einen „willensbetonte[n] Halt“ im Diesseits und in der „Daseinsrolle“ im Beruf des Künstlers (EBD., 85). Schon die linke ausgestellte Hand, die in der Innenkontur der Figur liegt, schiebt überdeutlich die untere Hälfte des Stoffs des Gehrocks nach links hinüber ins weltliche Dasein. Im Endeffekt, so der angehende Doktor der Kunstgeschichte, „zeigen die Bilder von Ingres den Menschen immer in einer ungelösten Spannung zwischen dem Willen zu einer Bedeutungsgebung seiner selbst, [...] Bindung an die historische Zeit, [...] und der Erfahrung der alle   historische Bedeutung negierenden »Wirklichkeit« „...  je  nachdem,  auf  welche  Be-­‐ seines Daseins“ an sich. (EBD., 84) deutungssphäre  ihrer  Existenz   Die Bildgestaltung hat diese „Doppeldeutigkeit“ diese  Erscheinung  bezogen   in der Erscheinung der Figur „eingefangen“. Und wird,  auf  den  zeitlichen  Da-­‐ was daraus resultiere, sei eine „ungelöste [Exisseinsvollzug  oder  auf  die  zeitlo-­‐ tenz-]Spannung“, die man den Figuren, den Porse  »Wirklichkeit«.“     traitierten auch unmittelbar ansehe. Sie sei Teil der (EBD.,  74)   seelischen Befindlichkeit der Person selbst. Sie trage diese Spannung »ins Gesicht geschrieben«.

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All der Detailreichtum, die großartige Nachahmung der Stoffe – all dies ist da, könnte man im Sinne Brötjes sagen, um den Glanz der Oberflächen des »Seienden« zu zeigen. Immer im Kontrast und im Wissen „um die Bedeutungsrelativität dieser Eigenwertigkeit angesichts der Bindung der Existenz“ an den Grund des Seins. (EBD., 73) Es ist also so: Brötje geht zwar zunächst vom Bild als „Formgebilde“ im Sinne seines Lehrers aus. Von der Form und der Fläche her begründe das Bild sein Vermögen, einen Eigensinn zu stiften. In dieser Logik setzte Fiensch zwei Ebenen im „künstlerischen Gegenstand“ voraus, die aufeinander abgestimmt seien ... ... so dass „jedem Objekt im Bilde im gleichen Maße der Charakter natürlichen Selbstseins gegeben werde, wie es formale Teileinheit einer Bildfiguration zu sein hat“. (FIENSCH 1961, 33f.). Bei seinem Doktoranden wird daraus in der Ausgangssituation fast gleichlautend: Man habe von dem grundsätzlichen „Gegensatz zwischen der Selbstbestimmtheit der Figur als plastischem Körper und der übergreifenden Bildflächenverteilung aus[zu]gehen“ (BRÖTJE 1969, 61). Mit Fiensch (Korrelation von Inhalt und Form) wird der Portraitierte so einerseits als Motivwert und gleichzeitig als Formwert gesehen. Darüberhinaus wendet die Ingres-Analyse diese Sehbefunde aber auch schon in eine zur Erscheinung kommende Existenz-Spannung. Denn der Bildfläche wird bereits implizit so etwas wie eine „Synonymgeltung“ als Seinsbezug angesehen. Weitere Details in der Phänomenalität der Phänomene sieht Brötje allerdings noch nicht. Ansonsten hätte er uns sicherlich schon an dieser Stelle auf die untere Hälfte von Bartolinis Gehrock oder auf dessen Weste aufmerksam gemacht. In diesen Zonen kommt es etwa zu »Wirkbewegungen« vom Gehrock her nach links hin auf die Attribute zu, die den Menschen in seinem konkreten Dasein als Bildhauer charakterisieren. Oder aber es zeigen sich in der Faltung der Weste »Energieanstauungen«, die vielleicht die Anspannung der Figur zwischen „Zeitlosigkeit und Daseinsvollzug“ hätten dramatisieren sollen. In den Unruhezonen und Knautschungen der West und ihren »Knopfverfestigungen« zeigte sich dann das, was Brötje abstrakter als „Unbehaust-Sein“ (EBD., 75) der Figur bezeichnet hatte. Aber der Blick des Doktoranden ist noch nicht so seh-operativ ausgeprägt wie schon wenig später bei der Betrachtung des Portraits der Elsbeth Tucher. Brötje thematisierte das Gemälde zwei Mal in seinem Leben: Zunächst noch im Dunstkreis von Fiensch stehend, zuletzt aber kompromisslos und radikal im Rahmen seiner eigenen „existentialhermeneutischen“ Bildlektüre.

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„Die  »Wirk-­‐ lichkeiten«   zweier     Ebenen...“     (FIENSCH  1961,     33)  

Das Bild von Dürer zeigt dem rein wiedererkennenden und identifizierenden Sehen eine Frau mit »Haube« vor einem geteilten Hintergrund – halb Landschaftsausblick durch ein »Fenster« im Raum, halb Brokatvorhang. Brötje zieht kurz in Erwägung, wie Dürer durch die Aufteilung des Hintergrundes Hinweise zur Charakterisierung der Persönlichkeit der Dargestellten geben konnte. Dabei stünde die Hintergrundteilung ein für eine Figur, die von „starken Gegensätzen geprägt“ sei. (1976, 32) Man kann das durchaus so sehen, zumal die damit erzeugte Teilungssenkrechte das Gesicht nach links bzw. nach rechts in zwei deutlich unterschiedliche Physiognomien scheidet. – Gerade auch im Vergleich zu zwei zeitgleich entstandenen Portraits der Familie erscheint die Deutung nicht abwegig. Aber dies wird sich als nebensächlich erweisen. Denn dann wendet sich der Autor unverzüglich von dieser recht konventionellen inhaltlichen Überlegung ab. Spontan in den Blick kommt stattdessen nun die auffällige und anatomisch verquere „Hinzufügung der Finger einer Hand am unteren Bildrand“. (EBD.) Brötje sagt          Abb.:  Albrecht  Dürer:  Elsbeth  Tucher,  1499,  29  x  23       uns, welche Sinn begründende          cm,  Öl  auf  Holz;  Gemäldegalerie  Alter  Meister,  Kassel.   »Funktion« diesen Fingern mit einem Ring tatsächlich zukomme: Denn mit diesen »Ringfingern« „verbindet sich die Figur [mit] den umschließenden Bildgrenzen“ und gewinne „daraus eine Einheit ihrer Gesamterscheinung“ – und zwar so, dass in dieser Gesamterscheinung „die völlige körperliche Trennung von Hand und Oberkörper bedeutungslos“ werde. (EBD.) „Für   diese   Einheit   genügt   es,   dass   nur   eine   Schulterlinie   zur   Hand   hinunterläuft  und  der  Ring  auf  den  Kopf  zurückverweist.“  (EBD.)  

Aber diese Begründung kann nicht ganz befriedigend sein. Denn implizit angesprochen wird ja, dass es ein Problem mit den Fingern an der Bildunterkante gibt – wenn auch nur in der Weise, dass uns gesagt wird: Es handelt sich zwar offensichtlich um

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eine besondere Eck-Situation, aber kompositorisch kann sie sogleich als gelöst, oder als nicht misslungen, betrachtet werden. Brötje glaubt die Antwort für diese Irritation gesehen zu haben – immer noch mit der Formalästhetik à la Fiensch sehend. Aber dies beantwortet dennoch nicht die Frage, warum es diese problematische Eck-Lösung überhaupt gibt. Dürer hätte sie ebenso gut vermeiden können und gar nicht erst in sein Bild »einbauen« müssen. In seiner frühen Behandlung des Bildes ging es demnach zunächst nur darum, die Figur fest in den Bildgrenzen verankert zu sehen: Denke man sich die Finger mit dem Ring einfach weg, die Komposition wäre tatsächlich entscheidend geschwächt. Es entstünde der Eindruck eines Abfalls nach links unten. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn man einsähe, dass die Figur mit ihrem Gesicht ohnehin sowohl durch den Landschafsverlauf als auch durch das Brokatornament nach links und rechts mit den Bildrändern verbunden ist: Oberlippe zu Waldgrenze, Berggipfel zu Wangenknochen, Haubenmuster zu Ornamentstrecke usw. Wäre es nun bei dieser eher formalästhetischen Phänomenbegründung durch die Brille von Günther Fiensch geblieben, dann wäre die existentialistische Selbstbegründung dieser »abgeschnittenen« Ringfinger nicht einsichtig geworden. Es wäre bei so etwas wie einer Dialektik von formaler Bildeinheit einerseits und innerer Gegensätzlichkeit oder Angespanntheit der portraitierten Figur andererseits geblieben. Erst gut 35 Jahre später kam Brötje dann noch einmal ganz ausführlich auf das Bild der Elsbeth Tucher zu sprechen. So, als ob ihm seit damals eine unausgesprochene Dimension des Werkes nicht hatte zur Ruhe kommen lassen. Nun widmete er dem Bildnis noch einmal eine 15-seitige Beschreibung – wobei Beschreibung hier natürlich wiederum zu verstehen ist als der akribisch-mühsame Versuch, ein intuitiv unmittelbar bereits verstandenes Bilderlebnis nachträglich zu rekonstruieren. Warum dieses unmittelbare Bilderlebnis nicht auch schon beim ersten Versuch zum »vollständigen« Verstehen geführt haben mag, darüber darf spekuliert werden. Nötig werde dieser umständliche Verbalisierungsversuch allenfalls aus missionarischen Gründen. Denn all denjenigen, die sich durch das pure Ignorieren der Phänomenstruktur  „Das  Bildsein  einer  Sache“:   um das »wahre« Bilderlebnis bringen, soll doch noch ein„das  Distinkte“   mal aufgezeigt sein, was man verpasst: Das „Bildsein ei(NANCY  ,  der  eigentlich  nur   ner Sache“ oder Person ist weder deren bloße Repräsentabei  Heidegger  abgeschrie-­‐ tion noch ist es die Sache oder Person selbst. Es ist mehr! ben  hat,  2003,  17-­‐27)  

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Dieses Mal wird nun eines gleich auf der ersten Seite des neuen Beitrags klargestellt: Das Portrait – genau so wie es ist – bringe seine Bildgrenzen „als das Letztumgreifende, als den Seinshorizont [...] in Geltung“. (DERS., 2012, 153) Was ist hier und was ist in der Zwischenzeit passiert? Sicher ist hier niemand einfach vom Fiensch-Schüler zum Kunst-Metaphysiker konvertiert, sondern zunächst einmal wird nochmals festgestellt, dass die Figur ein extrem besonderes Verhältnisse zu den Bildgrenzen, in denen sie erscheint, unterhält. Das war auch vorher schon offensichtlich und unstrittig. Jetzt wird allerdings zusätzlich – ohne Sekundärwissen und ohne ein Wörterbuch der Symbolik – die Bild-argumentative Konsequenz daraus gezogen. Diese lautet etwa so: Wenn ein Bild diese Randbezüge so stark aufbaut, will es als Medium, das etwas in sich zur Erscheinung bringt, verstanden werden. Der Autor nennt dies eben einen „letztumgreifenden Seinshorizont“ oder ähnlich. In ihm entfalte sich alles, was Frau Tucher ist. Hier im zweiten Anlauf nimmt Brötje eine formalkompositorische Anlage existentiell »wörtlich«. Er hatte dies „geltungsakut“ genannt. (EBD.) Wenn damit klar ist, dass ich nicht mehr einfach nur das mehr oder weniger gelungene Abbild einer längst Verstorbenen sehe, sondern eine Figur in ihrer bildlichen Eigenwirklichkeit – wenn mir dies klar ist, dann werden die Ringfinger eigensinnig. Sie verlieren damit auch ihre Rolle als rein kompositorische (Not-)Maßnahme am Rande des Bildfeld. Wenn die Bildgrenzen unversehens den „Seinshorizont zur Evidenz gelangen“ ließen, wäre diese Ringstelle existentiell äußerst relevant. Bekanntlich hatte schon Hans-Georg Gadamer die Vorstellung, dass es im Kunstwerk eine „ursprüngliche Einheit und Nichtunterscheidung von Darstellung und Dargestellten“ gäbe. (1960, 132) Umschrieben war damit „eine Erfahrung, bei der Sachgehalt und Erscheinungsweise völlig verschmelzen“. Das Bild hebe sich nicht auf, sondern bleibe im Prozess der Darstellung Bild, sättige sich aber mit der Realität des Dargestellten an. Die »Realität« bleibe ihrerseits »Realität«, erschließe sich jedoch gleichzeitig durch die Leistung des Bildes erst. So gehöre das Bild zum Sein des Dargestellten hinzu und füge ihm auch etwas hinzu. Deshalb sei „jedes starke Bild“ auch „ein Seinsvorgang, der den

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Seinsdrang des Dargestellten“ mitbestimme. Mehr noch: Durch die Darstellung erfahre das Dargestellte – in unserem Fall Frau Tucher – gleichsam diesen berühmten „Zuwachs an Sein“. (GADAMER 1960, 133/BOEHM 1996, 109) Das  Bild  gebe  den  Dingen  eine  „…  gesteigerte  Wahrheit  ihres  Seins“.  (GADAMER  1960,  130f./46f.)  

Diese Idee ist in der Kunstwissenschaft bis heute »am Werk«. Wenn Brötje sie umsetzt, ist eigentlich nicht viel Neues dabei. Aber die Kunstwissenschaft hat zugleich auch das Sehen oder das Benennen eines »Seinsgrunds«, in dem nun eben Frau Tucher »erscheinungsverfasst getragen« wird, als zu metaphysisch befunden und abserviert. Man hat dieses Seinsgrund-Konzept eher tabuisiert als »dekonstruiert«. Denn »die Dekonstruktion« schließt im Unterschied zur Tabuisierung nicht etwas von vornherein aus. Sie setzt sich eher darin fest: „Da ist einerseits das, was man das archäologische […] Motiv nennen könnte“, „der rücklaufende Wiederaufstieg hin zum Grundsätzlichen“; „und andererseits ein Motiv“ der „Zerlegung, Entbindung, Entwirrung“ oder „Absolution“ – und ein „Widerstand“. Dekonstruktion wäre das Gegenteil jeder Tabuisierung: ein „Ins-Werk-Setzen der Analyse und zugleich ein Infragestellen der Analyse“. (DERRIDA 1991, 53-71/Splitter) Es ginge um das Nicht-Annehmen der Lösung, ohne damit die Lösung zu löschen oder einfach nur wegzustreichen. „Die  nachvollziehende  Analyse  will  immer  auch  die  Analyse  analysieren.  Aber  es  bleibt  immer   ein  Rest.“  „Es  kam  vor,  dass  ich  das  Dekonstruktion  nannte“.     (DERRIDA  1991,  71/1988,  105)  

Denn: Was wäre, wenn das Bildnis der Elsbeth Tucher doch so – nach der Gadamer’schen Vorstellung – »funktionieren« könnte – aber eben auch wiederum nie so funktionieren kann. Wenn es ginge, einen „Seinsvorgang“ ereignishaft vor sich zu haben, unter der Bedingung, dass dies immer schon zu dementieren wäre. Das, worum es Brötje geht, ist nicht neu. Es ist vorgedacht und ausgeschlossen worden. Das Interessante ist aber, dass es hier fast erstmalig, konkret, in einer einmaligen anschaulichen Präzision vorgemacht und vorgeführt wird. Die Ausführungen sind deshalb unverzichtbar, weil wir es mit einer äußersten Exaktheit zu tun haben – auch wenn diese Präzision die Möglichkeit eines völligen Entgleitens einschließt. In Brötjes erstem Text war noch davon die Rede, dass die Finger, die einen Ring halten, über die Schulterkontur mit der Figur verbunden bleiben. Diese Ansicht ändert sich später.

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Nun heißt es bereits zu Anfang, „diese Finger [seien] nicht mehr »zurückholbar« in ihre Körperexistenz“. Vielmehr stünden sie nicht mehr „im Vollzug“ des irdischen Dasein und der »Wirklichkeit« der Körperhaltung der Figur. Im Gegenteil „behaupten die Finger in ihrer Verortung“ – auf und an die Grenze der Bildebene gesetzt – „bereits einen Übertritt ins Jenseitige“ [der Repräsentation]. Sie kämen „abrupt“ eher von unten hervor und geben sich so nicht körperorganisch, sondern würden als „transempirische Ablösung“ vom Armzusammenhang verstanden. Dabei spielt am Ende im Anschauungsvollzug die steil abfallende Körperkontur auf die FingerKonstellation zu die Rolle eines „Verlöschens“ der Körperexistenz. (BRÖTJE 2012, 156, 166) In diesem Sinne einer transempirischen Ablösung „korrespondier[e]“ dieser Finger-Ring-Bereich links unten mit der Flächenzone des Brokatvorhangs ganz rechts oben im Bild. Dorthin – in diese Diagonale – deutet auch der Ring und dorthin springt der Blick, noch bevor das Frauengesicht selbst anschauungsrelevant wird. Voraussetzung sei allerdings zunächst einmal, dass man aufhöre, diesen „Phänomenzustand“ als einem Brokatvorhang zu bezeichnen oder diesen als bloßen Bildhintergrund zu sehen. Denn für das Auge befinde sich dieser Bereich nie wirklich »hinter« der Haube, sondern immer auf einer Ebene mit ihr.

Nun stellt sich die Frage, was denn der »Brokatvorhang« im Zusammenhang mit der Haube und was die Landschaft im Zusammenhang mit den Gesichtszügen dann eigentlich zeigt, wenn nicht einen Brokatvorhang hinter einer Kopfhaube und ein Gesicht vor einer Landschaft? Das „angeblich Gegenständliche“ zeige sich der Anschauung nämlich als eine – es lohnt sich dies genau zu zitieren – als eine „rein   dynamisch-­‐lineare   Bewegungsflut   zwischen   den   Bildgrenzen   und  

der  Figur.“  Und:  „Da  diese  Linearflutung  mit  der  Bildebene  identisch  ist,   sich   von   ihr   nicht   lösen   lässt,   bezeichnet   sie   eine   erste   Transformation   derselben,   d.h.   des   Schöpfungsgrundes   in   ein   allem   Dinglichen   voraus-­‐ gehendes  Stadium  der  Beunruhigung  und  Artikulation.“  (EBD.,  157)  

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Es artikulieren sich dabei, so der späte Brötje nun, Wachstumsund Entfaltungsenergien – „unruhige Drängungen der Naturwebung“ im »Stoff«. „...  transempirische,  formgenetische  »Hervortreibung«  vom  Schöpfungshorizont  her“.  (EBD.,  165)  

Diese gehen ihrerseits über und werden aufgenommen „in eine geklärte, beruhigte, in sich gerichtete »Waben«-Flechtung“ der Kopfhaube. Aus dieser Wabenverdichtung werde wiederum in einer „Überleitungsphase“ das Gesicht herausgebildet. (EBD., 158) Dieses Gesicht selbst zeigt sich mir in der Anschauung als in sich zweigeteilt. Von rechts nach links ändern sich die Gesichtszüge. Rechts „begegnet“ mir eine „aufblühende jugendliche Frau“; nach links hin dieselbe Gestalt, die schon „die Blüte ihres Lebens überschritten hat“. – Dann wird die Gesichtskontur abschließend vielfältig aufgenommen, indem ihre Umrisse in „Bäume, Bergkuppen, Wolkenballungen“ fortgeführt werden und zum Bildrand hin auslaufen. Im Nachvollzug dieser Anschlussund Auslaufbewegung zur Bildgrenze werde mir dann aber auch augenblicklich die Gegenbewegung verdeutlicht. Denn sobald das Auge am linken Bildrand »angekommen« ist, sähe man die Bewegungen, die soeben noch vom Gesicht weg geführt haben, nun umgekehrt als „Vorandrängungen“ und Impulse wieder zurück nach rechts auf den Gesichtskontur zu. Maßgeblich sei dabei die Phänomenausprägung des vom »Wald« umschlossenen »Sees«. Dieser stoße wieder von links ins Bild hinein, während der darunter liegende »Weg« zuvor noch für das Auslaufen nach links gesprochen hatte. (EBD., 159)

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Diese Bewegung, die meinen Blick von links nach rechts zurück ins Bild zieht, finde ihre Bestätigung in der nun erneut wirksam werdenden Horizontale der Lippen. So würde man es mit Brötje sehen. Nun deutet mir das Bild aber auch, dass mit der Lippengraden sofort auch wieder die dominante, Gesichts- und Bild teilende, Hauptvertikale vollzugsrelevant wird. Ich kann die Lippenwaagerechte nicht wahrnehmen, ohne zugleich auch diese Bildsenkrechte erneut zu aktivieren. In einer leichten Farbaufhellung erscheint diese Mittelsenkrechte noch einmal »hinter« der Kinnmitte und »korrigiert« die Halskontur nach links zu einer Graden. Da es für das Auge an dieser Stelle ansonsten keine weitere oder konkurrierende „Leitverbindlichkeit“ mehr gibt, führt diese Senkrechtlinie unweigerlich auf die Schulterschräge zu und von dort in die bereits erwähnte „Absturzbewegung der Körpergrenze“ (EBD., 160) und von dort wieder zum »auftauchenden« Bereich der Finger, die den Ring zeigend halten. Es dürfte aufgefallen sein: Die indirekte Rede vermischt sich hier im Text immer wieder grammatikalisch unkorrekt mit meinem Präsens. Der Grund besteht darin, dass nicht alles mit dem Vorbehalt der indirekten Rede gesagt werden muss. Manchmal ist alles auch so klar, dass die Bestimmtheit eines »So-ist-es« die Gegenwartsform erlaubt – oder vielleicht auch nicht oder vielleicht auch nur in einer Phase ungebremster Euphorie. Mein Sprechen im vorsichtigen Konjunktiv eines »als ob« – als ob man es gesehen haben könnte, als ob es seriös wäre, so gesehen zu haben – der Konjunktiv verliert sich mit einem zunehmenden Sympathisieren mit dieser wiederentdeckenden Anschauungslogik und dem damit verbundenen Seh-Erlebnis. – Solange bis man wieder zurückrudert mit dem Gefühl, das man vielleicht hat, wenn ein Pornofilm auf dem TV-Bildschirm noch weiterläuft, nachdem der Orgasmus schon vorüber ist. Ob diese abstürzende Körpergrenze zugleich auch das „Scheiden aus dem irdischen Hier“ (EBD., 161) anzeigt – sie täte dies nur dann, wenn in diesem Bild auch alle anderen visuellen Argumente auf dasselbe Ergebnis hinausliefen. Vielleicht tun sie das ja auch? Vielleicht wäre es auch nur eine schöne Erzählung vom Absturz des Lebens entlang einer Schulterkontur.

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Jedenfalls findet die Absturzlinie eine „Halt-“ und „Entgegensetzung“ in den den Ring haltenden Fingern... Hier stelle sich in der Folge die Aufmerksamkeit auf eine letzte „verbleibende Folgesequenz“ ein: Eine Abfolge „zu der sich die Finger, das weißliche Schultertuch rechts und die zwischenliegende ornamentierte Brustspange verbinden“. (EBD.) Gewandbrosche und das Ende des Kopftuchs liegen mehr auf der Bildebene als plastisch auf dem Figurenkörper. Über diese Sequenz auf der Bildebene könne der Blick unten bildrandparallel und dann über das Tuch noch einmal zum Ausgangspunkt zurückfinden: der Brokat-Entfaltung mit seiner Anbindung an die Figurierung der Frau Tucher. Es sei denn, ich akzeptiere den von der Bildecke angebotenen »Ring« doch endgültig als Letztbestimmung für mich. Als Transzendenzsymbol würde sich im Ring-Kreis die „Existenzzeit“ des dargestellten Menschen »erfüllen«. „...  »Rückkehr«  in  Transzendenz...“  (EBD.,  162)  

Wäre all dem so, hätte das Bild der Frau Tucher „die ganze Existenzzeit, die dem Subjekt gegeben ist [entfaltet]“ – „als Verlaufskurve des Hereinkommens ins Dasein bis zum Wiederverlöschen….“ (EBD., 155) „…Exemplum [...]  jener  Verspannung,  in  die  menschliche  Existenz  als  solche  hineingestellt  ist“.  Da-­‐ rin  begegnet  mir  Elsbeth  Tucher  „als  Spiegel  meiner  selbst“.     „Sie  ist  »der  Mensch«  […]  als  eigentlichste  Verwirklichung  unserer  selbst.  […]  Darin   »erkennt«  sie  mich  tiefer,  als  ich  mich  von  mir  aus  je  erkennen  könnte...“     (EBD.,  163,  156)  

Ob man das nun so sehen kann, ist eigentlich egal. Denn alleine ein Umreißen der Fragestellung „führt bereits unmittelbar in die Gegenwart des Werks“. (LIESBROCK 2000, 16) Sieht so ein Zuwachs an Sein aus? Kann man die Frage mit ja oder nein beantworten? Hat diese ereignishafte Bilderfahrung für mich gerade stattgefunden oder habe ich sie nur nachgesehen, abgelesen und gebauchrednert? Als Michael Brötje die Bildfeld-Ästhetik Günther Fiensch’ ins Existentielle zu wenden begann, gab er damit dem Bildgrund einen »Sinn«!?

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Oder ist das Bild, das auch Elsbeth Tucher zeigt, nur ein »Versprechen«, wie es Derrida oder Paul de Man von der Sprache dachten: Das wäre dann der Fall, wenn das Bild versprechen würde, zu einer substantiellen Wahrheit fähig zu sein. Aber dieses Versprechen, »verspricht sich« bekanntlich immer nur selbst. Bevor es sich einlöst, muss man schon vorher an das Versprechen glauben. Erst dann tritt vielleicht (!) das Versprochene ein. Insofern ist es so, wie mit der Gastfreundschaft. Das Versprechen, einen »Seinsgrund« zu erleben, setzt immer schon eines voraus: Dass nämlich die Betrachtenden immer schon als die Empfänger des Versprechens adressiert sind, bevor das Versprechen ausgesprochen oder eingelöst ist – vielleicht? Der, der das Versprechen, die Ankündigung auf einen Zuwachs an Sein ausgibt oder erhält, muss das Versprechen schon vor seiner Einlösung für wirksam halten. Sonst ist es keins. Das heißt, vor dem Versprechen, ist schon immer etwas versprochen, was die Voraussetzung für die Möglichkeit ist, überhaupt etwas zu versprechen. (DE MAN 1979, 277/DERRIDA 1986, 122ff.) Und Brötje hätte mit diesem »Versprechen«, das sich immer schon »verspricht«, zu schaffen – ein hingehaltener »Ring«, mit dem Brötje, ohne es zu wissen, die Treue und das Versprechen des Bildes verband. Für mich aber bleibt es auch ein Ereignis, ein Lektüre-Ereignis, weil Brötje eine vollkommen unerwartete Entdeckung war und ist. Auf eine etwas bestimmtere Weise verstehe ich jetzt besser, was Theodor Hetzer damals gemeint haben könnte als er die frühen Portraitdarstellungen Dürers – zu denen eben auch Elsbeth Tucher gehört – „ohne Schwierigkeiten“ in den Zusammenhang mit „Heiligen“ stellte: „Eine solche Verbindung von einzelnen zeitgenössischen Menschen zum Heiligen, zur bewegten großen Phantasiegestaltung“, schrieb er dort, „gibt dem Individuum eine neue Bedeutung, stellt es in ein überindividuelles Geschehen.“ Und: „Es ist, als sei der Geist wie ein Dämon in den Körper des Menschen gefahren. Wie etwas Übermächtiges wühlt und arbeitet und drängt er in den Körpern.“ – Diese Passage leitete der früh am Bodensee verstorbene Hetzer wie ganz selbstverständlich mit den Worten ein: „So ist eines sofort gewiß...“ (1957b, 27) Als „Einsichten“ hatte Hetzer die Resultate seiner intensiven Bildwahrnehmungen bezeichnet. Brötjes Phänomenanalyse des Tucher-Gemäldes geht diesem Wühlen, Arbeiten und Drängen im Untergrund und im Detail dann erstmals wirklich nach.

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IX. [...] »Ach, gebt euch doch damit nicht ab,« sagte der Greis. »Das habe ich hingeschmiert, um eine kleine Theorie zum Portrait zu studieren. Dieser Text bringt nicht allzu viel. Hier seht ihr meine ersten Versuche,« sprach er weiter und wies auf hinreißende Titel und Entwürfe, die rund um den Schreibtisch verstreut waren. Bei diesen Worten suchte der junge Mann, verblüfft über die so konsequente Nichtbeachtung solcher Manuskripte, den versprochenen Meistertext, ohne ihn jedoch entdecken zu können. »Nun hier ist er!« sagte der alte Mann, dessen Haar ein wenig zerzaust war; sein Gesicht flammte in übernatürlicher Exaltation und seine Augen funkelten. »Haha,« rief er aus, »so viel hermeneutische Vollkommenheit habt ihr nicht erwartet, was!« Mein Text hat alles, jedes Detail und jede Schraffur im Bild durchdrungen. Jeder Satz ist wie ein Stück Haut des Bildes. Habe ich nicht ausgezeichnet jede Linie im Werk in meiner Sprache getroffen und erweckt. Ihr sucht die Analyse. Ich habe sie zunichte gemacht. Alles ist stattdessen evident. Hier habe ich jede Spur der Bedeutung verfolgt, die in der Erscheinung des Bildes zu so restloser Klarheit gebracht ist. Alles hat sich zur Gänze enthüllt und ist endlich im Erschließungsprozess zur ‚Einlösung’ gekommen. Sind wir es doch, die ‚an der Wirklichkeit des Bildes von uns her ein alldurchdringendes und –umfassendes Andere in das Anwesen eines unbegreiflichen Scheinens einberufen...’. Mein Text ist wie das Protokoll dieser ‚einverlangten Wahrnehmung’. Darum habe ich die letzten 31 Jahre hier im Schreibzimmer verbracht.« »Wie es schon der alte Theodor Hetzer vermutet hatte: ‚... nicht einem Spiel wohnen wir bei, sondern einer Verkündigung, die uns unmittelbar angeht’. Mein Manuskript weiß davon zu berichten. Denn ich habe der ‚Unausweichlichkeit’ und ‚existentiellen Verbindlichkeit des Werkes standgehalten’ – in „innerer Zuständigkeit“ und ‚spontanem Einvernehmen’ habe ich alles Sehgeschehen ‚eingelöst’ und aufgeschrieben«, rief der Greis. »Denn ihr werdet gleich sehen: ‚Nicht wir verhandeln uns vor den Werken, sondern diese verhandeln uns in dem, was wir essentiell sind’.« »Gleich werdet ihr es lesen, seht her, das ist mein großartigster Text.« Der Greis griff in eine Schublade aus Eichenholz und zerrte aufgeregt ein dickes Manuskript hervor. Hastig schlug er es auf, um sein vollkommenes Meisterwerk den Anwesenden nun endlich

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(BRÖTJE     2001,  142/     2012,  75/         1990,  46,  10,     142/     HETZER  1957a,     128/       BRÖTJE   1990,  23/   2012,  10/       1990,  40)  

doch nicht länger vorzuenthalten. Als er den mächtigen Text aufschlug, sah man der Arbeit ihre fein säuberliche und unendlich akribische Sorgfalt schon an. Und so beugten sich die Besucher neugierig über das, was ihnen nun schließlich die erhoffte endgültige Einsicht bringen sollte. »Können Sie etwas lesen und seht ihr etwas?« fragte der junge Mann, indem er sich der ausgelegten Schrift näher zuwandte. [...]

Im Jahre 1991 vollendete Michael Brötje eine wahre Herkulesaufgabe. Auf 146 Seiten widmete er sich dem nachweislich extrem komplexen Stich Melencolia I von Albrecht Dürer. In diesem Text, der wohl ein unbekanntes Meisterwerk ist, zeichnete er, so gut wie ohne Fußnoten und jenseits jeder Forschungsliteratur, ausschließlich seine Blick- und Deutungsoperationen minutiös auf. Es lohnt sich unbedingt, das Ergebnis dieser protokollierten Selbstbeobachtung genauer in den Blick zu nehmen. Zweifellos bildet diese Abhandlung den Höhepunkt einer zum Äußersten getriebenen, akribischen Studie zu einem phänomenolo   gischen Sehen, das ganz »autonom« und von allem bild„Nur  einem  solchen  »ab-­‐ externen Faktoren enthoben vor sich hin operiert. Genau soluten«,  also  losgelös-­‐ ten  Sehen,  das  die  Dinge   genommen geht es darum, unmissverständlich vorzufühnicht  in  Zusammenhän-­‐ ren, dass dieses Dürer-Bild dem intuitiven Sehen „mitge  des  Gebrauchs  ein-­‐ nichten“ rätselhaft sei, sondern, dass es sich „vielmehr ordnen  will,  offenbaren   um ein szenisches Gefüge von geradezu überwältigender sie  ihre  Bedeutsamkeit.“   Evidenz des So-und-nicht-anders-sein-Könnens“ hande(LIESBROCK  2000,  18)   le. (BRÖTJE 2001, 157)

(BÜCHSEL  2010,   59ff.  /199ff.)  

An einem labyrinthischen Werk größter Rätselhaftigkeit soll also überraschender Weise „absolute »Selbstverständlichkeit«“ (EBD.) demonstriert werden. Schon der junge Erwin Panofsky hatte sich ja zusammen mit dem zwei Jahre älteren Fritz Saxl in Hamburg im Jahre 1923 an einer groß angelegten typengeschichtlichen Deutung versucht – und es sieht seit langem ganz so aus, als sei das „Exemplum einer ikonographisch-ikonologischen Untersuchung“, das die beiden belesenen Gelehrten geben wollten, grandios an ihrem eigenen „überbordenden“ Anspruch gescheitert ist. Bekanntlich hatte Heinrich Wölfflin, einer von Panofskys berühmten Hochschullehrern, in diesem Zusammenhang sehr schnell davon gesprochen, dass hier ein ausgeprägter Hang zur Intellektualisierung ein Verstehen eher verhindern könne. Dingbedeutungen zu »kennen« sei das Eine. „Doch all das sind äußere Dinge, die mit dem Bildwert des Stiches nichts zu tun haben“, hatte er kritisch

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eingeräumt. In Gegenzug hatte Wölfflin seinerseits stattdessen ausdrücklich auf die Evidenz der disharmonischen und „dissoluten Komposition“ der Melencolia hingewiesen. (1905, 218ff.) „Bekanntlich  gehen  die  Erklärungen  der  »Melancholie«  Dürers  weit  auseinander,  es  ist  ge-­‐ radezu   Entgegengesetztes   aus   ihr   herausgelesen   worden,   das   hängt   aber   nicht   mit   dieser   Schwierigkeit   der   äußerlichen   Diagnose   zusammen,   sondern   nur   mit   einer   mangelhaften   Auffassung  dessen,  was  da  ist  und  was  deutlich  genug  sprechen  sollte.“     (WÖLFFLIN  1923,  175)  

Panofsky und Saxl suchten dagegen den Schlüssel zur endgültigen Erklärung der Dürer Arbeit in den zahllosen Gegenständen, die auf dem Stich zu sehen sind. Die ikonographische Dechiffrierung des Bildinventars in seinen verschiedenen symbolischen Bedeutungstraditionen sollte dabei den Durchbruch zum »Sinn« des Blattes bringen. Dies hier zu erwähnen ist kein Selbstzweck, sondern hat mit dem Versuch, den Michael Brötje unternahm, einiges zu tun. Während nämlich Panofsky ganz intellektuell eine Kettenreaktion symbolischer Dingbedeutungen zusammendachte, sah Brötje »überphänomenologische« Verlaufsfiguren, die sich als Striche, Linien und Eigenformen durch die Dingwelt des Bildes hindurchziehen. In beiden Fällen wird »Sinn« und »Bedeutung« an Zeichen festgemacht. Für den einen sind es symbolische Zeichen, für den anderen ist es das sich zeichenhaft fügende Sichtbare im Bildfeld. Dabei gehen beide streng von der Annahme einer „festen Verbindung zwischen Zeichen und Bedeutung“ aus. Der eine im Sinne einer symbolischen Kodifizierung und Repräsentation, der andere von graphischen Phänomen-„Aufschließun   gen“, deren intuitive Bedeutungen ebenfalls unzweifelhaft (BRÖTJE  2001,  23)   sein sollten.   Was dabei zunächst einmal vom Panofsky unterschätzt worden war, hatte Paul de Man „deflection – die Abbiegung“ genannt. Diese habe eine „strukturelle Ähnlichkeit mit der Freud’schen Verschiebung“. Deflection sei eine „»geringfügige Abweichung oder [ein] unwillkürlicher Irrtum«“, wodurch sich die Bedeutung eines Zeichens permanent verschiebe. Sie bewirke eine „Subversion der festen Verbindung zwischen Zeichen und Bedeutung“ und sei unvermeidlich immer schon im Werk „am Werk“. In der Konsequenz wurde bekanntlich dementsprechend festgestellt, dass es gar keine »Bedeutung« im strikten Sinne geben könne. Was es aber gäbe, wären »Deutungen« eines Zeichens. Diese Deutung des Zeichens „ist nicht

  (DE  MAN  1979b,  37f.;     mit  Bezug  auf  den   Philosophen  Charles   Sander  Peirce  und   den  amerikanischen   Literaturtheoretiker   Kenneth  Burke,  der   bis  1961  am  Benning-­‐ ton  Collage  lehrte.)  

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eine Bedeutung, sondern ein anderes Zeichen; es ist eine Lektüre und keine Dekodierung; und diese Lektüre muss ihrerseits mit einem weiteren Zeichen gedeutet werden und so ad infinitum“ (DE MAN 1979b, 38). Panofsky und Saxl konnten zwar ikonographische Reihen und symbolische Bedeutungs-Umschreibungen im Dürer Werk identifizieren. Phänomene von Deflection und ein infinites Weiterverweisens der Zeichen, die miteinander in immer neue Beziehungen treten können, wollten sie nicht gelten lassen. Man könnte nun sogar sagen, Brötjes Sehen basiere dagegen zunächst einmal gerade auf einer Verkettung und Verschiebung von Bildzeichen. Etwa eine »Sanduhr« im Bild wird »seh-logisch« im visuellen Zeichenumfeld »Seins-transformatorisch« als ein Durchleitungsphänomen »gedeutet«. Die symbolische »Bedeutung« der Sanduhr ist dagegen völlig unerheblich. Brötje hörte nicht auf, dies zu betonen. Allerdings blieb es nicht dabei, sondern in einem zweiten Schritt wurde dann – wie wir sehen werden – diese Seh-Deutung doch auch wieder in eine eindeutige quasi kunstreligiöse Bedeutung übersetzt. Am Ende war der Autor vollkommen davon überzeugt, die „absolute Selbstverständlichkeit“ der Melencolia demonstriert zu haben. Für ihn muss es dabei entweder eine unglaubliche Nötigung gewesen sein, einen Text verfassen zu müssen, der streng genommen ja gar nicht nötig wäre. Alles läge dem intuitiven Verstehen ja bereits auf der Hand. Die aufwändige Texterei wäre nichts anderes als Eulen nach Athen zu tragen. Oder aber es könnte auch so gewesen sein, dass der Verfasser seinen zähen Text trotz allem ganz befreit angegangen war. Schließlich hätte er so seine Berufung gefunden. Denn: „[W]ie  anders  könnte  die  Überflüssigkeit  der  Interpretation  nachgewie-­‐ sen  werden  als  auf  diesem  interpretativen  Weg?“  (BRÖTJE  2001,  160)  

Die Notwendigkeit, den Aufsatz zu verfassen, um damit schließlich dessen Unnötigkeit unter Beweis zu stellen, könnte ihn aus einer ernsten »melancholisch-apathischen« Verfassung befreit haben. Durch das Schreiben hätte eine „gleichsam zur Untätigkeit verurteilte[ ] Energie“ schöpferisch befreiend in den Text einfließen können. Mit der Formulierung, es gäbe eine „zur Untätigkeit verurteilte

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Energie“, hatten Panofsky und Saxl (1923, 72) damals die melancholische Stimmung und damit den Ausdruck der Hauptfigur in Dürers Stich zu beschreiben versucht. In dieser Hinsicht könnte diese Figur Brötje sogar am Ende gleichen. – So wie auch gleich der Inhaltsdeuter und Typen-Geschichtler Panofsky im Bild zu finden wäre. Während der eine noch sinnierend dasäße, ob er nun schreiben solle, was er intuitiv gesehen hat, würde die Attributfigur des kleinen Putto für den fleißigen Ikonographen stehen, der weder phänomenologisch hinzusehen braucht, noch von methodologischen Selbstzweifeln geplagt erscheint. So stünden die beiden Figuren in Dürers Stich plötzlich auch noch für die methodologischen Temperamente zweier Kunsthistoriker ein – metonymisch (bedeutungsverschiebend und den Sinn berührend) freilich, nicht strikt symbolisch. Aber dazu hatte schon Paul de Man bemerkt, dass alle Symbole in Wahrheit eben nur Metonymien seien. Und im Übrigen hatten auch schon Panofsky und Saxl die Melencolia I als »Selbstportrait« Dürers und seines eigenen schöpferischen Genius gedeutet. Aber lassen wir diese Spielchen... Denn wo soll man bei der Betrachtung des detailüberfüllten Bildes die Anschauung eigentlich ansetzen lassen? An welcher »magnetischen« Stelle und an welchem Ort im Bild rastet ein ruheloser Blick zuerst oder schließlich als „Eingangsbefindung“ ein, um von dort aus der rein werkimmanenten »Erzählung« auf dem Bildfeld auf die Spur zu kommen? – Eine berechtigte Frage offenbar. Die Antwort erhalte Ich vom Bild aus dadurch, dass mir die Wandfläche rechts oben als ein Feld begegnet, das gegenüber all dem situierten Gegenständlich-Weltlichen die höchste Affinität zur Bildebene besitzt. In diesem Feld zieht sich der Bildgrund sichtbar werdend in eine Wandfläche zurück – könnte man wieder versucht sein zu sagen. In der Bildlogik Brötjes muss diese „primäre Seinsverdichtung in bzw. zur Ebene“ damit auch konsequenter Weise der Ausgangspunkt der ersten Bilderfahrung sein. (BRÖTJE 2001, 161) Für Panofsky wäre dies mit Sicherheit die bedeutungsloseste Stelle des ganzen Stichs überhaupt gewesen. Eine reine Frontalität und Körnungen der Oberfläche, die mehr noch die Spuren des Stichelwerkzeugs als einen Mauerputz zeigt, bildet nur ein Störungsbild für diejenigen, die ikonographisch nach Codes und einem »mutierten«, aber weiterlebenden Typus der Melancholie fahnden.

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       Abb.:  Albrecht  Dürer:  Melencolia  I,  1514,            24,0  x  18,8  cm,  Kupferstich.  

Alleine aus diesem Grund schon akzeptiere ich in meiner „Einstimmung“ diesen Einstieg ins Bild. Später, wenn es möglich gewesen sein sollte, Brötjes Dürer-Text zu Ende gelesen zu haben, später und spätestens dann wird sich ja sosowieso alles als genauso richtig wie unnötig erweisen! So hatte Brötje es zumindest vorhergesehen und vorausgesagt. Denn rein intuitiv ist alles schon passiert; das hier zu Lesende ist nur nachträgliche Vergewisserung. Bleibe ich also dabei, oben rechts im Strich-Nebel der Wandebene zu beginnen, dann sehe ich das Gesims ganz oben am Bildrand folgerichtig als „Verdichtung“ und „Aufstauung“ dieser Bildebene. Diese „Emporstaffelung“ gegen die obere Bildgrenze veranlasst als Gegenreaktion meine Blicksenkung zu »Sanduhr« und »Glocke«. (EBD., 163f.)

Da die ringförmige Glockenbefestigung den Blick zunächst noch eher ans Gesims binde, werde nun zuerst der „Stundenzeiger“ mit dem Ziffernbogen für das Sehverstehen aktuell und unverzichtbar „weisungsmaßgeblich“. Denn:   „Dieser   Ziffernbogen   wird   erscheinungsrelational   zur   Umgebung   nicht   als   feststehende,   starre   Form   gesehen;   seine   Auflagerung   auf   den  seitlichen  Kugeln  bedingt  vielmehr  den  Eindruck,  dass  er  sich   unter   den   akuten   »Weisungsdruck«   des   Zeigers   zwischen   diesen   Widerlagern   »absenkt«,   während   sich   reziprok   seine   seitlichen   Enden  »aufwärtsbiegen«.“  (EBD.,  164f.)  

So also! Aber diese „Einsenkung“ der Zeigerverdickung in die Bogen-„Mulde“ könnte nur eine verwirrte Einbildung sein. Wäre da nicht dennoch diese denkwürdige Seherfahrung: Denn um herauszufinden, ob hier jemand bereits schon phantasiert, sollte man nun weiter prüfen, ob sich diese Anmutung der „Einsenkung“ in der »Sanduhr« – „im inneren des Gehäuses einlöst“ und so „fortgeschrieben“ wird. (EBD., 165) Wenn »ja«, dann »ja«... ...  Einsenkung  als  „Vorgang  einer  »Befruchtung«  [...]  Einsenkung  eines   Keims...“  

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„...   die   aufnehmende   Muldenform   des   Ziffernbogens   wird   ver-­‐ stärkt   wiederholt   in   der   Bergungsform   der   oberen   Glasschalung.   Nach   deren   figurativer   Umdrehung   zur   unteren   Glasschalung   kehrt   in  dieser  die  Niedersenkung  des  Zeiger-­‐Keims  wieder  als  Niederfallen   des  Sandstrahls.  Die  daraus  bedingte  Sandanhäufung  wird  wiederum   in   ihrer   Formbildung   durch   den   Rundansatz   des   Flügels   aufgenom-­‐ men  [...]  und  aus  dem  Gehäuse  »herausgelöst«  ...“  (EBD.)  

Kein referierender Text kann hier die dichte Beschreibung in Brötjes Original ersetzen. Es geht um eine großartige Ekstase der Beobachtung. Allerdings muss noch herausgefunden werden, an welchem Ort der Kunstwissenschaft sie ihren würdigen Platz finden könnte. Aus diesem Grund müssen diese Protokolle einer exorbitanten Seherfahrung hier erst noch einmal nachgelesen und vorgesprochen werden – in Maßen, portioniert und mit Unterbrechungen. Der produktive Exzess findet in den Schriften selbst statt. Er kann hier nur anklingen. Lässt man Brötjes Texte ganz und liest sie am Stück, entdeckt man aber unter anderem noch etwas anderes als die Intentionen ihres Autors. Es wird weniger eine eindeutige Affirmation von »Transzendenz« im und durch das Bild sichtbar, sondern man findet eben diesen unglaublichen Seh-Exzess selbst, der alle Aufmerksamkeit alleine auf sich zieht. In diesem Überschuss an Wahrnehmungsenergie wird alle angekündigte Transzendenzerfahrung erzeugt und zugleich auch wieder aufgeschoben. In der Maßlosigkeit des exzessiven Sehens läge so ungewollt eine besondere Gerechtigkeit gegenüber der Melencolia und den anderen Werken. Diese Gerechtigkeit kommt dadurch zustande, dass alle Bedeutungsfixierungen, die Brötjes Arbeiten anstrebten, durch ihre Überdrehung und Überstrapazierung im gleichen Moment auch schon wieder irritiert werden. Sie verwirren damit, was sie so leidenschaftlich bestätigen wollen. Das heißt: Die unglaubliche Qualität der Abhandlungen bestünde in Wahrheit darin, dass sie äußerst anspruchsvolle Anschauungserlebnisse bergen – und diese aber im gleichen Zug und im Laufe ihrer überspannten Entfaltung selbst unfreiwillig von einer romantischen Ironie heimgesucht werden. Brötjes Dürer-Ekphrasis »überwindet« sich so selbst durch ihre eigene exzessive Intensität. Und dennoch bleibt tatsächlich ein bestechender Rest – ein Überschuss und das Bauchgefühl, es sei dennoch etwas »getroffen« worden, was anders nicht hätte in Erscheinung treten können. Es bleibt ein paradoxes unüberzeugtes Überzeugtsein.

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Um diesen Zwischenraum zwischen ironischer Selbstüberwindung und ungläubiger Überzeugung geht es hier eigentlich. Brötjes Sehverlauf nimmt in der Zwischenzeit folgende Wendung: Die „Einsenkung der Zeigerverdichtung“ vom oberen Bildrand her bis zur Flügelspitze wäre somit „Anstoß“ einer figurativen Formentwicklung jenseits „bloßer Motividentifizierung“. Dann aber „spaltet“ sich der Flügel „vom Rundansatz her“ in zwei „Formverläufe“: Der linke verläuft steil nach unten, bis er vom Schenkel eines Zirkels „zerschnitten“ wird. Der rechte Formverlauf leite dagegen „direkt in das richtungsverlängernde Gewinde des Blätterkranzes über“. Der Flügel werde damit nicht primär in Bezug auf die Figur realisiert, zu der er für das wiedererkennende Sehen gehört. Vielmehr gehe die Flügelverhärtung von der »Sanduhr« ausgehend von oben nach unten in die Biegung des Lorbeerkranz über. (EBD., 167f.) „Was   sich   so   erschließt,   ist   die   genetische   Weiterentwicklung   des   vom   Gehäuse   [der   Sanduhr]  Entbundenen...“   „...   in   einen   sukzessiv   aufbrechenden   Gärungszustand   aus   gegeneinanderstoßenden,   energiegeladenen  Formvortrieben“.   „Zum  Seherlebnis  kommt  nicht  ein  [...]  fertiges  Gebinde  aus  geflochtenen  Zweigen,  dem   Haupt  hinzugefügt,  sondern  die  Wesensgesetzlichkeit  naturhaften  Werdens...“  (EBD.,  168)  

Wenn das Ich nicht die Form, sondern den Formtrieb und die „zu vollziehende Erscheinungsentfaltung“ selbst sehen soll, muss zunächst verhindert werden, dass das Auge auf das Gesicht fällt. Dies nun geschehe dadurch... usw.. Wir glauben es.... Denn über die Blickeinweisung der andern Flügelspitze rechts im Bild und „ohne überhaupt erst die Schädelwölbung nach unten zum Kopf zu ergänzen, versteht das Ich die Empor-Öffnung des Kranzes als bedeutungshafte Einforderung einer Oben-Ergänzung und sucht dementsprechend im Übersprung“... die Glocke! Sie „antworte[ ]“ auf die „Forderung“ der Emporweisung der Kranztriebe. (EBD., 169). Dazwischen befindet sich das noch unrelevante Zahlenquadrat. ... „Wir beschränken uns auf Weniges“. (WÖLFFLIN 1923, 175) Was mit meinem Blick nach oben in den Focus rückt, ist die Dreierkonstellation von „Quaste, Glocke und Seil“: „Trinitätsvorstellung in analogischer Form“, sagt Brötje dazu. (2001, 171) Was soll ich davon halten? Eine „Trinitätsvorstellung“ angesichts einer Quaste, einer Glocke und eines Seils? Soll ich zustimmen; war es mir schon evident gewesen? Oder ist alles nur

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Unfug; und einer unkontrollierten Ekstase geschuldet? Aber andererseits: Macht es eigentlich einen Unterschied, ob ich »Quaste« oder »hl. Geist« sage/sehe? Es bleibt eine signifikante Form – eine Form, die offensichtlich eine metonymische Verschiebung und Substitution auslösen kann. Ob ich vielleicht „Seil“ oder „Jesus“ sage, macht das einen Unterschied? Da solche metonymischen Verbindungen sowieso nicht von Dauer sind und auch keine Referenz haben, existieren sie wie sprunghafte freie Elektronen. Sehen wir also eine Trinität. Rein phänomenologisch ginge das in Ordnung.

Darüber hinaus »liest« sich mittig von oben nach unten eine Formabfolge vom Kreis der Aufhängung ganz oben zum Glockenoval zum Zahlenquadrat. Quaste, Glocke und Seil weisen vertikal je auf ihre eigene Weise auf dieses bis jetzt noch »übersprungene« magische Quadrat. Dass sich nun die Aufmerksamkeit auf dieses Feld (im Feld) zu konzentrieren habe, belege insbesondere die „Herabkunft“ des Seiles. Zwar führt es meinen Blick schräg weg zum äußeren Bildrand. Dabei berührt es aber das Zahlenfeld genau an seiner Spitze. Da das Seil an seinem Ende den Bildrand in den Blick rufe, »springe« das Auge sodann zurück auf den bildparallelen Rahmen des Quadrats. (EBD., 172) Nun ist es wohl so, dass magische Quadrate nicht für das intuitive Sehen gemacht sind. In Dürers Fall handelt es sich bekanntlich um das »unvergleichliche« Jupiterquadrat. Aber das spielt hier eigentlich keine Rolle; die Intuition »rät« wohl eher als dass sie rechnet. Die mathematischen und ikonographischen Qualitäten dieses ausgeklügelten Dings – die „Denkbefunde“ – kann ich getrost bei Seite lassen. Ich sehe es wohl eher als »Zitat« oder als „Stempel des Geistes“ an. (EBD., 176, 228) Genau in dieser Feststellung kann allerdings auch schon die einfache und eigentliche Erkenntnis liegen: Im selbstgesteckten Rahmen der mathematischen Logik verliert sich das »Ich« nur in eitlen Berechnungen. Für Brötje will mich dieses magische Quadrat nur in seiner materiellen „Total-Ordnung“ gefangen halten. (EBD.) Man könnte ergänzen: Es wäre die Visualisierung einer

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»Falle«, die das Bild mir zum Zweck der Selbsterkenntnis stellt. Ich soll mich wohlmöglich dabei beobachten, wie ich mich bei solcher »Selbstverabsolutierung« vom Wesentlichen ablenken lasse. – So wie die Ikonographen und Hermetiker, die im magischen Quadrat einen Sinn finden, der für das Bild als Ganzes keiner ist. Für Brötje dagegen bildet das Phänomen daher optisch zunächst eher ein „Gitter“ als eine Zahlentafel. Und das Auge suche daher einen Ausweg aus der intellektuellen Arretierung als nach Summenspielchen. Nach einem kurzen Hin und Her im Quadrat erfahre das Ich dann endlich einen solchen „Weisungszuspruch von außen“ – und zwar „durch den zweiten Flügel“. Denn was auch immer es mit diesem Zahlenquadrat auf sich haben mag – dem unmittelbaren Verstehen ist es ja nur eine listige akademische Ablenkung –, alles endet irgendwann mit einer »Eins«. Diese I befindet sich ganz unten rechts als letzte Ziffer im Zahlengitter. »Hinter« der 15 und der folgenden 14, dem Entstehungsjahr dieses Stichs (1514), scheint nun die I regelrecht auf der Flügelspitze zu stehen. Von hier zeige ein »Federweg« dem Blick die Bewegung nach draußen und weg vom Quadrat. Die nun darauf folgende Bewegung kann man sich bewusst machen, wenn man bedenkt, dass der betreffende »Flügel« als „eine von der Figur abgehobene Figuration“ erscheint. Visuell, sagt uns der Autor, »hat« die Figur diesen Flügel gar nicht. In der Wahrnehmung werde er ihr nicht „organisch“ zugeordnet. Deswegen könne das Ich ihn auch autonom nachvollziehen. (EBD., 177) Der „folgende Niederfall des Flügels“ kommt nicht so schnell und einfach, wie es hier vielleicht den Anschein erweckt. Ich habe gerade acht Seiten übersprungen und unerwähnt gelassen. Ich habe auch vergessen, was dort gestanden hat und was alles im kleinteilig-mikroskopischen Gewusel des Gestrichels geschehen war. Es war zu viel; und es wurde sich zu sehr hineingesteigert. War Ich zum Beispiel die I in der Gittertafel gewesen? „Mithin begegnet die I dem Ich als Urinkarnation.“ (EBD., 181) Ich darf zudem nicht vergessen zu berichten: Das Bild hatte in der Zwischenzeit durch Brötje auch zu mir gesprochen: „»Deine   Körperzuhaltung   auf   die   Tafel«“,   hatte   es   gesagt,   „»ist   nicht   maßgeblich,  hat  keinen  substantiellen  Geltungsanspruch  –  Du  bist  in   Relation  zum  Absoluten  existenzwertig  ein  Nichts.«“  (EBD.,  180)  

So werde das Ich in dieser Degradierung in den Feder-Schüben denn auch „niedergerissen“. (EBD.)

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Die Vorstellung, dass das Bild in dieser Weise »spricht«, ist im Übrigen für traditionelle Kunsthistoriker zwar eine Zumutung, aber ganz aus der Welt ist dies dennoch nicht: Normalerweise geht man davon aus, dass in Bildern Geschichten erzählt werden, die als storia und historia von außen unbeteiligt angeschaut werden können. Ein Bild wirkt vielleicht, affiziert, hat Effekte, schockt oder kann überwältigen, es besitzt eine Appellstruktur, Leerstellen und einen impliziten Betrachter, es teilt mir etwas mit und kann mich betroffen machen etc.. Ein Bild, dass »Ich« sagt, gibt es aber im allgemeinen ebenso wenig wie ein ausdrücklich aufgerufenes Betrachter-»Du«. Nun kann es sein, dass Brötje der Melencolia nur die Worte in den Mund gelegt hat, um das besonders Drastische einer Niedereißung zusätzlich zu theatralisieren. Dann wäre die Passage – unabhängig von ihrer Nachvollziehbarkeit – relativ banal. Allerdings könnte es auch sein, dass wir es bei der Wir  kennen  den  figura-­‐Begriff     I auf dem Flügel und der damit zusammenhängenund  das  »Sprechen  des  Bildes«   den »Ansprache« mit einer besonderen figura zu tun selbst  bereits  von  Georges  Didi-­‐ haben, die eben nicht erzählt, sondern »ruft«. Sie HUBERMAN  (1990a)  und  Louis     stört hier nicht die Repräsentation, sondern sie MARIN  (1981).   haust in dieser und ruft über das nur Wiedererkannte hinaus den Betrachter mit einem »Du« direkt an. Das Interessante an dieser Konstellation könnte sein, dass das intuitive phänomenologische Sehen im Dargestellten immer schon die figura realisiert hätte. Diese figura im Dargestellten würde nicht als Bezeichnung oder Repräsentation funktionieren, sondern als Erlebnis und Ereignis einer Ansprache, die kein Panofsky jemals hätte hören können. Ebensowenig müsste man aber auch Poststrukturalist, wie Louis Marin oder sein Schüler Didi-Huberman sein, um die figura wahrzunehmen. Schon Kurt Bauch hatte nämlich mitten im vermeintlichen Deutschen »Essentialismus« und aus dem Bauch heraus zu Dürers Meisterstichen bemerkt, „alles“ sei dort „von einer gegenständlichen Eindringlichkeit, von einer Dichte des Stofflichen, von einer Tiefe des Mitempfindens für das Ding im Einzelnen, dass unser verwöhntes Auge erst allmählich die Fülle der Formen“ – (die figura in der Figur?) erkenne. Denn:  „Wir  müssen  ihnen  lange  und  nahe  folgen,  um  zu  sehen,  was  alles  darin  ist.  [...]  Alle   diese   Dinge   sind   ganz   erfüllt.“   Die   „Dichte   und   Tiefe“   der   Stiche   „beruht   eben   auf   dem   brei-­‐ ten,  weiten  Schatz  unmittelbarer  Anschauung...“     „Nur  so  gesehen,  wird  die  besondere  Vereinigung  von  Genauigkeit  und  Lebendigkeit  deut-­‐ lich.“  (BAUCH  1952,  197f.)    

 

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Also gehen wir einmal davon aus, »Ich« und »Du« – wir – seien am Flügel entlang heruntergerissen worden; fast so tief bis wir am Bildrand entlang ein zweites Mal auf die Ziffern des Entstehungsdatums, 1514, den Selbstausweis des Bildes, gestoßen wären. Angenommen dies sei jetzt unsere „fühlbare Gewissheit“ im „ästhetischen Erfassen“. (BERGER 1958, 37f.) Was wäre die Konsequenz dieser ganz in Weiß gehaltenen, lichten „Absturzbewegung“ vom Zahlenquadrat in die hellen Federn hinunter? Das Ich hätte zunächst einmal alle eigensinnigen Phänomene, die sich »vor« der Hauswand-Ebene abspielten, abrupt hinter sich lassen müssen: Vom ganz oben die Einsenkungsbewegung, dann vermittelt durch die Sanduhr über die linke Flügelbiegung und die Kranztriebe zu Quaste, Glocke und Seil („Trinitätsbezeugung“), bis zur kurzzeitigen Festlegung auf das Quadrat. Alles das läge hinter mir, wenn es denn so wäre. Fragt man nach: „Mit welchem Recht aber identifizieren wir uns“ mit dem Schicksal dieser I auf dem Flügel? Denn schließlich handelt es sich bloß um eine Zahl in einem Quadrat, das von einem Flügel berührt wird. „Doch das stimmt nicht ganz“, denn „durch eine Folge geheimer Analogien, die jeder Verkörperung unzugänglich sind“, verleiht Dürer dem Phänomen einen anderen Charakter. (BERGER 1958, 335f.11) Im Jahre 1958 hatte René Berger, der unangepasste »Seiteneinsteiger« in die Kunstgeschichte, beschrieben, wie es dazu kommt, dass im und durch das Bild etwas „allmählich“ aufhört nur etwas Dargestelltes zu sein und sich zu etwas Anderem wandelt. – Eben durch „geheime Analogien“ zum Beispiel. Abgesehen von einem kurzen Wikipedia-Eintrag stößt man auf René Berger heute nur in den Angebotseinträgen antiquarischer Bücher. Dort sind Schriften des Autors für ein paar Euro zu haben. Dabei war er auch so ein Pionier der »ästhetischen Erfahrung«, der schon „eine neue Disziplin im Entstehen“ sah: „Von den Kunstwerken ausgehend“, „nehme sie sich vor, die ästhetische Erkenntnis auf den ihr eigenen Wert zu gründen“. Berger wollte diese neue Disziplin noch „angewandte Ästhetik“ nennen und versprach sich von ihr die Aufforderung, „die Betonung mehr auf das Leben der Formen als auf ihre zeitliche Abfolge [gemeint war die Stilgeschichte,] zu legen“. Dies bedürfe allerdings neben der „richtigen Intuition“ der „Einführung und der 11

Das  Zitat  ist  auf  Dürer  hin  abgewandelt,  (js).  René  Berger  spricht  –  sehr  lesenswert  –   in  sinnanalogen  Passagen  von  der  „Vermenschlichung“  und  einer  inneren  Leidensfähig-­‐ keit,  die  sich  „durch  eine  Folge  geheimer  Analogien...“  in  van  Goghs  Kirche  von  Auvers  zei-­‐ ge.  (1958,  335ff.)

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Übung“. (1958, 14ff./115) Daher auch Bergers eher populärwissenschaftlicher und pragmatischer Anspruch, der wenig mit den Exerzitien des »Guck-Mönchs« Brötje zu tun hatte. Das Leben der Formen also! In diesem Sehmodus und als großer Brötje-Adept wird nun klar, dass nach „der Herausreißung“ und dem Niederfahren am Flügel eine Neuausrichtung des Blicks erfolgen muss: So bleibe nur als „Konsequenz, die eigene »Verwerfung« in eine existentielle Innen-Befolgung“ auf die Sitzfigur „umzuwenden“: Denn  der  „schwermütig-­‐gedrückte  Zustand  der  Sitzfigur  wird  intuitiv  verstanden  als  Aus-­‐ drucksübersetzung  der  eigenen  Seinswiderfahrnis...“  (BRÖTJE  2012,  185f.)  

Es ist so, als ob die Figur im Bild nur da säße und nur so dasäße, wie sie dasitzt, weil der Melencolia-Stich mich bis jetzt nur »schwermütig« gemacht hätte. Durch die Anwesenheit der Sitzfigur hält er mir dies nun vor. Sie säße als Resultat so da, damit ich mich jetzt mit ihr identifizieren könnte. Bis jetzt wäre alles intuitiv richtig verstanden, weil sonst die Figur keinen Sinn machen würde? Eine interessante Logik! Die Figur säße eben dort, weil sie von all dem wüsste, d.h. weil sie das Zwischenfazit von dem wäre, was bisher über und seitlich von ihr und mit mir passiert wäre... Aber die Figur ist groß und viel- und kleinteilig. Man kann sie vielleicht kurz überschauen. Das hilft aber nicht weiter. Eine Neuausrichtung des Blicks braucht schnell einen neuen Fixpunkt. Die „Kopfabstützung“, die das Knie mit Ellenbogen und Hand bilden, bietet sich als „Selbstverankerungs“-Figur vielleicht an. An diesem Stützarm könnte das Ich sich wieder aufzurichten versuchen. Mein „Emporhalte-Willen“ werde so aktiviert, sagt uns Brötjes Text. Aber die Formation tauge nicht wirklich. Tatsächlich sei es nur eine „Zwischenbefindlichkeit“. (EBD., 186f.) Nach kurzer Orientierung sei es dagegen eine andere, „einschmiegende Empordrängung“, in die der Blick gezogen wird: die Figuration der Schulterpartie nämlich. Das bewusste Sehen weiß nichts von diesen Eindrücken. Dass die Intuition aber ausgerechnet diese „Öffnungsformation“ jetzt realisiere, hänge damit zusammen, dass dem Auge hier ein „Freiraum“ geboten werde. „Dazu“ – Brötje spricht hier von „Umschreibung“ – dazu würden die Haarsträhnen auf der Schulter“ in Gegenlesung zu ihrer Fallrichtung“ als eine nach oben zulaufende, „bewegte Positivform“ zusammengesehen. Hier könnte das Ich ganz behutsam wieder zum Haarkranz emporgeführt werden...

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... wäre da nicht eine „ausgleichende Gegenbefindung“: die „entgegen gerichtete Röhrenform“, die an der oberen Haarsträhne zwischen Schulter und Flügelansatz »herunterfließe«. (EBD., 190) Sachlich und motivisch sei diese plastische Formbildung nicht zu rechtfertigen, wird uns gesagt. So unnatürlich falle eben kein Stoff. Daher muss es sich um eine signifikante, „selbstbedeutsame“, Form handeln. Sie suggeriert einen optischen Gegenimpuls zu den sich noch oben sammelnden Haarsträhnen und lenkt auf das ovale Abschlussband des Schultertuchs. Dieses Samtband wird zur schneidenden Abgrenzung nach unten... (EBD., 193)

Die  Konzentration  auf  die  „Sinnbe-­‐ stimmung“  von  „Faltenfigur[en]“  und   „Formfigur[en]“.     (WINTER  1977,  66ff.)     „Jedes  motivische  Datum  […]  be-­‐ schreibt  für  das  Auge  immer  auch  eine   formale  Figuration,  die  sich  berufend   zur  Bildebene  verhält…“     (BRÖTJE  2001,  20)     „Das  besagt  doch  nur,  dass  dort,  wo     die  einen  ein  Zusammenspiel  bildneri-­‐ scher  Beziehungen  sehen,  die  anderen   [nur]  eine  Wiedergabe  des  Lebens  su-­‐ chen.  Dennoch  ist  es  dasselbe  Bild,     das  sie  vor  Augen  haben!  Wieder  an-­‐ dere  bilden  sich  ein,  man  wolle  sie    zum  Narren  halten...“   (BERGER  1958,  14)  

Es geht hier aber gar nicht um ein banales wahrnehmungspsychologisches runter und rauf oder ab und auf meiner Augenbewegungen. Angenommen ich habe diesen SehParcours immer schon im Sprint vollzogen, bevor er hier ausdauernd ins Gedächtnis gerufen werden muss: Falls dem in irgendeiner »Form« so sein sollte, erleben wir hier gerade den Eindruck einer »Zerrissenheit«. Denn das Bild „konstruier[e] mit den Mitteln empirischer Sichtbarkeit eine umfassendere Qualität...“ „...und uns ist vergönnt, diese [...] mit   zuempfinden, damit“ sie „die unsere werde“.   (BERGER 1958, 338; Zitatcollage) Bei Brötje ist es so: Die Tendenz zur Predigt korreliert mit der Potentialität der Formen, die er sieht. Je mehr in der Form auch eine Figuration, ein „Zusammenspiel bildnerischer Beziehungen“ oder ein Traum- und Trugbild aufscheinen kann, desto theologischer wird dementsprechend der Tonfall. Wenn der Blick ins Surreale gerissen zu werden droht, wird die beschreibende Stimme Brötjes anscheinend inquisitorischer. Irgendwie muss man an die „intuitiven Sehrelationen“ glauben, bevor man sie sieht. Zugleich hat man sie aber immer schon gesehen, auch wenn man noch nicht an sie glaubt.

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[...] »Können Sie etwas erkennen?« fragte der junge Mann, indem er sich der ausgelegten Schrift, die offensichtlich mit einer scharfen Abbildung in Originalgröße versehen war, noch näher zuwandte. »Nein. Und Sie?« »Ich auch nicht.« Der junge Gelehrte überlies den Greis seiner Ekstase und prüfte nach, ob es sich nicht vielleicht um eine unbekannte Sprache handeln könnte, die das Verstehen verhinderte. Er untersuchte den Text, indem er sich immer wieder auf ihn zu bückte, dann überprüfend zu der Abbildung hinüber sah und sich sodann wieder aufrichtete. »Ja, ja, es ist ein wahrhaftiger Text zum Bild«, rief der Greis aus, der den Sinn dieser gewissenhaften Prüfung missdeutete. »Hier könnt ihr endlich vom ‚Bedingungsverhältnis von Werk-Aufrichtung und Ich-Aufrichtung’ lesen. ‚Dies eben ist der Anspruch der Bilder an uns: Sie auszuhalten in ihrer schweigenden Wesentlichkeit, mit der sie uns in eine Wesentlichkeit unserer selbst einberufen’.« »Der alte Landsknecht hält uns zum Narren«, meinte der Junge, während er sich wieder über den dicht geschriebenen Text beugte. »Ich lese da nur fein säuberliche Zeilen über einen vollkommen verworrenen Stich...« »Und ich verworrene Zeilen über ein phänomenales Bild.« »Aber wir irren uns, seht doch!« Als sie die Passagen noch einmal lasen und näher an die Abbildung im Text herangingen, bemerkten sie etwas einleuchtendes: In der Mitte des Stichs ragte der akribisch wiedergegebene Arm eines großen Zirkels so vor, dass in ihm etwas wie eigenlebendig, ganz in Nuancen, hervorzustechen begann: ein großer ‚Nagel’ – ein ‚Stachel im Fleisch’. Zu Stein erstarrt vor Bewunderung verharrten sie vor dieser Figuration, die in einer unglaublichen ‚Metamorphose’ aus dem gegenständlichen Zirkel-Motiv – aus dem Nebel der bloßen Nachahmung – präzise herauszutreten begonnen hatte. Der Text des Greises beschrieb als eine geheimnisvolle Sehanweisung, was dem Jungen nun aufzugehen begann: Hinter der dargestellten Dingwelt waltetet die beeindruckende autonome Energetik der Formensprache. Dies wollten die Schriften, die hier ausgebreitet lagen, ans Licht bringen. »Es ist eine eigensinnige Form darin, jetzt erkenne ich sie auch«, sprudelte es aus dem Kunstgelehrte. »Seht doch auch die

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(BRÖTJE  1990,   41/  EBD.,  205)                       (DERS.,  2001,   202)  

(BRÖTJE  2012,   213)  

‚kapselartige’ Ausformung des Zirkelgriffs oben. Der Text hat doch wohl Recht, wenn er uns all diese Vorstellungen nahelegt«. Die beiden Besucher drehten sich spontan zum Greis um, da sie die Ekstase, in der er lebte, langsam zu begreifen begannen. »Er ist guten Glaubens«. »Gewiss mein Freund«, antwortete der Greis erwachend, »in der Kunst bedarf es des Glaubens, und man muss lange mit einem Werk leben, um eine solche Schöpfung unbewusst wie auch bewusst sehen und deuten zu können. Manche dieser Zonen und Schatten haben mich viele Jahre lang begleitet. Ich hatte sie stets vor Augen. – Aber seht hier wie der Blick vom Konzentrationspunkt, dem ‚Kugelgriff des Zirkels’ nun auf den Putto wechselt. Und seht doch wie sich dort ‚der Eindruck blinder, von dichtem Schleier überzogener Augäpfel durchsetzt’. [...]

Dann „stürzt der Blick von den Augenhöhlen herunter zum Mühlstein“. Dieses Mühlrad „ist als schrägansichtige Materie-Fläche die offenkundige Ablösungsgestalt der bildparallelen Wandfläche rechts oben“. Mit der Konzentration auf diese innerweltlich hineingewandte Kreisform des Mühlsteins, mit dieser „Wirklichkeitserschließung“ verliere ich nun aber meine „Sehzuhaltung auf die Ebene, die Wesensgestalt des Absoluten“. Das Rad »zieht« und dreht „den Blick aus der Gewahrhaltung der Ebene förmlich heraus.“ „Will das Ich“, so die Folge, dem „Sog“ des Rades einen antithetischen Widerstand „entgegenhalten“, so findet es diesen einzig in dem „kleinen Lichtfleck am hinteren Knie der Sitzfigur“. (EBD., 213f.) Dieser „materie-transzendierende“ Lichtfleck, diese offen gelassene Weiße des Trägergrundes, ist nicht Teil der „Körperform »Knie«“. Diese Anmutung ist vielmehr „zur Aussetzung“ gebracht“. Was das Sehen stattdessen wahrnimmt, ist die „Wiedereröffnung“ der „Erstsetzung eines Sinngrundes“, des „tragenden Grundes des Seienden“, der „Transzendenz“: das, was das zu sehend übersteigt, obwohl es

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ihm innewohnt. Was das Sehen wahrnimmt, ist wie das Bild „sich über-steigt“ – Und dies in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem verschlossenen »Buch«, „der Bibel“,... und durchkreuzt vom „Stachel im Fleisch“... (EBD., 215f./24/202; 2001, 12) Kann ich es jetzt sehen?

[...] »Können Sie etwas erkennen?« [...]

Ist das alles etwa so? „... dass das Kunstwerk sich vor unseren Augen erfüllt und wir uns in ihm erfüllen“ (BERGER 1958, 374) Oder sollte, wie Adorno des einmal formulierte, „der Druck erröten“ (1964, 108), weil Brötjes Schrift vielleicht so nah am Absurden wäre? – und dies, obwohl wir das wirklich absurd Erscheinende hier schon übersprungen haben... Das sukzessive Durchlaufen der Bildlandschaft – eigentlich ja ein einziger „Erlebnismoment“ – stellt sich für Brötje dar als das Drama und als der Konflikt zwischen Negation und Anerkennung von »Transzendenz«. Die ganzen am »Boden« ausgelegte Werkzeuge und Dinge verhandeln nur das Eine: Sie bieten „sich dem Sehen als Auslegungs-»Instrumente« an, über die ein jeweils anderes Übersetzungsverhältnis zwischen Ebene und Boden“, das heiße „zwischen Transzendenz und Welt“ erfolge. (BRÖTJE 2001, 218) Alles schiebt sich am unteren Rand entlang und verschiebt so meinen Blick weiter über das Holzbrettchen mit den Bohrlöchern vorbei auf die Schichtung der Nägel weiter hoch zur »Stufe« mit der Signatur AD und der entsprechenden Datierung. Ich habe vergessen, wie es von hier aus ganz genau weitergegangen war. Ich habe schon Vieles umgeschrieben und ausgeblendet. Ich habe den Leidensweg Christi, die ganze Passion, die

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umformuliert in eine »Faltensprache« erzählt werde im Umblättern der Seiten ausgelassen. Ich bin über diese Schrift Brötjes wie mit einem Rasenmäher gefahren und werde es weiter tun. So sind die meisten »Blüten« im Text nun Deutungskompost. Aber es ist wie bei einer Triage: Ich kümmere mich um die zu rettenden Teile. Die schwer verständlichen werden mit rhetorischen Sedativen beruhigt und behandelt und die hoffnungslosen Sätze überlasse ich sich selbst. Dabei reißt der Faden manchmal ab. Das Sinnganze Brötjes wird zur Collage. Aber sie ist mehr als nichts. Mit der Wiederaufnahme des Blicks kommt dann irgendwann auf alle Fälle von der »Stufe« aus, die zugleich auch ein Richtungszeiger ist, die längste Faltenwindung im Bild zur Aktualisierung. Für das intuitive Sehen muss diese fließende Passage paradiesisch sein.

Für mich umströmen diese Faltengebirge im Moment nur den großen weißen Lichtfleck am vorderen »Knie« der Sitzfigur. Denn eigentlich ist es gerade interessanter, noch einmal zur „Blendwirkung“ der Knielichter und zum »Hobelgriff« ganz unten am Bildrand zurückzukehren. Die Emporstreckung des »Griffs« unten und die Lichtreflexe oben verbinden sich durch zwei diagonal verlaufende Faltenbahnen oder „Strangbildungen“ mit „plastischer Prägnanz“. Dabei sei schon die Optik des »Handgriffs« selbst in seiner „Realfunktion“ von Dürer verunklärt worden. (BRÖTJE 2001, 218ff., 241) – Und auch der zu den Strängen geformte Faltenwurf sei kein zufälliger oder von der Beinhaltung der Figur her anatomisch begründbarer.

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Dabei spielt es keine Rolle, wie viele Vexierbilder und Gesichtsbildungen in den dazwischen liegenden Rockfalten auch noch entdeckt werden könnten. „Unausweichlich“ werde erst einmal der »Hobelgriff« „in seiner Endgabelung formal direkt in zwei helle Faltenstege des Gewandes fortgeschrieben, die sich nach oben in V-förmiger Weitung öffnen“. (EBD., 257) Diese „V-Öffnung“ behauptet sich „trotz ihrer Gewand-Bindung als ein formal selbständiger und darin der Ebene zugeordneter, ihr sich eintragender Spreizvorgang [...] – der Transzendenzzuhaltung“. Der „linke Randsteg der V-Öffnung“ werde dabei im Erreichen der Kniehöhe „umgebogen“, während der rechte Steg sich in die Auswölbung des Knies verliere. (EBD., 258f.)12 Aber was bedeutet mir dieser Zusammenhang nun eigentlich? Brötjes eigene ekstatische Wahrnehmung, die sich in den Faltenfluten abspielt, wollen wir lieber aus den schon erwähnten Gründen nur vorsichtig andeuten... ... „zur Erlebniseinlösung kommt“: „Zur-Welt-Kommen“; „schmerzhafte Zackenreißung“, entfuhr es dem Greis. „ständiges Entgleiten“; „Christi Aufschrei: »mein Gott, mein Gott...«; „»Hölle. Wo ist dein Sieg?«; „Selbst-Verlorenheit“ und „Opfertod“ usf.  ...     (BRÖTJE  2001,  257-­‐275/  Zitatsplitter)    

Wenn aber der V-förmige Zwischenraum wirklich eher eine Artikulation der Bildebene oder des Bildgrundes sein sollte, dann könnte man sinnvoller Weise festhalten: Sichtbar würde zunächst einmal eine „Seinsumwendung“: von der Weltzugewandtheit der Figur – von der Augenpartie bis zum »Gürtel«-Einschnitt – hin zu einer „Transzendenzzuhaltung“ im gesamten Untergewand. Diese Umwendung schüfe dort in der Gewandung „Freiraum für die Einberufung einer Gegen-Existenz“ zur Diesseitigkeit. (EBD., 258, 261)

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Das  Ganze  hat  wenig  bis  nichts  mit  dem  zu  tun,  wie  etwa  Gilles  Deleuze  poststruktura-­‐ listisch  über  »Falten«  schreibt  und  denkt:  „...  bereits  Gewebe  und  Kleidung  müssen  ihre   eigenen  Falten  von  der  gewohnten  Unterordnung  unter  den  endlichen  Körper  befreien.   [...]  ihn  vielmehr  mit  autonomen,  immer  vervielfältigbaren  Falten  um[geben].  [...]  Falten,   die  nicht  mehr  mit  dem  Körper  zu  erklären  sind,  sondern  mit  einem  geistigen  Abenteu-­‐ er“,  das  das  »Material«  „durchglühen  kann“.  (DELEUZE  1988,  197f.)   In  dieser  Hinsicht  werden  die  Falten  an  sich  schon  zur  Bekundung  und  zur  symbolischen   Form   für   „etwas   Drittes“.   Ihre   konkrete   Ausprägung   ist   nicht   von   Relevanz.   Das   macht   den  Unterschied  zur  Phänomenologie  Brötjes.    

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„[W]iderfährt dem subjektiven Erleben“ in diesem Phänomenzusammenhang die Konfrontation mit so etwas wie einer „Sinnachse“: Sie kreist um Weltzugewandtheit einerseits und Transzendenzzuhaltung andererseits? Und zieht sich vielleicht am Ende doch alles in einem „Dunkelloch“ oberhalb des Hobelgriffs wieder zusammen und droht wie in einem Schwarzen Loch zu verschwinden? (EBD., 263) Nach links versetzt von dem, was Brötje „Dunkelloch“ genannt hatte, kommt es zu einer regelrechten Stapelung des Bildinventars. Die Weisungsrichtung ergeht dieses Mal durch „Modellholz“ und „Hobelkasten“, die zusammen ein Dreieck freigeben. Darüber folgen dann Kugel, Hund und „Vieleck-Stein“. Allesamt Figurationen und Gebilde, die meinen Weg hinein ins Bild sperren. Zuerst die Steinkugel, die durch die Lichteinspiegelung zugleich auch schon wieder „entschwert“ und „dematerialisiert“ wird; dann stoße ich auf den „sperrenden Hund“: „Dessen Stellenbedeutung“, so heißt es nun, bestimme „sich aus seiner Vermittlungsfunktion“ zwischen Steinkugel-Leuchten und dem schon gesehenen Mühlrad. Nur in dieser Vermittlungsfunktion als solcher könne der Hund wahrgenommen werden; nicht als anatomisch „ganzheitliche Lebensgestalt“, sondern „eigentlich“ mute alles nur wie „verselbstständigte[ ] Knochen[ ]“ an – wie „totes Gebein“. Dann wieder eine Stufe, jetzt hinter dem Hund. Ein Hinübertreten ist nicht möglich, weil ein „Vieleck-Stein“ mir als „unerbittliche Sperre“ entgegentritt. Die scharfe vordere Diagonalkante ist der direkteste Ausweis der Sperrung des Bildraums gegen mich. Mit dieser Verdrängung dokumentiere das Vieleck „das Anwachsen der Materie selbst zu ihrer innerbildlichen Maximalgestalt“. (EBD., 273f./279) Damit zeige er sich als eine verstärkende „Übersetzung“ des Mühlsteins, der ja selbst als eine materielle Hereindrehung der Bildebene in die eigenbestimmte Dreidimensionalität der Bildwelt begriffen worden war.

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Für Brötje kommt es hier an dieser Diagonalkante des Vielecks zu einem „virtuelle[n] Zerschellen“. Dabei sei es so, dass ich dieses als probeweise Befreiung von meiner Körperbindung erfahre: meine „»Hinaushebung« auf die Meeresfläche“ und: eine „Schwebesuggestion“. (EBD., 280f.)

Dies komme überdies dadurch zustande, indem es zwischen Bildrand und schwarzer „Grenzfläche“ (gemeint ist die abgeschattete spitze Seite des Vielecks) wiederum eine V-förmige Öffnungsbewegung nach oben gibt... bis dieser schwarze Keil „plötzlich nach rechts in die blendend helle, dreieckige Oberkante des Steins umkippt“. (EBD., 284) Dies heiße: »Die ‚Macht der Finsternis‘ wird in den ‚Sieg des Lichts‘ gewendet!« (EBD.), so der Seher in völliger Aufgelöstheit.

Dabei sei es so, dass mein Blick sodann von der Spitze des „weißen Lichtkeils zur gleich hohen Sprosse der Leiter überspring[e]“... Von dort am Holm der Leiter entlang, der „in unmittelbarer Parallelität zur rechten Kante des Steins“ weiterleitet; dann »absteigend«, so dass die unteren SprossenStümmel wieder „die Ansichtsprägung des Steins in Geltung rufen“. Wobei nun beim Block als Ganzem eine „dominierende Schrägausrichtung nach rechts oben, in Konkordanz zur Leiter“ in Wirkung tritt. (EBD.) Der Vieleck-Stein war die größte Materie-Verdichtung gewesen, an dessen Vorderkante mein Ich visuell zu „zerschellen“ drohte. Ob nun auf der Steinfläche ein „Totenschädel“ sichtbar wird – „wie in der Fachliteratur mehrfach behauptet“ – ist »geschenkt«; dies ist für Brötje Nebensache. Wichtiger scheint etwas anderes: Die „Folgeverfügung“, dass das Ich über diese Schrägausrichtung des Steins letztlich „im Übergang zur Leiter“ die Blickbindung an den Stein auch wieder verlassen kann. In diesem Zug löse sich der Vieleckstein „auch geltungs-

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bestimmt auf[ ]“. Vielleicht daher dann doch der „Totenschädel“, der als Flächengravur den Stein selbst porös zu machen scheint. Aber vielleicht ist dieser auch zugleich „ein verzerrtes Spiegelbild des Ich“. (EBD., 284f.) „Die Leiter führt auf jenes weltjenseitige »Oben« zu.“ Wo sie endet, teil sich das ganze Bild mittig. Und gleichzeitig führt die Leiter auch zurück auf das Gesims. Zuerst auf den perspektivisch verkürzten Teil und dann auf den Frontalabschnitt, der eingangs schon als Verdichtung und „Randaufstauung“ des Bildgrunds erkannt worden war. »Darin bekundet sich für das Ich ein ‚Hoffnungszuspruch‘« (EBD., 286), rief er aus!

Diese perspektivische „Abwinkelung“ des Gesims „spricht einen Niederstoß gegen den Anstieg der Leiter aus“. Es wäre somit ein visuelles Gegenargument zum Aufstiegsversprechen – so etwas wie seine optische Widerlegung. Angesichts der momentanen Unauflösbarkeit dieser Situation sei es nun so: Statt einer weiteren Erörterung dieser Konstellation werde dem Ich nun zunächst die Waage als alternative Orientierung gegeben. Nur aus diesem spezifischen Gesamtzusammenhang „bedingt sich die besondere, transempirische Weisungsautorität der Waage.“ Klar ist, dass diese Waage verschiedene sachliche Unstimmigkeiten aufweist: ihre Aufhängung, die wohl wandmittig hätte sein müssen, die „Gewichtsbekundungen“ (ist alles ausgeglichen und »in der Waage« oder ist eine Schale schwerer?), ihre Länge gegenüber der Wandtiefe usw... Die Repräsentation geht so der so nicht auf. Des weiteren führt die »Waage« aber mit der vorderen Schale zurück „zur Ausgangsbefindung“ des Flügels. Dabei wird dem Auge nun klar, dass es die Waagschale gewesen war, die den Flügel in seine Jetzt-Position unter den Boden der Sanduhr »zurückgedrängt« hatte. (EBD., 286f.).

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Das alles muss man erst einmal so als „Erscheinungs»geschehnis«“ (DERS., 1990, 12) gesehen haben! Die Formen arbeiten! Mir fällt nun auch so etwas wie eine »Abkürzung« auf: Statt im bildumgreifenden Bogen zu sehen: von der Sanduhr über den Flügel, durch die Faltenlandschaft, zum Hobel und dann zum Vieleckstein die Leiter hinauf – statt also diesen Verlauf zu realisieren, geht es auch viel einfacher und schneller. Die Sanduhr und die Stadt, als der „fernliegende Wohnort der Menschen“, sind vermittelt und aufeinander bezogen über die Reihung der Schalenfolge der Waage. Dabei sei es so: Die tiefenräumliche Trennung zwischen Sanduhr und Stadt werde „zwar durchaus registriert, jedoch nicht als Widerspruch zu dieser Vermittlung“ wahrgenommen. (EBD., 290) Dazu trage auch wesentlich die strukturelle, flächenlogische Ähnlichkeit zwischen dem Haar des Puttos und der Häuseransammlung bei. „Dazu   dient   dem   Auge   als   Argument   die   virtuelle   Ver-­‐ gleichbarkeit   der   Erscheinungen   –   es   interpretiert   die   Häusersammlung   als   eine   Über-­‐Setzung   der   vielteiligen   Strudelmasse   des   Haares   in   eine   kristalline   Formstruk-­‐ tur.“  (EBD.,  290)  

Aber auch wenn der Blick die Häuser auf diesem Wege erreichen würde, wirke diese Stadt, als Bild im Bild, wie gerahmt und eingesperrt zwischen den Holmen und Sprossen der Leiter. So kommt es, dass gerade die Leiter nach »oben« für die Anschauung der Stadt nun eine gewisse „Ausweglosigkeit“ signalisiere. Dies könne auch nicht durch die beiden Baum bewachsenen Landzungen relativiert werden. Zwar ziehen diese den Blick nach links hinaus auf die ebene Fläche des Meeres mit dem horizontal gestreckten Lichtreflex und damit zurück zum linken

Bildrand. Aber „Erlösung“ finde das Ich über diese Blick-»Abkürzung« insgesamt nicht, so Brötjes Fazit dazu. Dennoch musste der Versuch – ich bin vom Bild dazu verleitet worden – aber gemacht werden, wenn auch nur um die Aussichtslosigkeit dieses Sehpfades zu erfahren. Als gescheiterter Versuch einer rein horizontalen Motivverknüpfung bliebe er implizierter und integraler Bestandteil meiner Bildwahrnehmung.

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Es sei nun „evident“, dass alle jetzt noch zur Erscheinung kommenden Aspekte wie die Meeresfläche, der Himmelsbogen und der Komet „die verschiedenen Stadien der gegenwendigen Seinsauflösung vorführen“. (Während demgegenüber ja die ersten Gegenstandsausprägungen vom Wandgrund ganz rechts und dem Zeiger oberhalb der Sanduhr ausgegangen sein sollen.) Der Komet dagegen sei es, der „in seiner allseitigen Ausstrahlung als fernste Erscheinung zugleich [wieder] die nächstmögliche Angleichungsstufe des Seienden an die Homogenität der Ebene“ zeige. (EBD., 289f.)

Zwei  Weisen  „des  Herab-­‐ kommens“...  zuerst  die   „Eingangsbestimmung“  der   »Sanduhr«,  des  „Zeitgehäu-­‐ ses“,  dann  die  des  »Licht-­‐ bogens«.  (BRÖTJE  2001,   295)  

»... der Moment der Endauflösung der Schöpfung im Absoluten.« (EBD., 290) »So ist es!« – Der alte Hermeneut geriet erneut in zunehmende Ekstase .

Dieser Bildgrund affine Komet wird halb umringt von einem hellen Bogen. Einerseits führe nun dieser Licht-Bogen zur Leiter. Dies mache aber keinen Sinn, sondern »aufgehen« tut das Ganze nur dann, wenn ich – anders herum – den Bogen vom Holm der Leiter her aktiviere. Dann erschaue das Ich eine „Abbiegung des Leiteranstiegs“, indem genau aus dem Holm der weiße Bogen »wächst«. Er biegt meinen Blick schlussendlich von der Leiter und der diesseitigen Mauerwand weg und führt ihn letztlich zur Bildecke oben links. Wahrscheinlich kann man dies nur dann sehen, wenn das Auge vorher den Bogen erst einmal probeweise von der Bildecke zur Leiter genommen hat. Erst danach entscheidet das intuitive Sehen wohl, welche Leserichtung was „bekundet“. Dort, wo der Bogen den Seitenholm der Leiter umzubiegen scheint – oder anders gesehen, dort, wo der Lichtbogen als Richtungsumkehr aus dem Holm herauszuwachsen scheint, an genau dieser Stelle befindet sich auch die vertikale Mittelachse des ganzen Bildes. Im oberen Viertel teilt sich das Bild hier (übrigens ähnlich wie schon bei Frau Tucher) in eine Hälfte hoher Gegenstandverdichtung und in eine zweite Hälfte, in der dagegen Welt-Diffusion vorherrscht. Brötje hatte schon darauf hingewiesen. Scheinbar geht es tatsächlich ganz entscheidend darum, dem Ich – mir – diese Richtungsumkehr mit allen bildnerischen Mitteln zu suggerieren. Und darum, dass das Bild auf diese „Vollzugserfüllung“

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(EBD., 292) – das heißt: weg von der Leiter und keinesfalls zurück zum Gesims-Auftakt – mit Nachdruck insistiert. Diese ansteigende „Abbiegung“ auf den oberen Bildrand zu „bekunde[ ]“ nun letztlich folgendes: Das „vom Ich gesuchte weltübergreifende Oben“ – das Bild»Transzendente«, könne, so der Autor kurz vor dem Ende, könne nun „heruntergegeben“ werden und „zur Offenbarung kommen“. In diesem Bogen, „in der Weise“, wie der Bogen sich gibt, wie ebenso in der Weise des Kometen mit seiner Ausstrahlung – in beidem zeige sich, dass Bogen und »Transzendenz« ineins zusammenfallen. (EBD., 295)

Aber was genau soll das heißen? Offenbar wird davon ausgegangen, dass sich das Weltübergreifende, Welt-»transzendierende« in der hellen Bogenführung manifestiere. Dieser Bogen führt zwar ganz nach oben zum Bildrand. Aber er überschreitet diesen als Form nicht (so wie es der Torbogen bei Caravaggios Enthauptung des Johannes tat). Sondern der Helligkeitsbogen »entbirgt« die »Transzendenz« in sich selbst. In der existentialen Logik Brötjes geschieht dies etwa, indem er die »Schatten«-Gravur nach außen an seinen Rand verdrängt und sich damit offen hält. Was in dieser „Offenhaltung“ dann zum Vorschein kommt, ist „die weiße Fläche des Blattes selber“. (EBD., 299f.) »Mithin   kehrt   hier   das   Bildmedium   aus   dem   Vollzug   seiner   Bildschöpfung   zu   seinem   Vorbildlichen  Zustand  zurück!«     Denn so der Greis weiter: »Der Ereignisort der Wiedereinberufung der Transzendenz ist zugleich der einer Rückkehr des Bildes zu sich selbst.« (EBD., 300)  

... So wie auch das »Flügeltier« in Wirklichkeit nicht seine Flügel ausspreizt, sondern zuallererst den Bildgrund selbst öffnet und offenhält – ins Offene hält – und zwar, indem sich der Grund zugleich zurückzieht, sobald er zu Tierflügeln und zur Schriftebene zu werden beginnt.

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„Die Zusage einer letztendlichen Hinwendung der Welt in Transzendenz offenbart“ (EBD., 295) sich also als freigeräumte Leere in den „Himmelszeichen“. Damit sind nun aber einmal mehr »Transzendenz« und Konkretion, »Transzendenz« und Selbstreferenz, »Transzendenz« und Selbstbezüglichkeit ein und dasselbe! Von außen betrachtet handelt es sich also um ein ganz unspektakuläres Ereignis und Ergebnis, das ein intuitives Sehen immer schon entschieden habe, bevor es zur Sprache kommt: Die Punkte, in denen das Bild besticht, heraussticht und sich überschreitet und übersteigt – daher vielleicht auch der Wink mit dem Zaunpfahl: der »Leiter«, auf Dürers Stich – die Punkte höchster Verweisung und Verbindung sind genau auch die absoluter Konkretion und Selbstidentität – Fremdreferenz und Selbstreferenz sind vielleicht nur zwei Seiten der selben Medaille. Alle haben es schon vorher gewusst; und dennoch mussten wir aus Sorge um die »Transzendenz« einen Herrn Brötje besuchen, um hierher zu gelangen: „Was das Wort »Grund« sagt, ist in ratio nicht enthalten.“ (FIGAL 2012, 151)

[...] »Können Sie etwas erkennen?« fragte der junge Mann noch einmal, nachdem er sich abschließend von den Dokumenten und Bildern erhoben hatte. »Nein. Und Sie?« »Ich auch nicht. Genauso viel Wirrwarr auf dem Bild wie im Text. – Vielleicht ein Erich von Däniken der Faltendeutung, was meint ihr?« »Wie das«, entfuhr es dem Greis. »Nun, meint ihr, es habe mich nicht unerhörte Mühen gekostet, hier wiederzugeben, was die Anschauung schon längst begriffen hatte? Aber weiter, weiter, mein Junge, lies dir meine Arbeit aufs Neue aufmerksam durch, und du wirst besser verstehen, was ich dir über die Art und Weise des Sehens gesagt habe. Lies und be-

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trachte was ‚das sich erlebend einlassende Ich ganz anderes sieht’. Schau doch, das ‚körperumhüllende Gewand’ der Figur hier. Zersplittert es nicht ‚in Wahrheit ständig in separate, sehr divergierende Sehanleitungs-Partien, die je für sich realisiert sein wollen und dabei offenkundig eine nicht-motivische Erkenntnissignifikanz beanspruchen, ohne dass man damit im geringsten weiß, worin diese besteht’?«, sprudelte es. »Und ist es nicht so, dass diese Partien das Zustandekommen und das Sehen eines ‚Kleides’ geradezu ‚bestreiten’ und stattdessen ‚Bezeugungsspuren einer anderen Existenz einschreiben’?« »Geht näher heran«, spornte der Greis aufgeregt die Anwesenden noch einmal an, »ihr werdet diese Arbeit dann viel besser sehen und in ihrer Vollkommenheit erleben. Nicht wahr, an dieser Stelle im Bild, hier beim Lichtbogen, den ich so euphorisch beschrieb, ist, glaube ich, das Bemerkenswerteste zu sehen.« Und mit der Spitze seines Füllhalters deutete er auf eine Partie im Stich. „Seht doch, darin bekundet sich für das Ich ein ‘Hoffnungszuspruch’“, frohlockte der Alte. Der Jüngling klopfte dem Greis auf die Schulter und sagte dann an Heidegger gewandt: »Wisst ihr, dass wir in ihm einen großen Wissenschaftler der Künste vor uns haben?« »Er ist doch mehr Dichter denn Wissenschaftler oder Philosoph«, antwortete dieser nachdenklich. »Hier«, begann der junge Adept und zeigte auf eine Textstelle und sodann auf das Bild, »hier endet unsere Wissenschaft auf Erden.« »Und von hier aus wird sie sich in himmlische Gefilde verlieren», fügt er hinzu. »Und dennoch ist es ein Genuss, auf dem Weg bis hierher gekommen zu sein.« Der Greis, nun ganz in sich versunken, hörte gar nicht mehr, was sie sagten und lächelte dem vollends verstandenen Bilde entgegen. »Aber früher oder später wird er doch merken, dass alles nur Metaphorik und Rhetorik ist. Und dass nichts zu sehen ist von einem Schöpfungsgrund und einer Transzendenz?« »Kein Schöpfungsgrund in den Bildern, wie ich ihn so gewissenhaft beschrieb? Keine Referenz, keine Transzendenz? Kein Über-das-Bild-Hinaus? Das kann nicht sein!« Der alte Kunstgelehrte sah abwechselnd auf seine Gäste und dann zurück auf seine Texte. »Was habt ihr getan!«, fragte er ganz leise denn jungen Mann. »Was habt ihr getan?« Der Greis packte ihn am Arm und sagte zu ihm: »Du siehst nicht, was ich erlebt und so fein säuberlich notiert habe, du Lümmel, du Lump, du Taugenichts, du elender Kerl?

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(BRÖTJE  2001,  217)  

(BRÖTJE  2001,   219)  

(DERRIDA     1986,  18;             1989a,  68/     Paraphrasen)  

Warum bist du überhaupt zu mir gekommen? Treibt ihr euren Spott mit mir? Antwortet? Sagt mir: Sollte ich meine Anschauung verdorben haben? Sollten meine Texte denn rein gar nichts sein?« Die Enttäuschung, die sich auf das Gesicht des Greises malte, war so eindrücklich, dass etwas geschehen musste. »Ich bin euer Freund«, sagte der junge Kunstwissenschaftler. »Schaut« wir verfolgten eure Sehanweisungen so getreu wie’s geht und wollten alles so genau wie möglich nachvollziehen, weil bei euch etwas zu lernen ist.« Dann wisse, entgegnete der Angesprochene: »Dies alles... ‚das Andere des Bedeutens im Kunstwerk kann oft nur um den Preis der verbalen Lächerlichkeit umschrieben werden.’ Und sei’s drum ...« »Ich habe Jahrzehnte daran gearbeitet... und bin ich deswegen ein Narr? Und habe ich keinen Kunstverstand? Was habe ich denn sonst hervorgebracht, wenn ich immerzu vom ‚Seinsgrund des Bildes’ sprach?« Dann erhob er sich voller Stolz und warf den Anwesenden einen funkelnden Blick zu. »Beim Blute, beim Leibe und Haupte Christi, ihr seid Eifersüchtige, die mich glauben machen wollen, meine Thesen und Schriften seien wohl unbrauchbar, damit ihr sie mir alsbald stehlen und ungestraft für eure Zwecke benutzen könnt. Aber ich, ich habe all dies so gesehen und aufgeschrieben, nicht ihr!« In diesem Moment hörte man, wie Jacques, der in einem Winkel des Arbeitszimmer vergessen worden war, sich räusperte. »Was meinst du, mein Freund?«, fragte der junge Epigone zwischen einer gewissen Ratlosigkeit und Erwartung hin und her gerissen. »Nun ja«, sinnierte dieser. »Bilder und Texte führen sicher mit der Zeit ein Eigenleben. Es bleibt abzuwarten und weiterzulesen.« Und dann fügte er an, »wir sollten die Struktur der Texte und der Bilder noch eingehender analysieren und sie auflösen. Man schaut dann ‚auf ein System, untersucht, wie es gebaut ist, welcher Schlussstein die Vision, die Autorität des Systems hält’ und so weiter und so fort. Dies nannte ich beizeiten ‚Dekonstruktion’.« »Wie mir scheint« dachte er laut weiter, »wie mir scheint, ist aber eine solche Dekonstruktion, ‚ein Eingriff, den Texte oder Bilder selbst vornehmen, die Erfahrung, die diese Texte und Bilder zunächst selber machen, Erfahrung ihrer selbst – mit sich selbst, selber – in sich selbst eingreifend. Aber was heißt das? Ist das möglich? Was bleibt dann von solchen Ereignissen?’« Während der junge Kunstwissenschaftler so Jacques anhörte, sammelte der liebenswerte Greis seine Schriften wieder ein. Er tat dies mit der gewissenhaften Sorge eines Bildtheoretikers, der sei-

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ne Schubfächer am Schreibtisch sicherheitshalber verschließen will, weil er sich in Gesellschaft geschickter Spitzbuben wähnt. Sodann drängte er sie wortlos zur Tür seines Domizils. Von der Schwelle seines Hauses aus sagte er dann: »Dies war ein merkwürdiger Besuch. Ich hoffe, ihr konntet etwas lernen. Und auch wenn ihr mich, so wie all die anderen auch, nicht versteht, hat es sich für euch vielleicht ja doch gelohnt.« »Wir werden uns um deine Theorie sorgen«, erwiderte der junge Mann voller Unruhe, aber um so entschlossener. »Und wir werden morgen wiederkommen und dich noch einmal besuchen und befragen. Ich hörte, du arbeitest an einem Buch über den steinernen Schöpfungsgrund und das Wesen der Skulptur.« »Und noch etwas«, ergänzte er zum Abschied, »und egal wie es dir bis dahin widerfährt, so mache doch keine überstürzten Dummheiten, wie es ein alter Maler in einer Erzählung tat als ihm von zwei Besuchern seines Ateliers eröffnet wurde, sein zur Lebendigkeit beschworener Frauenakt bestünde am Ende nur aus einem wüsten PaMICHAEL  BRÖTJE     limpsest aus bloßen Farbschichten. (1938-­‐2013)     Vergelt’s Gott!«

*Ende*  

Auf dem Rückweg wandte sich Heidegger dann noch einmal nachsinnend an den jungen Kunstwissenschaftler. Mit den Worten »Du weißt ja«, begann er noch einmal verschwommen zu bedenken, »Du weißt ja, ‚das Portal einer frühromanischen Kirche ist Seiendes. Wie und wem offenbart sich [aber] das Sein? Dem Kunstgelehrten [...] oder dem Abt, der am Festtag mit seinen Mönchen durch das Portal einzieht, oder den Kindern, die an einem Sommertag in seinem Schatten spielen? Wie steht es um das Sein des Seienden?« »Und dann«, fügte er an, »bleibt da immer noch ‚jenes Kunstwerk von van Gogh: ein Paar derbe Bauernschuhe, sonst nichts. Das Bild stellt eigentlich nichts dar. Doch was da ist, mit dem ist man sofort allein, als ginge man selbst am späten Herbstabend beim Verschwelen der letzten Kartoffelfeuer mit der Hacke müde vom Feld nach Hause. Was ist da seiend? Die Leinwand? Die Pinselstriche? Die Farbflecke?’«

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(HEIDEGGER  1935a,   38)  

Solche abermaligen Verkomplizierungen, und wären sie auch nur als rhetorische Fragen formuliert, hatte der junge Mann nicht noch einmal erwartet. Scheinbar war keine Frage und kein Problem abschließend gelöst worden. Er dachte daran, dass alle Antworten wohl doch nur aufgeschoben und durch den Besuch bei dem Greis nur herausgezögert worden waren. Aber hatte er sich nicht insgeheim ohnehin schon ganz zu Beginn entschieden, jede Entscheidung sowieso aufzuschieben? »Nun bin ich also selbst das Maß des kunstwissenschaftlichen Wissens. Was weiß mein Bauch nun also von der Malerei?« 13 , dachte er bei sich. Und außerdem war er ja nur als Besucher gekommen und war nur ‚zu Gast’; und hoffentlich nicht zu unhöflich gewesen – immer nur in der Sorge um die Theorie.

13

Im  Original  heißt  es:  „Nun  bin  ich  also  selbst  das  Maß  des  photographischen  »Wis-­‐ sens«.  Was  weiß  mein  Körper  von  der  PHOTOGRAPHIE?“  (BARTHES  1980,  17)

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Anhang  

„Wie unser Körper verfährt auch das ästhetische Erfassen fortschreitend durch verschiedenartige Bewegungen. Statt einer schnurgraden Bahn zu folgen, machen wir bald einen Schritt nach links, auf die Form zu, bald einen Schritt nach rechts, in Richtung des Inhalts, dabei unsere Wahrnehmung, unser Denken und unser Empfindungsvermögen zusammen einsetzend. Es ist das Paradoxe unseres menschlichen Zustandes, dass wir schräge Schritte machen müssen, wenn wir geradeaus marschieren und ans Ziel gelangen wollen.“ (BERGER 1958, 375).

... der „weitgehende[ ] Anschluss aller Bildelemente an ein System optischer Wege, die den Blick lenken, das Bild in seiner Totalität flüssig und schnell aufschließen. Das produktive Spiel der Übergänge ersetzt“ das motivisch Figürliche. (BOEHM 2007a, 45).

„Sie [die Interpretation] muss eine Verbindung stiften zwischen dem Vertrauen, dass alles Nötige schon da ist [im Bild] und der Sorge, nichts davon zu verfehlen.“ (BUBNER 1989, 62; auch schon von Brötje zitiert).

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  Kurzer  »praktischer  Abriss«       mögliche  Sehoperationen   Im Folgenden wird ein Spektrum von »Sehoperationen« aufgelistet, die im Laufe der vorangegangenen Bildbeobachtungen eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Diese »Anschauungsanweisungen vom Bilde her« lassen sich auf viele andere Werke übertragen, ohne dass damit einmal mehr eine »To do-Liste« im Sinne einer »Einführung in die Bildanalyse« verabreicht werden soll. Vielleicht dienen sie stattdessen zur Ausbildung eines »mutigen Sehens«. Darüber hinaus zeigt die provisorische Zusammenstellung – nun ganz pragmatisch-operationalisierbar und unabhängig von vielleicht strittigen Deutungsmustern und kunstphilosophischen Setzungen – den Grad der Eigenständigkeit und der fast vergessenen Innovativität des bildtheoretischen Denkens von Michael Brötje.

Die folgende Terminologie ist fast vollständig aus dem Sprachgebrauch von Michael Brötjes Schriften entnommen und wurde hier nachbearbeitet und provisorisch zu vier Gliederungspunkten verdichtet. Auf die Kenntlichmachung von Zitaten wurde der Lesbarkeit wegen verzichtet. Im Hauptteil dieses Buches lassen sich die Formulierungen aber zumeist mit der Quellenangabe finden.

1.  

Das  Bild  als  »Formierungsereignis«  

Jedes Kunst-Bild ist eine bildgesetzte Existenzaussage, eine Verfügung an mich, eine Vorgabe, eine Seh-Anweisung, eine Vollzugsanweisung, eine Seh-Verbindlichkeit, eine Einberufung, eine Ein-Verlagerung... ... eine Sehanleitung und Seh-Einweisung... ... es geht um intuitive Sehrealisationen und erscheinungsimmanente und selbstbedeutsame Sehverwirklichungen...

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das Bild bedeutet mir..., auf mich zu... ... in Sinnautonomie und nur im Seh-Aufschluss und nur in der Anschauungsbestimmung erfahrbar, ... das innere Operieren des Bildes entdecken... ... Wahrnehmungswirklichkeit (das, was ich wirklich sehe, das, was sichtbar wird) statt Wirklichkeitswahrnehmung (das, was ich im Bild bloß identifiziere)... ... ein Bild ist kein »Fenster« und kein »Ausschnitt«! Es gibt kein Außen, Links oder Rechts oder Oben oder Unten »neben« dem, was das Bild zeigt. Es gibt nur ein In-Sein im Bild. Es interessieren deshalb nur die Formierungsereignisse, welche das Bild in sich hervorbringt... ... es gibt immer zwei Ebenen oder Systeme im Werk: empirischer Raumort (»wiedererkennendes Sehen«) und transempirischer Flächenort (das Sehen der Zusammenhänge im Bildfeld)... das Verhältnis bestimmt die Argumentation des Bildes... ... räumliches Hintereinander und formales Übereinander treten dann in ein bedeutungshaftes Verhältnis... ... z.B.: formal ist etwas auf der Bildebene emporgestaffelt und nicht räumlich hinter einander... ... alles ist nur im Sehaufschluss und nur in der Anschauungsbestimmung von mir im Hier und Jetzt aktualisierbar... ... sachlich-räumlich und transempirisch-formal ... Bildfeld und Bildraum – Raumort und Flächenort – gegenständliche Wirklichkeit und formale Flächenanordnung stiften unvordenkliche Beziehungen und Bedeutungen... ... transempirische Bindungen erkennen: etwas, »x«, schiebt sich zwischen »y«; Aspekte hintereinander sind zugleich bildebenenparallel nebeneinander... darin bekunden sich Bildaussagen ... ... Parallelsetzungen und Abstimmungen zum Bildrand realisieren… ... ein prozessuales Sehen, das mitsieht, was die Phänomenzusammenhänge selbst »erzählen« (inmitten und über die dargestellte Erzählung hinaus)... ... schließlich: die ganze »Bildlandschaft« als eine große Erzählung, die immer von sich selbst erzählt, aber ohne aufzuhören von sich selbst zu erzählen, von Anderem erzählt...

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2.  

Die  Phänomenalität  der  Phänomene,  das  Formge-­‐ schehen  und  die  Sehwege  

... These: Im künstlerisch qualifizierten Bild wird das realitätsgeschulte, Gegenständliches »wiedererkennende Sehen« überlagert von einem (unbewusst getätigten) »sehenden Sehen«, welches im Gegenstand noch etwas ganz Anderes als diesen zu erfassen vermag... ... die Schritt-für-Schritt-Analyse der Vernetzung aller Erscheinungsdaten eröffnet gänzlich neue Einsichten in das jeweilige Bild... ... wo setze ich im Bild zuerst an?... Eingangssetzung oder Erstartikulation... ... Blickoperationen und Leitverbindlichkeiten für das Auge... ... Wirkformen... das autonom Sichtbare... ... eine »Stoffdecke« z.B. als amorphe Masse, d.h. als Auflösung eines verdichteten Materialzustandes usw. ... ... blickdynamische Beobachtungen, Anschauungsvollzüge... ... ein autonomes Sehen: es geht um die Operations- und Entdeckungsfähigkeit des Sehens gegenüber allem Wiedererkennen ... ... über die Dingbedeutung und über das ikonographische Entziffern hinaus – aber auch über das »sehende Sehen« hinaus zu einem Sehen der Phänomenalität der Phänomene... ... unsere eingeübten Differenzierungen zwischen wichtig und unwichtig zählen nichts... ... Leitbegriffe zur Umschreibung der Sehakte und des Sehvollzugs; Selbstbestimmung des Sehaktes als: … transempirische, Medium getragene Eigenkausalität der Bildentfaltung... ... Transzendierung der Sachsituation und der inhaltlichen Erzähllage... ... zugunsten von rein anschauungslogischen, nur bildmöglichen Zusammenhängen... ... zugunsten der Anschauung des Bildganzen als einer unverrückbar fertigen Kausalvernetzung aller Bilddaten

212

... genau sehen: ... wie kommt etwas eigenphänomenologisch (so wie es »wirklich« aussieht) zur Ausprägung... und was bekundet sich so in dieser Wirklichkeit des Bildes... ... was ist das Dargestellte in der Sehverwirklichung, nicht im reinen Wiedererkennen, sondern es geht darum, die »wirklich« waltenden Sehrelationen zu realisieren und zu aktualisieren... ... es gibt immer zwei Wirklichkeitssphären im Bild, die nicht der Differenz zwischen »sehendem« und »wiedererkennendem Sehen« entsprechen: ... im Bild existiert eine Unvereinbarkeit, eine Diskrepanz zwischen dem, was wiedererkennbare, empirische Bildwirklichkeit ist, dieser zugehört, und dem, was daraus in plötzlicher VerSetzung in eine transempirischen Phänomenwirklichkeit als solcher thematisch wird (etwa ein gemalter »Spazierstock«, den eine Figur hält, der sich aber zu einem Strich als zerschneidende Grenze »wandelt«)... … z.B.: eine optische Verspannung von »x« zu »y« besteht nur so lange wie… sie erlischt augenblicklich, sobald die Gestalt »z« eine höhere visuelle Leitverbindlichkeit in Geltung bringt... ... nach visuellen Ähnlichkeiten und Plausibilitäten suchen, nicht nach sachlich-mimetischen Repräsentationen... ... zuerst das Sich-Einfinden und Suchen nach Eröffnungsvollzügen: wo fange ich an… ... es geht darum, den Zusammenhang zu sehen, den die Dinge stiften, indem sie sich über ihre Dingbedeutung hinaus übersteigen in ihre eigene phänomenologische Ausprägung und Bedeutung... … ein Signal, eine Erscheinungsprägung, welche die gegenständliche Wirklichkeit souverän außer Geltung setzt, obwohl sie an ihr erscheint... ... das heißt z.B.: der »Ellbogen« eines Arms gehört einerseits mit zum Artikulationsvollzug eines dargestellten Menschen (= wiedererkannter, anatomischer »Ellbogen«), aber in seinem Artikulationsauftrag ist er eine unerdenkliche Aussagequalität, gehört der »Ellbogen« diesem Menschen nicht, sondern es herrschen andere anschauungslogische Zusammenhänge. Es könnte etwa die Bildebene sein, die ihn für ihre Eigenartikulation in Anspruch nimmt...

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... jede sachfixiere Urteilsbildung (Dies-ist-Das) wird so außer Geltung gesetzt durch die transempirische, formgenetische Hervortreibung vom Bildgrund her... ... formal-generativ sehen, »form follows form«... Formen antworten und entwickeln sich aus Formen, Rhythmiken, Harmonien und Dissonanzen... ... aber gleichzeitig: »form follows function«... alle Formen haben ihren Sinn im visuellen Argumentationszusammenhang des Bildes ... ... gegenstandslose Form-Dramatiken sind in der Gegenstandsausprägung inkorporiert... ... Formgenesen und Formkräfte sehen... Form »x« drückt, zieht, behindert, erwächst aus, bringt sich in Abstimmung zu, widersetzt sich »y«, erzwingt eine Mitwahrnehmung von »z« usw. ... ... Befunde und Seherfahrungen, die die Formgenese einer Form prozessual mitsieht und ihre Form-Kräfte erkennt... ... und um die Beobachtung der gestalterischen Entwicklung einer Gegenstandsform… ... sie erscheint etwa als: ein transformatives Einrollen, Aufsprengen, Zustechen, Versperren, Eröffnen, Gegenwenden, Bestätigen, Widerrufen usw. ... in ihrer nur bildmöglichen, transempirischen Aussagefunktion... ... die Eigenlebendigkeit einer Kurvung oder einer Form... ... nur dem Auge gegenwärtige übergängige Brechungs- und Verdichtungsphasen der Bildebene... ... Übergänge und Form- oder Gegenstands-Metamorphosen als Gestaltungsprinzipien... ... eigendynamische Formübersetzungen, Formfortschreibungen und Formtransformationen…, Bewegungsimpulse in den Formen... ... dingautonome Uminstrumentalisierungen: z.B. wird aus einer Rockfalte eine Absturz-Bahn... ... Bildanschauung ist ein Sehverstehen durch einen kausal-genetischen Sehvollzug ... ... Eigenrecht und Eigenlogik der Bildsprache... … z.B.: wird ein seitlich abgespreizte »Daumen« oder eine »Astgabelung« als Anweisung zu einer Blickabzweigung realisiert...

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... Umfunktionalisierungen: »x« fungiert im Bild nicht als »x«, sondern zugleich als »y«... ... Umdeutungen im Sehverstehensprozess... ... auf Sehübergängigkeiten und Folgenotwendigkeiten in den Phänomenen achten...

3.  

Die  »Anschauungsempfindungen«  und  die  tatsäch-­‐   lichen  Seherlebnisse     (eine  Art  »Wahrnehmungspsychologie«  und  die  »Ein-­‐Drücke«,   Affekte  und  das  Imaginative  während  der  Bildanschauung)  

... etwas drängt vor... stößt vor, schiebt, verknüpft, vermittelt, leitet zu... senkt sich, drückt, beansprucht... plötzliche Aufsprengung... hat eine eingreifende Wirkung, beansprucht Umraum um sich herum ... ... es geht um die Erlebnisanmutung einer Sache oder einer Form... ... und: bestimmte Sehvollzüge machen andere Befindungen und vorhergehende Sehvollzüge unwirksam... oder rufen sie wieder in Geltung... … wende ich »x« in eine höhere Leitverbindlichkeit um… »y« lässt nun stattdessen »z« wirksam werden... ... Devise: etwas sieht genau so aus wie es aussieht, d.h. das Gemalte ist kein Zufall und kein »Fehler« – der Zweck dieses SoSeins, dieses So-Aussehens, besteht darin, dass das Gezeigte eine übermotivische, eingreifende Wirkungsqualität besitzen kann... ... Analogiebildungen: etwas hat nichts motivisch oder inhaltlich miteinander zu tun, sieht aber analog aus und ist so aufeinander zu beziehen… ... oder: übermotivische visuelle Gestalt-Konkurrenzen realisieren... ... denn nichts ist hier erscheinungs- und ausdrucksverfasst nur das, was es in sachlicher Hinsicht zu sein vorgibt... ... z.B.: wo widerruft das Bild mir meine Selbstverortung vor dem Werk?… Verweigerungsformel für ein Mich-hier-Fixieren-Können… oder umkehrt: meine Platzzuweisung vor dem Werk...

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... eine »Felskontur« z.B. ruft in Geltung, verfügt, setzt »x« aus, bindet zurück, bringt in Verhandlung, stiftet eine Verbindung zu..., bedingt ein Lasten, zerschneidet, umhüllt, schiebt, stützt usw. … ... oder: ein »schwarzer Gegenstand« im Bild gewinnt in der Anschauung die Wirkpotenz einer Fesselung des Blicks, einer Gewichteinsenkung in die Bildebene, einer Sogwirkung o.ä. ... ... was alleine die Anschauung den Phänomenen an Bedeutung beimisst... ... die performative Kraft und Direktwirkung von dem, was ich wahrnehme, ernst nehmen... ... etwa z.B. im Sinne von: ich muss die aus dem Bild kommende Geltungsunmittelbarkeit und Bedrängung von »x« noch einmal abwehren, indem ich nun statt dem »x« dem »y« folge... … wird im darauffolgenden Blickübergang von »x« zu »y« das Motiv »z« aktuell, akut... … daraus ergibt sich für mich... ich muss immer wieder für mich Konsequenzen aus dem Phänomen-Geschehen ziehen... ... ich muss z.B. auch meinen Blick lösen, zurückziehen, meine Position aufgeben, verschieben… oder: im Sehen kommt es zu einer Auflösung einer Spannungsstruktur, eines Sehkonflikts… ... ein »Trinkglas« liegt nicht einfach; es ist z.B. umgestürzt, abgelegt, wartet auf, bestätigt oder ruft damit »xy« in meine Aufmerksamkeit... ... oder: ein »Messer« stößt auch im Liegen zu... auf etwas zu, was eine Brutalität ausmacht... etc. ... etwas löst für die Wahrnehmung einen Blickübersprung oder eine Blickumorientierung von »x« auf »y«... ... eine Form wird anschauungslogisch durch »x« geheilt oder widerrufen oder angegriffen oder zu einer neuen Form vervollständigt... ... »x« bietet sich mir an, erscheint mir als... ... mein Blick wird herausgerissen aus einer Situation oder sanft geleitet usf. ... ... der Suggestiveindruck des Motivs – seine Wirkbedeutung... etwas wirkt z.B. wie eine optische Verschließung oder Klammer ... etc.

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... es gibt in diesen Sehprozessen auch Phasen und Zonen, wo ich nicht weiß, für welche Lesart ich mich entscheiden soll… z.B. eine Form, die eingesogen oder ausgestoßen wird… dieses Offenlassen und In-der-Schwebe-Halten ist dann kein Defizit der Analyse, sondern im Prozess der Bildanschauung selbst eine signifikante temporäre Information... ... es ist unter Umständen wichtig, dass ich ein Bilddetail an dieser Stelle – jetzt gerade – noch nicht entscheiden kann… zeitliche Abfolge-Logik, wie sich die Bildanschauung entwickelt... das Nacheinander-Sehen... ... es gehört zur Bilderfahrung und Selbsterkenntnis dazu, dass das Bild im weiteren prozessualen Sehverlauf »Entscheidungen« herbeiführt oder mich zu Blick- und Bedeutungs-Entscheidung kommen lässt... ... z.B.: die leere, beschwörende Erwartungsformel einer »Toröffnung«... ... die eigentliche Wirkqualität und der phänomenale Bildstellenwert der Erscheinung muss und kann nur im Anschauungsvollzug realisiert werden... ... der Anschauung geht es um die bildverfasste, erlebnishafte Evokationsbedeutung der Bildphänomene... ... ich muss bestimmte Figurationen aktiv »einlösen«... ... Gestaltbildungen und Artikulationsformen... z.B.: vortasten, einschachteln, ausrollen... Assoziationsformen... ... erscheinungsphänomenale Umdeutung des zu Sehenden... das, was ich jetzt »wirklich« sehe, ist eine unvordenkliche Form mit einer unvordenklichen Phänomenbedeutung und Aussagefunktion... ... das Sehen von energetischen Farb- und Material-Verdichtungen der Ebene: also wie die Gegenstandswelt sich ggf. aus der Bildebene herausarbeitet und sich wieder zu ihr hin verdichtet, sie in Erinnerung ruft oder bestätigt oder außer Kraft setzt usf. ... ... mein Blick findet Halt, gleitet ab, schmerzt, springt, erfährt... ... zwei Formen; Farben, stellen sich gegeneinander, versöhnen sich, verschmelzen, ringen... ... eine Phänomen-Konstellation appelliert an mich...

217

4.  

Die  Sinneffekte  –  vom  Sehen  zur  »Deutung«  kommen  

zuerst der Phänomenzusammenhang und die Anschauungsempfindung, dann... ...darin kommt zur Geltung... ... bekundet sich... ... »xy« ist die Zusage, dass... ... was mit »xy« zur Bekundung kommt, ist... ... das Gesehene reklamiert damit – für mich – die Bedeutung, dass... ... damit wird angezeigt... gewissermaßen angekündigt... ... genau dies entspricht...

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