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German Pages [247] Year 2023
Heidegger-Jahrbuch
| 14
Denker | Groth Jenewein | Zaborowski [Hrsg.]
Heidegger und die Psychiatrie
https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
Heidegger-Jahrbuch Herausgegeben von Alfred Denker Holger Zaborowski Band 14
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates: Pierre Aubenque † (Paris) Damir Barbarić (Zagreb) Rudolf Bernet (Leuven) Walter Biemel † (Aachen) Stephanie Bohlen (Freiburg) Thomas Buchheim (München) Hartmut Buchner † (Grassau-Rottau) Adrian Gabriel Cercel (Bukarest) Chen Xiaowen (Beijing) Paul G. Cobben (Tilburg) Ion Copoeru (Cluj-Napoca) Paola-Ludovika Coriando (Innsbruck) Jean-François Courtine (Paris) Daniel Dahlstrom (Boston) Françoise Dastur (Nizza) Pascal David (Brest) Jacques Derrida † (Paris) Markus Enders (Freiburg) István M. Fehér † (Budapest) Daniel Ferrer (Mount Pleasant) Günter Figal (Freiburg) Hans-Helmuth Gander (Freiburg) Jean Greisch (Paris) Jean Grondin (Montréal) Arnulf Heidegger (Singen) Burghard Heidegger (Genf) Marion Heinz (Siegen) Christoph Jamme † (Lüneburg)
Jin Xiping (Beijing) Shunsuke Kadowaki † (Tokyo) David Farrell Krell (Chicago) Rudolf A. Makkreel † (Atlanta) Jean-Luc Marion (Paris) Henri Mongis (Tours) Jos de Mul (Rotterdam) Günther Neumann (München) Ryôsuke Ohashi (Kyôto) Theodorus Christiaan Wouter Oudemans (Leiden) Chan Kook Park (Seoul) Francesc Pereña Blasi (Barcelona) Herman Philipse (Utrecht) Claude Piché (Montréal) Otto Pöggeler † (Bochum) Manfred Riedel † (Halle / Saale) John Sallis (Boston) Sun Zhouxing (Shanghai) Jacques Taminiaux † (Chestnut Hill) Rainer Thurnher (Innsbruck) Peter Trawny (Wuppertal) Gianni Vattimo (Turin) Jean-Marie Vaysse † (Toulouse) Ben Vedder (Nijmegen) Helmuth Vetter (Wien) Franco Volpi † (Padua) Angel Xolocotzi (Puebla)
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Alfred Denker | Miles Groth | Josef Jenewein Holger Zaborowski [Hrsg.]
Heidegger und die Psychiatrie
https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
© Titelbild: Martin-Heidegger-Archiv, Meßkirch
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99557-0 (Print) ISBN 978-3-495-99558-7 (ePDF)
Onlineversion Nomos eLibrary
1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de
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Inhaltsverzeichnis
Miles Groth
Ludwig Binswanger und Viktor Frankl. Einleitung zum Dokumententeil . . .
7
Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
I.
Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger . . . .
17
II.
Ludwig Binswangers Aufzeichnung zu seinem Besuch bei Heidegger in Freiburg am 29. Januar 1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
III. Ludwig Binswanger an Gouverneur Noël . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
IV. Martin Heidegger an Wolfgang Binswanger . . . . . . . . . . . . . . . .
65
V.
67
Briefwechsel zwischen Martin und Elfride Heidegger und Viktor Frankl
VI. Brief von Leo Gabriel an Viktor Frankl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
VII. Brief von Viktor Frankl an Jan van der Pas . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
Nachwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Miles Groth
Heidegger and the Future of Psychotherapy . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
Robert D. Stolorow
Befindlichkeit, Emotional Phenomenology, and Psychoanalytic Therapy . . .
105
Richard D. Chessick
Psychoanalytic Peregrinations: Phenomenology and The Zollikon Seminars
113
5 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
Inhaltsverzeichnis
Françoise Dastur
Phänomenologie und Therapie. Die Frage nach dem Anderen in den Zollikoner Seminaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
João Augusto Pompéia
Pain and Time . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139
Kolia Hiffler-Wittkowsky
Die Frage nach der Leiblichkeit in den Zollikoner Seminaren. Heideggers problematisches Verhältnis zu Descartes’ Methode . . . . . . . . . . . . . . .
153
Luisa Paz Rodríguez Suárez
Die ekstatische Leiblichkeit des Daseins als Existenzial. Die Bedeutung der Daseinsanalytik Heideggers für Medard Boss‘ Daseinsanalyse . . . . . . . . .
167
Josef Jenewein
Die Zürcher Schule der Daseinsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181
Hans-Dieter Foerster
Die Entwicklung der Daseinsanalyse in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . .
201
Johann Georg Reck
Mögliche Beziehungen in einer gemeinsamen Welt . . . . . . . . . . . . . . .
209
Hermes Andreas Kick
Wahn, Zweifelseinwand und Transzendierung im Dialog als verstehende Therapie und versöhnendes Kunstwerk (Heidegger) . . . . . . . . . . . . . . .
223
Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
239
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Miles Groth
Ludwig Binswanger und Viktor Frankl. Einleitung zum Dokumententeil
1. Ludwig Binswanger Ludwig Binswanger (1881–1966) war von 1911 bis 1956 Direktor der »Villa Bellevue«, eines Sanatoriums in Kreuzlingen in der Schweiz am Bodensee. Das Sanatorium wurde von seinem Großvater Ludwig (1820–1880) 1857 gegründet und 1980 unter Leitung seines Sohnes Wolfgang Binswanger (1914–1993) geschlossen, da das Sanatorium als Modell für die Behandlung von psychiatrischen Krankheiten als veraltet galt. Ludwig Binswangers Onkel Otto Binswanger (1852–1929) war Professor für Psychiatrie an der Universität von Jena. Er war ein Jahr lang der behandelnde Psychiater von Friedrich Nietzsche (1944–1900) in der psychiatrischen Klinik in Jena. Sanatorien wie die »Villa Bellevue« sind von Irrenanstalten, in denen viele Patienten nach dem Modell von Philippe Pinel (1745–1826) als geisteskrank aufgenommen wurden, zu unterschei den. Während öffentliche Anstalten im Wesentlichen »Aufbewahrungsanstalten« für diejenigen waren, die von der Gesellschaft abgelehnt und ursprünglich nicht von Kriminellen unterschieden wurden, waren private Sanatorien wie die »Villa Bellevue« in Wirklichkeit Erholungsorte für die Reichen und Berühmten, deren Verhalten ihre Familien in Verlegenheit brachte. Zu den Kreuzlinger Patienten gehörten beispielsweise der russische Tänzer Vaslav Nijinsky (1889–1950) und die Schwiegermutter von Königin Elisabeth II., Prinzessin Alice von Battenburg (1885–1969). Bei den meisten wurde eine Krankheit diagnostiziert und behandelt, für die der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939), bei dem Binswanger studiert hatte, 1908 den Begriff »Schizophrenie« geprägt hatte. In der »Villa Bellevue« lebten die Patienten in einer großzügigen Umgebung, oft in Privatwohnungen auf dem Campus von etwa fünfzehn Gebäuden, wo sie von einem großen Stab von Bediensteten, Krankenschwestern und Psychiatern bedient wurden. Den Patienten standen Gärten, Räume, in denen Physiotherapie angeboten wurde, und hotelähnliche Speise- und Erholungsbereiche zur Verfügung. Das Prinzip der Behandlung in der »Villa Bellevue«, wo nicht mehr als sechzig Patienten gleichzeitig behandelt wurden, war eine familiäre Atmosphäre, die von einer väterlichen Figur, dem leitenden Psychiater, überwacht wurde, der mit seiner Familie auf dem parkähnlichen Gelände lebte. Die Familie Binswanger war deutsch-jüdischer Herkunft. Binswanger wurde christlich sozialisiert, weil sein Großvater und dessen Familie zum Christentum kon vertiert war. Nach seinem Medizinstudium absolvierte Binswanger eine Assistenzzeit am Burghölzli-Spital im von Kreuzlingen etwa 60 Kilometer entfernten Zürich, wo 7 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
Miles Groth
er bei Carl Gustav Jung (1875–1961) arbeitete, der die erfolgreiche Verteidigung seiner Doktorarbeit über Jungs Wortassoziationstest betreute. Jung machte Binswanger 1907 mit Sigmund Freud (1856–1939) bekannt. Binswanger und der »Begründer der Psychoanalyse« begannen bald eine dreißigjährige Korrespondenz (1908–1938). Es war einer der wenigen ausgedehnten Briefwechsel, die Freud mit Personen außerhalb des psychoanalytischen Establishments pflegte. Gelegentlich überwies Freud Patienten zur Pflege an Binswanger, einschließlich des »Gegenstands« einer seiner berühmtesten Fallstudien, »Anna O.«, nämlich Bertha Pappenheim (1859–1936), die im Juli 1882 erstmals als Patientin aufgenommen wurde, während Binswangers Vater, Robert Binswanger (1850–1910), Direktor des Sanatoriums war. Schon früh lernte Binswanger die phänomenologische Methode von Edmund Hus serl (1859–1938) kennen, aber der wichtigste philosophische Einfluss auf Binswanger war seine Lektüre von Heideggers Sein und Zeit ab April 1928, als er das Werk mit seinem Sohn studierte, der, damals erst neunzehn Jahre alt, ihm schließlich als Direktor der »Villa Bellevue« nachfolgen würde. Er traf Heidegger am 24. Januar 1929 in Frank furt auf einer Tagung der Kant-Gesellschaft, wo Heidegger den Vortrag »Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins« hielt.1 Beide Männer hatten das Gymna sium in Konstanz besucht und trafen sich danach gelegentlich auf Schülertreffen. Bins wanger war von Heideggers Daseinsanalytik angezogen und wollte den Versuch unter nehmen, eine Psychopathologie zu entwickeln, die auf dem neuen Menschenverständnis Heideggers basiert. Sein Interesse war hauptsächlich theoretisch und basierte, wie sich herausstellte, auf einem Missverständnis von Heideggers grund legender Ontologie, obwohl beide Männer sich schließlich einig waren, dass es sich um ein »fruchtbares« Missverständnis handelte. Binswangers psychiatrische Daseinsana lyse bereitete den Weg für die therapeutische Daseinsanalyse von Medard Boss (1903– 1990). Während der Seminare, die Heidegger von 1959 bis 1969 für Psychiater in Aus bildung bei Boss leitete, erklärte Heidegger detailliert, wo und wie Binswanger geirrt hatte.2 Andererseits hielt er am 30. Oktober 1965 in Amriswil bei einer Feier zu Ehren des nur drei Monate später verstorbenen Binswanger den wichtigen Vortrag »Das Ende des Denkens in der Gestalt der Philosophie«, erstmals 1984 in erweiterter Form als »Zur Frage nach der Bestimmung der Sache des Denkens«3 erschienen. Binswanger bezieht sich erstmals auf Heidegger in seinem Buch Traum und Exis tenz.4 Diese Publikation wurde später in der französischen Übersetzung von Jacqueline Verdeaux die Einleitung von Le rêve et l’existence, das 1953 von Michel Foucault her
1 Der Vortrag ist inzwischen erschienen in: Martin Heidegger, Vorträge. Teil 1: 1915–1932, hrsg. von Günther Neumann (GA 80.1), Frankfurt am Main 2016, 213–251. 2 Martin Heidegger, Zollikon Seminars. Protocols – Conversations – Letters, ed. by Medard Boss, Evanston 2001, 115–121, 188–207, 227–228. 3 Martin Heidegger, »Zur Frage nach der Bestimmung des Denkens«, in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, hrsg. von Hermann Heidegger (GA 16), Frankfurt am Main 2000, 620–633. 4 Ludwig Binswanger, »Traum und Existenz«, in: Neue Schweizer Rundschau, September/Oktober 1930, 766–799.
8 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
Ludwig Binswanger und Viktor Frankl. Einleitung zum Dokumententeil
ausgegeben wurde.5 Wie Gerhard Fichtner anmerkt, wurde der Name »Daseinsana lyse« für eine Therapieform von Jakob Wyrsch (1892–1980) auf einer Tagung der Psy chologischen Gesellschaft in Bern, Schweiz, am 23. Oktober 1942 vorgeschlagen, wo Binswanger einen Vortrag »Über Daseinserkenntnis« hielt.6 Ludwig Binswanger war ein sehr produktiver Autor, der zwischen 1910 und 1965 zwölf Bücher veröffentlichte, darunter Erinnerungen an Sigmund Freud (1956) und Zur Geschichte der Heilanstadt Bellevue in Kreuzlingen (1957) und zwei Aufsatzsammlungen (1944, 1955). 1956 ver öffentlichte er Drei Formen mißglückten Daseins. 1953 berichtet Heidegger etwas abschätzig über das ihm vom Freiburger Psychiater Hanns Ruffin (1902–1979) über brachte Manuskript eines Teils der laufenden Arbeit – zur Verschrobenheit.7 Binswanger veröffentlichte mehr als achtzig kürzere Texte (einschließlich seiner Doktorarbeit und Buchbesprechungen), die thematisch von galvanischen Hautreaktio nen, die während der Durchführung von Jungs Wortassoziationstest gemessen wurden, und der Interpretation des Rorschach-Tests bis hin zu Texten über Heraklits Men schenbild, über die Phänomenologie, die Psychoanalyse, über Pascal, über Symmetrie oder über einen Aphorismus von Hugo von Hofmannsthal reichen. Er veröffentlichte mehrere Artikel über Heidegger und die Psychiatrie, darunter »Die Bedeutung der Daseinsanalytik Martin Heideggers für das Selbstverständnis der Psychiatrie«.8 In Schriften würdigte er Philosophen und Kollegen in der Psychiatrie, darunter Eugen Bleuler (1957–1939), August Forel (1848–1931), Simon Frank (1877–1950), Robert Gaupp (1870–1953), Viktor von Gebsattel (1883–1976), Paul Häberlin (1878–1960), Edmund Husserl (1859–1938), Karl Jaspers (1883–1969), Eugène Minkowski (1885– 1972), Fritz Rutishauser (1875–1953), Eduard Spranger (1882–1963), Erwin Straus (1891–1975), Wilhelm Szilasi (1889–1966) und Jakob Wyrsch (1892–1980). Binswan ger rezensierte auch Medard Boss’ Arbeit über die Perversionen Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen (1949) der erste buchlange Text, in dem Boss sich auf Heideggers Arbeit bezog. Ludwig Binswanger ist vor allem für seine Arbeiten zum Phänomen der Ideen flucht und zu den diagnostischen Entitäten »Wahn«, »Manie«, »Melancholie« und »Schizophrenie« bekannt, denen er jeweils eine Monografie oder eine buchlange Studie widmete. Seine Fallgeschichten gehören zu den ersten, die ein Verständnis der Bedeutung von Heideggers Daseinsanalytik für die psychiatrische Praxis widerspie geln. Seine Hauptwerke waren Grundformen und Erkenntnis des menschlichen Daseins9 und der Heidegger gewidmete Text über missglückte Formen des Daseins (oder Beispiele existenziellen Scheiterns). In ersterem wird Binswangers anthropologischer, also menschenzentrierter Ansatz unter großzügiger Bezugnahme auf Philosophie und Literatur sowie auf Heideggers Ideen ausgearbeitet. Er veröffentlichte mehrere Ludwig Binswanger, Le rêve et l’existence, Paris 1954. Freud/Binswanger Correspondence, New York 2003, 20. 7 Martin Heidegger, Zollikon Seminars. Protocols – Conversations – Letters, 245. 8 Ludwig Binswanger, »Die Bedeutung der Daseinsanalytik Martin Heideggers für das Selbstverständnis der Psychiatrie«, in: Martin Heideggers Einfluss auf die Wissenschaften, Bern 1949, 58–75. 9 Ludwig Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, Zürich 1942. 5
6
9 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
Miles Groth
klassische Fallgeschichten, die aus einer existenzanalytischen Perspektive verstanden und interpretiert wurden. Binswanger erhielt wegen seiner Behandlung von »Ellen West« (1944–1945) Kritik; dieser Fall wurde englischsprachigen Lesern durch das erste Buch über Exis tenzanalyse in englischer Sprache, nämlich Existence, herausgegeben von Rollo May (1909–1994), bekannt.10 Das Buch, das Binswanger und Eugène Minkowski gewidmet ist, enthält einige der wenigen Werke von Binswanger, die in englischer Übersetzung erschienen sind; die anderen sind Being-in-the-World (New York, 1963) und Dream and Existenz (Review of Existential Psychology and Psychiatry, 1986). Indem er mit Husserls Begriff der Lebenswelt und Heideggers grundlegender Ontologie des In-der-Welt-seins arbeitet, geht Binswanger davon aus, dass jeder Mensch eine Welt entwirft (einen Weltentwurf gestaltet), die einzigartig ist. In Fällen der Psychopathologie ist die Struktur dieser Welt in Bezug auf Raum und Zeit desorientiert. In einer derart missgestalteten Welt unterliegt das körperliche Erleben in besonderem Maße einer beunruhigenden Veränderung. Binswanger glaubte, Heidegger habe es versäumt, der liebevollen Natur des Mitseins Aufmerksamkeit zu schenken, und der Angst in seiner fundamentalen Ontologie zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Wie er jedoch später erkannte, war Heideggers in Sein und Zeit gegebene Beschreibung der ontologischen Struktur des Da-seins nicht dazu gedacht, die Details der Verwirklichung eines gegebenen Daseins wie Emotionen, Motivationen und Ideen (typisch oder höchst atypisch für einen bestimmten soziokulturellen Kontext und eine bestimmte historische Periode), die natürlich allesamt Phänomene psychiatrischer Stu dien sind, zu beschreiben. Binswangers Betonung einer herzlichen Beziehung zwischen Psychiater und Patient war jedoch neu und in dieser Hinsicht sehr wahrscheinlich von Martin Buber (1878–1965), insbesondere seinem Ich und Du (1923), beeinflusst. Dies spiegelte sich in seinem ganzheitlichen oder umweltbezogenen Modell der stationären Behandlung wider, wie es in Kreuzlingen angeboten wurde. Zu den Konzepten, die Binswanger in das, was zuerst als »existenzielle Psychiatrie« bekannt wurde, einführte, gehören die Dimensionen der Welt, die er »Umwelt« (die natürliche Umgebung), die »Mitwelt« (die soziale Welt der Menschen) und die »Eigenwelt« (intrasubjektive Welt oder innere Welt; private und einzig eigene Welt) nannte, die alle drei das In-einer-Welt-Sein eines Menschen mitbestimmen.
2. Viktor Frankl Viktor Frankl (1905–1997) war ein österreichischer Psychiater, der die als Logotherapie bekannte therapeutische Methode entwickelte, die sogenannte »Dritte Wiener Schule« der Psychotherapie nach Freuds Psychoanalyse und Alfred Adlers individueller Psy chotherapie. Bekanntheit erlangte er 1946 durch die Veröffentlichung seines Buches 10
Ernest Angel / Henri F. Ellenberger, Existence, ed. by Rollo May, New York 1958, 237–364.
10 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
Ludwig Binswanger und Viktor Frankl. Einleitung zum Dokumententeil
Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager,11 in dem er seine Erfahrungen in den Konzentrationslagern schildert. Das Buch wurde in vierundzwanzig Sprachen übersetzt und gehört zu den meistgelesenen Büchern seines Genres und wurde bis zu Frankls Tod 1997 mehr als 10 Millionen Mal verkauft. Es wurde 1959 ins Englische übersetzt und unter dem Titel From Death-Camp to Existentialism. A Psychiatrist's Path to a New Therapy (Boston 1946) veröffentlicht. Am bekanntesten ist es jedoch in einer leicht überarbeiteten Version, die im selben Jahr unter dem Titel Man’s Search for Meaning. An Introduction to Logotherapy (Boston 1946) veröffentlicht wurde. Das Buch enthält eine prägnante Darstellung von Frankls Logotherapie. Frankl wurde in Wien in eine österreichisch-jüdische Familie geboren. Als Gym nasiast interessierte er sich für die Psychoanalyse und begann einen Briefwechsel mit Sigmund Freud, den er einmal kennengelernt hatte und dem der Neunzehnjährige seine kurzen Reflexionen »Zur mimischen Bejahung und Verneinung« schickte, deren Veröffentlichung Freud anregte.12 Seine zweite wissenschaftliche Arbeit »Psychothera pie und Weltanschauung. Zur grundsätzlichen Kritik ihrer Beziehungen« stellte eine Abkehr von Freuds Ideen zu denen von Alfred Adler (1870–1937) hin dar, der mit Freud gebrochen hatte und durch das, was er als Individualpsychologie ausgearbeitet hatte, bekannt wurde.13 Während seines Medizinstudiums gründete Frankl in Wien und sechs weiteren Städten kostenlose Kliniken für Jugendliche. Bereits an der Psychiatrischen Klinik der Universität Wien tätig, schloss er 1930 seine Ausbildung zum Arzt ab und spezialisierte sich auf Neurologie. 1933 leitete er eine Spezialabteilung für suizidgefährdete Frauen an der Klinik und eröffnete 1937 eine Privatpraxis für Neurologie im Haus seiner jüngeren Schwester. Er arbeitete auch im einzigen Krankenhaus Wiens, das aufgrund der Restriktionen des NS-Regimes insbesondere Juden zur Verfügung stand. Im Herbst 1942, als Frankl 37 Jahre alt war, wurden er, seine Frau und seine Eltern verhaftet und nach Theresienstadt gebracht. Dabei starb sein Vater an einer Lungenentzündung. Frankl und seine Mutter wurden nach Auschwitz deportiert; seine Frau zog es vor, bei Viktor Frankl und seiner Mutter zu bleiben. Sie wurde jedoch bald nach Bergen-Belsen deportiert, wo sie ums Leben kam. Seine Mutter wurde in There sienstadt ermordet, und Viktor Frankl in das Dachauer Lager Käuferling geschickt. Sein älterer Bruder Walter Frankl starb ebenfalls in einem Lager. Seine jüngere Schwester Stella konnte fliehen und wanderte nach Australien aus. Bis zu seiner Befreiung durch amerikanische Truppen 1945 hatte Viktor Frankl insgesamt zweieinhalb Jahre in vier verschiedenen Konzentrationslagern verbracht, wo ihn nur seine Arbeit als Arzt vor der Vergasung bewahrte. 1948 promovierte er in Philosophie mit einer Arbeit über »Der unbewußte Gott. Psychotherapie und Religion« an der Universität Wien, wo er außerplanmäßiger Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Medizinischen Viktor Frankl, Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, Wien 1946. Viktor Frankl, »Zur mimischen Bejahung und Verneinung«, in: International Journal of Psycho-Analysis 10 (1924), 437–438. 13 Viktor Frankl, »Psychotherapie und Weltanschauung. Zur grundsätzlichen Kritik ihrer Beziehungen«, in: International Journal of Individual Psychology 3 (1925), 250–252. 11
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Miles Groth
Fakultät der Universität Wien und Direktor der Neurologischen Poliklinik Wien war. Frankl veröffentlichte mehr als drei Dutzend Bücher und zahlreiche Artikel in wissen schaftlichen und populärwissenschaftlichen Zeitschriften. 1926 verwendete er erstmals den Begriff »Logotherapie«, um seinen Ansatz von der Psychoanalyse abzugrenzen, und begann ebenfalls 1939 von seiner Arbeit als Existenzanalyse zu sprechen. Als Viktor Frankl von den Nationalsozialisten in seiner Wohnung verhaftet wurde, nahm er ein Manuskript mit, das seine einzigartige Sichtweise der Psychotherapie darstellte. Es wurde kurz nach Frankls Inhaftierung beschlagnahmt und zerstört, aber er begann, es anhand von Papierfetzen, die er finden konnte, zu rekonstruieren. Ein Jahr nach seiner Befreiung veröffentlichte Frankl den Text unter dem Titel Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse (Wien 1946; ab der 3. überarbeiteten Auflage 1946 wurde das Buch ergänzt um den Untertitel). Richard Winston und Clara Winston übersetzten das Buch in die englische Sprache.14 Frankls Ausdruck für seinen Ansatz insgesamt war »Seelsorge«, was sich treffend als »ärztlicher Dienst« oder »Seelenpflege« verstehen lässt, eine »Psychotherapie im spirituellen Sinne«, die die Psychotherapie »ergänzen«, nicht ersetzen sollte.15 Heidegger und Frankl trafen sich mehrfach. In seiner Autobiografie erzählt Frankl: Zu meinen schönsten Erlebnissen gehören die Gespräche mit Martin Heidegger, als er uns in Wien besuchte. Er schrieb in mein Gästebuch: »Zur Erinnerung an einen Besuch an einem schönen und informativen Morgen.« Auf ein Foto, das in einem typischen Wiener Weingarten aufgenommen wurde, schrieb er einen Satz, der auf die Verwandtschaft unserer Philosophien hinweisen sollte: »Das Vergangene geht, das Gewesene kommt«.16
In Frankls Vorlesungsreihe von 1966 an der Perkins School of Theology wird oft auf Heidegger Bezug genommen. Er führte die frühere Begegnung weiter aus: Als Martin Heidegger zum ersten Mal in seinem Leben Wien besuchte, bot er einem Dutzend Gelehrter ein Privatissimumsseminar an. Am Abend desselben Tages führten Professor [Leo] G[abriel] [1902–1987] vom Institut für Philosophie der Universität Wien und ich Heidegger zu einem typischen Heurigen aus. […] Da die Frau von Professor Gabriel keine Berufsphilosophin, sondern ein ehemaliger Opernstar war, bat sie mich, in einfachen Worten zu erklären, was das Seminar bei Heidegger ergeben habe. Ich improvisierte folgende Geschichte: »Es war einmal ein Mann, der stand hinter einem Teleskop und war verzweifelt, weil er, wie er sagte, den ganzen Himmel nach irgendeinem Planeten des Sonnensystems abgesucht, aber nichts gefunden hatte. Genauer gesagt war es ein Planet, dessen Name Erde war. Ein Freund verwies ihn an einen Weisen namens Martin Heidegger. ›Was suchst du?‹ fragte Heidegger den Astronomen. ›Die Erde‹, klagte der Mann, ›und nirgendwo am ganzen Firmament konnte ich sie finden.‹ ›Und darf ich Sie fragen, wo Sie das Stativ aufgestellt haben?‹ fragte Heidegger. ›Auf der Erde natürlich‹, war die sofortige Antwort. ›O. K.‹, schloss Heidegger, ›hier ist es.‹" Was man suchte, war wiederum schon immer vorausgesetzt worden. Buchstäblich vor-aus-gesetzt, das heißt gesetzt vor seiner Suche, bevor er sich überhaupt Viktor Frankl, The Doctor and the Soul. From Psychotherapy to Logotherapy, New York 1955. Viktor Frankl, The Doctor and the Soul. From Psychotherapy to Logotherapy, 17. 16 Viktor Frankl, Recollections. An Autobiography, New York 1995, 113; ursprünglich erschienen als Was nicht in meinem Büchern steht, Weinheim 1995. 14
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Ludwig Binswanger und Viktor Frankl. Einleitung zum Dokumententeil
daran gemacht hat. Martin Heidegger hat mich um die Erlaubnis gebeten, dieses Bild in seinen Vorlesungen verwenden zu dürfen. Er lässt sich von Etymologien leiten. Warum sollte ich mich nicht von Analogien leiten lassen?«17
Bemerkenswert an der Vortragsreihe ist auch die folgende Erinnerung, die sich in Fran kls Einleitung zur Veröffentlichung der Vorlesungen findet, in der er Missverständnisse in Bezug auf Heideggers Vorstellung von In-der-Welt-sein diskutiert: Vor ungefähr dreißig Jahren musste ich vor Publikum einen Vortrag über Psychiatrie und Existentialismus in Wien geben. Ich konfrontierte meine Zuhörer mit zwei Zitaten und sagte ihnen, dass eines Heideggers Schriften entnommen sei, während das andere Teil eines Gesprächs sei, das ich mit einem schizophrenen Patienten geführt hatte, der im Wiener Landeskrankenhaus untergebracht war, wo ich damals als Mitarbeiter tätig war. Und dann lud ich mein Publikum ein, darüber abzustimmen, welcher Satz wem gehört. Ob Sie es glauben oder nicht, eine überwältigende Mehrheit dachte, die Passage von Heidegger sei die Äußerung eines schizophrenen Patienten und umgekehrt. [...] Das spricht keineswegs gegen die Größe Heideggers [...] Vielmehr spricht es gegen die Fähigkeit der Alltagssprache, bisher unbekannte Gedanken auszudrücken.«18
Frankls Logotherapie war bereits vor seinen persönlichen Leidenserfahrungen konzi piert worden, die ihm nur ihre zentrale Idee bestätigte, dass die Hauptmotivation des Menschen darin besteht, Sinn (einer der Bedeutungen des griechischen Wortes Logos) in seinem Leben zu finden und nicht Befriedigung oder Überlegenheit der Leistung, wie Freud bzw. Adler vorgeschlagen hatten. Die Grundgedanken der Logotherapie, die er bereits 1926 so nannte, als er den Begriff zum ersten Mal verwendete, finden sich in den beiden Büchern, die er 1946 zur Existenzanalyse veröffentlichte. In den 1920er Jahren bewegten sich auch Ludwig Binswanger und Medard Boss von der Psychoanalyse weg und hin zu dem, was 1942 als »Daseinsanalyse« bekannt wurde, ein Begriff, der Binswanger von seinem Kollegen Jakob Wyrsch vorgeschlagen wurde. Jede der Reaktionen auf die Psychoanalyse hatte eine ganz andere Motivation: Für Boss war es die Abstraktion von Freuds Metapsychologie; für Frankl war es Freuds Betonung der Vermeidung von Schmerz und des Strebens nach Vergnügen. Adlers Begründung mit Nietzsches Vorstellung vom Willen zur Macht bedeutete, dass Menschen ihr Leben als Reaktion auf einen wahrgenommenen persönlichen Mangel oder Defekt aufbauen. Frankl hielt viel von Nietzsches Idee, dass »wer ein Warum zum Leben hat, mit fast jedem Wie fertig werden kann« und dass »was mich nicht umbringt, mich stärker macht«. Frankls sympathische Reaktion auf den Existentialismus im Nachkriegseuropa war bereits vorweggenommen worden, da er der Ansicht war, dass die Urmotivation des Menschen darin besteht, Sinn oder Sinne im Leben zu finden, egal wie sinnlos es scheinen mag, eine Erfahrung, die ihm vertraut war wie auch vielen Europäern damals. Auch Frankls Existenzanalyse war im weitesten Sinne mit einem Humanismus ver bunden, was sich im englischen Titel einer späten Essaysammlung Der unerhörte Schrei 17 18
Viktor Frankl, The Will to Meaning. Foundations and Applications of Logotherapy, New York 1988, 206. Übers. n. Viktor Frankl, The Will to Meaning. Foundations and Applications of Logotherapy, 16.
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Miles Groth
nach Sinn widerspiegelt: Psychotherapy and Humanism (New York 1978), die dritte in einer Reihe von Veröffentlichungen, die mit Psychotherapy and Existentialism. Selected Papers on Logotherapy (New York 1962) und The Unconscious God. Psychotherapie und Theologie (New York 1975) beginnen. Die Themen dieser Veröffentlichungen fassen die existenzielle, spirituelle und humanistische Ausrichtung von Frankls Psychotherapie zusammen und erklären die breite Anziehungskraft seiner Arbeit für Leser außerhalb der Psychiatrie. Das Scheitern des Lebenssinns führt zu dem, was Frankl als »noögene Neurosen« bezeichnet, die zu einem Leiden führen, das nicht auf psychogenen Konflik ten – also intrapsychischen Konflikten zwischen den von Freud als Grundtrieben (Sex und Aggression) identifizierten Trieben – beruht, sondern auf einem einzigartigen Leiden an menschlichen oder existenziellen Problemen. Einerseits beruht Frankls Begriff »noögen« auf dem griechischen Wort nous, das Frankl mit Geist gleichsetzt.19 Die Logotherapie berücksichtige die »vollständige körperlich-seelisch-geistige Wirklichkeit« des Menschen.20 Sie bezieht sich leiblich auf den Leib (lebendigen Körper), nicht auf den körperlichen oder körperlichen Organismus (Körper) als ein Objekt, von dem wir wie einem Stein sprechen, das heißt wie von einem Körper, der lediglich den euklidischen Raum einnimmt. Als Psychotherapeut ist Frankl besonders bekannt für seine Technik der »paradoxen Intention«, über die er erstmals 1939 schrieb.21 Am häufigsten wird diese Technik dann eingesetzt, wenn eine Person regelmäßig befürchtet, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten (Frankls Beispiele umfassen Schwitzen, Stottern und Schlaflosigkeit), oder zwanghafte Gewohnheiten entwickelt hat. Eben dann wird sie vom Therapeuten angewiesen, das befürchtete Verhalten bewusst zu beabsichtigen. Dem Patienten wird gesagt, er solle wünschen oder tun, was er am meisten befürchtet. Auf diese Weise wird Angst durch Verlangen ersetzt. Andere von Frankl eingeführte Begriffe sind das existentielle Vakuum (ein Gefühl der inneren Leere, das Frankl als pathognomonisch für das zeitgenössische westliche Leben ansah) und die Techniken der Dereflektion (die Aufmerksamkeit der Patientin von ihrer Erzählung eines aufdringlichen Gefühls oder einer Idee abzulenken) und des sokratischen Dialogs. In Frankls »ärztlicher Seelsorge« (ministerium) werden heute zum größten Teil Heilpraktiker in logotherapeutischen Instituten in fast allen Ländern unterrichtet.
Viktor Frankl, Man’s Search for Meaning, 123. Viktor Frankl, Ärztliche Seelsorge, 33; vgl. Viktor Frankl, The Doctor and the Soul, 133. 21 Viktor Frankl, »Zur medikamentösen Unterstützung der Psychotherapie bei Neurosen«, in: Archiv für Neurologie und Psychiatrie 43 (1939), 26–31. 19
20
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Dokumente
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
1. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Prof. Heidegger
Freiburg i. Br., den 31. Okt. 1928
Freiburg, Br. Rötebuckweg 47 Sehr verehrter Herr Doktor! Es ist beabsichtigt, zu dem bevorstehenden siebzigsten Geburtstag Husserls,1 ihm von Seiten seiner Verehrer und Schüler seine Büste zu überreichen. Sie ist von dem Bildhauer Arnold Rickert2 gemacht und kostet in Bronze gegossen RM. 1000.–. Der Büste soll eine Urkunde mit den Namen der Schenkenden in alphabetischer Reihenfolge beigefügt werden. Wenn Sie geneigt sind, sich an der Schenkung zu beteiligen, so bitte ich, mir unter Festsetzung des Beitrags (beliebig, jedoch nicht unter RM. 50.–) Mitteilung zu machen. Die Zahlung wäre am 1. März auf ein noch anzugebendes Konto zu überweisen. Mit vorzüglicher Hochachtung ergebenst Heidegger.
1 Edmund Husserl feierte am 8. April 1929 seinen siebzigsten Geburtstag. Ein anderes Geburtstaggeschenk war die von Heidegger herausgegebene Festschrift. Edmund Husserl zum 70. Geburtstag gewidmet, Halle an der Saale 1929. Heideggers Beitrag zu dieser Festschrift war der berühmte Aufsatz »Vom Wesen des Grun des«. 2 Arnold Rickert (1889–1974) war der Sohn von Heinrich Rickert und Bildhauer.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
2. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Kreuzlingen, den 5. November 1928. (Heidegger, Rötebuckweg 47, Freiburg i/Br.) Sehr verehrter Herr Professor! Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie mit Ihrer Anfrage auch an mich gelangt sind. Ich habe Herrn Prof. Husserl so unendlich viel zu verdanken, dass ich froh bin, wenn ich mich an einer äusseren Ehrung beteiligen darf. Darf ich Sie bitten, Fr. 100. – (= R.M. 80.–) von mir erheben zu lassen? Sollten Sie, sehr verehrter Herr Professor, gelegentlich einmal an den Bodensee kommen, so würde ich mich ganz besonders freuen, Sie kennen lernen zu dürfen, sei es, dass wir uns hier bei mir träfen oder ich Sie irgendwo aufsuchen dürfte. Mit vorzüglicher Hochachtung und besten Empfehlungen Ihr sehr ergebener
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
3. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Freiburg, Br. 16. Februar 1929. Sehr verehrter Herr Doktor! Sie waren seinerzeit so freundlich, einen Beitrag für ein Geschenk zu Husserls Geburts tag zur Verfügung zu stellen. Die erforderliche Summe ist nun zusammengekommen und wir hoffen, Husserl mit dem Geschenk der Büste würdig zu ehren. Darf ich Sie bitten, den Betrag zu überweisen auf das Konto von Herrn Arnold Rickert, Rheinische Kreditbank, Filiale Freiburg, Br., und mir kurz von der Überweisung Mitteilung zu machen? Ich freue mich, Sie in Frankfurt3 kennen gelernt zu haben, und hoffe, dass wir noch manchmal Gelegenheit haben werden, zusammen zu philosophieren. Mit freundlicher Begrüssung Ihr sehr ergebener M. Heidegger.
Am 24. Januar 1929 hielt Heidegger seinen Vortrag »Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins« in der Kant-Gesellschaft zu Frankfurt am Main; vgl. Martin Heidegger, Vorträge. Teil 1: 1915–1932 (GA 80.1), hrsg. von Günther Neumann, Frankfurt am Main 2016, 213–251. 3
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
4. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Kreuzlingen, den 20. Februar 1929. Sehr geehrter Herr Professor! Mein Beitrag von Fr. 100.– (= 80.– Mark) ist heute an die von Ihnen bezeichnete Adresse abgegangen. Sie waren so freundlich, mir in Frankfurt eine Einladung zu der Geburtstagsfeier Prof. Husserls in Aussicht zu stellen. Wenn ich nicht beruflich abgehalten sein werde, würde ich gerne kommen. Ihr Frankfurter Vortrag beschäftigt mich in der Erinnerung noch sehr, und ich freue mich, ihn bald im Druck noch eingehend studieren zu können. Sollten Sie gelegentlich in Ihre alte Bodenseeheimat kommen, so würde ich mich außerordentlich freuen, Sie wiedersehen zu dürfen und die grösste Freude würden Sie mir machen, wenn Sie einmal mein Gast wären, wie es Ihr Tübinger Kollege Haering4 von Zeit zu Zeit ist. Sie könnten dabei so ungestört leben, als es Ihnen nur beliebt. Für heute bin ich mit den besten Empfehlungen Ihr sehr ergebener
4 Theodor Haering (1884–1964) war ab 1928 o. Professor für historische und systematische Philosophie an der Universität Tübingen. Sein Hauptwerk war Hegel. Sein Wollen und sein Werk, Band 1 u. 2, Leipzig 1929 und 1938.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
5. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Freiburg, den 22. Mai 1933. Sehr verehrter Herr Binswanger! Sie haben mir in der letzten Zeit eine ganze Reihe wertvoller Abhandlungen5 gütigst zugeschickt, die ich mir für ein eingehenderes, zusammenhängendes Studium aufbe halten muss. Mein Interesse für die Fragen, die Sie beschäftigen, und die Sie, wie ich sehe, auch auf eine neue Grundlage stellen, ist bei mir in den letzten Jahren noch wesentlich gestiegen. Vielleicht gibt ein für den Herbst geplanter Aufenthalt am Bodensee die Gelegenheit zu einer Zusammenkunft. Einstweilen grüsse ich Sie mit verbindlichstem Dank Ihr sehr ergebener Heidegger
Es handelt sich vermutlich um folgende Texte von Binswanger: »Über Ideenflucht I«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 27 (1931), 203–217; »Über Ideenflucht II«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 28 (1932), 18–72; »Über Ideenflucht III«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 29 (1932), 193–252; Zur Geschichte der Heilanstalt Bellevue: 1857–1932, Zürich 1932, und »Das Raumproblem in der Psychopathologie«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 145 (1933), Heft 3, 598–647; und »Über Ideenflucht IV«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 30 (1933), 68–85. 5
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
6. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Heidegger
Dr. L. B. Kreuzlingen, den 21. Nov. 1934
Sehr verehrter Herr Professor, Ich höre zu meiner Freude, dass Sie am 30. einen Vortrag6 in Konstanz halten, für den ich bereits eine Einladung erhalten habe. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie bei mir wohnen würden, nehme aber an, dass Sie schon bei einem Ihrer Konstanzer Freunde eingeladen sind. Am Samstag, den 1. Dezember, 15 Uhr 30 halte ich in der wissen schaftlichen Vereinigung der Psychiatrischen Bodenseeanstalten im Seehofsaal der Kuranstalt Bellevue selber einen Vortrag über: Möglichkeit und Tatsächlichkeit psy chotherapeutischer Wirkung,7 wobei ich insbesondere auf das Problem der »leibli chen« Existenzweise eingehe, d. h. des Existierens »im Leib«. Wenn Sie Samstag noch da wären und Zeit hätten, würde ich mich natürlich sehr freuen, Sie unter meinen Zuhörern zu sehen. Auf alle Fälle freue ich mich, Sie am 30. abends begrüssen und Ihren mich natürlich sehr interessierenden Vortrag hören zu können. Mit den freundlichsten Grüssen Ihr sehr ergebener
Martin Heidegger hat den Vortrag »Die gegenwärtige Lage und die künftige Aufgabe der deutschen Phi losophie« am 30. November 1934 in der deutschen Gesellschaft zu Konstanz gehalten. Der Vortrag wurde veröffentlich in: Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, hrsg. von Hermann Heidegger (GA 16), Frankfurt am Main 2000, 316–333. 7 Der Vortrag wurde später unter dem Titel »Über Psychotherapie (Möglichkeit und Tatsächlichkeit psycho therapeutischer Wirkung)«, in: Der Nervenarzt, 8 (1935), H. 3 u. 4, 113-121, 180-189, veröffentlicht. 6
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
7. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Freiburg i. B. 23. Nov. 34. Sehr verehrter Herr Dr. Binswanger! Für Ihre freundliche Einladung danke ich Ihnen sehr. Ich habe aber bereits vor vierzehn Tagen schon Herrn Dr. Paulsen8 zugesagt, bei Ihm zu wohnen. Ich hoffe, am Samstag noch in Konstanz bleiben zu können; dann werde ich gern die Gelegenheit benutzen, wieder einmal unmittelbar aus der Arbeit Ihrer Wissenschaft so grundsätzliche Erör terungen zu hören. Vielleicht können wir nach meinem Vortrag das Weitere besprechen. Mit den freundlichsten Grüßen Ihr sehr ergebener Heidegger.
8
Dr. Paulsen war vermutlich ein Klassenkamerad von Heidegger auf dem Gymnasium in Konstanz.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
8. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Heidegger
Dr. L. B. den 23. Febr. 1937.
Lieber Herr Professor! Ich habe mich sehr gefreut über die freundliche Dedikation Ihres so schönen und so bedeutsamen Hölderlin-Aufsatzes.9 Emil Staiger10 hat mir schon einmal an einem schönen Sommerabend des letzten Jahres das Manuskript vorgelesen, das er von Ihnen übersandt bekommen hatte. Wir hatten uns schon damals beide sehr darüber gefreut, wie ich auch sehr froh war, dass Sie an seiner Hölderlin-Arbeit Freude bekundeten. Ich hoffe sehr, einmal Gelegenheit zu haben, gerade im Anschluss an diese Arbeit, mündlich mit Ihnen über Hölderlin sprechen zu können. Hoffentlich lockt Sie der Bodensee bald einmal wieder zu einem längeren Verbleib! Ich habe mich diesen Winter besonders intensiv mit Ihnen beschäftigt, da ich so etwas wie die »anthropologischen Grundlagen der psychologischen Erkenntnis« her ausarbeiten möchte, wobei mir trotz der im Grunde ja durchaus anders gearteten Tendenz von Sein und Zeit doch nichts nähersteht und mehr wert ist als dieses Buch und dann noch die Abhandlung über das Wesen vom Grunde. Ich weiss, dass es sich dabei meinerseits nur um Stückwerk im vollsten Sinne des Wortes handeln kann, aber ich habe im Gegensatz zu manchem Älterwerdenden keineswegs den Ehrgeiz, etwas »Abschliessendes« zu erarbeiten, sondern bin froh, wenn ich so recht fühle, dass ich immer wieder von vorne anfangen muss und anfangen kann. So habe ich nur von mir gesprochen, anstatt von Ihnen. Aber der Hölderlin-Vortrag ist so tief und erschütternd, dass brieflich darüber kaum etwas gesagt werden kann. Ich habe unser letztes Wiedersehen in Zürich11 in schönster Erinnerung und hoffe sehr auf ein Wiedersehen im Sommer. Mit den freundlichsten Grüssen, Ihr aufrichtig ergebener
Martin Heideggers Vortrag vom 02. April 1936 »Hölderlin und das Wesen der Dichtung« erschien 1936 im Dezemberheft der Zeitschrift Das innere Reich. Ein Sonderdruck erschien 1937 in einer 1. und 2. Auflage bei Albert Langen/Georg Müller, München. Der Vortrag ist aufgenommen in: Martin Heidegger, Erläute rungen zu Hölderlins Dichtung, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 4), Frankfurt am Main 1981, 33–48. 10 Emil Staiger (1908–1987) war Germanist und ab 1943 Professor für Germanistik an der Universität Zürich. Er wurde von Heidegger geprägt und war mit ihm befreundet. Seine Hauptwerke sind Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, Zürich 1939, Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1946, Die Kunst der Interpretation, Zürich 1955, sowie sein dreibändiges Werk Goethe, Zürich 1952–1959. 11 Heidegger hatte im Januar 1936 seinen berühmten Vortrag »Der Ursprung des Kunstwerkes« an der Universität Zürich auf Einladung der Studentenschaft gehalten. Binswanger muss Heidegger bei dieser Gelegenheit getroffen haben. 9
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
9. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Heidegger
Dr. L. B. 12. Februar 1944.
Sehr verehrter Herr Professor! Mein Verleger Niehans in Zürich hat Ihnen dieser Tage mein neues Buch12 geschickt; hoffentlich gelangt es in Ihre Hände. Ich bitte Sie, wenn Sie hineinsehen, sehr um Ihre Nachsicht und hoffe, dass Sie sehen werden, dass ich wiederholt den Unterschied zwi schen Ihren, rein ontologischen, Intentionen und meinen anthropologischen Bestre bungen betont habe. Ich wäre zufrieden, wenn Sie mir zugestehen würden, dass ich die neuen »Anstösse, die die Anthropologie von den ontologischen Problemen zu erwarten hat« (Sein und Zeit, S. 4713) genuützt habe. Wieviel ich Ihnen verdanke, werden Sie hoffentlich auf jeder Zeile sehen. Auch mein Buch Über Ideenflucht14 hätte ich ohne Sie nicht schreiben können. Ich höre von meinem Freund Staiger jedes Mal mit grösstem Interesse alles, was von Ihnen kommt, und kann Sie versichern, dass wir nie zusammen sind, ohne Ihrer dankbar und freundschaftlich zu gedenken. Mit den freundlichen Grüssen bin ich immer Ihr
Niehans hatte Binswangers berühmte Buch Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins 1942 ver öffentlicht. 13 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 71953, 47: »Die Abgrenzungen der existenzialen Analytik gegen Anthropologie, Psychologie und Biologie beziehen sich nur auf die grundsätzlich ontologische Frage. ›Wissenschaftstheoretisch‹ sind sie notwendig unzureichend schon allein deshalb, weil die Wissen schaftsstruktur der genannten Disziplinen – nicht etwa die ›Wissenschaftlichkeit‹ der an ihrer Förderung Arbeitenden – heute durch und durch fragwürdig ist und neuer Anstöße bedarf, die aus der ontologischen Problematik entspringen müsse.« 14 Ludwig Binswanger, Über Ideenflucht, Zürich 1933. 12
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
10. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Freiburg, den 24. Februar 1947 Zähringen Rötebuck 47. Sehr verehrter Herr Binswanger! Von Herrn Beringer15 höre ich, dass er plant, Sie nach Freiburg einzuladen zu Vortrag und Aussprache. Kürzlich versuchten wir im kleinen Kreis einige Fragen zu klären über Ihr Werk und die von Ihnen angebahnte Forschungsrichtung. Bei dieser Gelegenheit konnte ich für kurze Zeit auch Ihren Vortrag aus dem Herbst 1945 und den »Fall E. W.« studieren.16 Inzwischen ist auch die Neuauflage der Allgemeinen Psychopathologie von Jaspers erschienen.17 Weil Sie selbst durch Ihr großes Werk über die Fundamente und die Perspektiven und durch Ihre konkreten Untersuchungen seit der »Ideenflucht« über die Grundphänomene der Psychopathologie sich ausgesprochen haben, scheint mir der Augenblick günstig, eine Besinnung und Klärung zu versuchen. Ihr Hauptwerk ist so weit gedacht und so reich an Phänomenen, dass man denken sollte, jeder, der Augen hat, müsse sehen, wohin Sie das Ganze der Psychopathologie stellen. Aber weil es sich dabei um etwas Einfaches handelt, haben die meisten auch schon darüber hinweggesehen, bevor sie zu lesen beginnen. Das Gefüge und der Aufwand der bisherigen Wissenschaft beherrschen das Vorstellen. Die Jagd nach technischen Möglichkeiten der Untersuchung bestimmt die Ansprüche. Vor dem Glanz des wis senschaftlichen Betriebs verblasst das Unscheinbare, aber Entscheidende, dass die Nerven-, Geistes- und seelisch Kranken Menschen sind und dass der Forscher und der Arzt in einer menschlichen Begegnung zu diesen Menschen stehen. Warum soll endlich nicht und vor allem anderen dieser Bereich der menschlichen Begegnung und dieses ständige Medium aller Exploration in die strenge Besinnung genommen, der zufälligen Meinung und der Beliebigkeit des Standpunktes entzogen werden? Doch bis der Schritt, den Sie getan, nicht in Programmen, sondern im Zeigen und Aussprechen, begriffen und d. h. ursprünglich mitvollzogen wird, braucht es Zeit. Trotzdem Sie Ihren Weg klar abgrenzen gegen den Versuch, der einmal Fundamentalontologie hieß, trotzdem Sie innerhalb dieser Abgrenzung über Sein und Zeit hinaus in einen höheren Bereich des Menschlichen vordringen, wird man bei der üblichen Art, die mit Namen, Titeln und Richtungen rechnet, zunächst an der törichten Vorstellung hängen bleiben, dass Sie die abgewandelte Begriffssprache von Sein und Zeit in die Psychopathologie übertragen und durch Philosophie die Wissenschaft gefährden. Die tatsachensüchtige Wissenschaft sieht weder die Sache (den unscheinbaren Bereich des nächsten und eigentlichen menschlichen Begegnens), noch die Tat, dass Sie den Kurt Beringer (1893–1949) war ab 1934 Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Freiburg und Mitbegründer der Zeitschrift Der Nervenarzt. Er war mit Heidegger befreundet. 16 Ludwig Binswanger, »Über die daseinsanalytische Forschungsrichtung in der Psychiatrie«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 57, 1946, 209–235; Ludwig Binswanger, »Der Fall Ellen West (Schizophreniestudie)«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 53, 1944, 255–277; 54, 1944, 69–117 und 330–360; 55, 1945, 16–40. 15
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
Schritt aus der Subjekt-Objekt-Beziehung zum In-der-Welt-sein getan haben. Weder bei jener noch bei diesem handelt es sich um eine Theorie, sondern um ein Ereignis in der Geschichte des Seins, welche Geschichte der Mensch erfährt und achtet oder übergeht und vergisst. Der Übergang von einem zum anderen ist kein Wechsel von Methoden und Standpunkten, sondern eine Wende im Sein, bei der das Wesen und die Herrschaft der Technik und damit das Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft auf dem Spiel stehen. Doch die Haupttugend alles wesentlichen Denkens, die Geduld (austragen und war ten), lernen wir schwer und spät. Dabei hilft es doch unserer Schwäche zu wissen, dass dort und hier einer als Wanderer seinen Weg geht, aber nicht als Anhänger einer Sekte eine Meinung zur Geltung bringt. Darum danke ich Ihnen, dass Ihr grosses Werk da ist, und dafür, dass Sie es mir geschenkt haben. Ich wünsche nur, Ihr Vortrag von 1945 könnte gesondert zugänglich gemacht werden; denn er ist besonders erleuchtend in der souveränen Art, mit der er die anderen Richtungen in das Ganze der Psychopathologie aufhebt. Demgegenüber bleibt Jaspers in einer Registratur von methodischen Möglichkeiten hängen, ohne dass er sich darüber klar wird, dass die Methoden in etwas anderem gründen, was nicht nur Methode ist. Aber für jeden von uns gibt es eine Stelle, wo er nicht mehr zu erfahren und zu sagen vermag, was ihn selber denkt. Es wäre schön, wenn Sie kämen. Einen herzlichen Gruß Ihr Martin Heidegger.
17
Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, Berlin, 41947.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
11. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Heidegger
Dr. L. B. 6. März 1947.
Lieber Herr Professor! Sie haben mir mit Ihrem so freundlichen und eingehenden Brief vom 24. Februar eine ganz besonders grosse Freude gemacht, sowohl in persönlicher als in wissenschaftli cher Hinsicht. Ich hatte gefürchtet, dass Sie trotz meiner Betonung der verschiedenen Grundintentionen von Sein und Zeit und meinen Grundformen meine Berufung auf das erstere und meine Anknüpfung an dasselbe als »unzulässig« empfinden könnten. In dieser Hinsicht hat mich Jaspers einmal sehr enttäuscht. Umso glücklicher bin ich über Ihre Zustimmung zu meinem Weg innerhalb meines Bereiches. Dass ich mir darüber klar geworden bin, dass die Methoden in etwas anderem gründen, das nicht nur Methode ist, verdanke ich Ihnen, Ihnen ganz allein. Nachdem mir Husserl den naturalistischen »Star« gestochen und mir eine Methode in die Hand gegeben, mit der ich überhaupt erst anfangen konnte zu arbeiten, haben Sie mir den »idealistischen Star« gestochen und gezeigt, worin jede anthropologische Methode gründen muss. Ich habe Ihnen gleich nach Empfang Ihres Briefes einige Sonderabdrücke geschickt und bitte Sie, Herrn Prof. Beringer davon diejenigen zu leihen, die er noch nicht kennt. Ich habe mich sehr gefreut über Ihre Diskussion meiner Arbeiten mit Prof. Beringer, den ich von jeher als Persönlichkeit und Kollegen besonders schätze. Ich komme auch sehr gerne einmal nach Freiburg, schrieb aber an Prof. B., dass ich damit lieber bis zum Frühjahr oder Sommer warte. Anderseits möchte ich aber auch Sie anfragen, ob Sie Lust und die Möglichkeit hätten, einmal 8 oder 14 Tage mein Gast hier zu sein, wie es Leopold Ziegler18 kürzlich gewesen ist? Die Einreiseerlaubnis für die Schweiz wäre durch das zuständige Schweizer Konsulat mit einer Bescheinigung von mir, dass ich für die Kosten des Aufenthalts aufkomme, unschwer zu erreichen. Schwieriger ist die Erlangung der Ausreisebewilligung aus Deutschland. Ich hätte Ihnen auch längst schon ein Lebensmittelpaket geschickt, wenn Emil Staiger mir nicht gesagt hätte, dass Sie ihn gebeten hätten, davon abzustehen. Hat er Ihnen sein neuestes Buch über die Grund formen der Poetik geschickt?19 Ich habe eine zweite Studie zum Schizophrenieproblem im Schweizer Archiv für Psychiatrie veröffentlicht, von der ich Ihnen einen Sonderabdruck schicken werde, wenn es so weit ist.20 Eine dritte Studie ist in der Maschine.21 Ich bin überzeugt, dass wir nur durch gründlichste Analyse von Einzelfällen in der Psychopathologie (im weitesten Sinne dieses Wortes) vorwärts kommen. Im Februar hielt ich in der Leopold Ziegler (1881–1958) war Philosoph und freier Schriftsteller. Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1946. 20 Ludwig Binswanger, »Der Fall Jürg Zünd (Schizophreniestudie I-II)«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 56, 1945, 191–220; 58, 1946, 1–43. 21 Ludwig Binswanger, »Der Fall Jürg Zünd (Schizophreniestudie III)«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 59, 1947, 21–36. 18
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
Philosophischen Gesellschaft in Basel einen Vortrag über Henrik Ibsen und das Problem der Selbstrealisierung in der Kunst;22 es handelte sich um einen Ausschnitt aus einer grösseren Arbeit über dieses Thema mit einer ausführlichen Analyse des Baumeister Solness.23 Darüber könnte ich auch in Freiburg sprechen. Ich nehme die »Kategorien des Menschenverständnisses« da, wo ich sie finde, und, wie Sie wissen, mit Vorliebe beim Dichter. Auf dem Boden, [auf] dem ich jetzt dank Ihrer »Erziehung« stehe, haben die Gegensätze von gesund und krank und von faktisch und dichterisch keine primäre Bedeutung mehr. Mit nochmaligem herzlichen Dank für Ihren Brief Ihr dankbarer
Ludwig Binswanger, Henrik Ibsen und das Problem der Selbstrealisation in der Kunst, Heidelberg/Stutt gart 1949. 23 Baumeister Solneß, 1892 ist ein Theaterstück von Henrik Ibsen.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
12. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Freiburg i. Br. 6. Mai 47. Sehr verehrter, lieber Herr Binswanger! Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Brief und die wertvollen Separata. Herr Beringer kannte sie schon außer dem über die Sprache.24 Beim Studium Ihrer Arbeiten kommt mir immer wieder der Gedanke, Sie müßten jetzt aus der Fülle der Erfahrung und der Klarheit der Besinnung eine Hermeneutik der Exploration schreiben; dazu gehörte auch eine Hermeneutik der Art und Weise, wie Psychiater und Neurologen sich unterhalten. Diese Hermeneutik wäre nicht eine nachhinkende »Theorie« und »Grundlegung« zu einem schon in sich beruhenden Erfahren und Wissen. Sie wäre eine vorangehende Versammlung des Erfahrens und Wissens auf ihre wesentlichen Grundzüge. Sie wäre eine Gesetzgebung, die das Gesetz aus dem Verhalten und dem Geschick des Daseins erst werden ließe und – im Werden ließe. Es scheint, daß auch weltgeschichtlich für den Menschen der Augenblick gekommen ist, den Schritt zurück ins Einfache zu tun. Aber das verlangt viel Vorbereitung und wirkliche Vor-gänger. Ihre Vorliebe für die Dichter ist ein echtes Zeichen eines guten Geleits auf Ihrem Weg. Wenn erst einmal die Dichtung und mit ihr alle Kunst aus der Umklammerung durch die Subjektivität befreit ist, d. h. von aller Ästhetik, wenn der Mensch wieder geeignet wird, den Anspruch der Dichtung in das Wesen des Da-seins einschlagen zu lassen, so daß alle »moralische« Anwendung sich erübrigt, dann werden wir erst vermögen, im Wesen der Sprache als der Behausung des Menschen auf der Erde zu wohnen. Weil man immer noch aus weither wirkenden metaphysischen Gründen die Sprache als »Zeichen« und »Ausdruck« und damit instrumental nimmt, sehen wir noch nicht, inwiefern die Sprache geschicklich in sich uns Menschen schon das Sein voraussagt, das Wesen des Seins vorausschweigt. Deshalb, wegen der Verblendung gegenüber diesem Ereignis, sieht man alles Denken in der Sprache an als eine Vergötzung der »Sprachlichkeit«. Man meint, das Denken spreche vom Sprechen statt von der Sache, während doch die Sache selbst gerade das im Wort vorgesprochene, aber im Wesen verborgene – und darum erst zu denkende Sein selbst ist. Wenn wir angesichts einer Sache und eines Sachverhalts eine Aussage zurücknehmen und mit dem Sagen an uns halten, dann bleibt nicht eine wortlose »Sache« übrig, sondern die Sache ist unterdessen – ohne unser Zutun – in ein anderes Wort überund eingegangen. Für dieses Ereignis finde ich auch heute noch keine gemäßere Nennung als die in der Wendung: es weltet. Wir fangen damit erst an, uns dem Rätsel von »Welt« zu nähern. Sonst meinen sie immer noch, »In-der-Welt-sein« bedeute: innerhalb des Seienden im Ganzen als Seiendes der gleichen Art eine Stelle einnehmen. Allerdings ist in jenem Nennen noch etwas Fatales, an dem ich mich schon lange herummühe, was aber, weil es sich um das Wort handelt, tief in der Sache selbst schwierig ist, und das
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
»In-der-Welt-sein« soll das Wesen des Menschseins nennen und antwortet mit einem Sagen, das wieder das zu Nennende (»-sein«) wiederholt. Hier verbirgt sich anderes als ein nur ungenügend bedachter »Zirkel«. Diesen Fall erwähne ich nur, um anzudeuten, daß es im Denken gut ist, öfters wie neu ankommend dahin zurückzukehren, wohin der Weg schon einmal gelangte. – Für Ihre Einladung danke ich Ihnen herzlich. Ich muß Ihre Bereitschaft für die Handlung selbst nehmen. Denn in meinem Fall ist es ausgeschlossen, daß ich über die Grenze käme. Herr Staiger, der damals der erste war, der half, habe ich nur deshalb gebeten, von weiteren Sendungen abzusehen, weil ich dachte, daß er für viele andere auch und für sich selbst genug zu sorgen hat. Es ist so viel Not ringsum. Brauchen könnte ich schon eine Hilfe, da ich in meiner Arbeitskraft auf Fleisch und zur Kräftigung zwischendurch auf Chokolade angewiesen bin. Aber das sind unwahrscheinliche Sachen geworden. Staigers neues Buch habe ich nicht erhalten. Ich sah es nur vor einigen Wochen bei einem Herrn der Universität, dem es der Verleger selbst überbracht hat. Ich grüße Sie herzlich in der Hoffnung, daß wir uns bald wieder ein mal sehen. Ihr Martin Heidegger.
Ludwig Binswanger, »Über Sprache und Denken«, in: Studia Philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen philosophischen Gesellschaft 6, 1946, 30–50.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
13. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Heidegger
Dr. L. B. 13. Mai 1947.
Sehr verehrter Herr Professor! Sie haben mir mit Ihrem ausführlichen und eingehenden Brief vom 6. Mai eine grosse Freude gemacht, wofür ich Ihnen herzlich danke. Auf den Gedanken einer Hermeneutik der Exploration wäre ich von selbst nicht gekommen. Sie fassen das Problem so tief, dass es mich gleich gepackt und zur Diskus sion mit meinen jungen Freunden veranlasst hat. Ebenso gepackt hat mich, was Sie über die Dichtung und das Sicherübrigen aller moralischen Anwendung derselben sagen. Eine wirkliche philosophische Erschütterung bedeuteten Ihre Gedanken über Sprache, Aussagen und deren Zurücknahme, Weltung und In-der-Welt-sein. Ich musste dabei an Plato denken und sein immer neues Umkreisen und Vertiefen desselben Problems. Es handelt sich hier überall um Dinge, die ich mit meinen Freunden noch gründlich durchsprechen möchte. Sie werden sicher nichts dagegen haben, wenn ich dem einen oder andern eine Abschrift Ihrer rein philosophischen Ausführungen zum Nachdenken überlasse. Vor allem aber freue ich mich jetzt erst recht auf ein Gespräch mit Ihnen, von dem ich jetzt schon den Eindruck habe, dass es wohl einen Anfang, aber kein Ende haben wird, was aber sicher nicht gegen uns, sondern für uns spricht. Ich hoffe es doch noch zu erleben, Sie einmal bei mir zu sehen. Die Medikamente habe ich sogleich an Dr. Leiner25 schicken lassen. Ein Paket mit Fleisch und Schokolade wird folgen. Mein ältester Sohn,26 der ein eingefleischter Phänomenologe, Anthropologe und viel produktiver als ich ist, nimmt sich der »Grenzhilfe« ganz besonders an. Auch in dieser Hinsicht lassen sich Leib und Seele nicht mehr so trennen wie vor dem Krieg. Ich danke Ihnen für heute nochmals herzlich, dass Sie mir einen so tiefen Einblick in das »Welten« Ihrer Gedanken gegeben haben. Ihr Brief wird mich noch lange intensiv beschäftigen. Mit den freundlichsten Grüssen Ihr
Bruno Leiner (1890–1954) und Martin Heidegger lernten sich 1903/04 auf dem Konstanzer Gymnasium kennen. Sein Vater besaß die berühmte Malhaus-Apotheke. Bruno wurde sein Nachfolger. Heidegger und Leiner blieben zeitlebens gute Freunde. Siehe zu Leiner auch Heideggers »Nachruf für Bruno Leiner (14. Dezember 1954)«, in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (GA 16), 516. 26 Wolfgang Binswanger (1914–1993) übernahm 1957 bis zu deren Schließung 1980 die Klinik »Villa Bellevue« von seinem Vater. 25
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
14. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Todtnauberg, den 12. Juni 47. Lieber Herr Binswanger! Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Brief vom 13. Mai und besonders für Ihre freundliche Hilfe. Die Medikamente und ein Paket mit zwei Dosen Fleisch aus Konstanz kamen wohlbehalten an. Bitte machen Sie sich aber keine weitere Mühe um mich. Inzwischen war Szilasi27 hier zu philosophischen Gesprächen; ich hoffe, dass wir diese im Herbst zu vieren – mit Ihnen und Staiger – fortsetzen können. Ich bin jetzt für die ganze Sommerzeit in Todtnauberg in unserer kleinen Hütte, um hier zu konzentrierter, ungestörter Arbeit zu kommen. Mit herzlichen Grüssen und Wünschen für Ihre Arbeit Ihr Martin Heidegger Bitte sagen Sie nicht mehr »Professor«; es entspricht nicht der Höhe unserer Ausspra che.
27 Wilhelm Szilasi (1889–1966) war ein ungarisch-deutscher Philosoph. Schon Anfang 1920 studierte er bei Heidegger. Später folgte er ihm nach Marburg. Die beiden entwickelten eine lebenslange Freundschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Szilasi von 1947 bis 1964 Vertreter des Lehrstuhls von Heidegger. Zu seinen Hauptwerken gehören Macht und Ohnmacht des Geistes. Interpretationen von Werken von Platon und Aristoteles, Bern 1946, und Philosophie und Naturwissenschaft, Bern 1961.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
15. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Frbg. 27. Mai 49 Lieber Herr Binswanger! Am 12./13. Juni treffen wir uns in Konstanz zu unserem 40jährigen Abiturentenju biläum. Ich wohne in diesen Tagen bei meinem Klassenkameraden Dr. Leiner (Mal haus). Wäre es möglich, daß Sie vielleicht am 11. Juni für einige Stunden nach Konstanz kämen? Ich würde den ganzen Tag für Sie frei halten. Gespräche sind fruchtbarer und nötiger als das Schreiben. Vielleicht wäre es möglich, um diese Ferienzeit auch Herrn Staiger einmal zu sprechen. Könnten Sie ihm den Vorschlag vielleicht telephonisch mitteilen? Ich bin vom 1. Juni ab bei meinem Bruder Fritz28 in Meßkirch. Kreis Stockach (auch telephonisch zu erreichen durch die Volksbank Meßkirch). Ich würde mich sehr freuen, wenn ein Wiedersehen möglich würde. Mit herzlichen Grüßen und Dank für den »Ibsen«. Ihr Martin Heidegger
Friedrich »Fritz« Heidegger (1894–1980) lebte in Meßkirch und arbeitete an der dortigen Volksbank. 1938 hat er angefangen, Typoskripte der Manuskripte seines Bruders anzufertigen.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
16. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Heidegger
Dr. L. B. Kreuzlingen, 31. Mai 1949
Sehr verehrter, lieber Herr Professor! Ich bin sehr glücklich über die Aussicht auf unser baldiges Wiedersehen. Wenn nichts dazwischen kommt und ich nichts anderes berichte, werde ich am Samstag, den 11. Juni, 15.00 deutscher Zeit Sie an der Grenze Kreuzlinger-Tor erwarten und mich für den Nachmittag freimachen. Es wäre natürlich noch schöner, wenn ich Ihnen einen Tagessschein nach Kreuzlingen verschaffen könnte. In diesem Fall würde ich Sie vorher noch benachrichtigen. Ich werde jedenfalls mein Möglichstes versuchen. – Was Emil Staiger betrifft, so wäre er leider einzig und allein Sonntag, den 12.VI., frei (Samstag Fakultätssitzung, Montag Militärdienst). Sollten Sie sich Sonntag doch etwas freima chen können, so würde er versuchen, einen Tagesschein zu erhalten, obwohl an und für sich nur Grenzanwohner die Berechtigung dazu haben. Es gibt aber Ausnahmen. – Meine Telephonnummer ist: 8 42 31. Ich wünsche Ihnen, lieber Herr Professor, recht gute Ferien und bin mit den freundlichsten Grüßen Ihr stets dankbarer
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
17. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Meßkirch, 2. Juni 49. Sehr verehrter, lieber Herr Binswanger! Ich danke Ihnen für Ihre Karte und den Anruf. Da wir nicht telephonieren können, schi cke ich sogleich das Telegramm. Es wäre schön, wenn Herr Staiger mit da sein könnte. Ich kann es so einrichten, daß ich schon am Vormittag, den 12. Juni, frei bin, so daß ein ausgiebigeres Gespräch möglich wird. Ich komme Samstag den 11. vormittags in Konstanz bei Dr. Leiner, Malhaus an. Bis dahin bin ich jederzeit über die hiesige Volksbank zu erreichen. Ich freue mich sehr auf das Wiedersehen und bin mit den freundlichsten Grü ßen Ihr Martin Heidegger
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
18. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Heidegger
Dr. L. B. 22. Sept. 1949.
Sehr verehrter, lieber Herr Professor! Empfangen Sie meine herzlichsten Glückwünsche zu Ihrem 60. Geburtstag. Da Sie wohl ermessen können, was ich Ihnen für meine wissenschaftliche Laufbahn verdanke, werden Sie auch verstehen, dass ich diesen Dank nicht in Worte fassen, sondern nur durch weitere Arbeiten mir verdienen kann. Was ich Ihnen zu Ihrem 60. Geburtstag in erster Linie wünsche, ist die Möglichkeit zu unangefochtener Weiterarbeit, von der für uns Alle, die wir uns als Ihre Schüler betrachten, so viel abhängt. Für uns bedeutet ja jeder Schritt Ihres Denkens, sobald wir ihn mitzuvollziehen vermögen, eine unmittelbare Teilnahme am Gang der Geschichte der Philosophie! Infolgedessen ist für mich auch der persönliche Verkehr mit Ihnen von so grossem und einzigartigen Wert. Wir freuen uns Alle auf Ihren für Ende Oktober angekündigten Besuch. Jeder Ihrer Besuche ist für mich und meine Freunde nicht nur ein freundschaftliches, sondern auch ein historisches Ereignis. Ihr Interesse für meine Arbeiten ist für mich immer ein Ansporn, und ich möchte auch heute wieder zum Ausdruck bringen, wie froh ich über Ihre Weitherzigkeit bin, die ich darin erblicke, dass Sie für meine spezialwissenschaftlichen Intentionen und deren Abbiegung von den Ihrigen soviel Verständnis haben. Dass unser Zusammensein bei unserem gemeinsamen Freunde Beringer das letzte gewesen ist und er uns so rasch entrissen worden ist, schmerzt mich tief, und ich weiss mich auch in dieser Trauer mit Ihnen verbunden. Bitte empfehlen Sie mich Ihrer Gattin. Es war mir eine grosse Freude, sie in Freiburg begrüssen zu dürfen. Ihnen selbst, lieber Herr Professor, wünsche ich noch einmal von Herzen alles Gute. Seien Sie versichert, dass ich Ihrer an Ihrem Geburtstag in Freundschaft und Verehrung gedenken werde. Mit herzlichem Gruss Ihr
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
19. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Herrn Prof. Heidegger Todtnauberg Freiburg i/Br.
16. November 1949.
Sehr verehrter Herr Professor, Sie wissen vielleicht nicht, was für eine grosse Freude Sie mir mit Ihrem »Feldweg«29 gemacht haben. Ich lese ihn immer wieder und freue mich nicht nur über die vollendete künstlerische Form, sondern vor allem darüber, wie erstaunlich es Ihnen gelungen ist, das Einfache in seiner lebensgeschichtlichen und humanen Verschlungenheit darzustellen, und zwar derart, dass es jedem, der dem Einfachen noch zugänglich ist, ans Herz greift. Dieser »Feldweg« hat es mir aus eigener Erfahrung und eigener Betrachtung angetan. Ich verstehe jetzt schon besser, was die »Holzwege« bedeuten sollen und wohin sie führen. Wenn Sie mir einmal ein kritisches Wort zu meinem Beitrag in Ihrer Festschrift30 sagen würden, wäre ich Ihnen dankbar, auch wenn Ihr Urteil ablehnend wäre. Es handelte sich lediglich um einen Versuch. Ich hoffe, dass Sie die »Lola Voss«31 bekommen und gesehen haben, wie viel ich auch in dieser Arbeit Ihnen verdanke. Wir hatten alle gehofft, Sie im Oktober bei uns zu sehen. Hoffentlich holen Sie Ihr Vorhaben bald nach. Mit den freundlichsten Grüssen stets Ihr
Martin Heidegger, Der Feldweg, Frankfurt am Main 1949. Ludwig Binswanger, »Die Bedeutung der Daseinsanalytik Martin Heideggers für das Selbstverständnis der Psychiatrie«, in Martin Heideggers Einfluss auf die Wissenschaften. Festschrift zum 60. Geburtstag, Bern 1949, 58–75. 31 Lola Voß war eine schizophrene Patientin, die von Ludwig Binswanger analysiert wurde. Er veröffentlichte später die Schizophreniestudie »Der Fall Lola Voß«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 63 (1949), 29–97. 29
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
20. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Heidegger Freiburg i/Br.
Dr. L. B. 28. Dez. 1949.
Lieber Herr Professor! Ich war freudig überrascht und beglückt, nach dem Feldweg nun auch die Holzwege aus Ihrer Hand zu erhalten.32 Beides gehört ja zusammen! Die Holzwege sind nun in drei Exemplaren hier vertreten, da auch mein Sohn und einer meiner Ärzte sie unbedingt für sich haben wollten, ein viertes ist bei Dr. Kuhn.33 Zu Weihnachten wünschte sich einer meiner Ärzte »Sein und Zeit«, der andere Ihre Festschrift,34 die, nebenbei bemerkt, leider keineswegs so ausgefallen ist, wie wir alle es gewünscht hätten. Sie sehen aus meinen Angaben, dass Sie hier (»auf den Kopf der Bevölkerung berechnet«) eine ansehnliche Gemeinde haben, die nur hofft, dass Sie recht bald einmal wiederkommen werden. Ich glaube nicht, dass Sie so leicht eine für Sie aufgeschlossenere Gemeinschaft finden würden als hier. Mit diesem Wunsch, so egoistisch er auch ist, möchte ich meine Glückwünsche zum neuen Jahre einleiten! Ich habe die Holzwege von A bis Z zum ersten-, aber nicht zum letzten Mal gelesen. Sie haben mich bei Tag und bei Nacht, in meinem Studierzimmer und auf der Bahn begleitet. Ich wüsste keine wichtigere, unzeitgemäss-(zeitgemässere) Lektüre und nichts, wo ich mehr lernen, ja anfangen zu lernen könnte. Seit den Holzwegen habe ich erst den rechten Zugang zum »Wesen der Wahrheit«35 und zum Wesen des Fragens nach dem Sein. Den Preis geben sowohl mein Sohn als ich dem Spruch des Anaximander.36 Die Linienführung des Denkens tritt hier so klar und zwingend vor Augen, fordert bei aller Herausforderung so gebieterisch in das Denken hinein, dass einem der Schluss wie ein reifer Apfel in den Schoss fällt. Wie gern habe ich mich dabei daran erinnert, dass ich in Konstanz auf denselben Schulbänken gesessen habe wie Sie! Der Ursprung des Kunstwerks37 wiederum hat mich an unser Zusammensein in Zürich und Ihren dortigen Vortrag erinnert, war mir aber trotzdem völlig neu. Das Thema Erde und Welt spielt in den Gesprächen zwischen meinem Sohn und mir seitdem eine grosse Rolle. Der Hegel-Aufsatz38 ist sicher der schwierigste; ich bekam alle Hochachtung
32 33 34 35 36 37 38
Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt am Main 1950. Roland Kuhn (1912–2005) war ein Schweizer Psychiater und Freund von Binswanger. Martin Heideggers Einfluss auf die Wissenschaften. Festschrift zum 60. Geburtstag, Bern 1949. Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, Frankfurt am Main 1943. Martin Heidegger, »Der Spruch vom Anaximander«, in: ders., Holzwege, 296–343. Martin Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: ders., Holzwege, 1–68. Martin Heidegger, »Hegels Begriff der Erfahrung«, in: ders., Holzwege, 105–192.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
vor Ihren Seminaristen! Trotz Windelband,39 N. Hartmann,40 Haering,41 Alain42 und anderen und wiederholten eigenen Versuchen in der Phänomenologie d.[es] G.[eistes] haben erst Sie mir die Augen geöffnet. Sehr wichtig war mir der Unterschied im Sprachgebrauch des Wortes »Sein« zwischen Ihnen und Hegel, die Beziehung zwischen der modernen technischen Welt und dem natürlichen Bewusstsein, die Kennzeichnung der Metaphysik vor und nach Sokrates und Plato und vieles andere. Dass ich von dem Aufsatz über Die Zeit des Weltbildes43 und dem über Nietzsche,44 aber auch über Rilke45 besonders viel gehabt habe, werden Sie ohne weiteres verstehen. Besonders wichtig waren mir die Anmerkungen zu dem ersten Vortrag. Ihre Kennzeichnung der Anthropologie mache ich mir vollständig zu eigen. Ich habe in mir nie einen Philosophen gesehen, sondern immer nur einen »Beschreiber«. Hingegen habe ich mir mein ganzes Leben hindurch klarzuwerden versucht über die Leitfäden und Grundlagen meines Beschreibens und habe dabei gesehen, dass das Beschreiben selbst in den ersteren schon enthalten ist. Niemand aber hat mich darin mehr gefördert als Husserl und Sie. Eine betrübliche Wirkung der Lektüre Ihrer Schriften ist nur immer die, dass man sich darnach als ein Stammler und Stümper fühlt. Früher hat es mich betrübt, jetzt nehme ich es als Schicksal hin. Auch diesen Brief betrachte ich lediglich als ein Gestammel. Im Übrigen wiederhole ich meinen Eingangswunsch, wünsche Ihnen und Ihrer Gattin aber auch alles Gute zum neuen Jahr und bin mit den freundlichsten Grüssen für Sie Beide, auch von meiner Frau, Ihr
Wilhelm Windelband (1848–1915) war der Begründer der Südwestdeutschen Schule des Neukantianis mus. 1877 wurde er auf den philosophischen Lehrstuhl der Universität Freiburg berufen. Heidegger wurde später Inhaber des gleichen Lehrstuhls. 40 Nicolai Hartmann (1882–1950) war als Philosoph Vertreter eines kritischen Realismus und Professor u. a. in Marburg. 41 Theodor Haering (1884–1964) war Philosoph und Professor an der Universität Tübingen. 42 Émile-Auguste Chartier (1868–1951), bekannt unter dem Namen »Alain«, war ein französischer Philo soph und Schriftsteller. 43 Martin Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes«, in: ders., Holzwege, 69–104. 44 Martin Heidegger, »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, in: ders., Holzwege, 193–247. 45 Martin Heidegger, »Wozu Dichter?«, in: ders., Holzwege, 248–295. 39
40 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
21. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Freiburg i. B. 16. April 51. Sehr verehrter Herr Binswanger! Zu Ihrem siebzigsten Geburtstag beglückwünsche ich Sie herzlich. Bei Ihrer geistigen Aufgeschlossenheit und Frische brauchen wir eigentlich nur zu wünschen, daß es möglichst lange so bleibe, wie es ist. Vermutlich werden Sie jetzt den Schritt zur Vita contemplativa noch entschiedener vollziehen und manchen Plan noch gesammelter angreifen können. Ich denke dabei besonders an die Hermeneutik der Exploration, die mir immer wieder als das dringlichste vor Augen kommt, so oft ich als Laie vor die Fragen der Psychiatrie komme. Mir kommen die Ergebnisse dieser Wissenschaft, losgelöst von der jeweiligen hermeneutischen Position und deren Einordnung in die geisteswissenschaftlichen Situationen und deren Zusammenhänge, leicht unergiebig vor. Wo Sie aber gerade dieses alles beherrschen und nach den wichtigsten Stationen selber durchlaufen haben, müßte es Ihnen glücken, für die Nachkommenden ein unentbehrliches Handwerkszeug zu schaffen, das selber lebendig bleibt, weil es sich nicht in eine technische Methodik verirrt. Ihre Familie, Ihre Mitarbeiter und Freunde werden Ihren Festtag in der gebührenden Weise mit Ihnen feiern. Mögen Sie daraus die Gewißheit schöpfen, daß es notwendig bleibt für die Wirksam keit des Geistes zu sorgen, auch wenn die Verwirrung der Welt sich steigert und das Wort des Denkens ungehört verhallt. Mit den besten Wünschen und Empfehlungen Ihr Martin Heidegger
41 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
22. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Heidegger
Dr. L. B. 24. April 1951.
Lieber Herr Professor! Sie haben mir mit Ihrem so freundlichen und verständnisvollen Glückwunsch eine grosse Freude gemacht. Ich danke Ihnen. Was Ihr lieber Gruss für mich bedeutet, vermögen Sie nur dann zu ermessen, wenn Sie bedenken, dass ich erst durch Ihren Lehrer Husserl zu meinem eigenen geistigen Sein erwacht bin und erst durch Sie anfing, gehen zu lernen und mich frei zu bewegen. Deswegen sage ich Ihnen auch heute wieder, wie beglückend es für uns wäre, wenn Sie wieder einmal zu uns in die Nordostecke der Schweiz herüber kämen. Seit Ihrem letzten Besuch sind sowohl Roland Kuhn, als mein Sohn, als ich selbst wieder etwas weitergekommen. Wir könnten Ihnen zwar weder einen Holzweg, noch einen Feldweg bieten, dafür aber einen Seeweg, hinter dessen Hecke, wie ich glaube sagen zu dürfen, Ihr Weizen so blüht, wie vielleicht nur an wenigen anderen Gestaden. Leider lässt die reine vita contemplativa noch einige Jahre auf sich warten. Trotzdem die vita activa mich gerade in den letzten Jahren wieder mehr zu verschlingen droht, als es in früheren Jahren der Fall war, setze ich meine Studien in heissem Ringen mit Zeit und Kräften fort. Ich bin jetzt an meiner vierten Schizophreniestudie, die den Namen Susanne Urban46 tragen wird und dem schizophrenen Verfolgungswahn, den schon die früheren Studien im Auge hatten, nunmehr energisch zu Leibe gehen wird. Gerade die Wahnforschung war bisher, um Ihren eigenen Ausdruck zu gebrauchen, sehr unergiebig. Solange wir den Wahn nicht verstehen, sind wir Psychiater nur lallende Kinder. Die »Hermeneutik der Exploration« wird daher leider noch auf sich warten lassen. Sie haben mich schon in einem früheren Briefe auf diese Aufgabe hingewiesen. Bei unserm nächsten Zusammensein müsste sie, wenn es Ihnen recht ist, ein Hauptthema bilden. Sie sehen mich auf einer gewissen Höhe, ich sehe mich noch ganz auf halber Höhe. Ich freue mich aber, dass die Jugend, und gerade die Besten unter ihr, mich nicht nur begleitet, sondern in mancher Hinsicht schon überholt hat. Das zeigt nur, dass »die Sache selbst« so stark ist und so fruchtbar, dass sie ganz von sich aus sich weiter entbirgt und weiter nwächst. In Ihren Augen müssen wir als Handwerker erscheinen. Es ist aber ein Trost für mich, zu wissen, wie sehr Sie das Handwerk schätzen. Wissen wir doch erst durch Sie, was Handwerk bedeutet. Damit komme ich zurück auf das Thema der Exploration, die ja unser Handwerk bildet, und auf die volle Berechtigung Ihres Vorschlags, deren Hermeneutik für die Nachkommenden auszuschaffen. Diese Hermeneutik wird mit Sicherheit eines Tages ans Licht treten, ganz gleich, ob ich es bin, der sie ans Licht bringt, oder ein Anderer. Ludwig Binswanger, »Der Fall Suzanne Urban (Schizophreniestudie)«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 69, 1952, 36–77; 70 (1952), 1–32 und 71, 1953, 57–96.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
Ich wünsche Ihnen, lieber Herr Professor, von Herzen alles Gute für Ihre Arbeit, danke Ihnen noch einmal herzlich und bin mit den freundlichsten Grüssen von meiner Frau, meinem Sohn und mir selbst in Verehrung und Dankbarkeit Ihr
23. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Frbg. 23. Jan. 54 Sehr verehrter, lieber Herr Binswanger! Ich danke Ihnen für Ihre Zeilen. Von Dienstag früh bis Donnerstagabend sind meine Frau und ich, wie schon länger verabredet, bei unserem jüngeren Sohn47 und seiner Frau in einem Schwarzwalddorf, wo er Lehrer ist, zu Besuch. Wir würden uns jedoch sehr freuen, wenn Sie am Freitag, den 28. Jan., nachmittags nach fünf Uhr zum Tee herauskommen wollten. Das Weitere für den Abend können wir dann noch besprechen. Mit den freundlichsten Grüßen und den besten Empfehlungen Ihr Martin Heidegger
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Hermann Heidegger (1920–2020) war mit Jutta Stölting (1929–2020) verheiratet.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
24. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. M. Heidegger
Dr. L. B. 4. Februar 1954.
Sehr verehrter Herr Professor! Es war für mich sehr schmerzlich, nicht zu Ihren beiden Vorträgen nach Zürich kommen zu können.48 Ganz abgesehen davon, dass ich sehr gerne wieder etwas von Ihnen gelernt hätte, wollte ich, wie Prof. Staiger Ihnen gesagt haben wird, mit Ihnen das Jubiläum unserer 25jährigen Bekanntschaft feiern. Damals fuhr ich (nämlich im Februar 1929) für Ihren Vortrag in der Kant-Gesellschaft bis nach Frankfurt, und diesmal konnte ich nicht einmal nach Zürich kommen! Eine Erkältung und die Winterkälte setzten mir ein kategorisches Nein entgegen. Ich erinnere mich nicht mehr an Titel und Inhalt Ihres damaligen Vortrages in Frankfurt, jedoch erinnere ich mich, wie wenn es gestern gewesen wäre, an meine erste persönliche Begegnung mit Ihnen bei Prof. Riezler,49 bei dem wir mit einigen anderen Herren zum Nachtessen eingeladen waren. Da nach dem Essen niemand das Wort ergriff, frug ich Sie, ob ich Sie recht verstanden hätte mit der Annahme, dass Sie das eigentliche Philosophieren nur im philosophischen Zwiegespräch und dem aus ihm hervorgehenden philosophischen Gedanken erblickten (so ungefähr). Jedenfalls erinnere ich mich, dass Sie meine Annahme damals durchaus bestätigten. Dr. Kuhn, der Ihnen auch schreibt, musste mir gleich telephonisch über Ihren Vortrag bei der Studentenschaft berichten. Ich hoffe sehr, dass man ihn bald gedruckt lesen kann, umso mehr als Sie auch über die Psychiatrie als Wissenschaft gesprochen haben sollen. Wir erwarten Sie sehnlichst im Juni in Kreuzlingen oder Münsterlingen, am liebsten in Kreuzlingen und Münsterlingen. Mit den freundlichsten Grüssen stets Ihr
Binswanger verweist hier auf Heideggers Vortrag und Aussprache am 5. und 6. November in Zürich. Vgl. hierzu das Nachwort von Curd Ochwadt in: Martin Heidegger, Seminare, hrsg. von Curd Ochwadt (GA 15), Frankfurt am Main 1986, 444: »Auf Einladung des Vortragsausschusses der Studentenschaft der Universität Zürich sprach Heidegger am 5. November 1951 im Auditorium Maximum der Eidgenössischen Technischen Hochschule (die Studentenschaften beider Zürcher Hochschulen arbeiteten bei solchen Vorträgen zusam men). Als er das Vortragsthema endgültig festlegte, hatte er eine Aussprache schon im Blick; er schrieb am 18. Oktober 1951 an Beda Allemann, der als Vorsitzender des Ausschusses eingeladen hatte: ›… möchte ich bei dem zuletzt vorgeschlagenen Thema bleiben: ›dichterisch wohnet der Mensch…‹. Darin klingt auch das Problem der Sprache an in einer Weise, die für alle Beteiligten günstige Ansatzpunkte für eine Aussprache bietet. Außerdem trifft es mit dem Problembezirk zusammen, den Herr Prof. Spoerri in seinem neuesten Buch Die Struktur der Existenz, das er mir dieser Tage schickte, behandelt. So glaube ich, daß der Vortrag genug Anregung bieten wird.« Am Tag danach fand eine Aussprache Heideggers mit einigen Professoren und den Studenten statt. 49 Kurt Riezler (1882–1955) war Philosoph und Diplomat. Er hatte Heidegger 1929 in Frankfurt am Main kennengelernt. 48
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
25. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Heidegger
Dr. L. B. 17. Juni 1954.
Sehr verehrter Herr Heidegger! Ich wäre sehr froh, wenn ich Sie vor oder nach dem 29. hier oder in Konstanz sehen könnte, natürlich am liebsten hier bei mir. Nach dem Vortrag wäre die Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch wohl gering, und ausserdem gehe ich abends nicht mehr spät aus. Wenn ich zeitig weiß, ob und wann Sie zu mir kommen, könnte ich auch Emil Staiger und Roland Kuhn benachrichtigen. Ich hätte auch ein bestimmtes, wie Sie wis sen für mich ganz besonders brennendes Dilemma, das Sie schon in einem Brief an mich vom 6. Mai 1947 sehr klar formuliert haben. Ich wüsste gerne, wie Sie heute über dieses Thema denken. Ich selber habe jenen »Zirkel« sicherlich nicht gelöst, sondern nur wie einen gordischen Knoten zerhauen. Und doch liegt er am »Grunde« meines ganzen psychiatrischen Schaffens. Sie schrieben damals: »Allerdings ist in jenem Namen (dem In-der-Welt-Sein) noch etwas Fatales, an dem ich mich schon lange herummühe, was aber, weil es sich um das Wort handelt, tief in der Sache selbst schwierig ist. Das In-der-Welt-Sein soll das Wesen des Menschen seiend nennen und antwortet mit einem Sagen, das wieder das zu nennende – »Sein« – wiederholt. Hier verbirgt sich Anderes als ein nur ungenügend bedachter Zirkel.« Sie werden verstehen, dass mir diese Sache seither nicht aus dem Sinn gekommen ist, ohne dass ich selber aber eine philosophische Lösung des Dilemmas gefunden hätte. Eine solche Lösung kann aber nur der Philosoph suchen; ich selbst habe mich nie für einen Philosophen gehalten. Mit den freundlichsten Grüssen und in der Hoffnung auf ein Wiedersehen Ihr P.S. Nachdem ich diesen Brief diktiert, las ich auf S. 73 f. in »Was heisst Denken?«50 den Passus, dass jede Lehre vom Sein in sich schon Lehre vom Wesen des Menschen ist und dass in dieser Frage eine abgründige Schwierigkeit liegt. Sie ist wohl aufs Engste mit Ihrer damaligen Briefstelle in Zusammenhang. Bei der Lektüre von »Was heisst Denken?«, die ich erst in diesen Tagen in Angriff genommen habe, ergreift mich ein philosophischer Thambos.51
Martin Heidegger, Was heißt Denken?, Tübingen 1954, 73 f.: »Denn die Lehre vom Übermenschen, die ihrem Wesen nach nicht Anthropologie sein kann, gehört, wie jede metaphysische Lehre vom Menschen, zur Grundlehre jeder Metaphysik, zur Lehre vom Sein des Seienden.« 51 Altgr. θᾰ́μβος (thámbos) bedeutet »Scheu«, »Wunder«, »Staunen«. 50
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
26. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Heidegger
Dr. L. B. 17. Juli 1954.
Sehr verehrter, lieber Herr Professor! Bevor ich zu der Lucerna-Woche nach Luzern fahre, möchte ich Ihnen noch sehr herzlich danken für die Übersendung Ihrer »Frage nach der Technik«52 mit der freund lichen Widmung, sowie für die Rücksendung des zweiten Exemplars der »Suzanne Urban«. »Die Frage nach der Technik« habe ich bereits zweimal gelesen, muss sie aber noch öfters lesen. Ich bin auch von diesem Vortrag und seiner Sprachgewalt sehr beeindruckt und nehme Ihnen auch das Ge-stell keineswegs übel, wie es Ihnen manche »Widersacher« übelnehmen werden. Ich glaube aber, dass niemand mehr Ursache hat als Sie, den Goethe’schen Spruch zu zitieren: »Widersacher kommen nicht in Betracht«.53 Inzwischen habe ich auch den Vortrag über das Wohnen und Bauen und den Beitrag zu der Barlach-Schrift gelesen.54 Ersterer noch unverdaut, letzterer leicht eingegangen. Ich muss mich noch entschuldigen, dass das von mir erwartete Echo auf Ihren Vortrag in Konstanz so mager ausfiel.55 Er ging mir aber nach der eingehenden Lektüre von »Was heisst Denken?« so leicht ein, dass ich nur sagen konnte: ja. Nachholen muss ich hingegen noch, dass ich in Ihrem Vortrag zum erstenmal in meinem langen Leben eine Antwort bekam auf die Frage: was heisst Sinn? Ich freue mich schon jetzt auf unser Zusammensein im Oktober und bin mit den freundlichsten Grüssen für Sie und Ihre Gattin stets Ihr verte! P.S. Fast hätte ich vergessen, Ihnen noch zu danken, dass Sie mir in Konstanz eine Zusammenkunft ermöglicht haben, und Ihnen zu sagen, dass Sie mir damit nicht nur eine grosse Freude gemacht, sondern auch einen grossen Auftrieb gegeben haben.
52 Martin Heidegger, »Die Frage nach der Technik«, in: Die Künste im technischen Zeitalter, hrsg. von der Bayerischen Akademie der schönen Künste, München 1954, 70–108. 53 Johann Wolfgang Goethe, Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, in: ders., Werke 13 (Hamburger Ausgabe), München 1998, 37–41, 38. 54 Martin Heidegger, »Bauen Wohnen Denken«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 139–156; n. XXVI von: Martin Heidegger, »Überwindung der Metaphysik«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, 71–99, 91–97, ursprünglich erschienen im Barlachheft des Landestheaters Darmstadt 1951. 55 Martin Heidegger, »Aletheia (Heraklit, Fragment 16)«, in: Άντίδωρον. Festschrift zur Feier des 350jährigen Bestehens des Humanistischen Heinrich-Suso-Gymnasiums in Konstanz, Konstanz 1954, 60–76. Der Text wurde aufgenommen in: Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 249–271.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
27. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Martin Heidegger
Dr. L. B. 15. November 1954.
Sehr verehrter, lieber Herr Professor! Ich danke Ihnen sehr für die freundliche Übersendung der drei Sonderabdrücke. Ich nehme an, dass einer für Prof. Staiger und einer für Dr. Kuhn bestimmt ist. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mir den Vortrag in dieser Fassung, d. h. mit dieser Einleitung, zugänglich gemacht haben, da die Einleitung für das Verständnis des Logos-Aufsatzes56 mir höchst willkommen ist. Ich möchte gleich bemerken, dass mich die Sammlung Ihrer Vorträge und Aufsätze von A – Z geradezu fasziniert hat. Ich halte meinen Berner Vortrag im Januar vielleicht in Freiburg i/Br. und würde Sie bei dieser Gelegenheit sehr gerne sehen, sei es bei Ihnen, sei es bei einem der anderen Herren. Ich habe mich bisher nie recht getraut, Sie in Freiburg oder im Schwarzwald aufzusuchen, da mir bekannt ist, von wie vielen Leuten Ihre Zeit in Anspruch genommen und zum Teil gestohlen wird. Unsere Unterredung in Konstanz und Ihr freundlicher Besuch bei mir machen mir aber Mut zu meiner Bitte. Gerade im Anschluss an den Berner Vortrag habe ich eine wichtige Frage an Sie auf dem Herzen. Was den Berner Vortrag selbst betrifft, so habe ich ihn zunächst Dr. Kuhn in toto zur Lektüre gegeben, worauf er mir erklärte, es schien ihm doch richtiger, ich liesse ihn, wie er ist, da er ihm zu festgefügt erschiene, um ihn ganz umzukrempeln. Ich habe mir aber doch Ihre und Staigers Bedenken zu Herzen genommen und den ersten Teil etwas straffer gefasst und gekürzt. Es kommt mir vor allem darauf an, zu zeigen, dass die Kierkegaardʼsche und Sophokleische Forderung erst durch Sie ihre eigentliche philosophische Begründung und Durchführbarkeit gefunden hat, womit dann erst für die Psychiatrie der »Grund und Boden« gelegt werden konnte. Ich danke Ihnen noch einmal herzlich für Ihren Besuch mit den beiden anderen Herren, für Ihre Vorlesung und die Eintragung des mir so lieben Heraklit-Zitats in unser Gästebuch. Ich wäre zu gerne mit Ihnen und Staiger noch nach Meersburg gefahren, fühlte mich von den Festlichkeiten aber doch etwas zu sehr mitgenommen, um noch ein erfreulicher Gesellschafter zu sein. Mit den freundlichsten Grüssen, auch von meiner Frau, und den besten Empfehlungen an Ihre Gattin Ihr sehr ergebener
56
Martin Heidegger, »Logos (Heraklit, Fragment 50)«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, 198–221.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
28. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Heidegger
Dr. L. B. 19. Januar 1955.
Sehr verehrter, lieber Herr Professor! Mein Vortrag in der Universität in Freiburg i/Br. ist auf Donnerstag den 27. Januar festgesetzt.57 Am 28. früh spreche ich in der Klinik von Prof. Ruffin.58 Ich würde mich, wie ich Ihnen schon schrieb, sehr freuen, wenn wir uns irgendwo sehen könnten. An Material zum Vorlesen und zum Fragen fehlt es mir nicht. Sollte ich Sie nicht allein sehen können, so möchte ich Ihnen doch schriftlich sagen, wie sehr ich auch im Hinblick auf Sie den so raschen Tod von Dr. Leiner bedauert habe, da Sie in ihm einen so treuen Freund verloren haben. Mit den freundlichsten Grüssen und in der Freude, Sie wiederzusehen, Ihr
29. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Heidegger
Dr. L. B. Kreuzlingen, 24. Januar 1955.
Lieber Herr Professor! Ich danke Ihnen und Ihrer Gattin sehr für Ihre freundliche Einladung zum Tee Freitag den 28. I. nach 17.00, der ich sehr gerne Folge leisten werde. Mit freundlichen Grüssen für Sie und Ihre Gattin Ihr
Ludwig Binswanger, »Daseinsanalyse und Psychotherapie I«, in: Zeitschrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie 4 (1954), 241–245. 58 Hans Ruffin (1902–1979) war ab 1951 Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Frei burg. 57
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
30. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Heidegger
Dr. L. B. 31. Januar 1955.
Sehr verehrter, lieber Herr Professor! Ich danke Ihnen sehr für Ihre freundliche Aufnahme auf dem Rötebuck und für unsern gemeinsamen Spaziergang. Ich bin sehr froh, Sie endlich einmal in Ihrer Klause gesehen zu haben. Unser Gespräch geht mir noch durch den Kopf. Auf dem Rückweg habe ich noch einmal die Anmerkung gelesen und mit Freude in dem neuen (oder früheren?) Abschnitt 1 den mich sehr erleuchtenden Satz gelesen: »Alles Fragen an Leitfaden –, aber nicht im Sinne des ontischen Transzendierens zum Absoluten –.« Ich wüsste keinen Satz in Ihrem ganzen Werk, der Ihre Denkrichtung, im Gegensatz zu der des deutschen Idealismus etc., derartig klar und bündig und einfach ausdrückt. Im Übrigen ist mir dieser Aufsatz der wichtigste, ja der erschütterndste des ganzen Sammelbandes.59 – Der Abend bei Prof. Szilasi, wo ich vor allem auch auf das kunsthistorische Problem des Manierismus eingegangen bin, war sehr anregend, besonders dadurch, dass Prof. Jantzen60 zugegen war. Im Vordergrund steht für mich die interessante Spannung zwischen künstlerischem Manierismus und Manieriertheit als Daseinsform. Ich sage Spannung, weil es absolut nicht dasselbe ist und weil doch die Beziehungen zwischen beiden nicht wegzuleugnen sind. Mein Besuch bei Ihnen wird in meinem Gedächtnis bleiben, und wenn ich ihn einmal ohne Nebel wiederholen darf, werden Sie mir eine grosse Freude machen. Mit herzlichen Grüssen und freundlichen Empfehlungen an Ihre Gattin Ihr P.S. Leider habe ich [von] »Vom Sinn der Sinne«61 nur noch ein einziges Exemplar, entgegen meiner Behauptung bei Ihnen, sodass ich sie leider um gelegentliche Rück sendung bitten muss.
Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze. Hans Jantzen (1881–1967) war Kunsthistoriker und wohnte nach seiner Emeritierung in Freiburg. Er war mit Heidegger befreundet. 61 Ludwig Binswanger, »Vom Sinn der Sinne (Zum gleichnamigen Buch von Erwin Straus)«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 38 (1936), 1–24. 59
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
31. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Frbg. 8. Febr. 55 Sehr verehrter, lieber Herr Binswanger! Ich danke Ihnen sehr für die Zusendung Ihres Aufsatzes, der inzwischen wieder an Sie zurückgegangen ist. Prof. Jantzen erzählte mir neulich von dem »ManierismusAbend«. Mit besten Wünschen und Empfehlungen grüße ich Sie. Ihr M. Heidegger
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
32. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. M. Heidegger
Dr. L. B. 19. Dezember 1955.
Sehr verehrter, lieber Herr Professor! Es ist schon lange mein Wunsch, Ihnen einmal aus Dankbarkeit und Verehrung für Sie eine meiner Schriften zu widmen. Ich habe es aber nie recht gewagt, damit an Sie zu gelangen. Nun fasse ich aber doch einmal Mut, Sie anzufragen, ob Sie mir erlauben, Ihnen eine demnächst bei Niemeyer in Tübingen erscheinende Schrift zuzueignen. Sie trägt den Titel »Drei Formen missglückten Daseins«62 und den Untertitel »Verstiegen heit, Verschrobenheit, Manieriertheit«. Wenn auch all meine andern Arbeiten nicht ohne Ihre Lehren möglich gewesen wären, so gerade diese erst recht nicht. Das ist auch ein Grund, warum zum mindesten über Verstiegenheit und Verschrobenheit noch niemand etwas Relevantes und Sachgemässes geschrieben hat und schreiben konnte. Die Arbeit über die »Verschrobenheit« wie diejenige über »Verstiegenheit« sind bereits in Zeitschriften erschienen, diejenige über Manieriertheit erscheint hier neu.63 Die »Verschrobenheit« kennen Sie aus dem Sarg-Beispiel, das ich Ihnen einmal bei Ruffin vorgelesen habe! Ich weiss durch Kollegen Boss, dass Sie an meinen Arbeiten allerhand auszusetzen haben. Sollte Sie das hindern, meine Widmung anzunehmen, so würde ich es Ihnen gewiss nicht übelnehmen – ein Psychiater darf nicht empfindlich sein. Mit den freundlichsten Grüssen und besten Wünschen für die Festtage und das neue Jahr. stets Ihr
Ludwig Binswanger, Drei Formen missglückten Daseins (Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit), Tübingen 1956. 63 Ludwig Binswanger, »Vom anthropologischen Sinn der Verstiegenheit«, in: Der Nervenarzt 20, 1949, 8–11; »Verschrobenheit«, in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 124, 1952, 195–210; 125, 1953, 281–299; 127, 1954, 127–151; 128, 1954, 327–353. 62
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
33. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Freiburg i. Br. d. 5. Jan. 1956 Sehr verehrter Herr Kollege! Ihre Anfrage vom 19. Dez. ist mir eine große Ehre, für die ich Ihnen vielmals danke. Zwar pflege ich bei derlei Anfragen immer darauf hinzuweisen, dass meine Denkversuche vorläufiger Art sind und solche öffentlichen Anerkennungen nicht verdienen. Ich möchte aber andererseits der freundlichen Gesinnung, die Ihr Schreiben ausdrückt, nicht entgegen sein, sondern Sie auch meinerseits der vielen Anregungen, die ich von Ihnen und Ihren Schülern empfing, dankbar versichern. In diesem Sinne werde ich mir erlauben, die Widmung mit Dank anzunehmen. Bitte entschuldigen Sie die verspätete Antwort; ich war seit der Zeit vor Weihnachten mit meiner Frau auf unserer Berghütte, wo uns keine Post erreichte. Mit den freundlichen Grüßen und den besten Wünschen für Ihr Befinden und Ihre Arbeit Ihr
34. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Dr. L. B. 9. Januar 1956.
Martin Heidegger Sehr verehrter, lieber Herr Professor!
Sie haben mir eine grosse Freude gemacht mit Ihrer Zusage. Sie werden natürlich auch an dieser Arbeit von Ihrem Standpunkt aus manches auszusetzen haben, aber sicherlich die Überzeugung gewinnen, dass sie ohne Ihre »apriorische Freilegung« des Menschseins nicht möglich gewesen wäre. Ausserdem werden Sie sehen, dass ich hier, wie auch sonst, doch davon ausgegangen bin, »wie die Psychiater sich untereinander unterhalten«. Darin, dass ich zwar von dem Boden dieser »Unterhaltung« ausgehe, aber gerade um in Ihrem Sinne über ihn hinauszugehen, macht es mir erst recht wertvoll, dass diese Arbeit eine Widmung an Sie enthält. Ich habe kürzlich eine längere Schrift über meine »Erinnerungen an Sigmund Freud«64 verfasst, unter Berücksichtigung unserer, sich über 30 Jahre hinziehenden Korrespon denz. Ich freue mich schon, wenn ich sie Ihnen schicken kann; es wird aber Frühjahr oder Sommer werden. Mit den freundlichsten Grüssen Ihr sehr ergebener 64
Ludwig Binswanger, Erinnerungen an Sigmund Freud, Bern 1956.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
35. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Frbg. 21. Mai 56 Sehr verehrter Herr Binswanger! Für die Übersendung Ihres mir so freundlicher Weise gewidmeten Buches danke ich Ihnen herzlich. Nehmen Sie als kleines Zeichen dieses Dankes das kleine Bändchen über »die Philosophie«,65 das soeben erschienen ist.* Ihre Schrift werde ich, wie notgedrungen in allen solchen Fällen, dann lesen, wenn ich sie brauche. Einiges daraus kenne ich. Aber Sie werden auf Ihrem Weg nicht stehenblei ben. Wie steht es mit einer grundsätzlich versuchten »Hermeneutik der Exploration«? Sie halte ich für nötig, weil doch bei diesem »Geschäft« noch viel Zufall und Willkür mit spielen. Ich wünsche Ihnen eine gute Arbeitskraft und bleibende Frische und grüße Sie mit den besten Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin herzlich. Ihr M. Heidegger * Es kommt mit gleicher Post als Drucksache.
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Martin Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, Pfullingen 1955.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
36. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Martin Heidegger
Dr. L. B. 28. Mai 1956
Sehr verehrter, lieber Herr Professor! Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie mir schon wieder eine so wertvolle Gabe überreicht haben. Der Vortrag ist mir nicht nur in allgemeiner Hinsicht, sondern auch in Erinnerung an meinen Besuch bei Ihnen wichtig. Sie sagten mir damals, Sie seien schon über das hinaus, was Sie in »Was heisst Denken?« über das »Verhältnis« von Menschenwesen und Sein und Sein und Menschenwesen formuliert hätten. Darf ich annehmen, dass das, was Sie von der »Entsprechung« sagen (S. 34 f.) jener Äusserung entspricht? Ebenfalls erinnert mich an meinen Besuch bei Ihnen der griechische Schlus satz aus dem Buch von Brentano.66 Die Bedeutung, die dieses Büchlein für Sie hat, bleibt mir immer »denkwürdig«. Nirgends tritt mir die Verschiedenheit der Men schennatur deutlicher vor Augen, als wenn ich daran denke, was Brentano als Ver mittler von Aristoteles schon in jungen Jahren für Sie bedeutet hat und was das Ergeb nis des mehrsemestrigen Besuches der Vorlesungen von Brentano bei Freud war, nämlich null. Im Übrigen ist mir wieder jeder Satz in Ihrem Vortrag ein neuer Gewinn. Er ist so überaus klar, dass ich nirgends Mühe hatte zu folgen, wenn man bei Ihnen auch nie weiss, ob man Ihre Intentionen voll erfasst hat. Ich habe kürzlich die Arbeit von Schulz über Sie in der Philosophischen Rundschau gelesen.67 Sie scheint mir zum Besten zu gehören, was, abgesehen von Allemann,68 über Sie geschrieben worden ist. Ich frage mich nur, ob Sie dazu ja sagen können, dass man von Hegel aus einen Zugang zu Ihnen finden kann? Auch für Ihre freundlichen Zeilen danke ich Ihnen herzlich. Ihr Vorschlag (Hermeneu tik der Exploration) erinnert mich an den Vorschlag in Ihrem langen Brief. Wenn wir uns einmal wiedersehen werden, werde ich Sie um einige Erläuterungen bitten. Bis auf weiteres wäre noch so unendlich viel hinsichtlich der Interpretation des schizophrenen In-der-Welt-seins zu tun, hinsichtlich derer wir noch so sehr im Anfang stehen. Ich kann nicht anders, als Ihnen aus Dankbarkeit noch einmal etwas Gedrucktes ins Haus zu schicken, von dem ich ebenfalls keine baldige Lektüre erwarte, das ich aber unbedingt in Ihren Händen wissen muss. Bitte keine Empfangsanzeige, keinen Dank! Mit herzlichen Grüssen bin ich, sehr verehrter, lieber Herr Professor, wie immer Ihr
Vgl. Franz Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, Freiburg i. Br. 1862 (Nachdruck: Hildesheim 1960). 67 Vgl. Walter Schulz, »Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers«, in: Philosophische Rundschau 1 (1953/54), 65–93 und 211–232; auch in: Otto Pöggeler (Hrsg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werks, Köln 1969, 95–139. 68 Vgl. Beda Allemann, Hölderlin und Heidegger, Freiburg i. Br. 1954. 66
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
37. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. Martin Heidegger
Dr. L. B. 2. Mai 1957.
Sehr verehrter Herr Professor! Ich war freudig überrascht, von Herrn Neske in Ihrem Auftrag den »Satz vom Grund« und die schöne Hebel-Rede zu erhalten.69 Ich kann Ihnen leider nur eine kleine Gegengabe aus demselben Verlag senden, in der nur mein Vortrag über »Mein Weg zu Freud« neu für Sie ist.70 Die kleine Abhandlung aus unserer Gymnasialfestschrift soll einem grösseren Publikum zeigen, was die Psychiatrie und ich persönlich Ihnen verdanken. Ich sage Ihnen bei dieser Gelegenheit, dass ich immer wieder erstaunt bin, dass ich in »Sein und Zeit«, trotzdem ich seit 30 Jahren darin lese, bei jeder erneuten Lektüre immer wieder Neues finde. Wenn aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ein geistiges Werk aere perennius ist, so ist es »Sein und Zeit«. Es ist mir heute noch ihr liebstes und bedeutungsvollstes Werk. Das soll nicht heissen, dass ich nicht auch Ihre späteren Werke mit grösstem Interesse und Gewinn gelesen habe und so auch den »Satz vom Grund« in mich aufnehmen werde. Ich bin jetzt 76 Jahre alt, kann aber nicht sagen, dass meine Lernbegierigkeit hinsichtlich von all dem, was Sie uns so freigebig schenken, im geringsten abgenommen hätte. – Leider kann ich die freundliche Einladung der Universität Freiburg i/Br. zur Jubiläumsfeier aus äusseren Gründen nicht befolgen, so dass mir die Freude entgeht, Ihren Vortrag zu hören.71 Ich hoffe sehr, dass es Ihnen immer gut geht, wie ich schon aus Ihrer grossen Produk tivität anzunehmen geneigt bin, und bin mit den freundlichsten Grüssen wie immer Ihr
69 Vgl. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957; Martin Heidegger, Hebel, der Hausfreund, Pfullingen 1957. 70 Ludwig Binswanger, Der Mensch in der Psychiatrie, Pfullingen 1957; dieser Band enhält die Aufsätze »Der Mensch in der Psychiatrie«, »Mein Weg zu Freud« und »Über Martin Heidegger und die Psychiatrie«. 71 Vgl. Martin Heidegger, Der Satz der Identität, Pfullingen 1958.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
38. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Professor Martin Heidegger bittet Herrn Prof. Dr. Ludwig Binswanger an einem Col loquium über HEGELS INTERPRETATION DES SATZES VOM GRUND (Wissen schaft der Logik, II. Buch, 1. Absch., 3. Kap.) teilnehmen zu wollen, das am Donnerstag, den 27. Juni 1957 17.00 Uhr c. t. im Raum 104 der Alten Universität anlässlich der Fünfhundertjahrfeier der Alberto Ludoviciana stattfindet. Ihre Antwort ist erbeten an Professor Martin Heidegger, Freiburg i. Brsg., Rötebuck weg 47.
39. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Prof. M. Heidegger
Dr. L. B. 21. Juni 1957.
Sehr verehrter, lieber Herr Professor! Ich danke Ihnen sehr für die so freundliche Einladung zu dem Colloquium über ihren interessanten Vortrag am 27. Juni. Zu meinem grossen Bedauern kann ich weder an der Universitätsfeier, noch an dem Colloquium teilnehmen. Ich leide schon seit einigen Wochen an einem Ekzem der Augenlider und des ganzen Gesichts, das zwar seiner Heilung entgegengeht, mich für die nächste Zeit aber noch völlig ausser Gefecht setzt. Ihre freundliche Einladung lässt mich mein Versagen ganz besonders fühlen. Mit den freundlichsten Grüssen wie immer Ihr
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
40. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Dr. L. B. 10. November 1962. Sehr verehrter, lieber Herr Heidegger, Schuld an diesem Brief ist unser Freund Günther Neske.72 Er war kürzlich bei mir. Als ich ihm von dem ungeheuren Eindruck sprach, den mir Ihr Nietzsche-Buch gemacht hat, meinte er, das müsse ich Ihnen mitteilen, in der Meinung, es würde Ihnen Freude machen. Nun sei es also. Ich war aufs Tiefste angetan von dem Mut, der Konsequenz, ja Konzentration Ihrer Interpretation, Ihrem Nichtzurückschrecken vor dem scheinbar unauflösbarsten, widerspruchvollsten, gewagtesten Problem, wobei es mir gar nicht darauf ankam, ob ich Sie oder Nietzsche vor mir hatte. Ich freute mich ebenso für Nietzsche, den ich jetzt seit etwa 65 Jahren liebe und verehre, wie für Sie selbst, wie auch vor allem für die Philosophie. Und das alles umso mehr, als ich seinerzeit von dem Nietzsche und von Jaspers zutiefst enttäuscht war. Wenn ich Bedenken hatte, den Wunsch von Günther Neske zu erfüllen, so deswegen, weil ich wieder einmal ein schlechtes Gewissen Ihnen gegenüber habe. Ich scheine dazu verurteilt zu sein oder besser, mich dazu zu verurteilen, mich Ihnen gegenüber in ein schlechtes Licht zu setzen. Das sehen Sie wieder aus der Beilage (folgt separat), dem Vorwort zur dritten Auflage der »Grundformen«,73 das ich Ihnen lieber selber schicke, als zu riskieren, dass Sie von dritter Seite davon erfahren. Ich musste zu meinem eigenen Erstaunen feststellen, dass ich auf das Eingeständnis meiner früheren Naivität gleich zwei neue Naivitäten folgen liess. Ich bin mir nachträglich völlig klar darüber und bitte Sie, es mir auch zu glauben, dass ich Ihnen immer nur von meinem in bezug auf Sie jeweils beschränkten Standpunkt aus Opposition mache, aber keineswegs Ihre Lehre als Ganzes angreife. Ich habe jetzt vor, mich noch an die Crux der Psychiatrie, das Verständnis des Wahns, zu machen, falls mein Alter mir noch Zeit und Kräfte dazu lässt. Nachdem man aber von einer »phänomenologischen Wendung« von mir gesprochen hat, möchte ich wenn möglich noch zeigen, dass Daseinsanalyse und Phänomenologie im Hinblick auf die Psychiatrie sich keineswegs ausschliessen, dass es sich also keineswegs um ein Entweder-Oder handelt, sondern um ein Sowohl-als-Auch. Mein Forschungsgebiet und Forschungsziel ist und bleibt ja die Psychiatrie, und alles, was ich forschend unternehme, dient nur dem einen Ziel, ihre Problematik zu vertiefen und zu erhellen und damit ihren wissenschaftlichen Rang zu erhöhen. Ich erwarte keine Antwort, sehr verehrter Herr Heidegger, danke Ihnen noch für den mir durch Dr. Fierz74 von Zürich aus freundlichst gesandtem Gruss und bin,
Günther Neske (1913–1997) war ein Verleger von Heidegger. Ludwig Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, 3. Aufl., München/Basel 1962. 74 Heinrich Karl Fierz (1912–1984) arbeitete als Psychiater in Binswangers Klinik »Villa Bellevue« in Kreuz lingen.
72
73
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
mit nochmaligem Dank für das grosse Geschenk, das Sie unserer Zeit mit Ihrem Nietzsche-Buch gemacht haben.75 Ihr
41. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger Martin Heidegger
18. November 1965.
Hochverehrter, lieber Herr Professor, Sie werden erstaunt gewesen sein, dass Sie seit unserer schönen Feier in Amriswil nichts von uns gehört haben. Ich war Ihnen ausserordentlich dankbar, dass Sie zu der Feier gekommen waren. Seit jenem Sonntag liege ich aber leider mit einer rechtsseitigen Lähmung zu Bett, wenn ich auch hoffe, mit der Zeit die rechte Hand wieder gebrauchen zu können. Das rechte Bein ist weniger betroffen. Mein aufrichtiger Dank geht dahin, dass Sie uns die grosse Ehre Ihrer Mitwirkung an der Feier erwiesen haben, wenn ich auch, nach Ihrem eigenen Ausspruch, den vollen Sinn Ihres Vortrags nicht erfasst habe, meines Erachtens daher rührend, dass Sie das Mikrophon zu weit weggerückt hatten. Ich erlaube mir daher die Anfrage, ob eine Möglichkeit besteht, dass Sie mir den Vortrag für 2–3 Wochen überlassen können. Mit freundlichen Grüssen, auch an Ihre Frau, und dem Ausdruck nochmaliger Freude an dem aussergewöhnlich gut gelungenen Festabend, bin ich Ihr aufrichtig ergebener Ludwig Binswanger
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Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche I und II, Pfullingen 1961.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
42. Martin Heidegger an Ludwig Binswanger Martin Heidegger
Freiburg i. Br. – Zähringen, 20. Nov. 65. Rötebuck 47
Sehr verehrter, lieber Herr Binswanger, herzlichen Dank für Ihre Zeilen. Das ist nun ein wenig schönes Nachspiel zum Abend in Amriswil. Wir wünschen von Herzen, daß Ihre rechte Hand bald wieder ins Rechte kommt. Wir haben es auch bewundert, wie Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin diesen Abend ausgehalten haben, der doch auch für Jüngere anstrengend war. Weil die Vorredner und die Musik länger dauerten, als mir gesagt war, habe ich während des Vortrages76 den Text gekürzt. Sie erhalten jetzt den vollständigen Text und Sie können ihn zu Ihrem Gebrauch behalten. Freilich konnte ich vieles nur andeuten. Der Text gehört in einen größeren Zusammen hang. Über den seinsgeschichtlichen Charakter der Kybernetik konnte ich vor dem Publikum nichts Eingehenderes vortragen; die Sache ist ohnehin schwierig genug. Aber ich wollte doch für Sie etwas aus meiner Werkstatt bringen. In den Tagen, da Sein und Zeit entstand, ging ich einfach auf die Sache los. Mit dem Alter steigert sich die Vorsicht bis zum Zweifel, ob die Phänomene überhaupt schon sagbar seien. Ich wünsche Ihnen von Herzen eine gute Genesung, damit Sie in Ruhe bei meinen Andeutungen verweilen können, soweit es sich lohnt. Mit freundlichen Grüßen und Empfehlungen Ihr Martin Heidegger
76 Heidegger hatte seinen Vortrag »Zur Frage nach der Bestimmung der Sache des Denkens« im Rahmen der Binswanger-Feier am 30. Oktober 1965 in Amriswil gehalten; jetzt in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (GA 16), 620–633.
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I. Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Ludwig Binswanger
43. Ludwig Binswanger an Martin Heidegger 26. November 1965. Hochgeehrter, lieber Herr Professor Heidegger, Ich danke Ihnen herzlich für Ihre vorgestrige eingeschriebene Sendung samt liebens würdigem Brief und besonders freundlicher Widmung. Mit herzlichen Grüssen bis nach erfolgter Lesung Ihr aufrichtig ergebener Ludwig Binswanger
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II. Ludwig Binswangers Aufzeichnung zu seinem Besuch bei Heidegger in Freiburg am 29. Januar 1955
Dr. L. B. Besuch bei Prof. Heidegger auf dem Rötebuck am 28.I.1955. Frage meinerseits, ob Heidegger sich darüber aussprechen könne, inwieweit er über den Bezug von Menschenwesen und Sein, wie er in dem Aufsatz »Was heisst Denken?« formuliert ist, hinausgekommen sei. (Heidegger hatte Referent gegenüber bei seinem Besuch in Konstanz geäussert, dass er schon nicht mehr an jener Formulierung festhielte.) Heidegger erklärt jedoch, er könne sich noch nicht darüber äussern. Zweite Frage: Inwieweit ist auch der Geisteskranke offen für das Sein und im Sein gehal ten. Es sei für mich einerseits selbstverständlich, dass empirische Unterschiede nichts an einem ontologischen Verhältnis zu ändern vermöchten, was Heidegger natürlich bejaht. Seine erste Antwort lautete »ja«, deswegen, weil der Geisteskranke ja auch Sprache habe. Im Übrigen habe er beim Lesen von psychiatrischen Krankengeschichten oft den Eindruck gehabt, dass auch bei Geisteskranken eine Besinnung auf das Sein vorkäme. – Aber selbst, wenn die Geisteskranken gegenüber dem Sein verschlossen seien, so sei ja auch die Verschlossenheit der Modus eines Bezugs der genannten Art. Er selbst erinnere sich nicht, dass er je die Negationen nicht offen für das Sein und nicht im Sein Gehaltensein verwendet habe. Referent berichtet dann noch über das Buch von Sonnemann.1 Die englische Über setzung von Sich-entwerfen durch to trend leuchtet ihm bis zu einem gewissen Grad ein, nachdem er das englische Lexikon darüber konsultiert hat. Heidegger bittet um einen neuen Sonderabdruck meines Referates über Straus' »Vom Sinn der Sinne«, da es ihm sehr wichtig sei.2 Da er heute noch nicht gegangen sei, möchte er Referent ans Tram begleiten. Unterwegs Gespräch über Jaspers: Heidegger habe Jaspers einen langen Bericht über dessen Psychologie der Weltanschauung geschrieben, die Jaspers dann weidlich für seine eigene Philosophie ausgenützt habe.3 Handschriftlicher Zusatz: Heidegger hatte mir noch die Schrift von Brentano über die Mannigfaltigkeit des Seienden bei Aristoteles aus dem Büchergestell, die ihm der späteren Erzbischof Gröber,
Ulrich Sonnemann (1912–1993) war Philosoph und Psychologe. Erwin Straus (1891–1975) war ein deutsch-amerikanischer Phänomenologe und Neurologe. 3 Martin Heidegger, »Anmerkungen zu Karl Jaspers ›Psychologie der Weltanschauungen‹ (1919–1921)«, in: ders., Wegmarken (GA 9), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1976, 1–44. 1
2
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Ludwig Binswangers Aufzeichnung zu seinem Besuch bei Heidegger
ebenfalls Messkircher, mit einer Widmung geschenkt hatte, noch auf dem Gymnasium Konstanz, und die eine so nachhaltige Wirkung auf ihm ausgeübt hat, wie er während seines Konstanzer Vortrages sagte [, gezeigt].
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III. Ludwig Binswanger an Gouverneur Noël
1. Ludwig Binswanger an Gouverneur Noël Dr. L. B. 2 juin 1949. An das »Gouvernement Militaire« Konstanz Sehr geehrter Herr Gouverneur, hiermit erlaube ich mir, mit der Bitte an Sie zu gelangen, meinem langjährigen Freunde, Herrn Professor Martin Heidegger, Freiburg i/Br., gegenwärtig in Ferien in Messkirch (c/o Volksbank) einen Tagesschein nach Kreuzlingen auszustellen für den .VI. 1949 zum Zwecke der Teilnahme an einem kleinen philosophischen Meeting mit mir und einigen wissenschaftlichen Freunden aus Zürich. Herr Prof. Heidegger dürfte Ihnen als einer der grossen, auch in Frankreich sehr geschätzten Philosophen unserer Zeit bekannt sein. Sie würden mir und meinen Freunden in Zürich eine grosse Gefälligkeit erweisen, wenn Sie meiner Bitte entsprechen würden. Mit vorzüglicher Hochachtung und bestem Dank im voraus Chefarzt Sanatorium Bellevue
2. Ludwig Binswanger an Gouverneur Noël Dr. L. B. 11 juin 1949.
Prof. Heidegger An das »Gouvernement Militaire« Konstanz Sehr geehrter Herr Gouverneur,
Ich möchte nicht verfehlen, Ihnen meinen Dank auszusprechen für Ihre Liebenswür digkeit, Herrn Prof. Martin Heidegger einen Passierschein nach Kreuzlingen zu gewähren. Sollte ich Ihnen von meiner Seite aus einmal irgendeinen Gegendienst erweisen können, so würde mir dies die grösste Freude machen. Mit vorzüglicher Hochachtung
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IV. Martin Heidegger an Wolfgang Binswanger
Freiburg i. Br. 7. Febr. 1966. Sehr geehrter Herr Binswanger, dass Sie mich sogleich vom stillen Heimgang Ihres Vaters benachrichtigt haben, dafür danke ich Ihnen besonders.1 So kann ich mir jetzt noch mal den Abend in Amriswil ganz lebendig gegenwärtig halten und damit das Leben und Wirken dieses Mannes. Aber zuvor möchte ich Ihnen und Ihren Angehörigen, insbesondere Ihrer verehrten Frau Mutter zugleich im Namen meiner Frau meine herzliche Teilnahme aussprechen. Jeder, der das Ringen und Wirken dieses Mannes kennt, wird sagen müssen: ein erfülltes Leben hat sich vollendet. Dass sein Werk auch umstritten ist, gehört als Auszeichnung zu jedem Versuch, in den Wissenschaften auf neuen Wegen bislang unbekannte Horizonte zu öffnen. Und die Wirkung seines Schaffens wird bleiben und in seiner Bedeutung sich noch steigern, je hemmungsloser die rein technisch-naturwissenschaftliche Denkweise sich ausbreitet. So pflegen wir ein echtes Andenken an den Verstorbenen, wenn wir die Überlieferung seines Wirkens lebendig erhalten. Viele Zeichen sprechen dafür, dass dies geschieht. Ich denke jetzt an das Wiedersehen mit Ludwig Binswanger im Festsaal des Konstanzer »Conzils« bei der Gelegenheit der 350. Jahresfeier des Konstanzer Gymnasiums; und der nun Abwesende bleibt ein Anwesender. In ehrfurchtsvollem Gedenken grüsst Sie und die Ihren Martin Heidegger
1
Ludwig Binswanger war am 05. Februar 1966 verstorben.
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V. Briefwechsel zwischen Martin und Elfride Heidegger und Viktor Frankl
1. Brief von Viktor Frankl an Martin Heidegger Professor Dr. Viktor Frankl Vorstand der Neurologischen Poliklinik
Wien, 26. Oktober 1956 IX, Mariannengasse 1
Verehrter Herr Professor, Wir haben – im Auditorium maximum – durch Sie vernommen, dass der »Grund« das Sein selbst ist.1 In der Nacht nach Ihrer Vorlesung ging mir, im Schlaf, im Kopf herum: – was heisst dann, dass etwas, dass Seiendes, zu »Grunde« geht? Muss dies nicht heissen, dass es im Sein aufgeht – ins Sein als, wie wir gehört haben, ins Verweilende und Währende eingeht? Dass es solcherart wieder aufgenommen wird ins Sein – aus dem es, das Seiende, ja entlassen wurde? Tatsächlich: ich habe mir immer wieder gedacht und habe wiederholt auch geschrieben, dass »vergangen sein« – vergangen sein heisst; dass also Vergangenes – eben zugrunde Gegangenes! –, gerade als solches: als vergangenes – in ebendiesem seinem Vergan gen-sein aufgehoben wird, aufgehoben bleibt, aufbewahrt wird; dass also Vergangenes in ebendiesem seinem Vergangen-sein geborgen ist – nicht zuletzt dadurch, dass es durch uns, durch unsere Taten, jeweils ins Vergangen-sein hineingerettet wird. Gerettet wovor? Vor der – Vergänglichkeit! Ich pflege zu formulieren: Für gewöhnlich sieht der Mensch nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit; was er aber übersieht, das sind die vollen Scheunen der Vergangenheit – all dessen, was er ins Vergangensein hineingerettet hat. Denn im Vergangensein ist nichts, wie man gewöhnlich meint, unwiederbringlich verloren, vielmehr alles unverlierbar geborgen. Und wie ist es, wenn ein Mensch zu Grunde geht – wenn ein Mensch zu Grabe geht? Nunmehr verstehen wir, dass Hiob darauf die Antwort gegeben hat: »Du gehst im Alter zu Grabe, wie der Garbenhaufen eingefahren wird zur Zeit.«2 –––
1 Martin Heidegger hielt am 24. Oktober 1956 den Vortrag »Der Satz vom Grund« an der Universität Wien. Der Text ist erschienen in: Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Tübingen 1957, 191–211. 2 Hiob 5,26, übersetzt von Heymann Arnheim. Viktor Frankl benutzte wahrscheinlich Arnheims Ausgabe (Glogau 1836).
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Briefwechsel zwischen Martin und Elfride Heidegger und Viktor Frankl
Oder bin ich auf einem – »Holzweg«?3 Mit der Bitte, mich Ihrer Frau angelegentlich zu empfehlen, bin ich Ihr V Frankl
2. Brief von Viktor Frankl an Martin Heidegger 5. November 1956 Verehrter Herr Professor! Wir möchten Sie nicht weiter aufhalten und viel belästigen: meine Frau und ich hoffen nur, dass Sie und Ihre Frau eine gute Heimreise hatten – und uns nicht in zu schlechter Erinnerung behalten. Die beiden Feuilletons über Ihren Vortrag – das eine zu 3, das andere zu 2 Exemplaren –, die ich mir Ihnen einzusenden erlaubte, dürften wohl inzwischen in Ihre Hände gelangt sein? Wir alle, finde ich, sind sehr, sehr auf Ihre Nachsicht angewiesen! Beigelegt diesem meinem Schreiben sind die Photos, die »das schleichende Blitzlicht« – wie ich diese Photographen nenne – von uns angefertigt hatte. Die Vergrösserung, die Sie ebenfalls beigelegt finden, erbitte ich als Erinnerungsstück zurück. Dürfen wir vielleicht gar ein paar Zeilen auf den freien Platz erhoffen? Und wäre es sehr arg, wenn ich mir ab und zu erlaubte, Ihnen einen Sonderdruck oder dergleichen zu schicken? Lassen Sie mich – wie ich’s von mir selber gewohnt bin – auch mit Ihrer Zeit geizen und darum die paar Sätze, die jeweils Ihre Aufmerksamkeit verdienen mögen, rot anzeichnen. Und fühlen Sie sich nicht verpflichtet, mir jemals zu antworten – sonst fühlte ich mich niemals berechtigt, Ihnen je zu schreiben! Mit Handkuss an Ihre Frau und besten Grüssen seitens meiner Frau in aufrichtiger Wertschätzung
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Viktor Frankl spielt hier auf Heideggers Buch Holzwege an.
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V. Briefwechsel zwischen Martin und Elfride Heidegger und Viktor Frankl
3. Brief von Viktor Frankl an Martin Heidegger 14. November 1956 Verehrter Herr Professor, die Photos und die 3 Feuilletons über Sie, die ich Ihnen eingesandt habe, hoffe ich glücklich in Ihren Besitz gelangt? Heute schicke ich Ihnen – womit ich in der Funktion Ihres »Pressereferenten« wohl mein Meisterstück vollführe – das einzige existierende Exemplar einer Zeitungsnotiz (»Die Presse«), die – gar nicht erschienen ist (und zwar aus Platzmangel im Gefolge der Ereignisse in Ungarn).4 Ich darf Sie bitten, mich Ihrer Frau angelegentlich zu empfehlen, und soll Grüsse auch seitens meiner Frau bestellen. Ihr aufrichtig ergebener V Frankl
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Diese Notiz ist unauffindbar. Frankl bezieht sich hier auf den ungarischen Volksaufstand 1956.
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Briefwechsel zwischen Martin und Elfride Heidegger und Viktor Frankl
4. Brief von Elfride Heidegger an Viktor Frankl
Freiburg / Brsg. Zähringen
d. 16. No. 1956
Lieber Herr Professor Frankl! Zunächst möchte ich Ihnen herzlich danken für die Übersendung der zwei so gut gelungenen Blitzlichtbilder. Mein Mann ist z. Zt. noch bis Ende des Monats bei seinem Bruder;5 nach Rückkehr hierher wird er Ihnen auch danken und die gewünschte und beschriebene Vergrösserung zurücksenden. Von den Zeitungsbelegen kamen zwei Exemplare der Österreichischen Neuen Tageszeitung an und nur ein Exemplar der Weltpresse. Die zwei anderen von Ihnen angekündigten sind anscheinend auf dem Postweg abhandengekommen. Wir sind sehr erfüllt von der Wiener Reise zurückgekommen und danken Ihnen und Prof. Gabriel besonders für Ihre Vorsorge und herzlichen Empfang. Es steht mir nicht zu, über die Begegnung meines Mannes mit den Wiener Universitätskreisen etwas zu äussern, das wird mein Mann tun. Wir sind hier alle aufs Tiefste beeindruckt und bewegt von dem opfervollen Kampf Ihres Nachbarvolkes; tröstlich ist dabei nur zu sehen, wie echte ungerufene Hilfsbereit schaft überall und bei Ihnen besonders am Werk ist. Wir nehmen innig teil an dem schweren Geschick und können nur wünschen, dass die Verdüsterung allenthalben in der Welt sich nicht noch mehr vertieft. Ich bin bedrückt, dass ich Herrn und Frau Prof. Gabriel noch nicht danken konnte; ich habe leider die Anschrift nicht hier. Sollten Sie ihn sehen, bitte ich sehr, vorläufig meine Dankesgrüsse zu übermitteln. Ihnen und Ihrer lieben Frau freundliche Grüsse und die besten Wunsche für Arbeit und Familie Ihre Elfride Heidegger
Friedrich »Fritz« Heidegger (1894–1980) lebte in Meßkirch und arbeitete bei der dortigen Volksbank. 1938 hat er angefangen, Typoskripte der Manuskripte seines Bruders anzufertigen.
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V. Briefwechsel zwischen Martin und Elfride Heidegger und Viktor Frankl
5. Brief von Elfride und Martin Heidegger an Viktor Frankl Freiburg i. Br. 19. Dez. 56 Lieber Herr Frankl! Hier kommt für Sie und Ihre liebe Frau das Gewünschte, zwar etwas verspätet und doch zum rechten Augenblick des Weihnachtsfestes. Meine Frau und ich denken oft und gern an die Tage in Wien und an das Zusammensein mit Ihnen. Unterdessen ist der »Satz vom Grund« druckfertig geworden; und Sie werden dann ein Exemplar bekommen. Über das Fest gehen wir auf unsere Hütte in Todtnauberg – Auch wenn kein Schnee liegt, ist es droben still und ausruhsam. Wir wünschen Ihnen beiden besinnliche Tage und grüßen Sie herzlich. Martin und Elfride Heidegger
6. Brief von Martin Heidegger an Viktor Frankl Freiburg i. Brsg., den 2. Febr. 1957 Lieber Herr Kollege! Sie haben mir ein so kostbares und wunderschönes Geschenk zukommen lassen. Ich danke Ihnen vielmals dafür. Wir sehen es beide – meine Frau und ich – oft an und erinnern uns an die reichen Tage in dieser bezaubernden Stadt. In den Ferien wollen wir dann auch den Text genau studieren. Während des Semesters muss ich mich mit dem Ansehen der ungewöhnlich guten Abbildungen begnügen. Ich hoffe, dass trotz der schmerzlichen Ereignisse in Ihrem Nachbarstaat Sie eine gute Arbeit im Krankenhaus und in Ihrer Studierstube haben. Die hübsche vergrösserte Aufnahme vom »Heurigen« ging am 19. Dez. unterschrieben und postalisch eingeschrieben an Sie ab; ich hoffe, dass sie richtig in Ihre Hände gelangt ist, andernfalls bitte ich um Benachrichtigung, damit man an der Post reklamie ren kann. Meine Frau und ich grüssen Sie und Ihre liebe Frau vielmals mit herzlichen Wünschen. Ihr Martin Heidegger
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Briefwechsel zwischen Martin und Elfride Heidegger und Viktor Frankl
7. Brief von Viktor Frankl an Martin Heidegger 29. März 1957 Verehrter Herr Professor! Sie haben mich so reich und vielfach beschenkt, und ich wollte nicht mit leeren Händen danken; verzeihen Sie also die Verzögerung – ich hatte sie ja auch meinerseits entschuldigen müssen: denen, welche die Drucklegung meines Vortrags oblag, und die mich auf sein Erscheinen ebenso lange hatten warten lassen. Denn wenn überhaupt etwas, so war diese Rede das Einzige, das ich Ihnen darzubrin gen wagte. Seien Sie nun nachsichtig mit Ihrem verehrungsvoll Sie begrüssenden V. Frankl P.S.: Ich darf Sie bitten, mich der gnädigen Frau angelegentlich zu empfehlen; an Sie beide jedoch soll ich die herzlichsten Grüsse seitens meiner Frau bestellen! Und jetzt geht’s auf – nach den U.S.A. – wo man mich viel nach Ihnen fragen wird!
8. Brief von Martin Heidegger an Viktor Frankl Freiburg i. Br. 21. Dez. 57 Ihnen und Ihrer Frau danken wir herzlich für die Wünsche und grüßend wünschen wir zurück alles Gute. Martin und Elfride Heidegger
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VI. Brief von Leo Gabriel an Viktor Frankl1
[???], Kärnten, am 18. Juli, 1950 Sehr verehrter Herr Kollege! Für Ihren lieben Brief herzlichen Dank. Ihrem Wunsche entsprechend, teile ich ihnen mit, daß meine Vorlesungen in Salzburg am 31. Juli (Montag) um 11 h vormittag beginnen, nachdem zuvor Prof. Dempf2 und Prof. Betschart3 ihre Vorlesungsreihe eröffnet haben werden. Außerdem wird ein Seminar über Heideggers »Holzwege« von mir – wahrscheinlich unter Beteiligung Heideggers gehalten werden. Die Diskussion mit Martin Heidegger zum Thema »Religiöses Problem vom Standpunkt der Exis tentialphilosophie« ist vorgesehen. Bis jetzt weiß ich [nicht], wo Heidegger in Salzburg wohnen wird. – Ich lade Sie, verehrter Herr Kollege, herzlich zur Teilnahme am Heidegger-Seminar ein. Selbstverständlich auch zur Diskussion. Mit herzlichen Grüßen an Sie und Ihre liebe Frau Ihr ergebener Leo Gabriel
Leo Gabriel (1902–1987) war ein österreichischer Philosoph, der u. a. am Dialog zwischen christlicher Philosophie und Marxismus beteiligt war. Er lehrte an der Universität Wien und wurde 1951 ordentlicher Professor. Sein Hauptwerk ist Integrale Logik. Die Wahrheit des Ganzen, Wien 1956. 2 Alois Dempf (1891–1982) war Philosoph und Professor an der Universität Wien. Sein thematischer Schwerpunkt war die Philosophie des Mittelalters. 3 Ildefons Betschart (1903–1959) war Benediktiner des Klosters Einsiedeln und Rektor des Kollegs Sankt Benedikt in Salzburg. 1
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VII. Brief von Viktor Frankl an Jan van der Pas1
8. Februar 1957 Herrn Dr. J. H. R. Van der Pas, Utrecht, Frans Halsstraat 10 Lieber Jan, mit Deinem Schreiben vom 6. Februar hast Du uns allen eine riesengrosse Freude bereitet. Ich bin in grosser Eile und Zeitnot und möchte – gerade deshalb! – Deinen Brief unmittelbar nach Erhalt beantworten, kann meine Antwort aber nicht recht glie dern, sondern gehe Punkt für Punkt, Deinem Brief folgend vor: Mit der Übersetzung der Pathologie des Zeitgeistes2 durch Dich selbst ist mir ein Stein vom Herzen gefallen, da ich mich drüben bei Euch auf niemanden so verlassen kann (wenn überhaupt) wie auf Dich. Deine Abstimmung des Stils auf das dortige Publikum ist eine besondere Leistung Deinerseits – und sachliche Notwendigkeit zugleich! »Die Schlangengrube« war der berühmte amerikanische Film mit dem Originaltitel »The Snake Pit«!3 Den werdet Ihr doch auch gesehen haben, seinerzeit? Schlangengruben hund ist für einen Nicht-Wiener absolut unverständlich. Grubenhund heisst hier ein Bubenstück oder ein Schabernack, den man einer Zeitungsredaktion gespielt hat – wenn man sie also hineingelegt hat mit irgendeiner bewusst erfundenen Meldung, die sie dann kritiklos abdruckt. Die erste, historische, klassische derartige Meldung betraf nämlich die Behauptung, in den Kohlengruben seien eigene Hunde abgerichtet zu dem Zweck, Grubenkatastrophen im Voraus zu wittern – in Wirklichkeit gibt es Gruben hunte, und das sind die Karren, die die Bergarbeiter schieben, in den Stollen! Also lass den Passus betreffs Schlangengrubenhunde überhaupt aus! »Aufbau« ist der deutsche Titel einer – in deutscher Sprache erscheinenden – amerikanischen Zeitung!4 »Anago gisch« stimmt schon: meines Wissens wurde der Ausdruck vom längst verstorbenen Psychoanalytiker Silberer5 erfunden. Nun muss ich Dir noch melden: erstens, dass der Österreichische Staatspreis für Volksbildung 1956 erstmalig vergeben wurde – unter den Preisträgern befinde ich mich, und zwar habe ich den Preis vom Ministerium erhalten wegen des neuen Stils von populärwissenschaftlichen Radiovorträgen, den ich in den letzten Jahren kreiert habe und der in der Pathologie des Zeitgeistes nieder gelegt ist – dieses Buch war vom Verlag Deuticke6 eingereicht worden und erhielt eben diese Auszeichnung! Verständige Helmond, dass man dies unbedingt propagandistisch ausnützen sollte!! Dann habe ich Dir noch zu melden, dass ich bei der »Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Moraltheologen an staatlichen und bischöflichen theologischen Lehranstalten« in Wien (22.-25. Oktober 1956) auf aus drücklichen Wunsch des (neuen) Erzbischofs König7 und des Erzbischof Koadjutors Jachym8 ein Referat über Psychotherapie halten musste, und zwar im Anschluss an ein
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Brief von Viktor Frankl an Jan van der Pas
Referat von Jáchym selbst zum gleichen Thema. Die prominentesten Moraltheologen waren anwesend, und in der Diskussion wandte sich nur ein gewisser Heinemann, bekannter Jungianer, gegen mich; wie ich später erfuhr, und zwar durch niemanden anderen als Jachym selbst, der mich paar Stunden später vom Empfang der Teilnehmer im Erzbischöflichen [Palais] zu Hause anrief, dass alle anderen mit mir einverstanden und gegen den Meckerer Heinemann gewesen seien. Momentan arbeite ich den Vor trag aus – es wird mich das viel Zeit kosten – soweit ich Zeit habe, denn davon habe ich sehr wenig, da ich übernächste Woche nach London fliegen muss, um dort im Österreichischen Kulturinstitut auf deren Einladung und Kosten in englischer Sprache einen Vortrag zu halten (über kollektive Neurosen der Gegenwart), dann muss ich Mitte April auf mehrere Wochen nach den Vereinigten Staaten fliegen, wohin ich ein geladen wurde durch The First Community Church, die ein paar Dutzend Jungpriester weihen bzw. ausbilden und schulen, und ich muss an 5 aufeinanderfolgenden Nach mittagen je eine ¾ Stunde Seminar abhalten, und für jedes Mal bekomme ich 100 Dollar und ausserdem die Flugspesen und dann fliege ich weiter nach Indiana, wohin mich die Purdue University eingeladen hat (dort ist eine begeisterte Logotherapeutin, Frau Professor Joelson),9 dann muss ich in [ein] paar Kirchentempeln, [und] philoso phischen und medizinischen Vereinen in Detroit sprechen und weiss Gott wo sonst. Mitte September bis Mitte Oktober bin ich von der Foundation Education in Religion eingeladen zu einer Tournee unter ihren Auspizien durch die wichtigsten Universitäten von ganz Nordamerika, im Anschluss will ich dann endlich einmal meine Schwester in Australien besuchen, dann werde ich wohl an die Universität Tokyo müssen, denn das KZ-Buch10 von mir, das voriges Jahr in wunderbarer Ausstattung mit einer Ein leitung durch einen Universitätsprofessor versehen, in japanischer Schrift und Sprache erschienen ist, ist Bestseller des Jahres 1956 geworden!!! Möglicherweise muss ich dann noch an die Universität Jerusalem und eventuell an die Universität Pretoria wei terfliegen. Im Sommer hoffen wir alle zuversichtlich, Dich wiederzusehen, und zwar zwischen [dem] 10. und 20. August in Salzburg, wo ich zu den katholischen Hoch schulwochen eingeladen bin zu drei Hauptvorlesungen über Psychotherapie und einer
Johannes (Jan) Hubertus Regina [JHR] van der Pas (1913-1988) war ein niederländischer Psychiater. Er ver öffentlichte mehrere Artikel zur existenziellen Psychotherapie und Logotherapie sowie die Übersetzung von Frankls Die Pathologie des Zeitgeistes. 2 Viktor Frankl, Pathologie des Zeitgeistes. Rundfunkvorträge über Seelenheilkunde, Wien 1955. 3 The Snake Pit ist ein Film von Anatole Litvak aus dem Jahr 1948. 4 Der Aufbau war eine in New York erscheinende Zeitschrift, die sich ab 1934 an jüdische Exilanten richtete; 2004 wurde sie eingestellt. 5 Herbert Silberer (1882–1923) war ein österreichischer Psychoanalytiker. 6 Der Deuticke-Verlag hat u. a. viele Schriften von Sigmund Freud veröffentlicht. 7 Franz Kardinal König (1905–2004) war von 1956 bis 1985 Erzbischof der Erzdiözese Wien. 8 Franz Jáchym (1910–1984) war Universitätsprofessor an der Universität Wien und von 1950 bis zu seinem Rücktritt 1983 Erzbischof-Koadjutor der Erzdiözese Wien. 9 Edith Weisskopf-Joelson war eine Wiener Psychologin, die 1939 in die USA emigrierte. 10 Viktor Frankl verweist hier auf sein berühmtes Buch Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, das 1946 in Wien erschienen war. 1
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VII. Brief von Viktor Frankl an Jan van der Pas
Arbeitsgemeinschaft die ich leiten muss, und zwar ist in der auch – Daim!11 Ich habe aufmerksam gemacht darauf sofort, dass ich nicht den Titel Tiefenpsychologie, der prätentiös sei, sondern lieber den Ausdruck Psychotherapie haben möchte, und das Klinische betonen möchte, aber ausdrücklich erwähnt, dass ich gegen die Anwesenheit des Daim, der ja nicht Arzt ist, nichts einzuwenden hätte. Als Kliniker empfahl ich unter anderen den sehr anständigen und gediegenen Sohn des Niedermayer, der Dozent in Innsbruck und erster Assistent der psychiatrischen Klinik Urban ist, und den haben sie auch genommen. (Dafür hat der Roth12, den ich ebenfalls empfohlen hatte, der aber nicht akzeptiert wurde, anscheinend, von mir ein Referat über Logotherapie usw. auf einer katholischen Studententagung in der Steiermark zu Ostern zugeteilt erhalten.) Was aber den Niedermeier jun. anlangt: Wenigstens ein Gegenwicht gegen den Daim. Wie ich in Zeitungen lese, wird auch Gebsattel eine Arbeitsgemeinschaft übernehmen – aber keine Vorlesungen anscheinend. Gabi wollen wir während etwa 2 Wochen in ein Internat in der Salzburger Gegend geben, also in Reichweite haben. Vor paar Monaten war Heidegger in Wien, und hat sich aus unerfindlichen Gründen gerade für mich sehr interessiert, sodass ich ihn und seine Frau mit dem Ehepaar Professor Leo Gabriel (dem katholischen Existenzphilosophen von der Wiener Universität) zum Heurigen bringen musste. Er war entzückend, ist fachlich sehr eingebildet, aber menschlich sehr, sehr bescheiden und vor allem vergibt er sich niemals etwas: er ist ganz echt! Er hat mir nachgewiesen, dass meine Theorie vom Retten der Dinge ins Vergangensein auch bei ihm und bei Hegel vorkommt. Ich habe schon [ein] paar Briefe von ihm und [ein] paar Publikationen mit spontanen Widmungen von ihm an mich. Und nun zum Schluss muss ich Dir noch – bezüglich Deines letzten, so lange zurück liegenden Briefes, mitteilen, dass ich bis heute noch nicht das von Dir so freundlicher weise bestellte Exemplar für mich von »Kultuurleven« mit dem Aufsatz »Begegnung mit Frankl« erhalten habe! So viel für heute, ganz kurz Faktisches berücksichtigend – ohne einzugehen auf all die Imponderabilien, die sich ja ohnehin einer Niederschrift mehr oder weniger entziehen; daher denke ich, am besten ist es, wir deuten sie nur an mit dem vor Jahr und Tag durch Dich dafür geprägten Stichwort »Freundschaft«. Also alles Liebe Dir und den Deinen von uns allen! In alter und immer neuer Freundschaft »trotzdem« in Blindenschrift!13
Wilfried Daim (1923–2016) war ein österreichischer Psychologe und Psychotherapeut. Martin Roth (1917–2006) war ein in Budapest geborener Psychiater, der in Cambridge, UK, arbeitete und lebte. 13 Handschriftlich hinzugefügt. 11
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Nachwort der Herausgeber
Die hier zum ersten Mal veröffentlichten Briefe bzw. Durchschläge von Briefen und Dokumente befinden sich im Nachlass von Ludwig Binswanger im Universitätsarchiv der Universität Tübingen (UAT 443/13; I–IV) und im Nachlass von Viktor Frankl im Frankl-Institut in Wien (V–VII).1 Wir danken den beiden Einrichtungen herzlich für die Genehmigung der Veröffentlichung. Herrn Rechtsanwalt Arnulf Heidegger danken wir für die freundliche Genehmigung, die Briefe seines Großvaters und seiner Großmutter zu veröffentlichen. Was die Leitlinien der Edition betrifft, wurden die Briefe und Dokumente ohne Kür zungen und Auslassungen wiedergegeben. Gelegentliche Abkürzungen im Brieftext wurden aufgelöst. Eindeutige Flüchtigkeitsfehler wurden stillschweigend korrigiert. Die durch die Schweizer Rechtschreibung oder durch die Nutzung eine Schreibmaschine bedingte Verwendung von »ss« statt des »ß« wurde beibehalten. Von den Briefpart nern unterstrichene oder gesperrte Passagen erscheinen im Text kursiv. Die neue Rechtschreibung blieb unberücksichtigt. Angaben in eckigen Klammern stammen von den Herausgebern. Akaki Berikaanti, Alfred Denker, Miles Groth, Fabián Portillo Palma, Vasile Visotchi, Holger Zaborowski
1 Die einzige Ausnahme ist der Brief von Martin Heidegger an Ludwig Binswanger vom 24.02.1947. Dieser wurde bereits veröffentlicht in: Ludwig Binswanger, Ausgewählte Werke, Heidelberg 1994, 339–340.
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Interpretationen
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Miles Groth
Heidegger and the Future of Psychotherapy
1. Introduction To date Martin Heidegger’s thought has had little impact on mainstream clinical psychology and psychiatry. This is primarily because its potential for effecting a radical re-envisioning of psychotherapy has not been clearly communicated to therapists, due in part to difficulties with the language of his fundamental ontology.1 Just as important, however, has been the ongoing misguided identification of psychotherapy as a form of medical practice, which has precluded practitioners from being open to Heidegger’s unique view of the other. In a time such as ours, however, when the work of the therapeut2 is being distinguished from that of so-called »helping professionals,” Heidegger’s analytics of existence [Daseinsanalytik] might finally come to have a wide audience. The key figure in any consideration of Heidegger’s contribution to psychotherapy is, of course, Medard Boss (1903–1990), the Swiss psychiatrist, psychoanalyst and founder of therapeutic Da-seinsanalysis [Daseinsanalyse],3 a psychoanalysis [Psycho analyse] without the Unconscious—in effect, a psychoanalysis without the psyche.4 1 Heidegger has been plagued by a confusion of tongues since four of his essays were first published in English translations as: Martin Heidegger, Existence and Being, Garden City 1949. 2 I have adopted the German word Therapeut instead of ›psychotherapist‹ to refer to the Heideggerian therapist. The German word for psychotherapist reflects the origins of the practice with the Greek Therapeutes. 3 ›Da-seinsanalysis‹ (hyphenated and capitalized) was Boss’s preferred translation of Daseinsanalyse. Medard Boss, Zollikon Seminars, Evanston 2001, ix (»Preface to the American Translation of Martin Heidegger’s Zollikon Seminars« from Spring 1990). 4 Written for an American audience of psychoanalysts: Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, New York 1963. It bears little relation to his earlier Medard Boss, Psychoanalyse und Daseinsanalytik, Bern 1957. Boss tells us that he approved the American title (Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 3), which would correspond to Psychoanalyse und Daseinsanalyse, a title that never appeared under Boss’s name. The American Psychological Association eventually awarded Boss the »great therapist award« in 1971. The psychiatrists and psychoanalysts did not honor him in this way. Boss wanted to remain in good standing with his audiences in New Haven, Cambridge, and Berkeley, where he had recently lectured (1961–1962), by acknowledging Freud’s intellectual creation and claiming that Freud was in a sense a closet existential analyst. He is nevertheless deeply critical of Freud’s metapsychology and philosophical allegiance to the natural sciences: »We need not be surprised that Freud’s psychodynamic and economic theories have found widespread acceptance in contemporary psychology, particularly in America. Basically, today’s technique-oriented thinking—which has to a large extent subjugated the behavioral sciences as well – is at a loss to explain anything except on the basis of physicalistic and energetic principles such as are found in Freud’s theory«, Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 103. The bulk of the book consists of »a daseinsanalytic re-evaluation of psychoanalytic therapy and theory«, »a daseinsanalytic re-evaluation
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Miles Groth
Boss is only now beginning to receive the serious attention he deserves, not only for his unique historical position—spanning personal relationships with Freud and Jung and the beginning of the era of cognitive-behavioral re-education therapies and so-called psychopharmacology he witnessed in the 1950s—but also as the partner in what was perhaps Heidegger’s only sustained intellectual collaboration, the Zollikon seminars (1959–1969), the protocols of which were first edited for publication in 1987 by Boss.5 As I have argued elsewhere, Boss was also likely Heidegger’s existential analyst and, in a sense, Heidegger served in the same capacity with Boss.6 Although Boss identified as a psychoanalyst throughout his career, his existential analysis is a psychoanalysis in name only, one that he reluctantly renamed Da-sein sanalysis.7 Boss, the physician and psychiatrist, practiced as a doctor but not like a doctor. He preserved his professional status outside the consulting room, while inside its precincts his praxis was not medical. It was not »intervening,” but rather »way-mak ing« looking after [Fürsorge]. Boss used the couch and invoked Freud’s »fundamental rule« and, like Freud, paid special attention to dreams, to which he devoted two volumes (1953, 1975).8 As with Freud, what he said he did and what he actually did as a therapist, however, were likely two very different matters. Since Boss’s Nachlaß remains sealed in the library of the city of Zurich (some of it for up to 90 years), until we have access to it and of the psychoanalytic doctrine of the neuroses,« and a discussion of »the impact of daseinsanalysis on traditional psychoanalytic techniques.« The source of Freud’s fundamental phenomenological »heart« is not clear, however. In a letter to the author, Anna Freud (1980) wrote that her father had not read Heidegger. He was, however, a close friend of Ludwig Binswanger. 5 When comparing the editions of the Zollikon seminars, I will refer to the Boss edition, Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, Frankfurt am Main 1987; the English translation by Franz Mayr and Richard Askay, Evanston 2001; and Gesamausgabe edition, Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, hrsg. von Peter Trawny (GA 89), Frankfurt am Main 2018. With the publication of GA 89, Heidegger’s extensive notes for the seminars are now finally available. Boss’s edition, which contains material related to the seminars (fragments from letters and »records« of conversations) must be reexamined in light of the notes. I have made a start at this in my Medard Boss and the Promise of Therapy, London 2020. 6 Miles Groth, »Medard Boss’s Daseinsanalysis of Martin Heidegger. Reflections and a Conjecture on an Unexplored Aspect of the Zollikon Seminars,« in: Existential Analysis 26 (2015), 270–276. 7 To this day Da-seinsanalysis is confused with Ludwig Binswanger’s existential analysis (psychiatric Daseinsanalysis), an approach to which the former is related only by the German word Daseinsanalyse. See Ludwig Binswanger, Being-in-the-World, New York 1963. Binswanger’s book appeared the same year as Psychoanalysis and Daseinsanalysis and only one year after the publication of Heidegger’s Being and Time. 8 This is a significant area of Boss‘s contribution to therapy. For his first dream book, published in 1953, he wrote that »at a conservative estimate, during twenty-five years of practice as a psychotherapist I have been told of about 50,000 dreams by at least 500 different people.« His clinical notes from 1947–1951, he tells us, document »11,200 dreams by neurotics, by analysts in training, and by normal acquaintances.« The Analysis of Dreams, New York 1958, 9. The latter sample may include a dream by Heidegger. See Zollikoner Seminare, Frankfurt am Main 1989, 308. As we will see, Boss rejected the »utter arbitrariness« of Freud’s theory of dream formation and interpretation, which, Boss argues, had been the source of the latter’s need to »create« the Unconscious but often only reflects the «fantasies of the interpreter« (Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 100, 98). Summarizing the first dream book, Boss reminds us that dreams are not pictures or images found inside a sleeping psyche, but rather that the dreaming state has »a character of ›being-in-the-world‹ and of being open to the world which, though different from the waking state, is just as ›real‹ and fully a part of existing« (Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 129).
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Heidegger and the Future of Psychotherapy
to the full correspondence between Boss and Heidegger (and others) on the topic of psychotherapy, we can only speculate about his praxis.9 My interest in Medard Boss is both as the therapist who first understood the meaning of Heidegger’s analytics of existence for therapy, but also as a medical doctor who attempted to create a bridge from psychiatry and medical practice to what is finally emerging as a genuinely human ther apy, one not beholden to the medical model.10 While he wrote of »the patient,” he always encountered »the other.« It is not generally known that his motivation to see the distressed other in a different way was influenced as much by a personal crisis late in life as by his work with Heidegger.11 I believe it was the combined effect of this spiritual awakening and Heidegger’s mentorship that led to Da-seinsanalysis as Boss envisioned and practiced it. Boss’s most important paper on praxis is »Encounter in Psychotherapy (1964). «12 Based on what can be found there and in comments he made elsewhere in his publications, beginning as early as in his book on the paraphilias (1947)13 and on through Psychoanalysis and Daseinsanalysis (1963) to material in the Zollikon seminars (1987), I will conclude this contribution with a sketch of the highlights of what I believe a fully realized therapy grounded in Boss’s ideas might look like—a fully developed therapeutic Da-seinsanalysis. Given limitations of space, my review of Boss’s praxis will focus on his book written especially for American psychiatrists and psychoanalysts.
2. Intervening and Way-making Looking After A crucial distinction between two kinds of looking after [Fürsorge] already alluded to was made by Heidegger in his seminal work Sein und Zeit. It serves to clarify what the therapeut can provide in an age when the staples of modern psychiatry, psychotropic The same problem exists in relation to Psychoanalysis and Daseinsanalysis itself, the original manuscript of which is not currently available. It will also be important to see more than a few pages of the extensive mark-up by Heidegger of Boss’s manuscript for his final, systematic work, the Grundriß der Medizin und Psychologie, Bern 1971. See Von der Spannweite der Seele, Bern 1982, 222–225. 10 Miles Groth, »Medicine and Dasein-therapy. Medard Boss and the Beginnings of a Human Therapeu tics,« in: Free Associations: Psychoanalysis and Culture, Media, Groups, Politics 76 (2019), 60–88. 11 See Miles Groth, Boss and the Promise of Therapy, 99–122. In this »workbook« I hope to provide some clues towards a full realization of Boss’s Da-seinsanalysis. I also discuss a period of deep self-examination in Boss’s life marked by his visits to India and Ceylon (Sri Lanka) in 1956 and 1958. The Zollikon seminars began in 1959, the year in which Boss published his charming record of his visits and experiences, Indienfahrt eines Psychiaters, Pfullingen 1959 (4th, expanded and illustrated ed., Bern 1987). Boss spoke of it as his favorite book. 12 Medard Boss, »Begegnung in der Psychotherapie,« in: Medard Boss, Von der Psychoanalyse zur Daseinsanalyse, Wien 1979, 287–294. Originally given as a lecture, the text is now available in a translation by the author as »Encounter in Psychotherapy,« in: Daseinsanalyse 37 (2012), 31–48. 13 Medard Boss, Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen. Ein daseinsanalytischer Beitrag zur Psychopatho logie des Phänomens der Liebe, Bern 1947. Cf. the 3rd expanded ed., Bern 1976, which contains »Ein Vorwort und ein Nachwort. Zugleich ein Versuch einer Differenzierung zwischen psychiatrischer Daseinsanalyse und psychiatrischer Anthropologie«. 9
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medications, are now known to be ineffective for what they claim to do and when the multiplicity of evidence-based modalities of psychotherapy have yielded a dismal rate of improvement in patients.14 Heidegger described an alternative to intervening [einspringend] looking after, which is the model of medicine and current psychotherapies, that he termed way-mak ing [vorausspringend] looking after.15 The distinction is found in § 26 of Sein und Zeit, »Das Mitdasein der Anderen und das alltägliche Mitsein« [»The Co-existence of Others and Everyday Being-with«]. This section of Heidegger’s magnum opus is unknown to most contemporary psychotherapists, yet when read in the context of a discussion of therapeutic encounter, it captures the essence of what the genuine ther apeut does. A parallel discussion of the discussion in § 26 is found in Heidegger’s lecture course from the Winter Semester 1925–1926, which was contemporaneous with the completion of Sein und Zeit.16 Oddly enough, neither Boss nor Heidegger made explicit reference to the text during the Zollikon seminars. The closest Heidegger came to doing so was during the July 8, 1965, meetings when he discussed being-with [Mitsein] and coexistence [Mitdasein].17 In Being and Time, § 26, Heidegger sets the stage for making the distinction between intervening looking after and way-making looking after by reminding the reader that Jonathan Shedler, »Where Is the Evidence for ›Evidence-Based‹ Therapy?«, in: Psychiatric Clinics of North America 41 (2018), 319–329. Shedler, an advocate of psychodynamic psychotherapy, estimates that if ther apeutic »cure« is defined as the patient speaks of »getting well and staying well,« the current cure rate for evidence-based psychotherapies is about five percent (5 %). Given our ignorance about the mechanism of socalled psychoactive drugs and the increasing number of reports of both immediate and tardive side-effects associated with their use, the prescription of chemical agents to treat problems of living will soon see a dramatic downturn in the near future. Adjunctive cognitive-behavioral »therapies« will also be abandoned as they become indistinguishable from social work and education. Warnings about the abuse of psychiatric power in promoting the so-called medical treatment of mental illnesses have also been in circulation at least since the pioneering work of Thomas Szasz, beginning with his The Myth of Mental Illness. Foundations of a Theory of Personal Conduct, New York 1961, and The Myth of Psychotherapy. Mental Healing as Religion, Garden City 1978. See also Szasz’s early warning about the use of so-called »tranquilizing drugs«: Thomas Szasz, »Some Observations on the Use of Tranquilizing Drugs,« in: Archives of Neurology and Psychiatry 77 (1957), 86–92. These trends in psychiatry, clinical psychology, and counseling predict a sea change in what the public will accept as authentic treatment of their distress. 15 A glossary of translations of key terms I have adopted and used in this contribution is found in the Appendix. As with all matters of translation, my solutions remain provisional. It is my hope that careful, consistent usage across texts may help to bring some clarity for English-speaking readers about elements of Heidegger’s thinking that are relevant to therapy. Earlier explorations of how to render Heidegger in English are found in the author’s Preparatory Thinking in Heidegger’s Teaching, New York 1987, The Voice that Thinks, Greensburg 1997 (rev. ed., New York 2016), Translating Heidegger, Amherst 2004 (2nd ed., Toronto 2017), After Psychotherapy, New York 2016 (2nd ed., Adelaide 2017), and Medard Boss and the Promise of Therapy. 16 Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, hrsg. von Walter Biemel (GA 21), Frankfurt am Main 1976, 158, Martin Heidegger, Logic. The Question of Truth, transl. by Thomas Sheehan, Bloomington 2010, 154. 17 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 144–146; Martin Heidegger, Zollikon Seminars, 111–112; Martin Heidegger, Zollikoner Seminare (GA 89), 816–817; see Heidegger’s notes for the session (GA 89), 541–544, which refer to the relevant section (§ 26) of Sein und Zeit. 14
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the way of be[-ing] [Seinsart] of the existence of the other we encounter differs from extancy [Vorhandenheit] and availability [Zuhandenheit]. Such a particular being [Seiende] is neither extant [vorhanden] nor available [zuhanden], but rather is like [wie] the existence that frees it up – it is there also and with it [in the world].18
It is therefore a mistake to think of the other as somehow an »I« over against my »I« conceived of as subjects in a world of objects and other subjects. Heidegger adds that the »with« and »also« in the emphasized supplementary clause »are to be understood existentively [existenzial] and not categorially [kategorial],” that is, not in terms of the Aristotelian categories applicable to things [Dinge] and gear [Zeug] but rather in terms of the existentives unique to human beings.19 The whole point of his preparatory fundamental analysis (fundamental ontology) in Sein und Zeit was to lay out and describe the existentives [Existenziale] unique to the human being which differ radically from the categories applicable to what is extant and available (things and gear) which would include the psyche envisioned by Freud in his various models of the mind. For Heidegger, there are no isolated »I’s« that require being »connected« since the being-in-the-world [In-der-Welt-sein] of existence (Dasein) is inherently in common [mithaft]. »The world of existence is [a] world together [Mitwelt].« Others are »encountered ambiently [umweltlich],” not one at a time, one-on-one »in« it. Thus the problem of intersubjectivity, including the therapeu tic relationship, is entirely bypassed. Heidegger’s next step is to differentiate between »negative« modes of looking after marked by deficiency and indifference [Defizienz und Indifferenz] and those that are positive [positiv]. The former modes preclude the other from coming into focus in his uniqueness, but rather designate him as representative of a type—for example, male or female, tall or short, light-skinned or dark-skinned, blond or brunette, and so on. Existential uniqueness, however, hides behind such »typical« features based on socially preconceived ideas about gender, race, ethnicity, and identity. As a consequence, Heidegger continues, most of the time existence is »characterized« by deficient modes of looking after or caring for. »People [das Man]« take note of the separateness of each other as Dasein, but quickly move to classify other »people« according to their typical features, thereby overlooking the singularity of the other. Heidegger’s example of social work [Fürsorge] in this passage is telling. Here we have an example of caring for someone without really caring about him.20 The example follows another telling reference, this one to »the nursing of the sick body« [»die Pflege des kranken Leibes«]. While nursing does not interfere with the natural healing 18 I cite Martin Heidegger, Sein und Zeit, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 2), Frankfurt am Main 1975, 158; Martin Heidegger, Being and Time, transl. by John Macquarrie and Edward Robinson, London 1962, 154. All translations have been modified. 19 I choose »gear« for Zeug since Heidegger always thinks in terms of activities—skiing, cooking, woodwork ing—for which certain gear is required: tools, machines, and high-tech devices. There is swimming gear, baking gear, computing gear. A prefer »gear« to »tool« since a given tool becomes a different sort of gear depending upon the activity or use to which it is being put. ›Equipment‹ hints too much at machinery, engineering, and the so-called STEM disciplines. 20 Here Fürsorge is perhaps better rendered with »dealing with.«
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processes of the body as doctoring sometimes does, but rather supports them, it is nevertheless a deficient mode of interaction with the other. »Dealing with« an ailing body, the person associated with it does not matter. For both doctor and nurse, the patient in his bed is a »case« and nothing more—»an ulna fracture in Room A« or »a cardiovascular event in Room B.« To work effectively, the nurse must (like the doctor) say »I really don’t care« about the who stretched out before her. She goes through the hopefully well-trained motions of caring for a body (»procedures«), but does not become »involved« with the existing human being. By contrast with these deficient modes, there are positive modes of looking after in which what is in question does matter. The »something more« missing in the deficient modes is the something’s—the other’s—importance to me. »With regard to its positive modes, looking after has two extreme [extreme] possibilities.« With this we have reached the relevant distinction.21 The undesirable version of engaged (»positive«) encounter is intervening looking after. It is worth recalling the entire passage in which it is described: It [intervening looking after] can, as it were, take away from the other his ›devotion [Sorge]‹22 and take over his place in caring about things [Besorgen], [that is,] stand in [einspringen] for him. This looking after takes over what it is for the other to care about [zu besorgen]. The other is thereby thrown off balance, [and] he [therefore] steps back so that later he can [1] take care of what is cared about [das Besorgte] as something readily at his disposal [Verfügbares] or [2] instead completely dispose of [entlasten] it. In such looking after the other can become one who is dependent and dominated, even though this domination may be tacit and remain hidden from him.
Heidegger then describes the desirable positive form of looking after which will be paradigmatic for the therapeut: By contrast with the undesirable mode is the possibility of a looking after that does not so much [so sehr] step in as make way [vorausspringt] for the other in his existentially being possible [existentiellen Seinkönnen],23 not in order take [his] ›devotion‹ from him but instead to hand it back [zurückzugeben] to him authentically for the first time. This looking after [which] in essence has to do with [betrifft] authentic devotion, that is to say, [with] the existing [Existenz] of the other and not with a what [Was] one cares for [besorgt], helps the other to become transparent to himself in his devotion and free for it. Heidegger’s discussion is at the level of his fundamental ontology and we must understand the »some thing« as a particular human being—as other or Dasein. See note 63. 22 It is well known that at the epicenter of Sein und Zeit Heidegger glosses Sorge with cura, citing a fabula by the Latin author Gaius Julius Hyginus, vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 262. It is a story about the provenance of the unique creature, called homo (because it is made of earth—humus), which is distinguished by heeding and attending what is there (das Seiende). This is more than just awareness. It is exemplified in the extreme by the attitude of the therapeut and, before the incursion of science into medicine, by the watchful waiting or devotion of the erstwhile physician (see Sir Luke Fildes’ The Doctor [1891]), so different from the active interventions of the professional evidence-driven medical practitioner beginning in the mid-20th century. 23 That is to say: to make it possible for the human being to be at all, to make possible an instance of existence as an entity or particular being among all that is there, but not in its fundamental ontological meaning understood in terms of the existentives [Existenziale]. 21
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Elsewhere on the same page, Heidegger refers to these »extremes [Extremen] of positive looking after« as »intervening-dominating [einspringend-beherrschenden] and advancing-liberating [vorspringend-befreienden].« The slight shift in language from making way for [vorausspringen] (the Taoist gesture) to stepping forward [vorspringen; i.e., taking the first step] is significant for a discussion of therapy. In the first formulation (vorausspringen), Heidegger speaks to the stance itself, which does not take over for the other but steps aside for the other. In the second formulation (vorspringend), which is more directly linked to the liberating or freeing up of the other which Boss will emphasize, there is the suggestion that another instance of existence (in this case, that of the therapist) initiates a process that will illuminate the existence of the other who then becomes »transparent to himself in his devotion and free for it.« The art of therapy envisioned by Boss is based on this. Heidegger goes on to say that both the deficient and indifferent and the positive modes of looking after the other are »guided by consideration [Rücksicht] and recon sideration [Nachsicht],” with their respective degrees of engagement. It is tempting to translate Heidegger’s terms Rücksicht and Nachsicht with terms such as »considerate ness« and »forbearance« or »tolerance," just as Umsicht has been rendered with »cir cumspection« (as in cautious checking). However, looking around [Umsicht] associated with the sort of caring for [Besorgen] associated with discovering [Entdecken] what is available [das Zuhandenen] is quite different from the two features associated by Heidegger with existential looking after [Fürsorge]. Unfortunately, only the felicity of German allows the three words formed on the same root Sicht (sight) to be linguistically related. It is important to recall that looking after [Fürsorge] refers to the existence of others while caring for [Besorgen] refers to things and gear, including the body treated as an object. The traditional translations have introduced blatantly behavioral notions precisely where Heidegger is at pains to avoid them. The relevant text of Heidegger’s lecture course from 1925–1926 is even more nuanced and speaks directly to what occupied the clinicians who sat in on Heidegger’s seminars in Zollikon beginning thirty-five years later. In comparing intervening looking after with way-making looking after, what would be unique about existen tial analysis was already clearly articulated. Published only in 1976, the book was certainly known to Boss, but he does not refer to it anywhere in what we have of his published communications. Then in his mid-1930s, Heidegger said this to his students: there is a [second] kind of being-with the other that does not step in [einspringt] and take away [abnimmt] his place [from him] ([i.e.,] his situation [Situation] and problem [Aufgabe]), but instead attentively makes way for him, so as not to take away his devotion—that is, he himself, his very own existence—[from him], but to hand it back to him, [this being] a sort of looking after that is not dominating but liberating [emphasis added]. This mode of looking after is that of authenticity [Eigentlichkeit], because in it alone existence, which looks after devotion, can arrive at itself, really be [eigens] itself, and in that way only become most itself [eigenstes] and authentic [eigentliches]. In such looking after, the
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other existence is certainly not in that way understood wholly and primarily in terms of the world it cares for [besorgt] at all, but rather only in terms of itself.24 On the other hand, the mode of looking after first mentioned looks after [sorgt für] the other in such a way that procures [besorgt] for him a possible place to take up [Habe] as his spot [Stelle] and [as there] for his disposition [Verfügbarkeit]; it understands the other existence in terms of the things he should acquire [besorgt], with regard to which he is in distress [Not]; and this looking after expels [wirft] the other from his space [Platz], as it were, and considers [besorgt] only what is to be done to reinsert him in [what is] henceforth a protected status [Besitz]. In this kind of looking after, the other is treated like a nothing [ein Nichts], that is, like a nothing of existence; in [such] looking after he [the other] is not there as [a] real existence, but as inauthentic, and that means like some banal existence [weltliches Vorhandenes] that cannot that cannot get anywhere with its business.25 Applied to the therapeutic situation, Heidegger’s distinction between intervening on behalf of the other and making way for the other is crucial. It is the basis for Da-seins analysis as entirely different from all other forms of psychotherapy, including orthodox psychoanalysis (especially in its efforts at interpretation and reconstruction), the vari ous psychoanalytic psychotherapies, and the educative cognitive-behaviorist therapies.
3. »Why not?«: Psychoanalysis Without the Psyche The most important of Boss’s texts on praxis are (1) his book for American psychiatrists, Psychoanalysis and Daseinsanalysis (1963); (2) a roundtable discussion in which he par ticipated in Milan, »Begegnung in der Psychotherapie« [»Encounter in Psychotherapy«] (1964); (3) the last part of his Grundriß der Medizin und der Psychologie [Outline of Medicine and Psychology] (2nd ed. 1975), the entire manuscript of which was edited by Heidegger; and (4) a late lecture given in South America, »Das Unbewußste – was ist es?« [»The Unconscious. What Is It?«] (1981).«26 All of these sources reflect the strong ongoing influence of Heidegger on Boss’s views on psychotherapy which was fully in effect by 1963. As noted above, we will focus on Psychoanalysis and Daseinsanalysis. By 1963, with the publication of Psychoanalysis and Daseinsanalysis, Boss’s new form of therapeutic praxis was already well established. The book was written as a follow-up to his lectures as visiting professor at Harvard, Yale, and the University of California in 1961–1962. Since the book is out of print and not readily available, I will quote from it extensively in summarizing his views on the actual procedure of Daseinsanalyse in contrast with orthodox psychoanalysis. It is Boss’s most extensive presentation of his psychoanalysis without the psyche. 24 25 26
Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit (GA 21), 223. Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit (GA 21), 224. I have discussed the Zollikon Seminars in detail in Medard Boss and the Promise of Therapy.
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Boss’s »American« book for psychoanalysts and other psychotherapists is a sys tematic critique not only of Freudian metapsychology, but also of academic psychology in general. With a nod to orthodox analysts, Boss writes that »with only a few—though decisive—corrections, no other psychotherapeutic procedure but that of psychoanalytic practice is capable of helping man to break through to, and to carry out, his authentic and wholesome being-wholly-himself.«27 At the same time, he immediately points out the emptiness of the terms »psyche« and »psychic," asking: »For who is able to determine what ›psychic‹ means basically, and what imagination is, after all?«28 The »psyche« is rejected as fiction. The imagination as a psychological function is also disqualified as lacking any value for understanding mental life.29 Both phenomena are assumed by academic and clinical psychology yet cannot be explained by it. As in his last major work, Grundriß der Medizin und der Psychologie,30 a case example serves as Boss’s point of departure. She was »a patient who taught the author to see and think differently.« Boss »saw himself obliged to undertake a reappraisal of his whole thinking« in response to his encounter with a patient named »Dr. Cobling,”31 a 36-year-old suicidal and »pre-psychotic« British workaholic and fellow psychiatrist who was the medical director of »an important psychiatric sanitarium.«32 The case report reflects Boss’s transformation as a therapist under the influence of Heidegger’s thought. His understanding of all distress (neurotic or psychotic) that brings an individual to the therapeut had radically changed. None of the theories he had studied made it possible for »him to understand the simple fact that his patient could perceive and experience something at all, and this something as something meaningful.«33 Boss wonders about what more psychotherapists and other psychologists in general accept without reflection. He does not want to dispose of psychoanalysis, but instead to mine its original gold. However, only analysis of Dasein makes it possible to discover what psychoanalytic therapy essentially is. In the light of Daseinsanalytic reflection, psychoanalytic endeavor becomes transparent to the fullest possible extent and, most important, the therapeutic potentialities of psychoanalysis become fully accessible. [T]he understanding of man which is explicit in analysis of Dasein
Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 284. Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 13. 29 Kate Gordon, »Memory Viewed as Imagination«, in: Journal of General Psychology 17 (1937), 113–124. This is a minor classic that has unfortunately been forgotten. 30 The book was translated by Stephen Conway and Anne Cleaves: Medard Boss, Existential Foundations of Medicine and Psychology, New York 1979. It is, however, only a fragment of the original. 31 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 10. 32 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 5. Given references in the text, we can establish that the analysis of Dr. Cobling took place in the early 1950s. This means that Boss already fully appreciated the value of Heidegger’s analytics of existence for psychotherapy. He read Sein und Zeit during World War II while on duty as a medical officer, but his personal acquaintance with Heidegger began only in 1947. It evolved into a collaboration and friendship that lasted until Heidegger’s last illness in the early 1970s. The full development of Daseinsanalyse, however, implies Boss’s familiarity with the later Heidegger as well. 33 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 10. 27
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has been present, if only implicitly, in psychoanalytic therapy, and has secretly guided it from its very beginning, in spite of the mechanistic theory of psychoanalysis.34
For Boss, »the insights of analysis of Dasein will restore the original meaning and content of Freud’s actual immediate, concrete, and most brilliant observations, to which his theoretical concepts point from rather distant and abstract positions,”35 since »daseinsanalysis enables psychotherapists to understand the meaning of Freud’s recommendations for psychoanalytic treatment better than does his own theory.«36 What ails his patient? Dr. Cobling is in absentia of her present [Gegenwart] as »something of her future approaches her, comes to meet her, [and] seeks to be included in her present.«37 Boss is not concerned with diagnosis and psychopathology, but rather with the fundamental possibilities existence holds out for his analysand. »The healing factor in psychoanalysis« is the »increasing appropriation [by the analysand] of all of one’s life-possibilities as possibilities«38—providing it is existentially informed [daseinsmäßig]. Specific plans for Dr. Cobling’s future are not at issue, nor are any proposed. Even given the alarming content of Dr. Cobling’s reported experience and her behavior, Boss is optimistic, however, since no matter how disoriented and displaced she may be, »no human being can ever completely silence the challenge of all that is destined to appear and to come to its being in the light of a given existence [emphasis added].«39 This »challenge« is found in the other’s existential present, which is shorthand for what Boss terms her »possibilities of living.«40 As we learn, in the case of Dr. Cobling, her living present is that of a child, not the adult others take her to be, someone who is in a powerful position as a physician and psychiatrist working to help other human beings in distress.41 Boss therefore wonders, »how would it be if, in the analysis she [Dr. Cobling] let herself be the little child, completely, without restraint, regardless of everything.«42 This would signal her recovery of and reinstatement in her present, i.e., the reappropriation of her existence. Each existence, he believes, has the same capability for realizing its essential human possibilities, circumscribed, of course, by obvious »givens« such as sex, intellectual capacity, and the like. Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 284. Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 59. 36 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 237. 37 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 12. 38 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 254. 39 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 12–13. 40 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 73. 41 »Man’s temporality is not but is emerging [zeitigt sich], as the unfolding of and coming forth of his existence. Man’s original temporality always refers to his disclosing and taking care of something«, Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 45. I would argue that a human being’s temporality, which man makes, is an equivalent expression for his present. As Heidegger had said in 1924, »existence […] is time itself, not in time.« In the same lecture, he had been more exact, albeit challenging: »Existence is time, time is temporal [zeitlich]. Existence is not time, rather temporality [Zeitlichkeit].« For our discussion, following Heidegger, what matters is that understanding temporality (on analogy with spatiality) as a sort of container for existence is misguided. 42 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 15. 34
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At the end of her Da-seinsanalysis, Dr. Cobling asked Boss: »Do you know what it was in your treatment which actually cured me?« Immediately she gave the answer herself: »First of all it was the simple fact that you were always available for me, that I could telephone you and come to you at any time, day or night, whenever I found it to be necessary. For a long time I did not believe that somebody actually would always be be there for me. Slowly I learned to trust you, because dozens of experiences proved to me that you did not let me down. Only then I dared to live through you, so to speak, until I felt my own strength growing. The faith in you gave me the courage to settle down inwardly to the very ground of my existence [emphases added].«43
In other words, the analysand lived in and through the therapist’s own present on the way to recovering her own.44 This is the essence of way-making looking after in therapy. Boss’s message to American psychotherapists and others is that [i]f daseinsanalytic thinking actually does come closer to human reality than the thinking of natural science, it will be able to give us something we have hitherto not been able to find in psychoanalytic theory: an understanding of what we are actually doing (and of why we are doing it just this way) when we treat a patient psychoanalytically, such understanding to be based on insights into the essence of human being.45
He never ceases thinking of himself as a psychoanalyst and continues to find in it insights (albeit inexplicit in Freud’s texts) into human nature. On the other hand, Boss entirely jettisons Freud’s theory (metapsychology). Da-seinsanalysis, then, is psychoanalysis stripped of metapsychology. Boss was deeply appreciative of Freud’s understanding of man, which he witnessed first-hand in analysis with Freud in 1925. »Luckily,” says Boss, Freud’s theoretical self-mutilation was confined mainly to his books. For in his practice Freud never ceased to permit his patients fully to experience their being human. He never treated them as telescopes, or as bundles of instincts, as he should have done if he had followed his theory.46
As Boss knew from his own experience, »Freud the therapist behaved in actual treat ment as if he were cognizant of these Daseinsanalytic insights.«47 The all-important orthodox psychoanalytic concepts of “›transference‹ and ›resis tance‹ testify to Freud’s deep understanding of man«48 and »indisputably refer to actual phenomena of interhuman relationships,”49 says Boss, but again only if understood in an existentially-informed way. Boss can therefore speak of the importance in Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 26. What stands out to the reader in 2022 is Boss’s availability by phone 24/7 and even on the occasional house call. This was my own experience as a child growing up in the 1950s with my family’s general practitioner, but also in the late 1960s with my first analyst. It has been my own practice since the late 1970s as a therapist. I doubt that many psychotherapists today accept more than emails and text-messages in the middle of the night. 45 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 29. 46 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 80. 47 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 241. 48 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 78. 49 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 79. 43
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Da-seinsanalysis of “’analysis of resistance’, wherein the patient is tirelessly confronted with the limitations of his life and wherein these limitations are incessantly ques tioned, so that the possibility of a richer existence is implied.«50 One might get the impression from this passage that Boss harped at patients, pointing out how their »wretched interpersonal relations«51 could be replaced with better ones, if only the patients’ »restrictions are repeatedly questioned.«52 I believe that would be a mistake, if we consider that Boss was a writer with a vivid way of expressing himself and that we do not know what he actually wrote here in the German original which has been rendered with »confronted with the limitations of his life« and in his characterization of the analysand’s interpersonal relationships as »wretched.« The hyperbole was in service to Boss’s point that his patients »do not know that greater freedom is available [to them].«53 The upshot is that it is a feature of the child-like nature of this patient-other’s existence to not realize its—that is, Dr. Cobling’s Dasein’s—freedom. As the case illustrates, existential analysis urges all those who deal with human beings to start seeing and thinking [emphasis added] from the beginning, so that they can remain with what they immediately perceive and do not get lost in ›scientific‹ abstractions, derivations, explanations, and calcu lations estranged from the immediate reality of the given phenomena.54
Seeing and thinking that is unprejudiced by theoretical presuppositions and their accompanying expectations of what is there to be seen are stressed. Boss writes that the Daseinsanalytic science of man55 and his world asks us for once just to look at the phenomena of our world themselves, as they confront us, and to linger with them sufficiently long to become fully aware of what they tell us directly about their meaning and essence.56
Thus, we might say, phenomena confront us. A certain shining emanates from things. For its part, existence is clearance for the luminant phenomena to approach us. Existence thus makes way for what is already luminant. Thus mutuality of existence and all particular beings is needed by both—but the novelty here is the suggestion that the things first appeal to or call out to us. »Man and what appears in his light are mutually dependent on each other for their very being.«57 What determines just which things call out to us is our mood or attunement [Stimmung].58
Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 234. Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 234. 52 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 234. 53 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 234. 54 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 19–20. 55 Boss’s term »science of man« may render Geisteswissenschaft, but his usage of »science« is rather loose in this passage since in general he disavows all traditional science, including psychology, in his discussions of therapy. 56 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 30. 57 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 51. 58 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 100. 50
51
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Heidegger and the Future of Psychotherapy
In general, »only analysis of Dasein enables us to recognize all encountered things as what they are—foci of referential connections encompassing heaven and earth, the human and the divine.«59 Here there are echoes of Heidegger’s four-fold [Geviert].60 The passage is also a reminder of the place Boss makes for spirituality in therapy, where »the realm of the divine is similarly granted its authenticity; it is not regarded as a product of sublimation of infantile, libidinous strivings and thereby degraded to unreality.«61 Consideration of the divine or spiritual is one of the unique features of his practice and lacking in nearly every form of contemporary psychotherapy, especially psychoanalysis. Freud famously understood »religious« phenomena as sublimations. For Boss, however, the divine is very much a part of human experience and among the areas of possible fulfillment of the possibilities of existence made way for by Da-sein sanalysis. Extremely important for understanding therapeutic encounter are the pair »close [nah]« and »distant [fern]« (»near« and »far off«). Closeness is understood in the way we speak of being close to someone who is dear to us, important to us. We may be close to him even when his body is thousands of miles away: »The closeness or remoteness of the particular beings which are met with« is determined by »the intimacy of our concern for the particular beings which reveal themselves in the light of Dasein, as well as by their power to appeal to us.«62 Boss is keen to distinguish Da-seinsanalysis from forms of psychotherapy with which it is often confused. »If today the label ›Daseinsanalysis‹ or ›Existentialism‹ is also claimed by so many rather obscure, confused, and confusing psychologies, analysis of Dasein itself should not be blamed. Analysis of Dasein categorically refrains from imposing some arbitrary idea of being and reality—however customary or ›self-evi dent‹—on the ›particular being‹ [Seiendes] we call ›man‹.« Therefore, »we must abstain from forcing on man explanations based on preconceived and prejudiced categories beforehand, such as »soul«, »psyche«, »person«, or »consciousness«. We must choose a manner of approach which enables us to remain as open as possible and to listen and see how man appears in his full immediacy.«63 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 285. Martin Heidegger, »Das Ding« (GA 79), 5–23. 61 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 236. 62 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 44. It is not clear what the German original for »con cern« is here. As we have seen, Heidegger distinguishes between concern about particular beings other than the human being and concern for the existence of an other. Boss seems to be referring to the former in this passage. 63 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 31–32. The translator, Ludwig Lefebre, adds a note on ›particular being‹: »Following a suggestion by Professor William Bossart of the University of California, I translate Seiendes as ›particular being(s)‹. Mannheim uses the term ›essent‹, which he coined. More literal translations of Seiendes are ›that which is‹, ›actuality‹, and ›entity‹. For a discussion of ›particular being‹ see also William Barrett, Irrational Man, Garden City 1958, 189, fn. 86.« This is not helpful. Two formations based on seiend [being], the present participle of the verb sein [(to) be], are (1) das Seiende, a neuter collective noun which refers to what is there, entities in their entirety, and (2) ein Seiendes, a neuter noun which refers to a single instance of what is there. (We recall also that the infinitive sein is a contraction for seien, hence the present participle, seiend, which visibly preserves the original orthography.) Bossart’s suggestion 59
60
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Miles Groth
We conclude this section with a very brief review of Boss on »The Intrinsic Harmony of Psychoanalytic Therapy and Daseinsanalysis.«64 This certainly would have attracted the interest of most American psychoanalysts who read Boss’s book.65 He claims that »all important passages in Freud’s work pertaining to practical advice for the analyst contain the same basic terms which Heidegger, twenty years later, used to characterize human being«66. The commonalities shared by Psychoanalysis and Daseinsanalysis are entirely about practice. First, there is invocation of the »fundamental therapeutic rule«67 of saying every thing without censoring, which is in the service of »enabling the patient to unveil himself and to unfold into his utmost openness.«68 Boss explains that »no thought of unveiling hidden phenomena could have occurred in Freud’s mind without his tacit awareness of man’s existence as an open, lucid realm into which something can unveil itself and shine forth out of the dark.«69 He attributes to Freud Heidegger’s »aware ness« of existing [Existenz]: Daseinsanalytic understanding of man imbues the analyst with a deep respect for everything he encounters. In the psychoanalytic situation, such respect means that the Daseinsanalyst can follow the basic rule of psychoanalysis even more consistently than could Freud, who was hampered by his theoretical prejudices.70
In Chapter 15, however, Boss will caution that obsessive adherence even to the fundamental rule is itself subject to the Da-seinsanalytic injunction: »Why not?« This
was ill-advised, since in giving »particular being(s)« as a translation solution, the distinction between a single instance (ein Seiendes) of what is there (using the indefinite article »a« or »an«) and everything that is there or what is there (das Seiendes) (using the definite article »the«) is lost. Lefebre might have avoided introducing confusion had he decided in favor of a »more literal« translation, although not »that which is« or »actuality,« which have metaphysical implications. Similar problems with the collective noun and single instance noun built on the present participle seiend were introduced by Werner Brock, R.F.C. Hull, and Douglas Scott for Existence and Being (1949), Heidegger’s debut in English, and by John Macquarrie and Edward Robinson for Being and Time (1962). Later in the volume (Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 36), Boss quotes a letter from Heidegger approving of »particular being« or »being« as translations for »das Seiendes or Seiendes« (no article). Here without the article Seiendes may denote simply the plural of »[a] particular being« (das Seiende). Evidently, in his letter Heidegger was accounting for singular and plural usages »particular entity« and »particular entities.« The latter note is important for alluding to the ontological difference, but it does not address the distinction that is important here between all that is there and an example (or examples) of the ensemble. Heidegger may not have been his best adviser on English translations of his texts. 64 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 61–74. 65 A positive review of the volume by Andrew E. Curry, »Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanaly sis,« in: Psychoanalytic Review 51 (1964), 159–160, Curry however, overlooked Boss’s dismissal of Freud’s theory. Boss does invite the reader to omit reading the more philosophical discussions and focus instead on the clinical material; Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 27, so this may be an oversight on Curry’s part. 66 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 61. 67 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 61. 68 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 62. 69 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 62. 70 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 235.
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Heidegger and the Future of Psychotherapy
means being open to the analyst saying: »Why not not try to say everything, every single thing, that comes to mind?«71 Second, the use of the couch seems to have been de rigeur in Boss’s practice,72 with the proviso that the rule to lie down, like all other psychoanalytic rules, must never be rigidly enforced. Lying down robs the analysand of the visual support of the physician, and leaves the patient to himself. The more immature a patient is emotionally at the beginning of treatment, the more the treatment has to resemble a child analysis at the start.73
The patient is on his own without the »visual support of the physician,” but this means that those who cannot be on their own (children and child-like adults such as Dr. Cobling, who kneeled at the couch for a number of sessions) because they are emotionally immature may need to sit facing the analyst or even assume an unusual posture or position vis-à-vis the analyst at the beginning. Here, again, a comparison with R. D. Laing is inevitable. We have the filmed record of Laing sitting cross-legged on the floor across from a patient and read of his extraordinary contact with »back ward« patients as a young psychiatrist in a Glasgow mental hospital.74 Third, Boss endorses the often silent »evenly suspended attention« made possible by the analyst’s being out of eye-to-eye contact with the analysand. This offers the opportunity of the analyst’s not speaking and the analysand remaining silent for as long as she wishes, which is usually precluded when two people are sitting across from each other. Customary, expected behavior presses people who are together alone in a room to speak to each other. The opportunity offered by sitting behind the patient, however, allows for greater openness. »In silent listening, the analyst opens himself to, and belongs to, the patient’s as yet concealed wholeness [emphasis added]; and this silence alone can free the patient for his own world by providing him with the necessary interhuman mental openness.«75 The »concealed wholeness« is, as we have seen, the other’s present [Gegenwart]. Silence (both the analyst’s and the analysand’s) is freeing, according to Boss. It requires »interhuman mental openness.« Boss does not speak of interpersonal or intersubjective relationships but, rather, of an encompassing ontological openness that surrounds both partners in the therapeutic encounter. I am not sure how to take Boss’s usage of the term »mental« in this passage, since he always has in mind existence and not something related to mind, consciousness, or psyche. Perhaps the original is geistig, which can refer (as in Hegel’s phenomenology) to both thought and spirit. Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 251. This is the sense of »being open to« that makes lightening or luminating possible. It implies being exposed and vulnerable to possibilities and being affected by them; cf. Oxford English Dictionary, q.v. »open« (adj.), 26a. 72 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 62–63. 73 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 63. 74 R. D. Laing, Did You Used to Be R. D. Laing?, Santa Monica 1989 (Video). I cannot imagine Boss on the floor in his consulting room with other than a child patient—and yet, this is not impossible. A lifelong skier, Boss was nimble even in old age. 75 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 64. 71
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Miles Groth
The »intrinsic harmony« between psychoanalysis and Da-seinsanalysis is perhaps reflected best in seeing man as historical, where history is understood as »a sequence of meaningful world disclosures as they are sent into being by destiny, engaging, in an equally primordial way, human existence as the lucid world-openness as well as the emerging particular phenomena shining forth therein.«76 A life history is not a series of somehow isolated »nows« strung together, but the interpenetration of an individual’s so-called »Past« and »Future« as his Present. Developmental psychology, ego psychology, and the life cycle psychology are put aside. Human existence is essentially not a physical process but primarily an historical event. This means that in every actual relation to something or somebody, existence’s whole history is inherent and present, whether the historical unfolding of a certain kind of relationship is remembered explicitly or not.77
Without the burden of serving the life-historical model, Boss’s view of existence understands it as occurring or playing out its own time and not, for example, running through a seamless flow of stages, the principles of developmental psychology from Freud to Arnold Gesell, Jean Piaget, Erik Erikson, and Lawrence Kohlberg. Unlike the physical growth and maturation of a plant or animal, existence comes to pass as history. It occurs in existential leaps—for example, from being a child to being a grown-up. »Freedom in the Daseinsanalytic sense is the condition for the possibility of psychoanalytic practice as taught by Freud.«78 This is the language of liberation and points to another similarity with orthodox psychoanalysis: »The intrinsic harmony of psychoanalytic therapy and analysis of Dasein becomes particularly evident in their common underlying conception of human freedom.«79 Boss’s emphasis on the other’s freedom as the »goal« of Da-seinsanalysis is foregrounded: Man’s freedom, then, consists in his being able to choose either to obey this claim and carry out his possibilities of relating to, and caring for, what he encounters [live (»in«) his present], or not to obey this claim. If Freud had not had this Daseinsanalytic insight into human nature when actually treating his patients (regardless of whether he put it into words or not, and regardless of his theoretical formulations), he could not have become the father of modern psychotherapy.80
Of course, the patient may choose not to obey his own claim on himself to realize his possibilities. This, too, is part of his basic freedom. We recall that »the cure« for Dr. Cobling was the patient’s having been released into her freedom. »Evidence […] for the intrinsic accordance between the understanding of man in psychoanalytic therapy and explicitly articulated in the analysis of Dasein ”81 is best seen in the kind looking after provided by the psychoanalyst as daseinanalyst. Thus, Boss 76 77 78 79 80 81
Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 65. Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 243. Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 67. Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 67. Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 67. Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 72.
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eventually makes explicit reference to the text in Sein und Zeit relevant to the work of the therapeut with which we began, admitting that in thus summarizing Freud’s recommendations for the best therapeutic attitude we have quoted from Heidegger’s description of the two main ways of man’s caretaking for a fellow being. Could anything give more striking evidence of the intrinsic concordance of Freud’s tacit understanding of man—inherent in his practical advice to psychotherapists—and Heidegger’s elaboration of the basic features of man’s existence than the fact that it is possible to let one author speak for the other in this matter?82
And here we find the deepest consonance or »intrinsic harmony« of Freudian psycho analysis and Boss’s Da-seinsanalysis. »The analyst, Freud would say, should never act in a way which we may best characterize now as ›intervening care [einspringende Fürsorge]‹.«83 Instead, Freud characterizes the analytic attitude positively, as essentially having to be an »anticipating [vor(aus)springende]« care. In this mode of care the analyst does not intervene or interfere on behalf of the patient. He is, rather, in advance of the patient in his existential unfolding. He knows what the other has in store for himself. The analyst does not take over for the patient but tries to hand back to him what has to be cared for so that it become an actual concern. I understand this to be the other’s present. Such taking care (on the part of the analyst) consists in his concern for the ›basic‹ care (i.e. the existence) of the other person and not to a particular item he has to care for. It helps the other person to become, in his caring, transparent to himself and free for his existence. Such anticipating caretaking and being ahead necessitates the analyst’s prior ›analytic purification‹, continues Freud. Only then will the analyst be able to keep the »playground [Tummelplatz]« of the transference situation situation free of obstructions and limitations which are due to his unresolved »complexes.«84
Chapter 15 of Psychoanalysis and Daseinsanalysis, »The Psychoanalytic ›Why?‹ and the Daseinsanalytic ›Why Not?‹," is the culmination of the work and may stand as the watchword of Boss’s Da-seinsanalysis. In psychotherapy, the question »Why?« points to the imagined (never remembered) past. The »Why not?« offered by the analyst surges up in the patient’s liberated present, recovered thanks to the model of the analyst’s own present. What bears emphasizing is that none of this is concerned with specific planned future behavior, although obviously the realization of inherent possibilities that have been estopped unfolds in new or revived acts and patterns of experience and behavior as existence continues to unfold. Boss rejects causal explanations of the patient’s situation based on the psychoanalytic »Why?« since »no event in the life history of a person can ever be the ›cause‹ of neurotic symptoms. Personal experiences merely initiate inhibitions against fully carrying out all possible interpersonal and interworldly relationships.«85 In this passage, Boss briefly reverts to the language of everyday psychiatric practice in speaking of interpersonal relationships. This is offset Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 74, n. 18; Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA2), 122 ff. Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 73. 84 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 73. Boss will eventually argue for the unintelligibility of the notion of transference. 85 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 248. 82
83
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for the observant reader, however, by his use of the term »interworldly," which makes clear his fundamental view of existence as being-in-the-world. To speak of the relation between analyst and analysand (Dasein and Dasein) is to speak of the relation between two worlds. The therapist’s ongoing question about the patient (not to the patient) is »Why does he still, this very day, not dare to free himself of the restricting mentality of his childhood?«86 The emphasis is on the present »moment« of therapeutic encounter, the occasion of a given session of analysis. A patient who gestures, changes posture, moves from the couch to kneel or sit up »is still capable of expressing what she wanted to express only in the language of gestures appropriate to a small child. Conceptually articulated thinking and talking about the experience must necessarily destroy the validity of the experience.«87 In such instances, what is displayed in action speaks more truthfully about the analysand’s being-in-the-world. Saying »Why not?« to such an action acknowledges it as »a way of talking in the language [the patient] had [emphasis added] mastered« and »would have been in compliance with Freud’s [fundamental] rule« to say everything and hold back nothing that comes to mind.88 Note well that the analysand thus »speaks« in her physical sensations (perceptions), gestures, and posture. Remaining silent is possible only for creatures that can speak and is, for Boss, therefore a form of uttering [Sagen].89
4. Existential Therapy After Boss I do not claim that Boss would approve of what I say next as amounting to a legitimate extension or »realization« of his ideas, but I believe the praxis I will describe is true to what I heard from Boss when we met and talked about Da-seinsanalysis in 1976 shortly after Heidegger’s death and can be inferred from what he said to me then.90 The key term in existential analysis is Begegnung—encounter. A clue to how Boss thought of encounter in therapy can be found in a little known text in which Boss spoke of the »preverbal understanding in the present [emphasis added]« of the other which
Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 249. Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 249 f. 88 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 250. 89 In a charming reference, Boss asserts that the analyst »should be able to play the selfless [emphasis added] role of the eighteenth camel of the ancient Arab legend,« Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, 259. Here selfless means both without expectation of self-gratification and without making use of one’s self, that is, the persona (mask) of a father, mother, sibling—and, perhaps, physician. 90 I believe the essence of existential analysis can also be found in the work of Jan van den Berg and R. D. Laing. In both cases, the way also leads directly back to Heidegger’s analytics of existence. Perhaps to the surprise of some readers, I would add to the list a representative of the British school of psychoanalysis, Wilfred Bion. 86
87
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any two human beings who meet share.91 He had experienced this in his meetings with his Kashmiri spiritual mentor, Govind Kaul, and I believe it served as a model for Boss of the sine qua non of therapeutic encounter for his subsequent praxis as it was carried out after 1960. Therapy may be in order when this present [Gegenwart] is abandoned.92 In that case, and always at the initiative of the other, the therapeut strives to meet the other at such a preverbal level of understanding »in« his displaced present that is given jenseits any features of the other’s personality. Existential analysis is, then, a therapy that takes place where existence »stands out,” an ekstasis of the other’s present. But how does the therapeut arrange for such a meeting? What does he do? What is he to be to the other sitting there across from him or stretched out comfortably on a couch nearby? He does this, I would suggest, precisely by being nothing in particular [nichts] to the other to the greatest extent possible. He is neither doctor nor psychiatrist, not a parent or teacher, counselor or friend. Any attempt at being nothing to an other is a challenge to sustain, but it is the canny craft of therapy. Such mutual being already in the present of the other is only a different way of expressing the notion of co-existence [Mitsein], which we can now also describe as providing the preverbal context of experience. A second element of therapeutic praxis I have distilled from Boss’s comments on praxis is more difficult to describe, yet it is immediately evident, once again in Boss’s experiences with his Indian mentor in India. In the most general terms it is taking the other seriously. This is not necessarily mutual, especially at the beginning of therapy, and it may remain unidirectional, from therapeut to other, for a long period of time over many meetings. It is decisive when the therapeut offers the other an opportunity to recover his present by stepping aside and making way for the other. In existential analysis it is perhaps the ultimate gesture of taking the other seriously—of way-making looking after. It is a tacit recognition of the other’s existence. This is not a given at birth, as I have argued elsewhere.93 Existence is realized during infancy and, I would suggest, occurs in the experience of being taken seriously by someone—usually the mothering figure. It is mediated by by language, the mother tongue as we call it, even when the infant has no idea what the sounds emitted by its mother signify and marks the transition from the preverbal matrix to a verbal world together [Mitwelt]. But how does one know he is being taken seriously as an adult—as an analysand? Being taken seriously is being experienced as a who, as existing (Existenz), and not as a what. Here there is to begin with essentially no difference between everyday life and the therapeutic situation. In the latter setting, however, way-making concern [Fürsorge] for the freedom of the other prevails. Above all, the particularities of the other’s body Medard Boss, »Foreword,« in: Govind Kaul, Govind Amrit, Bombay 1975, 1–2. See my discussion of this remarkable text: Miles Groth, Medard Boss and the Promise of Therapy, London 2020, 116–119. The text was communicated to the editor of Kaul’s book in a letter from Boss dated November 23, 1970. 92 The text is in English and Boss may have rendered his idea with another word. His English was very good and that he did not choose »presence« (another possible translation of »Gegenwart«) rather than »present« is significant. 93 See Miles Groth, After Psychotherapy, 75–176. 91
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Miles Groth
and its socioeconomic profile—accidents of genetically transmitted physical features, ethnicity, age, and the rest—are of no importance except as details to be »put in parentheses« (phenomenologically bracketed) to the greatest extent possible. It mirrors the therapeut’s attempt to be nothing to the other we have described. We may speak of it as taking the other as no one in particular. For the existential analyst, then, what is the matter with the other? Nothing. For Daseinsaalysis there is nothing wrong with the other, a view borrowed by forms of psychotherapy based on the medical model. Existence alone is the matter [Sache]. All particularities add up to a what—an identity, a personality, a legal entity, a body as an ensemble and unity of material and functions—and so does any diagnosis. Way-making looking after, however, is concerned only with the who of existence. Reference to a what requires that part of speech we term a noun. Reference to the relative pronoun who circumvents that. The who of therapeutic encounter is thus ultimately nameless and without an identity. Precisely ridding existence of this baggage is, of course, also the goal of Eastern practices of the kind that attracted Boss first to Hindu philosophy and then to Zen—and to Heidegger’s analytics of existence. Of course, we are beholden to what language demands of us in the therapeutic setting, but in such a fix we must abandon to the greatest extent possible precisely what we wish to preserve and that is the non-reification of the other’s existence. We eventually speak to each other. Unlike his orthodox psychoanalytic colleagues, I suspect Boss did not sit behind the other speechless. In sum, I experience that I am taken seriously when only my present is of concern to the therapist. This can happen only when nothing I have done (or say or imagine I have done) and nothing I desire or wish for is taken seriously by the therapist. That is reserved only for my existence. Appendix: Key Terms
Analyse
analysis (taking apart), as in Psychoanalyse, Daseinsanal yse (n.)
Analytik
analytics (a distinguishing of elements within a whole struc ture) (n.)
analytisch
analytic (referring to both Analyse or Analytik) (adj.)
Dasein
existence (n.)
Daseinsanalyse
existential analysis (n.)
daseinsanalytisch
existential-analytic (adj.)
Daseinsanalytik
analytics of existence (n.)
daseinsanalytisch
existential-analytical (adj.)
daseinsgemäße
existentially informed (adj.)
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Heidegger and the Future of Psychotherapy
daseinsgemäßig
existentially-informed (adj.)
einspringend
intervening (adj.)
existentiell
existential (ontic, entitative), Existentialist (adj.)
Existenz
existing (n.)
Existenzanalyse
analysis of existing (n.)
Existenzial
existentive (element of the structure of the being [Sein] of existence) (n.)
existenzial
existentive (pertaining to the Existenziale), existentively (adj., adv.)
existenziale Analytik
existentive analytics (Heidegger’s project in Sein und Zeit) (n.)
Existenzphilosophie
philosophy of existing (n.)
existieren
to ek-sist (v.)
existiert
ek-sists (v.)
realiter existiert
is really there (v.)
Existieren
ek-sisting (n.) (cf, Existenz)
Seiende
what is there (all there is) (with the definite article) and a being (taken individually) (with the indefinite article) (n.)
vorausspringend
way-making (also vorspringend) (adj.)
vorhanden
extant, existing (adj.)
Vorhandenheit
extancy, availability (n.)
zuhanden
available (adj.)
Zuhandenheit
availability (n.)
Zu-sein
to-being (to-ness) (n.)
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Robert D. Stolorow
Befindlichkeit, Emotional Phenomenology, and Psychoanalytic Therapy
Thinking begins only when we have come to know that reason, glorified for centuries, is the most stiff-necked adversary of thought. Martin Heidegger
1. Heidegger and Affect Elkholy captures the radical shift entailed in the ontological proposals Heidegger makes in Being and Time emphasizing the centrality of affect in Dasein’s disclosedness: Arguably, Heidegger’s most important contribution to the history of philosophy, in addition to entrenching the subject in its world and thereby overcoming the subject/object dualism, is the primacy that he accords to mood in his analysis of human existence. Through mood humans gain access to their world, to themselves and to their relations with others in the world in a manner that is prereflective and unthematic […] [M]ood1, especially the mood of Angst, has the power to reveal the whole: the whole of how one is in the world and the whole of the world at large.2
Heidegger thereby replaces the cognitivism of traditional metaphysics with an ontology of feeling. For Heidegger, affectivity rather than reason constitutes the ground of philosophizing and provides the bridge to the truth of Being. Such a shift has enormous implications for psychoanalysis and psychoanalytic therapy. In his 1929–1930 lecture course, The Fundamental Concepts of Metaphysics,3 Heidegger gives a particularly powerful statement of his view of the philosophical significance of mood. Referring to ontologically revelatory moods as fundamental attunements or ground moods (Grund stimmungen), he makes a truly remarkable claim: Philosophy in each case happens in a fundamental attunement [ground mood]. Conceptual philosophical comprehension is grounded in our being gripped, and this is grounded in a fundamental attunement.4 In my interpretation, »mood »is Heidegger’s term of art for disclosive affectivity in general. Sharin N. Elkholy, Heidegger and a Metaphysics of Feeling. Angst and the Finitude of Being, London 2008, 4. 3 Martin Heidegger, The Fundamental Concepts of Metaphysics: World, Finitude, Solitude, transl. by William McNeill / Nicholas Walker, Bloomington, IN 1995. 4 Martin Heidegger, The Fundamental Concepts of Metaphysics, 7. 1
2
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Robert D. Stolorow
In the lecture course, Heidegger discusses a number of such ground moods that make philosophizing possible. For example, in addition to anxiety, there is »home sickness,” »turbulence,” »boredom,” and »melancholy.«5 These are traces of how Hei degger’s privileging of anxiety in Being and Time gives way in his later work to an emphasis on other ontologically revelatory ground moods, such as awe, wonder, and astonishment. In certain contexts, Heidegger alludes to the role of mood in »the disclosed ness of the ›they‹ [das Man, inauthentic Being].«6 The mood of »curiosity,” for example, can, along with »idle talk« and »ambiguity,” disclose »Dasein’s falling into the ›they‹ [and] ›fleeing‹ in the face of itself.«7 Fear, too, can accompany a defensive evading of the existential anxiety of authentic Being-toward-death, replacing the latter with some concrete entity or event threatening to life and limb. Such fear »is anxiety, fallen into the ›world,’ inauthentic.«8 I cannot recall ever encountering a reference to the mood of shame in Being and Time. It is my view that, just as existential anxiety is disclosive of authentic existing, it is shame that most clearly discloses inauthentic or unowned existing. In feeling ashamed, we feel exposed as deficient or defective before the gaze of the other.9 In shame, we are held hostage by the eyes of others; we belong, not to ourselves, but to them. Thus, a move toward greater authenticity, toward a taking ownership of one’s existing, is often accompanied by an emotional shift from being dominated by shame to an embracing of existential guilt, anxiety, and anticipatory grief. This is a shift from a preoccupation with how one is seen by others to a pursuit of what really matters to one as an individual—from how one appears to others to the quality of one’s own living, including especially the quality of one’s relatedness to others. Heidegger claims that in being our »there,” our disclosedness, we are three constitutive ways of disclosing our Being-in-the-world: discourse (Rede), understanding (Verstehen), and Befindlichkeit.10 To me, the best translation of the latter is the literal one: »how-one-finds-oneself-ness.« How-one-finds-oneself-ness shows up ontically as mood, through which we are attuned to ourselves and to our situatedness in the world. Heidegger’s claim that Befindlichkeit is equiprimordial with understanding (Verstehen) and discourse (Rede) as a way of disclosing Being-in-the-world is, in my view, a definitive answer to criticisms of his alleged neglect of the body in Being and Time. This is so because Befindlichkeit always shows up in lived experience in the form of a mood (Stimmung), and disclosive affectivity always includes an experienced bodily component. The recognition that the lived body is never absent from affective experience opens up extra-linguistic forms of affectivity—as found in early childhood and in psychosomatic states, for example—to investigation and illumination. Richard Capobianco, Engaging Heidegger, Toronto 2010. Martin Heidegger, Being and Time, transl. by John Macquarrie and Edward Robinson, New York 1962, 210. 7 Martin Heidegger, Being and Time, 230. 8 Martin Heidegger, Being and Time, 234. 9 Jean-Paul Sartre, Being and Nothingness. An Essay in Phenomenological Ontology, transl. by Hazel Estella Barnes, New York 2001. 10 Cf. Martin Heidegger, Being and Time. 5
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Befindlichkeit, Emotional Phenomenology, and Psychoanalytic Therapy
2. Emotional Trauma Heidegger’s analysis of existential anxiety (Angst) reveals him to be a consummate emotional phenomenologist.11 Like Freud,12 he made a sharp distinction between fear and anxiety. Whereas, according to Heidegger, that in the face of which one fears is a def inite »entity within the world,”13 that in the face of which one is anxious is »completely indefinite«14 and turns out to be »Being-in-the-world as such.«15 The indefiniteness of anxiety »tells us that entities within-the-world are not ›relevant‹ at all […] [The world] collapses into itself [and] has the character of completely lacking significance.«16 Heidegger made clear that it is the significance of the average everyday world, the world as constituted by the public interpretedness of the »they« (das Man), whose collapse is disclosed in anxiety. Furthermore, insofar as the »utter insignificance«17 of the everyday world is disclosed in anxiety, anxiety includes a feeling of uncanniness, in the sense of »not-being-at-home.«18 In anxiety, the experience of »Being-at-home [in one’s tranquilized] everyday familiarity«19 with the publicly interpreted world collapses, and »Being-in enters into the existential ›mode‹ of […] ›uncanniness.‹”20 In Heidegger’s ontological account of anxiety, the central features of its phenomenology— the collapse of everyday significance and the resulting feeling of uncanniness—are claimed to be grounded in what he called authentic (nonevasively owned) Being-towarddeath. Existentially, death is not simply an event that has not yet occurred or that happens to others, as das Man would have it. Rather, it is a distinctive possibility that is constitutive of our existence—of our intelligibility to ourselves in our futurity and our finitude. It is »the possibility of the impossibility of any existence at all,”21 which, because it is both certain and indefinite as to its when, always impends as a constant threat, robbing us of the tranquilizing illusions that characterize our absorption in the everyday world, nullifying its significance for us. The appearance of anxiety indicates that the fundamental defensive purpose (fleeing) of average everydayness has failed and that authentic Being-toward-death has broken through the evasions that conceal it. Torn from the sheltering illusions of das Man, we feel uncanny—no longer safely at home. I have contended that emotional trauma produces an affective state whose features bear a close similarity to the central elements in Heidegger’s existential interpretation of anxiety and that it accomplishes this by plunging the traumatized person into a Cf. Martin Heidegger, Being and Time. Cf. Sigmund Freud, »Inhibitions, Symptoms, and Anxiety,” in: James Strachey (ed.), The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, vol. 20, London 1959, 77–175. 13 Martin Heidegger, Being and Time, 231. 14 Martin Heidegger, Being and Time, 231. 15 Martin Heidegger, Being and Time, 230. 16 Martin Heidegger, Being and Time, 231. 17 Martin Heidegger, Being and Time, 231. 18 Martin Heidegger, Being and Time, 233. 19 Martin Heidegger, Being and Time, 233. 20 Martin Heidegger, Being and Time, 231. 21 Martin Heidegger, Being and Time, 230. 11
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Robert D. Stolorow
form of authentic Being-toward-death.22 Trauma shatters the illusions of everyday life that evade and cover up the finitude, contingency, and embeddedness of our existence and the indefiniteness of its certain extinction. Such shattering exposes what had been heretofore concealed, thereby plunging the traumatized person into a form of authentic Being-toward-death and into the anxiety—the loss of significance, the uncanniness—through which authentic Being-toward-death is disclosed. Trauma, like death, individualizes us, in a manner that invariably manifests in an excruciating sense of singularity and solitude. The particular form of authentic Being-toward-death that crystallized in the wake of the trauma of my being widowed I characterize as a Being-toward-loss. Loss of loved ones constantly impends for me as a certain, indefinite, and ever-present possibility, in terms of which I always understand myself and my world. My own experience of traumatic loss and its aftermath was a source of motivation for my efforts to relationalize Heidegger’s conception of finitude, claiming that authentic Being-toward-death always entails owning up, not only to one’s own finitude, but also to the finitude of all those we love. Hence, authentic Being-toward-death always includes Being-toward-loss as a central constituent. Just as, existentially, we are »always dying already,”23 so too are we always already grieving. Death and loss are existentially equiprimordial. Existential anxiety anticipates both death and loss. Although the term finitude is usually used to refer to the temporal limitedness of human existing, it can refer to any form of limitedness, such as the limitedness of knowing and of our ability to predict the outcomes of our decisions in advance. Most painful is the limitedness of our capacity to protect those we love from harm. Any of these forms of finitude can become a source of emotional trauma. Wittgenstein characterized philosophy as »a battle against the bewitchment of our intelligence by means of our language.«24 In an earlier essay,25 Atwood and I employed Wittgenstein’s conception of such bewitchment to give an account of the genesis of various forms of metaphysical illusion. In place of a word a picture is projected, which is then imagined as a thing-in-itself, an everlasting entity. Such metaphysical illusion, mediated by words and reified pictures, replaces the tragic finitude and transience of existence with a permanent and eternally changeless reality. As was recognized precociously by Dilthey, this illusory metaphysicalization of experience is pervasive in human life.26 An entity central to our everyday well-being is planet earth itself. The earth, both literally and ontologically, gives us the ground we stand on. It grounds 22 Cf. Robert D. Stolorow, Trauma and Human Existence: Autobiographical, Psychoanalytic, and Philosophical Reflections. New York 2007; cf. Robert D. Stolorow, World, Affectivity, Trauma: Heidegger and Post-Cartesian Psychoanalysis. New York 2011. 23 Martin Heidegger, Being and Time, 298. 24 Ludwig Wittgenstein, Philosophical Investigations, Malden, MA 1953, § 109. 25 Cf. Robert D. Stolorow / George E. Atwood, The Power of Phenomenology: Psychoanalytic and Philosoph ical Perspectives, London 2018. 26 Cf. Wilhelm Dilthey, The Formation of the Historical World in the Human Sciences (= Selected Works, vol. 3), Princeton 2002.
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Befindlichkeit, Emotional Phenomenology, and Psychoanalytic Therapy
our way of being. In his later lecture, »Building Dwelling Thinking,”27 Heidegger gives important glimpses into the ontological significance of the earth. Indeed, Heidegger claims in this essay that the fundamental character of the human kind of being (exis tence) is dwelling. Such dwelling requires a space, a location, a home; and that home is the earth. In this vision, the earth provides grounding for the human kind of being. For humans, to be is to dwell on earth, and to dwell requires that they safeguard and preserve the earth that grounds them. Characteristically, such protectedness is sought in meta physical illusion—the transformation of this vulnerable planet into an invincible ever lasting entity. This age-old metaphysical illusion is not faring well in the face of the perils of climate change. Heidegger uses several interrelated phrases to characterize the comportment of dwelling on earth: To dwell there is to cherish, to protect, to preserve, to care for, to nourish, to nurture, to nurse, to keep safe, to spare, to save. »Mortals dwell in that they save the earth.«28 What is most noteworthy to me is that all of these manifestations of dwelling entail recognition of and responsiveness to earth’s vulner ability, rather than an evasive turning away. They entail, in other words, renunciation of comforting metaphysical illusions of earth’s everlasting invincibility. A personal vignette29 alludes to the enormous impact of having earth’s permanence and change lessness thrown open to question: More than three decades ago I took my young son to a planetarium show at the New York Museum of Natural History. During that show it was predicted that a billion years from now the sun will become a »red giant« that will engulf and destroy our entire solar system. This prospect filled me with intense horror […] [T]he sun’s becoming an engulfing red giant represents not just the destruction of individual human beings but of human civilization itself […] I want to call the horror that announces such a possibility Apocalyptic anxiety.30
It also announces, I now add, the shattering of metaphysical illusions of earth’s perman ence and indestructability. The human way of being cannot survive the impending homelessness with which climate change threatens us, a prospect so horrifying that people turn away from it altogether, thereby evading the threat and abandoning the search for solutions.31
Martin Heidegger, »Building dwelling thinking,” in: Poetry, Language, Thought, transl. by. Albert Hofs tadter, New York 2001, 141–159. 28 Martin Heidegger, »Building dwelling thinking,” 148. 29 Cf. Robert D. Stolorow, »Planet Earth: Crumbling Metaphysical Illusion,” in: Humanistic Psychology Newsletter, July 2019. 30 Robert D. Stolorow, »Planet Earth: Crumbling Metaphysical Illusion,” 12. 31 Such Apocalyptic homelessness is foreshadowed concretely in the destruction of individual homes and other buildings by massive storms, floods, wildfires, and other manifestations of global warming. 27
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Robert D. Stolorow
3. Emotional Dwelling What can help us face up to the horrors with which climate change threatens us? I suggest a form of dwelling with one another that I call emotional dwelling,32 an active, engaged, participatory comportment that I have recommended for the therapeutic approach to emotional trauma. In dwelling, one leans into the other’s emotional pain and participates in it. The language that one uses to address another’s experience of trauma meets the trauma head-on, articulating the unbearable and the unendurable, saying the unsayable, unmitigated by any efforts to soothe, comfort, encourage, or reassure—such efforts invariably being experienced by the other as a turning away from the experience of trauma. In order to tackle the overwhelming perils of climate change we must include in our dwelling on earth an emotional dwelling with one another that renders shared »Apocalyptic anxiety« more tolerable. Let me give an example of emotional dwelling and the sort of language it employs from my own personal life. My father suffered a terrible trauma when he was 10 years old. He was sitting in class, the boy sitting in front of him was horsing around, the teacher threw a book at the boy, the boy ducked, and the book took my dad’s eye out on the spot. For the rest of his life, he lived in terror of blindness—a terror that I remember pervaded our household when I was growing up. Sixty years after that terrible trauma, he was to have cataract surgery on his remaining eye, and his optic nerve was vulnerable to being knocked out in virtue of the glaucoma medication he had been using for decades. When I went to see him just prior to the surgery, I found him in a massively (re)traumatized state—terrified, fragmented, disorganized, and deeply ashamed of the state he was in. Family members tried to offer him reassurance: »I’m sure it will be fine.« Really? Such platitudes only demonstrated to him that no one wanted to be close to him in his traumatized state. Having gone through my own experience of devastating trauma, I knew what he needed instead. I said, »Dad, you have been terrified of blindness for nearly your entire life, and there’s a good chance that this surgery will blind you! You are going to be a raving maniac until you find out whether the surgery blinds you! You’re going to be psychotic; you’re going to be climbing the walls!« In response to my dwelling with his terror, my dad came together right before my eyes and, as was our custom, we had a couple of martinis together. The surgery was successful and did not blind him. If we are to be an understanding relational home for a traumatized person, we must tolerate, even draw upon, our own existential vulnerabilities so that we can dwell unflinchingly with his or her unbearable and recurring emotional pain. When we dwell with others’ unendurable pain, their shattered emotional worlds are enabled to shine with a kind of sacredness that calls forth an understanding and caring engagement within which traumatized states can be gradually transformed into bearable painful feelings. Emotional pain and existential vulnerability that find a hospitable relational home can be seamlessly and constitutively Cf. Robert D. Stolorow / George E. Atwood, The Power of Phenomenology: Psychoanalytic and Philosoph ical Perspectives.
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Befindlichkeit, Emotional Phenomenology, and Psychoanalytic Therapy
integrated into whom one experiences oneself as being. I have little doubt that my capacity to dwell with the painful, traumatic states of others has been greatly enhanced by my close studies of Heidegger’s existential analytic, in particular, his brilliant analysis of Angst and the phenomenology of non-evaded Being-toward-death.
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Richard D. Chessick
Psychoanalytic Peregrinations: Phenomenology and The Zollikon Seminars1
This is an introduction to the subject for those mental health professionals who are not familiar with phenomenology. Phenomenology as we use it here attempts to capture in all its concrete immediacy the intrinsic nature of one’s experience, exactly as it occurs to a person and without any embellishment, explanation, extrapolation, interpretation, inference, or attribution to any theory; for example, what it feels like to experience dizziness, grief, hunger, or pain. The term »phenomenology« has been adopted as the name of a philosophical practice in which this subjective, immediately given, lived experience is used as a starting point for the construction of ontological theories, epistemology, ethics, and even a theory of the mind by some authors. It began as a philosophical movement in the work of Brentano, whose seminars were attended by both Freud and Husserl, and then was expanded and transformed in various directions by such philosophical pioneers as Heidegger, Sartre, Merleau-Ponty, and numerous other thinkers more distant from the phenomenological movement. It seems apparent that there is little possibility of objective debate and the provision of reasons, arguments, and explanations within any philosophical system which bases itself exclusively on phenomenology, and as a result phenomenologists all too often write in a dogmatic style consisting of numerous assertions about how things are, without any attempt to justify these assertions except through appeal to subjective phenomenological insight. Once the objectives of a phenomenological psychology are clearly understood, there should be no question about the fact that it has essential limitations and that it cannot and must not be considered as a rival of »scientific research.« Its main function is to serve as an ally to the scientific enterprise. I have discussed this at length and illustrated the use of it even in the structure of my recent book.2 The phenomenologist Merleau-Ponty insisted, and I agree, that the work of Hegel is the source of many important philosophical ideas in the second half of the 19th century and the first half of the 20th century, including the contributions of Marx, Nietzsche, phenomenology, existentialism, and psychoanalysis. For example, Hegel 1 Revised from Richard D. Chessick, »Psychoanalytic peregrinations IV: what is phenomenology?«, in: The Journal of the American Academy of Psychoanalysis 30 (2002), 673–689, 2002; Richard D. Ches sick, »Psychoanalytic peregrination. V: The Zollikon Lectures,” in: The Journal of the American Academy of Psychoanalysis 31 (2003), 343–348. 2 Cf. Richard D. Chessick, Apologia Pro Vita Mia: An Intellectual Odyssey, London 2018.
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Richard D. Chessick
discusses the limits set to the autonomy of self-consciousness, for self-consciousness always belongs to a culture in which the human finds himself or herself immersed. From our Western culture springs the aggressiveness of modern science, which always wants to become master over its object by means of a method. But this excludes the mutuality of participation existing between object and subject, an insight that represents the highest point of ancient Greek philosophy and makes possible what the Greeks thought could be our participation in the beautiful, the good, and the just, as well as in the values of communal human life. In book Lambda of the Metaphysics Aristotle describes the Prime Mover as completely autonomous, completely whole, knowing no limit, no obstruction, no illness, no fatigue, no sleep. By comparison, in the case of the human being, all of these limitations are present; this is known as the finitude of the human being. What the philosophers Hegel and Husserl and finally Heidegger were addressing might be labeled the metaphysics of this finitude of the human being. For the ancient Greeks, the essence of knowledge arises out of the dialogue and not the mastery of objects. All of this perhaps can help us to understand why Husserl,3 with his analysis of time-conscious ness, and, after him, Heidegger, the author of Being and Time,4 developed a different way in our age of science for contemporary continental philosophy, which in turn much influenced certain contemporary continental psychoanalysts and psychiatrists (for details see Kraus).5 Within the presuppositions of modern science, everything is reduced to methods of objectification and testing.6 Hans Georg Gadamer,7 a student of Heidegger, pointed out that the term methodos in the ancient sense always meant the whole business of working within a certain domain of questions and problems. »Method« in this sense is not a tool for objectifying and dominating something; rather it is a matter of our participating in an association with the things with which we are dealing. This meaning of »method« as »going along with« presupposes that we are already finding ourselves in the middle of the game and can occupy no neutral standpoint – even if we strive very hard for objectivity and put our prejudices at risk. This sounds like a challenge to the natural sciences and their ideal of objectivity. The human sciences must occupy themselves with quite different tasks than the natural sciences. In the human sciences there is an elementary and self-evident concern, namely, what really matters is the human being’s encounter with himself or herself in relation to an »other« different from himself or herself, more of a »taking part« in Edmund Husserl, The Phenomenology of Internal Time Consciousness, transl. by James Churchill, Bloomin gon, IN 1966. 4 Cf. Martin Heidegger, Being and Time, transl. by Johan Macquarrie and Edward Robinson, New York 1962. 5 Cf. Alfred Kraus, »Phenomenological-anthropological psychiatry,” in: Fritz Henn / Norman Sartorius / Hanfried Helmchen / Hans Lauter (eds.), Contemporary Psychiatry: Vol. 1. Foundations of Psychiatry, New York 2001, 339–355. 6 Cf. Edmund Husserl, The Crisis of European Sciences and Transcendental Phenomenology, transl. by David Carr, Evanston, IL 1970. 7 Cf. Hans-Georg Gadamer, Truth and Method, 2nd edition, transl. by Joel Weinsheimer and Donald G. Marshall, New York 1989. 3
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Psychoanalytic Peregrinations: Phenomenology and The Zollikon Seminars
something. In the human sciences the help of a method will not enable a person to place himself or herself in a determinate relationship to an »other« who has been posited by that person as an object. Jean-Paul Sartre8 aptly described what is disastrous about the objectifying gaze: in the instant that the other is reduced to an observed object, the mutuality of the gaze is no longer maintained, and communication ceases. Clearly, the functions of the natural sciences and the human sciences are funda mentally different; the former behaves in an objectifying way and the latter has to do with participation. This certainly does not mean that objectification and methodical approach have no value in the humanistic and historical disciplines, and of course the cultural sciences do have scientific methods available to them. But we cannot ignore the value of our mutual participation in and our involvement in the tradition and the life of culture in which both we and the individuals whom we study are immersed. »Phenomenology« evolved into an effort to recognize this important aspect of the human sciences. When anyone claims to answer the question »What is phenomenology?« beware, because although phenomenology was first developed by Husserl in 1900, it has been used differently by Heidegger, Sartre, Jaspers, Merleau-Ponty, and many others since that time. So anyone who answers the question »What is phenomenology?« will be telling you what he or she believes it to be, and that is all. Husserl9 began this approach in the following manner. A »phenomenon« is what ever appears to us immediately in experience. No »reduction« is permitted, that is, no selecting out of experience of such items as things, objects, sensation, feelings, entities, and so on, since this already assumes classification principles about the world. No DSM-5 is to be allowed in back of the therapist’s mind. In this Husserl believed he had found a new epistemological method, for phenomenological statements cannot be called »empirical« since empirical sciences already assume »things« or »entities«, »out there«, for example a »case« of depression, schizophrenia, and so on. Husserl believed there is such a thing as presuppositionless inquiry that he makes the basis of phenomenology, that is to say, an inquiry using no theories, in which one simply describes the phenomena as they present themselves to an unprejudiced view. His basic approach was what he called a phenomenological stance: just react to what is simply there in immediate experience. This is similar to the psychoanalyst Bion’s notion of approaching each psychoanalytic session without memory, desire, or understanding. One does not disconnect, isolate, interpret, or classify aspects of the experience. A second part of Husserl’s method was what he called Epoché, or suspension, taken from Stoic philosophy. This »phenomenological reduction« or »bracketing of being« includes refrainment from judgement about diagnosis, morals or values, causes, background, or the subject (the patient) as separate and different from the objective observer (therapist). Instead, there exists an intersubjective field in which, for example, Cf. Jean-Paul Sartre, Being and Nothingness: A Phenomenological Essay on Ontology, transl. by Hazel Barnes, New York 1973. 9 Cf. Edmund Husserl, Cartesian Meditations, transl. by. Dorion Cairns, The Hague 1977. 8
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Richard D. Chessick
the therapist pays special attention to his or her own state of consciousness in the presence of the patient. A clinical example of this was offered at Chestnut Lodge by the psychoanalyst Pao10 in dealing with schizophrenics, who emphasized what he called »the feel of a schizophrenic«, that is to say, a special intersubjective atmosphere created by a schizophrenic patient. The rest of Husserl’s philosophy does not interest us here, because he used it in a fruitless attempt to gain absolute knowledge. But this new method became the principle alternative in one form or another to the empirical study of humans as natural science objects. The main point is that such empirical study ignores the vivid immediacy of the lived world of the patient in its effort to abstract out mechanical scientific laws, reducing the person to a »thing« to be studied, or manipulated, or liquidated, with all that this implies for the history of the twentieth century and for the course now taken by medical psychiatry, so under the overwhelming influence of huge international pharmaceutical corporations. Husserl’s phenomenology, based on the subjective perspective, that is, the way in which all our experience takes place, emphasizes the web of anticipations involved whenever we experience anything, a web of anticipations that form a horizon or background and of which we are not aware. This is Husserl’s notion of fore-meaning or fore-structure. Heidegger leaned heavily on this aspect of Husserl’s philosophy, taking over Husserl’s phenomenology and calling it »hermeneutics«. For our purposes then, as Kraus writes in typical continental prose, The phenomenological-anthropological and daseinsanalytic forms of psychiatry attain a special place in the realm of scientific concerns in psychiatry […] It is one of their tasks to display the reductionism of empirical-objectivating approaches in order to open up for those sciences […] new questions and dimensions.11
Obviously, this openness of questioning in the phenomenological approach poses great difficulties in trying to design research and quantification to satisfy the empir ical minded DSM-5 addicts and the managed care bureaucrats. As he writes, »The diagnostic glossary largely replaces intuitive-eidological acts with the generation of so-called diagnostic criteria and the introduction of algorithmic decision trees.«12 Kraus points out how this ignores what might be called the hermeneutic nature of diagnostic processes, »with their acts which are anticipatory-proleptic and retrospective with regard to part and whole,”13 as I have mentioned in the above reference to Gadamer’s concepts.14 Follesdal points out that hermeneutics shares two important features of the standard scientific or natural sciences method:15 »(1) setting forth interpretational 10 11 12 13 14 15
Cf. Ping-Nie Pao, Schizophrenic Disorders, New York 1979. Alfred Kraus, »Phenomenological-anthropological psychiatry,” 349. Alfred Kraus, »Phenomenological-anthropological psychiatry,” 350. Alfred Kraus, »Phenomenological-anthropological psychiatry,” 350. For details cf. Richard D. Chessick, What Constitutes the Patient in Psychotherapy. Northvale, NJ 1992. Cf. Dagfinn Follesdal, »Hermeneutics« in: International Journal of Psychoanalysis 82 (2001), 375–379.
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Psychoanalytic Peregrinations: Phenomenology and The Zollikon Seminars
hypotheses and (2) checking whether they together with our beliefs imply consequences that clash with our material«16 and he attempts to regard hermeneutics as »the hypo thetical-deductive method applied to meaningful material in order to bring out its meaning.«17 Follesdal also emphasizes the hermeneutic circle, in which we go back and forth between the hypothesis and the material until we achieve some kind of fit: We may find hypotheses that fit in with part of the material, but which have to be revised because they do not fit in with other parts. A good hypothesis must fit the whole material, and so will have to be modified until an interpretation that fits all the parts.18
There is a clear parallel to the work of the psychoanalyst here, as the material of free associations is used to test interpretive hypotheses so passages that were originally interpreted in one way come to be interpreted in another as the free associations unfold. As in the natural sciences, we always struggle with what has been known as the theory-ladenness of observation. Continental psychoanalysts such as Ludwig Binswanger, adopted Heidegger’s notion of phenomenology, which was based on utilizing Husserl’s phenomenological method to focus on the lived world of the human being, actually a travesty of what Husserl had in mind.19 Influenced by this, Binswanger borrowed Heidegger’s whole concept of the surrounding world of the living subject in his attempt to interpret the context of the phenomena of his patients. World and self appeared as correlatives in symbiosis, and being human involved a way of moving in a world, as one of my colleagues Erwin Straus repeatedly emphasized and investigated here as a refugee in the United States.20 Especially in his analyses of dreams, Binswanger argued that dreams showed different ways of living and moving in a characteristic space for that individual dreamer. Binswanger gave ultimate credit to Heidegger’s concept of Verfallensein, a kind of decay of the human, and even dedicated his studies of three such modes of decay or failure to Heidegger. The first one of these is Verstiegenheit, which literally means to have lost one’s path in climbing a mountain. The patient has maneuvered himself or herself into a position from which the patient can no longer extricate himself or herself. In the United States we more simply call that »painting yourself into a corner.« An example of it would be the disproportion in an individual’s mind between the height of the goals aspired to and the level actually accessible through that person’s experience and ability. A prime dramatic example is Ibsen’s master builder named Solness, who builds structures which he can no longer climb until he falls to his death. Other failures are Verschrobenheit or screwiness, where our meanings get mixed up, and Manieriertheit or mannerisms, where, because of our inability to reach or actualize our own self, we imitate an impersonal model or an individual outside of ourselves. The most important Dagfinn Follesdal, »Hermeneutics,” 375. Dagfinn Follesdal, »Hermeneutics,” 376. 18 Dagfinn Follesdal, »Hermeneutics,” 376. 19 Cf. Ludwig Binswanger, Being-in-the-World, New York 1963. 20 Cf. Richard D. Chessick, »The phenomenology of Erwin Straus and the epistemology of psychoanalysis,” in: American Journal of Psychotherapy 53 (1999), 82–95; cf. Richard D. Chessick, Apologia Pro Vita Mia. 16 17
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Richard D. Chessick
implication of this new conception is that for a real understanding of a person, and particularly a mentally sick person, one has to study primarily his or her world, not just his or her biological organism or personality in itself set apart from the world. Binswanger even spoke of several such worlds for the same person, again borrowed from Heidegger: the Umwelt, one’s non-personal environment; the Mitwelt, one’s social relations to others; and the Eigenwelt, one’s private world. These terms stand not for separate worlds, but regions within the comprehensive world of the person. Heidegger gave seminars at Zollikon, a small town in Switzerland, birthplace of Eugen Bleuler, and the home of the psychoanalyst Medard Boss. Boss rather idealized him and invited him to give these seminars after World War II.21 They were attended by physicians and psychotherapists, pupils and collaborators of Boss, who taught at the university’s psychiatric clinic in Zurich, the famous Burgholzli, the place where Carl Jung had worked. During the war Medard Boss had been a battalion medical officer with a mounted unit of the Swiss army. He had little to do then, and to deal with his boredom he read Heidegger’s Being and Time.22 Gradually he realized that this work formulated some fundamentally new unheard-of insights into human existence and its world that might be used in psychotherapy. In 1947 he wrote his first letter to Heidegger, who replied courteously and asked for a small package of chocolate. Eventually they developed a friendship which resulted in a series of seminars from 1959 to 1969. At the first seminar Heidegger drew semi-circles on the blackboard to represent one’s primary openness to the world and tried for the first time to make psychic disorders comprehensible through the basic concepts that he had presented in Being and Time. Medical histories were discussed. An open relationship to the world meant sustaining the present without escaping into the future or past. Heidegger was critical of Freudian psychoanalysis for rendering the relationship between the patient and the patient’s world more complicated by the use of what he called contrived theories. He restated his view that most mental diseases can be understood as a disturbance in existing in the world, a failure to sustain an open relationship in the world. For Heidegger there is no break between sickness and normality. Two issues always intermingled in the Zollikon Seminars, the mental illness of individuals and the pathology of modern civilization. That is to say, in the disturbance of the individual, Heidegger recognized the madness of the modern age. Askay presents a clever imagined debate between Heidegger and Freud, using as much as possible the actual quotations from their writings even though, of course, these have to be lifted out of context.23 It is remarkable that Freud and Husserl were contemporaries and completely failed to take notice of each other’s work. Askay points out that the same problem occurred involving the work of Freud and Heidegger: Cf. Martin Heidegger: Zollikon Seminars, edited by Medard Boss, transl. by Franz Mayr and Richard Askay, Evanston, IL 2001. 22 Cf. Martin Heidegger, Being and Time. 23 Cf. Richard Askay, »A philosophical dialogue between Heidegger and Freud« in: Journal of Philosophical Research 24 (1999), 415–443. 21
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Psychoanalytic Peregrinations: Phenomenology and The Zollikon Seminars
Although Heidegger was 30 years younger than Freud, they shared the same language, lived relatively close to one another, had been directly influenced by the philosophy of Brentano, had close relationships with some of the same people (for instance, the Swiss existential psychoanalysts, Ludwig Binswanger and Medard Boss), and were both concerned about the emergence of meaning in the world and the development of psychology.24
Freud never mentions Heidegger or his work, and except for the Zollikon Seminars Heidegger had little to say about Freud. In the Zollikon Seminars, however, he spoke directly about his profound disagreement with Freud’s approach. In my opinion it was essentially the same as Heidegger’s profound disagreements with the assumptions of the natural sciences, that through science and reason we had the only instrument for finding out about the world. Heidegger’s complaints rested heavily on Freud’s attempt to place psychoanalysis on a natural science-based Weltanschauung and on Freud’s hostile comments about philosophy. In a previous publication I have pointed out how Freud shifted from a Cartesian to a Kantian epistemology,25 and actually Freud himself26 points out that his work on the unconscious is simply an extension of Kant’s philosophy. Kant warned us that our perception is subjectively conditioned and is not identical with the phenomenon perceived just as psychoanalysis warns us that conscious perception is subjectively conditioned by unconscious mental processes. Askay offers excellent contrasting explanations by Freud and Heidegger of the clinical example of a woman who leaves her purse behind when she leaves the room of a male acquaintance. Freud of course would explain it as her wish to return there once again, or, using symbolism as based on the unconscious wish to offer herself sexually to the man. Heidegger, on the other hand, would reject this explanation as a pure hypo thesis and would argue that we should describe »leaving behind« phenomenologically. Heidegger would say that there was no unconscious intention. Askay is one of the translators of the Zollikon Seminars27 and he quotes Heidegger as follows: Precisely because the man whom she visited is not indifferent to her, her departure is such that by leaving she is still present here more than ever. The purse is not present to her at all because she is so totally with the man while she departs. In this kind of departure the purse is left behind because the woman was so much with her friend already during her visit in the room that the bag was not present to her even at that time. Here the »goingsomewhere« simply does not exist (for her). If the same woman were to depart from someone to whom she was indifferent in order to go shopping in the city, then she would not forget the purse. Rather she would take it with her because the purse is essential for going shopping.28
Freud of course would consider this a naïve and highly oversimplified explanation, but for phenomenologists it is characteristic. If it seems strange to the reader, that is because we psychoanalysts are more or less conditioned to think in terms of unconscious Richard Askay, »A philosophical dialogue between Heidegger and Freud,” 415. Cf. Richard D. Chessick, Freud Teaches Psychotherapy, Indianapolis 1980. 26 Cf. Sigmund Freud, The Unconscious (= Standard Edition, vol. 14), London 1914, 117; cf. Sigmund Freud, The Interpretation of Dreams (= Sstandard Edition, vol. 5), London 1900, 615–616. 27 Cf. Martin Heidegger, Zollikon Seminars. 28 Martin Heidegger, Zollikon Seminars, 427–428. 24 25
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Richard D. Chessick
motivations and not phenomenological investigations. Later in this article I will offer a chart to the reader for the purposes of highlighting this comparison between the so-called natural sciences approach on the one hand in psychiatry and psychoanalysis, and the phenomenological-hermeneutic approach that was used by the Swiss existential psychoanalysts and by a number of other prominent investigators. My reading of the Zollikon Seminars was not as productive for me as it seems to have been for Askay, as I found much of it to be repetitious of Heidegger’s well-known approach to the study of being and his emphasis on the ontic-ontological difference.29 As in the case of Werner Heisenberg it is very difficult to separate the unsavory and frankly repellant and unforgivable personal characteristics of Heidegger from his ingenious original contributions to philosophy.30 In the Zollikon Seminars, which, as mentioned above, took place after World War II, Heidegger told Medard Boss what he claimed was his only, although often recurring, dream. The dream was that he had to take his school graduation examination again with the same teachers as in the past. It seems clear from his behavior, although we have no associations to the dream, that this amoral man, like the famous physicist Werner Heisenberg, had no sense of ethical principles or empathy for other humans but simply was disappointed in his narcissistic aspirations to be the central figure in a resurgence and revolution in his chosen field and to have a major influence on Nazi philosophy. I have discussed Heidegger’s pathological narcissism at length elsewhere.31 Regardless of all this, in spite of our revulsion at these individuals, we must try to respect what they have produced. In the case of the phenomenologists, Heidegger was a profound influence on all who followed him and it is imperative that practicing psychoanalysts have at least a basic grasp of this alternative that may serve as a complementary and ancillary tool in one’s armamentarium of understanding other human beings. The following chart is based on the work of my friend and colleague, Dr. Alfred Kraus of the University of Heidelberg, who kindly gave me permission to use this material, which, as far as I know, is not published. I have edited it for the purposes of this article. The practical purpose of this chart is to try to clarify the difference between the DSM-5 standard American psychiatric approach that we also use in psychoanalysis, and the phenomenologic approach, which in my opinion also forms an important channel for listening to and understanding our psychiatric and psychoanalytic patients:
Cf. Richard D. Chessick, What Constitutes the Patient in Psychotherapy. Cf. Richard D. Chessick, What Constitutes the Patient in Psychotherapy. 31 Cf. Richard D. Chessick, »The effect of Heidegger’s pathological narcissism on the development of his philosophy,” in: Jeffrey Adams / Eric Williams (eds.), Mimetic Desire: Essays in German Literature from Romanticism to Post Modernism, Columbia, SC 1995, 103–118. 29
30
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Psychoanalytic Peregrinations: Phenomenology and The Zollikon Seminars
Symptomatology(DSM-5) contrasted with Phenomenology reductive; inclusive and exclusive criteria holistic; oriented to the patient’s being-inthe-world »disease«—medical model
being-ill as a subjective experience
oriented to the body functions, brain, neu oriented to the person as a subject, to the rotransmitters history of the individual symptoms as result of some physical dysfunction; the highly touted »era of the brain«
certain kinds of experience and behavior as expression of a certain relationship to one’s self and to the world
a symptom can be the same element in different disorders
a symptom has a special quality in each disorder
diagnostic entity as a serial summing-up diagnostic entity as a psychological whole using formulas (DSM-5 criteria) stresses consistence and reliability of diagnosis
stresses form and personal validity for diagnosis
excludes details and specificity of individ the experiencing individual subject is cen ual subjectivity tral; subjective experience is a criterion seeks controllable and repeatable changes seeks open-ended unpredictable new and experiences changes and experiences patient as object of investigation, a sup plier of data
patient as active partner in diagnostic and therapeutic process
investigator conceived of as independent investigator dependent on interaction of patient with patient active questioning, standard psychi atric interview
lets show itself what will show itself
most appropriate to medication and behavior change techniques
stresses profound encounter with thera pist
ignores the unconscious as irrelevant to biological psychiatry
sometimes excludes the unconscious but compatible with psychoanalysis
e.g. a plethora of A.P.A. official publica tions and manuals and textbooks
e. g. Emotional Illness and Creativity: A Psychoanalytic and Phenomenologic Study32; What Constitutes the Patient in Psychotherapy33
32 33
Cf. Richard D. Chessick, Emotional Illness and Creativity. Cf. Richard D. Chessick, »The effect of Heidegger’s pathological narcissism.«
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Richard D. Chessick
An outstanding review of phenomenology has been published by Moran.34 He points out, and the reader can understand from the above discussion in this article, that phenomenology is not a philosophical system but rather a practice in which there is an effort to get at the truth of matters, »to describe phenomena, in the broadest sense as whatever appears in the manner in which it appears, that is as it manifests itself to consciousness, to the experiencer.«35 So phenomenology attempts to reject the domination of inquiry by cultural or religious traditions, so-called »common sense«, and even from science or any externally imposed methods as well as from any historical tradition, dogma, or a priori metaphysical assumptions. In the words of Husserl, it is an attempt to direct attention to the things themselves, to revive our contact with the actual lived world and the living human subject. I have also found the phenomenological practice most valuable in the viewing of art works.36 Indeed, many phenomenologists appeal to our different ways of approaching art works as paradigmatic for revealing the different modes of the givenness of phenom ena. For example, Heidegger conceived of truth as expressing itself in great artworks, and Merleau-Ponty gave a detailed account of the experience of looking at Cezanne’s paintings.37 One finds that the mode of givenness emerging from an artwork is best approached when assumptions about the world are put out of account. Furthermore, consistent with what I have written in my book Emotional Illness and Creativity and have also mentioned above in the present article, Moran explains that, »Following Hegel and Heidegger, Gadamer’s paradigm of genuine cultural understanding is always the experience of art.«38 For the purposes of psychoanalysts, however, it is what Husserl (borrowing from Jaspers39) called the »life-world« and the-being-in-the world of the patient that is really the most important aspect emphasized by phenomenology. In order to understand this one has to understand the impact of the scientific world view on our consciousness. As Moran explains, »Phenomenology has to interrogate the supposedly objective view of the sciences.«40 Husserl saw this objectivation or abstraction as a kind of idealization, a special construction, remote from everyday experience and abstracted from our ordinary experiences.41 Phenomenologists are inclined to argue that the traditional concepts of subject and objects are philosophical constructions that distort the true nature of human experience of being in the world, and claim to offer a holistic approach, for example, as in Merleau-Ponty’s view, stressing the mediating role of the body.42 The same approach was emphasized by Erwin Straus, who could make a deteriorated patient Cf. Dermot Moran, Introduction to Phenomenology, New York 2000. Dermot Moran, Introduction to Phenomenology, 4. 36 Cf. Richard D. Chessick, Apologia Pro Vita Mia. 37 Cf. Maurice Merleau-Ponty, Phenomenology of Perception, transl. by Christopher Smith, Highland, NJ 1962. 38 Richard D. Chessick, Emotional Illness and Creativity, Madison, CT 1999, 250. 39 Cf. Karl Jaspers, General Psychopathology, transl. by J. Hoenig and Marian W. Hamilton, Chicago 1963. 40 Dermot Moran, Introduction to Phenomenology, 12. 41 Cf. Edmund Husserl, The Crisis of European Sciences and Transcendental Phenomenology. 42 Cf. Maurice Merleau-Ponty, Phenomenology of Perception. 34 35
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with tertiary syphilis become a person deserving of extremely interested attention, focusing on patients who were ordinarily relegated to the back ward of a mental hospital.43 Merleau-Ponty, who unfortunately died before he could finish his major philosophical work, pointed out that the whole scientific edifice is built upon the life world, and science is always a second-order expression of that world. The greatest value of the practice of phenomenology for psychoanalysts is that it continually reminds us that it is possible to provide a focus on the fundamental and inextricable role of subjectivity and consciousness in all knowledge and in descriptions of the world. What this means is that you cannot split off the subjective domain from the domain of the natural world, as eliminative materialism has done in its stance on the mind-brain problem.44 For anyone who practices phenomenology there is a continual reminder of the irreducible subjectivity of consciousness which has an ontological nature of its own and cannot be simply reduced in any way, shape, or form to neurological processes. Phenomenology is an attempt to approach this subjectivity in its own right just as in the natural sciences we approach brain functioning, that is to say third person phenomena, by standard empirical methods. Phenomenology reminds us to remain as experience-near as possible in our dealings with our patients and our attempts to understand them. Franz Brentano attempted to develop a descriptive psychology which was the first and most important intellectual stimulus for Husserl’s development of phenomenology. We should keep in mind that Sigmund Freud attended Brentano’s lectures between 1874 and 1876. These were the only philosophy courses Freud took as part of his medical training. As he did for Husserl, I believe Brentano passed also on to Freud a sense of his deep conviction concerning the self-critical and serious life of a philosopher of psychology. Brentano also insisted that any worthwhile philosophy must be rigorously scientific and not just speculation and a mixture of arbitrary dogmatic statements. In our field the contrast can easily be seen in Freud’s Interpretation of Dreams if one compares Freud’s description of previous theories of dreams with the theory he now proposes to offer. Brentano along with Wilhelm Wundt were considered the founders of the discipline of empirical psychology. This discipline eschewed any metaphysical speculation on the nature of the soul and attempted to study psychological processes completely on their own without raising the issue of the causal physiological processes which produced them and carried them out. An important aspect of Husserl’s phenomenology was his concept of the horizon, which has to do with the fact that any perceptual act carries with it a horizon of anticipations. So perception is a temporal process; it is oriented toward future experiences and at the same time it is an experience of enduring past experiences. There Cf. Richard D. Chessick, »The phenomenology of Erwin Straus and the epistemology of psychoanalysis.« Cf. Richard D. Chessick, »The contemporary failure of nerve and the crisis in psychoanalysis," in: Journal of the American Academy of Psychoanalysis 29 (2001), 661–680; cf. Richard D. Chessick, »Implications of the current insolubility of the mind-brain problem for the contemporary practice of psychodynamic psychotherapy,” in: Journal of the American Academy of Psychoanalysis and Dynamic Psychiatry 37 (2008), 315–352. 43
44
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Richard D. Chessick
is even a »horizon of the past«, the potential to awake recollections. In his later work Husserl was concerned with explaining how the horizons of our experience interrelate so they produce our experience of the world, which led him to emphasis on the actual lived world and how experience generates historical and cultural consciousness. This is especially true in his final unfinished work on The Crisis of the European Sciences. Obviously, these horizons are extremely important limiting factors in our understanding and perception of the phenomena presented to us by our patients. Husserl’s concept of the horizon is especially developed in his Cartesian Medita tions. In that work, and in The Crisis of European Sciences, Husserl focused on how scientific consciousness and its guiding principles of rational investigation emerged out of ordinary nontheoretical forms of everyday lived consciousness and its practices. For Husserl the life-world is the world of pre-theoretical experience that leads to our interaction with nature and the capacity to develop our own cultural forms. It was Hans-Georg Gadamer, following Heidegger, who emphasized the essential connection between phenomenology and hermeneutics since both are concerned with describing the process of interpretation by which meaning emerges. In describing Gadamer’s approach, Moran writes, Philosophy, then, is a conversation leading towards mutual understanding, a conversation, furthermore, where this very understanding comes as something genuinely experienced. Moreover, the practice of phenomenology is the best way to access properly and describe the experience of understanding itself.45
This approach should be extremely familiar to anyone who practices psychoanalysis. Gadamer holds that meaning emerges in a dialectic between the patient and the therapist and always arrives beyond the intentions of the speakers. So Gadamer writes, »A genuine conversation is never the one we wanted to conduct.«46 What Gadamer tried to do is to apply the phenomenological method to study the very notion of understanding and interpretation itself, a study which is of great significance to psychoanalysts. Whether Gadamer succeeded in his phenomenological account that concludes with a kind of transcendental description of the conditions which make understanding possible is an issue beyond the scope of this article. Certainly his work deeply influenced the intersubjectivist school of psychoanalysis, as for example presented by Mitchell.47 But Gadamer’s work is not as relativistic as the thought of intersubjectivists in psychoanalysis. He believed that Husserl was right in viewing understanding as having to take place within our horizon, as mentioned above. He explained, however, that our horizon can be fused with the horizon of the other person, leading to mutual understanding. This is borrowing from phenomenology, for Gadamer has taken over Husserl’s notion of horizon as mentioned above, in which Husserl speaks of the inner and outer horizons in an act of perception. So Gadamer’s hermeneutics, upon which 45 46 47
Dermot Moran, Introduction to Phenomenology, 249 Hans-Georg Gadamer, Truth and Method, 383. Cf. Stephan A. Mitchell, Influence and Autonomy in Psychoanalysis, Hillsdale, NJ 1997.
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certain psychoanalytic theorists have based so much, is in turn based on Husserl’s phenomenology and Heidegger’s modification of it. Gadamer, who was the only pioneer in the group originating phenomenology and hermeneutics I have discussed in this article that I have known personally,48 actually had trouble for many years writing out his views because he always felt that Heidegger was looking over his shoulder,49 and indeed he was actually a pupil of both Husserl and Heidegger. A few words are in order regarding two other famous thinkers who employed phenomenology in their methods of studying psychology. The first of these is Jean-Paul Sartre, whom I have discussed in detail elsewhere.50 Actually, although Sartre was deeply influenced by Husserl’s phenomenology in his early work, and even more influenced by his reading of Heidegger’s Being and Time, he took the work of Husserl and Heidegger in an entirely different direction than it was intended by their origina tors. Sartre simply presents an artistic insight into the world rather than a formal phenomenological study, but his insights are of great interest to psychoanalysts. He was a great psychologist and offers what might be called a phenomenological study of personal betrayal and self-recognition as well as of the dynamics of one’s engagement with others. For example, he writes about the experiences of being caught as a voyeur, of encountering others in public, of deciding whether or not to have a sexual affair on a date, or whether to become a resistance fighter or stay at home and take care of one’s mother. Elsewhere I have introduced Sartre’s retrogressive/progressive method and used his »phenomenological« approach in a clinical study of Ezra Pound and a composite character named »Barry«.51 The first volume of Sartre’s The Family Idiot52 should be mandatory reading for any psychoanalyst. But Sartre’s famous work Being and Nothingness,53 although it is given the title of »Essay on Phenomenological Ontology,” is really a traditional kind of speculative metaphysics of the very kind repudiated by the phenomenological tradition prior to Sartre’s time. Characteristically, borrowing from Husserl, Sartre himself claimed that Being and Nothingness was an eidetic analysis of bad faith, a situation where a person is denying their true choice or separating their desire from their decision. This is a variation on Heidegger’s famous concepts of authenticity and inauthenticity.54 Finally, psychoanalysts should keep in mind the work of Merleau-Ponty. I entirely agree with Merleau-Ponty’s view that Hegel, and the young Marx who wrote in 1844 Economic and Philosophical Manuscripts,55 were phenomenologists of concrete social Richard D. Chessick, What Constitutes the Patient in Psychotherapy; cf. Richard D. Chessick, Apologia Pro Vita Mia. 49 Cf. Richard D. Chessick, Apologia Pro Vita Mia. 50 Cf. Richard D. Chessick, What Constitutes the Patient in Psychotherapy. 51 Cf. Richard D. Chessick, Emotional Illness and Creativity. 52 Cf. Jean-Paul Sartre, The Family Idiot: Gustave Flaubert 1821–1857, vol. I, transl. by Carol Cosman, Chicago 1981. 53 Cf. Jean-Paul Sartre, Being and Nothingness. 54 Cf. Martin Heidegger, Being and Time. 55 Cf. Karl Marx, Economic and Philosophical Manuscripts. Early Writings, transl. by Tom Bottomore, New York 1963. 48
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life rather than originators of abstract distant and intellectual systems. It is also in Merleau-Ponty’s work that the contributions to phenomenology and contributions to the study of art merge. Moran56 explains that Merleau-Ponty, saw painting as providing evidence of the primordial connection between body and world which could not be expressed in philosophical terms. A painting explores the manner our vision seizes on objects in the world in a more subtle way than any philosophy or psychology.57
Merleau-Ponty was interested in Cezanne’s concept that color is the place where our brain and the universe meet and he calls Cezanne a phenomenologist of a primordial visible world. At one point Merleau-Ponty held the chair of child psychology at the Sorbonne, a position later held by Jean Piaget. Merleau-Ponty was extremely interested in the child’s perception of the world; he argued that the very basis of the child’s developing sense of self was the encounter with other people and the encounter with language. But Merleau-Ponty thought that even language was grounded in perception, and, of special interest to psychoanalysts, and he repeatedly emphasized the role of the body in our primordial perception of the world. Merleau-Ponty used Husserlian reduction as a way to lead back to the preverbal basis of our experience, which for him comes from a combination of our perceptual organs with their own particular strengths or weaknesses and the unique structure of our specific bodies. For example, he analyzes the unusual aspects of El Greco’s art, which has commonly been ascribed to El Greco’s astigmatism, an accident of his bodily constitution. His point is that this physical defect was taken up and integrated into El Greco’s life as a whole, as he transformed it into his well-known mannerist style. So our specific life experiences, especially before sophisticated verbal thought has been attained, is formed out of the contingencies of our physical situation and the particular environment into which we are thrown at birth. Our task is to somehow integrate all this and make this contingent realm our own. As Erwin Straus often did,58 Merleau-Ponty illustrates this by studying people with physical defects. When the physical systems are malfunctioning, only then can we understand their role in the formation of our experience of the world, because when our physical systems are functioning properly, they are apparently invisible. For example, ordinarily we are unaware of our cardiac functioning, but anyone who suffers from heart disease such as atrial fibrillation can attest to the profound influence of cardiac dysfunction on one’s entire mental state, philosophy, ideation, and preoccupations, as I reported from personal experience in my recent book.59 He drew on the well-known studies of brain damage performed by Kurt Goldstein, whose work also influenced the work of Frieda Fromm-Reichmann, the famous psychiatrist, at Chestnut Lodge. Cf. Dermot Moran, Introduction to Phenomenology, 405. Maurice Merleau-Ponty, Phenomenology of Perception, 405. 58 Cf. Richard D. Chessick, »The phenomenology of Erwin Straus,” 82–95; Richard D. Chessick, Apologia Pro Vita Mia. 59 Cf. Richard D. Chessick, Apologia Pro Vita Mia.
56 57
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Merleau-Ponty’s studies of the nature of human bodily being-in-the-world are important detailed examples of how phenomenology can interact with the natural sciences orientation to provide a more general and complete account of the phenomena that we encounter in our psychoanalytic work. As Hans-Georg Gadamer put it, scientific truths do not constitute the whole of truth. Gadamer agrees with the work of the later Husserl, pointing out that the Copernican discovery of the motion of the earth does not negate what represents the truth-for-us of the rising and setting of the sun. More specifically, in the Zollikon Seminars Heidegger opposed Freud’s scientific Weltanschauung and Freud’s hydraulic system of metapsychology,60 objecting that it dehumanizes the patient. He emphasized the importance of the therapist’s »pres ence« and openness to the patient. He utilized phenomenology to prevent relating to the patient as an »other« or »thing« and advocated a hermeneutic approach instead. This latter approach involves the use of questions and answers to gain a gradual explicit understanding of the unique communications from the individual patient. He opposed the approach of the drug companies that impel psychiatry to use classification of disorders through manuals such as DSM-5 and then subject the patient to the recommended drug for that disorder, which he maintained was a form of domination of the patient as the »other.« We are fortunate that the translation of these seminars has now become available in English.61 This Zollikon Seminars publication is mostly comprised of a review of what went on from 1959 to 1969 in the seminars as presented from the notes of the famous continental psychoanalyst Medard Boss. Heidegger stresses in these seminars a number of crucial items for psychoanalysts. He complains about the assertion that brain research is a fundamental science for our knowledge of the human being. He says: This assertion implies that the true and real relationship among human beings is a correlation among brain processes. Then, when one is not engaged in research during semester vacation, the aesthetic appreciation of the statue of a god in the Acropolis museum is nothing more than the encounter of the brain process of the beholder with the product of another brain process, that is, the representation of the statue. Nevertheless, if during the vacation one assures oneself that one does not mean it that way, then one lives by double- or triple-entry bookkeeping. This means that one has become so undemanding regarding thinking and reflecting that such double bookkeeping is no longer considered disturbing, nor is the complete lack of reflection upon this passionately defended science and its necessary limits considered in any way disturbing.62
A crucial section of the book in the English edition begins on page 168. Here Heidegger directly contradicts Freud’s notion of the unconscious and, as described above, interprets the clinical example of a woman who leaves her purse in the room of her boyfriend, in sharp disagreement with Freud’s interpretation. Heidegger’s basic complaint is that psychoanalysis sees humans only in what he has called the mode of fallenness, an 60 61 62
Cf. Sigmund Freud, The Interpretation of Dreams, chapter 7. Cf. Martin Heidegger, Zollikon Seminars. Martin Heidegger, Zollikon Seminars, 95.
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absorption in the world guided by idle talk, curiosity, and ambiguity.63 Familiarity with Heidegger’s basic thought in Being and Time would of course be very helpful to the reader; his complaint in the Zollikon Seminars is about the objectification in science of the human into some kind of mechanical thing. Freud’s meta-psychological depiction of human mental functioning, as for example in the famous chapter 7 of Freud’s Interpretation of Dreams,64 where it is depicted as a kind of hydraulic mechanism, concerns Heidegger greatly because, as Heidegger sees it, this leaves out an enormous aspect of the human’s being-in-the-world. This complementary aspect of studying humans, functioning beside and as an option to or accessory to the natural science approach, is the basic focus of phenomenology. Consistent with Heidegger’s complaint, he goes on to bemoan the loss of the family doctor; such doctors he regards as part of a dying breed in a modern world where the patient is now treated as an »object« of medical expertise.65 Heidegger could not understand what Lacan was trying to do and suggests that Lacan »needs a psychiatrist.«66 In a more serious vein, Heidegger explains that if one wishes to become familiar with his work and one is a psychiatrist and not a professional philosopher, one should read first his book What Is Called Thinking,67 then his work The Principle of Reason,68 and finally his Discourse on Thinking.69 I should warn the reader that, when I at one time assigned What Is Called Thinking to a group of psychiatric residents, I had a revolution on my hands. We in American psychiatry are so totally immersed in the empirical scientific milieu that Heidegger appears to be coming from outer space as he presents an entirely different option for our orientation to the study of humans. This is why Heidegger, in spite of his dreadful lack of morality, is one of those thinkers whose work, when carefully studied, brings about almost a dizziness, a sense of revelation, in the mind of the serious reader. In spite of all the difficulties of reading and trying to understand his complex German and his in my opinion highly debatable derivations of the meanings of Greek terms, Heidegger has something unique and different to offer the student who is seriously interested in understanding humans. For that reason it was very appropriate for Medard Boss to invite Heidegger to a seminar that was aimed primarily at mental health professionals, and to take notes in order to pass the ambience and the substance of this seminar down to us. The English edition has a nice »Afterwards« by the translators, discussing Heideg ger’s critique of Freudian psychoanalysis. The translators point out that Heidegger was very impressed with Freud’s technique; what he objected to was »metapsychology« and the scientific Weltanschauung that Freud insisted on, because it reduced humans to Cf. Richard D. Chessick, What Constitutes the Patient in Psychotherapy. Cf. Sigmund Freud, The Interpretation of Dreams. 65 As the translators point out, cf. Martin Heidegger, Zollikon Seminars, 263. 66 Cf. Martin Heidegger, Zollikon Seminars, 281. 67 Cf. Martin Heidegger, What Is Called Thinking, transl. by J. Glenn Gray and Fred Wieck, New York 1968. 68 Cf. Martin Heidegger, The Principle of Reason, transl. by Reginald Lilly, Bloomington, IN 1991. 69 Cf. Martin Heidegger, Discourse on Thinking, transl. by John M. Anderson and E. Hans Freund, New York 1967. 63
64
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Psychoanalytic Peregrinations: Phenomenology and The Zollikon Seminars
objects and caused what the translators call »the greatest ontological dyspepsia in Heidegger.«70 They point out that Heidegger’s praise of Freud had more to do with his papers on technique, in which Freud often alluded to the human capacity for free choice, the truth-disclosing and truth-flee ing tendencies of human beings, the capacity for being absorbed into an anonymous group mentality, thereby forfeiting individual distinctiveness, freedom, concomitant responsibility, and so forth.71
Heidegger insisted there is a great need for doctors who think (how true!) and that the field of understanding humans should not be left to scientific technicians or to brain studies or to AI robots. He complained that science does not properly reflect on its preconceptions and prejudices, which limits what science can offer us about human psychology and about what it means to be human and to be. Like many authors he also complained that psychoanalysis should not neglect the danger of the uncritical imposition of theoretical frameworks by therapists on their patients. As the translators point out, Heidegger described this kind of imposition as a kind of leaping in for the Other. This leads to domination of the patient and to the encouragement of dependency, even if this is a tacit kind of domination and remains hidden from the patient. What the translators correctly regard as crucial in Heidegger’s approach to psy chotherapy is for the therapist to be open to the very presencing of being through the patient. I know some of this language will be unfamiliar to many of our readers, but this is not an excuse for the reader to ignore the subject. One must educate oneself in the language of phenomenology and ontology as it is presented by these major contemporary thinkers if one is to rise above the narrow mechanistic and materialistic conception of humans that dominates American psychiatry today and has led to the usurpation of the profession by the international drug companies and managed care organizations. Psychoanalysis must lead the way in the task of liberation from reductive materialism. Continental thinkers have stressed the importance of what they often call the prison house of language. Heavily influenced by Heidegger, they have concluded that our horizon of understanding is limited by our language and, furthermore, that often our language expresses aspects of ourselves we had not consciously intended to communi cate. The most famous and extreme example of this is the work of Derrida, who in his »deconstruction,” a concept borrowed from Heidegger, maintains that every written communication carries within itself the seeds of its own refutation. The emphasis, as depicted by Lacan, is how the unconscious, which Lacan conceives of as structured like a language, expresses itself through the patient’s communications. Through the use of hermeneutics Freud discovered how the body itself as well as the language of neurotic bodily symptoms and the language of neurotic complaints could »speak« and express aspects of the patient’s unconscious and unacceptable wishes. In hermeneutics, 70 71
Martin Heidegger, Zollikon Seminars, 309. Martin Heidegger, Zollikon Seminars, 309.
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Richard D. Chessick
the procedure of interpreting all this as Heidegger conceives of it, we move in the kind of circle that is not a vicious circle (circulus vitiosus), but we rather proceed through a series of questions and answers based on the fact that, as Heidegger is quoted in the Zollikon Seminars, »It is quite possible that I have some knowledge of what I am asking about, but this does not mean that I already know explicitly what I am asking about, that is, in the sense [that I] have made a thematic apprehension and determination.«72 The Hegelian concept of the »Other« or »Otherhood« may confuse some readers, and it appears frequently and is used in multifarious ways in the work of phenome nologists. The »Other« represents another individual viewed as one who can become dominated and dependent and separated from the subject, a person who is viewed by the subject or observer as a »thing« to be investigated and studied and manipulated. Heidegger’s basic complaint in the Zollikon Seminars, and that of many other phenome nologists, is that modern science tends to view humans in otherhood just as we view inanimate objects in the natural world. This approach to inanimate objects in the natural world has led to great scientific accomplishments, but viewing humans in this manner greatly narrows the information available about human being and the human lived world. The purpose of phenomenology and hermeneutics is to widen the scope of our information by introducing a phenomenological stance on the part of the therapist instead of a stance in which the therapist views himself or herself as a subject or scientist studying an object, the patient, the »other.« For psychiatrists this is a very difficult transition as it goes against many years of rigorous medical training. I believe this is what Freud had in mind when he warned in The Question of Lay Analysis that medical training made it harder to become proficient in psychoanalysis.73 Finally, my friend and colleague Professor Hermann Lang and his co-workers, in the lecture that originally followed an earlier version of this article, presented the concept of »the Lacanian subject« which, they correctly point out, is completely constituted by language and the culture and therefore has no human essence. This is consistent with recent subjectivism and the continental sense, as Lacan puts it, that man is the marionette of his culture. It is in opposition to Marx, who contended that humans were species beings at their base (implying there is indeed a base or »essence« to humans) and are distorted in their behavior and constitution by the capitalistic system in which they have to live. The issue of whether the human being from the very beginning is intersubjectively constituted in my opinion remains open. Certainly the Greeks did not think so but European continental philosophy has carried us recently in the opposite direction. In contrast to Heidegger in the Zollikon Seminars, I believe that although the phenomenological approach and the psychoanalytic approach are contrasting and different they can both be useful to complement each other in enhancing our clinical investigation of troubled patients.
72 73
Martin Heidegger, Zollikon Seminars, 37. Cf. Sigmund Freud, The Question of Lay Analysis (= Standard Edition, vol. 20), London 1926.
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Françoise Dastur
Phänomenologie und Therapie. Die Frage nach dem Anderen in den Zollikoner Seminaren1
Schon in dem Text »Erinnerung an Martin Heidegger«,2 der ein Jahr nach Heideggers Tod erschienen ist, erwähnte Medard Boss die Seminare, die Heidegger in den Jahren 1959–1969 in seinem Haus in Zollikon vor einem Publikum von 50 bis 70 Medizin studenten und Assistenten der psychiatrischen Universitätsklinik von Zürich hielt. Diese »Erinnerung« an den gerade verstorbenen Freund beschreibt, deutlicher als das Vorwort zu den Zollikoner Seminaren (1987), warum Boss Martin Heidegger 1946 einen ersten Brief schrieb und warum Heidegger, der als berühmter Philosophie jährlich mehrere Hundert Briefe empfing; ihm sofort antwortete. Boss erzählt, dass Heidegger viel später, während eines ihrer Zwiegespräche in Zollikon, erwähnte, warum dieser erste Brief ihn so sehr interessierte: Dann verriet er mir, er hätte sich erhofft, sein Denken konnte durch mich, den Arzt und Psychotherapeuten, die Enge von Philosophie-Stuben sprengen und viel weiteren Kreisen, namentliche einer großen Zahl Leidenden zugute kommen. Ihn hätte nämlich in erheblichem Masse beeindruckt, dass ich in meinen ersten Brief an ihn eigens die Seite 122 seines Buches »Sein und Zeit« hervorgehoben und ihn darauf hingewiesen habe, dass sich da unter dem Titel einer »vorspringenden Fürsorge« exakt die Beschreibung des idealen Verhältnisses eines Psychoanalytikers gegenüber seinen Analysanden finde. Mehr als das: Heideggers Abhebung dieser einzig menschenwürdigen »vorspringenden Fürsorge« gegen eine den Anderen stets vergewaltigende »einspringende Fürsorge« erlaube es dem analytischen Therapeuten, sein besonderes Heilverfahren nun explizit in seiner Neuartigkeit und Einzigartigkeit gegen alles sonstige, zumeist sehr »einspringende« ärztliche Verhalten abzuheben und es damit in sein Eigenes einzugrenzen«.3
Boss hatte also sofort die therapeutische Beziehung in Zusammenhang gebracht mit der Sorge, die »der Name für das gesamte Wesen des Daseins (ist), insofern dieses immer schon angewiesen ist auf etwas, was sich ihm zeigt«4 und nicht »eine lediglich
1 Dieser Text ist ursprünglich erschienen in: Daseinsanalyse. Zeitschrift für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie 12 (1995), 43–52; eine längere französische Version dieses Textes ist erschienen in: Jean-François Courtine (Hrsg.), Figures de la subjectivité. Approches phénoménologiques et psychologiques, Paris 1993, 165–177, und in: Françoise Dastur, La phénoménologie en questions, Paris 2004, 117–130. 2 Medard Boss, »Zollikoner Seminare«, in: Günther Neske (Hrsg.), Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen 1977, 31–45. 3 Medard Boss, »Zollikoner Seminare«, 31–32. 4 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, hrsg. von Medard Boss, Frankfurt am Main 1987, 286.
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Françoise Dastur
anthropologische Bestimmung des Daseins«5 konstituiert. Wenn dies Heidegger »in erheblichem Masse beeindruckt« hat und ihn veranlasste, mit Boss fast dreißig Jahre lang im Gespräch zu bleiben, dann wahrscheinlich deshalb, weil er die Möglichkeit sah, von der ontologischen auf die ontische Ebene herabzukommen, ohne dass dieser Über gang von einer Daseinsanalytik zu einer Daseinsanalyse6 »das völlige Missverstehen (seines) Denkens«7 konstituiere, das in der psychiatrischen Analyse des Daseins bei Binswanger zu finden ist. Heidegger zufolge sieht Binswanger nicht die ontologische Differenz8 und verwechselt deswegen ontologische Einsichten mit ontischen Dingen,9 d. h. die Phänomene der Phänomenologie, die nicht sinnenhaft-wahrnehmbare sind (z. B. das Existieren von etwas), mit den Phänomenen im gewöhnlichen Sinne (das Ding selbst, das existiert).10 Und er will dazu in seinem »Riesenbuch« Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins11 »Heideggers düsterer Sorge« eine Ergänzung geben, »nämlich eine Abhandlung über die Liebe, die Heidegger vergessen haben soll«.12 Binswanger hat nicht verstanden, erklärt Heidegger im Seminar von 23. November 1965, dass die Daseinsanalyse nicht das Geringste mit einem Solipsismus und Subjek tivismus zu tun hat. Denn das Dasein ist als ein ursprüngliches Miteinandersein bestimmt, und dass bedeutet, dass, wenn es dem Dasein um das Dasein selbst geht, es dem Dasein immer auch um den Anderen geht.13 Es bedeutet, wie Heidegger einem Teilnehmer sagt, »dass es Ihnen um mich und mir um Sie geht«.14 Deswegen ist es unmöglich, die Fürsorge der Sorge selbst entgegenzustellen und die beiden als einen dualen Seinsmodus zu denken,15 was Binswanger aber tut, weil er den existenzialen, d. h. ontologischen Sinn der Sorge nicht verstanden hat, sondern sie nur als ein onti sches Daseinsphänomen betrachtet.16 Was Binswanger in Sein und Zeit privilegierte, war die Bestimmung des Daseins als In-der-Welt-sein, ohne zu verstehen, dass dieses auf der tragenden Struktur des Seinsverständnisses gründet; diese tragende Struktur allein ist aber »das einzige Anliegen von Sein und Zeit«.17 Binswanger verstand nicht, dass das In-der-Welt-sein nicht die Bedingung der Möglichkeit des Daseins ist, sondern das eher das Umgekehrte der Fall ist.18 Aber wenn Binswangers Anwendung der Existenzialien von Sein und Zeit in der Psychiatrie ohne Rücksicht auf ihren wahren ontologischen Sinn nur zur Verwechslung Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 237. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare,161. 7 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 286. 8 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 254. 9 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 286. 10 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 234. 11 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 286. 12 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 151. 13 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 151. 14 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 161. 15 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 151. 16 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 151. 17 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 236. 18 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 239. 5
6
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Phänomenologie und Therapie. Die Frage nach dem Anderen in den Zollikoner Seminaren
des Ontischen und des Ontologischen führen kann, wie ist es dann möglich, die notwen dige Korrelation dieser zwei Ebenen zu sichern? Und besteht wirklich die Möglichkeit einer »daseinsgemäßen Therapie« und einer »daseinsgemäßen Präventiv-Medizin«, wie sie Boss schon 1954 in seiner Einführung in die psychosomatische Medizin anstrebte und wie er sie in seinem 1971 erschienenen und Heidegger gewidmeten Buch Grundrisse der Medizin und der Psychologie zu realisieren versuchte? Heidegger antwortet darauf in einem Gespräch mit Boss im September 1968, d. h. in der Periode der Entstehungs geschichte des Grundrisses, einer Zeit, in der Heidegger das Manuskript von Boss mit »äußerster Sorgfalt«19 las und korrigierte: »Die ›daseinsmäßige‹ Untersuchungs methode ist selbst nicht phänomenologisch, sondern auf Phänomenologie im Sinne der Hermeneutik des Daseins angewiesen und von ihr geleitet.«20 Das bedeutet, dass die Beschreibung des ontischen Phänomens des faktischen pathologischen Benehmens nur im Lichte der ontologischen Phänomene, d. h. der Existenzialien des Daseins, möglich ist. Es bedarf deswegen, um zum Ontischen zu gelangen, einer »Vermittlung« (das Wort stammt von Heidegger selbst) des Ontologischen, aber diese Vermittlung ist etwas ganz anderes als eine Anwendung des Ontologischen auf das Ontische. Denn so eine Vermittlung kann nur durch die persönliche Umwandlung des Untersuchers statt finden: »Vom Untersucher wird gerade dieses Schwerste verlangt, der Übergang vom Entwurf des Menschen als vernünftigem Lebewesen zum Menschsein als Dasein.«21 Der Arzt soll zuerst sich selbst als Dasein erfahren, um von hier aus alles menschlichen Benehmens als daseinsgemäßes zu bestimmen, was die Ausschaltung aller ungemäßen Vorstellungen vom Menschen verlangt. Und das ist nur möglich durch »die geglückte Einübung in die Erfahrung des Menschseins als Da-Sein«.22 Es kommt darauf an, dass die Ärzte den »phänomenologischen Blick« einüben, was für Heidegger bedeutet: »Beim Selben verweilen, den Sinn für das Einfache wecken.«23 Dies verlangt, sagt Heidegger zu der Gruppe nicht von Zuhörern, sondern von Teilnehmern, ein »Sich-Einlassen in die Seinsart, in der Sie immer schon sind« und es »eigens zu vollziehen«,24 was etwas ganz anderes ist als ein nur intellektuelles Verständnis dieser Seinsart. Dies ist also die Methode, die Zugang zu den menschlichen Phänomenen gibt, während die wissenschaftliche Methode der Naturwissenschaften, weil sie diese Phä nomene auf reine berechenbare Daten reduziert, nur zur »Zerstörung des Menschen« führen kann, wenn sie die Vorstellung vom Menschen durch kybernetische Methode bestimmt.25 Denn die phänomenologische Methode ist nicht ein Bewusstwerden des Verhältnisses, die uns zu den Begegnenden in Verbindung setzt, sondern sie besteht eben darin, sich in dieses Verhältnis einzulassen, es eigens zu vollziehen. Diese Methode, im Gegensatz zu der cartesianischen Methode der Naturwissenschaften, 19 20 21 22 23 24 25
Medard Boss, »Zollikoner Seminare«, 38. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 281. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 280. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 280. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 329. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 141. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 160.
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Françoise Dastur
ist griechisch, weil sie die Phänomene bewahrt und rettet.26 Sozein ta phainomena, dieses Wort, mit dem die griechischen Denker ihre Denkweise charakterisierten, deutet Heidegger in seiner Vorlesung vom Sommersemester 1943 über Heraklit als ein Sammeln und Lesen dessen, was sich zeigt,27 und dies ist der Grund, warum er später betonen wird, dass das deutsche Wort »retten« eigentlich »lösen, freimachen, freien, schönen, bergen, in die Hut nehmen, wahren« bedeutet.28 Die Ausbildung dieser Methode, deren Ziel überhaupt nicht ist, die Ärzte zu Philosophen zu verwandeln, sondern sie achtsam zu machen auf das, was den Menschen unumgänglich angeht,29 und so denkende Ärzte aus ihnen zu machen,30 verlangt, dass Heideggers Unterricht nicht aus einer Reihe von Vorlesungen, sondern aus einer Gruppentherapie und aus sogar einer Kur besteht, einer Heidegger'schen Kur, die wie eine Freud'sche Analyse Widerstände wecken kann.31 Heidegger hatte sich in seinen Briefen an Boss die Gelegenheit zu einem Gespräch gewünscht und wollte keine Vorträge halten, die »eine Sache der bloßen Repräsentation«32 bleiben. Das ist der Grund, weshalb er die Zusammenkunft in kleineren Kreis lieber hatte, die Boss in seinem Haus veranstaltete, denn »das lebendige Wort und die Aussprachen sind durch nichts zu ersetzen«.33 Wenn er sich auf diese Zusammenkünfte mit jüngeren Leuten besonders freute, so liegt das daran, dass er sich nicht so sehr als einen Lehrer, sondern vielmehr als einen Lernenden betrachtete: »Das wirkliche Denken lässt sich durch Bücher nicht lernen. Aber es lässt sich auch nicht lehren, wenn der Lehrer nicht bis ins Alter der Lernende bleibt«, schreibt er im Juni 1948 an Boss.34 Er sagt im März 1965 den Teilnehmern, dass er beim vorigen Seminar, das von der Zeit handelte, mehr von ihnen gelernt hatte als sie von ihm und dass das ganz in Ordnung sei.35 Er schriebt schon in »Was heißt denken?« das Folgende: Der Lehrer ist den Lehrlingen einzig darin voraus, dass er noch weit mehr zu lernen hat als sie, nämlich das Lernen-Lassen. Der Lehre muss es vermögen, belehrbarer zu sein als die Lehrlinge. Der Lehrer ist seiner Sache weit weniger sicher als die Lernenden der ihrigen.36
Es besteht deswegen eine gegenseitige Unterrichtsbeziehung zwischen dem Lehrer und dem Lernenden, und so eine Beziehung hat gar nichts mit der Verbreitung von Informationen zu tun, sondern ist eine echte Mitteilung, d. h. ein Miteinander-Teilen, und in der Tat ist es das Miteinander-Teilen, das die Mitteilung erst ermöglicht und nicht
26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 143. Martin Heidegger, Heraklit, hrsg. von Manfred S. Frings (GA 55), Frankfurt am Main 1979, 398. Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962, 41. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 147. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 134. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 174. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 301. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 311. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 311. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 86. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 50.
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Phänomenologie und Therapie. Die Frage nach dem Anderen in den Zollikoner Seminaren
umgekehrt.37 Es ist kein Zufall, wenn Heidegger sich in den Seminaren mehrmals auf Sokrates beruft, weil Sokrates über die Frage der Mitteilung wohl das meiste wusste und wir selbst kaum etwas von dem, was er wusste, noch wissen.38 Sokrates ist nicht nur »der reinste Denker des Abendlandes«, weil er nichts geschrieben hat,39 sondern auch deshalb, weil er im Gegensatz zu den Sophisten fähig war, das Schwerste zu vollziehen, d. h. »vom Selben das Selbe zu sagen« und wie Parmenides in Tautologien zu sprechen.40 Sokrates selbst hatte ebenso wie Heidegger keine eigene Philosophie. Seine ganze Kunst ist praktisch und zielt darauf, die Seelen zu befreien. Was zu tun ist, ist nicht das kritische Diskutieren von Theorien, sondern es gilt, die Kunst des Fragens auszuüben, und diese Kunst besteht einfach darin, dasselbe Phänomen rastlos zu erörtern und zu zeigen, dass, was so thematisiert wird, schon im gewöhnlichen Benehmen und in gewöhnlichen Vorstellungen vorontologischerweise verstanden wird. Die pädagogische und die therapeutische Beziehung haben also eine identische Beschaffenheit und bestehen beide nicht so sehr in einem gewaltsamen Austauschen, durch das der Lehrer oder der Therapeut sich an die Stelle des Lernenden oder des Patienten setzen würde, sondern in einer Praxis der Befreiung, die selbst nicht ganz ohne Gewalt ist, aber darauf zielt, den Anderen fähig zu machen, seine Aufgabe selbst zu vollziehen. Boss fand in der »vorspringenden Fürsorge« Heideggers die genaue Beschreibung der idealen therapeutischen Beziehung, weil sie mit seiner eigenen Theorie der Übertragung zusammenfällt. In seiner Einleitung in die psychosomatische Medizin41 zeigt er, dass der Analytiker nur eine »momentane« Nützlichkeit in einer überhaupt abschließbaren und nicht »endlosen« Analyse wie bei Freud hat, weil er nicht die Ursache, sondern nur der Anlass der Heilung ist. Wie Heidegger erklärt: »Wenn der Arzt weiß um sein bloßes Anlaß-Sein, kann das Mitsein bei einer solchen Therapie durchaus noch bestehen; wenn der Arzt aber sich selbst auffasst, als würde er die Heilung bewirken zu einem Objekt, dann ist das Menschsein und Mitsein weg.«42 Heidegger hat mehrmals in den Seminaren die Aufmerksamkeit der Teilnehmer darauf gelenkt, dass ein großer Unterschied zwischen Motivation und Kausalität besteht, was schon ein Thema des Phänomenologie Husserls war. Die Kausalität ist bewirkende und zwingende, die Motivation im Gegenteil bestimmende und freie.43 Der Charakter des Motivs, sagt Heidegger, ist, dass es mich bewegt, den Menschen anspricht, während die Ursache nach einer Regel geht,44 so dass es möglich ist, zu sagen: »Kausalität ist eine Idee, eine ontologische Bestimmung, sie gehört zur Bestimmung der Seinsstruktur der Natur, während Motivation die Existenz des Menschen in der 37 38 39 40 41 42 43 44
Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 206. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 303. Martin Heidegger, Was heißt denken?, Tübingen 1954, 52. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 30. Medard Boss, Einführung in die psychosomatische Medizin, Bern 1954. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 263. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 26. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 27.
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Françoise Dastur
Welt als eines handelnden, erfahrenen Wesens« betrifft.45 Das Motiv kann deswegen nicht von sich selbst aus wie die Ursache bewirkend sein; es kann ein Beweggrund nur sein, insofern es verstanden wird: »Motiv lässt sich seinem Wesen nach nicht loslösen vom Verstehen.«46 Dies gilt genauso für den Arzt, der sich nicht als Ursache der Heilung verstehen soll, wenn er nicht der wesentlichen menschlichen und gemeinschaftlichen Dimension der therapeutischen Beziehung ausweichen will. Er soll im Gegenteil sich als Arzt gleichsam zurücknehmen und den anderen Menschen sein lassen,47 so dass der Patient sich selbst heilen kann. Dieselbe Idee findet man bei Aristoteles im I. Kapitel des 2. Buchs der Physik,48 das Heidegger kommentiert. Aristoteles gibt hier das Beispiel des Arztes, der sich selbst heilt, die arche der Gesundung in sich selbst hat, nicht als Arzt, sondern als Mensch, d. h. als lebendiges Wesen, das der physis zugehört. Heidegger kommentiert diese Stelle wie folgt: Dann hat auch hier die ärztliche Kunst nur besser die physis unterstützt und gelenkt. Die techne kann die physis nur entgegenkommen, kann die Gesundung mehr oder weniger fördern, sie kann jedoch als techne niemals die physis ersetzen und selbst an ihre Selle zur arche der Gesundheit werden. Das träfe dann nur zu, wenn das Leben a. s. zu einem »technisch« herstellbaren Gemächte würde; in demselben Augenblick aber gäbe es keine Gesundheit mehr, so wenig wie Geburt und Tot.49
Der Arzt, insofern er Anlass und nicht Ursache der Gesundung des Patienten ist, hält sich deswegen gerade in der positiven Möglichkeit der Fürsorge, die Heidegger die »vorausspringende« nennt: eine Fürsorge die dem Anderen »in seinem existen tiellen Seinkönnen vorausspringt, nicht um ihm die ›Sorge‹ abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben«.50 Diese Art der Fürsorge, die die Existenz des Anderen und nicht nur das Was, das er besorgt, betrifft, verhilft dem Anderen dazu, für seine Sorge frei zu werden und konstituiert, als Seinlassen des Anderen als Dasein, die höchste Form der Beziehung zu ihm. Es gibt aber auch eine andere positive Möglichkeit der Fürsorge, die nicht ein defizienter Modus derselben ist, wie die faktische soziale Einrichtung oder die reine Indifferenz, die den Anderen auf den Seinsmodus der Zuhandenheit reduzieren, nämlich die einspringende Fürsorge, die auch eine Beziehung zum Anderen als Dasein darstellt, nicht aber befreiend, sondern beherrschend, weil sie das, was zu besorgen ist, für den Anderen übernimmt und sich an seiner Stelle setzt, so dass der Andere zum Abhängigen und Beherrschten werden kann, mag »diese Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben«.51 Die Fürsorge ist deswegen diejenige Modalität der Sorge, die das Mitsein mit dem Anderen betrifft, während das Besorgen die Zuhandenheit des Zeuges betrifft. Denn die 45 46 47 48 49 50 51
Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 28. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 263. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 263. Aristoteles, Physik I. 192b, zitiert nach: Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 23–27. Martin Heidegger, Wegmarken, Frankfurt am Main 1967, 327. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1963, § 26, 122. Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 26, 122.
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Phänomenologie und Therapie. Die Frage nach dem Anderen in den Zollikoner Seminaren
Sorge charakterisiert jedes Verhältnis des Daseins zum Seienden als solchem; zu dem Seienden, das es selbst ist, zu dem Seienden, das nicht daseinsmäßig ist, und auch zu dem Seienden, das es nicht selbst ist, das aber – wie es selbst – daseinsmäßig ist. Das, was Heidegger Verhalten nennt, versteht er als etwas, was den Menschen als Menschen konstituiert, insofern er sich grundsätzlich, seinem Wesen nach, zu anderen Seienden und zu sich selbst verhalten kann, weil er Sein versteht.52 Es gibt nicht zuerst ein Dasein, das sich nachträglich auf etwas anderes beziehen kann, wie Heidegger erklärt: Das »Verhalten«, die »Verhältnisse« meinen die zusammengehörigen Weisen des Bezuges zum Seiendem im Ganzen wobei das meiste jeweilen nicht eigens beachtet wird. Dasselbe ist der Aufenthalt bei … und zugleich das Anwesenlassen von Seiendem. Mein Dasein ist jeweils in der gegenwärtigen Situation dadurch konstituiert. Mehr lässt sich gar nicht darüber sagen. Man kann nicht nach einem »Träger« des Verhaltens fragen, sondern das Verhalten trägt sich selbst.53
Das Verhalten kann unter keinen Umständen als eine Beziehung von einem Pol zu einem anderen, von etwas zu etwas, missverstanden werden, sondern daseinsanalytisch verstanden ist es »Sich-Halten in und bei etwas, Aushalten der Offenbarkeit des Seienden, Aushalten der Offenständigkeit«.54 Es ist deswegen falsch zu behaupten, Heidegger habe nur die Stimme des Seins und nicht die Stimme des Anderen gehört, weil für ihn das Sein und die Anderen eine wahre Alternative dargestellt hätten. Das, was das Dasein wesentlich charakterisiert, was seine Grundbestimmung konstituiert, ist seine Offenheit für den Anspruch der Anwesenheit.55 Eine solche Offenheit eröffnet innerhalb des Determinismus der Natur das Reich der Freiheit, einer Freiheit als »Frei- und Offen-sein für einen Anspruch«56 verstanden, identisch mit der Humanitas, die von Heidegger als »freier Bezug des Menschen zu dem, was ihm begegnet, definiert wird und darin besteht, »dass er sich diese Bezüge aneignet und dass er sich dafür in Anspruch nehmen lässt«.57 Das Mensch-Sein ist immer schon vorausgesetzt im Vernehmen aller ontischen Phänomene und deswegen ist alles Anwesen von Menschen abhängig, »aber diese Abhängigkeit vom Menschen besteht gerade darin, dass der Mensch qua Dasein und In-der-Welt-Sein Seiendes in seinem Schon-gewesen-sein zulassen kann.58 Wenn der Mensch so das wahrhafte Apriori ist – in dem Sinn, dass das Früher-sein zum Menschen wesentlich gehört59 – bedeutet dies, dass ebenso das Miteinandersein das wahrhafte Apriori ist. Auf die Frage »Ist das Miteinander-Sein ein Begegnen oder setzt das Begegnen-Können das Miteinander-Sein voraus?« antwortet Heidegger entschieden: »Dies letzere ist der
52 53 54 55 56 57 58 59
Martin Heidegger, Zollikoner Seminare,197. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 205. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 246–247. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 272. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 272. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 199. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 224. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 227.
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Françoise Dastur
Fall.«60 Nur im Mit- und Füreinandersein kann man z. B. das Erröten des Gesichtes oder die Tränen des Anderen vernehmen, weil diese Phänomene weder somatisch noch psychisch sind, sondern den Bezug zum Mitmenschen voraussetzen.61 Wenn es ein gemeinsames Sein beim Begegnenden wirklich gibt,62 bedeutet dies, dass das Mitsein eine gegenseitige Beziehung bildet, die uns dazu leiten sollte, nicht mehr vom einem Ich-Du-Verhältnis, sondern eher von einer Du-Du-Beziehung zu sprechen.63 Das, was den Menschen mit der Welt, mit ihm selbst und mit anderem Dasein verbindet, ist deswegen eine sprachliche Beziehung und die Einheit eines Gesprächs, von dem Hölderlin in »Friedenfeier« sagt, dass wir es sind (»Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander«).64 Es ist die Universalität eines solchen Gesprächs, die das Anreden und das Antworten, die Beziehung und die Fürsorge erlaubt, wie Heidegger betont : In seinem wesensmäßigen vernehmenden Bezogen-Sein auf das sich ihm aus seiner Welt offenheit Zusprechende ist der Mensch aber auch immer schon aufgefordert, diesem mit seinem Verhalten zu ihm zu entsprechen, d. h. zu antworten, und zwar so, dass er das Begeg nende in seine Hut nimmt, ihm nach Möglichkeit zu dessen Wesensentfaltung verhilft.65
Die Rede von einem »therapeutischen« Verhältnis ist deswegen ein ähnlicher Pleonas mus wie die Rede vom »menschlichen Dasein«.66 Der einzige Name des Verhältnisses ist in der Tat Sorge, diese Sorge des Seins, die allein das Seiende in seinem dreifachen Sinn (Welt, Selbst, der Andere) uns begegnen lässt. Und wenn die menschliche Krankheit in Störungen der Anpassung und der Freiheit besteht,67 bedeutet dies, dass es sich bei der therapeutischen Beziehung im engen Sinn (bei der Beziehung zwischen Arzt und Patient) darum handelt, eine Modalität der Beziehung, die die Freiheit des Patienten voraussetzt, ins Werk zu bringen. Es bedeutet also, dass der Arzt (oder der Lehrer) seine Freiheit dem Patienten (oder dem Lernenden) nur zurückgeben kann, indem er seine eigene Freiheit bezeugt. Und das ist gerade das, was Heidegger »vorausspringende Sorge« genannt hat.68
Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 270. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 106, 144. 62 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 146. 63 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 263. 64 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 183. 65 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 292. 66 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 157. 67 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 199. 68 Dieser Aufsatz erschien zuerst in: Daseinsanalyse. Zeitschrift für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie 12 (1995), 43–52. 60 61
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João Augusto Pompéia
Pain and Time1
To be history it is not enough to act; the human being needs to narrate.2
1. Introduction The idea for this presentation came up at the Heidegger Colloquium,3 in which the theme that fit me was the same as in today’s lecture: »Pain and Time.« This theme originated in the analysis, in a historical perspective, of how the modes of human suffering have been changing throughout the 20th century and in the first decades of the 21st century. Before starting this exhibition, there are two basic points that need to be explicit: first, my reference here is not Martin Heidegger’s thought, nor the Daseinsanalytic theory, but clinical practice. And second, my perspective is not just that of a psychotherapist, but that of a Daseinsanalyst. As for clinical practice: it is a doing; it is not a reflection, but an action that interferes with reality. As a specialized activity, such action is guided by theoretical knowledge arising from our professional training. However, as reality is always greater than the knowledge which we have of it—and that is why the process of knowledge grows continuously seeking to reach the totality of reality—it is important to remember that clinical practice is a specialized action that is inscribed in a reality that is necessarily different and greater than the knowledge we have of it. In other words, our knowledge is restricted, although it is constantly driven as search for the totality of reality. Another restriction of our action refers to the uniqueness of each patient. No matter how many and what knowledge there is, none has yet been elaborated regarding a given patient. The prior knowledge we have is always from a generic person and it will be insufficient in our practice. In fact, for the constitution of structured knowledge, it is necessary that the peculiarity of each real situation be set aside for the benefit of a general reference, which applies to many particular situations. However, therapy is a doing for which already structured This lecture was given on March 28th, 2017, at the Brazilian Association of Daseinsanalyse (ABD) in São Paulo. The text has been edited by Silvia de Ambrosis Pinheiro Machado and translated into English by Deborah Moreira Guimarães. 2 Phrase extracted from one of the answers given to the public by João Augusto Pompéia. The lecture was organized in two parts: lecture and dialogue with the public. The content of the answers was incorporated into the text. 3 21st Heidegger Colloquium on October 15th, 2016, Federal University of São Paulo, Hospital do Rim, São Paulo, Brazil. 1
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knowledge is not enough. It is necessary that, alongside the content acquired in our professional qualification, there is a space for the singularity of that patient’s moment, in that circumstance. More than that, therapy practice needs the patient’s collaboration; it doesn’t come from us psychotherapists. What we are actually saying to that person is what that person understands and not what we mean. Thus, our practice needs, let us say, this double help: the particular circumstances of the patient and his/her collab oration. Finally, in relation to clinical practice, it is important to address its basic con dition. The word condition is linked to the verb match: what matches or what speaks together. What matches the therapist’s speech and the patient’s speech, when psy chotherapeutic work begins, it is basically human suffering. Therapeutic action is the permanent effort to try to respond to the requisitions, the appeals and the implicit or explicit requests that the suffering of men sends to them. In this therapeutic condition, suffering finds an opportunity to be lived, known, dealt with and, as far as possible, overcome. Therefore, it is the kairos (propitious and opportune time) of therapy. In short, so far, we have addressed some delimitations in the field of clinical practice: the (un)proportional relationship between knowledge and reality; the impor tance of the patient’s unique character on the structured knowledge of Psychology; the fundamental recognition of the patient as a contributor to the psychotherapeutic process; and human suffering as a basic condition of this process. The second starting point of these initial reflections to be highlighted refers to the specificity of being a Daseinsanalyst. What characterizes a psychotherapist as Daseinsanalyst is that his/her clinical practice is based on a certain conception of human being different from the ordinary understanding and even the understanding of the sciences in general, whether biological or human, such as Anthropology and Psychology. Precisely, as it is a different concept of human being, we use the word Dasein.
2. Dasein: On-going History What is Dasein? Heidegger’s most astonishing, surprising and fertile contribution to elucidate this issue, in my view, can be expressed succinctly as follows: human beings are beings whose fundamental characteristic is »not to be.« They »are not« and, therefore, »can be« or »cannot be« and »can become.«4 This perspective of existing, of becoming, makes each person’s identity a history that is happening and not a finished
4 We decided to translate the expression »vir a ser« with the verb »become.« Literally, this expression means »come to be," in other words, »coming into existence.« »Become," in this sense, has the same meaning as the original expression: »to begin to be or to come into being.« Footnote by the translator.
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form.5 Perhaps the briefest way to formulate the concept of Dasein is: Dasein is the understanding of man as an ongoing history.6 Such a history is constituted by the elements of our past and, especially, those of our future because, in this understanding of »becoming,« the reference is the future. As we are not yet finished, and we do not have a precise definition of the history we are being— since it is ongoing—we retain a certain indeterminacy. Thus, this movement of making history shows a Dasein that, existing, remains undetermined. This concerns especially the future. Taking as a reference this field of future indeterminacy (»becoming«), we can now approach two concepts especially interwoven in this way—Dasein—of understanding the human being: gratuity and freedom. Gratuity is an element of disorder peculiar to men. We can say that grace is the foundation of Dasein. When, for example, someone is assaulted without reason, we use the expression »gratuitous aggression,« that is, for free, without reason and without determination. Free is always the expression of disorder or, as statistical physicists and mathematicians formulate, degrees of chance and freedom: a set of free factors present in the occurrence of a phenomenon. For example, when you flip a coin, the probability of falling heads or tails, a simple calculation of 50 %, is random. In this sense, gratuity can be considered a natural manifestation of freedom. Freedom is not the expression of a power, in the sense of a power to choose, to do or to stop doing things (options), but, rather, the very condition of indeterminacy of our connection with the future. It is given to us by the fact that »we are not yet finished« and »we are being« in the process of realization. Thus, our incomplete ness defines our freedom. The human being is born in a paradoxical condition of freedom because »becoming« is an imposition made on him, in other words: by the fact that »has to be« the history which »is being.« This occurs until his death when he is no longer »becoming,« he is no longer existing. From the point of view of the event, human beings gain identity when »they are no longer.« It can only be said, for example, that such a person was whole when he/she died; before that, the person can always stop being; be again; quit being; return to be ... Constant movement.
5 In this conception of human being, there is a movement that calls for a mobile look as well. The composing of this text sought to preserve the movement of João Augusto Pompéia’s ideas, his own language that »promotes« the meaning of Dasein to his listeners. Footnote by the editor. 6 João Augusto Pompéia used only the term »history« in his lecture, precisely so as not to separate what appears as totality: temporal and spatial, real and fictional overlapping of person and world (being-with-oth ers and being-in-the-world). In one of his final comments, for example, he says: »The child has this peculiarity of approaching the dimension of the history that, for men, is essential. Perhaps, for this reason, they search for stories avidly. They need history much more than they need reality because, in order to deal with reality, you already have to be immersed in a historical perspective, otherwise reality becomes chaotic.« Eventually the qualifiers »personal« or »universal« for the term »history« will be introduced in the text, just to highlight in which pole of the movement the author’s view is at that time. Footnote by the editor.
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3. Dasein: Indeterminacy of the Future While alive, the human being is open to the grace of indeterminacy of future events; this is configured only for human beings. From a physical point of view, the future has no shape; from the human point of view, the shape of the future is what determines people’s action. The future guides us. The place we want to go to defines the path we will take.7 Therefore, we can say that Dasein is an entity that essentially »is not,« it is a »can be.« Thus, it is not the past that determines us. In view of the diverse set of past events, we would hardly find a definitive determination for existence. Not even DNA, our genetic load, can determine us, because »we are also« what »we are not yet.« The indeterminacy of the future is what guides our action ... which, in turn, will transform us into what we »are being« every moment ... and then the future is reconfigured ... which returns again open to »can be« ... Thus, in addition to the character of continuous movement, Dasein appears as a kind of place: a void, a »not to be.«
4. Dasein: Temporal Gestalt In this place there is also a continuous operation that we can call totalization: each one of us is permanently gathering the multiplicity of events, which constitute our history, in a unity of meaning, which we understand as what we are. Thus, it can be said that this place-Dasein is configured as a temporal Gestalt: the continuous integration of multiple elements in the unity of history. Past and future events, actions, and experiences are part of this composition of our history. Everything matters as »being« or »not being« for this integration movement, because every presentation of something to Dasein always takes place as an experiencefigure that is on the background of other possibilities of being. We remember that, in Gestalt, the game of figure and background is absolutely determinant for the process of apprehension and constitution of what is called »totality« or »Gestalt« (form). This aggregation effect, in the perspective of the Daseinsanalytic conception of human being (continuous history), is always the perception of »what is happening« on the background of »what could be happening.« Thus, »what is happening« is linked, all the time, to what »is not happening.« And it is this permanent link that, without realizing it, will establish the meaning of each event.8 7 This illustrates the fact that passenger calls for boarding at airports are made by destination. The place where they go is what identifies and calls them. 8 I exemplify comparing two histories triggered by the same event: a car accident. In the first, the patient enters the office saying that he is very unlucky because he suffered an accident with total loss of his car. In the second, the patient starts the consultation saying that he is very lucky because he crashed the car, it was completely lost, but nobody got hurt. Both are referring to the same type of fact, but with opposite meanings for each of them. This is because the possibility that serves as a background for the insertion of reality is opposite in each case. In the first, the bottom line is that nothing happened, and the car was available; in the
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I take advantage of the expression »all the time« to underline one of the fundamen tal concepts of this exhibition: time. In addition to this term that is part of the title of this paper and is also being disseminated through expressions that I see myself using here (continuity, permanence, always, still, past, future), the concept of time is basic for the understanding of human suffering and, in this case, it is expressed, for example, in »never again,« as we will see further. For now, to address it, I return to Dasein as the empty-place where history itself is ongoing, taking place. Therefore, we can say that Dasein is also the place where the reality of the world becomes history. When making history, one’s own and that of the world, the human being is temporality »all the time.« This is the temporal aspect that tells us about »permanence.« Every Dasein’s experience occurs in, with and through time, whether in the chronological succession (from Greeks, chronos) that we recognize in the second hand of the clock, or in the sense of kairos, favorable time, as previously seen.
5. Human Suffering: Pain of History Before addressing what is peculiar to human suffering, I make a more general and still initial reflection on the suffering of living beings. It seems to me that suffering in life, in general, is linked to resistance to movement. Life is necessarily movement all the time. When something resists to movement, there is an experience of pain and suffering. The resistance that immobilizes in an extreme degree we call »death.« Human beings can also feel this pain resulting from resistance to vital movements, but human suffering has something very characteristic: it always appears on the background of the possibility of not being suffering. Knowing that the pain might not be happening is part of the very meaning that human beings attach to suffering. This apprehension that something »might not be happening« brings us back to what is peculiar to human suffering: the lack. If »it could be« and »it isn’t,« then it is missing. The lack, however, is also important in understanding Dasein’s conception. We saw that Dasein is an entity that »is not yet,« that’s why »it is becoming« or »it is always missing.« In Heidegger’s proposal: beings are, and men exist. Thus, lack is the foundation of freedom—this most peculiar and precious experience of human beings. However, now, the question is: when does the lack become suffering? And the answer is: when it dissociates from freedom, that is, when the lack is no longer the emptiness of what »can be,« but the emptiness of what »can no longer be.« Let’s say: I perceive a possibility, I know that it could exist and, suddenly, I realize that it does not exist and can never exist. That which, if not, can never exist is »where-when« human suffering happens. It is a »place-time« rather from »no« than from »yes.« In this way, human suffering is linked to what is not, is not present and, in some way, has been lost. Here I identify one first form of suffering: loss. second, the bottom line is that someone might get hurt. From these different funds, different meanings stand out for the same event.
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What we call »loss« is a curious experience. I exemplify with the loss of a beloved one—perhaps the most common form of loss with which we live personally and professionally in therapeutic work. The person who loses a beloved one loses more than one person but loses the entire universe of sharing with him/her. This universe was open and available until the moment of his/her death, when then it closed. The loss is fundamentally a loss of possibility. We cannot lose real things. Things that have come true had definitely come true. What we miss is the possible, what »could be.« This quality of loss shows how important the »connection with the possible« is, for us, often becoming more relevant than our »connection with what is.« Another form of suffering is linked to loss and to this movement of existence based on lack: guilt. In general, we think of guilt as an unfold of something wrong and worthy of repentance. Curious is that whenever we approach the »mistake« committed we find »what we wanted to have done« instead of what »was done.« It seems that guilt is linked more to what we »did not do« and less to what »we did« because what we did condemned the non-existence (lost) what we would like to have done (guilt). To better convey this experience, I refer you to the final verses of the poem »Life while-you-wait« by the excellent poetess Wislawa Szymborska, winner of the Nobel Prize for Literature, in 1996: »And whatever I do will become forever what I’ve done.«9 It is frightening to be in freedom to act and to realize that at the moment we do something, the deed becomes eternal. It is a strong condition in human life: the passage from the freedom to choose an action to the subordination itself to what has been done or what, done, is imposed on us. Action—and psychotherapy means action, as I said earlier—is the moment when the possibility takes place and crystallizes as something done; thus, an act closes a horizon of possibilities. For example, if I am going to turn to the right, I will not go to the left, I will not move on, nor will I step back. When one possibility has been performed through action, the others have not happened and will no longer happen; they are condemned to »not be« permanently. This is instantly closed in a void because they are possibilities that are unavailable and doomed to nothing. Such possibilities canceled out by our action, however, will continue to solicit and charge us. They present themselves to us, beings open to possibilities, and make us want to have done something else. In the example of directions: I turned to the right, but I wanted to turn to the left; the absence of turning to the left, which is nothing, keeps appealing to me. Here is the meaning of what we call guilt: what is missing. What we »do not do« is absolutely fundamental to us. What we »did« or »were not able to not do« often generates the feeling and suffering of guilt. Two examples occur to me: that of a teenager’s transgression and that of a tortured one’s silence. We know that the issue of freedom is fundamental in adolescence; the young man is breaking free from his parents’ yoke and is going through a period of challenges mainly manifested as an affirmation of his freedom. If, in the face of Excerpt from the poem by Wislawa Szymborska, »Life while-you-wait,« in: Wislawa Szymborska, Col lected and Last Poems, transl. by Clare Cavanagh and Stanislaw Barancza, Hachette 2013.
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a disrespectful transgression by the young teenager, instead of saying »you can’t do this,« we say »you may not do this« the dialogue will be better, because the first way limits your freedom and the second brings it back. The young will not feel obliged to submit but challenged to appropriate his action: what was done or what he was unable to not do, as well as what he did not and could have done. The other example is that of a subject who, even under violent and lasting torture, manages to remain silent and, when leaving this situation, feels proud for »not having spoken or given away the secret.« This person is full of himself for something he did not do. Thus, »not doing« is, for human beings, as or even more decisive than »doing« in the constitution of personal history. We can say, then, that just as in the experience of loss what we lose is »nothing real,« but possibilities, in the experience of guilt, what weighs us is what »was not, « but »could have been,« something that our doing doomed to »non-existence.« For animals, what hurts and offers resistance to life is something real; for us humans, the pain comes, often and more deeply, from what we have been deprived of (loss) and what we have not done (guilt). The peculiarity of human suffering comes from this, from a (dis)connection with the possible, with the possibilities. Such suffering can lead to an absolutely closed condition, as definitive and eternal as the death of the beloved one (pointed out in the previous example): this fact cannot be any other else than this one. It is given, it is real, and it has been closed. We can mention other situations of suffering due to the loss of possibilities. In loving grief, for example, what died was not the beloved one, but the possibility of sharing experiences with him/her. In the case of amputation of a body part, the range of possibilities was also limited; or even, in cases of blindness, in which people, when losing their sight, do not lose what they have seen one day, but what they could see until the end of their days. The focus in all of these examples is the peculiar meaning of loss based on the human relationship with the possible: deprivation of possibilities (suffering from loss) and definitive loss of the possible »not done,« due to another accomplishment (suffering from guilt). In either case, loss or guilt, we have entered a dead end: nothing can change what happened. If Dasein is fundamentally an experience of freedom, guilt and loss are radical experiences of the lack of it. In the same way that the original freedom, constituting Dasein, puts us in front of void, its deprivation also throws us into emptiness. The difference is in the presence of the fault that qualifies these voids. The »open lack, « pertinent to the open emptiness, exposes what »can still be«—therefore, an experience of freedom; and the »closed lack,« typical of the closed emptiness, exposes what »will may never be able to stop being«—hence an experience of deprivation of freedom. Thus, the lack becomes suffering whenever freedom is taken from it. I return to the example of the loss of a close person. Concretely, what is experienced is the fact that »never again« it will be possible to share anything with him/her, for example, you can never have his/her company again. This suffering has the length of the »never again« time that, equivalent to »forever,« can reach and let escape the meaning of life of a person who has already lost someone. The fact that everything that could be lived with the person no longer »can be,« disintegrates and disrupts the 145 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
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meaning of life of those who suffered the loss, reaching their future and closing, before the end, their history. It seems, therefore, that what hurts in human suffering is time. Faced with the situation of loss, some people hit the dead end of this »never again« (reference to eternity), thus leaving time. Once you left the time, the future has been closed. With the future closed, Dasein was immobilized, the human being doesn’t move anymore. The experience of losing becomes, at this point, depression, setting up a pathology. Here, the loss of a set of possibilities immediately becomes the loss of all possibilities. The meaning of living has been achieved, the »for what« has been lost. Meaning is the foundation of all human actions, the thread with which the multiplicity of events is gathered and stitched in history. Meaning structures the temporal Gestalt of personal history and, if it retracts, we will be facing a human being from whom the opportunity to »keep on becoming« has been removed, so he/she can no longer see »so that one exists« (meaning of living). Regarding the feeling of guilt, the experience is analogous to that of loss because, in it, »what was done« also has an eternal character. The previous experience of freedom, which we can express as »what we wanted to do was done,« can now become a trap so intense that it tears the patient’s life apart. The definitive absences due to »everything that has not been done« and the »done that you no longer want to have done or to do« dismantle the units that make up the bed through which the patient’s history is ongoing. It is as if one’s life’s events were separating from each other, shattered by the lack of a thread of meaning. We call this pathological guilt and, again, we are facing someone in a depressed state. When guilt and loss reach this degree of »dead end,« that is, a moment of closed possibilities, when they transcend the peculiar event and become the disarticulation of meaning, personal history can no longer continue. Personal history can only go as far as the meaning goes: when this one stops, that one also stops. Here, for me, is the peculiarity of human suffering: it is linked to temporality and historicity. The pain of men is a pain of history, composed of pain of »noes,« »faults,« »things that no longer exist« or »things that can no longer cease to exist.«
6. Daseinsanalytic Doing Given this extreme situation, in which guilt and loss reach the degree of disarticulation of meaning, how can we charge ourselves, as Daseinsanalysts? It is a distressing situation for the therapist, for the patient and for people who live with him/her. Given that the event is not different and cannot be changed—both in the case of loss, feeling for the fact that happened, as well as in guilt, feeling for the fact that did not happen—the most immediate feeling is that of lack of freedom. Here is an important key to Daseinsanalytic care: suffering and pain are condi tions of human experience and it is not on them that the Daseinsanalytic action affects, even because the therapeutic indication is not limited to cases of pain and suffering. The principle of Daseinsanalytic care is found in the restricted field of human 146 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
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freedom, whether due to suffering and pain, or due to Dasein’s condition of »being with« and »being in the world.« The focus of the Daseinsanalytic action, it can be said, is on promoting10 the ability to be free. For this reason, the importance of the following discernment: suffering and hurting are part of the living process of all beings, however forgiving and committing are authentic movements11 of Dasein’s freedom which occur, as if formulated in the form of »deep exercises,« in psychotherapeutic process of Daseinsanalyse.
7. The Problem of the Excuse I initially approach guilt because it engenders a dangerous possibility of care, which can become a trap for us psychotherapists. In the effort to console the guilty patient, we can be taken by the fascination of the excuse12 and, moved by our anguish over the weight of the loss of meaning in his/her life, seek justifications, often disparate, for that past action that now triggers the fault. The danger is that, in the effort to justify someone, we will find objective, real and true causes within their history, but inadvertently, we deal with that person following the principle of causality. If, on the one hand, this principle explains scientifically, with successive chains of causes and effects, all the events of our world, animated and inanimate, on the other hand, it restricts the understanding of human actions, by removing their determinations for future possibilities. And this affects, as we will see, the fundamental freedom of the human being, targeted by Daseinsanalytic care. As psychotherapists, when we point to causes that triggered the event for which the patient today feels guilty, we deal with its action in the same way as we would deal with any other natural event. Any explanation, in the sense of identifying and enumerating the determinant causes of an occurrence, ends up establishing this equivalence. With this, the peculiarity of human action disappears, since it is much more oriented by the future than determined by the past. We can say that »ex-cuse,«13 bringing human beings to their pre-existential condition of a mere living being, makes their action inhuman. Without guilt, in the form of the original fault, the basis of our freedom, all action is inhuman. Thus, every excuse is necessarily a castration of a person’s humanity. »Pro-motion« in the following sense: »in favor of the movement of.« The difference between spontaneity and authenticity is precisely in the appropriation of freedom to what is »itself.« What is spontaneous in childhood will be authenticated, in maturity, precisely by strengthening the skills of freedom that imply in appropriating what is lived. Footnote by the editor. 12 To deepen this theme, it is recommended to read the chapter »Guilt and excuse« (Culpa e desculpa), in: João Augusto Pompéia, Na presença do sentido: uma aproximação fenomenológica a questões existenciais básicas, São Paulo 2004. 13 From the original term »des-culpa,« which has the Latin root »ex« and »causa.« The prefix »des« in Por tuguese can be understood as a way of removing something. It also means a separation or a counter action. In this sense, »des-culpar« means »to forgive someone," that is, to remove the guilt for something that has been done. It is possible to find the same etymology in the verb »excuse,« which comes from the same Latin terms »ex« and »causa," as mentioned before, that is, »to take out (to remove) an accusation or a cause.« Later, 10 11
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Certainly, the set of past causes has an effect on human action, but they are not exclusive determinations. Human behavior is mainly driven by future possibilities. For this reason, for example, any work organization or activity planning begins with information about its objectives and purposes; the arrival point of a work project needs to be clarified before its starting point. Thus, it is mainly the horizon ahead, the future, that guides and gives direction to action. If, in seeking to understand our patients, their feelings of guilt or loss and their depression, we are tied to the principle of causality (explanation), we will be neglecting the horizon of possibilities, which is, in the final analysis, the proper place of human freedom.14 Often, addressing this topic, I tell the story of the teenager who, when completely excused and acquitted for an infraction, revolted saying: It seems that I don’t exist. If my action was not my fault, but caused by my past history, family problems, lack of favor and the shortages I went through, then I am nobody. If it was not my fault, if everything I did was not, I was not and I am not doing it; what am I? A puppet?
Finding excuses can fully justify human action, but at the same time it takes away from people their freedom and imprisons them in the condition of »not being.« The Oedipus tragedy expresses this well. The story of this Greek hero points to human wandering, starting with being crip pled in a socio-cultural context that values physical perfection to an extreme. Oedipus, which means »the one with marked feet,« can be considered »the defective one« or »the wrong one.« But then, how did he become one of the best-known mythological heroes, influencing contemporary thought? The permanence of this hero stands out in Western History whether by the hands of Sigmund Freud, who designated the moment of human life, in which the psychic structure is instituted, such as the dynamics of the Oedipus Complex; either by Heidegger’s philosophical thought, whose reading of the tragic Oedipus—and not of the mythical one—opened a significant question. To address the issue mentioned above, I rely on the book »Mythe et tragédie en Grèce ancienne«,15 in which Jean-Pierre Vernant asks the following question: why did Oedipus, in discovering the truth of the facts, not justify, explain or even apologize himself? The reason would certainly not have been a lack of skill with words; after all, he had become the tyrant of Thebes precisely because he had deciphered the enigma enunciated by the Sphinx. So, in front of the Theban people, faced with the fact that he killed his father and married his mother, why did he not explain himself? No human court would have condemned him if he had demonstrated that, as soon as he learned that his destiny was to kill his father and marry his mother, he exiled himself from Corinth, his homeland, precisely to avoid the risk of fulfilling this destination. Oedipus did everything he could to free himself from oracular predictions, but his fate was long both words were transformed in the Latin verb »excusare," which means literally »to free someone from blame or guilt.« Footnote by the translator. 14 Human beings exercise their freedom precisely because »they can always still be.« They »always need to be,« since, while they are alive, »they have not yet become« everything that »could be« and, while they are living, they will be continually »becoming« those who, in fact, »have been being.« 15 See Jean-Pierre Vernant / Pierre Vidal-Naquet, Mito e tragédia na Grécia Antiga, São Paulo 1999.
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before the marriage of Laius, his father, to Jocasta, his mother, already determined; even before he was conceived, Oedipus was already caught up in this fate. Before the supposed court, he could claim at least two truths in his favor: not knowing that Laius was the man he killed at that fateful three-way crossroads, and not knowing that Jocasta was his mother—in fact, she did not know that Oedipus was either her son. Why did Oedipus not justify himself? Why does he take the blame? Because, if he had justified himself, he would be recognizing that he was just a puppet in the hand of the gods, a manipulated doll; he would be equaling himself to any other occurrence or kind of natural triggering of the facts. In this case, the »natural event« category would predominate, and the »human« quality would disappear. Oedipus did not justify himself so that the human that was in him—and that is in people—to predominate. When this match between the human act and the natural event occurs, freedom appears as an illusion. If the action of men is equal to the events of the natural world, there is no freedom. This does not make sense to us who have historized ourselves, as an identity under construction, and the world in which we live—also in a continuous process of achievement and transformation. Even the principle of causality, which establishes natural laws (structures that unify events), belongs to a historical totality in which natural events can be anticipated. Thus, also in Science, the future is tangent, openness to »becoming.« As psychotherapists, in the face of people suffering from losses and guilt, we desperately want to recover the meaning that has been withdrawn, to recover the opening of possibilities. And, in this effort, we fall into the trap of trying to reduce and mitigate the radicality of the loss, justifying and explaining the events. Basically, with this, we try to change the way people are experiencing their loss. If people are authentic and coherent with themselves, they will feel that they have lost something very precious and, with that, their story has stopped.
8. The Past and the Future in Daseinsanalytic Care: Forgiveness and Commitment Once this trap is identified, we return to the question: what can the therapist do in these extreme situations of guilt and loss? To answer, I return here to the suffering caused by the loss of beloved ones. Faced with this situation, future and history are radically closed. A vigorous form of suffering appears because the possibilities of sharing experiences with the beloved ones have been interrupted. It is no longer known what for, why and how to live. In this situation, we can follow the patient’s suffering and, considering that his/her future is closed, we propose to look together at his/her past. We will do this not to seek explanations and justifications, but to recognize the vigorous connection between what has now been lost with the gratuity of formerly receiving it. We only feel pain when what we lost was good enough that we can now miss it. What we lose, therefore, is always something we had previously won, a gift. The only identifiable justice, in the midst of this intense and radical suffering, is that the scale 149 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
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of the pain of losing something is always identical to the size of the joy of having won it one day; the first can never be greater than the second. If we knew how to perceive and delight this joy before, in the time when there was a gain, the better. If not, now, in the face of loss, we need to recognize the immense grace of having received what has remained with us until this moment. It is precisely there that psychotherapeutic action can take place: by confirming the pain of loss—that is, not denying it with excuses, but accepting it as shown in the patient’s experience—we can accompany and bring back all the joy, luck, grace and value of what was received. With this and consenting that the previous history is, in fact, closed, we will be able to open the horizon of another history. In it, each gift comes to be experienced and recognized in its vitality: what is given for free also ends. Between this new look at the past and the reopening for the future, the adjusted dimension of the value of each present moment emerges in the patient. Regarding guilt, we will find the same type of proposition, but in an inverse perspective to loss: it is not the future that closes, but the past that crystallizes as something unalterable. »What has been done and which is no longer wanted to have been done« has been done and cannot be undone. However, this same »what has been done and which is no longer wanted to have been done« can be reintegrated into the totality of personal history, transforming it entirely,16 thus providing the possibility of a new history. For Dasein, the end of a history is always the beginning of another that incorporates the previous one17. In this sense, Daseinsanalyst’s action is not properly related to the recovery of the past fact, but to the historicity of the past, understood here, as availability to regain time, as an opportunity for donation and gratuity,18 after the »stride« that stopped it; and, with that, open up to the new history embedded at the end of the previous one. As I said earlier: the suffering of human beings is a pain of history. In order to understand how »what has been done and which is no longer wanted to have been done«—what we usually call »regret«—is reintegrated into personal history, it is worth rescuing the meaning of the word castigation, which is not the same as punishment or inflicted suffering. Castigation has the same Latin root as castus, which means »pure.«19 In Chemistry it is said that a substance is pure when all its portions have the same properties, that is, something unifies them. Thus, we 16 Max Wertheimer, when presenting the Gestalt concept, formulated that the whole is greater than the sum of the parts. When a new element becomes part of a pre-existing totality, the whole is transformed. The attachment of this element changes the entire figure and radically transforms the perception of the totality. 17 »The Thousand and One Nights,« also called »The Arabian Nights,« narrative is a magnificent represen tation of existence, as their histories have no end. The expression »a thousand and one« has a meaning equivalent to »infinite,« in medieval Arabic. 18 João Augusto Pompéia started one of his answers to the question of the gratuity of time, illustrating it with a brief inversion of the colloquial expression »give time« to: »it is time that gives itself.« This wordplay helps to understand the recovery of historicity: We are not the ones who give time, but, rather, the time is the one that gives itself to us. Human beings receptively wait for the time to give itself. Hence, hope is a special way of patience. Footnote by the editor. 19 The word »castigation« has the same Latin origin as the word that the author used in Portuguese in the original version of this manuscript: »castigo.« Both are derived from »castus.« The same happens to the
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Pain and Time
can say that »castigation« refers to a process of purification, in the sense of rescuing lost integrity. It is the way for the person to become only one again, because, in the situation of guilt, he/she is divided into two parts: he/she is »the one who did it« and »the one who did not want to have done it.« The integration achieved through castigation/purification forwards the error of the past into a commitment to the future. It is a donation (doare) of the guilt of the past that can even become a factor of pride in overcoming it. There is also the feeling of guilt generated by »what was not done« and, therefore, it became a void. But the »emptiness of what was not« is also the »emptiness of what is not yet« and, therefore, »can still become.« We tangent the future again as an open horizon of possibilities and as a place to rescue meaning, not only lost by the inalterability of the facts, but also recoverable by the unfolding of the very human action that we call forgiveness. In the tradition of the relationship between human beings and their faults, alongside the perspective of the excuse, which seeks relief from explanations in the past, justifying it, naturalizing the fault that occurred and eliminating the properly human participation in the event—which is a remedy worse than the disease, as already mentioned—there is also the perspective of forgiveness, a gesture directed towards the future. What happens in »for-giving« is the donation of the future, because each future action transforms the meaning of the »actions« and »non-actions« of the past. It is through (per) the future—open and indeterminate space—that a fact, absolutely unchanged from the past, can receive (by donation) a new meaning. The future is given to human beings. This movement incorporates »that which was not intended to have happened« in personal history and, thus, transforms universal history itself. We can say, then, that forgiveness is a way of caring for the future.
9. Conclusion To conclude, lack and emptiness, loss and guilt, complementary aspects interwoven in the experiences of human suffering, are always in time and, in this sense, they are moving. That is why it is often difficult to achieve them; they escape easily from our understanding still very impregnated by static models. But the expression, in words, of this dynamic way of addressing human suffering is worth, especially because it is in this way, in time, in movement and changing, that the pain of human beings shows itself, after all, it is life. In relation to the loss: it is by recognizing the greatness of the grace from what has been given to us, that we can effectively understand the nature of the pain that plagues meaning of »castus," since »pure« and »puro," or »purification« and »purificação," are etymologically similar. That is why we decided to use »castigation« instead of »punishment,« even that this one is more usual than that one. Footnote by the translator.
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us, but that always keeps a small feeling of gratitude for the opportunity given until the moment of the loss. Deeply accepting the past, welcoming the pain, the human being can open up to the perspective of future. In relation to guilt, I take advantage of the two headings of the topics that close »Chapter V. The Action,« from Hannah Arendt’s book The Human Condition,20 which, synthesize and translate precisely the theme of past and forgiveness and future and commitment; they are: »The irreversibility and the power to forgive« and »The unpredictability and the power to promise.« In the perspective of the possibility of committing to the future, we can live the experience of transcending the lack without explaining it, without naturalizing the events that have occurred and, therefore, without erasing what is properly human from the event. It is about not denying the lack and reaffirming that it is always up to us the possibility of unfolding21 another historical totality, reconfigured from each new act and movement that we carry out, even if imprisoned by the determination of past events. The modes of suffering, loss and guilt, as well as the human condition, concern the experience of lack. The difference is in the way, open or closed, as it happens. As an experience linked to the human condition, the lack is open to the indeterminacy of the future, it concerns what »is not yet« and what »can be.« Already in suffering the lack is trapped within a radical determination, from which all »being able to be« has been excluded, leaving »no longer being able to be.« In this perspective, we can understand the work on the suffering of loss as a care inclined to the full acceptance of the past. And work on guilt suffering as a care inclined towards full commitment to the future. In my view, the Daseinsanalytic clinical performance is established in these two dimensions.
Hannah Arendt, A condição humana, Rio de Janeiro 2003. The word »denouement« can be inserted here, to complement and elucidate the term »unfolding.« One of the meanings of »denouement« is »solution«, »conclusion«, »outcome«: »the end of the previous history«. Another meaning is »launching«: »the beginning of a new history«. Footnote by the translator. 20
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Die Frage nach der Leiblichkeit in den Zollikoner Seminaren. Heideggers problematisches Verhältnis zu Descartes’ Methode
»Es ist die höchste Not, dass es denkende Ärzte gibt, die nicht gesonnen sind, den wissenschaftlichen Technikern das Feld zu räumen,"1 schreibt Heidegger in den Zolli koner Seminaren. Mit dieser Aussage wendet Heidegger die Schlussfolgerungen seiner Untersuchung von Descartes’ Werk auf eine Problematik an, die die Seminarteilnehmer betrifft. Er bedauert, dass sich Ärzte im Allgemeinen mit dem wissenschaftlichen Ansatz begnügen. Besagte »wissenschaftliche Techniker« wenden in Wirklichkeit eine Denkweise an, die laut Heidegger auf Descartes zurückgeht, also auf eine Methode bzw. eine Art, den Weg des Denkens einzuschlagen. Offensichtlich hat diese Methode, seit Descartes mit ihrem Entwurf begann, die Entwicklung der Wissenschaften und ihre sich parallel ändernden praktischen Fachgebiete, etwa die Medizin, beeinflusst. Denken heißt aber nunmehr für Heidegger, sich von Descartes’ Einfluss zu befreien. Heidegger deutet in den Zollikoner Seminaren (im Seminar vom 6. und 8. Juli 1965) Descartes’ Werk hinsichtlich der Frage der Leiblichkeit. Zwar zieht Heidegger auch zusätzliche Themen in Betracht (z. B. das Thema des Zweifels, der Wissenschaft, der Methode), doch bleibt sein Ausgangspunkt die Leiblichkeit. Denn schlussendlich füh ren all diese Themen laut Heidegger zur Frage nach der Leiblichkeit und werfen auf diese ein Licht. Ich werde zeigen, inwiefern das Thema der Leiblichkeit bei Descartes schon vorkommt, und zwar vor dem Hintergrund von Heideggers an Descartes gerich tete Kritik, nach der Descartes die moderne Wissenschaft gründe und dabei ein bestimmtes Verhältnis zum Seienden aufstelle. Descartes’ Denken nimmt im Rahmen der Zollikoner Seminare einen bemerkenswerten Platz ein, insofern als Descartes in Frankreich als Wegbereiter der Psychoanalyse bezeichnet wird, etwa von Geneviève Rodis-Lewis, die die Problematik des Unbewussten bei Descartes herausarbeitete. Sie zeigte, wie Descartes alle Feinheiten des subjektiven Erlebnisses von den versteckten Neigungen bis zum reflexiven Bewusstsein berücksichtigt. Rodis-Lewis deutete das Unbewusste jedoch in Wechselwirkung mit dem Bewusstsein, d.h. nicht als bloße Hypostase. Für sie ist das Unbewusste flexibel. Tatsächlich wird Unbewusstes in gewis ser Weise bewusst, sobald man seiner gewahr wird.2 Diese Deutung beeinflusste den Phänomenologen Jean-Luc Marion.3 Sein Werk ist diesbezüglich besonders relevant, wenn es darum geht, die Frage nach der Leiblichkeit aufzuwerfen, und am interessan 1 2 3
Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, Frankfurt am Main 2006, 134. Vgl. Geneviève Rodis-Lewis, Le problème de l’inconscient et le cartésianisme, Paris 1982, 37–94. Vgl. Jean-Luc Marion, Questions cartésiennes. Méthode et métaphysique, Paris 1991.
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testen scheint seine Analyse des Leibes bei Descartes sein.4 Zunächst werde ich auf Heideggers Deutung der cartesischen Gewissheit zu sprechen kommen, was mich zu einer Interpretation von Descartes’ Auffassung von Leiblichkeit führen wird. Zuallererst soll jedoch an die Stelle erinnert werden, in der Heidegger bereits 1927 Kritik an Descartes übt. Heidegger fragt in § 19 ff. von Sein und Zeit nach den Voraussetzungen der Ontologie der Welt bei Descartes. Interessant ist zu bemerken, dass Heidegger in diesem Teil von Sein und Zeit den Begriff »Welt« mehrmals in Ausführungszeichen verwendet, wie um die Ambivalenz, genauer gesagt das Problematische dieses Konzepts zu betonen. »Welt«5 erscheint bei Descartes als ein hinterfragbarer Begriff, zumal es zumeist um das Verhältnis des Subjektes zu den Dingen (res)6 geht. Daher sieht Heidegger in Descartes den Begründer der Unterscheidung des ego cogito von der res corporea: »Diese Unterscheidung bestimmt künftig ontologisch die von ›Natur und Geist‹.«7 Dieser Dualismus hat also seine Wurzeln in Descartes’ Unterscheidung beider Seinsmodi. Für Heidegger vermag Descartes nicht, »das in der Sinnlichkeit sich Zei gende in seiner eigenen Seinsart sich vorgeben zu lassen«,8 indem Descartes den Sinnen jedes Vermögen verweigert, uns über Seiendes in seinem Sein Aufschluss zu geben (vgl. Principia philosophiae [1644]); im Übrigen wurde die Möglichkeit der Fehlbarkeit der Sinne schon in der ersten Meditation [1641] angedeutet, dort bezüglich des methodi schen Zweifels). Heidegger schreibt: […] welche Seinsart des Daseins wird als die angemessene Zugangsart zu dem Seienden fixiert, mit dessen Sein als extensio Descartes das Sein der »Welt« gleichsetzt? Der einzige und echte Zugang zu diesem Seienden ist das Erkennen, die intellectio, und zwar im Sinne der mathematisch-physikalischen Erkenntnis. Die mathematische Erkenntnis gilt als diejenige Erfassungsart von Seiendem, die der sicheren Habe des Seins des in ihr erfassten Seienden jederzeit gewiss sein kann.9
Oder des Körpers. Ich werde später auf die Schwierigkeiten der Übersetzung des Begriffs »chair« genauer eingehen. 5 Heideggers Gebrauch des Begriffs »Welt«, um Descartes’ Ontologie zu bezeichnen, bleibt rätselhaft, weil Descartes auf diesen Begriff oft auf wissenschaftlichem Hintergrund zurückgreift. Vgl. Alfred Fouillée, »Le système du monde selon Descartes et selon la science contemporaine«, in: Revue des deux mondes 110 (1892), 759–790. Descartes gebraucht das Wort »mundus« (»Welt«) etwa in der 2. Meditation: »Sed mihi persuasi, nihil plane esse in mundo, nullum coelum, nullam terram, nullas mentes, nulla corpora, nonne igitur etiam me non esse?« (René Descartes, Meditationes des prima philosophia, Leipzig 1913, 18). Jedoch ist nicht unbedingt klar, ob dieses Wort als eigenständiger Begriff herangezogen wird oder ob »mundus« in diesem Zusammenhang rhetorisch gebraucht wird, zumal es in der 2. Meditation darum geht, alles Mögliche in Frage zu stellen: »Mundus« steht hier für alles Seiende, dessen Existenz von Descartes in seinem methodischen Zweifel geleugnet wurde. 6 René Descartes, Meditationes de prima philosophia, 74. 7 Martin Heidegger, Sein und Zeit, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 2), Frankfurt am Main 1977, § 19, 120. 8 Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 21, 130. 9 Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 21, 128. 4
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Heideggers problematisches Verhältnis zu Descartes’ Methode
1. Eine »Art von Wahrheit«10. Descartes und die Gewissheit Heidegger sieht also in Descartes den Vorläufer der modernen Wissenschaft. Er schreibt: Im Anspruch der so [vom Cartesianismus] angesetzten neuzeitlichen Wissenschaft spricht eine Diktatur des Geistes, die den Geist selbst zu einem Operator der Berechenbarkeit herabsetzt und sein Denken nur noch als Hantieren mit operativen Begriffen und Modellvor stellungen und Vorstellungsmodellen gelten lässt, nicht nur gelten lässt, sondern in einer ungeheuerlichen Verblendung das in dieser Wissenschaft herrschende Bewusstsein sogar als das kritische Bewusstsein auszugeben wagt.11
Heidegger hat sich im Vorangehenden auf die Regulae ad directionem ingenii berufen und die Evidenz des Bewusstseins, des ego cogito, und die Evidenz des Mathematischen quasi gleichgesetzt. Diese Evidenz, die Heidegger an dieser Stelle mit der Gewissheit in Verbindung bringt (»die Evidenz und Gewissheit«,12 schreibt er, mehrmals die 3. Regula zitierend [»evidentia et certitudo«], als seien beide Begriffe gleichbedeutend; diese Gleichstellung könnte man an anderer Stelle untersuchen). Jedenfalls wird intuitus zugleich erkenntnistheoretisch und epistemologisch gedeutet. Kann man sich jedoch mit dieser Interpretation begnügen? Untersuchen wir erst einmal die Rolle des ego cogito. In dieser Passage beruft sich Heidegger auf die 3. Regula, in der allerdings nicht die Rede vom cogito ist, zumindest nicht im Sinne der Argumentation der 2. Meditation. Descartes greift auf den Begriff intuitus (Intuition) zurück. Intuitus bedeutet für Descartes: »mentis purae & attentae tam facilem conceptum, ut de eo, quod intelligimus, nulla prorsus dubitatio relinquatur« (»eine so einfache und so deutliche Vorstellung eines reinen und aufmerksamen Geistes, dass kein Zweifel mehr besteht in Bezug auf das Verstandene«13). Ein Beispiel für Descartes ist das intuitive Verständnis, dass ein Dreieck von drei geraden Linien begrenzt wird, ein Beispiel aus der Geometrie also. Ein anderes Beispiel ist: »[…] intueri, se existere, se cogitare« (jeder kann »die Intuition haben, dass er existiert, dass er denkt«14); dies ist ein sich auf mein Selbstbewusstsein beziehendes erkenntnistheoretisches Beispiel. Soweit ist alles klar. Doch stellt sich ein Problem: Sind letztere Beispiele gleichzusetzen mit dem cogito ergo sum des Discours de la méthode und mit dem ego sum, ego existo der 2. Meditation? In der Meditation erfolgt eine Argumentationskette, die an einer Stelle auf eine Gewissheit stößt: Der Leser kann, wenn er dieselbe Denkweise nachvollzieht, das Ergebnis, d. h. die Wahrheit des Satzes ego cogito, ego existo, nachvollziehen und annehmen, auch wenn der Satz »quoties a me profertur, vel mente concipitur, necessario esse verum« (»zwangsläufig wahr
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Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 139. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 139. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 138. René Descartes, Regulae ad directionem ingenii, Paris 1959, 42. René Descartes, Regulae ad directionem ingenii, 43.
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ist, jedes Mal wenn ich ihn ausspreche oder ihn mir in meinem Geist vorstelle«15) diese Schlussfolgerung umrahmt. Dieser Satz erweist sich als wahr nur unter Bedingung einer streng durchgeführten Argumentationskette: »adeo ut omnibus satis superque pensitatis denique statuendum (…)16“, und zwar wenn die sich entdeckende res cogitans schon rational an allem Möglichen gezweifelt hat. Die Intuition wird danach gültig und ist also paradoxerweise sozusagen eine durchgedachte Intuition. Dagegen ist der in der 3. Regula erwähnte Einblick unmittelbar, d. h. es besteht nicht die Bedingung, dass dem intuitus eine Argumentation vorangestellt wird. Das als wahr bewiesene Ergebnis, dass ich existiere, ist also in der 3. Regula und in der 2. Meditation identisch; doch zum einen beschränkt sich die Wahrheit in der Regula als intuitus auf das Faktum meiner Existenz, zum anderen betrifft die Wahrheit der Meditatio erstens die Tatsache, dass ich existiere, zweitens die Rechtfertigung dieser Gewissheit. Heidegger schreibt: »Wahrheit heißt hier also nicht Offenbarkeit des unmittelba ren Anwesenden; die Wahrheit ist gekennzeichnet als das, was für das vorstellende Ich klar und einleuchtend, unbezweifelbar sicher, d. h. als gewiss festgestellt werden kann.«17 Diese Gewissheit betrifft also das cogito. Heidegger gebraucht jedoch den Ausdruck »Evidenz und Gewissheit« und bezieht sich dabei auf die 3. Regula, womit er klarstellen will, dass das Mathematische »von der gleichen Evidenz und Gewissheit« als der des cogito ist.18 In der Analyse beider Ebenen wurde jedoch festgestellt, dass die Gewissheit des cogito nicht mit dem intuitus der 3. Regula zu verwechseln ist. Dies ist für Heidegger ein entscheidender Schritt für seine Kritik an Descartes, in dem er den Begründer der modernen Wissenschaft sieht. Schon 1950 hatte Heidegger diese scharf kritisiert: Das in seinem Bezirk, dem der Gegenstände, zwingende Wissen der Wissenschaft hat die Dinge als Dinge schon vernichtet, längst bevor die Atombombe explodierte. Deren Explosion ist nur die gröbste aller groben Bestätigungen der langher schon geschehenen Vernichtung des Dinges: dessen, dass das Ding als Ding nichtig bleibt. Die Dingheit des Dinges bleibt verborgen, vergessen. Das Wesen des Dinges kommt nie zum Vorschein, d. h. zur Sprache. Dies meint die Rede von der Vernichtung des Dinges als Ding. Die Vernichtung ist deshalb so unheimlich, weil sie eine Zwiefache Verblendung vor sich her trägt: einmal die Meinung, dass die Wissenschaft allem übrigen Erfahren voraus das Wirkliche in seiner Wirklichkeit treffe, zum andern den Anschein, als ob, unbeschadet der wissenschaftlichen Erforschung des Wirklichen, die Dinge gleichwohl Dinge sein könnten, was voraussetzte, dass sie überhaupt je schon wesende Dinge waren.19 René Descartes, Meditationes de prima philosophia, 18. René Descartes, Meditationes de prima philosophia, 18. 17 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 137. 18 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 138. 19 Martin Heidegger, »Das Ding«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 7), Frankfurt am Main 2000, 165–187, 172. Vgl. auch Martin Heidegger, »Gelassenheit«, in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, hrsg. von Hermann Heidegger (GA 16), Frankfurt am Main 2000, 517–529, 522: »Man nennt das jetzt beginnende Zeitalter neuerdings das Atomzeitalter. Sein aufdringlichstes Kennzeichen ist die Atombombe. Aber dieses Zeichen ist nur ein vordergründiges. Denn 15
16
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Heideggers problematisches Verhältnis zu Descartes’ Methode
Descartes wird hier nicht namentlich erwähnt, doch kann dieser Auszug mit Heideggers Interpretation von 1965 (Zollikoner Seminare) in Verbindung gebracht werden. Heidegger deutet die Atombombe als Symptom des durch Descartes möglich geworde nen Ansatzes: Das Seiende wird als Ding vernichtet. In den Zollikoner Seminaren zitiert Heidegger die allgemein bekannte Formulierung aus dem Discours de la méthode (für Heidegger Descartes’ »grundlegende Schrift«20), von Heidegger übersetzt in folgender Weise: »uns zu Meistern über die Natur und zu Besitzern, Inhabern der Natur zu machen.«21 Der Originaltext lautet jedoch: »nous rendre comme maîtres et possesseurs de la nature.«22 Das Wort »comme« ist hier problematisch. Es bedeutet zumindest, dass wir nicht stricto sensu zu Meistern, Besitzern oder Inhabern der Natur werden.23 Bemerkenswert ist ebenfalls, dass Heidegger nicht konsequent übersetzt: Er schlägt als Übersetzung für possesseurs zwei Begriffe (»Besitzer« und »Inhaber«) vor, wobei Descartes nur ein Wort gebraucht. Heidegger verstärkt also die Idee des Besitzens, um seine These über den Cartesianismus zu untermauern, nämlich dass Descartes die Natur als berechenbar bestimme. Heidegger schreibt: »Die Methode der neuartigen, das heißt der neuzeitlichen Wissenschaft besteht darin, die Berechenbarkeit der Natur sicherzustellen.«24 Diese Berechenbarkeit entspricht einer gewissen Art, an Dinge heranzugehen, Dinge zu betrachten. Heidegger beruft sich dabei auf die 4. Regula: »Notwendig ist die Methode, um der Wahrheit der Dinge auf die Spur zu kommen.« Das Entscheidende liegt für Heidegger in der Formulierung »Wahrheit der Dinge« (veritas rerum): Laut Heidegger werden die Dinge für Descartes zu Gegenständen und die res zu objecta; dies ist der gleiche Ansatz wie in der modernen Wissenschaft. Diese Kritik entspricht dem im Vorangehenden zitierten Passus der Vorlesung »Das Ding«, in dem Heidegger die Vernichtung des Dinges als Ding feststellt. Es handelt sich zunächst um eine erkenntnistheoretische Vernichtung, doch Heideggers übersetztes Zitat aus dem Discours de la méthode sowie die Erwähnung der Atombombe in der Vorlesung »Das Ding« geben dieser Vernichtung eine konkrete, verwirklichte, geschichtliche Bedeutung. Vielleicht sollte jedoch hier nuanciert werden. Im 6. Teil des Discours de la méthode liest man nämlich, dass das »nous rendre comme maîtres et possesseurs de la nature« kein Selbstzweck sei, sondern andere Ziele verfolge. Descartes schreibt: man erkannte sogleich, dass die Atomenergie sich auch für friedliche Zwecke nutzbar machen lässt. Darum sind heute die Atomphysik und deren Techniker überall dabei, die friedliche Nutzung der Atomenergie in weitausgreifenden Planungen zu verwirklichen. Die großen Industriekonzerne der maßgebenden Länder, an der Spitze England, haben bereits ausgerechnet, dass die Atom-energie ein riesenhaftes Geschäft werden kann. Man erblickt im Atomgeschäft das neue Glück. Die Atomwissenschaft steht nicht abseits. Sie verkündet öffentlich dieses Glück.« 20 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 135. 21 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 136. 22 René Descartes, Discours de la méthode in: ders., Œuvres et lettres, 6. Teil, Paris 1952, 168. 23 Kirchmann übersetzt wie folgt: »uns so zu dem Herrn und Meister der Natur machen« (René Descartes’ phi losophische Werke, übersetzt, erläutert und mit einer Lebensbeschreibung des Descartes versehen, hrsg. Julius Hermann Kirchmann, Berlin 1870, 70). 24 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 136.
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Man soll nicht bloß danach streben, um unendlich Vieles zu erfinden, was ermöglichen würde, dass man die Früchte der Erde und all den sich auf ihr befindenden Komfort ohne jegliche Mühe genießt, sondern auch hauptsächlich zur Erhaltung der Gesundheit, die sicher das höchste Gut (le premier bien25) und die Grundlage für alle anderen (et le fondement de tous les autres biens de cette vie), denn selbst der Geist hängt so stark vom Temperament und von der Anordnung der Körperorgane ab, dass ich denke, dass, wenn es möglich ist, irgendein Mittel zu finden, um die Menschen allgemein weiser und geschickter werden zu lassen, als sie bis jetzt waren, man ihn in der Medizin finden soll.26
Der Zweck ist für Descartes also nicht, mittels der Wissenschaft eine absolute Kontrolle über die Natur zu haben, sondern den Menschen etwas Besseres bieten zu können. Zwar erwähnt Descartes auch einen gewissen Genuss (»[…] d’artifices qui feraient qu’on jouirait sans aucune peine des fruits de la terre et de toutes les commodités qui s’y trouvent«; »Verfahrungsweisen […], die uns die Früchte und Behaglichkeiten der Erde ohne Mühe gewähren würden«), was als Streben nach Überlegenheit gedeutet werden kann, doch Descartes’ Argumentation konzentriert sich mittels der logischen Verbindung »mais principalement aussi« (»sondern auch hauptsächlich«27) auf das Folgende, d.h. auf ein humanistisches Ziel, nämlich die Erhaltung der Gesundheit. Berufen wir uns dabei auf das Vorwort der französischen Ausgabe der Principia philosophiae: So ist die ganze Philosophie wie ein Baum, dessen Wurzeln der Metaphysik, dessen Stamm der Physik und dessen aus diesem Stamm wachsende Äste allen anderen Wissenschaften entsprechen, von denen es drei Hauptwissenschaften gibt: die Medizin, die Mechanik und die Moral, worunter ich die höchste und denkbar beste Moral verstehe, die eine vollkommene Kenntnis der anderen Wissenschaften voraussetzt und dabei die höchste Stufe der Weisheit ist.28
Descartes misst der Medizin also durchgehend Bedeutung bei. Interessant ist der Stellenwert, den die Moral einnimmt: Die Moral, die Descartes fordert, hängt von der Kenntnis der anderen Wissenschaften ab und führt zu vollendeter Weisheit. Die »höchste Stufe der Weisheit« (»le dernier degré de la sagesse«) ergibt sich also aus der Moral, die selber nicht ohne die Beherrschung der anderen Wissenschaften möglich ist.29 Die Frage ist nun, von welcher Weisheit die Rede ist. Die Tatsache, dass die höchste Weisheit mittelbar aus den Wissenschaften folgt, wird in den Regulae ad directionem ingenii verstärkt. Oder vielleicht bedeutet vielmehr das, was man in der 1. Regula lesen kann, nicht dasselbe wie der Inhalt des Vorwortes der Principia. Descartes schreibt nämlich in der 1. Regel: »Denn, da alle Wissenschaften nichts Anderes sind, als die menschliche Weisheit (humana sapientia), die stets ein- und dieselbe bleibt, egal, wie Es gilt hier, auf die Ambivalenz von »bien« (als Substantiv und als Adjektiv) zu verweisen. Ich berufe mich auf Kirchmanns Übersetzung. 26 René Descartes, Discours de la méthode, 6. Teil, 168–169. 27 Kirchmann berücksichtigt diese Nuance nicht. 28 René Descartes, »Principes de la philosophie, lettre-préface«, in: ders., Œuvres et lettres, Paris 1952, 566. 29 Michel Henry macht ebenfalls auf die bedeutende Rolle der Moral aufmerksam, aber er bemerkt, dass Descartes das Verhältnis zwischen Moral und Wissenschaft nicht genügend erläutert (Michel Henry, »Descartes et la question de la technique«, in: ders., Phénoménologie de la vie, Bd. V, Paris 2015, 45–60, 59). 25
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Heideggers problematisches Verhältnis zu Descartes’ Methode
unterschiedlich die Themen/Fragen (subjectis) sind, mit denen sie sich befasst […].«30 Die Wissenschaften sind in ihrer Verschiedenheit die Weisheit und nichts anderes. Entspricht diese These den in den Principia enthaltenen Äußerungen? Entscheidend ist jedenfalls, dass Descartes als Begründer der modernen Wissen schaft nicht so negativ erscheint, wie Heidegger dies darstellt (wenn der Ansatz der modernen Wissenschaft überhaupt von vornherein als negativ gedeutet werden kann). Heideggers Interpretation, nach der die Dinge (res) von Descartes als Gegenstände (objecta) aufgefasst werden, scheint jedoch tief eingewurzelt zu sein. Tatsächlich liest man in Georges Le Roys erstmals 1932 erschienener französischer Übersetzung31 der 1. Regel das Wort »objets«, um »subjectis« zu übersetzen: »Objets« bestimmt »subjec tis« in der Hinsicht der Gegenständlichkeit, die für Heidegger ein Grundzug der carte sischen Philosophie ist. Selbst wenn Descartes öfters auf den Begriff objecta zurück greift, ist »subjectis« offener und beschränkt das, womit sich die Wissenschaften befassen, nicht auf die reine Gegenständlichkeit. Der springende Punkt ist jedoch, dass Heidegger in den Zollikoner Seminaren schreibt, die Dinge sollten laut Descartes »nur als Gegenstände in Betracht genommen« werden.32 Wie geht die Wissenschaft an diese Gegenständlichkeit heran? Indem sie fragt, wie die Wahrheit zum Vorschein gebracht werden kann: »Wahrheit, d. h. wahrhaft, d. h. gewiss seiend kann am Körper nur sein, was nach dem Sinn der mathematischen Evidenz an ihm berechenbar ist, nämlich die extensio.«33 Schon 1927 hatte Heideggers Analyse des Cartesianismus auf die Bestim mung der Welt als extensio fokussiert.34 § 44 b) und c) von Sein und Zeit deuten die Wahrheit als ursprünglichere Daseinsstruktur, wonach das Dasein durch seine Erschlossenheit »in der Wahrheit ist«. »In welchem ontisch-ontologischen Zusam menhang steht ›Wahrheit‹ mit dem Dasein und dessen ontischer Bestimmtheit, die wir Seinsverständnis nennen?«,35 fragt Heidegger in § 44. Laut Heidegger verfehlt Des cartes also die eigentliche Bedeutung der Wahrheit und versteht diese als Gewissheit des erkennenden Subjekts über die res als objecta; zudem weist er der Suche nach der Wahrheit ein Paradigma zu, und zwar die Beweisführungen der Arithmetik und der Geometrie.36 Kommen wir jedoch auf die 1. Regula zurück, in der Descartes die Wis senschaften als »sagesse humaine« (»menschliche Weisheit«) bezeichnet. Descartes stellt einen Vergleich an: Die Weisheit »erfährt genauso wenige Änderungen von diesen differentibus subjectis wie das Sonnenlicht (Solis lumen) von der Vielfalt der Dinge (rerum), die es beleuchtet (illustrat)«.37 Was lehrt uns dieser Vergleich? Dass die Weis heit als Beständigkeit, als sich in der Zeit kontinuierlich erstreckende Tugend aufgefasst wird. Descartes versucht in der 1. Regel klarzustellen, dass auf die Wissenschaften nicht einzeln eingegangen werden soll, dass sie vielmehr in Verbindung mit der »universali 30 31 32 33 34 35 36 37
René Descartes, Regulae ad directionem ingenii, 1. Regel, 34. René Descartes, Œuvres et lettres, 37. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 137. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 140. Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 19. Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 44, 283. Vgl. René Descartes, Regulae ad directionem ingenii, 2. Regel. René Descartes, Regulae ad directionem ingenii, 34.
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Sapientia« (»universellen Weisheit«, die auch als »gesunder Menschenverstand« [bona mens] bezeichnet wird) studiert werden sollen. Es scheint also, dass Descartes’ Ansatz nicht bloßer Berechenbarkeit entspricht, und in den Zollikoner Seminaren erwähnt Heidegger dieses Streben nach Weisheit nicht. Zudem werden im Satz, in dem der Vergleich mit dem Sonnenlicht angestellt wird, keine objecta erwähnt, sondern: 1) sub jectis (differentibus subjectis), 2) res (rerum). Insofern beleuchtet die Weisheit keine Gegenstände, sondern res, also Dinge, wobei die »Dingheit der Dinge«, um Heideggers eigenen Ausdruck zu verwenden, womöglich bewahrt werden kann. Heidegger könnte jedoch antworten, das Licht dieser Weisheit beleuchte die res, gerade um sie als objecta aufzufassen: Das Licht der Weisheit sei also ein Mittel, um eine Vergegenständlichung in Gang zu setzen, d. h. die Beleuchtung sei eigentlich eine Abdeckung, im genauen Gegensatz zur ἀλήθεια. Diese Beleuchtung kann aber ebenfalls als eine Weise gedeutet werden, die res in gewisser Weise klarer werden zu lassen, das Ding also nicht zu ver nichten, sondern unter einem anderen Licht sehen zu können.
2. Descartes’ Formulierung der Leiblichkeit Der Zusammenhang zwischen der von Heidegger dargestellten cartesischen Philoso phie als Vergegenständlichung und der Frage der Leiblichkeit wird in den Zollikoner Seminaren ausführlich erklärt. Heideggers Kritik an Descartes findet sich im erwähnten Werk gleich nach einer entscheidenden Stelle, das Verhältnis zwischen dem Leibphä nomen und der Methode betreffend. Heidegger schreibt: »Die Zugangsweise zum Somatischen, das Messen, und die Zugangsweise zum Psychischen, das nichtmessende intuitive Erfühlen, betreffen offensichtlich das, was man Methode nennt.«38 Methode bedeutet »der Weg, der zu einer Sache, zu einem Sachgebiet hinführt, der Weg (ὁδός), auf dem wir einer Sache nachgehen«.39 Wie wird dieser Weg bestimmt? Diese Verhältnisse hängen von der Seinsart des Seienden ab, das Thema werden soll, insgleichen von der Art der möglichen Wege, die in den betreffenden Bereich des Seienden führen sollen. Damit zeigt sich ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Frage nach der Messbarkeit als solcher und der Frage nach der Methode.40
Nun wissen wir, wie Heidegger den Cartesianismus in dieser Hinsicht deutet. Heideggers These besagt, dass das »Leibphänomen sich der Messbarkeit« widersetze. Der Leib ist also nicht das messbare Somatische und bedarf einer anderen Methode. Heidegger unterscheidet Leib und Körper. Der Leib ist die Seinsart eines erlebenden Ichs, Körper dagegen sind vorhanden (sie sind auch zuhanden, aber es geht bis jetzt darum, die in den Zollikoner Seminaren vertretene Ansicht zu verdeutlichen). Heidegger möchte den Ausdruck »mit Leib und Seele bei etwas sein« erörtern. Er schreibt: »Bei unserer Frage nehme ich zuerst den Leib als Körper, der auf dem Stuhl vorhanden 38 39 40
Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 132. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 132. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 132.
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Heideggers problematisches Verhältnis zu Descartes’ Methode
ist. In Wirklichkeit aber sitze ich auf dem Stuhl. Das ist etwas ganz anderes als das Vorhandensein von einem Körper auf einem anderen.«41 Hier ist Jean-Luc Marions Werk Über Descartes’ passives Denken für mich besonders aufschlussreich. Marion analysiert erst einmal, wie Descartes zur Unterscheidung zwischen beliebigen Körpern und seinem eigenen kommt. Es stellt sich aber auch die Frage, in welcher Reihenfolge diese beiden Arten von Körper mir als gewiss seiend erscheinen. Die Antwort findet sich in der 6. Meditation: Und ich kann mir leicht vorstellen, dass es möglich ist, dass, wenn es irgendeinen Körper (corpus) gibt, der mit meinem Geist verwoben und an ihn gebunden ist, sodass mein Geist ihn jederzeit betrachten kann, er sich dadurch das Körperliche (res corporeas) vorstellt (ima ginet).42
Es gibt also einen Körper, an dessen Existenz man nicht lange zu zweifeln vermag, nämlich den meinen. Ich kann mir der Existenz meines Körpers sicher sein, weil dieser Körper für die Ausübung der Vorstellung, also eines Modus’ des Denkens vorausgesetzt wird. Diesen Körper gibt es insofern als es mein Denken gibt: In seinem Kommentar bezeichnet Marion dies als »immaterielle Extraterritorialität« (extra-ter ritorialité immatérielle),43 die die Existenz meines Körpers bezeugt. Für Marion ist der Gebrauch des Begriffes »Körper« (corpus) problematisch: Es geht hier nicht um die Unterscheidung vom Körper im Allgemeinen (als extensio) und dem Geist (als Denken), sondern vielmehr um zwei Bedeutungen des Körpers. Descartes schreibt in der 6. Meditation: Ich dachte auch nicht ohne Grund, dass dieser Körper, den ich durch ein gewisses besonderes Recht den meinen nannte (corpus illud, quod speciali quodam jure meum appellabam), mir eigentlicher gehörte/mir eigentlicher zukam (magis ad me pertinere) als alles Andere.44
Was Descartes beschreibt, ist also nicht ein beliebiger Körper, sondern mein Körper, meum corpus, der Körper, der ich bin und der ich bin. Die anderen, verbleibenden Körper (reliqua corpora) werden auf der Grundlage meines eigenen Körpers erfasst. Die carte sische Unterscheidung zwischen mens und Körper (die Heidegger in § 19 von Sein und Zeit als den von Descartes durch die Unterscheidung von ego cogito und res corporeas eingeführten Dualismus in Erwägung zieht45) führt Marion zurück auf eine ursprüng lichere Unterscheidung, die zwischen der materiellen Welt und dem Körper als Leib, den Marion »mon corps de chair« nennt.46 Ich will hier auf zwei Punkte näher eingehen, die beide Descartes’ (anachronistisches) Verhältnis zur Phänomenologie betreffen und zeigen, inwiefern Descartes als Vorreiter der phänomenologischen Konzeptualisierung
41 42 43 44 45 46
Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 125. René Descartes, Meditationes de prima philosophia, 90. Jean-Luc Marion, Sur la pensée passive de Descartes, Paris 2013, 60. René Descartes, Meditationes de prima philosophia, 94. Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 19. Jean-Luc Marion, Sur la pensée passive de Descartes, 61.
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gelten kann. Schon Marion bezeichnete ihn ja als »Phänomenologen, der nicht weiß, dass er einer ist«.47 a) Marion führt in seiner Deutung der cartesischen Philosophie einen neuen Begriff ein: la chair, der Leib. In der Geschichte der Phänomenologie entspricht dieses Konzept dem Unterschied zwischen dem objektiven und dem erlebten Körper. Heidegger behält in den Zollikoner Seminaren den Begriff »Leib« bei. Husserl hatte das Erleben des meum corpus um die Intersubjektivität erweitert: In § 50 der Cartesianischen Meditationen beschreibt Husserl das Verfahren der »analogischen Apperzeption«.48 Interessant ist, dass der Körper des Anderen mich an das Erleben meines eigenen Leibes erinnert. Husserl fügt hinzu, dass es bei dieser analogischen Apperzeption weder um einen »Schluss« noch um einen »Denkakt« geht, indem die Apperzeption auf die »Urstiftung« zurückführt. Wir befinden uns vor einer neuen Art von intuitus, sofern es sich um eine Evidenz handelt, die aber wenig mit der von Heidegger analysierten cartesischen abso luten Gewissheit zu tun hat. Also führt die Analyse der Fremderfahrung dazu, den menschlichen Körper nicht mehr als extensio aufzufassen, sondern eben als Leib, und Merleau-Ponty scheint mit seinem Begriff des »corps propre«49 Descartes’ Formulierung meum corpus fast wortwörtlich zu gebrauchen. Doch wird das Erleben des Leibes in den Cartesianischen Meditationen zum Großteil eben hinsichtlich der Fremderfahrung beschrieben. Was uns bei Descartes interessiert, ist hauptsächlich die Beschreibung des Leibes, insofern er mein eigener ist bzw. unabhängig vom anderen Menschen. Diese Art von Gewissheit über mich selbst kann ich nämlich nur mittels einer durch mich selbst erfolgenden Erkenntnis erlangen. Daher hat sich etwas früher als Marion der Phäno menologe Michel Henry mit der Frage des Leibes (»chair«) befasst und den Leib vom objektiven Körper (»corps objectif«50) unterschieden. Der Leib wird von Michel Henry als »auto-impressionnalité«, also als Einwirkung auf das eigenste Selbst (αὐτός) gedeu tet; Das »Ich kann« entfaltet (déploie) seinen organischen Körper (corps organique), der noch reine Subjektivität ist und gegen den beständigen Inhalt stößt, der die Welt ist, sofern sie aus dem Inneren erreicht wird, eine Welt, in der es noch keine Welt gibt […], aber all dies wird von außen als Körper gesehen, der nimmt, der anfasst, usw.51
Die Leiblichkeit wird von Henry als corporéité, d.h. als Körperlichkeit bezeichnet, und diese Körperlichkeit ist eben nicht die bloß materielle Welt, sondern die Welt, die vom 47 »Un phénoménologue qui s’ignore« (Jean-Luc Marion, Sur la pensée passive de Descartes, 92). Vgl. Michel Henry: »Die wesentliche Bedeutung der cartesischen Reduktion ist eine Phänomenologische« (Michel Henry, »Descartes et la question de la technique«, 48). 48 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, § 50, Hamburg 2012, 110: »Es ist von vornherein klar, dass nur eine innerhalb meiner Primordialsphäre jenen Körper dort mit meinem Körper verbindende Ähnlichkeit das Motivationsfundament für die,analogisierende‘ Auffassung des ersteren als anderer Leib abgeben kann.« 49 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris 1945. 50 Virginie Caruana, »Entretien avec Michel Henry«, in: Philosophique 3 (2000), 69–80. 51 Virginie Caruana, »Entretien avec Michel Henry«. Vgl. Michel Henry, Incarnation, Paris 2000, 144: »[…] dieser Körper offenbart sich in der immanenten und pathetischen Einwirkung auf das eigenste Selbst (auto-impressionnalité), und in diesem Falle ist er ein Leib (chair) […].«
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Heideggers problematisches Verhältnis zu Descartes’ Methode
Leib aus erfahren und erlebt, beinahe er-leibt wird. Die Frage der Leiblichkeit führt in Marions Kommentar zu einer Analyse des Denkens, aber eines besonderen Denkens: Es ist nicht schwierig einzusehen, dass die Vorstellung und die Wahrnehmung des Sinnlichen (facultés d’imaginer et de sentir) im Bereich der Seele stattfinden, da sie eine Art von Gedanken sind (des espèces de pensées); und dass sie sich jedoch nur im Bereich der Seele befinden, sofern diese mit dem Körper verknüpft ist, weil die Vorstellung und die Sinne eine besondere Art von Gedanken (des sortes de pensées) sind, ohne die man die Seele nicht ganz rein denken kann,52
schreibt Descartes in einem Brief vom 19. Januar 1642 an Gibieuf. Für Marion stellt Descartes klar, dass das Empfinden (le sentir) über das doppelte Vermögen verfügt, das Sinnliche (sensible) und sich selbst zu denken, da das Empfinden passiv von einer äußerlichen Quelle zum Denken kommt, sodass das Empfinden nichts anderes emp finden kann, ohne sich dabei affektiert zu fühlen, also ohne sich selbst als effektive cogitatio zu empfinden.53 In der cogitatio als Empfinden »denkt das Denken den Körper, jedoch passiv, aus der Einwirkung des Körpers auf das Denken; so wird der Körperbegriff verdoppelt, zwischen der extensio, die auf das empfindende ego einwirkt, und diesem passiven ego als empfindendes.54“ Für Marion entspricht dieses sich passiv denkende ego dem phänomenologischen Begriff chair, d. h. dem »Leib«. Vertritt Descartes also in der Tat den Dualismus, der nach Heidegger von ihm ausgegangen sei? Es stellt sich heraus, dass Descartes das Leibphänomen beschreibt. Körper und Seele sind nicht bloß getrennt, zumal das Denken bei Descartes nicht nur einer einzigen Bestimmung bedarf, sondern der Körper kann, durch das passive Denken, empfinden und damit als Leib gedeutet werden. b) Der zweite Punkt betrifft Marions Gebrauch Heidegger'scher Begriffe bei der Deu tung von Descartes’ Werk. Marion führt die Zuhandenheit und die Vorhandenheit in Descartes’ System ein. Kommen wir zunächst auf J.-L. Marions Argumentation zurück: Im § 10 von Sur la pensée passive de Descartes (»In/commoda: le moment heidegge rien«55) analysiert Marion, wie der Leib für Descartes affektiert wird: Das Sinnliche besteht aus der Verbindung zwischen dem affektierten (affectus) Körper und dem Geist (mens), jedoch aus zwei verschiedenen Arten von Wahrnehmung (perceptiones), und zwar einerseits aus subjektiven (etwa Kälte oder Hunger) Wahrnehmungen, anderer seits aus Wahrnehmungen, die ich zwar subjektiv empfinde, die sich aber zugleich auf die Dinge beziehen (z. B. Farben oder Klänge). Es geht hier also um die Nähe meines Leibes zum Sinnlichen, um die Intensität meines Empfindens. J.-L. Marion zitiert an dieser Stelle § 71 des 1. Teils der Principia philosophiae, in dem Descartes commodo (»Behaglichkeit«) und incommodo (»Unbehaglichkeit«) unterscheidet.56 Die Unbehag lichkeit (etwa die vom Feuer ausgehende Hitze) entspricht dem vom Leib empfundenen René Descartes, Œuvres et lettres, 1139. Jean-Luc Marion, Sur la pensée passive de Descartes, 127. 54 Jean-Luc Marion, Sur la pensée passive de Descartes, 127. 55 Jean-Luc Marion, Sur la pensée passive de Descartes, 78–87. 56 René Descartes, »Principia Philosophiae«, in : ders., Œuvres de Descartes, hrsg. Charles Adam und Paul Tannery, Band 9.2, Paris 1974, 58. 52
53
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Schmerz; die Behaglichkeit (z. B. das vom Feuer ausgestrahlte Licht) entspricht dem von meinem Leib empfundenen Vergnügen. Je geeigneter oder schädlicher die Affek tion ist, desto stärker geht sie meinen Leib an. Dagegen kann das Denken, sofern sich die Behaglichkeit und die Unbehaglichkeit vermindern, mit etwas anderem als meinem Leib in Verbindung gebracht werden. Marion deutet dies folgendermaßen: Mein erster Zugang zu dem, was mich affektiert, entspricht dem Gebrauch (usage), und nicht der Kenntnis/Erkenntnis (connaissance); ich erlange einen theoretischen Zugang […] nur, indem ich meinen Eigennutzen, meine Sorge […] ausklammere (mets entre parenthèses).57
Kommen wir jetzt zum springenden Punkt: Marion bemüht sich damit, aufgrund dieser beiden Arten von Zugang eine Parallele zu Heideggers Unterscheidung von Vor- und Zuhandenheit zu ziehen, und dies ist, wie Marion es zugibt, besonders gewagt, da »Heidegger diese Terminologie in Sein und Zeit paradoxerweise gegen Descartes entworfen hat«,58 zumal Descartes laut Heidegger als erster das Ding auf die Beständigkeit der Substanz, den »ständigen Verbleib«59 reduziert und dabei die Zuhandenheit beseitigt haben soll. Laut Heidegger beschreibt Descartes jenes Seiende, »das wir als das zuhandene Zeug ontologisch charakterisieren«.60 Heidegger begründet dies folgendermaßen: Descartes hat doch den Grund gelegt für die ontologische Charakteristik des innerweltlichen Seienden, das in seinem Sein jedes andere Sein fundiert, der materiellen Natur. Auf ihr, der Fundamentalschicht, bauen sich die übrigen Schichten der innerweltlichen Wirklichkeit auf. Im ausgedehnten Ding als solchem gründen zunächst die Bestimmtheiten, die sich zwar als Qualitäten zeigen, »im Grunde« aber quantitative Modifikationen der Modi der extensio selbst sind. Auf diesen selbst noch reduziblen Qualitäten fußen dann die spezifischen Qualitäten wie schön, passend […], brauchbar (usw.); diese Qualitäten müssen in primärer Orientierung an der Dinglichkeit als nicht quantifizierbare Wertprädikate gefasst werden, durch die das zunächst nur materielle Ding zu einem Gut gestempelt wird.61
Dies kann mit dem § 71 des 1. Teils der Principia philosophiae in Verbindung gebracht werden: Commodo und incommodo entsprechen den »spezifischen Qualitäten«, und hier ist bemerkenswert, dass Heideggers Deutung der Rolle, die die extensio bei Des cartes spielt, von der in den Zollikoner Seminaren aufgestellten Interpretation abweicht. Sie erscheint bündiger als seine Analyse in Sein und Zeit. Erinnern wir uns an Heideggers Zusammenfassung in den Zollikoner Seminaren: »Wahrheit, d. h. wahrhaft, d. h. gewiss seiend kann am Körper nur sein, was nach dem Sinn der mathematischen Evidenz an ihm berechenbar ist, nämlich die extensio.«62 Dieser Satz bezieht sich auf eine erkenntnistheoretische Auffassung der Wahrheit, also eben auf einen Begriff, der mit der Methode, μέθοδος, zu tun hat, d. h. auf einen Aspekt, der als Leitfaden von Heideggers Interpretation von Descartes gelten kann. Doch die vorangehende Analyse 57 58 59 60 61 62
Jean-Luc Marion, Sur la pensée passive de Descartes, 81. Jean-Luc Marion, Sur la pensée passive de Descartes, 82. Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 19, 123. Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 21, 132. Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 21, 132. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 140.
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Heideggers problematisches Verhältnis zu Descartes’ Methode
zeigt, dass es bei Descartes nicht nur darum geht, diese auf einem wissenschaftlichen Paradigma basierende Gewissheit zu erlangen, sondern auch, das Verhältnis von meum corpus zur Welt zu beschreiben. Die extensio ist also eine Grundbestimmung der Welt; sie wird jedoch, sofern sie vom Leib erfahren wird, bereichert, indem das von der exten sio abhängige Seiende als Zuhandenheit bestimmt wird. Insofern bezeichnet die exten sio zwar etwas mathematisch Gewisses, ist aber nicht die Art und Weise, in der das erkennende und empfindende Subjekt an das Seiende letztendlich herangeht. Das Verhältnis zwischen Leiblichkeit und Methode führt Heidegger dazu, sich an die Ärzte zu wenden: Er möchte, dass sie anfangen zu denken (er spricht von »den kende[n] Ärzte[n]«), die es anscheinend noch nicht gibt, sofern sie dem neuzeitlichen wissenschaftlichen Denken unterworfen sind. Es ist aber klar, dass Descartes’ Analysen nicht unbedingt zu einer Deutung der Medizin als »Gestell« führen. Im 6. Teil des Discours de la méthode gebraucht Descartes den Ausdruck »des connaissances fort utiles à la vie«63 (»für das Leben sehr brauchbare Kenntnisse«), um das durch die Physik erlangte Wissen zu bezeichnen. Es geht hier also um Praktisches (»pratique«64), bzw. nicht um bloß Spekulatives. Es erübrigt sich jedoch die Frage, ob dieses Wissen den Körper, sofern dieser durch die Medizin geheilt werden kann, auf einen Gegenstand reduziert. Diese Interpretation kann vertreten werden, doch womöglich vernachlässigt sie das von Descartes erwähnte Ziel, nämlich die Weisheit (sagesse): Die Medizin ist also ein Mittel, um den Menschen ein besseres, vernünftigeres Verhältnis zur Welt zu bieten. Zudem ist dies kein Streben nach bloß Theoretischem, da »der Geist so erheblich (si fortement) vom Leib abhängt«. Diese Abhängigkeit verdeutlicht die Entdeckung der Leiblichkeit und entspricht auf diese Weise der Analyse des meum corpus, in der 6. Meditation: dieser Körper, »der mit meinem Geist verwoben und an ihn gebunden ist, sodass mein Geist ihn jederzeit betrachten kann«.65 Diese Verwebung zeigt also, dass der Leib als Leib, und nicht als ein beliebiger Körper, von der Medizin geheilt werden kann. Daher ermöglichen physikalische Prinzipien einen immer höheren Grad an Weisheit und erhalten oder bewahren den Leib als solchen. Bei Descartes ist das Denken also nicht »vernichtend«, und da es kein bloßes Mittel zur Vergegenständlichung ist, d. h. da das Denken kein bloßes Werkzeug ist, das dazu beiträgt, die Vorherrschaft der Wissenschaft zu verewigen, negiert es sich nicht selbst als Denken. »Weisheit« (sag esse) lässt sich folgendermaßen bestimmen: Sie dient zur Bewahrung des Seienden als Seienden, zur Bewährung des Denkens und zur Aufrechterhaltung des Leibes. Dies ist eine neue Art, die Wissenschaft denkend zu gebrauchen und dabei das Leibphänomen zu erleben.
63 64 65
René Descartes, Œuvres et lettres, 168. René Descartes, Œuvres et lettres, 168. René Descartes, Meditationes de prima philosophia, 90.
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Die ekstatische Leiblichkeit des Daseins als Existenzial. Die Bedeutung der Daseinsanalytik Heideggers für Medard Boss‘ Daseinsanalyse
1. Daseinsanalytik und Daseinsanalyse. Der Einfluss von Heideggers Philosophie auf den existenzialen Ansatz der Psychiatrie Im Jahr 1949 zieht Ludwig Binswanger (1881–1966) Bilanz und denkt über die Bedeu tung der Daseinsanalytik Heideggers für das Selbstverständnis der Psychiatrie als Wissenschaft nach.1 Damals argumentierte der Schweizer Psychiater, dass das Problem der psychosomatischen Zusammenhänge ein zentrales Problem gewesen sei, das die Psychiatrie zu einer Gründungskrise geführt habe. Deshalb war es wichtig zu klären, was das Psychosomatische sei, um die pathologischen Phänomene in diesem Bereich zu verstehen, wie etwa Halluzinationen, die typisch für das schizophrene Delirium sind. Der Unterschied zwischen Soma und Psyche war eine theoretische Voraussetzung der Medizin. Daraus folgte das Problem, wie zwei vermeintlich verschiedene Entitäten – das Psychische und das Somatische – zusammenhängen können und ob dieser Zusammenhang als unverbundene Gleichzeitigkeit oder Kausalität zwischen dem einen und dem anderen erklärt werden könne.2 Der Beitrag Binswangers entfaltete sich in der neuen postpositivistischen Psychi atrie, welche von Karl Jaspers (1883–1969) 1913 mit seinem Werk Allgemeine Psycho pathologie begründet wurde. Jaspers lehnte die These, dass die psychischen Störungen auf organische Faktoren zurückgeführt werden können, auf ein vorgeblich natürliches Substrat, um auf diese Weise eine naturwissenschaftliche Erklärung zu erreichen, ab.3 Die Daseinsanalytik in Heideggers Sein und Zeit (1927) bot für Binswanger eine Alternative zu den naturwissenschaftlichen Grundlagen der Psychiatrie. Die daseins gemäßen philosophischen Ausführungen führten zum Auftauchen der »Daseinsana lyse«,4 die von Binswanger im Jahr 1946 erstmals so bezeichnet wurde und deren 1 Ludwig Binswanger, »Die Bedeutung der Daseinsanalytik Martin Heideggers für das Selbstverständnis der Psychiatrie«, in: Carlos Astrada et al. (Hrsg.), Martin Heideggers Einfluß auf die Wissenschaften, Bern 1949, 58–72, 59. 2 Vgl. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, hrsg. von Medard Boss, Frankfurt am Main 2006, 292. 3 Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, Berlin 1920. 4 In seinem Vortrag, der 1951 unter dem Titel »Daseinsanalyse und Psychotherapie« veröffentlicht wird, in: Ludwig Binswanger, Vorträge und Aufsätze (= Ausgewählte Werke III), hrsg. von Max Herzog, Heidelberg 1994. Im Gegensatz zu Boss wird Heidegger jedoch Binswangers Interpretation der Daseinsanalytik
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Hauptvertreter er selbst und Medard Boss waren. Nach Binswangers Meinung hat die Daseinsanalytik Heideggers einen entscheidenden Einfluss auf die Psychiatrie, denn sie hat der psychopathologischen Forschung eine neue methodische Basis verliehen. Heidegger folgend behauptet Binswanger, dass das Sein des ganzen Menschen nicht als eine bloß leiblich-seelisch-geistige Einheit gedacht werden kann, denn diese Einheit »kann aus den überdies noch ganz ungeklärten Seinsarten von Leib, Seele, Geist nicht ›summativ verrechnet‹ werden«.5 Denn so sagt der deutsche Philosoph in seinem Hauptwerk: »Die ›Substanz‹ des Menschen ist nicht der Geist als die Synthese von Seele und Leib, sondern die Existenz.«6 Medard Boss (1903–1990) las Sein und Zeit während des Zweiten Weltkrieges und fand darin völlig neue Sichtweisen auf die menschliche Existenz. Dabei kam er auch zu dem Schluss, dass die Daseinsanalytik einen neuen Blickwinkel zu bieten hatte, von dem aus pathologische Phänomene im Kontext der Psychotherapie – wie die soge nannten psychosomatische Erkrankungen Schizophrenie oder Stress – interpretiert werden könnten. Boss hatte anfänglich die Absicht, die klinische Psychiatrie und die Psychoanalyse miteinander zu verbinden. In Psychoanalyse und Daseinsanalytik (1957) kritisierte er aber schließlich die Metapsychologie Freuds und seine mechanistische, energetische und positivistische Auffassung der Psyche, denn das Psychische fand für den Begründer der Psychoanalyse seinen endgültigen Grund in organischen Prozes sen.7 Boss begann seine Freundschaft und Arbeitsbeziehung mit Heidegger im Jahr 1947. Von 1959 bis 1969 organisierte er die Zollikoner Seminare.8 An diesen von Heidegger durchgeführten Seminaren nahmen Ärzte, Psychiater und Studierende der Klinischen Psychiatrie der Universität Zürich teil, an der Boss lehrte. Diese Seminare inspirierten das 1971 erschienene Hauptwerk von Boss Grundriss der Medizin und Psy chologie. Ansätze zu einer phänomenologischen Physiologie, Psychologie, Pathologie und Therapie und zu einer daseinsgemäβen Präventiv-Medizin. In ihm lässt der Psychiater seine ganze klinische und theoretische Erfahrung – sowohl in wissenschaftlicher als auch philosophischer Hinsicht – aus mehr als dreißig Jahren einfließen, in denen er in Kooperation mit Heidegger arbeitete, wobei jenen Seminaren ein besonderer Stellen wert zukommt. Im Seminar vom 11. Mai 1965 zeigen sie an, dass, um das Psychoso nicht akzeptieren, da Binswanger nach Auffasung des deutschen Philosophen den Menschen als Dasein aus der husserlianischen transzendentalen Phänomenologie interpretiert, nämlich aus der Bestimmung des Menschen »als Subjektivität und als transzendentales Ichbewusstsein« (Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 156). 5 Ludwig Binswanger, »Die Bedeutung der Daseinsanalytik Martin Heideggers für das Selbstverständnis der Psychiatrie«, 63, 58. 6 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977, 157. 7 Medard Boss, Psychoanalysis and Daseinsanalysis, New York/London 1963, 75–81. 8 Die Protokolle der zwanzig Sitzungen wurden – gemeinsam mit anderen Materialien wie Gesprächen (1961–1972) und Auszügen aus der Korrespondenz zwischen Heidegger und Boss (1947–1971) – von Boss editiert und 1987 veröffentlicht. Über die Zollikoner Seminare habe ich mich ausführlicher in meinem Aufsatz »Destrucción fenomenológica del concepto tradicional de ›psique‹ y psiquiatría en los Zollikoner Seminare«, in: Differenz. Revista internacional de estudios heideggerianos (2016) 3 (2), 100–113, geäußert.
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Die ekstatische Leiblichkeit des Daseins als Existenzial
matische als Problem zu entfalten, »es einer echten und zwar phänomenologische Kri tik« bedarf, welche daseinsanalytisch verstanden werden muss, denn nur dadurch ist es möglich »das Sein des Seienden [...], um das es sich jeweils handelt« offenbar zu machen. Denn eigentlich handle es sich »[i]n der Psychosomatik [...] um das Mensch sein des Menschen«.9 Diese neue Sicht ist für Boss der zentrale Aspekt von Heideggers Beitrag zu einer neuen Auffassung der Psychiatrie,10 da sie es unter anderem ermög licht, den existenzialen Charakter der Leiblichkeit zu verstehen. Dies ist ein alternativer Ansatz zu einer naturalistischen Theorie der menschlichen Leiblichkeit. In der Tat ist die neue Grundlage der Daseinsanalytik Heideggers von grundle gender Bedeutung für die Interpretation menschlicher Verhaltensweisen und ihrer Störungen wie Schizophrenie, Depression, Melancholie oder Manie – genau wie die Daseinsanalyse. Aus einer naturwissenschaftlichen Sicht werden diese Pathologien als »Verbindung physikalisch-chemischer Kräfte« und aus psychoanalytischer Perspektive als »eine von unbewussten Konflikten dominierte Psyche« erklärt.11 Im Gegensatz zu ihnen versucht die Daseinsanalyse, das Leiden an einer Krankheit als Krankheit eines Daseins zu klären, d. h. eines existierenden Menschen. Folglich kann sein Leiden nicht auf etwas Organisches reduziert werden, da seine wesentliche Verfassung existenzial ist. Die therapeutische Psychologie von Boss basiert auf Heideggers Daseinsanalytik, um eine andere Interpretation der Störungen des kranken Individuums zu erreichen, die die Einheit des Seins des kranken Individuums, d. h. seine Existenz, betrachtet. Die daseinsanalytische Psychotherapie konzentriert sich daher nicht auf die Krankheit – wie auch die bereits von Jaspers kritisierte objektivierende Perspektive der Psychiatrie –, sondern auf das Kranksein des Einzelnen. In der Seminarsitzung am 26. November 1965 erklärt Heidegger den Unterschied und die Beziehung zwischen Daseinsanalytik und Daseinsanalyse.12 Die Daseinsana lytik ist eine Fundamentalontologie, aus der sich die ärztliche Daseinsanalyse erarbeiten lässt. In dieser Hinsicht ist zu beachten, dass die Daseinsanalyse existenziellen, onti schen Charakters ist, da sie sich auf bestimmte menschliche Verhaltensweisen bezieht, nämlich auf Erkrankungen und Störungen der Individuen. In diesem Sinne beabsichtigt die Daseinsanalyse das »Beschreiben[s] jeweils faktisch sich zeigender Phänomene an einem bestimmten existierenden Dasein«. Aus diesem Grund kann die Daseinsanalyse auch als eine ontische Anthropologie verstanden werden, d. h. als eine mögliche Disziplin, die sich zur Aufgabe macht, die aufweisbaren existenziellen Phäno mene des gesellschaftlich-geschichtlichen und individuellen Daseins in einem Zusammen hang darzustellen im Sinne einer daseinsanalytisch geprägten ontischen Anthropologie.13
Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 100, 246. Vgl. Medard Boss, »Anstöße Martin Heideggers für eine andere Psychiatrie«, in: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), Von Heidegger her. Wirkungen in Philosophie – Kunst – Medizin, Frankfurt am Main 1991, 125–140. 11 Philippe Cabestan / Françoise Dastur, Daseinsanalyse, Paris 2011, 11. 12 Vgl. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 162–201. 13 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 163–164.
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Demnach ist die Daseinsanalytik keine ontische Anthropologie, sondern eine onto logische Interpretation des Menschseins als Dasein im Dienste der Seinsfrage. Die Daseinsanalytik interpretiert daher die ontologische Verfassung des Menschen, seine »Existenzialität«, d. h. thematisiert die Strukturen seiner Existenz, die von Heidegger »Existenzialien« genannt werden und die gleichursprünglich in der Ganzheit der Sorge aufgezeigt werden können. Für den deutschen Philosophen ist das Seinsverständnis das Entscheidende an dieser ontologischen Verfassung, d. h. das Merkmal, dass der Mensch ein Seiendes ist, dessen Grundzug darin besteht, dass es offen für sein eigenes Sein ist. Diese Seinsverfassung des Daseins, »dass es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat«, anders gesagt, »dass es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«,14 ist das, was ihn von anderen Seienden unterscheidet. Die ausgezeichnete Seinsart dieses Seienden (Mensch) ist, dass es je schon in einem Seinsverständnis lebt, das es ihm ermöglicht, Seiendem zu begegnen. Dasein versteht sich in seinem Sein und als Seinsverständnis als In-der-Welt-sein.15 Das In-der-Welt-sein ist die ganze existenziale Grundverfassung des Daseins, weil es die Weise ist, in der die menschliche Existenz da ist. Wie Heidegger erklärt, meint das Da die Offenheit, »in der für den Menschen Seiendes anwesend sein kann, auch er selbst für sich selbst. Das Da zu sein zeichnet das Menschensein aus«.16 Der Philosoph nennt diese ausgezeichnete Seinsart des Menschen das Dasein. Dabei denkt er an etwas, das ihm in der philosophischen Tradition seit Platon vergessen scheint, nämlich den Menschen nicht primär als Erkenntnissubjekt, sondern als In-der-Welt-sein, das sich um sein eigenes Sein sorgt. Das In-der-Welt-sein ist eine ontologisch vorhergehende Bedingung, die es dem Dasein ermöglicht, Seiendes und zugleich das Seiende, das es selbst ist, zu entdecken. Auf diese Weise ist die Welt als transzendentales Phänomen bestimmt, weil die Welt, so wie wir leben, durch Beziehungen der Bedeutungszu sammenhänge geprägt ist. Die Offenheit des Daseins bedeutet, dass es immer auf dem Grund dieses ursprünglichen und existenzialen Verständnisses lebt. Verstehend befindet es sich in der Weltlichkeit der Welt, welche als Geflecht von Bedeutsamkeit gedacht wird, in dem die Dinge unmittelbar in Rahmen der Sorgestruktur des Daseins entdeckt werden. Diese Sorge ist darum keine ontische, sondern eine ontologische Bestimmung des Daseins und bezieht sich auf eine existenziale Ganzheit, die als »Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Sei enden)« bestimmt wird.17 Deshalb gründen, wie Heidegger darlegt, in der Sorge als In-der-Welt-sein »auch alle ontischen Verhaltensweisen der Liebenden wie der Hassenden wie des sachlichen Naturwissenschaftlers usw. gleichursprünglich«.18 Die Daseinsanalyse von Medard Boss geht von einer der fundamentalen Leistungen der Daseinsanalytik Heideggers aus: einerseits davon, dass der Mensch nicht etwas Vor 14 15 16 17 18
Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 16, 58; vgl. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 162. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 6, 16–17. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 157. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 256. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 286.
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handenes ist, sondern Dasein; anderseits davon, dass das Bewusstsein nicht durch das Unbewusste erklärt werden kann, sondern dass das Bewusstsein Dasein voraussetzt.
2. Die Ganzheit des Menschseins als leibmäßiges In-der-Welt-sein Im Gespräch vom 29. Januar 1964 erklären Heidegger und Boss, dass das Leibphäno men für Mediziner zugedeckt ist, weil es »als körperliche Funktion uminterpretiert«19 werde. Sie unterstützen die These, dass das Leibphänomen als solches nicht auf Mecha nismen reduziert werden könne. Die Erläuterung des Phänomens des Leibes ist dem gemäß besonders wichtig, um interpretieren zu können, was bei sogenannten psycho somatischen Erkrankungen wie Halluzinationen geschieht. Während der Sitzungen der Seminaren, in verschiedenen Gesprächen und in der Korrespondenz werden die Bestim mungen und Erklärungen geprüft, welche gewöhnlich in Hinsicht auf das Differenzie rung und das Verhältnis von Soma und Psyche zum Tragen kommen, um auf diese Weise die wissenschaftlichen und philosophischen Annahmen herauszuarbeiten und zu isolieren, welche den Psychiatern in ihrer klinischen Praxis und in ihren medizini schen Konzepten bezüglich des Menschseins zugrunde liegen und sie leiten.20 Diese dekonstruktive philosophische Aufgabe besteht darin, jene historisch von der Anthro pologie und der Psychiatrie geprägten Bestimmungen des Menschenseins nicht auf unkritische Weise zu übernehmen. Hierzu hatte Heidegger die metaphysischen Annah men jener Diskurse freigelegt und aufgezeigt, wie Descartes' Subjektauffassung hierbei als ontologisches Prinzip fungiert. Dabei überlegt er, wie die Ontologie des Daseins das Leibphänomen aufklärt. Schon in Sein und Zeit hatte die Leiblichkeit bereits auf das Inder-Welt-sein als wesentliche Seinsverfassung des Daseins verwiesen, denn seiner Ansicht nach lässt sich das, was den menschlichen Leib ausmachen soll, nur vor dem Hintergrund dieser Hauptfrage adäquat erklären. Die cartesianisch geprägte Interpre tation der Subjektivität wird einer Kritik unterzogen, weil sie den Menschen als eine dunkle und nicht geklärte Mischung von res cogitans und res extensa auffasst. In diesem Fall bliebe die Konzeption des menschlichen Leibes vollständig durch die traditionelle cartesianische Ontologie beherrscht, welche den Leib-Seele-Dualismus voraussetzt. Der menschliche Leib tritt damit in der Weise in Erscheinung, die sich aus der Erklärung durch jene Wissenschaften, die sich auf diese Ontologie gründen, ergibt – das sind die Anthropologie, die Psychologie und im Allgemeinen die Naturwissenschaften. Im Gespräch vom 3. März 1972 vertritt der Philosoph die These, dass entscheidend in aller leiblichen Erfahrung von der Wesensverfassung des Menschen als Dasein aus zugehen ist. Aus diesem Grund gilt es, die Analyse der Leiblichkeit in einem funda mentaleren Ausgangspunkt zu verankern, d. h. in seinem Daseins als solchen. Um also Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 232–233. Einige der in diesem zweiten Abschnitt vorgestellten Erläuterungen sind in meinem Aufsatz enthalten »Leibliche Erfahrung und Räumlichkeit des Daseins in Heideggers Leibphänomenologie«, in: Reinhold Ester bauer u. a. (Hrsg.), Bodytime. Leib und Zeit bei Burnout und in anderen Grenzerfahrungen, Freiburg/München 2016, 68–89. Ich gehe jedoch hier über das hinaus, was im zitierten Aufsatz erwähnt wird. 19
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Leiblichkeit zu beleuchten, ist es notwendig, diese als ein ontologisches Phänomen zu verstehen, das zum In-der-Welt-sein gehört. Aus dieser Perspektive besteht für Heidegger der Auftrag für eine »grundlegende Philosophie aller psychosomatischen Medizin« darin, die Frage zu beantworten, wie die Seinsart des Leiblichen ist und wie »alles Leibliche dem Existieren zugehört«.21 Der Hermeneutik des Daseins zufolge kann dieses nicht einfach als Vorhandensein verstanden werden. Nach Auffassung Heideggers haben die auf den Menschen bezogenen Wissenschaften die traditionelle Sichtweise gemeinsam: »Psychologie, Anthropologie, Psychopathologie betrachtet den Menschen als einen Gegenstand in einem weiten Sinne, als etwas Vorhandenes, als einen Bezirk des Seienden, als das Gesamt des erfahrungsmäßig Feststellbaren am Menschen.«22 Vor diesem Hintergrund schlägt Heidegger aber nicht vor, die Existenz des Menschen als ein sich geschlossenes, subsistierendes Subjekt ohne Welt zu ver stehen, sondern als Dasein, als Weltoffenheit. Dies ist eine Interpretation, durch welche er sich von der traditionellen Metaphysik distanziert. Aus diesem Blickwinkel ist das Wesentliche des menschlichen Seins nicht die Subjektivität des ego cogito, sondern seine Existenz: eine Offenheit in die es geworfen ist und in der die Relationen von Subjekt und Objekt fundiert sind – und damit auch die Reflexion der Erkenntnis. Diese Offen heit wird von Heidegger Lichtung des Seins genannt. Ausgehend hiervon unterscheidet er zwischen Dasein und Bewusstsein, wobei er betont: »Bewusstsein setzt Lichtung und Dasein voraus und nicht umgekehrt.«23 Er grenzt dementsprechend die Daseinsanalytik von der traditionellen Konzeption der Anthropologie und der Psychologie ab, um gerade nicht ontische (existenzielle) und ontologische (existenziale) Ebenen in ihrem Verhältnis zur Existenz zu vermengen.24 Was hiermit letztlich zurückgewiesen wird, sind die metaphysischen und zoologischen Grundannahmen, die seiner Ansicht nach historisch der traditionellen Anthropologie zugrunde liegen. Diese bestehen darin, dass die Anthropologie als eine an der Biologie orientierte Reflexion des Menschen ver standen wird. Im Gegensatz dazu beabsichtigt Heidegger mit seiner Analytik eine daseinsgemäße Beschreibung der Strukturen der menschlichen Existenz (Existenzia lien), ohne sich dabei auf irgendeine bestehende Theorie zu stützen. Die traditionelle Anthropologie und die auf sie sich stützende medizinische Anthropologie entspringt jenem cartesianischen Paradigma, welches den Menschen in zwei heterogene Substan zen teilt: res cogitans und res extensa, Seele und Leib. So betrifft seine Zurückweisung eine metaphysische Anthropologie genauso wie die damit verknüpfte Konzeption der Leiblichkeit und des sogenannten psychischen Lebens, weil diese den Leib als Soma begreift und diesen als etwas Vorhandenes denkt. Wie Heidegger schon in seiner Vor lesung zu Nietzsche aus dem Wintersemester 1936/37 sagt, muss berücksichtigt wer
21 22 23 24
Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 296. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 197. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 203. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), §§ 4, 9, 10.
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den, dass der »Leibzustand eines Tieres und gar des Menschen etwas wesentlich anderes [ist] als die Beschaffenheit eines ›Körpers‹, z. B. des Steines«.25 Grundlegend für seine Fragestellung ist, dass der Leib nicht als etwas Vorhandenes aufgefasst wird, sondern als Existenzial. Das ist, was er sagen möchte, wenn er behaup tet: »Wir ›haben‹ nicht einen Leib, sondern wir ›sind‹ leiblich«, weil »leiblich sein« nicht bedeute, dass »einer Seele noch ein Klotz, genannt Leib, angehängt sei«.26 Indem er also den Leib an die Offenheit des Daseins koppelt, distanziert er sich von jeder biologischen Interpretation. Für Heidegger ist es gerade diese naturwissenschaftliche Interpretation, gemeinsam mit dem cartesianischen Erbe, welche jene andere Perspektive ausmacht, die maßgeblich für die Interpretation der menschlichen Leiblichkeit gewesen ist. Bei dieser wird »der Leib zuvor zum bloßen Körper mißdeutet«,27 weshalb er mit der Idee des Organismus in Verbindung gebracht wurde. All das hat letztlich eine Identifizierung der menschlichen Leiblichkeit mit dem tierischen Organismus hervorgebracht. Sein Schluss lautet, dass die philosophische Anthropologie -von der Biologie ausgehend gedacht- das Sein des Menschen von der Animalität her versteht. Für ihn wurzelt das Problem in der westlichen Auffassung des Menschen. Daher habe sich alle Psychologie und die Anthropologie im Rahmen jener zoologischen Bestimmung des Menschen herausgebildet. Aus diesem Grund betont er, dass es notwendig ist, die Leiblichkeit des Menschen in seiner Ganzheit freizulegen, die jenseits dieser Erklärungsmodelle zu verorten wäre. Wie Boss erkennen wird, besteht einer der zentralen Aspekte von Heideggers Beitrag zu einem neuen Konzept der Psychiatrie darin, dass es gelte zu verstehen, dass »[a]lles Leiblich-sein […] das Existieren immer schon voraus[setze]«.28 Aus diesem Grund darf der Leib nicht als die Körperhaftigkeit eines leblosen, vorhandenen Gegen standes unter anderen verstanden werden – als ob es eine res extensa ohne Welt wäre –, insofern »der Leib auch nicht ein Körper [ist], der uns nur begleitet und den wir dabei zugleich, ausdrücklich oder nicht, als auch vorhanden feststellen«,29 sondern er ist »je mein Leib«, und »[d]as gehört zum Leibphänomen«.30 Mein Leib ist nichts anderes als mein Selbst, weil »im Sichfühlen […] der Leib im vorhinein einbehalten in unser Selbst [ist], und zwar so, daß er in seiner Zuständlichkeit uns selbst durchströmt«.31 Das ist das Motiv auf dessen Grundlage Heidegger sagen kann: »Wir sind nicht zunächst ›lebendig‹ und haben dann dazu noch eine Apparatur, genannt Leib, sondern wir leben, indem wir leiben. Dieses Leiben ist etwas wesentlich anderes als nur ein Behaftetsein mit einem Organismus.«32 Mit »Leiben« will Heidegger die Art und Weise, wie das Leibliche zur Ganzheit des Existierens gehört, anzeigen. In seiner Vorlesung über Aristoteles aus 25 26 27 28 29 30 31 32
Martin Heidegger, Nietzsche I, Pfullingen 1961, 115. Martin Heidegger, Nietzsche I, 118. Martin Heidegger, Nietzsche I, 119. Medard Boss, »Anstöße Martin Heideggers für eine andere Psychiatrie«, 127–128. Martin Heidegger, Nietzsche I, 118. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 113. Martin Heidegger, Nietzsche I , 118. Martin Heidegger, Nietzsche I , 119.
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den Jahr 1924 versteht er diese Ganzheit als »leibmäßige[s] In-der-Welt-sein«. Die Leiblichkeit hat also eine »primäre Daseinsfunktion«, weil sie »sich den Boden für das volle Sein des Menschen sichert«.33 In diesem Sinne ist die Leiblichkeit des Menschen im ganzen gedacht -mit den Worten von Boss- als »ein unmittelbares Teilphänomen des menschliches In-der-Welt-seins [...]: jener Bereich des Existierens nämlich, der als der sinnlich wahrnehmbare in Erscheinung tritt«.34 Boss zufolge ist es in Hinsicht auf die psychiatrischen Störungen – wie etwa das schizophrene Delirium – wesentlich, darin nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein philosophisches Problem zu sehen. So gilt es herauszufinden, wie »eine wahrneh mende Beziehung zwischen Person und Umweltsding« möglich ist.35 In Hinsicht auf diese Absicht ist seiner Meinung nach die Daseinsanalytik sehr fruchtbar, weil es ihr gelingt, überzeugend das zu erklären, was weder die physiologische Erklärung der organismischen Auffassung noch Freuds Psychoanalyse erklären können. In diesem Sinne erzählt Boss den Fall der Psychose einer Patientin, Regula Zürcher,36 bei der ein schizophrener Verfolgungswahn diagnostiziert wurde. Der Psychiater versuchte, eine Erklärung für ihre optische und ihre akustische Halluzination zu finden. Zunächst entschied er sich für eine physiologische Erklärung auf Grundlage einer organismischen Theorie. Aber zusammen mit seiner Patientin – die auch eine brillante Kollegin war – lehnte Boss diese Erklärung ab, da »diese Umwandlung physischer Abläufe in psychische Phänomene« nicht bewiesen werden konnte.37 Dieser Erklärung zufolge wird die normale oder gestörte Wahrnehmung auf Stoffwechselprozesse oder Nerven funktionen reduziert. Eine andere Erklärung war die psychologische, die auf einer psychoanalytischen Auffassung der Psyche basiert, nach der ihre Halluzinationen nicht wirklich sind, sondern »nur psychische Projektionen von Inhalten und Tendenzen ihres eigenen Unbewussten nach aussen«.38 Für Boss war diese psychologische Hypothese ein »Abkömmling des Maschinenzeitalters der Medizin«, durch die »die menschliche Leiblichkeit zu einem apparatehaften Organismus geworden war«.39 Seiner Meinung nach vergisst diese organismische Auffassung, wer eigentlich sieht oder hört. In der Tat macht es kein Sinnesorgan, sondern jemand, der leiblich ist, und deren Leiblich-sein zu einem existierenden Seienden, das in der Welt ist, gehört. Wie Heidegger in Sein und Zeit behauptet, können die Sinne lediglich gerührt werden, weil sie »ontologisch einem Seienden zugehören, das die Seinsart des befindlichen In-der-Welt-seins hat«.40 33 Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (GA 18), hrsg. von Mark Michalski, Frankfurt am Main 2002, 199. 34 Medard Boss, »Martin Heidegger und die Ärzte«, in: Martin Heidegger zum siebzigsten Geburtstag, Pfullingen 1959, 288. 35 Medard Boss, »Martin Heidegger und die Ärzte«, 284. 36 Für eine detailliertere Beschreibung der Krankengeschichte von Regula Zürcher vgl. Boss' Grundriß der Medizin und Psychologie. Ansätze zu einer phänomenologischen Physiologie, Psychologie, Pathologie und Therapie und zu einer daseinsgemäβen Präventiv-Medizin, Bern 1999, 24–45. 37 Medard Boss, »Martin Heidegger und die Ärzte«, 281. 38 Medard Boss, »Martin Heidegger und die Ärzte«, 282. 39 Medard Boss, »Martin Heidegger und die Ärzte«, 284. 40 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 183.
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Boss betont die daseinsanalytische Wesenserhellung der menschlichen Leiblich keit als eine Alternative zu organismischen und psychoanalytischen Erklärungen pathologischer Phänomene wie Halluzinationen oder Stress. Aus dem daseinsanaly tischen Ansatz gilt es, das Phänomen des Leibes von der Struktur der Existenz her zu verstehen und diese wiederum als das In-Beziehung-sein-zu dem, was es gibt.41 In dem bereits erwähnten Gespräch von 1972 vertiefen sich die Überlegungen zur Seinsart des Leiblichen und über die Zugehörigkeit des Leiblichen zum Existieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in seinem menschlichen Existieren das Dasein wesentlich auf die Welt-Offenständigkeit bezogen ist.42 Es ist an dieser Stelle wichtig, anzumerken, wie Heidegger betont, dass der Begriff »Beziehung« nicht gegenständlich verstanden werden sollte, d. h. im modernen mathematischen Relationssinne, sondern in einem existenzialen Sinne, wonach »die Beziehung zu etwas oder zu jemandem, in der ich jeweils stehe, bin ich«.43 Das In-Beziehung-sein-zu hat daher einen ekstatischen Sinn. Es ist eine ekstatische Beziehung, die die Seinsart des menschlichen Lebens bestimmt, sein In-der-Welt-sein, und das Leibphänomen ist Teil davon. Das Leibliche wird daher aus solchem In-Beziehung-sein-zu gedacht. Dies ist die von Heidegger so genannte »ekstatische Leiblichkeit«.44 Es handelt sich um ein Leiblich-sein, welches kein ontisches Phänomen ist, als ob es sich um einen leblosen Gegenstand handelte, sondern ein ontologisches (existenziales), denn es ist durch dieses In-Beziehung-sein-zu bestimmt. Vor diesem Hintergrund konnte er schon in seiner Vorlesung über Nietzsche sagen: »Jeder Leib ist auch Körper, aber nicht jeder Körper ist ›Leib‹.«45 Aus Heideggers Perspektive ist das Leibliche des Daseins keine »Art von kom plizierter Maschine«,46 sondern ein ontologischer Wesenszug des Menschen, der, meiner Meinung nach, seinen anderen existenzialen Strukturen gleichursprünglich und auch Teil seines In-der-Welt-Seins ist.47 Gleichursprünglich zu sein, bedeutet, dass die Existenz ein einheitliches Phänomen ist, eine Ganzheit als Sorge, zu der das Leiblich-sein gehört. Daher ist der Leib kein Gegenstand unter anderen, sondern eine konstitutive Struktur des Seinsverständnisses und hat eine ontologische Funktion, denn ich »verstehe […] mich immer schon in meiner leibhaften Existenz«.48 Zum »Leiben des Leibes« gehört wesentlich die Bedeutsamkeit seines In-der-Welt-seins, denn es handelt sich um ein Leben, das durch die Stimmung bestimmt ist, und diese ist gleichursprünglich bedeutsam. Wie Heidegger in seiner bereits zitierten Vorlesung
Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 197. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 292. 43 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 232. 44 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 278. 45 Martin Heidegger, Nietzsche I, 115. 46 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 293. 47 Sehr viel detallierter als hier behandele ich es in meinem Aufsatz »La naturaleza hermenéutica de la experiencia corporal y del fenómeno del dolor según Heidegger«, in: Claridades. Revista de Filosofía (2019) 11, 187–211. 48 Friedrich-Wilhelm von Herrmann, »Besitz und Leib«, in: Rudolf Berlinger / Eugen Fink (Hrsg.), Philosophische Perspektiven: Ein Jahrbuch, Band 3, Frankfurt am Main 1971, 196. 41
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über Nietzsche festgestellt hatte, ist jede Stimmung »leibende Stimmung«.49 Vor die sem Hintergrund spricht Heidegger von Sehenkönnen des Menschen: »Wir können nicht ›sehen‹, weil wir Augen haben, vielmehr können wir nur Augen haben, weil wir unserer Grundnatur nach sehenden Wesens sind.«50 Wenn wir etwas als etwas wahr nehmen, zum Beispiel ein Ding als Glas, als so seiend, muss uns offenkundig sein, dass etwas ist.51 Wie der Philosoph bereits 1924 in seiner Interpretation des Pathos erläutert hatte, sollte dieses nicht als seelisches Erlebnis verstanden werden, das sich im Bewusst sein befindet – wie es die traditionelle Psychologie versteht. Pathos impliziert nämlich Dasein in seiner Ganzheit, in seinem leibmäßigen In-der-Welt-sein. Das Pathos ist also auch kein vermeintlicher psychischer Zustand einer eingekapselten Psyche, die vom Äußeren isoliert ist, mit körperlichen Begleitererscheinungen, sondern etwas, was als »Mitgenommenwerden des Daseins in seinem vollen In-der-Welt-sein« gedacht ist, da »[e]s mitgenommen von solchem, was mit ihm selbst in der Welt da ist«, ist. Solches Angegangensein zeigt »[d]ie Art und Weise, wie die Welt, als den Menschen angehend, für ihn da ist«52 und somit schließlich seine Weltoffenheit.
3. Leiblich-sein als Entsprechen: die hermeneutische Verfassung der ekstatischen Leiblichkeit Das Ekstatische unseres Leiblich-seins liegt also in diesem In-Beziehung-sein-zu, welches darin besteht, dass wir angegangen sind von dem, was ist, sofern wir durch es angesprochen werden. Solches Angegangensein ist grundlegend, weil es die Befindlich keit des Daseins gliedert. Daher kann dieses Leiblich-sein weder als Mechanismus noch als etwas Organisches verstanden werden, sondern als ein ontologischer Grundzug, der den anderen existenzialen Strukturen, die das In-der-Welt-Sein ausmachen, gleichur sprünglich ist. Die leibende Stimmung wirft die Existenz in ihr Da, in ihre Situation und ist an der Offenheit ihres In-der-Welt-seins mitbeteiligt. Wie Heidegger zeigt, wenn er über die Stimmung spricht, ist das Ekstatische des Leibseins »die Grundart, wie wir außerhalb unserer selbst sind«, und »die Weise, wie wir uns bei uns selbst und dabei zugleich bei den Dingen, bei dem Seienden, das wir nicht selbst sind, finden«.53 Aufgrund des ekstatischen Charakters der Leiblichkeit kann Boss bestätigen: »Die Grenzen meines Leib-seins decken sich [...] mit denen meiner Weltoffenheit.«54 Die naturwissenschaftliche Orientierung, die das Leibliche als das Somatische versteht, verbirgt die ekstatische Leiblichkeit, so wie sie aus einem daseinsanalytischen Ansatz bestimmbar ist. In diesem Sinne ist die ekstatische Leiblichkeit eine Alternative zum dualistischen Ansatz, der radikal zwischen dem Psychischen und dem Somatischen 49 50 51 52 53 54
Martin Heidegger, Nietzsche I, 119. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 293. Vgl. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 117. Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (GA 18), 197, 195, 58. Martin Heidegger, Nietzsche I, 119, 118. Medard Boss, Grundriß der Medizin und Psychologie, 278.
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Die ekstatische Leiblichkeit des Daseins als Existenzial
unterscheidet, und entscheidend, um die sogenannten »psychosomatischen« Störungen auf eine andere Weise zu verstehen. Der traditionelle medizinische Ansatz hat die existenzialen Aspekte des Leiblich-seins ausgeschlossen. Deshalb wird sowohl im organismischen als auch im psychoanalytischen Modell etwas akzeptiert, das im daseinsanalytischen Ansatz absolut ausgeschlossen wird: dass nämlich die Psyche etwas von der äußeren Welt Separates ist und dass es die Dinge seien, die auf irgendeine Weise in die Psyche Einzug halten. Boss konstatiert, dass die mechanistische und naturwissenschaftliche Konzeption des Menschen, welche die Medizin bestimmt, etwas vergisst, was die Daseinsanalytik zum Ausdruck bringt: nämlich dass das menschliche Wahrnehmen »bedeutungserschliessende[s] Wahrnehmen« ist, weil es ein Ding »mit allen seinen Bewandtniszusammenhängen zu vernehmen« weiß.55 Wie schon erwähnt, ist das Leiblichsein im Seinsverständnis mitbeteiligt. Das bedeutet, dass im Vollzug meines Existierens mein Leiblichsein mitbeteiligt ist, d. h. dass meine Existenz leibt. Solches Leiben beinhaltet ein primäres Seinsverständnis, durch das wir auf etwas sich uns Zusprechendes ausgerichtet sind. Wie Heidegger behauptet, sind wir »[d]abei […] immer schon in diesem Zuspruch auf die sich uns entbergende Gegebenheit ausgerichtet«. Dank dieses Ausgerichtet-seins können wir leiblich sein, weil »unser Inder-Welt-sein […] grundlegend aus einem immer schon vernehmenden Bezogen-sein auf solches bestünde, das sich uns aus dem Offenen unserer Welt, als welches Offene wir existieren, zuspricht«.56 Es sind gerade die »Bedeutsamkeiten des Begegnenden«, die den Menschen in seiner Weltoffenheit ansprechen. Wie Heidegger erklärt, ist dies nicht möglich, weil dem Menschen etwa das Vermögen des »geistigen« Vernehmens zukäme. Ein solches Verhalten würde sich gar nicht ergeben, wenn der Mensch »nicht auch leiblicher Natur wäre«. 57 Das wird auch dann nicht verständlich, wenn, wie Boss unterstreicht, wir einfach die moderne Auffassung des Leibes annehmen, wonach dieser als res extensa gegenüber dem Psychischen als res cogitans bestimmt wird. Die leibliche Natur des Daseins muss daher aus dem Existieren heraus verstanden werden, denn Existieren als Da-sein bedeutet das Offenhalten eines Bereiches aus Vernehmen-können der Bedeutsamkeiten der Gegebenheiten, die sich ihm aus seiner Gelichtetheit her zusprechen. Menschliches Da-sein ist als ein Bereich von Vernehmen-können nie ein bloß vorhande ner Gegenstand.58
Die ekstatische Leiblichkeit ist kein ontisches Phänomen, da ihre Natur nicht phy siologisch ist – und daher beobachtbar sein könnte –, sondern ein existenziales, ontologisches Phänomen. Die Ganzheit des In-der-Welt-Seins besteht also in einer ekstatischen Beziehung, die nicht darstellbar ist, die aber in der Reflexion vorausgesetzt wird. »Die existenziale Beziehung lässt sich nicht vergegenständlichen«,59 weil ihr Grundwesen nicht physiologisch, sondern hermeneutisch ist, weil sie in einem Entspre 55 56 57 58 59
Medard Boss, »Martin Heidegger und die Ärzte«, 284. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 293–294. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 292–293. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 4. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 232.
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chen besteht. »Das Leibliche ist fundiert in dem Entsprechen«, und mein Verhalten ist »die Weise, wie ich jeweils in meinem Bezug zum mich Angehenden stehe, die Weise, wie man dem Seienden entspricht«,60 denn »[i]n seinem wesensmäßigen vernehmenden Bezogen-sein auf das sich ihm aus seiner Weltoffenheit Zusprechende ist der Mensch [...] auch immer schon aufgefordert, diesem mit seinem Verhalten zu ihm zu entsprechen«.61 Diese Auffassung unterscheidet sich völlig von der traditionellen Idee der Subjektivität, da dieses ekstatische Existieren nichts mit einem bestehenden Subjekt zu tun hat, sondern als In-der-Welt-Sein verstanden werden muss, d. h. »als das Besorgen von Dingen und das Sorgen für Mitseiende, als das Mitsein mit den begegnenden Menschen«.62 In diesem Verhalten liegt ein Seinsverständnis, das auf einem existenzialen, primären Verstehen gegründet ist; auf einem Sich-Befinden, welches in sein Da von einer leibenden Stimmung geworfen wurde. Es ist primär, weil es dem Willen und Erkennen ontologisch voraus ist. Wie Heidegger sagt, »schwingt in jeder Leibzuständlichkeit jeweils eine Weise mit, wie wir auf die Dinge um uns und die Menschen mit uns ansprechen oder nicht ansprechen. Eine Magen-›verstimmung‹ kann eine Verdüsterung über alle Dinge legen.«63 Das Leiben ist daher im befindlichen Verstehen mitbeteiligt. »Das Ding spricht mich an« beim Vernehmen;64 es lässt sich als etwas zeigen, d. h. es wird primär in seinem Sein verstanden. Beim Vernehmen von Anwesendem als Angesprochenem ist immer ein Leiben mitbeteiligt. Das primäre Seinsverständnis »kommt daher nicht erst noch zum Leiben hinzu«.65 Die ekstatische Leiblichkeit des Daseins entfaltet sich in ein solches Entsprechen, welches das Angesprochensein und Angegangensein integriert. Meiner Meinung nach ist dieses Entsprechen ein hermeneutisches Phänomen, d. h. es ist kein ontisch bestimmbares, sondern ein ontologisches. Wie Heidegger darlegt, gehören die ontologischen Phänomenen zu den »nicht-sinnenhaft-wahrnehmbaren«,66 weil sie mit dem Existieren von etwas zu tun haben, d. h. mit seiner Anwesenheit. Heidegger und Boss setzen beim Stressphänomen an, um dies zu veranschaulichen. Der »Stress hat den Grundcharakter der Beanspruchung eines Angesprochenwerden« und gehört »in den Wesenszusammenhang von Beanspruchung und Entsprechen«.67 Beim Stress ist meine Angesprochenwerden vom Ding eine Beanspruchung, d. h. eine Belastung, die eine leibliche Störung ist. Nach meiner Auffassung ist die ekstatische Leiblichkeit also hermeneutischer Natur, weil durch sie die Dinge als solche anwesend sind, welche primär anwesend sind als etwas, was uns in gewisser Weise angeht, weil sie uns ansprechen und weil wir ihrem Anspruch mit unserem Verhalten entsprechen. Die Art und Weise, wie ich 60 61 62 63 64 65 66 67
Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 232. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 292. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 204. Martin Heidegger, Nietzsche I, 118–119. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 249. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 248. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 7. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 183.
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Die ekstatische Leiblichkeit des Daseins als Existenzial
einem solchen Anspruch entspreche, besteht genau darin, dass ich mich zu ihm verhalte. In diesem Sinne ist das Verhalten der Patientin von Boss die Art und Weise, wie sie angegangen ist und wie sie jeweils dem Seienden entsprich. Anders gesagt ist die vielfache Welteröffnung der Patientin die implizite Grundlage, auf der die Phänomene ihrer Wahrnehmung organisiert werden. Die Patientin kann demnach Halluzinationen haben, weil ihre Leiblichkeit ekstatischer Natur ist. Diese Ansicht hat daher nichts mit der klassischen Vorstellung eines bestehenden Subjekts zu tun, weil sein Wer in seinen Verhaltensweisen ausläuft. Um es in Heideggers Worten auszudrücken: »Das Wer erschöpft sich jeweils gerade in den Verhaltensweisen, in denen ich jetzt eben bin.«68 Dies erlaubt meiner Meinung nach, etwas Grundlegendes zu erschließen: Es ist nicht notwendig, einen psychischen Bereich zu postulieren, der das Somatische angeblich beseelen soll – welches Somatische dann als etwas bloß Körperliches oder als ein »beseelter Körper« verstanden wird –, da die »psychischen Vermögen« in der Sprache der traditionellen Psychologie vielmehr »als Modi des Angesprochenseins und des Entsprechens« zu verstehen sind.69 Diese Modi sind existenziale, hermeneutische Phänomene, vor denen die Wissenschaft blind ist; sie werden aber trotzdem von ihr vorausgesetzt. Diese hermeneutische Dimension des menschlichen Leibes stellt sich als zentral für den Psychiater heraus. Die Existenz als Offenheit zu verstehen, besagt, dass der Mensch sich inmitten eines offenen Bereiches von Beziehungsmöglichkeiten mit den alltäglichen Dingen und in einer faktischen Situation befindet. Das Wesentliche dieses Gedankens ist, dass das menschliche Existieren gerade in dieser Offenheit für Möglichkeiten besteht, weil es nichts ist, was darüber hinausginge. Darum sagt Heidegger: »Daseinsmöglichkeiten sind nicht Tendenzen oder Vermögen in einem Subjekt.«70 Das menschliche Existieren vollzieht sich primär in einem »Bezogen-sein auf das ihm Begegnende« in einem offenen Bereich von Möglichkeiten.71 Diese Mög lichkeiten können nicht auf physisch-chemische Weise untersucht werden,72 weil diese Möglichkeiten existenzialen Sinn haben, d. h. sie »sind immer ein geschichtliches In-der-Welt-sein-können«, und geschichtlich ist »die Art und Weise, wie ich zu dem, was auf mich zukommt und was gegenwärtig ist, und zu dem Gewesenen mich verhalte«. Darum sehe ich »[a]us der Art, wie ich das auf mich Zukommende anspreche, […] Gegenwart und Gewesenes«.73 Es ist wichtig, hervorzuheben, dass Dasein als Offenheit nichts von dem Geflecht von Beziehungen und Möglichkeiten Verschiedenes ist, sondern es ist, was jeweils in diesen ist. Dieser daseinsanalytische Ansatz versucht letztendlich, die existenzialen Aspekte der Leiblichkeit nicht durch die Annahmen einer naturwissenschaftlichen Auffassung des Körpers zu verdecken. Das ist gerade das Anliegen der Analyse von Boss, weil – wie er, Heidegger folgend, insistiert – das Leib-sein des Menschen nicht ein 68 69 70 71 72 73
Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 204. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 274. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 203. Medard Boss, Grundriß der Medizin und Psychologie, 284. Vgl. Medard Boss, Grundriß der Medizin und Psychologie, 271–272. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 203–204.
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Luisa Paz Rodríguez Suárez
Medium des In-der-Welt-seins ist, sondern weil durch es hindurch sich die weltentde ckenden Beziehungen vollziehen, welche die Existenz konstituieren.74 Dies ist von grundlegender Bedeutung, da davon ausgegangen wird, dass alle Dimensionen des menschlichen Existierens mit solchem Leiben verknüpft sind. Das erklärt, warum – sowohl für Heidegger als auch für Boss – alle Vorstellung immer leiblich ist, denn das Leiben gehört immer zum In-der-Welt-sein. Daher lässt sich der Leib nicht auf sein physisches Volumen reduzieren, das ihm als räumlichem Körper entspricht und dem jene existenziale Dimension abgeht. Dieses existenziale Leiben ist nicht – wie bereits betont – etwas Beobachtbares, sondern es ist dadurch charakterisiert, dass es mit dem, was da ist, in Beziehung ist, auch wenn es nicht im aktuellen Jetzt physisch anwesend ist. Die Interpretation der Leiblichkeit als Existenzial aus der Daseinsanalytik hat also einen großen Einfluss auf Boss‘ Daseinsanalyse. Aus dieser Perspektive versteht der Psychiater die psychiatrischen Störungen nicht aus der Krankheit, sondern aus dem Kranksein. Dies impliziert, dass solche Störungen weniger als ein einfacher Mangel an Gesundheit oder Normalität gesehen werden, sondern vielmehr das psychiatrische Kranksein als eine Weise des In-der-Welt-zu-seins verstanden wird. Boss unterscheidet dementsprechend die folgenden Weisen des Krankseins: (a) mit Beeinträchtigung des menschlichen Leiblich-seins, (b) mit Beeinträchtigung des Sich-einräumens und des Sich-zeitigens des In-der-Welt-seins, (c) mit Störungen im Vollzug des Gestimmtseins, (d) mit Beeinträchtigung im Vollzug des Grundcharakters des Offenständig-seins und der Freiheit des Daseins.75
Medard Boss, Grundriß der Medizin und Psychologie, 277–279. Medard Boss, »Anstöße Martin Heideggers für eine andere Psychiatrie«, 126. Für eine detailliertere Beschreibung dieser Weisen des Krankseins vgl. Medard Boss, Grundriß der Medizin und Psychologie, 440–511. 74 75
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Josef Jenewein
Die Zürcher Schule der Daseinsanalyse
1. Historischer Überblick: Die Anfänge Die Daseinsanalyse entwickelte sich einerseits infolge einer kritischen Auseinander setzung mit der Freud‘schen Psychoanalyse, andererseits aufgrund eines wissenschaft lichen Unbehagens über die einseitig naturwissenschaftlich ausgerichtete klinische Psychiatrie auf der Suche nach einem neuen Grundlagenverständnis der menschlichen Existenz und ihrer Störungen. So entstand die »anthropologische Psychiatrie«, begrün det durch namhafte Autoren wie L. Binswanger, V. von Weizsäcker, E. Straus, V. E. von Gebsattel, E. Minkowski und H. Kunz, die sich an den Werken Schelers, Kierkegaards, an jenen von Brentano, Dilthey, Natorp, Lipps, Bergson und schließlich entscheidend an jenen von Husserl, Szilasi und Heidegger orientierten. Ludwig Binswanger (1881–1966) ist der eigentliche Begründer der daseinsana lytischen Psychiatrie. Zunächst allerdings bezeichnete er seine Forschungsrichtung, aufbauend auf der intensiven Beschäftigung mit der Phänomenologie Husserls, als eine »phänomenologische Anthropologie«. Erst 1941, als er bereits in entscheidender Weise von den Werken Heideggers, besonders von dessen 1927 veröffentlichtem Buch Sein und Zeit, beeinflusst war, nannte er sie Daseinsanalyse. 1942 erschien Binswangers Hauptwerk Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, dem später eine große Reihe von Arbeiten über Daseinsanalyse, Sprache und Verhalten Schizophrener sowie Untersuchungen über Melancholie und Manie folgten. Die daseinsanalytische Aufgabe in der Psychiatrie sah Binswanger darin, die jeweilige »Daseinsform und -gestalt« (z. B. die »Daseinsgestalt des ideenflüchtigen In-der-Welt-seins«)1 eines bestimm ten einzelnen (kranken oder gesunden) Menschen in den Blick zu bekommen. Die Daseinsanalyse Binswangers entsprang primär einem »wissenschaftlichen« Impuls, der in der Unzufriedenheit gründete, dass der Psychiatrie und Psychologie ein eigentlicher erkenntnistheoretischer Boden fehle. Eine neue Untersuchungsmethode sollte es der Psychiatrie ermöglichen, die konkreten, unmittelbar wahrnehmbaren psychopathologi schen Symptome und Syndrome phänomenologisch zu verstehen und zu beschreiben. Dabei versuchte er zu zeigen, wo und wie die naturwissenschaftliche Denkmethode im Bereich menschlichen Verhaltens und Fühlens zu kurz greift und ausgerechnet das spezifisch Menschliche des menschlichen Existierens verfehlt. 1 Vgl. Ludwig Binswanger. »Über Ideenflucht«, in: ders., Formen missglückten Daseins, hrsg. von Max Herzog (= Ausgewählte Werke 1), Kröning 1994.
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Josef Jenewein
Binswangers psychiatrische Daseinsanalyse befruchtete vor allem die moderne Schizophrenieforschung. An die Stelle der klinischen Symptomatologie und Pathologie trat der psychotische Mensch im Hinblick auf seine Einfühl- und Verstehbarkeit. Denn die Grenze zwischen einfühlbarem und nicht einfühlbarem Seelenleben hängt nach Binswanger wesentlich von der Erlebnisfähigkeit des Betrachters ab.2 Eine entscheidende Weiterentwicklung erfuhr die Daseinsanalyse im Weiteren durch Medard Boss (1903–1990). Boss, der zunächst eine psychoanalytische Ausbil dung absolvierte und Mitglied der Schweizerischen Psychoanalytischen Vereinigung war, gilt als Begründer der therapeutischen Daseinsanalyse oder Zürcher Schule. Medard Boss wurde 1903 in St. Gallen geboren und wuchs später in Zürich auf. Während des Medizinstudiums lernte Boss den Psychiater Eugen Bleuler kennen, dessen Fachgebiet Psychiatrie ihn interessierte und das er zu seinem Spezialgebiet wählte. 1925 hielt er sich in Wien auf und machte eine Analyse bei Sigmund Freud. Er war beeindruckt von Freuds menschlicher und respektvoller therapeutischer Haltung. Nach dem Studium arbeitete Boss an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (Burghölzli) und im Privatsanatorium Schloss Knonau und eröffnete ab 1935 eine Privatpraxis in bester Lage in Zürich. Als Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Psychoanalyse führte er einige Lehranalysen durch u. a. bei Ruth Cohn, einer der Begründerinnen der Humanistischen Psychologie. Zunehmend zweifelte er an Freuds Lehre und öffnete sich gegenüber anderen Lehrmeinungen. So arbeitete er zehn Jahre lang mit C. G. Jung zusammen und ließ sich vor allem aber von der phänomenologischen Methode begeistern, die er durch Ludwig Binswanger näher kennenlernte. Ludwig Binswanger weckte sein Interesse an Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit. Boss sagte selbst, dass er Heideggers Schrift zum ersten Mal während seiner Tätigkeit als Bataillonsarzt im zweiten Weltkrieg gelesen habe. Er bekannte: »Ich verstand […] keinen Satz. Gleichwohl liess es mir keine Ruhe mehr.«3 Ab 1946 begann er mit Heidegger einen Briefwechsel mit der Bitte um philosophische Hilfe bei psychotherapeutischen Fragen. Daraus entstand eine persönliche Freundschaft. 1959 öffneten sie ihren Austausch einem größeren Fachpublikum. Während ca. zehn Jahren besucht Heidegger Boss zwei- bis dreimal pro Semester in seinem Haus in Zollikon, wo ca. 50 bis 70 Psychiater und Psychotherapeuten an den sogenannten »Zollikoner Semi naren« teilnahmen. Die protokollierten Seminare wurden – ergänzt um aufgezeichnete Fachgespräche und Briefe zwischen Boss und Heidegger – von Boss unter dem Titel Zollikoner Seminare 1987 publiziert.4 In seiner Habilitationsschrift Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen (1947) suchte Boss einen daseinsanalytischen Zugang zu sexuell abweichendem Verhalten. Boss war Titularprofessor an der Universität Zürich und publizierte 1971 neben seiner Tätigkeit sein Hauptwerk Grundriss der Medizin und Psychologie. Vgl. Torsten Passie, Phänomenologisch-anthropologische Psychiatrie und Psychologie, Hürtgenwald 1995, 23. 3 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, hrsg. von Medard Boss, Frankfurt am Main 1987, VII f. (Vorwort). 4 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, hrsg. von Medard Boss, Frankfurt am Main 1987.
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Im gleichen Jahr gründeten M. Boss und C. Condrau mit weiteren Beteiligten in Zürich das Daseinsanalytisches Institut für Forschung und Lehre, welches rund 35 Jahre als Therapie-und Ausbildungsstätte viele Menschen in Kontakt mit der Daseinsanalyse brachte. Medard Boss verstarb am 21. Dezember 1990 im Alter von 87 Jahren in Zol likon. Die von Boss begründete »Zürcher daseinsanalytische Schule« setzte ihren Akzent stark auf die praktische Anwendung des Heidegger'schen Denkens im Bereich der Psy chotherapie und Psychosomatik. Die weitere Entwicklung der daseinsanalytischen Psy chotherapie wurde schließlich vor allem durch Gion Condrau (1919–2006) und Alois Hicklin (1931–2016) geprägt. Condrau, 1919 als Sohn eines Arztes in Disentis geboren und aufgewachsen, studierte Medizin in Fribourg und Bern, anschließend Ausbildung in Psychiatrie/Neurologie, Neurochirurgie und Innerer Medizin. Danach erfolgte ein Studium der Philosophie mit Promotion zum Dr. phil. 1948 und die Ausbildung zum Psychotherapeuten. Sein Studium absolvierte er während seiner Aktivzeit in der Schweizer Armee. Er war 1945 als Delegierter des IKRK in Deutschland und 1953–54 als Offizier in der Schweizer Militärmission in Korea tätig. Während seines Aktiv dienstes machte er Bekanntschaft mit Medard Boss. 1953 Eröffnung einer Praxis als Spezialarzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. 1964 habilitierte er an der medizinischen Fakultät der Universität Zürich und an der Philosophischen Fakultät in Freiburg, wo ihm 1967 die Titularprofessur verliehen wurde. Er hatte verschiedene Lehraufträge inne u. a. an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich und am Institut für Angewandte Psychologie Zürich. 1971 gründete er zusammen mit Medard Boss und anderen in Zürich das Daseinsanalytische Institut für Psychotherapie und Psychosomatik, dessen Direktor und prägender Geist er war. Das Daseinsanalytische Institut war nicht nur ein Ort für Lehrveranstaltungen, sondern ein Ambulatorium für Psychotherapie, in dem die Daseinsanalytiker in Ausbildung die Möglichkeit bekamen, in einem durch erfahrene Praktiker begleiteten Rahmen den Einstieg in die Praxis zu finden. 1973 fand das Daseinsanalytische Institut dank seiner Bemühungen Aufnahme in die International Federation of Psychoanalytic Societis (IFPS). Auch bemühte er sich um Anschluss an die Bewegung der »phänomenologischen Anthropologie und Psy chotherapie«. In diesem Zusammenhang wurde die Zeitschrift Daseinsanalyse 1986 von Gion Condrau ins Leben gerufen. 1991 gründete er die »Internationale Vereinigung für Daseinsanalyse (IVDA)« und etablierte als Präsident Kongresse in vierjährigen Abständen, bei denen sich die assoziierten Gruppierungen aus Österreich, Frankreich, England, Belgien und Brasilien zum Austausch trafen. Am 21. November 2006 verstarb Gion Condrau nach längerer Krankheit.
2. Dasein und In-der-Welt-sein: Menschenbild der Daseinsanalyse Grundlage einer jeden Psychotherapie ist ein – je nach Schule – mehr oder weniger explizites Menschenbild. Im Gegensatz zu vielen anderen psychotherapeutischen Schulen hat sich die Daseinsanalyse sehr intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, 183 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
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was der Mensch – ob gesund oder krank – ist. Das Menschenbild der Daseinsanalyse gründet im Wesentlichen auf der Fundamentalontologie Martin Heideggers, wie sie erstmals in seinem Hauptwerk Sein und Zeit ausgearbeitet wurde. Im Zentrum der Heideggerʼschen Philosophie steht der Versuch, die überlieferte Philosophie des Ich oder des Subjekts zu überwinden. Heideggers Bestimmung der Seinsverfassung des Menschen setzt deshalb nicht bei dessen Selbst oder Ich an, sondern am Verhältnis »des seinsverstehenden Menschen zum Sein«.5 Der von Heidegger eingeführte Terminus »Dasein« bezeichnet also im Gegensatz zu den bewusstseinsphilosophischen Auffas sungen nicht die Subjektivität des Subjekts Mensch als Ich oder Selbstbewusstsein, sondern Dasein bedeutet selbsthafte erschlossene Existenz und ein Verhältnis zum Sein als Ganzem: „-sein« im Begriff »Dasein« nennt das Sein des Menschen, die Existenz. Das »Da« hat die ontologische Bedeutung der Erschlossenheit, und zwar der Erschlossenheit des existenzialen Seins des Menschen im Wesenszusammenhang mit der Erschlossenheit von Sein-überhaupt.«6 Im Existieren dieser Erschlossenheit begegnet dem Menschen alles Seiende, und zwar in zweifacher Weise: zum einen in einem faktischen Versetzsein in die Erschlossenheit (Geworfenheit), d. h. bei dem, wobei und worin der Mensch sich gerade befindet, zum anderen in der Weise des aufschließenden Offenhaltens der je schon faktischen Erschlossenheit (Entwurf, d. h. dasjenige woraufhin der Mensch sich richtet und entwickelt). Die menschliche Existenz ist wiederum durch verschiedene konstitutive Struktu ren, die sogenannten Existenzialien wie das existenziale Mitsein, In-sein in der Welt, Geworfensein, Entwerfen, Besorgen, Rede, Zeitlichkeit, Leiblichkeit, Angst und Schuld, Sterblichsein usw. charakterisiert. Entscheidend für die Verständlichkeit ist dabei aber, die Existenzialien nicht mit Eigenschaften des Menschen oder seines Bewusstseins gleichzusetzen. Es handelt sich dabei jeweils um spezifische Weisen des Erschließens des eigenen Seins, des umweltlichen Seienden und des Seienden im Ganzen. Erst aus dem Grundphänomen der Erschlossenheit oder »Lichtung« ist so etwas wie Bewusstsein ableitbar und nicht umgekehrt.7 Was besagt aber nun der Ausdruck »Sein überhaupt«? Heideggers Kritik an der traditionellen Philosophie zielt auf das Faktum, dass bisher die Frage nach dem Sein stets nur anhand der Frage nach der Seinsart von Seiendem (Gegenständen) und nach deren kategorialer Bestimmung, nicht jedoch anhand der Frage nach dem Sein selbst, welches diesen Seinskategorien zugrunde liegt, untersucht wurde. Dieses »einfache« Sein, im Unterschied zu dem Mannigfachen der Seinsarten des Seienden (ontologische Differenz), ist es, wonach Heidegger fragt und was er als »Sein überhaupt« oder »Unverborgenheit« bezeichnet.8 Der Mensch zeichnet sich insofern aus, als er ein »Seinsverständnis« bzw. ein Verhältnis zum Sein hat.
Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Subjekt und Dasein. Grundbegriffe von ›Sein und Zeit‹, Frankfurt am Main 1985, 10 ff. 6 Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Subjekt und Dasein, 21. 7 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 284. 8 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 155 ff. 5
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Wie bereits oben erwähnt, beginnt Heideggers Analyse der Grundstrukturen des Daseins bei dessen Lebenswelt, d. h. bei der alltäglichen und vorwissenschaftlichen Lebensumwelt. Dabei wird als Grundverfassung des Daseins das »In-der-Welt-sein« herausgearbeitet. Der Mensch ist in seiner ontologischen Verfassung als In-der-Weltsein immer schon in einer Welt. Dementsprechend gibt es kein isoliertes, selbstrefle xives Subjekt das irgendwo »draußen« liegenden Objekten gegenüberstünde. Und schon gar nicht gibt es ein »Bewusstsein«, das zwischen beiden vermitteln würde. Wie uns Heidegger in seinen Analysen in Sein und Zeit augenscheinlich vorführt, ist das In-der-Welt-sein primär praxisbezogen, d. h. einfach gesagt: Es orientiert sich an der Frage: Wofür ist etwas nützlich und wofür nicht?9 Heidegger übersetzt den griechischen Terminus »praxis« mit »besorgendem Umgang«.10 Ein Beispiel für das »praktische« In-der-Welt-sein findet sich in Heideggers Zeuganalysen: »je weniger das Hammerding nur begafft wird, je zugreifender es gebraucht wird, um so ursprünglicher wird das Verhältnis zu ihm, um so unverhüllter begegnet es als das, was es ist, als Zeug.«11 Weltlichkeit im Sinne des Besorgens des Alltags (praxis) findet letztlich auch im Begriff der »Sorge«, als dem Strukturganzen des Daseins, Ausdruck. Die Grundverfassung des menschlichen Daseins ist das In-der-Welt-sein. Dieses ist durch Verstehen, Befindlichkeit und Rede (Sprache) konstituiert. Das heißt also, dass sich menschliches Verhalten, Fühlen und Denken jeweils in einem Horizont von Verständlichkeit und Verstehbarkeit vollzieht (man könnte auch von »Sinnhaftigkeit« sprechen). Verstehbarkeit wiederum ereignet sich nicht im luftleeren Raum, sondern wird jeweils durch diverse Umstände mit-bestimmt oder ge-stimmt, was Heidegger mit dem Ausdruck »Befindlichkeit« bezeichnet.12 Und schließlich zeichnet sich Verständ lichkeit dadurch aus, dass sie sprachlich artikuliert und mitgeteilt wird als Rede, was insbesondere für die Psychotherapie, die ja hauptsächlich mit Sprache arbeitet, von großer Relevanz ist.13 Das Selbst des Daseins, zu dem das Dasein sich ausdrücklich oder unausdrücklich verhalten kann, ist dadurch bestimmt, dass es gleichzeitig auch Mit-sein mit anderen Menschen ist, d. h. das Verstehen von Selbst schließt unabhängig von der Anwesenheit oder Abwesenheit anderer Menschen ein Verstehen des Anderen mit ein. Hinsichtlich der Seinsweise des Selbst unterscheidet Heidegger wiederum zwei Modi: Das »Man-Selbst« ist die alltägliche und besorgende Weise des In-der-Welt-seins, während im Modus des »eigentlichen Selbst« das eigene Sein als Verhältnis zum Sein-überhaupt eigens thematisch wird (beispielsweise in der Stimmung der Angst oder in der Erfahrung der Endlichkeit der eigenen Existenz).14 Nicht im utilitaristischen Sinne verstanden! Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1986, 68. 11 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 69. 12 Vgl. dazu: Josef Jenewein, »Ich fühle, was Du nicht fühlst und das ist ... Über die Bedeutung der Indivi dualität von Gefühlen«, in: Daseinsanalyse – Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse 22 (2006), 110–117. 13 Vgl. Valeria Gamper, »Sprache als diagnostisches und therapeutisches Mittel aus Sicht der Daseinsana lyse«, in: Daseinsanalyse – Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse 15 (1998), 210–226. 14 Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Subjekt und Dasein, 38. 9
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3. Daseinsanalytische Praxis und Therapie Die bisher erwähnten philosophischen und anthropologischen Überlegungen implizie ren natürlich erhebliche Konsequenzen für die klinische Praxis, insbesondere auch für die Konzeption von Krankheit, Gesundheit und Psychotherapie. Das theoretische Krankheitskonzept der Daseinsanalyse orientiert sich an dem Grundprinzip der Priva tion.15 Ausgehend von der Gesundheit bedeutet Krankheit eben gerade das Fehlen von oder den Mangel an Gesundheit (Privation), d. h. Krankheit verweist geradezu auf Gesundheit (Heidegger selbst exemplifiziert diesen Verweisungszusammenhang an der typischen ärztlichen Frage »Wo fehlt es?«).16 Krankheit und Gesundheit sind in diesem Sinne nicht zwei Gegensätze, sondern verhalten sich wie Schatten und Licht: Der Schatten ist ein Fehlen von Licht. Konsequenterweise kann, wenn Krankheit als Fehlen oder Mangel – nicht aber als Defizit i. S. von Defekt – aufgefasst wird, Gesundheit selbst als Freiheit i. S. von Freisein von verschiedensten Einschränkungen und Freisein für verschiedenste Möglichkeiten des Verhaltens verstanden werden. Dies ist die eigentliche und strenge daseinsanalytische Definition von Gesundheit in körperlicher und psychischer Hinsicht. Condrau, der im Gegensatz zu Boss den Begriff »Neurose« beibehält, entwickelt seine Krankheitslehre genauso wie dieser anhand der Heidegger‘schen Daseinsanaly tik. Entsprechend der dort aufgewiesenen wesensmäßigen existenzialen Strukturen des menschlichen Daseins, der Existenzialen, analysiert er verschiedene Krankheitsbil der wie Depression, Angst- und Zwangserkrankungen, hysterische und narzisstische Erkrankungen. Anders als Boss17 bezieht sich Condrau bei seinen Analysen der einzel nen Krankheitsbilder nicht auf einzelne, bestimmte Existenziale, sondern versucht alle oder zumindest mehrere Existenziale zu berücksichtigen.18 Dies wurde anhand einer lexikalischen Begriffsbestimmung19 deutlich. Condrau fand, dass diese Einteilung zu oberflächlich war, den Kern des Krankseins vermissen ließ und insofern irreführend, als der Eindruck entstand, gewisse Krankheiten seien lediglich aus ihrer Erscheinung heraus (z. B. des Leiblich-seins) definierbar. Ein anderer Aspekt des daseinsanalytischen Krankheitsverständnisses wurde durch A. Holzhey-Kunz eingebracht. Holzhey-Kunz betont in ihrem Konzept die Bedeutung von anthropologischen Gegebenheiten als Ursachen von menschlichem Leiden oder Kranksein. Danach ist der Mensch aufgrund seines »doppeldeutigen Wissens«20 um sein Selbst und um die eigene Existenz für seelisches Leiden dispo 15 Von lat. privatio: Beraubung, Mangel; griech.: steresis. Die Privation ist von entscheidender Bedeutung in der aristotelischen Naturphilosophie. Die Privation ist die Abwesenheit einer bestimmten Form, welche das jeweilige Seiende bestimmt oder modifiziert. 16 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 58 f. 17 Exemplarisch ausgeführt in seinem Hauptwerk: Medard Boss, Grundriss der Medizin und Psychologie, Bern 1975. 18 Vgl. dazu auch: Holger Helting, Einführung in die philosophischen Dimensionen der psychotherapeutischen Daseinsanalyse, Aachen 1999. 19 Gion Condrau, Sigmund Freud und Martin Heidegger, Bern 1992, 99 ff. 20 Alice Holzhey-Kunz, Das Subjekt in der Kur, Wien 2002, 184 f.
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niert. Jeder Mensch hat – ob er will oder nicht – ein gewisses »philosophisches Grund wissen oder vorphilosophische Einsichten«, welche in ihrer Zweideutigkeit (ontologi scher Einschluss) Leiden verursachen können. So kann beispielsweise ein banaler Kopfschmerz »auf die Brüchigkeit meines leiblichen Existierens sowie auf die Unge wissheit, wann und wie mich der Tod ereilen wird«21 verweisen. Dementsprechend definiert Holzhey-Kunz seelisches Leiden als »Leiden am eigenen Sein«, als Folge einer »übermäßigen Hellhörigkeit für die Zumutung, das eigenen Leben führen zu müssen, ohne durch irgendeine innere oder äußere Instanz sicher geleitet zu sein«.22 Obwohl die Daseinsanalyse den Begriff der Neurose beibehält, erhält er im Gegen satz zur Psychoanalyse, nach der die Neurose Ausdruck eines unbewussten Konfliktes ist, eine völlig neue Bestimmung und bedeutet im Grunde ein im ontischen, alltäglichen Vollzug der einzelnen Existenzialien so oder so »gestörtes« oder »eingeschränktes« Weltverhältnis oder In-der-Welt-sein. Diese Konzeption schließt die Möglichkeit eines unbewussten Konfliktes als Ursache nicht aus, ist aber gesamthaft »breiter« angelegt. So betont Alois Hicklin beispielsweise die besondere Bedeutung der Beziehungen oder Beziehungsfähigkeit für die Entwicklung psychischer Erkrankungen.23 Wenn die Daseinsanalyse den Begriff »Weltverhältnis« dem der Neurose vorzieht, möchte sie eben auf die jeweils typischen und spezifischen Einschränkungen des Freiheitsund Handlungsspielraumes der von diesen psychischen Erkrankungen Betroffenen hinweisen und gleichzeitig Hinweise auf mögliche therapeutische Ansätze aufzeigen. Ich möchte das daseinsanalytische Verständnis von »neurotischem Kranksein« kurz an drei Beispielen illustrieren, wobei ich mich im Wesentlichen an die Konzeption von Condrau halten werde. Eine mögliche Klassifikation der einzelnen »Weltbezüge« – einem Vorschlag Hicklins folgend – findet sich in der Tabelle (siehe Tabelle 1).24
4. Daseinsanalytische Neurosenlehre 4.1. Das depressive Weltverhältnis
Unter diesem Begriff wird sowohl das in der psychiatrischen Nosologie als depressive Störung oder »Major Depression« (früher endogene Depression) bekannte Krankheits bild als auch die neurotische, depressive Reaktion, die reaktive Depression oder auch die depressive Neurose zusammengefasst. Der depressiv verstimmte Mensch ist vor allem im ontischen Austrag folgender Existenziale beeinträchtigt: der Offenständigkeit, des Gestimmtseins, des Zeitlich- und Räumlichseins, des Mitseins, des Leiblich- und Sterblichsein. Er ist eingeengt, kann sich von der Welt nicht mehr beanspruchen lassen bzw. erlebt sich selbst und die Umwelt nur mehr belastend und schwer. Die Alice Holzhey-Kunz, Das Subjekt in der Kur, 186 f. Alice Holzhey-Kunz, Das Subjekt in der Kur, 211. 23 Alois Hicklin, Begegnung und Beziehung, Bern 1982, 183 ff. 24 Alois Hicklin, Begegnung und Beziehung, 75 f. Hicklin befasst sich in diesem Buch besonders ausführlich mit den sog. Angststörungen. 21
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faktische Zeiterfahrung ist eingeschränkt; er bleibt gleichsam in der Zeit stehen. Die Vergangenheit lebt nur noch als schuldbeladene Anwesenheit, während die Zukunft nicht mehr als offener Möglichkeitsbereich, sondern nur mehr im Lichte des (uner träglichen) Gegenwärtigen erfahren wird. Dementsprechend ist der Depressive in sei nem Sterblichsein vom »Nicht-mehr-sein-können«, d. h. dem eigentlichen Aufruf, eigene Möglichkeiten als Möglichkeiten zu ergreifen, vermehrt auf das »Nicht-mehrmüssen« eingeschränkt und sehnt somit den Tod als vermeintliche Befreiung herbei. Gegenüber den Mitmenschen verhält er sich korrekt und ordentlich, womit er sich auch Distanz schafft (»typus melancholicus« nach H. Tellenbach). Gleichzeitig ist er auch überfürsorglich, ist für alle da außer für sich selbst oder zieht sich schließlich zurück. Es geht ihm im Mitsein weniger um den Anderen als Anderen, sondern mehr um das eigene, verarmte Selbst. Dies wirkt sich insbesondere auch auf die psychotherapeutische Behandlung aus, die häufig auch vom Therapeuten eine »einspringende Haltung«25 erfordert. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist die Abgrenzung der depres siven Verstimmung von der Trauer, welche als Reaktion auf einen Verlust definiert ist. Während der Trauernde in der Trauer gerade sehr intensiv in Beziehung steht, ist »die Depression Flucht vor der Beziehung in die Beziehungslosigkeit«.26
4.2. Das anankastische Weltverhältnis – die Zwangsneurose
Den Terminus »anankastisches« Weltverhältnis entwickelt Condrau anhand der von Gebsattel eingeführten Bezeichnung »anankastische Fehlhaltung«. Diese Bezeichnung geht auf das griechische Wort ananke, was Zwang, Notwendigkeit, Unvermeidlichkeit, aber auch Verhängnis, Schicksal, Not, Drangsal, Mühe und Elend bedeutet, zurück. Der Zwanghafte erscheint zunächst in seinem Weltbezug, in seiner ursprünglichen Freiheit des Daseins massiv eingeschränkt, und zwar letztlich einzig und allein auf seine Zwangshandlungen bzw. seine Rituale. Er ist ein »Mensch, der in seinem Selbst sein-Können geschwächt und wehrlos ist, weil er in einem bestimmten Weltbezug aufgeht, von diesem überschwemmt wird, ohne über ihn frei verfügen zu können«.27 Dieser bestimmte Weltbezug ist der Bereich der »Triebhaftigkeit«, welcher einerseits abgewehrt wird, andererseits aber in besonderer Weise Aufmerksamkeit erfährt, wie z. B. im Waschzwang die gesamte Aufmerksamkeit nur mehr auf Schmutz gerichtet ist oder in Form von sexuellen und aggressiven Phantasien, die bei Zwangskranken häufig vorkommen, jedoch von massiven Schulgefühlen begleitet sind. Dies führt Condrau dazu, sich in diesem Zusammenhang ausführlich mit dem Thema Schuld auseinander zusetzen, denn »wie kein anderes Leiden verweist das anankastische Weltverhältnis Vgl. dazu weiter unten: Mit »einspringender Fürsorge« wird – im Gegensatz zur »vorausspringenden Fürsorge« eine bestimmte therapeutische Haltung bezeichnet, die sich durch ein aktives und den Patienten bestimmendes Engagement auszeichnet. 26 Alois Hicklin, Begegnung und Beziehung, 264. 27 Gion Condrau, Einführung in die Psychotherapie, Frankfurt am Main 1989, 303.
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auf die Problematik von Angst, Schuld und Gewissen«.28 Der Zwangsneurotiker hat im besonderen Maße Mühe, Schuldgefühle auszuhalten; er hat Angst davor (Schuldangst). Condrau lehnt es jedoch explizit ab, von »unbewussten Schuldgefühlen« zu sprechen, sowie er das psychoanalytische Konzept einer analsadistischen Fixierung ablehnt. Schuld ist ein existenziales Phänomen und gehört als solches zum Menschen ebenso wie die Angst. Schuldgefühle oder das sog. schlechte Gewissen verweisen insofern zwar auch auf moralisch-ethische Verfehlungen, in erster Linie jedoch auf nicht ergriffene Existenzmöglichkeiten. In diesem Sinne bleibt jeder Mensch sich etwas schuldig (exis tentielle Schuld). Die Schuld ist jedoch beim Zwangskranken, der sein Leben fast aus schließlich in der Phantasie vollzieht und sich damit in doppelter Weise – moralisch und existentiell – schuldig macht, eben besonders stark und insofern auch »krankhaft« ausgeprägt. Zwangshandlungen und -gedanken dienen somit der Abwehr von Schuld gefühlen; gleichzeitig wird aber der Aufruf zu einer reiferen, selbständigeren Lebens weise überhört oder ignoriert. Dies zeigt sich besonders im Trotz des Zwangsneuroti kers.
4.3. Das narzisstische Weltverhältnis
Die narzisstische Problematik wird von Condrau folgendermaßen umrissen: »Der gute Narzissmus umfasst alles, was zur Entwicklung eines eigenen Selbstseins gehört: die Besinnung auf das Eigene, das Vertrauen und Verwurzeltsein im Eigenen, das Wissen um die eigenen Grenzen und Möglichkeiten.«29 Und weiter: Ein ständiges Abheben aus dem »Man-Selbst« braucht ein solches Selbstsein nicht, ebenso wenig wie ein ständiges Sichabstützen auf fremden Halt durch ideale Menschen, Ideen oder Absolutheiten, die gerade deshalb so ideal und absolut sein müssen, weil damit der Halt zuverlässig und sicher genug erscheint. In der pathologischen Variante des Narzissmus hingegen herrscht das Man-Selbst vor, während eine Entwicklung zum eigentlichen Selbst noch nicht stattgefunden hat.30
Condrau nimmt damit das innerhalb der Daseinsanalyse immer schon und immer noch sehr kontrovers diskutierte Thema der von Heidegger beschriebenen existen zial-ontologischen Strukturen der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit (das Verfallen) auf. Kontrovers insofern, als sie gelegentlich mit den Bedeutungen von »krank« und »gesund« – oder umgekehrt – im geläufigen Sinn gleichgesetzt wurden. Condrau selbst positioniert sich in dieser Debatte nicht ausdrücklich, betont jedoch, dass sich die psychoanalytische und daseinsanalytische Begrifflichkeit in Bezug auf das Selbst stark unterscheiden. Während die psychoanalytische Bestimmung von einem mit sich selbst identischen, d. h. gleichen Bewusstsein ausgeht, geht es im daseinsanalytischen Verständnis um die Selbigkeit des sich so oder so in der Welt zu den Dingen, zu den 28 29 30
Gion Condrau, Sigmund Freud und Martin Heidegger, 197. Gion Condrau, Sigmund Freud und Martin Heidegger, 158. Gion Condrau, Sigmund Freud und Martin Heidegger, 158.
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Mitmenschen und zu sich selbst verhaltenden Daseins. Dem Narzissten fällt es schwer, die notwendige Differenz zwischen dem Eigenen und dem Anderen zu akzeptieren, und er ist umso mehr in Wertekategorien von gleich und ungleich bzw. besser und schlechter etc. gefangen.31 Weil er nicht authentisch mit sich umgehen kann, kann er sich auch nicht für sich selbst entscheiden und lebt damit im Heidegger‘schen Sinn »un-eigent lich«. Der Andere kann nicht als Anderer erfahren werden; er »wird nicht in seiner Eigenständigkeit belassen und gesehen«, sondern zum »Gebrauchsding« oder zur »Ware« gemacht.32 Die Beziehung zu den Mitmenschen ist somit wesentlich durch Eifersucht, Neid und eine große Kränkbarkeit bei Zurückweisungen bestimmt. Diese Beziehungsgestaltung stellt dann auch insbesondere in der Behandlung eine besondere Herausforderung und Schwierigkeit dar, was beispielsweise H. Gisler-Frank eindrück lich in einer ausführlichen Kasuistik dargestellt hat.33
5. Daseinsanalytische Psychosomatik Die gesamte Problematik der Psychosomatik bzw. der psychosomatischen Medizin ist aufs engste mit dem philosophisch-erkenntnistheoretischen Leib-Seele-Problem asso ziiert. Die große Bedeutung und Aktualität psychosomatischer Fragestellungen hängen vermutlich wiederum mit den überwältigenden Fortschritten der naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin des letzten Jahrhunderts zusammen. Trotzdem wissen wir spätestens seit Freuds und Charcots Untersuchungen zu den sogenannten Konversi onserkrankungen, dass es zwischen körperlichen Krankheiten und dem psychischen Zustand bzw. Befinden einen irgendwie gearteten Zusammenhang gibt oder, negativ formuliert, dass physische und psychische Phänomene nicht unabhängig voneinander bestehen. Spätestens seit diesem Zeitpunkt gibt es verschiedenste Bemühungen, diese Erkrankungen zu verstehen und zu behandeln. Die Daseinsanalyse ist nun aufgrund ihrer intensiven philosophischen und erkenntnistheoretischen Auseinander setzungen mit der Leib-Seele-Problematik geradezu für psychosomatische Fragestel lungen prädisponiert. Dementsprechend versucht die Daseinsanalyse, das Problem der psychophysischen Wechselwirkungen an deren Wurzel, d. h. dem psychophysischen Dualismus, also der Trennung von Körper und Seele, anzugehen. Für Boss sind deshalb Begriffe wie »Somatogenie« und »Psychogenie« völlig hinfällig, wenn man »sowohl Seelisches wie auch Körperliches lediglich als Austragungsmedien der menschlichen Existenz« versteht.34 Den untrennbaren Zusammenhang zwischen Soma und Psyche hat V. von Weizsäcker folgendermaßen definiert: »Nichts Organisches hat keinen Sinn, Alois Hicklin, »Daseinsanalyse und Narzissmustheorie«, in: Daseinsanalyse – Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse 1 (1984), 120 f. 32 Alois Hicklin, »Daseinsanalyse und Narzissmustheorie«, 160. 33 Helga Gisler-Frank, »Therapie einer narzisstischen Störung mit psychosomatischen Beschwerden«, in: Daseinsanalyse – Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse 3 (1986), 121–166. 34 Medard Boss, Praxis der Psychosomatik, Bern 1978, 66 f. 31
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nichts Psychisches hat keinen Leib.«35 Um die Trennung zwischen Körper und Seele zu überwinden, spricht die Daseinsanalyse von dem Leib oder der Leiblichkeit. Leiblichkeit ist nach Heidegger ein Existenzial, d. h. also eine konstitutive Struktur des Daseins, und ist stark mit dem Phänomen der Räumlichkeit verknüpft: Der Leib ist jedenfalls kein Ding, kein Körper, sondern jeder Leib, das heißt der Leib als Leib, ist je mein Leib. Das Leiben bestimmt sich aus der Weise meines Seins. Das Leiben des Leibes ist somit eine Weise das Da-seins. Die Grenze des Leibens ist der Seinshorizont in dem ich mich aufhalte.36
Deshalb deckt sich zum Beispiel die Grenze des Körpers nicht mit der des Leibes. Der Leib hat also eine gänzlich andere Qualität als der Körper, was sich zum Beispiel in Phänomenen wie der Schamröte oder in Gebärden (z. B. das Zeigen mit dem Finger) zeigt. Sicherlich ist der naturwissenschaftlich verstandene Körper für das Verständnis des Leiblichen notwendig, jedoch nicht hinreichend. Gebärden haben nämlich Mitteilungscharakter und sind deshalb verstehbar und interpretierbar. Die ser Mitteilungscharakter findet sich nun auch typischerweise in psychosomatischen Erkrankungen. Im Gegensatz zu anderen psychosomatischen Ansätzen konzipiert die Daseinsanalyse psychosomatische Erkrankungen als eine bestimmte Weise des Bezugs oder des Verhältnisses gegenüber der Welt und den Mitmenschen (»psychosomatisches Kranksein ist vorwiegend eine Störung zwischenmenschlicher Beziehungen, die im leiblichen Existenzbereich ausgetragen wird«37). Typische Beispiele dafür sind derma tologische Erkrankungen wie Neurodermitis, Pruritus, Allergien oder andere Ekzeme, aber auch psychosomatische Erkrankungen im Bereich der Verdauungsorgane.38 Das Grundproblem der Neurodermitis beispielsweise beschreibt Condrau folgendermaßen: Sie (die Haut) ist nicht mehr Möglichkeit von Offenständigkeit und Weite, von Kommunika tion und Beziehung, sondern nur noch Austragungsort der Abgrenzung, der Distanzierung und Abwehr. Die Haut wird zum Problem. Die dadurch erfolgte Beziehungsstörung beruht auf Gereiztheit, Ärger, Wut.39
6. Daseinsanalytische Psychotherapie »Psychotherapie« – und hier trifft sich die Daseinsanalyse auch mit vielen anderen Autoren unterschiedlicher analytischer Richtungen – »geschieht durch die Sprache«.40 Die Grundhaltung des daseinsanalytischen Therapeuten charakterisiert Condrau mit folgender Frage: »In welcher Weise und Stärke ist welcher Weltbezug des Kranken 35 Viktor von Weizsäcker, »Ich und Umwelt in der Erkrankung«, in: Deutsche Medizinische Wochenzeitschrift 59 (1933), 1503–1505. 36 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, 113. 37 Georg Schwöbel, Psychosomatische Medizin, Zürich 1960, 203. 38 Medard Boss, Grundriss der Medizin und Psychologie, 421 f. 39 Gion Condrau, Unsere Haut, Zürich 1993, 103. 40 Walter Bräutigam, Psychotherapie in anthropologischer Sicht, Stuttgart 1961.
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aufgrund welcher Motive gestört?«41 Davon ausgehend lassen sich in einer daseinsana lytischen Psychotherapie drei wesentliche »Wirkfaktoren« beschreiben: 6.1. Die Beziehung zwischen dem Patienten und Therapeuten
Die Beziehung zwischen dem Patienten und Therapeuten (therapeutische Beziehung) ist in jeder Psychotherapie von zentraler Bedeutung. Sie ist eine echte und reale Beziehung zwischen zwei Menschen. Von dieser realen therapeutischen Beziehung muss das von Freud beschriebene Phänomen der »Übertragung« unterschieden werden. Bereits Binswanger kritisierte die psychoanalytische Auffassung der therapeutischen Beziehung als reine Wiederholung und betonte, dass dieses Verhältnis »immer auch ein eigenständiges kommunikatives Novum, eine neue Schicksalsverbundenheit im Sinne eines echten Miteinander« darstelle.42 Der Therapeut steht also nicht allein in der Funktion eines Spiegels, in welchem der Kranke bzw. seine gestörte Beziehung sichtbar wird, sondern stellt ein echtes Gegenüber im Sinne des »Mit-seins« dar und damit die Möglichkeit einer echten, reiferen Beziehung, in welcher der Andere als Anderer erscheinen und »sein gelassen« werden kann. Dieses teilnehmende »Sein-lassen« des Therapeuten, die sogenannte vorausspringende Fürsorge, ist nach Heidegger eine zwischenmenschliche Verhaltensweise, »die für den Anderen nicht so sehr ein springt, als daß sie ihm in seinem existentiellem Sein-können vorausspringt, nicht um ihn die ›Sorge‹ abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben«.43 Gleichwohl räumt beispielsweise Condrau die Existenz von Wiederholungen von früheren Beziehungsmustern im Sinne der Übertragung innerhalb der therapeutischen Beziehung ein, lehnt jedoch unbewusste Strebungen und Kräfte als deren Ursache explizit ab.44 Besondere Beachtung findet in diesem Zusammenhang das Phänomen des »Agierens«, d. h. der Umsetzung von während der analytischen Behandlung auftretenden Erinnerungen und von sie begleitenden Affekten in Handlungen. Dies veranlasste Freud ja bekanntlich, seinen Patienten während der »Kur« jegliches Treffen wichtiger Entscheidungen zu untersagen. Ähnlich wie Boss sieht Condrau im Agieren nicht allein ein Phänomen des Widerstandes im Sinne des Verdrängenwollens von Erinnerungen, sondern vielmehr – abgesehen von Ausnahmen natürlich, in welchen das Agieren die Fortführung der Therapie gefährdet – eine Verhaltensmöglichkeit, »die bisher unerlaubt war und nicht zum Austragen gelangte« und die »genauso unmittelbares und echtes Erscheinen neu aufkommender Beziehungsmöglichkeiten wie das gedankliche Erfassen sein kann«.45 Das heißt, dass das Zulassen und Gewähren des Agierens therapeutisch – dort wo es die Therapie nicht unmittelbar gefährdet – durchaus auch heilsam sein kann. Ähnlich scheint es sich bei dem Phänomen der 41 42 43 44 45
Walter Bräutigam, Psychotherapie in anthropologischer Sicht, 306. Ludwig Binswanger, »Geleitwort«, in: Heinz Häfner, Psychopathen, Berlin 1961, 1–7. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 122. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 308. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 288.
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sogenannten »negativen therapeutischen Reaktion« zu verhalten. Diese wurde bereits durch S. Freud beobachtet und als reaktive Verschlechterung des psychischen Zustandes (bzw. als Zunahme der Symptome) des Patienten auf eine an und für sich wichtige und richtige analytische Deutung (»einschneidende Lösung«) beschrieben.46 Aus daseinsanalytischer Sicht liegt der negativen therapeutischen Reaktion nicht einfach eine Abwehr eines Konfliktes, sondern eine schwere Beziehungsstörung zugrunde. Diese ist nach Hicklin besonders durch die Ambivalenz von Distanz und Nähe geprägt, so dass »ein freies und wechselvolles Spiel zwischen dem einen und dem anderen nicht mehr möglich ist und nach außen der Eindruck einer Erstarrung entsteht«.47 Thera peutisch sei deshalb wichtig, dass sich der Therapeut nicht zu einer defensiven Zurück weisung verleiten lässt sowie eine möglichst »stabile wohlwollende mittlere Distanz« einnimmt.48
6.2. Die Deutungsarbeit
Die Deutungsarbeit von Krankheitssymptomen, Verhaltensweisen und insbesondere von Träumen versteht die Daseinsanalyse als von der psychoanalytischen grundsätzlich verschieden. Sie ist im Wesentlichen eine phänomenologisch-hermeneutische Ausle gung und unterscheidet sich sowohl von der Freud'schen als auch Jung'schen Auslegung durch die Ablehnung der Symboldeutung. Condrau illustriert diese Unterschiedlichkeit anhand eines kurzen Traumes einer 28jährigen Frau: Die junge Frau träumte, in ihrem Mansardenzimmer bei offenem Fenster zu schlafen. Plötzlich wurde sie (im Traum) wach, da ein hölzerner Knüppel durch das Fenster in ihr Zimmer flog und auf dem Boden liegen blieb. Voller Entsetzten sah sie nun, wie aus dem Knüppel eine Schlange wurde, die auf sie zu kroch und unter ihrer Bettdecke verschwand. Mit einem Aufschrei wachte sie auf.49
Condrau kritisiert nun sowohl die psychoanalytische Interpretation des Traumes als eines »unbewussten sexuellen Wunschtraums« bzw. die symbolische Deutung des Knüppels und der Schlange als »Phallussymbole« als auch die Jungianische Interpreta tion als eines »archetypischen« Aufbruchs der Patientin aus ihrem schlafenden Dasein und damit als den Beginn eines »Individuationsprozesses«. Er sieht in der Schlange nichts weiter als »ein Tierwesen, das instinkthaft, unberechenbar beweglich, erd- oder wassergebunden ist und für den Menschen animalische Kreatürlichkeit bedeutet«.50 Bei der Auslegung bzw. therapeutischen Anwendung des Traumes wird stark zwischen dem Traum an sich und möglichen, vom Träumer nachträglich zugefügten »Einfällen und Assoziationen« unterschieden. Im Gegensatz zu Boss erachtet Condrau diese 46 47 48 49 50
Sigmund Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, Frankfurt am Main 1940, 100. Alois Hicklin, Begegnung und Beziehung, 146 f. Alois Hicklin, Begegnung und Beziehung, 150. Gion Condrau, Sigmund Freud und Martin Heidegger, 312. Gion Condrau, Sigmund Freud und Martin Heidegger, 312.
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Assoziationen für die therapeutische Anwendung als sehr wichtig und räumt ein, dass es im vorliegenden Fall durchaus denkbar sei, dass aufgrund der geträumten Begegnung mit der Schlange und der damit verbundenen Angst- und Ekelreaktion auch die Sexua lität ambivalent erfahren wird und dass dies schließlich mit einer Entwicklungsstufe zusammenhängt, welche die Individuation einleitet. Und gleichsam Freud auf den Kopf stellend fährt er fort: »Das Fazit dieser Überlegung ist also, daß dem geträumten Inhalt, also dem manifesten Traum, und dessen Auslegung Priorität einzuräumen ist.«51 All gemein wird aber zwischen der phänomenologischen Auslegung des Traumes einerseits und der unter Einbezug von lebensgeschichtlichen sowie anderen aktuellen Verwei sungszusammenhängen (Assoziationen, Erinnerungen, Erlebnisse usw.) vorgehenden therapeutischen Deutungsarbeit andererseits klar unterschieden. 6.3. Die Klärung der Lebensgeschichte
Geschichte bedeutet nicht Vergangenheit, sondern Herkunft. Das Da-sein ist also jeweils schon und gleichzeitig in den drei Ekstasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Heidegger spricht von »Geschick«. Die Lebensgeschichte bedeutet somit einen »Ereignis- und Wirkungszusammenhang, der sich durch Vergangenheit, Gegen wart und Zukunft hindurch zieht, ohne dass der Vergangenheit ein besonderer Vorrang zukommt«.52 »Wenn die Daseinsanalyse«, so Condrau, ihr besonderes Augenmerk dem »Hier und Jetzt« des Patienten widmet, so ist damit bereits die Erkundung der Biographie eingeschlossen. Daseinsanalytisch nämlich wird die Vergangenheit eines Menschen nicht als etwas »Vergangenes« im Sinne eines Abgefallenen und Erledigten verstanden, sondern als »Gewesenheit«, die als solche, wie das Wort sagt, stetsfort in die Gegenwart hinein anwest und in ihr mitspricht. Deshalb ermöglicht erst eine wissentliche Aneignung auch der Gewesenheit eines Menschen sein Ganz- und Gesund sein.53
Die therapeutische Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte, die mit viel Geschick, Zurückhaltung und Fingerspitzengefühl stattfinden muss, dient somit also einerseits, den Werdegang einer neurotischen Fehlhaltung zu ergründen, anderer seits dazu, um »unbearbeitete« Restanzen von traumatisierenden Beziehungsaspekten (Gewalttätigkeiten, zermürbende familiäre Atmosphäre, sexuelle Übergriffe usw.) zur Sprache zu bringen. Hicklin wiederum betont, dass der Umgang mit der Lebensge schichte jeweils sehr individuell und abhängig vom jeweiligen Patienten sein sollte. So könne beispielsweise eine zu starke Fokussierung der Lebensgeschichte eine »Ichals-Opfer-Haltung« oder eine Haltung des »Für-alles-selbst-verantwortlich-Seins«
51 52 53
Gion Condrau, Sigmund Freud und Martin Heidegger, 313. Gion Condrau, Sigmund Freud und Martin Heidegger, 324. Gion Condrau, Sigmund Freud und Martin Heidegger, 323.
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Die Zürcher Schule der Daseinsanalyse
zementieren und den Patienten in erdrückenden Schuldgefühlen zurücklassen.54 Das Ziel oder der Sinn der Auseinandersetzung mit der Biographie ist letztlich eine »Versöhnung mit der Vergangenheit, ohne die ein Sich-Öffnen für die Gegenwart und Zukunft nicht möglich ist«. Damit verweist Condrau auch den üblich gewordenen Vorwurf, die Daseinsanalyse kümmere sich nicht um lebensgeschichtliche Vorgänge, in den Bereich ignoranter Vorurteile. Die Therapie sollte in einer »gelösten, gelassenen und freien Atmosphäre« stattfin den können, was nur dann möglich ist, wenn sich der Therapeut selbst einer Analyse (Lehranalyse) unterzogen hat und damit dem Patienten »in seinem Freisein-Können voraus ist«.55 In seinem Buch Sigmund Freud und Martin Heidegger widmet Condrau deshalb diesem Thema ein ausführliches Kapitel, wobei er insbesondere auch spezifi sche Probleme der Lehranalyse intra muros, d. h. innerhalb eines Ausbildungsinstitu tes, behandelt.56
7. Schwächen, Einseitigkeiten und Ausblick 7.1. Absolutheitsanspruch und das Problem der Begrifflichkeit
Bereits sehr früh sah sich die Daseinsanalyse heftiger Kritik wegen ihrer philoso phischen, d. h. »unverständlichen« Begrifflichkeit und ihres Absolutheitsanspruches ausgesetzt. Sowohl vonseiten anderer psychotherapeutischer Schulen als auch von Ärzten wurde immer wieder die schwierige und unverständliche Terminologie der Daseinsanalyse kritisiert und der Wunsch geäußert, die einzelnen Termini doch in »ein fachere«, weil vertrautere, psychoanalytische Begriffe zu »übersetzen«. Auch innerhalb der Daseinsanalyse wurden darüber mehrfache Diskussionen geführt.57 Gerade in der Psychotherapie kommt dem gesprochenen Wort eine große Bedeutung zu, basierte sie doch primär auf Sprache. Die Art und Weise des Sprechens bestimmten aber auch sehr wesentlich den Inhalt des Gesprochenen, weshalb es nicht völlig irrelevant ist, welche Wörter oder Bezeichnungen jemand verwendet. Die Daseinsanalyse beruft sich in ihren anthropologischen Grundannahmen ausschließlich auf die Philosophie Heideggers, was sich dementsprechend auch in der Begrifflichkeit widerspiegelt. Obgleich die Terminologie Heideggers ungewohnt erscheint, bemüht sich sowohl Heidegger als auch die Daseinsanalyse um eine klare und einfache Begrifflichkeit. Für die Verständlichkeit einer Begrifflichkeit ist aber weniger die Geläufigkeit als ihre Sachhaltigkeit entschei dend. So werden heute beispielsweise viele psychoanalytische Termini, die mittlerweile auch Verwendung in der Alltagssprache gefunden haben (z. B. »Verdrängung«) z. T. völlig falsch und missverständlich verwendet; über die Bedeutung einzelner Begriffe 54 Alois Hicklin, »Die Bedeutung der Lebensgeschichte in der daseinsanalytischen Psychotherapie«, in: Daseinsanalyse – Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse 4 (1987), 4 f. 55 Gion Condrau, Sigmund Freud und Martin Heidegger, 324. 56 Gion Condrau, Sigmund Freud und Martin Heidegger, 327 ff. 57 Vgl. Gion Condrau, Daseinsanalyse, Dettelbach 1998, 183 f.
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wurden zwischenzeitlich mehrere Bücher gefüllt. Die Daseinsanalyse hat sich deshalb geweigert, ihre Begrifflichkeit der Psychoanalyse völlig anzupassen, insbesondere dort, wo es nicht sachgemäß wäre. Verschiedene andere Begriffe wurden – ebenso wie viele technische Regeln für die Praxis der Psychotherapie – übernommen bzw. neu präzisiert und ergänzt. In seinem Buch Daseinsanalyse – Philosophische und anthropologische Grundlagen (1998) hat sich Condrau intensiv mit der Freud'schen Begrifflichkeit auseinandergesetzt. Insbesondere Begriffe wie »Das Unbewusste«, »Übertragung«, »Fehlleistungen«, »Verdrängung«, »Projektion« oder »Trieb«, um nur einige zu nennen, unterzieht er einer ausführlichen und kritischen Analyse und versucht gleichzeitig, diese daseinsanalytisch zu verstehen und zu interpretieren. Die spezifische Termino logie der Daseinsanalyse begründet sich also – dort, wo überhaupt eigene Termini verwendet werden – jeweils aus der Sachhaltigkeit und nicht aus dem Bedürfnis nach einer eigenen Begrifflichkeit per se. Eine einfache Übersetzung der Terminologie Heideggers in psychologische bzw. anthropologische Begriffe war auch nie das Ziel der Daseinsanalyse und von Heidegger auch jeweils scharf kritisiert worden. Sowohl aufgrund der z. T. radikalen Kritik an der Psychoanalyse als auch an dem ausschließlich naturwissenschaftlich begründeten Denken der Medizin hat sich die Daseinsanalyse rasch dem Vorwurf eines »Absolutheitsanspruches« ausgesetzt gesehen. Ein vielfach kritisierter Punkt ist das daseinsanalytische Krankheitskonzept als Privation oder Einschränkung der Freiheit, welches in seinem Anspruch nach ständiger Wahrhaftigkeit und Offenheit (»Eigentlichkeit«) einerseits völlig idealistisch sei, andererseits Allgemeingültigkeit beanspruche, wenn z. B. kulturelle Unterschiede zwischen Menschen einfach ignoriert würden.58 Bezüglich des daseinsanalytischen Krankheitsverständnisses ist es enorm wichtig darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um kein normatives Konzept handelt i. S. von zu wenig oder zu viel Offenheit bzw. Freiheit. Diese ist jeweils individuell und eben auch von verschiedenen Umständen abhängig. Offenheit ist im daseinsanalytischen Verständnis ein anthropologisches Grundphänomen. Das Ziel einer daseinsanalytischen Psychotherapie besteht darin, die jeweilige Offenheit und die jeweils individuellen Verhaltensmöglichkeiten zu fördern.59 Es geht nicht allein um ein Frei-sein-von, sondern eben um ein Frei-sein-für das Begegnende. Es handelt sich mithin eigentlich um ein sehr pragmatisches Konzept. Das daseinsanalytische Krankheitskonzept ist sehr breit und damit vielleicht auch etwas unspezifisch, lässt andererseits aber ein großes Ausmaß an Individualität zu, was eine Stärke der Daseinsanalyse ist.
58 Sigbert Gebert, »Der Absolutheitsanspruch der Daseinsanalyse«, in: Daseinsanalyse – Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse 11 (1994), 242 bzw. 249. 59 Wucherer-Huldenfeld spricht in diesem Zusammenhang von »Befreiung«. Karl Augustinus WuchererHuldenfeld, »Freiheit und Befreiung in der Daseinsanalyse«, in: Daseinsanalyse – Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse 15 (1999), 211–223.
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Die Zürcher Schule der Daseinsanalyse
7.2. Die »Wissenschaftsfeindlichkeit« der Daseinsanalyse
Wie bereits erwähnt, ist die Daseinsanalyse entscheidend in der Auseinandersetzung mit der naturwissenschaftlichen Medizin entstanden. Die Kritik war z. T. so heftig, dass selbst eine empirische Erforschung von Psychotherapie abgelehnt bzw. stark bezweifelt wurde. Mit Recht wurde und wird ein einseitiges naturwissenschaftlich-technisches Ver ständnis in der Medizin kritisiert, wo sie Gefahr läuft, in einen einseitigen und reduktionistischen Materialismus zu münden.60 Typische Beispiele sind die Identifizie rung der Psyche mit dem Gehirn, welches wiederum einem komplizierten Computer gleichgesetzt wird. Demnach ist das, was der Mensch denkt, ganz in seinem Kopf. Aber auch das, was er unmit telbar wahrzunehmen glaubt, ist nur eine durch die Sinneseindrücke angeregte Konstruktion des Gehirnapparats, und niemand weiß mehr, ob das, was die Sinne uns vermitteln, ein bloßer Schein ist, der die Erkenntnis der wahren Wirklichkeit verstellt oder gar verunmöglicht.61
Die naturwissenschaftlich-technische Weltanschauung, so Padrutt, verlangt deshalb eine »doppelte Buchführung«, wenn sie sich im Alltag so verhält, »als ob sie in einer farbigen Welt zu Hause wäre, während sie gleichzeitig Kenntnis hat von der ortlosen Wüste und dem fensterlosen Verlies«.62 Es geht hier natürlich nicht nur um eine rein erkenntnistheoretische Auseinandersetzung, welche an sich ja sehr begrüßenswert ist. Im Kontext der Medizin und Psychotherapie müssen wir jeweils bedenken, dass wir es mit Menschen zu tun haben. In dieser Situation kann eine »doppelte Buchführung« problematisch sein. Dann kann es eben doch sehr entscheidend sein, welches »Men schenbild« der jeweilige Arzt oder Therapeut hat. Ein anderer kritischer Punkt ist die Frage nach der Wirksamkeitsforschung der Psy chotherapie im Allgemeinen und der Daseinsanalyse im Besonderen. Zwar liegt eine große Anzahl an daseinsanalytischen Kasuistiken vor, der empirischen Erforschung der Wirksamkeit hat sich die Daseinsanalyse bisher aber zu wenig gewidmet, was angesichts des heutigen Trends in der Gesundheitspolitik sicher ein Nachteil ist. Und nach Condrau dürfte einer empirischen Forschung aus daseinsanalytischer Sicht auch eigentlich nichts entgegenstehen.63 Die entscheidende Herausforderung dürfte 60 Vgl. Hansjörg Reck, »Notwendiges Zusammentreffen eines besinnlichen Denkens mit einem rechnenden Denken am Beispiel der gemeinsamen Behandlung psychosomatisch Kranker in einer Kinderklinik«, in: Daseinsanalyse – Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse 15 (1999), 175–188. 61 Hanspeter Padrutt, »Gedanken zu Geschichte und Zukunft der Daseinsanalyse unter besonderer Berück sichtigung der Zollikoner Seminare«, in: Manfred Riedel / Harald Seubert / Hanspeter Padrutt (Hrsg.), Zwischen Philosophie, Medizin und Psychologie – Heidegger im Dialog mit Medard Boss, Köln 2003, 75. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass das Computermodell des menschlichen Geistes mittlerweile überholt ist (»Bedeutungen stecken nun mal nicht im Kopf«, Hilary Putnam, The Meaning of Meaning, Frankfurt am Main 1979, 227). 62 Hanspeter Padrutt, »Gedanken zu Geschichte und Zukunft der Daseinsanalyse unter besonderer Berück sichtigung der Zollikoner Seminare«, 76. 63 Gion Condrau, Daseinsanalyse, 214.
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allerdings sein, angemessene Forschungsdesigns zu entwickeln, die den Behandlungs verlauf und die Bedingungen adäquat reflektieren.
8. Ausblick Wie auch viele andere analytisch und humanistisch ausgerichtete Therapieschulen hat die Daseinsanalyse in Zeiten manualisierter Therapieverfahren einen schwieri gen Stand. Infolge verschiedener gesundheitspolitischer Veränderungen und unter dem Diktat der Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit musste das Daseinsanalytische Institut für Psychotherapie und Psychosomatik im Jahr 2000 seine Tore schließen. Der von Gion Condrau und Alois Hicklin 1984 gegründete Schweizerische Fachver band für Daseinsanalytische Psychotherapie (SFDP), ein Berufsverband für praktisch tätige Daseinsanalytiker, besteht weiterhin und engagiert sich auf nationaler und internationaler Ebene für die Daseinsanalyse. Zudem besteht in Zürich weiterhin ein aktives Ausbildungsinstitut (Daseinsanalytisches Seminar) der Gesellschaft für hermeneutische Anthropologie und Daseinsanalyse, das von Alice Holzhey-Kunz geleitet wird, seit 2016 vom Bundesamt für Gesundheit akkreditiert ist und sich als Ort der »hermeneutischen Psychoanalyse« versteht. Nichtsdestotrotz ist das Interesse an der Daseinsanalyse in den letzten zehn Jahren deutlich zurückgegangen, was sich auch in einem schwinden Nachwuchs von daseinsanalytischen Psychotherapeuten zeigt. Die Gründe dafür mögen mannigfach sein, ein wesentlicher ist aber doch, dass die von der Daseinsanalyse kritisierten manualisierten und operationalisierten Therapieansätze unter der Fahne der Wissenschaftlichkeit sich bei den entscheidenden Behörden durchgesetzt haben. Ein weiterer Grund mag die in den letzten Jahren zunehmende Kritik an Heidegger (man könnte auch von Ablehnung sprechen) sein, die sich nicht selten in unreflektierten Vorwürfen äußert und denen man argumentativ auch nicht begegnen kann. Ein Hoffnungsschimmer ist indes das aufkeimende Interesse asiatischer, angloamerikanischer und osteuropäischer Länder an Heidegger und der Daseinsanalyse. Auf Antrag der International Federation of Daseinsanalytic Psycho therapy (IFDA) wurde die Daseinsanalyse 2019 als eigenständige psychotherapeutische Schule (EWO) durch die European Association for Psychotherapy (EAP) anerkannt.
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Die Zürcher Schule der Daseinsanalyse
Tabelle: Klassifikation psychischer Störungen (»Weltverhältnisse«) Daseinsanalyse
ICD-10/DSM-4
Angstgestimmtes Weltverhältnis
Phobien, Anpassungsstörung, generali sierte Angststörung, ängstlich-vermei dende Persönlichkeitsstörung
Depressiv gestimmtes Weltverhältnis
Major Depression, reaktive Depressionen, depressive Neurose,
Zwanghaft gestimmtes Weltverhältnis
Zwangsstörung, Zwang-Spektrumsstö rungen, anankastische Persönlichkeitsstö rung
Süchtiges Weltverhältnis
Störungen durch psychotrope Substanzen inkl. Alkohol
Narzisstisches Weltverhältnis
Narzisstische Persönlichkeitsstörung
Hysterisches Weltverhältnis
Histrionische, infantile, Borderline Per sönlichkeitsstörung
Manisches Weltverhältnis
Manische Störungen, bipolar affektive Stö rung
Schizoides Weltverhältnis
Persönlichkeitsstörung
Wahnhaft – paranoides Weltverhältnis
Schizophreniforme Störungen, Schizo phrenie, organisch bedingte wahn hafte Störungen
Selbst Eigentlichkeit Uneigentlichkeit
Welt
In-Sein
Bedeutsamkeit
Befindlichkeit
Bewandtnis
Verstehen, Rede
Abbildung 1: Schematische Darstellung des In-der-Welt-seins
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Hans-Dieter Foerster
Die Entwicklung der Daseinsanalyse in Österreich
1. Zur Geschichte der Therapieform und Forschungsrichtung Die Daseinsanalyse hat ihre Wurzeln in Wien. Für Martin Heidegger war die Disser tation von Franz Brentano, Professor für Philosophie, Phänomenologe u. a. in Wien, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (1862), wie er sagte, seit 1907 »Stab und Stecken meiner ersten unbeholfenen Versuche, in die Philosophie ein zudringen«.1 Das doppelte Leitmotiv von Heideggers Denken war: Die Frage nach dem Sein und die Frage nach der Wahrheit (Aletheia).2 Von der Denkweise Franz Brentanos, eines hervorragenden Aristotelikers, beeinflusst waren nicht nur Heidegger, sondern auch Edmund Husserl, Lehrstuhlinhaber für Philosophie in Wien und in Freiburg im Breisgau, dessen Nachfolger Martin Heidegger wurde, und der damals junge Sigmund Freud, der vier Semester hindurch Vorlesungen und Seminare bei Brentano besuchte und sogar ein Doktoratsstudium in Philosophie mit ihm abgesprochen hatte.3 In der Frühe der Griechen, in der die Wahrheit als Unverborgenheit, als ale theia, sichtbar wurde, ist grundlegend und wesentlich für die Theorie und Praxis der Daseinsanalyse. Diese, wenn man so will, heroische Zeit strahlt seitdem über die Jahrhunderte bis ins Heute. Ging es ums Verstehen von Wahrheit, war allerdings im Mittelalter die bekannte Adäquationstheorie – veritas als adaequatio rei et intellectus, als Übereinstimmung von Aussagen oder Urteilen mit einem Sachverhalt – geläufig. Diese Definition kann aber auch, folgt man Martin Heidegger, als Umkehrung verstanden werden: als »Angleichung der Erkenntnis an die Sache«. Beide Lesarten verfehlen das Phänomen, weil sie »Wahrheit« im Grunde bloß als »Richtigkeit« auffassen. Das greift zu kurz. Die »Welt der alten Griechen«, das ist nicht das, was einmal war; sie ist keine untergegangene Welt. Die Welt der alten Griechen ist unsere Welt. Alles, was war, ist nicht vergangen, sondern ist gewesen und kann jederzeit anwesen und uns als Aufgabe bevorstehen. In der Welt der alten Griechen ist die Wahrheit – die aletheia – zu Tage getreten und sichtbar geworden. Wahrheit als Unverborgenheit, dies hat später Martin Heidegger als Sein und das Fehlen der Wahrheit als Seinsvergessenheit ausgeführt. Damit erfolgt der Wandel des Verständnisses des Menschen, der mit einer Psyche ausgestattet ist, wie es z. B. im Verständnis des Menschen als eines »somato-psycho1 2 3
Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, 81. Vgl. Walter Biemel, Martin Heidegger, Hamburg 1973, 35. Vgl. Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Wien 1994, 162.
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Hans-Dieter Foerster
sozialen Systems« oder im Verständnis von »Psychotherapie« überhaupt artikuliert ist – hin zum Verständnis des Menschen eines anwesenden Wesens, das durch ständige Anwesenheit und Erscheinungen aus dem Verborgenen (dem Grund) bestimmt ist (Gedanken, Erinnerungen, Träume etc.). Mit der »Wiederholung« des »großen Anfangs« der Griechen hat Martin Heidegger Jahrhunderte überbrückt. Sein berühmter Gedanke, dass die Welte »welte«,4 spricht vom Aufblitzen der Wahrheit. Sich diesem Geschehen, dem Ereignis, zu stellen, die Freiheit, die eigenen Gedanken zu leben, das erst macht frei. Im Ereignis waltet stillschweigend die Zugekehrtheit des verborgenen Grundes, dem sich alles verdankt, was »ist«. Diese Zugekehrtheit des Grundes ist zunächst freilich so gut wie unsichtbar und benötigt eine Freilegung. Weg von jeglichem Psychologismus hin zur reinen Erscheinung, das ist die Freiheit des Menschen. Was ist da alles über die Jahrhunderte verloren gegangen, als der Mensch verstanden wurde z. B. als animal rationale, als Geschöpf Gottes (Gott als das höchste Seiende verstanden), als homo faber oder als »somato-psycho-soziales System«. Mit Martin Heidegger kam das Verstehen des Menschen als »Da-sein« und das Verstehen der »ontisch-ontologischen Differenz«. Die Entwicklung der Daseinsanalyse verdankt ihre Entstehung den geistigen Erneuerungen, die auf die beiden Weltkriege folgten. Es gab ein wissenschaftliches Unbehagen über die traditionelle systematisierende klinische Psychopathologie (Neu rose, Psychose, Endogenität und so weiter), und die Suche nach einem neuen Grundla genverständnis des Menschen, menschlicher Existenz und der Störungen der Existenz begann. Unter dem Eindruck von Heideggers Sein und Zeit (1927) wies der Begrün der der Daseinsanalyse, Ludwig Binswanger (1881–1966), Schritt für Schritt nach, wo und wie eine monopolisierte naturwissenschaftliche Denkmethode im Bereich menschlichen Verhaltens zu kurz greift und gerade das spezifisch Menschliche unse res Existierens verfehlt. »Welt« ist in der Daseinsanalytik nicht mehr Objekt, von einem ichhaften Subjekt getrennt wie in der cartesianischen Philosophie, die für die Naturwissenschaften grundlegend wurde, sondern von Anfang an und untrennbar »Mitwelt«. Der Mensch lebt und »hat« immer schon Welt. Das bedeutet nicht, dass er in einer Welt unter verschiedenen Dingen lebt, sondern er selbst findet sich immer schon in einer Welt. So ist Welt immer schon Mitwelt, mit anderen Menschen geteilte Welt, und Beziehungen müssen nicht erst gemacht werden, sondern bestehen immer schon. So ergibt sich die Frage, wie diese Beziehungen eines Menschen aussehen. Vor aller Unterscheidung von »gesund« und »krank« steht der Mensch und seine Welt, der Mensch leibhaftig anwesend und gleichzeitig situiert in und mit seiner Welt. Dies wird bedeutungsvoll bei psychisch Kranken, deren Beziehungen und In-der-Welt-sein verkümmert sind. Medard Boss (1903–1990) erweiterte den Anwendungsbereich der Daseinsanalyse auf die Gebiete der Neurosenlehre, der Psychosomatik und der Traum lehre und begründete die Daseinsanalyse als eigene Richtung der Psychotherapie. 4 Diese Formulierung hat im Werk Heideggers einen besonderen Stellenwert. Am vielleicht eindrücklichsten erklärt wird sie in: Martin Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerks«, in: ders., Holzwege, hrsg. von Fried rich-Wilhelm von Herrmann (GA 5), Frankfurt am Main 1977, 30 f.
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Die Entwicklung der Daseinsanalyse in Österreich
2. Theoretische Grundlagen (inkl. Persönlichkeitstheorie und Krankheitslehre) Im Zentrum der Daseinsanalyse steht das Sich-Verstehen des Menschen auf sein Dasein anstelle einer Deutung des Menschen als eines vernunftbegabten Wesens (animal rationale), gespalten in einen Körper und in eine Seele (Psyche). Ausgangspunkt des daseinsanalytischen Krankheitsverständnisses ist das Existieren des Menschen. Existenz meint hier nicht das bloße Vorhandensein des Menschen als eines Lebewesens, das sich nicht nur kognitiv, sondern auch frei und verantwortlich verhält, sondern bezeichnet die besondere Seinsweise des Menschen (traditionell gesprochen: seine »Seele«): das »Da-sein«. Dieses besteht darin, dass wir selbst leibhaftig anwesend (da) sind, indem wir jeweils mit- und füreinander einen Weltbereich offenhalten und uns selbst aus ihm und zu ihm zu verhalten haben (Freiheit). Zu diesem Sichverhalten gibt es kein Gegenteil. Daseinsanalytische Psychotherapie versteht die seelischen Leiden als Weisen unfreien Existierens in Bezug auf die jeweilige Um- und Mitwelt. Für die Daseinsanalyse haben seelische Symptome einen Sinn, deren Klärung den Kranken zu sich selbst und zum Grund seines Leidens führt. 2.1. Therapietheorie
Von besonderer Wichtigkeit ist die Deutungsarbeit in der Therapie, d. h. die herme neutische Auslegung dessen, was im Verlauf der Therapie zu Tage tritt, sofern es im Rahmen der Beziehung von Therapeuten und Klienten bedeutsam wird (Hermeneutik ist die Lehre, Bedeutungen in den lebensweltlichen Zusammenhang zurückzubinden, dem sie entstammen; hermeneutischer Zirkel, existenzial-ontologische Analyse des Verstehens). Die daseinsanalytische Deutungsarbeit vermeidet es, Phänomene durch Vermutungen und Erklärungen zu hintergehen, z. B. wird nicht auf »unbewusste« Triebregungen oder Wünsche geschlossen, die phänomenal gar nicht gegeben (oder mitgegeben) sind, sondern man bleibt beim Phänomen, seinem Bedeutungsgehalt und den Verweisungszusammenhängen. Phänomene zeigen und enthüllen sich von sich selbst her und bedürfen keiner Rückführung auf hypothetisch dahinter angenommene Strebungen. Das Wort " kommt vom griechischen Wort phainesthai, das heißt »zeigen«, »sich von sich selbst her zeigen«. Nicht mehr der Mensch gibt den Dingen ihre Bedeutung, sondern die Dinge selbst zeigen von sich her, was sie sind. Sinn und Grund des Sich-Zeigenden ist meistens verborgen und muss hermeneu tisch aus- und freigelegt werden. Es geht im Dasein um den faktischen Vollzug des In-der-Welt-seins. Das gilt besonders innerhalb der therapeutischen Beziehung. Die Beziehung zwischen Analytiker und Analysand ist die Grundlage einer jeden Psycho therapie, egal ob beide darum wissen oder nicht. Die dabei auftretenden Beziehungs momente zwischen Analytiker und Analysanden werden nicht als »Übertragung« von Gefühlen, die früheren Bezugspersonen gegolten haben, auf den Analytiker, sondern als zurückgebliebene Verhaltensweisen, die nun dem Analytiker selbst gelten, verstanden. Schuld wird vormoralisch als ein existenziales Schuldigsein verstanden; 203 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
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sie bezieht sich auf das, was jemand seiner Existenz schuldig geblieben ist, d. h. auf die Lebensbereiche, die noch nicht zum Zug kommen konnten. Stimmungen (der affektive Bereich) erschließen primär und unmittelbar (meist in Abkehr vom eigentlichen Selbstsein-Können) unser Weltverhältnis. Beispielsweise zeigt sich in der Angst die »Mög lichkeit«, nicht mehr in der Welt sein zu können: Angst vor dem Nichts und um die eigene Existenz. Der Traum ist ein wichtiges Therapeutikum, das keiner Umdeutung durch die Annahme eines dahinter liegenden Wunsches bedarf, der Mensch ek-sistiert (»Ek-sistenz« mit »k« geschrieben bezeichnet das Hinausstehen des Daseins in seine Welt) wachend und träumend. Der Traum wird so genommen, wie er sich von sich her zeigt. Dementsprechend wird nicht ein manifester Trauminhalt von einem latenten unterschieden. Das Dasein besteht aus verschiedenen Grundzügen, die sein Wesen ausmachen. Es wurden schon genannt das Welt-Haben (In-der-Welt-sein), das Immer-schon-inBeziehung-Stehen« mit Umgebenden, z. B. Mitmenschen (Mit-sein). Weitere Grund züge sind u. a. das eine Stimmung Haben (gestimmt sein), Zeit haben (zeitlich sein) und Träumen (Es träumte mir vergangene Nacht ...). Phänomenologie verlangt größtmöglichen Respekt vor der Selbstgegebenheit des menschlichen Phänomens, seinem Dasein und Ek-sistieren. Dasein meint unser Sich-Aufhalten und Anwesen im Offenen unserer Um- und Mitwelt. Wir vollziehen es als Ek-sistieren, d. h. Hinausstehen ins Offene der Welt des uns Begegnenden, das wir aus- und durchzustehen haben. Dieses frei verantwortete Offenständigsein ist uns selbst (als Person) zum Vollzug aufgegeben. Daseinsanalytische Psychotherapie versteht die seelischen Leiden als Erscheinung von Verstrickungen und Konflikten aus Verdeckungen und Verdrängungen des Eksistierens. Das therapeutische Ziel ist optimales Sich-offenhalten-Können für den jeweiligen Weltbereich, optimales Wahr- und Freisein, Ermöglichung eines sinnvollen eksistentiellen Sichverhaltens, also primär keine Freilegung (Analyse) der Existenz, sondern des Daseins und seiner Dynamik, in der es um Sein oder Nichtsein, Leben und Tod geht, aber auch um unser eigenes Selbstsein (was wir dem Dasein im Gewissen schuldig sind) und um das Sorgetragen für uns selbst, für Andere (Mitsein) wie auch für unsere Umwelt. Medium daseinsanalytischer Psychotherapie ist das analytische Gespräch, die vertiefte Einsicht und Auseinandersetzung mit der eigenen Ek-sistenzweise, mit Ängsten, Wünschen, Konflikten und abgewehrten Bereichen, ermöglichen soll. Tech nisch-praktisch ist die Daseinsanalyse eine daseinsgemäße Weiterentwicklung der Grundelemente klassischer Psychoanalyse (wie z. B. Setting, analytische Beziehung, Übertragung, Widerstand und vor allem Traumauslegung). Die Behandlung erfolgt in Couchlage oder im Sitzen mit ein- oder mehrmaligen Sitzungen pro Woche als Einzel- sowie Paar-, Familien- oder Gruppentherapie für alle Altersstufen und umfasst auch Sterbebegleitung.
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Die Entwicklung der Daseinsanalyse in Österreich
2.2. Zukunft der Psychotherapie
Die heutige Psychologie, Psychotherapie und Medizin orientieren sich zunehmend an einem biologistischen Modell des Menschen. In einer phänomenologisch orientierten Philosophie werden diese Bereiche der menschlichen Existenz neu reflektiert (Philoso phie fragt nach dem Grund und Sinn der Welt und des Daseins in ihr). Die Daseinsanalyse hat die Weiterentwicklung der Psychotherapie fundamental befruchtet und hat einen wesentlichen Beitrag zur Zukunft der Psychotherapie geleistet. Sie ist der sorgfältigste Zugang zum Menschen. Dieser Sichtweise, die um eine methodische Freilegung der Phänomene in ihrem Sinngehalt und Grund bemüht ist, scheint die »Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10)« der Weltgesundheitsorganisation WHO wenigstens im Ansatz entgegenzukommen: »Diagnostizieren ist Beschreibung der Phänomene.« Es wird versucht, einem phänomennäheren und insofern »atheo retischen« Ansatz folgend auf hypothetische Begriffsbildungen wie etwa Neurose, Psychose und Endogenität zu verzichten und diese durch Einführung einer deskriptiven, an diagnostischen Kriterien orientierten Klassifikation zu ersetzen.5 2.3. Therapieziel
Mit ihrem Grundverständnis eignet sich die Daseinsanalyse für die Behandlung aller seelischen Störungen, wenn der Kranke motiviert, bereit und in der Lage ist, sich mit der eigenen Ek-sistenz und deren Konflikten auseinanderzusetzen. Das therapeutische Ziel ist ein optimales Sich-offenhalten-Können für den jeweiligen Weltbereich und die Ermöglichung freien Existierens durch Freilegung des Daseins und seiner Dynamik, in der es um Sein oder Nichtsein, Leben und Tod geht, aber auch um unser eigenes Selbstsein sowie das Sorge-Tragen für uns selbst und für Andere (im Mitsein) wie auch für unsere Umwelt (alles belebte und unbelebte Nichtmenschliche, das im Offenen der Welt uns begegnet).
3. Das Daseinsanalytische Institut in Wien. Zur Geschichte Bei einem Blick in die Geschichte des Institutes zeigt sich: Es gibt keinen Zweifel, dass es das »Österreichische Daseinsanalytische Institut für Psychotherapie, Psychosomatik und Grundlagenforschung (ÖDAI)« ohne Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld nicht geben würde. Es begann 1989 mit der Gründung der Österreichischen Gesellschaft für Daseinsanalyse (ÖGDA) in Otterthal/Niederösterreich (wo Wittgenstein als Lehrer tätig war), bei der Tagung »Ost-West-Dialog«. Mit der Gründung der ÖGDA war der Grundstein für die Daseinsanalyse in Österreich gelegt. Dieser Gründung vorausge gangen waren unregelmäßige Seminare an verschiedenen Orten in Wien, die sich mit 5 Vgl. Horst Dilling u. a., »Kapitel V (F), Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis«, in: dies. (Hrsg.), ICD-10 Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Bern 2000, 9–23.
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den philosophischen Schriften von Martin Heidegger und mit den Schriften der Zürcher daseinsanalytischen Schule befassten. Es kam zu regelmäßigen Veranstaltungen und Seminaren, zur Erstellung eines Semesterprogramms und zu alljährlichen Tagungen, die der Theorie und der Praxis der Daseinsanalyse gewidmet waren. Aufbauend auf die Tradition des Zürcher Daseinsanalytischen Instituts kam es durch Philosophen der Universität Wien (Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, Helmuth Vetter, Günther Pöltner, Karl Baier) und Psychotherapeuten daseinsanalytischer Prägung wie Perikles Kastrinidis, Johann Georg Reck und Hans-Dieter Foerster zu einer Weiterführung und Vertiefung der Daseinsanalyse. Nach und nach kam bei den Teilnehmern der Seminare der Wunsch nach Schaffung eines daseinsanalytischen Ausbildungsganges zum Psychotherapeuten mit öffentlicher Anerkennung auf. So wurde, mit ideeller und materieller Unterstützung des Daseinsanalytischen Instituts für Psychotherapie und Psychosomatik in Zürich (Medard Boss Stiftung), welches das Patronat übernommen hatte, 1995 das Österreichische Daseinsanalytische Institut für Psychotherapie, Psychosomatik und Grundlagenforschung (ÖDAI) gegrün det, das die Österreichische Gesellschaft für Daseinsanalyse (ÖGDA) ablöste und einen speziellen Ausbildungsgang zum Psychotherapeuten anzubieten begann. Naturgemäß taten sich bei der Gründung eines Ausbildungsinstitutes viele Schwierigkeiten auf, sowohl in organisatorischer als auch in finanzieller Hinsicht. Immer wieder kam von Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, wenn die Wellen der Probleme über unseren Köpfen zusammenzuschlagen drohten, der Hinweis, »dass es auf dem Weg vom Nichts zum Sein Bodennebel gibt«. Es war die Rettung, dass es einen gab, der den Karren wieder in Gang brachte, wenn er stecken zu bleiben drohte. Das erfuhr auch der Psychotherapiebeirat des Bundesministeriums für Gesund heit bzw. dessen Gutachter. Sie erfuhren, dass das Unbewusste und das Anwesen aus einem Verborgenen nicht dasselbe sind. Unbewusstes spricht sich immer einem Bewusstsein zu, wobei ungeklärt bleibt, wer der ist, der Bewusstsein hat. Dagegen geht es beim Anwesen aus einem Verborgenen immer um den ganzen Menschen, um sein Dasein, dem es vom Grund her um Sein oder Nichtsein, Leben und Tod geht. So wurde die Daseinsanalyse im August 2004 als »Neue Methode der Psychothera pie« (Ausbildungsrichtung) und das Österreichische Daseinsanalytische Institut für Psychotherapie, Psychosomatik und Grundlagenforschung (ÖDAI) als (methodenspe zifische) Ausbildungseinrichtung vom Bundesministerium für Gesundheit anerkannt. Das Institut ist Ausbildungsstätte für Psychotherapeuten, gleichzeitig bietet das Institut Patientinnen und Patienten mit psychischen Problemstellungen ein breites Angebot an Behandlungsmöglichkeiten. Sowohl das Institut als auch die Gesellschaft sind Mitglied der 1991 von Gion Condrau gegründeten Internationalen Vereinigung für Daseinsana lyse (IFDA). Demnächst erfolgt die Aufnahme in die EAP (European Association for Psychotherapy), wodurch Psychotherapeuten mit einem daseinsanalytischen Diplom in anderen europäischen Ländern arbeiten können. Die Semesterveranstaltungen und wissenschaftlichen Tagungen der ÖGDA und des ÖDAI sind seit 1992 dokumentiert. ÖGDA und ÖDAI organisierten bisher neun wissenschaftliche Tagungen in Wien, waren zweimal Hauptveranstalter der Tagungen 206 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
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der IFDA, des II. FORUM (1994) und des V. FORUM (2003), hielten beim ersten und zweiten Weltkongress für Psychotherapie in Wien jeweils einen Hauptvortrag,6 waren vertreten bei Workshops und Subsymposien und waren am Programm der Emeritierungsfeier des Präsidenten der ÖGDA beteiligt Im Oktober 1994 veranstaltete die Österreichische Gesellschaft für Daseinsanalyse das II. Forum der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse zum Thema »Phä nomenologie und psychotherapeutische Praxis« im Kleinen Festsaal der Universität Wien. Als bemerkenswerter Aspekt dieses reichhaltigen Tagungsprogrammes ist die aktuelle internationale wissenschaftliche Rezeption der Daseinsanalyse zu nennen. Die Beiträge insbesondere aus dem französischen und auch osteuropäischen Sprachraum umfassten ein Drittel des gesamten Tagungsprogrammes. Das Thema »Traum« wurde in den Referaten »Bedeutung und therapeutische Aspekte der Todesträume«7 von Gion Condrau und »Ontologische Traumauslegung«8 von Uta Jaenicke behandelt. Das Thema von Binswangers Wiener Festrede von 1936 zum 80. Geburtstag von Sigmund Freud wurde neu aufgegriffen und gemäß der gleichnamigen Dissertation unter dem Titel »Die Geburt der Psychoanalyse im Lichte von Heideggers Daseinsanalytik«9 von Kristina Karall referiert. Phänomenologie, die Methode der Daseinsanalyse, ist ein Offen-Sein für das Wunder unserer Welt, die in der Weite zwischen Himmel und Erde ausgestreckt liegt. Diese Zusammenarbeit von Philosophen der Universität Wien und Psychothera peuten führte zu einer Weiterführung, Vertiefung und zu einem neuen Weg in der Daseinsanalyse und machte Wien zu einem ihrer Zentren. Die Vertiefung wurde bedeutsam für Patienten, die eine Behandlung benötigen, für jene, die sich in Psycho therapie ausbilden, für Menschen, die auf der Suche nach sich selbst sind und für andere psychotherapeutische Richtungen, für welche die Daseinsanalyse eine Heraus forderung ist. Auch wurde die Daseinsanalyse bedeutsam für Wien, wo Sigmund Freud die Grundlagen der Psychotherapie legte.
Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, »Was heisst Wirklichkeit? Ein ontologischer Beitrag zum Wirk lichkeitsverständnis der Psychotherapie. Überarbeiteter Hauptvortrag vom 7. 7. 1999, gehalten am 2. Weltkongress für Psychotherapie Mythos – Traum – Wirklichkeit in Wien«, in: Daseinsanalyse – Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse 16 (2000), 51–62. 7 Gion Condrau, »Bedeutung und therapeutische Aspekte der Todesträume«, in: Daseinsanalyse – Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse 1 (1995), 206–211. 8 Uta Jaenicke, »Ontologische Traumauslegung«, in: Daseinsanalyse – Jahrbuch der Internationalen Vereini gung für Daseinsanalyse 1 (1995), 199–205. 9 Kristina Karall, »Die Geburt der Psychoanalayse im Lichte von Heideggers Daseinsanalytik«, in: Daseinsanalyse – Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse 1 (1995), 138–144. 6
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Johann Georg Reck
Mögliche Beziehungen in einer gemeinsamen Welt1
1. Einleitung Das Wintersemesterthema 2019 lautet »Selbstsein und Mitsein – Phänomenologie von Beziehungen und therapeutische Praxis«. Es erinnert an das Semesterthema des Sommers 2009 mit dem Titel: »Selbstsein in der Praxis der Psychotherapie«. Ich stellte damals mein Referat unter die Titelfrage: »Wie komme ich zu mir selbst und damit zu den Anderen?«. Heute lautet der Titel meines Referats: »Mögliche Beziehungen in einer gemeinsamen Welt«. Damit ist wieder ein Selbstsein und ein Miteinandersein angesprochen. Lohnt es jedoch, darauf zurückzukommen? Sind nicht beide eine Selbst verständlichkeit, bei der es sich fragt, was es hierüber in einem Seminar noch zu sagen gebe? Wenn man aber bedenkt, was im Selbstsein wie auch im Miteinandersein sowohl an faszinierendem, wie manchmal irritierendem Fremden, als auch an Vertrautem täglich zu erfahren wäre, öffnet sich ein weiter Raum. Wir können ihn im Gespräch, das Vertrauen erweckt, erkunden. Dies ist ein Gespräch, das mit dem Spracherwerb ab den frühesten Lebensjahren beginnt. Ein Gespräch, in dem in einer gemeinsamen Welt meine und die Sicht des Anderen von den thematischen Dingen offenbar wird. Ein offenes Gespräch, in dem sich umso mehr ein Freiraum entfalten will, als in unserer Zeit das rechnende Denken und die Künstliche Intelligenz immer raumeinnehmender und -bestimmender werden.2 Miteinander in einer Welt zu sein, heißt, sie sowohl gemeinsam zu nutzen als auch zu pflegen. Wir können das, wenn wir nur redlich dabei sind. Vorurteilsfrei angespro chen von den heutigen Kontaktmöglichkeiten rund um die Erde, doch auch betroffen von den Gefahren einer globalen Klimabeschädigung durch unsere Machenschaften auf dieser Erde, sollte sowohl eine notwendige gemeinsame wie individuelle Verantwortung wahrgenommen und nicht nur gegenseitig zugeschoben werden. Mit anderen Worten sei gefragt: Wie kann unser Verhältnis zu uns, zum Mitmenschen, zum Staat und zur Technik frei bleiben?
Vortrag an der Universität Wien im Wintersemester 2019/20 zum Semesterthema " Grundfragen der Daseinsanalyse. Selbstsein und Mitsein – Phänomenologie von Beziehungen und therapeutische Praxis«. 2 Vgl. Stefan Betschon, »Geister in der Maschine«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 8. Oktober 2019. Ich werde zunächst einige von Heideggers Ausführungen im 4. Kapitel des 1. Abschnitts von Sein und Zeit, nämlich die §§ 25, 26 und 27 referieren, die mir auch besonders für eine Psychotherapie relevant erscheinen. Sie sind überschrieben: »Das In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein. Das Man«. 1
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Johann Georg Reck
Ich gliedere mein heutiges Referat in drei Teile, in denen ich zu Folgendem spreche: 1. Zum philosophischen Hintergrund des mit dem Selbstsein und Mitsein genannten Daseins;3 2. Zu Selbstseins und Mitseins-Erfahrungen im Alltag; 3. Zu Selbstseins und Mitseins-Erfahrungen in der Psychotherapie.
2. Ausführungen zum Verständnis von Selbstsein und Mitsein 2.1. Philosophischer Hintergrund zum Selbstsein (Sein und Zeit, § 25)
Ausgehend von der unbezweifelbaren Gegebenheit eines »Ich« wird Selbstsein als je meines und Dasein als ein Seiendes verstanden, »das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt«, nicht bloß vorhanden ist, sondern als ein »Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«.4 Dasein ist »Seiendes, das je ich selbst bin«.5 Wer aber bin ich? Was ist mein Wesen? »Das `Wesen´ des Daseins«, so Heideggger, »liegt in seiner Existenz.«6 Ek-sistenz als Hinaus-stehen und Aus-stehen verstanden. Demnach müssen die »Ständigkeit des Selbst« und die »Unselbständigkeit« ontologisch aus der Existenz des Daseins verstanden werden.7 »Die ›Substanz‹ des Menschen« ist weder der bloße Körper noch der »der Geist als Synthese von Leib und Seele, sondern seine Existenz«.8 In der Beziehung zum Sein, die Heidegger früher Überstieg (Transzendenz) nannte, »kommt das Dasein allererst auf solches Seiendes zu, das es ist, auf es, als es selbst«.9 »In diesem Auf-es-zukommen aus der Welt zeitigt sich das Dasein als ein Selbst, d. h. als ein Seiendes, das zu sein ihm anheim gegeben ist.«10 Doch »es könnte (auch) sein, daß das ›Wer‹ des alltäglichen Daseins gerade nicht je ich selbst bin«.11 Ja, dass ein sich selbst gebendes Ich »der Grund dafür ist, daß das Dasein zunächst und zumeist nicht es selbst ist«, sondern ein »Manselbst«.12 Und es könnte sich erweisen, daß »das ›Ich‹ nie ein bloßes Subjekt ohne Welt« und »nicht isoliert ohne die Anderen« ist.13 »Gleich ursprünglich« mit dem Selbstsein ist daher das Mitdasein. Wie wird die Art des Mitseins mit Anderen, das Mitsein im Alltag, phänomenal sichtbar?14
Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 2), Frankfurt am Main 1977. 4 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 16, 152–155, 254 f. 5 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 153. 6 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 56. 7 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 156. 8 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 157. 9 Martin Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: ders., Wegmarken, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 9), Frankfurt am Main 1976, 137, 138 f. 10 Martin Heidegger, »Vom Wesen des Grundes« (GA 9), 157. 11 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 154. 12 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 154, 155. 13 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 155. 14 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 156. 3
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Mögliche Beziehungen in einer gemeinsamen Welt
2.2. Zum Mitsein (Sein und Zeit, § 26).
»Die Welt des Daseins ist Mitwelt.«15 Während uns die Dinge im Alltag als »Vorhan dene« und »Zuhandene« begegnen, begegnen uns die Anderen als »inner-weltliches« Dasein, d. h. sie sind »auch und mit da«. Und wir mit ihnen. Wir teilen im Mitdasein eine Welt.16 Weil das Dasein wesenhaft Mitsein ist, ist es auch für die Mitdaseienden erschlossen, und zwar nicht nur als ontische Begegnung mit anderen Personen, d. h. einer Anzahl von auch noch vorkommenden unterschiedlichen Subjekten, sondern in ihrem Sein in der Welt.17 Mitsein »hat einen existenzial-ontologischen Sinn«, d. h. es gilt auch, wenn die Anderen nicht wahrgenommen sind, und im »Alleinsein«, einem privativen Modus des Mitseins.18 »Die Erschlossenheit der Anderen […] in ihrem Dasein macht die Bedeutsamkeit, d. h. ihre Weltlichkeit mit aus.« Die Anderen zeigen sich in ihrem Sein »bei ihrer Arbeit«, selbst wenn sie bloß herumstehen.«19 »Das Mitsein ist für das In-der-Welt-sein konstitutiv« und muss »aus dem Phänomen der Sorge interpretiert werden«.20 Während der Umgang mit Vor- und Zu-handenem ein Be-sorgen ist, »steht das Seiende, zu dem sich Dasein als Mitsein verhält, in der Fürsorge«.21 Während zum Besorgen des Zuhandenen »Umsicht« gehört, gehört zur Fürsorge »Rücksicht« und »Nachsicht« und als »defiziente, bzw. indifferente Modi: Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit«.22 Weil das »Sichkennen« zwar im »ursprünglich verstehenden Mitsein« gründet, die Fürsorge um den Anderen jedoch meist im »indifferenten Modus der Gleichgültigkeit und des Aneinandervorbeigehens« besteht, »bedarf das wesenhafte Sichkennen eines Sich-kennenlernens, ja im Falle eines »Sichversteckens und Verstellens« eines »Hinterden-Anderen-Kommens«.23 »Erkennen« und »Einfühlen« sind »keine urprünglichen existenzialen Phänomene«,24 die Mitsein konstituierten, sondern sind auf dessen Grund erst möglich. Es besteht dabei keine »Brücke« von einem »zunächst allein gege benen eigenen Subjekt zum noch verschlossenen Subjekt des Anderen, sondern »ein Seinsverhältnis von Dasein zu Dasein«.25 Der Andere ist kein vermeintliches Duplikat meines Selbst, in den ich hinein »projiziert« habe, weil das Sein jedes Daseins ein eigenes ist. Allerdings ist das Sich-gegenseitig-Kennen oft »abhängig davon, wie weit das eigene Dasein sich selbst verstanden hat«, damit auch »das wesenhafte Mitsein mit anderen (als In-der-Welt-Sein) durchsichtig« geworden ist.26 Heidegger unterscheidet 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26
Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 159. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 158, 159. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 160, 165, 167. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 160. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 160, 164 f. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 162. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 162. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 164. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 165. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 167. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 166. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 167.
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Johann Georg Reck
dabei zwei extreme Möglichkeiten der Fürsorge: a. die einspringende, beherrschende und b. die vorausspringende, befreiende Fürsorge.27 Darauf wird im therapeutischen Teil die ses Vortrags zurückzukommen sein.
2.3. Zum »Man«-sein (Sein und Zeit, § 27).
In seinem »Aufgehen« im Alltag, in seinen Besorgungen und »im Mitsein« ist das Dasein zumeist »nicht es selbst«.28 Es vergleicht sich im Miteinandersein und ist dabei um den »Unterschied« zu Anderen besorgt. »Nicht es selbst ist, die Anderen haben ihm das Sein abgenommen«, verfügen über seine alltäglichen Seins-möglichkeiten.29 Die Anderen sind nicht bestimmte, sondern jedermann, wir alle, »das Neutrum, das Man«, einschließlich unserer selbst. Indem wir ganz selbstverständlich die öffentlichen Einrichtungen und Bräuche benutzen, entfaltet es unauffällig seine »Diktatur«.30 Dieses Man-sein ist durch »Abständigkeit«, »Durchschnittlichkeit« und »Einebnung« charakterisiert, ist überall dabei, »ohne auf die Sachen einzugehen und Verantwortung zu tragen«.31 Das »Wer« des alltäglichen Daseins ist als das »Man« das »Niemand«. »Jeder ist der Andere, keiner er selbst.«32 Doch ist dieses »Man« nicht nichts; es ist vielmehr ein Existenzial, also ein Grundzug des Daseins. »Das Dasein ist zunächst ›Man‹ und zumeist bleibt es so.« »Zunächst ›bin‹ nicht ›ich‹ im Sinne eines eigentlichen Selbst, sondern es sind die Anderen in der Weise des ›Man‹.«33 Das »Man« ist schon bekannt, gewohnt, vertraut, das »eigentliche Selbst« noch fremd. Wenn das Dasein »eigens Welt entdeckt«, wenn es »ihm selbst sein eigentliches Sein erschließt«, dann geschieht das »immer als Wegräumen der Verdeckungen« und Verstellungen, mit denen es sich »gegen es selbst abriegelt«.34 »Das eigentliche Selbstsein beruht aber nicht auf einem vom »Man« abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenziale Modifikation des »Man« als eines wesentlichen Existenzials«.35 Halten wir nochmals die therapeutisch relevanten Sätze dieser drei Paragra phen fest: 1.
27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Dasein ist Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht; es ist Seiendes, »das je ich selbst bin«,36 dessen »Wesen« in seiner Existenz liegt. Dasein heißt In-der-Welt-sein. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 163. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 167 f. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2),169. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 170. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 170. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 170. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 172. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 172. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 173. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 153.
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Mögliche Beziehungen in einer gemeinsamen Welt
2. 3.
»Die Welt des Daseins ist Mitwelt.«37 So muss es »aus dem Phänomen der Sorge interpretiert werden«, einem Besorgen der Dinge bzw. einer Fürsorge im Mitsein.38 Das Dasein ist zunächst ›Man‹, nicht ›ich‹ im Sinne eines eigentlichen Selbst. Es muss dieses erst »entdecken«.39
3. Selbstseins- und Mitseinserfahrungen im Alltag 3.1. Methodischer Zugang.
Die Methode der Daseinsanalyse ist bekanntlich eine hermeneutische Phänomenolo gie, d. h. sie lässt vorliegende Dinge und begegnende Mitmenschen von sich selbst her sprechen, damit sie – wie ihr Name sagt – mit ihrer Botschaft zum Vorschein kommen können. Sie hat sich in philosophischen Seminaren bewährt, ist aber auch im Alltag relevant. Sie entspricht besonders der unvoreingenommenen Zugangsweise des Kindes und des Künstlers, »Welt« zu entdecken, während der Erwachsene sonst sich meist von ihr entfernt hat. Sie will dessen rechnendes Denken nicht ersetzen, aber als besinnliches Denken ergänzen und mit diesem den Anspruch des Seins, sein »Geschick« bedenken.40 Sie ist einfacher, reicher und menschenwürdiger als manche heute gängigen Erkenntniswege. 3.2. Selbstsein im Alltag
Wie erfahren wir »Selbstsein« im Alltag? Angebote für eine sinnliche Selbsterfahrung gibt es zwar haufenweise in unserer erlebnishungrigen Zeit. Doch führen sie wirklich immer zu uns selbst und zu dessen Sein? Verbreitet ist ein Kreisen um das eigene Ego, eine Egozentrik des Einzelnen wie der Gesellschaft im Privaten und in der Politik, wobei die technischen Möglichkeiten den Wünschen entgegenkommen. Es stellt sich aber 1. die Frage, wie weit diese »Selbsterfahrung« dem Selbstsein dient, und 2. die Frage, wie weit sie mit Beziehungen in einer gemeinsamen Welt und mit einer Demokratie noch vereinbar ist. Was für eine andere Erfahrung wäre möglich? Es ginge um ein »eigentliches Selbstsein«, um eine lebenslängliche »Selbstfindung« im Alltag, also eine Beziehung mit sich selbst. Es ginge um die eigene prägende Geschichte, d. h. die »Identität«, die einer mit sich nimmt, auch wenn sich seine »Selbstwelt« im Laufe seines Lebens ändert. Selbstsein bedeutete, bei seinem »Wesen« zu sein.41 »Das ›Wesen‹ des Daseins liegt«, Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 159. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 162. 39 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 172. 40 Martin Heidegger, »Brief über den Humanismus«, in: ders., Wegmarken, hrsg. Von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 9), Frankfurt am Main 1976, 363 f. 41 Martin Heidegger, »Brief über den Humanismus« (GA 9), 323 f. 37
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wie Heidegger sagt, »in seiner Existenz.«42 »Ek-sistenz« versteht er als Hinausstehen in die »Lichtung«, d. h. Unverborgenheit oder Offenheit des Seins, als ein sie Ausstehen und sie Verstehen (er schreibt sie deshalb später mit »k«). Diese Offenheit ist die Voraussetzung für jede Beziehung, auch für die Beziehung mit sich selbst. Wie er in seinem späteren seinsgeschichtlichen Ereignis-Denken ausführt, geht es im Seinsbezug nicht um ein Gemächte, sondern um ein Geschick, ein »Zuspiel«.43 Wer dabei der Mensch ist, seine Eksistenz, versteht Heidegger nicht mehr personenhaft, gegenständ lich, sondern als »ek-statisches« In- der- Welt- sein.44 Dasein heißt In-der-Welt-sein. Die Daseinsstruktur zeigt keine (in der Psychoanalyse gebräuchlichen) »Ich-Instanzen« mit bewussten und unbewussten Anteilen, in welche Triebimpulse einbrechen, die von einem »Über-ich« kontrolliert würden. Als »Ruf der Sorge« des Daseins ruft vielmehr dieses im Gewissen sich selbst.45 Das Verständnis des Menschen als Dasein ist menschenwürdiger als ein Verständnis des Menschen als animal rationale. Denn obwohl ein solches auf Trieben gründendes Wesen durch Kultivierung von Ratio und Gewissen gewiss veredelt wurde, behielt es doch seine animalitas. Wie kann der Mensch jedoch ursprünglicher und würdiger denn als bloße Kreatur gesehen werden? Nach Heidegger ist dies möglich, wenn er sich vom Sein, in dessen »Lichtung« er existiert, ansprechen lässt. Während der Mensch in der Wesensbestimmung als animal rationale ontologisch gesehen wie ein dingliches Seiendes ein Exemplar seiner Art und Gattung ist, ist das Dasein in seiner Wesensbestimmung als Existenz durch »Jemeinigkeit« und Einmaligkeit bestimmt.46 Das Dasein ist – so Heidegger – jenes Seiende, »dem es in seinem Sein um je seines geht«.47 Das heißt aber nicht, nur um sich besorgt zu sein; es bedeutet nicht, eine sich selbst aufblähende Subjektivität des Menschen und seines »Ich« als »Herr alles Seienden«, sondern »Hüter des Seins« zu sein.48 Stimmungen des Menschen wie Verstimmung, Liebe, Trauer, Wut und Aggression verstehen wir nicht als bloße »Energien«, die zum Heil oder Unheil losgelassen würden und, da nicht rational erfassbar, als irrationale »Affekte« zu dulden oder zu disqualifizieren sind. Wir verstehen das Gestimmtsein als Existenzial wie das Mitsein und das Räumlich-, Zeitlich- und das Leiblichsein. Das sind nicht nur messbare Verhal tensweisen, sondern Wesenszüge und fundamentale Gegebenheiten des Menschen, für die er Verantwortung trägt.
Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 56. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Hermann (GA 65), Frankfurt am Main 1989, 169 f. 44 Martin Heidegger, »Brief über den Humanismus« (GA 9), 326 f. 45 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 365, 380. 46 Friedrich-Wilhelm von Herrmann, »Der Humanismus und die Frage nach dem Wesen des Menschen«, in: Daseinsanalyse 5/4 (1988), 271. 47 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 57. 48 Martin Heidegger, »Brief über den Humanismus« (GA 9), 331. 42
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Mögliche Beziehungen in einer gemeinsamen Welt
3.3. Miteinandersein im Alltag Es geht hier um Beziehungen im Alltag. Im Umgang mit den vorhandenen Dingen wie bei Verwendung von zuhandenem, uns dienlichem »Zeug« wie etwa von Nahrung, Kleidung oder Wohnung, sind wir um diese mehr oder weniger besorgt. Nehmen wir uns aber neben dem Umgang mit all dem Zeug, das uns zur Erfüllung unserer Wünsche und Bedürfnisse dient, noch die Zeit, die naturbelassenen Dinge in ihrem Wesen zu erfahren, in dem sie sich uns schenkten, jedes auf seine Weise? Sind wir dafür offen oder langweilen uns solche Geschenke? Die Sorge um ein anderes Dasein wird – wie gesehen – als Fürsorge gekenn zeichnet.49 Auch das »Alleinsein« ist eine, nämlich eine privative, Art des Mitseins. Die Faszination von Fremdem einerseits, die Scheu vor dem Anderen andererseits, die bewältigt werden will, zeigen das Miteinandersein als primären Wesenszug des Daseins. Mögliche Beziehungen in einer gemeinsamen Welt könnten sich im Beruf, in der Freizeitbeschäftigung oder auf Reisen mit Vorübergehenden anbahnen. Aggres sionen, Anmache, Schlägereien entspringen wohl eher dem Bedürfnis, so oder so bedeutsam dazu zugehören, als einer blinden Wut. »Macht«, die im Alltag allenthalben spielt und die in Maßen jeder braucht, um nicht ohnmächtig, sondern frei zu sein, hat mit »Mögen« und »Vermögen« zu tun.50 Sie kann in ein Machtgehabe ausarten, strebt jedoch nicht nur nach Reichtum und Besitz, sondern vor allem nach Aufmerksamkeit, Gemochtwerden und Anerkennung. Schwerwiegende Alltagsprobleme wie Klimawan del, Armut, Hunger, Verfolgung, Kriege, Flucht und Migration können nur gemeinsam bewältigt werden. Also sind hier Gesellschaft und Politik, d. h. alle, gefragt. Hat unsere globale Gesellschaft, die sogen. »Weltgemeinschaft«, indes eine gemeinsame »Welt«?
3.4. Man-selbst im Alltag: Möglichkeiten von Technik und Kunst Nun hörten wir, dass das Wer des alltäglichen Daseins zunächst nicht es selbst, sondern ein Man-selbst ist und auch zumeist bleibt. Das Dasein ist im alltäglichen Leben als das Neutrum »Man« das »Niemand«. Das »Man« regiert, so Heidegger, unauffällig, indem man sich völlig in der Seinsart der Anderen auflöst und man wie diese genießt, sieht, hört, liest, urteilt, auch wenn man sich von dem »großen Haufen« zurückzieht. Es ist überall dabei, doch es hat sich bei anstehenden Entscheidungen des Daseins »davongeschlichen, bzw. an dessen Stelle gesetzt, so dass »man« sich immer darauf berufen kann.51 Das »Man« ist durch Einebnung und Abständigkeit charakterisiert. So herrschen im durchschnittlichen Miteinandersein einerseits Unauffälligkeit, Selbst verständlichkeit und »Normalität«. Andererseits zeigt sich im Vergleichen die Sorge um den Abstand, d. h. die Sorge, besser, schöner, klüger, jünger oder gesünder als 49 50 51
Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 162. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch, Berlin 1963, 451. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 170.
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andere Menschen zu sein.52 Zugleich wird »jeder Vorrang«, »alles Ursprüngliche« verhindert, nivelliert. Was »paßt«, zählt im »Man-bestimmten« Aussehen und nicht die Einzigartigkeit. Die Anderen mögen einem »Halt« geben, oder – wie Jean Paul Sartre sagt – »die Hölle« sein,53 wenn wir in ihren Blick geraten, dem wir nicht entkommen können. Albert Camus schildert in seinem Roman Der Fremde eindrucksvoll, wie in einer zu Xenophobie und Extremismus neigenden Gesellschaft einer als »fremd« und »schuldig« gilt, der den normierten und gewohnten Erwartungen nicht entspricht.54 Zu einem eigentlichen Selbstsein müsste sich das Dasein durch diese »Verdeckungen« und »Verstellungen« des »Man« hindurchringen. Kann Kunst solches Hindurchringen schaffen? Eine Kunst, die sich nicht vor dem »Trend« der Zeit verbeugt, doch den »Nerv« der Zeit trifft, kann dies. Eine Kunst, die die technischen Möglichkeiten unserer Zeit wahrnimmt, sich aber davon nicht einnehmen lässt. Eine Technik, die uns mehr Nutzen bringt, als schadet, die aber nicht die »Geister in der Maschine«55 verpflichtet. Eine Kunst, die nicht nur Selbstdarstellung sein will, sondern z. B. in Handwerk, Literatur, Musik, Malerei, Therapie ihre Begeisterung findet, indem sie den Geist der Dinge erweckt und in ihrem präzisen Zum-VorscheinKommen-Lassen herausführt.
4. Selbstsein und Mitsein in der Psychotherapie 4.1. Zur Selbsterfahrung in einer »Lehranalyse«
Es sind die Herausforderungen des Lebens, die uns schon im gewöhnlichen Alltag eine Selbsterfahrung machen lassen: in den Sorgen, in der Angst und in der Schuld als nicht immer leicht zu tragende Grundgegebenheiten des Daseins. Hilfsangebote dazu gibt es mannigfaltige. Der Einbruch einer Krankheit oder eines anderen schwereren »Schick sals« kann zu ihrem Verständnis eine therapeutische Selbsterfahrung sinnvoll werden lassen. Eine therapeutische Begleitung hierbei will aber gelernt sein und setzt u. a. eine eigene sogenannt »Lehranalyse« voraus. Sie wird als wesentlicher Bestandteil einer Weiterbildung zum Psychotherapeuten auch von den meisten Schulen heute verlangt. Es geht darin in Einzel- und/oder Gruppensitzungen darum, mit dem Lehranalyti ker eine gemeinsame »Hellhörigkeit« und Wahrnehmung für zwischenmenschliche Beziehung und deren Prozesse zu entfalten, und dabei um die Vergegenwärtigung und Ermöglichung eigener Anlagen mit all ihren Stärken und Schwächen, um eine Bewältigung lebensgeschichtlicher Erfahrungen, um ein freieres Weltverhältnis und somit um die Frage der Eignung für ein späteres eigenes therapeutisches Handeln. Im Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 168, 169. Jean-Paul Sartre, Bei geschlossenen Türen, in: ders., Dramen, Band II, Hamburg 1976, 42. 54 Vgl. Albert Camus, Der Fremde, Hamburg 1963. 55 Stefan Betschon, »Geister in der Maschine«; wie z. B. der »Schachtürke«, ein scheinbar denkender Holzpuppenautomat des 18. Jahrhunderts oder der Computer, der 1997 gegen den Schachweltmeister Kasparow gewann, deren Leistungen jedoch »auf fortwährende menschliche Unterstützung, d. h. »miserabel bezahlte ghost-worker«, angewiesen sind (hier 3). 52
53
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Mögliche Beziehungen in einer gemeinsamen Welt
Grunde verläuft eine »Lehranalyse« nicht anders, sondern, wie ich noch zeigen werde, nur gründlicher als eine »gewöhnliche« Analyse. 4.2. Meine eigenen Erfahrungen in der Psychotherapie
a)
Wenn ich meine eigenen Erfahrungen in der Psychotherapie vergegenwärtige, so begann mein Interesse daran bereits in den letzten Studienjahren, als an der Universität München Elsa Gindlers »Konzentrative Entspannungsübungen« angeboten wurden.56 Das ist ein Verfahren, bei dem mittels einer gedanklichen Reise durch die jeweiligen Körperregionen noch gelassener und weniger suggestiv als beim Autogenen Training deren Zustand angespürt wird. b) Mein Interesse an der Entwicklung junger Menschen und an ihren vielfältigen Behinderungen führte mich in die Kinderheilkunde und darüber hinaus zur Kinderund Jugendpsychiatrie. Weil mir aber dort das »Angebot« an Psychotherapie unzureichend erschien, machte ich mich auf den Weg zu verschiedenen »Schulen« (zur Freud'schen Psychoanalyse, zu den Lehren von Jung, Adler, Rogers oder Moreno und zu den verschiedenen familientherapeutischen Ansätzen), um deren psychotherapeutische Erfahrungen kennen zu lernen. c) Im eigenen Kinder-und Jugendpsychiatrischen Dienst (KJPD) Zürich, in dem ich 1968 die Ausbildung begann, kam uns schon um diese Zeit der Gedanke der Einrichtung einer Tagesklinik.57 Der tägliche Wechsel zwischen Elternhaus und Klinik sollte zum einen eine Hospitalisation vermeiden und zum anderen einen intensiveren Austausch zwischen beiden Welten gewährleisten als die bloße ambulante Abklärung, die manchmal ungenügend war. So entstanden, neben kleinen vollstationären, teilstationäre Einrichtungen, ergänzt durch eine intensive Kooperation mit der Kinderklinik zum Verständnis psychosomatischer Erkrankun gen sowie durch Heime und die Erwachsenenpsychiatrie, wenn es gemeinsam zu bewältigende Probleme gab. d) Schwerere psychische Erkrankungen von Kindern, Jugendlichen und manchmal von deren Eltern, also von Erwachsenen, erfordern eine intensivere Zuwendung und unter Umständen eine stationäre Behandlung. Diese kann sich über längere Zeit hinziehen, da hier nicht ein einzelnes Organ betroffen ist, das gezielt therapiert werden könnte, sondern immer der ganze Mensch. Seine Behandlung erfordert zunächst oft eine einspringende Fürsorge, wie sie eine Klinik oder der sozialpsych iatrische Dienst vorgesehen haben. Eine längere Entfernung aus einem Arbeitsund Beziehungsgefüge, so nötig sie anfangs sein mag, ist jedoch – besonders im Vgl. Joachim-Ernst Meyer, »Konzentrative Entspannungsübungen nach Elsa Gindler und ihre Grundla gen«, in: Zeitschrift für Psychotherapie und Medizinische Psychologie 11 (1961), 50–59. 57 Vgl. Heinz Stefan Herzka / Regula Hotz, Tagesklinikbehandlung seelisch kranker Kinder, Basel 1998; Hansjörg Reck, "Indikation, Dauer und Abschluß eines Aufenthalts in einer psychiatrischen Tagesklinik für Kinder und Jugendliche", in: Hans G. Reinhard, Die kinder- und jugend-psychiatrische Tagesklinik, Düsseldorf 1989; Medard Boss, Grundriss der Medizin, Basel, 1971; Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, Frankfurt am Main 1987. 56
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e)
Kindesalter – nicht unproblematisch. Das führte – wie oben erwähnt – zur Frage von möglichen intensiveren ambulanten und teilstationären Behandlungen. Ich wollte nun wissen, was in der Klinik und was im ambulanten Bereich möglich war. Während meiner sogen. »Funktionsbereichsleitung für Psychotherapie« in einem Psychiatrischen Landeskrankenhaus (PLK) lernte ich auf den unterschiedlichen Stationen deren Alltag und therapeutische Möglichkeiten kennen und ferner auf einer eigenen Psychotherapiestation die allmähliche Steigerung von Eigenverant wortung im Sinne einer vorausspringenden Fürsorge. Diese gilt freilich als via regia in einer ambulanten Psychotherapie und war für mich Herausforderung zur Grün dung einer eigenen Praxis. Mein Rüstzeug dafür erhielt ich in Theorie, Selbsterfahrung und Fallkontrollen, einzeln und in Gruppen, im damaligen Daseinsanalytischen Institut in Zürich.58 Ich fand in der Daseinsanalyse insofern einen geeigneten Ansatz für mein thera peutisches Handeln, weil sie die vom Patienten gebrachten Phänomene und ihre Bedeutung ohne spekulative Umdeutung von sich selbst her sprechen ließ und weil der Patient mit seiner Aussage und seinen potentiellen Wandlungs- und Heilungsmöglichkeiten ernst genommen wird, statt mit »guten Ratschlägen, ja Belehrungen, »abgespeist« zu werden. Denn Neues, das jeder Patient mitbringt, und Rätselhaftes wie psychosomatische Krankheitsanzeichen lernen wir kennen, wenn wir bereit sind, sie in ihrem Wesen sowie in ihren Verweisungen in Erschei nung treten zu lassen.
4.3 . Erfahrung von Gemeinsamkeit und Einsamkeit in der Psychotherapie Wobei erfahren und erinnern wir in einer therapeutischen Selbsterfahrung die genann ten, existenzial bedeutsamen Phänomene »Selbstsein«, »Mitsein« und »Mansein«? Ich behaupte: schon im Andenken an die frühe, unersetzbare Eltern-Kind-Beziehung. Der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker D. W. Winnicott schreibt: Es trifft wahrscheinlich zu, wenn man sagt, daß in der psychoanalytischen Literatur wohl mehr über die Furcht vor dem Alleinsein oder über den Wunsch, allein zu sein, geschrieben worden ist, als über die Fähigkeit zum Alleinsein. Man sollte annehmen, daß eine Diskussion über die positiven Aspekte der Fähigkeit zum Alleinsein schon lange überfällig ist.59 Obwohl viele Erfahrungstypen dazu gehören, die Fähigkeit des Alleinsein- Könnens zu erreichen, gibt es doch eine (Erfahrung), die grundsätzlich ist. Und ohne ein ausreichendes Maß dieser Erfahrung stellt sich die Fähigkeit zum Alleinsein niemals ein: Es ist die Erfahrung des Allein-seins, als Säugling und als Kleinkind, in Gegenwart der Mutter. Es ist die Erfahrung des Alleinseins, während doch jemand da ist.60 Gion Condrau, Einführung in die Psychotherapie, Olten 1970; Gion Condrau, Daseinsanalyse, Dettel bach 1998. 59 Donald W. Winnicott, Die therapeutische Arbeit mit Kindern, München 1958, XLII. 60 Donald W. Winnicott, Die therapeutische Arbeit mit Kindern, XLIII. 58
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Mögliche Beziehungen in einer gemeinsamen Welt
Diese Erfahrung macht auch der Jugendliche, wenn er sich allmählich vom Elternhaus trennt, Anschluss an »Moden« seiner Zeit und schließlich sich selbst findet.61 Diese Erfahrung können und müssen wir auch in der psychoanalytischen Sitzung machen: die Erfahrung nämlich der Fähigkeit zum Alleinsein, ja, Einsamsein.62 Denn es geht in dieser »Behandlung« ja nicht nur um eine »Anpassung« an Normen und ein »Man«-sein, sondern um die Entwicklung eigener Kräfte und Kompetenzen. Womit wird in der Psychotherapie und in der analytischen Selbsterfahrung »die Erfahrung des Alleinseins, während doch jemand da ist« gemacht? Lassen Sie mich das aus daseinsanalytischer Sicht in sechs Thesen umreißen. Die Thesen verstehen sich nicht nur als Anleitung des Therapeuten und nicht als bloße Anforderung an den Patienten. Sie gelten für Patient und Therapeut gemeinsam, für deren gemeinsame Beziehung. Denn der Patient wird nicht mehr – wie zu Freuds Zeiten – als »Objekt« einer Behandlung, sondern als Mitmensch gesehen, der Therapeut als »Lotse«, der dem »Kapitän seines Schiffes« auch eigene Verantwortung lässt, und die Therapie wird als gemeinsame Sache verstanden.63 Die Erfahrung des Allein-sein-Könnens, ohne allein gelassen zu sein, wird uns zuteil: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
mit einer Offenheit: für das allen Menschen Gemeinsame wie für das jeweils Ein malige, mit einem Hören: auf die mitgeteilte einzigartige Geschichte wie auf die sich eröffnenden gemeinschaftsbildenden Möglichkeiten, mit einem Schweigen, d. h. »Abstinenz«, verstanden als Verzicht auf eine über wiegend rationalisierende Beziehung zugunsten einer gemeinsamen emotiona len Zuwendung, mit einem Sprechen d. h. mit einem Anwesend-sein-Lassen von früher, jetzt und künftig Erfahrbarem im Selbstsein und Mitsein, mit einer rückhaltlosen Aufrichtigkeit sich selbst und dem Analytiker gegenüber, mit einem gemeinsamen sowie selbständigen gelassenen Verstehen, Aushalten und Verweilen bei dem was ist, zu seiner Zeit kommt und sich ergibt.
Lassen Sie mich noch etwas näher ausführen, wie es damit in der Analyse zu einer Eigenentwicklung und Heilung kommen kann: 1.
Mit der Offenheit für das allen Gemeinsame, Vergleichbare, Physiologische und Pathologische, das sich zuordnen und entsprechend »angehen« lässt, zugleich aber für das einmalige, alleine, doch in Begleitung des Analytikers zu Bewältigende,
Vgl. Remo Largo, »Wir müssen das Hotel Mama überdenken«, in: Neue Züricher Zeitung vom 7. Oktober 2019. 62 »Einsam« wird hier ursprünglich, zusammengesetzt aus »ein = allein« (mhd.) und „-sam« = »ersehnt« =»derselbe« (ahd.), entsprechend dem bereits ahd. Wort »gemeinsam«, nicht negativ verstanden (vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 159). 63 vgl. Nadir Weber, »Hans Trüb. Eine Wende in der Psychotherapie«, in: Neuer Züricher Zeitung vom 17. Oktober.2019; vgl. Martin Buber, Ich und Du, Gerlingen 1997; vgl. Heinz Stefan Herzka / Hotz Regula, Dialogik in Psychologie und Medizin, Basel 1999. 61
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das gerade dadurch Kraft spendet. Das Alleinsein schließt das Mitsein nicht aus, sondern ein. Denn der Mensch ist ja in seiner Weltoffenheit immer schon Mitmensch, kein abgekapseltes Subjekt. Er ist – wie H. E. Richter64 ausführte – von Grund auf mit Mitgefühl und mit Eros begabt. Julien Green erinnert uns aber auch an eine andere Wahrheit: daß nämlich »Gott […] die Menschen nicht haufenweise geschaffen hat, sondern jeden einzeln für sich«.65 Dies zu beachten bedeutet sodann eine Offenheit für das nicht immer leichte, aber göttliche Geschick des Einzelnen. Es bedeutet auch, zu sehen, was in sich schön ist, groß oder klein, und statt nur ein voreingenommenes »Ziel« im Auge zu haben, alles andere als Hindernis zu erleben. Es bedeutet schließlich eine Offenheit für die Würde jedes einzelnen Menschen, die unantastbar (!), das heißt nämlich: nicht manipulierbar, ist. Mit einem – möglichst unvoreingenommenen – Hören auf all das, was sich vom Patienten, von sich selbst her zeigt, d. h. mit einem phänomenologisch-hermeneu tischen »Hören« auf das, was als Künftiges, Gegenwärtiges und Gewesenes auch abwesend wieder anwesend ist, einem Hören auf das, was der Analysand wie der Analytiker vergegenwärtigend authentisch und konkret verspürt und was sich – bisher als »fremd« gemieden – jetzt erstmals in größerer Freiheit hervorwagt. Sich darauf einzulassen, bedeutet einerseits, der einzigartigen Geschichte zu entspre chen, und andererseits, die vielfältigen, gemeinschaftsbildenden Möglichkeiten zu beachten. Das bedeutet sowohl ein Hören auf das erfahrene Leid und Kranksein, auf das verständliche Bedürfnis nach Gesundheit und Normalität, wie »man« sie kennt, aber auch ein Hören auf diverse Möglichkeiten der eigenen Natur und auf sein eigentliches Selbst; es bedeutet, das Gehörte in seinem Wesen zu achten und sein zu lassen. Dass aber etwas in seinem Wesen sein gelassen wird, schließt ein aktives Vorgehen keineswegs aus, sondern ein. Was heißt dann »Abstinenz«? Wie ist damit Entwicklung und Heilung möglich? Mit Schweigen und Abstinenz ist im daseinsanalytischen Setting nicht eine Beschränkung auf analytische Theorien und ein emotionaler Rückzug gemeint, sondern eine wache emotionale Zuwendung und Zutrauen, die so viel Abstand las sen, dass eine Eigenentwicklung möglich ist. Also: im Schweigen ein besinnliches Denken, keine »Leinwand«, auf die projiziert wird, d. h. kein Zurücklehnen ohne Anteilnahme; keine Belastung des Therapeuten mit diversen Hypothesen, deren bloße Richtigkeit sich am Patienten erweisen müsste; keine psychogenetische Deutungsarbeit, sondern eine phänomenologisch-hermeneutische »Auslegung« des Gebrachten bzw. ein Schweigen im Interesse des Gesagten. Mit diesem Verzicht auf Vergegenständlichung und Verallgemeinerung zugunsten des Reichtums des Einmaligen (eines jeden) mag die Daseinsanalyse alleine in der Therapieszene stehen; sie nützt jedoch damit der ärztlichen Kunst insgesamt. Das Gemütvolle und Unberechenbare haben hier Vorrang vor dem Berechenba ren, ja, dem bloßen Kalkül und dient damit dem eigenen Weg (Stil) wie der
2.
3.
64 65
Vgl. Horst Eberhard Richter, Die Gruppe, Hamburg 1972. Julien Green, Tagebücher 1996 bis 1998, München 2000, 357.
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Mögliche Beziehungen in einer gemeinsamen Welt
4.
5.
6.
Gemeinschaft (auch wenn sich Wissenschaft, Wirtschaft und Politik darum nur wenig kümmern). Wenn nämlich Ausbildungs- und Behandlungs-Richtlinien zu rigoros verlangt werden, kann ein Kalkül, nur diese zu erfüllen, vor den Sinn der Analyse treten. Psychotherapeutische »Qualitätssicherung« bedeutet jedoch meines Erachtens, die Voraussetzungen zu schaffen, nicht nur ständig neues Seiendes besorgen zu müssen, sondern sich auch Zeit nehmen zu können für das Seiende in seinem Sein. Mit der Sprache, die Rufcharakter hat und dem Wort, das Be-Deutung besitzt, sol len die anwesenden Gegebenheiten selbst Raum bekommen. Auszusprechen, was an Gedanken, Fantasien oder Träumen einfällt, hat eine befreiende, heilende Wir kung. Statt einer Objektivierung, d. h. Vergegenständlichung, der Dinge, die sich nicht nur gegenständlich fassen lassen, ist das (letztlich versöhnliche) Mitsein mit Mensch und Ding gefragt, und statt bloßer subjektivistischer Selbstverwirklichung das verantwortungsbewusste Selbstsein. Beide, Mitsein und Selbstsein, machen zusammen die Beziehung aus, die hier zur Sprache kommt, d. h. das »Gespräch«. Mit der Grundregel wird der Analysand wie in der Psychoanalyse zu rückhaltloser und rücksichtsloser Aufrichtigkeit und Offenheit gegenüber allen Einfällen und »Gefühlen« angehalten, die nicht gemacht sind und die doch gerade als solche in der Kur zugängig sind. Anders als in der Psychoanalyse, in der man mit der Grundregel an ein hinter den Phänomenen liegendes »Unbewusstes« kommen möchte, bildet in der Daseinsanalyse die Achtung vor dem Phänomen selbst den Boden für das analytische Geschehen. Mit der Wahrheitstreue, d. h. der Aufrichtigkeit, diesen Gefühlen, sich und anderen gegenüber trotz Angst und Widerständen, mit der Frage sodann des Analytikers, was den Analysanden aus seiner Welt angeht und worauf er sich einzulassen vermag, sind seine noch offenen Möglichkeiten berührt und zugleich das, was sich ihm ungesucht als wesenhaft, d.h. ursprünglich, zuspricht. Mit der Empfehlung, sich Zeit für das Sein der Dinge zu lassen, rät die Analyse zu einer »Entschleunigung« fern von der gewohnten Hetze nach Anschluss an die Mode und abseits von der Flut von Mitteilungen und der benötigten Zeit für alles mögliche zu »erledigende« Seiende, dessen Horizont uns unversehens schon wieder entschwunden ist. Wie für das Kind in seinem Spiel ist für uns in der Ana lyse weniger die Zeit im Sinne des griechischen chronos, d. h. die chronologische Zeit, als die Zeit im Sinne des griechischen kairos, die Zeit des Augenblicks, von Bedeutung. In dieser »Gelassenheit« gehorcht der »analytische Prozess« dann eher einer Eigengesetzlichkeit, als dass er sich von äußerlichen Maßnahmen beeinflus sen ließe (Condrau): Das Entscheidende geschieht zu seiner Zeit »einsam« und von selbst, jedoch im Beisein des Analytikers, der den Prozess durch die adäquate Nähe seiner Person fördern und nicht durch die Ferne theoretischer Konstrukte behindern soll. Diese Zeiten sind nicht nur gleichförmig und im Nu wieder vorbei, sondern Höhepunkte wie Tiefen, »Gipfel« oder »Sternstunden«. Denn in ihnen können sich in mutigen Schritten und erstaunlichen Geschicken Beziehungen
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Johann Georg Reck
ereignen, die in ihrer Einmaligkeit nur denen der Liebenden vergleichbar sind.66 Auch in der Psychotherapie gelten daher die Sätze Heideggers aus dem »Huma nismusbrief« mit denen ich meine Ausführungen schließe: »Sich einer »Sache«, oder einer »Person« in ihrem Wesen annehmen, heißt: sie lieben: sie mögen.67 Dieses »Mögen« bedeutet, ursprünglich gedacht: das Wesen schenken. Solches Mögen ist das eigentliche Wesen des Vermögens, das nicht nur dieses oder jenes leisten, sondern etwas (jemanden) in seiner Her-Kunft »wesen«, das heißt sein, lassen kann.
66 67
Vgl. dazu: Friedrich Hölderlin, »Patmos«, 1. Strophe, in: ders., Sämtliche Werke, Berlin 1956, 328 f. Martin Heidegger, »Brief über den Humanismus« (GA 9), 316.
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Wahn, Zweifelseinwand und Transzendierung im Dialog als verstehende Therapie und versöhnendes Kunstwerk (Heidegger)
1. Einleitung Die Philosophie Martin Heideggers kann Psychotherapeuten zur Überprüfung eigener Konzepte herausfordern, oder auch inspirieren, diese zu erweitern. Medard Boss etwa versuchte, die klinisch-psychopathologische Krankheitslehre aufzulösen und durch eine Ordnung der Krankheitsbilder, die sich an den »Existenzialien« orientiert, zu ersetzen. Im Zentrum seiner Diagnostik und zugleich seines therapeutischen Ansatzes stand die Frage: »Auf welche Art ist die freie Verfügung eines Menschen über den Vollzug welcher Existenzialie gegenüber welchen Gegebenheiten der Welt jeweils in ausgezeichneter Weise beeinträchtigt?«1 Hubertus Tellenbach ging in seiner Melancho lie-Lehre einen anderen Weg.2 Die klinische Phänomenologie ist der Ausgangspunkt, der zu vertiefenden Fragen zum Sinn von Sein und zum Austrag des Daseins führte. Im Folgenden soll auf eine weitere Perspektive aufmerksam gemacht werden. Heideggers Werk erlaubt dem Psychotherapeuten eine Überprüfung und Reflexion seiner eigenen Position im Dialog und eröffnet damit die Möglichkeit einer weitergehenden, auch konfrontativen Auseinandersetzung mit psychopathologischen Ausformungen und Beständen. Auseinandersetzung heißt hier zugleich dialogische Offerte als Ausdruck einer Hoffnung auf eine schließlich zu gewinnende gemeinsame Wirklichkeit als Wahrheit. Dies soll im Folgenden gezeigt werden am Modell der Initiierung eines the rapeutischen Dialoges beim Vorliegen eines besonders hartnäckigen und therapeutisch schwer zugänglichen Zustandsbildes, nämlich des Wahns. Sowohl ideengeschichtlich wie als klinisch erfassbares Phänomen ist der Wahn nicht einfach vorgegeben; vielmehr musste er im Rahmen eines komplexen und teils schwer überschaubaren historischen Prozesses, wie viele andere geistesgeschichtliche Phänomene auch, als Problem entdeckt und als Thema der psychopathologischen Forschung ausgearbeitet werden. Klinische Erfahrungen und Erkenntniszugewinne, wie sie im Zuge des historischen Prozesses erst ab dem 19. Jahrhundert mit der Gründung großer psychiatrischer Kliniken möglich wurden, bildeten die heuristische Voraussetzung. Freilich war es die Frage nach den Konstanten, Strukturen und Mustern 1 Medard Boss, »Anstöße Martin Heideggers für eine andere Psychiatrie«, in: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), Von Heidegger her. Wirkungen in Philosophie – Kunst – Medizin, Frankfurt am Main 1991, 125–140, 126 f. 2 Vgl. Hubertus Tellenbach, Melancholie, Berlin 1983, 194.
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des Wahns,3 die hier das klinische Erkennen leitete, und zwar stets unter dem über greifenden Gesichtswinkel, therapeutische, d. h. lebensdienliche Ansätze für den Umgang mit dem Phänomen des Wahns zu finden. Mit der Gegenstandsbestimmung eines Problems, der phänomenologischen Aus einandersetzung, hat zunächst eine weitergehende, vertiefende Deskription einzuset zen. Mit dem zweiten Schritt, einer notwendigen Kritik der primären Bestimmung nämlich, sind wir im Zentrum der wissenschaftlichen Bemühungen von Karl Jaspers und seiner 1913 formulierten drei Wahnkriterien,4 der »unvergleichlichen subjektiven Gewissheit«, der »Unbeeinflussbarkeit durch Erfahrung und durch zwingende Schlüsse« und der »Unmöglichkeit des Inhalts«. Natürlich war diese Gegenstandsbestimmung unter dem Einfluss des Szientismus stets durch einseitige Objektivierungsbemühun gen gefährdet. Nachfolgende wissenschaftliche Intentionen waren jedenfalls zunächst davon bestimmt, ausgehend von den Kriterien von Jaspers zu einer objektivierbaren Definition des Wahns zu kommen. Damit gelangten aber die das Wesen des Wahns charakterisierenden Kriterien aus dem Blick: Übrig blieben inhaltlich unbefriedigende, allenfalls einigermaßen präzise operational durchführbare diagnostische Gegenstands bestimmungen für die klinische Praxis. Bei den Bemühungen dagegen, die Wesensbestimmung des Wahns voranzubrin gen, wurde zunehmend deutlich, dass dies zu Lasten einer definitorischen, d. h. forma len Klarheit als Basis der empirischen Anliegen, etwa zu verallgemeinerbaren Aussagen zu gelangen, ging. Fasst man allerdings dieses historisch sich zeigende methodische Dilemma als Herausforderung auf, so lautet diese, die erfassten widersprüchlichen Sichtweisen in einem lebensdienlichen, d. h. therapeutischen Ansatz zusammenzufüh ren. Damit ist das in einem dritten Schritt anzustrebende Anliegen einer schlüssigen, integrativen und konzeptuell zu fassenden Interpretation vorgezeichnet.
2. Die phänomenologischen Wahnkriterien und ihre Infragestellung beim Wahnkranken durch den Zweifelseinwand Die Wahnkriterien von Jaspers haben zur diagnostischen bzw. definitorischen Präzi sierung beigetragen,5 das Problem der Gegenstandsbestimmung des Wahnes freilich nicht abschließend lösen können.6 Kritik zielte sehr früh zum einen auf das später sogenannte Jaspers-Theorem, das etwas aussagt über die Unmöglichkeit einfühlenden Verstehens hinsichtlich des echten Wahns.7 Zum anderen wurde auf das Ungenügen der Kriterien selbst, ihrer mangelnden Objektivierbarkeit, Reliabilität und Validität, 3 Vgl. Heinrich Schipperges, »Melancolia als ein mittelalterlicher Sammelbegriff für Wahnvorstellungen«, in: Studium Generale 20 (1967), 723–736. 4 Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, Berlin 1965, 80. 5 Gerhard Schmidt, »Der Wahn im deutschsprachigen Schrifttum der letzten 25 Jahre (1914–1939)«, in: Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 97 (1940), 113–192. 6 Vgl. Walter Ritter von Baeyer, »Einleitung (nachträgliche Überlegungen zum Wahnproblem)«, in: ders. (Hrsg.), Wähnen und Wahn, Stuttgart 1979. 7 Vgl. Ernst Kretschmer, Der sensitive Beziehungswahn, Berlin 1918.
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wie auch der zweifelhaften Spezifität in der Abgrenzung insbesondere zu Aberglauben, Glaubensüberzeugung, Ideologie und trivialem Irrtum hingewiesen. Hinsichtlich der erstgenannten Einwände wurde versucht, durch Wesensbestim mungen dessen, was unter Wahn zu verstehen sei, das Jaspers-Theorem im Sinne konstruktiver Verstehensentwürfe aufzuheben oder jedenfalls zu relativieren8. Hin sichtlich der kriteriologischen Schwächen andererseits gab es zahlreiche Versuche, diese zu überwinden oder wenigstens zu mildern. Im Vordergrund stand zumeist die Problematisierung des dritten Wahnkriteriums, das die Unmöglichkeit des Inhaltes bezeichnet. Es ist offensichtlich, dass dieses Kriterium auf religiöse und metaphysi sche Inhalte nicht anwendbar ist. Auch wurde geltend gemacht,9 dass nicht jeder Wahn inhaltlich falsch sein muss. Hinsichtlich des Kriteriums der außergewöhnlichen subjektiven Gewissheit wurde darauf hingewiesen, dass dies auch dem normalen Menschen nicht fremd sei, so bei Glaubensüberzeugungen oder in narzisstischen Aus nahmezuständen. Unkorrigierbarkeit könne strenggenommen nur im Verlauf beurteilt werden und sei rein zustandsbildlich praktisch kongruent mit der außergewöhnlichen subjektiven Gewissheit. Jeder neue kriteriologische Versuch und jede Wesensbestimmung wird sich an der klassischen Herausforderung, der Differenzierung von Wahn, Glaubensüberzeugung, Aberglauben, ideologischer Fixierung und Irrtum zu bewähren haben. Entscheidend jedenfalls ist, dass es auch für den therapeutischen Umgang mit dem Patienten von fun damentaler Bedeutung ist, sich darüber Rechenschaft zu geben, ob und inwieweit eine Aussage und die dahinterstehende Einstellung zu Selbst, Leib und Welt Wahncharakter besitzt oder nicht. Insofern geht es bei der Frage nach dem Vorliegen von Wahn keineswegs nur um die diagnostische mehr oder weniger relevante Frage nach dem Vorliegen oder Fehlen eines bestimmten Symptoms. Von vorrangiger Bedeutung ist hingegen der Umstand, dass der Wahn, wie die übrigen, klinisch zu fassenden Symptome, gemeinsamer Ausdruck einer zugrundeliegenden Daseinsabwandlung sind. Zu fragen ist infolgedessen nach der anderen Weise des »In-der-Welt-Seins« des Wahnkranken, nach der Daseinsab wandlung, als deren klinisch zu fassender Ausdruck der Wahn zu gelten hat. Fasst man Wahn als eine allerdings prinzipiell inadäquate »gedankliche Selbstexplikation der Existenzumwandlung«10 auf, so würde diese Bestimmung in besonderer Weise dann relevant, wenn sich zeigen ließe, dass die Art und Weise dieser Selbstexplikation Charakteristika aufwiese, die diagnostisch definiert und therapeutisch berücksichtigt 8 Vgl. Walter Ritter von Baeyer, »Einleitung (nachträgliche Überlegungen zum Wahnproblem)«; vgl. Hermann Lenz, »Wahn-Sinn«, Wien 1976; vgl. Jörg Zutt / Caspar Kulenkampff (Hrsg.), Das paranoide Syndrom in anthropologischer Sicht. Symposion auf dem 2. Internationalen Kongress für Psychiatrie (Zürich 1957), Berlin 1958. 9 Vgl. Paul Matussek, »Psychopathologie II: Wahrnehmung, Halluzination und Wahn«, in: Hans Walter Gruhle et al. (Hrsg.), Psychiatrie der Gegenwart, Band 1, Berlin 1963; vgl. Willy Mayer-Gross, »Paranoide und paraphrene Bilder«, in: Oswald Bumke (Hrsg.), Handbuch der Geisteskrankheiten. Spezieller Teil V, Berlin 1932. 10 Vgl. Hans Kunz, »Die Grenze der psychopathologischen Wahninterpretationen«, in: Zeitschrift für die Gesamte Neurologie und Psychiatrie 135 (1931), 671–715.
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werden könnten. Als Einsicht, wie sie aus dem geschilderten Problemstand hervorgeht, darf festgehalten werden, dass Wesensbestimmungen des Wahns ohne klinisch-dia gnostische bzw. operationale Zuordnungsregeln empirisch unverbindlich bzw. unklar bleiben, kriteriologische Ansätze aber ohne eine Beziehung zu einer dahinterstehenden Wesensbestimmung eines im personalen Sinne verstehensmäßigen bzw. therapeuti schen Zuganges entbehren. Worin aber besteht diese Daseinsabwandlung beim Wahnkranken? Im Vorder grund steht das fundamental Andere, das Betroffensein von Veränderung, vom Ein bruch des Besonderen in die Welt des Alltäglichen. Wahn ist eine in seinen Äußerungen »urteilsmäßig-sprachliche Spiegelung«11 dieser daraus folgenden Existenzumwand lung. Im Wahn erlebt, erfährt und äußert der Patient die Existenzumwandlung. Aus der »prinzipiell inadäquaten Selbstexplikation«12 des Wahns resultiert die Einsamkeit sowie der gelebte, nicht unbedingt vom Patienten erlebte und erkannte Ausschluss von Kommunikation. Das Risiko einer Ent-bergung der gelebten Selbstverdeckung und die damit verbundene Möglichkeit der Konfrontation mit Scham, Schuld, Ekel oder erlittenem Unrecht bzw. Trauma und Schmerz einerseits und die gleichzeitige Gefährdung der Lebensmöglichkeit durch die aufrechterhaltene Selbstverdeckung andererseits umgreifen die gemeinte Spannung, die in einer besonderen Art von (pathologischer) Konsolidierung von »unvergleichlicher, subjektiver Gewissheit«13 des Wahns aufgehoben ist. Wohl eben aus der Erkenntnis heraus, dass die außergewöhnliche subjektive Gewissheit, wie sie im Wahn vorliegt, in elementare Bereiche seiner Wesenhaftigkeit weist und gerade dadurch grundlegende diagnostische Bedeutung gewinnt, haben sich eine Reihe von Arbeiten nach der durchaus begründeten Problematisierung der anderen Bestimmungsstücke verstärkt mit dem Kriterium der Wahngewissheit auseinandergesetzt. Müller-Suur14 stellt die Frage, ob das »Wesen des Wahns nicht auch in der abnormen Gewissheit selbst fassbar« sei. Diese Auffassung konnte insofern nicht befriedigen, als Erlebnisse hoher subjektiver Gewissheit auch vielen gesunden Menschen nicht fremd sind, wie dies Hole15 anhand eines Vergleiches des »Gewissheits elementes im Glauben und im Wahn« zeigt. Des Weiteren wurde versucht, für einen Teil dieser Gewissheitserlebnisse durch einen Rekurs auf ihren erkenntnistheoretischen Status die klinische Verlässlichkeit der diagnostischen Entscheidung zu verbessern.16 So wurde die Auffassung vertreten, subjektiv gewiss und unkorrigierbar sei jede gesunde Person, wenn sie über ihre eigenen
Vgl. Hans Kunz, »Die Grenze der psychopathologischen Wahninterpretationen«. Vgl. Hans Kunz, »Die Grenze der psychopathologischen Wahninterpretationen«. 13 Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 80. 14 Hemmo Müller-Suur, »Das Gewißheitsbewußtsein beim Schizophrenen und beim paranoischen Wahner leben«, in: Fortschritte der Neurologie Psychiatrie 18 (1950), 44–51. 15 Günter Hole, »Über das Gewißheitselement im Glauben und im Wahn«, in: Confinia Psychiatrica 114 (1971) 65–90; 145–173. 16 Vgl. Manfred Spitzer, Was ist Wahn? Untersuchungen zum Wahnproblem, Berlin 1989. 11
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mentalen Zustände spreche.17 Wahnkranke dehnten den gemeinten Absolutheitsan spruch über den Bereich mentaler Zustände hinaus aus. Stelle man diesen Absolutheits anspruch im Bereich intersubjektiv zugänglicher »objektiver« Sachverhalte fest, so liege eine »abnorme« Gewissheit vor, wie sie den Wahn kennzeichne.18 Diese Argumentation lässt folgendes unberücksichtigt: Mag der Gesunde auch mit großer Gewissheit an den Aussagen über seine mentalen Zustände festhalten (Beispiele: »Ich habe Schmerz.« oder »Ich bin traurig gestimmt.«), so lässt er doch diesbezügliche Zweifel der Mitwelt an denselben in bestimmter Weise gelten, ohne sie freilich zu teilen. Daraus ergibt sich, dass Wahnkranke nicht einen Absolutheits anspruch – der im Übrigen, wie oben gezeigt, den Aussagen Gesunder bezüglich eigener mentaler Zustände in dieser Form gar nicht eignet – über diesen Bereich hinaus ausdehnen, sondern sie vertreten bezüglich intersubjektiver Gegebenheiten und mentaler Zustände eine qualitativ davon abzuhebende Gewissheit, die es näher zu bestimmen gilt. Bemerkenswert ist, dass Jaspers bereits von »außergewöhnlicher Überzeugung« und »unvergleichlicher subjektiver Gewissheit«19 sprach, ohne diese allerdings hinreichend weiter zu spezifizieren. Aus der hier gemeinten pathischen Daseinsabwandlung resultiert eine Gewiss heit, die gleichsam explikationslos hingenommen wird und hingenommen zu werden wünscht. Diagnostisch scheint uns damit ein entscheidendes interaktionales und zugleich klinisch anwendbares Moment in den Blick gebracht: Es kommt nämlich darauf an, wie die Person sich bei bestehendem hohen Gewissheitsgrad und unter Umständen auch unkorrigierbarem Festhalten an ihrer Überzeugung mit dem Einwand des Zweifels auseinandersetzt. Dieser Aspekt ist nicht zu konfundieren mit der anderwärts vertrete nen, sich methodisch auf rein phänomenologische Argumente stützende Auffassung,20 dass es darauf ankomme, wie der Patient sich selbst zu den im Einzelnen vertretenen Auffassungen stelle, ob also ein »Ausschluss des Zufalls« bei fehlender Affekteinen gung behauptet wird. Vielmehr geht es explizit um den von außen, vom anderen, an den Betroffenen herangetragenen Zweifel und damit um die Frage, auf welche Weise eine Auseinandersetzung mit dem Einwand des Zweifels erfolgt beziehungsweise ob dieser wahrgenommen, aufgenommen und vom Adressaten in gewisser Weise »hermeneutisch« verarbeitet oder von vorneherein als irrelevant beiseite geschoben wird.
3. Der Zweifelseinwand und die Varianten der Auseinandersetzung Der oben exponierte Ansatz fordert grundsätzliche Überlegungen heraus, denen im Folgenden nachgegangen werden soll. Rein diagnostisch geht es keineswegs mehr Vgl. Manfred Spitzer, Was ist Wahn? Untersuchungen zum Wahnproblem. Vgl. Manfred Spitzer, Was ist Wahn? Untersuchungen zum Wahnproblem. 19 Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 80. 20 Vgl. Peter Berner, »Das paranoische Syndrom«. Klinisch-experimentelle Untersuchungen zum Problem der fixierten Wahnbildungen, Berlin 1965; vgl. Peter Berner / Ruth Naske, »Wahn«, in: Christian Müller (Hrsg.), Lexikon der Psychiatrie, Berlin 1973, 65–572. 17
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primär, so war ausgeführt worden, um die Überprüfung der Inhalte und deren mög lichen Realitätsgehalt (»Unmöglichkeit des Inhalts«) noch um das Kriterium der Unbeeinflussbarkeit durch Erfahrung und zwingende Schlüsse. Vielmehr zielt das Hauptinteresse zunächst viel allgemeiner auf die Art und Weise, wie die Auseinander setzung mit den Einwänden des Zweifels erfolgt, beispielsweise dem Zweifel, es handele sich um Zufall. Damit verschiebt sich die grundsätzliche Frage von einer individuellen Graduierung der Gewissheit hinsichtlich einer mit Festigkeit vertretenen und unter Umständen unkorrigierbaren Auffassung zu einer interaktionalen bzw. relationalen Perspektive im Sinne einer Reaktion auf eine bestimmte Konfrontation. Andernorts wurde im Zusammenhang mit der aufgrund der klassischen Wahn kriterien nicht durchführbaren Differenzierung von religiösem Wahn und Glauben darauf hingewiesen,21 dass der Glaubende – und dies gilt auch für den philosophisch Glaubenden – bei aller Unerschütterlichkeit, mit der er an den Inhalten festhält, die Zweifelseinwände der Umwelt versteht oder zumindest zu verstehen sucht. »Die für unser kommunikatives Miteinander entscheidende Frage bleibt daher: ist das gegenseitige Sichanerkennen möglich?«22 Von Jaspers wird die aufgeworfene Frage hinsichtlich einer Begegnung von Offenbarungsglauben und philosophischem Glauben paradigmatisch diskutiert und bejaht. Dem Wahnkranken dagegen fehlt als einer notwendigen Voraussetzung der Dialogfähigkeit und daraus entstehender echter Begegnung die Einsicht in die Expli kationsbedürftigkeit der eigenen Perspektive gegenüber dem anderen wie auch das Bemühen um ein Verstehen der für unzutreffend gehaltenen Einwände. Für ihn ist als Ausdruck seiner verabsolutierten existentiellen Grundverfassung die eigene Perspektive dem anderen gegenüber nicht begründungsbedürftig, wie die der eigenen Auffassung widersprechenden Zweifelseinwände hinsichtlich eines Versuches, sie zu verstehen, unberührt bleiben. Es fehlt ein elementarer Grund, der ein Bestreben nährt, das vom Diskordanten hin zur dialogischen Verständigung, ja hin zur Begegnung führt. Dialogische Verständigung heißt dabei natürlich nicht, schließlich gleiche Positionen einzunehmen und zu vertreten. Vielmehr geht es um die gemeinsame, existentielle Argumentationsbasis, die darin besteht, eine Abklärung unterschiedlicher, entweder prinzipiell möglicher oder doch nicht ohne weiteres auszuschließender Sehweisen vor zunehmen. Da dem Wahnkranken nicht nur die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel (Über stiegsfähigkeit im Sinne von Conrad),23 sondern darüber hinaus das Problembewusst sein für dieses Unvermögen fehlt,24 kommt es hierüber – zunächst – zu keiner Verständigung. Der Wahnkranke kann den Einwand des Zweifels seines Gegenübers nicht nachvollziehen, ja bisweilen nicht einmal wahrnehmen, da er sich in dessen Vgl. Günter Hole, »Über das Gewißheitselement im Glauben und im Wahn«. Vgl. Karl Jaspers., Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962. 23 Vgl. Klaus Conrad, »Die symptomatischen Psychosen«, in: Hans Walter Gruhle et al. (Hrsg.), Psychiatrie der Gegenwart, Band 1, Berlin 1960. 24 Vgl. Gerd Huber / Gisela Gross, Wahn. Eine deskriptiv-phänomenologische Untersuchung des schizophre nen Wahns, Stuttgart 1977. 21
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Realitätsperspektive nicht, und sei es auch nur im Sinne eines Gedankenspiels, hinein versetzen kann. Spricht man einen Patienten auf die Diskrepanzen zwischen dem Inhalt seines Denkens und seinem Verhalten beziehungsweise seinem Affekt an, so versteht der Wahnkranke die Frage nicht, das heißt, er vermag sich mit der »Realitätsperspektive, die in der Frage des Interviewers impliziert ist«,25 nicht zu identifizieren. Während der Wahnkranke an dem Zweifelseinwand vorbei lebt, vermag der Gesunde den Einwand im Rahmen der Auseinandersetzung im Sinne eines dialogi schen Progresses unmittelbar aufzunehmen. Zwar ist in begrenztem Sinne richtig, wenn K. Schneider26 äußert, dass ein Glaube – hinzuzufügen wäre jedwelche Über zeugungsäußerung, dessen einziges Kriterium die subjektive Gewissheit ausmache – psychologisch von der überwertigen Idee und auch vom Wahn nicht zu unterscheiden sei. Nicht beizupflichten ist dagegen der Feststellung, dass »die unerschütterliche subjektive Gewissheit […] ja dem Glauben auch eigen«27 sei. Hole hält dagegen, dass die subjektive Gewissheit im Glauben »eben in diesem Sinne nicht unerschütterlich« sei, jedenfalls sei die »Abwehr der Gegengründe« seitens des Glaubens demgegenüber von anderer Art.28 Denn vom Pol des Zweifels her gesehen werde der Gegenstand »als ein durchaus möglicher gesehen und erfahren«. Im Gegensatz zum Kranken mit metaphysischen oder religiösen Wahnideen vermöge der »Echt-gläubige« die Zweifel seiner Umwelt bei aller Gewissheit und auch Unkorrigierbarkeit zu verstehen oder sie zumindest gelten zu lassen.29 Zu prüfen ist, inwieweit das Kriterium des Zweifelseinwandes im Bereich der klassischen diagnostischen Herausforderungen Glaube versus Wahn, und hier insbe sondere versus religiösem Wahn, anwendbar ist. Dagegen kann die Abgrenzung von Glaubensüberzeugungen theologisch vertretbaren Inhalts von anderen (gegebenenfalls irrtümlichen oder abergläubischen) Überzeugungen nicht Aufgabe der klinischen Psychopathologie sein. Interaktional gesehen bedarf die religiöse Glaubensüberzeu gung wie jede andere Überzeugung, die mit dem Personkern verbunden ist, einer »Vergewisserung«.30 Während die Differenzen zum Weltverständnis der anderen beim Wahnkranken nicht zu bewusstem Zweifel führt, bewirkt dies beim Glaubenden vermehrte Auseinandersetzung und Prüfung von Gegengründen.31 Hole betont die »Rolle des Zweifels«,32 der ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Glau bensgewissheit und Wahngewissheit darstelle. Dagegen wird im hier vorgetragenen
Vgl. Otto F. Kernberg, Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, übers. von Hermann Schultz, Frankfurt am Main 1978. 26 Vgl. Kurt Schneider, Zur Einführung in die Religionspsychologie, Tübingen1928; vgl. Kurt Schneider, Über den Wahn, Stuttgart 1952. 27 Vgl. Kurt Schneider, Zur Einführung in die Religionspsychologie. 28 Vgl. Günter Hole, »Über das Gewißheitselement im Glauben und im Wahn«. 29 Thomas Haenel, »Aberglaube, Glaube, Wahn«, in: Schweizer Archiv für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie 133 (1983), 295–310. 30 Vgl. Günter Hole, »Über das Gewißheitselement im Glauben und im Wahn«. 31 Vgl. Günter Hole, »Über das Gewißheitselement im Glauben und im Wahn«. 32 Vgl. Günter Hole, »Über das Gewißheitselement im Glauben und im Wahn«. 25
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Versuch methodisch der rein phänomenologische Ansatz, auf den sich Hole33 und Ber ner34 beziehen, zugunsten einer interaktionalen – dialogischen – Betrachtungsweise verlassen. Greifen sie die grundsätzliche Möglichkeit des Zweifelseinwandes oder den Ausschluss der Kontingenz nämlich lediglich als Problem der Phänomenologie eines inneren Zustands der Auseinandersetzung des Patienten auf, kommt es zu Weiterungen des phänomenologischen Abklärungsbedarfs, zu Weiterungen, die schwer einzulösen bzw. zu objektivieren sind. Hierzu zählt die Frage, ob der Patient den Inhalt des Zwei felseinwandes als grundsätzlich möglich zulasse und ob er den vom Gegenüber geäu ßerten Zweifelseinwand, so abwegig er ihm scheinen mag und so wenig sein Standpunkt erschüttert sein mag, dennoch um eine interaktionale Klärung und Verständigung sich bemüht. Dadurch gerät die bloße phänomenologische Erfassung der Auseinander setzung gewissermaßen nach außen. Durch die Beachtung der dialogischen Reaktion auf die Konfrontation mit dem Zweifelseinwand ergibt sich die Möglichkeit zu einem empirisch verwendbaren, diagnostischen Kriterium eines vorliegenden Wahns zu gelangen, das seine Wesensbestimmung berücksichtigt und über die klassischen Wahnkriterien hinaus zu einem therapeutischen Ansatz hin tragen dürfte.
4. Lösung und Aufhebung in der neuen Form durch den dialogischen Prozess Therapeutisch sind damit bemerkenswerte Fragen aufgeworfen, Fragen, die darauf zielen, wie das Moment des Dialogischen erneut initiiert werden kann, nachdem erkannt ist, dass dieses beim Wahnkranken in elementarer Weise außer Kraft gesetzt ist. Martin Buber weist darauf hin, dass das Wachstum des Zwischenmenschlichen durch drei Komponenten gehemmt wird, zum einen durch den Schein, das heißt eine Manipulation durch unwahrhaftige Signale, zum anderen durch die Unzulänglichkeit der Wahrnehmungen und schließlich durch die Auferlegung, das heißt das Aufzwingen der eigenen Perspektive statt einer Eröffnung des eigenen Standpunktes.35 Bemerkens wert ist, dass die Kenntnis der von Martin Buber gesehenen Gefährdungen hinsichtlich der Einleitung bzw. des Ingangsetzens eines Dialoges zielführend für die Entwicklung einer kommunikativen Verständigung werden kann. Angewandt auf das Problem des dialogischen Umgangs mit einer radikalen Entfremdung, speziell des Wahns, ist zu fragen, wie der kommunikative Prozess dahingehend zu befördern ist, den Einwand des Zweifels zum gemeinsamen Prob lem zu erheben. Dabei geht es darum, die unterschiedlichen Sichtweisen zunächst anzuerkennen. Anzustreben ist eine Überbrückung im Dialog. Dieser Dialog ist spannungsreich entsprechend einer Krise, die hervorgerufen wird durch Entbergung von bisher Verborgenem. Er ist von daher auch von stetem Abbruch bedroht, von Vgl. Günter Hole, »Über das Gewißheitselement im Glauben und im Wahn«. Vgl. Peter Berner, »Paranoide Symptome«, in: Karl Peter Kisker et al. (Hrsg.), Psychiatrie der Gegenwart, Heidelberg 1972. 35 Vgl. Martin Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1984.
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Misslingen nämlich. Das Ergebnis eines solchen angestrebten Vermittlungsvorganges als eines kreativen Aktes ist, wenn er gelingt, auch in einem theoretisch reflektierten Sinne Kunstwerk insofern, als er jeweils mehr ist als die Erkenntnis der Welt, wie sie ist, sondern ein schöpferisches Komplement von Welt darstellt. Eben diese Ergän zung ist es, die die Voraussetzung zu einer neuartigen Organisation vorfindlicher personaler Beziehungsstrukturen schafft, im speziellen Fall den Wahnkranken aus der gelebten, von ihm u. U. zunächst einmal nicht erkannten kommunikativen Isolation herausgelangen lässt. Für den kommunikativen Prozess bedeutet dies, dass sich der Dialogpartner bzw. Therapeut in die von Benedetti so umrissene Dialektik zwischen objektivem Verständnis und Objektivierung der Psychopathologie einerseits und Iden tifikation mit der Subjektivität des Patienten andererseits begibt.36 Nicht bloß die Anpassung der einen Realitätssicht an die jeweilige andere steht zur Debatte, sondern die Findung einer neuen gemeinsamen Wirklichkeitserfassung in der Begegnung.37 Dialogisch und therapeutisch ist eine dosierte Stimulation notwendig, die eben der Konfrontation mit dem Zweifelseinwand entspricht. Daraus erwächst die Chance einer passageren Externalisierung des Problems und damit einer Rekontextualisierung, einer Neuverknüpfung struktureller Werte, darüber hinausgehend die Chance zu neuartiger Sinnentdeckung. Die Aufrechterhaltung der Hoffnung seitens des Therapeuten auf eine dialogische Verständigung ist gerade da therapeutisch wegweisend und entscheidend, wo es noch nicht möglich ist, den Zweifelseinwand zum gemeinsamen Problem zu erheben. Der Weg dahin ist der, dass wir sehen, dass auch unsere Zweifelseinwände nur Vermutungen sind. Solche »Zweifelsprojektionen«38 bilden im glückhaften Fall eine Art Brücke zwischen uns und dem Kranken. In dem Zweifelseinwand des Dialogpartners, des Therapeuten, drückt sich jene Zurückweisung, jene therapeutische Versagung aus, die »ein vordergründiges verweigert, um ein tieferes zu geben«.39 Herangezogen wird im Folgenden ein prozessdynamischer Ansatz,40 der die psy chopathologische und phänomenologische Erfassung mit der Frage nach einem Woher und einem Wohin verknüpft und somit in einen situationalen Zusammenhang stellt. Es soll gezeigt werden, dass ein lebensdienlicher Umgang mit verfestigten Konstellationen der Verbergung bzw. mit einem Wahn desto eher möglich ist, als auf der Ebene der Hermeneutik die Dramaturgie des Woher und Wohin, also der prozessdynamische Verlauf, erkannt und berücksichtigt wird. Zur Interpretation des Prozessablaufs wird die von Karl Jaspers erfasste Begrifflichkeit der Grenzsituation herangezogen. Die grenzsituative Konstellation ermöglicht eine existentiell stimmige Annäherung an das Prozessgeschehen und eröffnet zugleich einen verstehenden Umgang mit diesem. Die Dramaturgie des hermeneutischen Umgangs mit der entfremdeten Vorstellungswelt bzw. mit dem Wahn ist belastet von Betroffenheit, einhergehend mit Staunen, Zweifel Gaetano Benedetti, Todeslandschaften der Seele, Göttingen 1983, 308. Gaetano Benedetti, Todeslandschaften der Seele, 308. 38 Gaetano Benedetti, Todeslandschaften der Seele, 308. 39 Gaetano Benedetti, Todeslandschaften der Seele, 308. 40 Hermes Andreas Kick, Grenzsituationen, Krisen, kreative Bewältigung. Prozessdynamische Perspektiven nach Karl Jaspers, Heidelberg 2015, 55 ff., 92 ff. 36 37
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und Angst, gefolgt von Auseinandersetzung und Polarisierung, die nur auszuhalten bzw. erfolgreich durchzustehen sein wird, wenn zuvor eine ontologische Orientierung gewonnen ist, die dem Druck der Wahndynamik standhält. So kann schließlich die Chance zu einer neuen Sinngestalt, einer Lösung (Abb. 1), eröffnet werden.41 Ein Dialog unter schwierigsten Bedingungen beginnt, soll er überhaupt Chancen haben, mit der Seinsvergewisserung des Dialogpartners, des Therapeuten selbst, beginnt mit dem Gewinn lebensdienlicher Orientierung und womöglich mit der Markierung eines Weges, der die Näherung an die Wahrheit, als dann schließlich gemeinsame Wahrheit, als eine Versöhnung der Perspektiven avisiert. Voraussetzung ist für den Dialogpartner gewiss, die »Seinsvergessenheit der Gegenwart« zu sehen, sie stets erneut zu überwinden. Indem er auf die Widerständigkeit des Konkreten in der Welt trifft, soll er sich eben nicht an diesem Konkreten halten, sich nicht mit der Befind lichkeit des »Man«42 zufriedengeben. Er soll sich zuvor bewusst sein der Gefährdungen einer »Verfallenheit an die Welt«43, der »Uneigentlichkeit des Daseins«.44 Er gewinnt die Festigkeit, indem er sich seiner Geworfenheit und Sterblichkeit aussetzt, dadurch die »Uneigentlichkeit des Daseins« meidet, die sich laufend in charakteristischen Risikosituationen inszeniert und sich als eine Flucht vor dem eigentlichen Sein, als Grundstimmung der Angst, als Befindlichkeit seines Besorgens manifestiert. Er weiß um die Gefährdung durch Zerstreuung und Neugier, die an die Stelle von kreativem Staunen und Verwunderung treten. Er weiß um das »Gerede«,45 das die innere Unruhe und Angst verbirgt. Er weiß, dass sich an die Stelle von Mit-Sein mit dem anderen, Basis der Erschlossenheit des In-der-Welt-Seins, das Gerede schiebt, das zur Entfremdung von dem Anderen führt. Das Mit-Sein im »Man« ist kein indifferentes Nebeneinander, sondern vielmehr ein heimliches Sich-Beobachten und Kontrollieren, gekennzeichnet von sensitivem Misstrauen bis eben kulminierend in der Entfremdung. Eine weitere Risikosituation besteht darin, sich vorzumachen, alles sei in bester Ordnung, was aber nur das verfallende »In-der-Welt-Sein« verstärkt. Die Selbst-Korrumpierung schließlich stürzt das Dasein des Menschen in die Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der Alltäglichkeit. Philosophisch benennt Heidegger unmissverständlich den Lösungsweg. Im Dialog führt die Widerständigkeit des Konkreten auch in der Gestalt des Dialogpart ners und seiner Position nicht zur Anpassung, sondern führt in der Auseinandersetzung mit dem Zweifelseinwand zu einer neuen Lösung oder auch in die Grenzsituation. Dem Begriff der Grenzsituation, wie ihn Karl Jaspers geschaffen und in der Psychologie der Weltanschauungen46 entwickelt hat, stand Heidegger mit einer gewis Für die folgenden Überlegungen kann die von Karl Jaspers und den meisten Psychopathologen vertretene Unterscheidung des »echten Wahns« von »wahnhaften Ideen« zunächst unberücksichtigt bleiben. Hinsicht lich der Genese wird beim echten Wahn von einer nicht verstehbaren Zäsur ausgegangen, bei wahnhaften Ideen dagegen von einer durchgängigen Verstehbarkeit als psychischer Reaktion. 42 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1967, 175–180. 43 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 175. 44 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 42–45. 45 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 177. 46 Vgl. Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1954. 41
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Wahn, Zweifelseinwand und Transzendierung im Dialog
sen Distanz gegenüber. Das lag auch an der psychologisch-philosophischen Doppel natur der von Karl Jaspers entwickelten Begrifflichkeiten. Gerade diese ist jedoch erforderlich, um zu einem Lösungsweg und zu konkreten dialogischen Schritten zu gelangen. Dialogisch geht es nämlich darum zu beachten, dass es bei Konfrontation mit der Widerständigkeit des Konkreten, d. h. bei Offenlegung einer lebensbedrohlichen Position, die durch das »Man« und klinisch im Extrem durch den Wahn verdeckt und durch den Zweifelseinwand offengelegt wird, zu einer Entbergung der conditio humana und damit einhergehend zu einer massiven Anflutung von Angst kommt, zu einer kritischen Erhöhung des affektiven Drucks. Diese Ent-deckung der conditio humana, einhergehend mit psychologisch erfahrbarer enormer Angst, soll nicht in eine Wiederverdeckung rückgeführt werden, sondern über die Entbergung zu einer neuarti gen Bergung gelangen. Diese kritische Situation, von Karl Jaspers als Grenzsituation beschrieben, führt als ein »nichtendes Nichts« zu einem Versinken des Seienden, das das Sein enthüllt; das Sein wird so zur »Lichtung«, einhergehend mit dem Erlebnis des Numinosen, einer Lichtung oder Erleuchtung bzw. Vision also, die das neue Seiende entbirgt und so zur Annäherung an die Wahrheit führt. In der Grenzsituation ist allerdings eine Entscheidung zu treffen hin zu einer konstruktiven Lösung, die zum eigentlichen Existieren führt.47 Gefährdung besteht darin, der Verführbarkeit der Macht anheimzufallen und so der Destruktivität, der Verdunkelung, Fragmentierung von Welt, der Einengung und erneuten Entfremdung in Rache und Hass ausgesetzt zu sein und zu bleiben. Offenlegung der conditio humana – Entbergung – umgreift die Chance, zu einer Konsolidierung in einem neuen Wert zu gelangen ganz im Sinne eines Kunstwerks und auch der Wissenschaft (Abb. 1). Aus psychotherapeutischer Sicht sind somit zu den Ausführungen von Heidegger in Sein und Zeit,48 will man sie therapeutisch und dialogisch fruchtbar bzw. handhabbar machen, der Begriff der Grenzsituationen, wie ihn Karl Jaspers entwickelt hat, mit heranzuziehen. Stets zu beachten ist, dass der affektive bzw. dynamische Druck in den präkritischen Szenarien in der Auseinandersetzung und in der Konfrontation mit dem Zweifelseinwand wächst. Dies bedeutet, dass die durch die Wahngewissheit gewissermaßen geschützten, fragwürdigen Werte und strukturellen Defizienzien nur durch Offenlegung und Exter nalisierung einer Bearbeitung zugänglich werden können.49 Angesichts der Offenle gung ungelöster Fragen kommt es zur Verzweiflung, bei entsprechender Massivität des dynamischen Drucks zur Überschreitung lebenserhaltender Barrieren von Schmerz, Scham, Ekel und Gewissen. Mit Überschreiten der Grenze beginnt die Grenzsituation. Die bislang aufrechterhaltene Verdeckung wird »ent‑deckt«. Es ist dies zum einen die Voraussetzung der Existenzerhellung50 und die Chance, die zur neuen Form führen Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit. 49 Hermes Andreas Kick, »Das Kunstwerk als Paradigma in der Psychotherapie der Psychosen«, in: Daseinsanalyse – Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse 4 (1987), 141–154, 152. 50 Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 275, 637. 47
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Hermes Andreas Kick
kann. Zum anderen kann es zum bloßen Symptomwandel, als Perversion, Sucht oder vertiefter Entfremdung, kommen bzw. zu einer Ausweitung des Wahns, begleitet von suizidalem oder homizidalem Verhalten (Rache-Hass-Zirkel, siehe Abb. 1). In der Grenzüberschreitung und Grenzsituation liegt somit etwas schwer vorhersehbares Doppeltes: zum einen das Risiko, in die noch komplexere Verdeckungsstrategie einer Akuisierung des Wahns zu entgleisen, und zum anderen die Chance, durch eine »Ent‑deckung« der conditio humana zum eigentlichen Existieren51 zu gelangen.
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Martin Heidegger, Sein und Zeit, 179.
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Verzweiflung Affektiver Druck Auswegslosigkeit Bewusstwerden der Gefährdung des Menschseins als Menschsein
Entbergung
Widerständigkeiten des Konkreten, analog dem therapeutisch konzipierten Zweifelseinwand führt zur Infragestellung der Verbergung als „Befindlichkeit des Man“ „Verfallensein an die Welt“ „Uneigentlichkeit des Daseins“ (Heidegger 1927) Angst Sinnlosigkeit Tod Schuld (Tillich 1952)
Bedrohung durch das Nichts
Entfremdung
Eigentliches Existieren wird entdeckt: Konsolidierung durch Begegnung In Poesie / Kunstwerk / Wissenschaft Wahrheit als Unverborgenheit (Heidegger 1935) und Bergung: Erweiterung von Welt als versöhnendes Kunstwerk (Wahrheit ist der Verborgenheit abgerungen)
Grenzsituation als Offenlegung der Conditio humana und Entscheidung für Destruktivität oder Konstruktivität
Einengung von Welt
Fragmentierung von Welt
Wahn / Paranoia
Chronifizierung und Verfestigung von
Postkritische Phase
Angestrebter therapeutischer Prozess im Dialog
Abb.1: Präkrise und sich anbahnende Grenzsituation durch die Konfrontation des Wahns mit der »Widerständigkeit des Konkreten« bzw. analog mit dem therapeutisch konzipierten Zweifelseinwand (Kick 1992). Der Zweifelseinwand führt in die Grenzsituation (Krise), einhergehend mit der Chance (postkritisch) einer Versöhnung unter neuartigen Vorzeichen als Bergung: Eigentliches Existieren, Konsolidierung durch Begegnung in Poesie, Kunstwerk und Wissenschaft als »Erweiterung von Welt«: Das Nichten des Nichts lässt das Seiende versinken, enthüllt (so) das Sein. Das Sein wird zur Lichtung, die das (neue) Seiende entbirgt und zur Wahrheit führt.
Verbergung von Selbst und Welt (mit und ohne Wahn) trifft auf die Widerständigkeit des Konkreten, setzt die initiale Problemkonstellationen in Gang, legt offen die „Geworfenheit“ (Heidegger 1927) „Natalité“ (Hannah Arendt 1958) Sterblichkeit „Seinsvergessenheit der Gegenwart“ „Befindlichkeit des Man“ (Heidegger 1927)
Krisis
Entbergung: Lichtung von Wahrheit Begleitend Auftreten von Schmerz, Scham, Ekel, Schuldgefühl bzw. externalisierte Schuldvorwürfe, die sich als Grenzgefühle (Kick 2015) der Entbergung entgegensetzen
Präkritische Phase
Wahn, Zweifelseinwand und Transzendierung im Dialog
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Hermes Andreas Kick
Nach Überschreiten der Grenze kommen in der Grenzsituation neuartige Kräfte ins Spiel: Sie entsprechen der Faszinationskraft des Dämonischen und des Heiligen, eben dem Einbruch des Numinosen, das sich im Sinne von Rudolf Otto aus zwei Gefühlsqualitäten, dem tremendum und dem fascinans, zusammenfügt.52 Der Einbruch des Numinosen bewirkt Krise, erzwingt Wandlung, ermöglicht aber auch die alle personalen Kräfte übersteigende Tat. In der Grenzsituation ist grundsätzlich zwischen zwei Wegen zu entscheiden: Dem der Destruktivität und dem der Konstruktivität bzw. der Versöhnung und der Integration. Kraft der Entscheidung vollzieht sich nachfolgend im Rahmen des postkritischen Prozesses eine »poetische« Lösung. Um auf diesen Weg zu kommen, bedarf es eines künstlerischen Vorganges, durch den eben das Werk als »Komplement, als Erweiterung von Welt«53 entsteht. Keinesfalls kann es nur darum gehen, eine bestimmte seelische Ausgangslage wieder herzustellen. Gerade diese hat sich ja als nicht tragfähig genug erwiesen. Notwendig ist es vielmehr, die in der Grenzsituation offengelegten und freigewordenen strukturellen Fragmente der Person zu ordnen und neu zu verknüpfen. Aus ethischer Perspektive entspricht die neue Form einer Balance, die lebensdienlichen Ausgleich und Ordnung ermöglicht. Auf psychosozialer Ebene findet sich ineins mit der individuellen Lösung eine Bewährung des neuen Wertes als kommunikatives, d. h. intersubjektiv einsetzbares, hoffnungsstif tendes Symbol. Für die dauerhafte Stabilisierung eines solchen Ausgleiches ist ein in der Begegnung entdeckter gemeinsamer Wert von elementarer Bedeutung, der Teil der neuen Lösung ist. Mit solchem Wert ist gemeint: dass in der Lösung als Kunstwerk und in der dadurch ermöglichten Begegnung etwas Gewesenes wieder, oder etwas Werdendes erstmalig, jedenfalls etwas vorher Unsichtbares zur Anschauung komme und dadurch dem Leben diene. Die vorausgegangenen Überlegungen weisen darauf, dass es um die Anerkennung des Zweifels als Sensor, als Warner vor Verabsolutierung geht.
Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1963. 53 Hermes-Andreas Kick, »Vom Umgang mit Mythen: Doch noch Hoffnung für danach? – Begegnungs wege«, in: Günther Dietz / ders. (Hrsg.), Grenzsituationen und neues Ethos. Von Homers Weltsicht zum modernen Menschenbild, Heidelberg 2005, 68–90, 86. 52
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Wahn, Zweifelseinwand und Transzendierung im Dialog
Verbergung
Entbergung
Bergung
Wahrheit: Unverborgenheit: “Gegeneinander von Entbergung und Verbergung” Martin Heidegger 1935
Wahrheit Unverborgenheit Kunstwerk Authentische Beziehung Abb. 2: Wahrheit als Balance
Liebevolle Zweifel sorgen für eine Balance des Beziehungsgeschehens, sorgen so für die Aufrechterhaltung einer Ordnung der Liebe. Zweifel ist, so verstanden, eine Rebellion, ein Aufschrei des Herzens gegenüber einer Gefährdung der Beziehung durch Verabsolutierung. Diese Verabsolutierung bestimmter Werte möchte der Entfremdete, der Wahnkranke verbergen. Verbergen ist das eine Extrem, das die Wahrhaftigkeit und Authentizität einer Außenbeziehung gefährdet. Entbergung und Zwang zur radikalen Offenlegung, Respektlosigkeit und Ausüben von Macht durch Konfrontation mit erschreckenden Inhalten ist die gegenteilige Gefährdung. Eine wahrhaftige und authen tische Beziehung bedarf eines Gleichgewichts zwischen Verbergen und Entbergen, nämlich eines Bergens, das ureigene, erschreckende, menschliche Bedingungen aufhebt und ertragen lässt.54 »Die Gespanntheit dieser Spannung ist es, die das Gestaltwerden eines Kunstwerks ausmacht«, so führt Hans-Georg Gadamer aus.55 Mit der Wahrheit und Authentizität der gelungenen Beziehung verhält es sich analog, deren Wahrheit als Unverborgenheit stets ein solches »Gegeneinander« von Entbergung und Verbergung umfasst.56 In der menschlichen Beziehung als Begegnung ist Wahrheit, gleichwie im Kunstwerk, nicht nur als das bloße Offenlegen von »Sinn« zu verstehen, sondern als »Komplement von Welt«57 als etwas Neues, gekennzeichnet von Unergründlichkeit und Tiefe. »Beziehung ist wie ein Kunstwerk, seinem Wesen nach Streit zwischen Welt und Erde, Aufgang und Bergen«.58
Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 1960, 63. Hans-Georg Gadamer, »Zur Einführung«, in: Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, 110. 56 Hans-Georg Gadamer, »Zur Einführung«, 110–111. 57 Vgl. Hermes Andreas Kick, »Der Wahn als Problem der klinischen Diagnostik und als Abwandlung der dialogischen Grundverfassung«, in: Fundamenta Psychiatrica 6 (1992),190–195. 58 Hans-Georg Gadamer, »Zur Einführung«, 110. 54
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Hermes Andreas Kick
Stets ist zu beachten, dass Wahngewissheit als Ausdruck von Verbergung die Selbstverdeckung der Existenz aufrechterhält, indem sie die Auseinandersetzung mit dem Zweifelseinwand verstellt. Die daraus resultierende kommunikative Isolation ver hindert Betroffenheit und in der Folge auch das Bewusstwerden und die Überwindung der Grenzsituation, die nicht nur Gefährdung, sondern auch die Chance eines kritischen Reifungsimpulses impliziert. Sicher fehlen beim Wahnkranken zunächst entscheidende Voraussetzungen für ein Aufscheinen und Ertragen der Existenz in ihrer Ganzheit, damit auch für eine Wahrnehmung und Verständigung über den Gegenstand des Zwei fels als eines ersten Schrittes hin zu einem Verstehen. Seitens des Therapeuten geht es, kontrastierend hierzu, jedoch keineswegs »nur« um ein Verstehen, sondern ebenso um ein Schärfen der Wahrnehmung für die Grenzen desselben. Dabei geht es um ein Verstehen des Verstehbaren ebenso wie um eine Anerkennung des Nicht-Verstehbaren, das sich einem Verstehen des Nicht-Verstehen-Könnens annähert. Dies ist freilich nur möglich aus der Perspektive eines Selbst-Seins, das geprägt ist von Betroffenheit und liebendem Kampf und bestärkt ist von der Hoffnung auf eine Transzendierung des Wahns wie des Zweifelseinwandes hin auf eine gemeinsame Wirklichkeit als Wahrheit und als Aufhebung der Widersprüche in der neuen Form.
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Miles Groth, Heidegger and the Future of Psychotherapy Martin Heidegger's influence on psychotherapy to date is reflected in the therapeutic daseinanalysis [Daseinsanalyse] developed by the Swiss psychiatrist and psychoanalyst Medard Boss (1903–1990) beginning in the late 1940s. Boss found in the analytics of Dasein (human existing) [Daseinsanalytik] presented in Sein und Zeit an existential approach to working with other human beings that was characterized by Heidegger as »way-making caring for« [vorausspringde Fürsorge] the other. As an approach that is centered on bringing to light the as yet unactualized possibilities of a given human being in an expression of his or her freedom, it is in stark contrast to the interventional approach [einspringende Fürsorge] of most psychotherapies. Boss retrieved the hint of such an approach in Sigmund Freud’s psychoanalysis [Psychoanalyse], disburdened the latter of its metapsychology, and described an analysis of Dasein that after a period of dormancy has again attracted the interest of young therapists worldwide. Now almost a century after it was first presented to the public, Heidegger’s view of the nature of human being has resurfaced and the prospect of its influence on »psychotherapy« as generally understood is promising, acknowledged for its radicality as psychiatry and clinical psychology face their current period of crisis. Heidegger und die Zukunft der Psychotherapie Der Einfluss Martin Heideggers auf die Psychotherapie spiegelt sich bis heute in der therapeutischen Daseinsanalyse wider, die der Schweizer Psychiater und Psychoanaly tiker Medard Boss (1903–1990) ab Ende der 1940er Jahre entwickelte. Boss fand in der Daseinsanalytik, die in Sein und Zeit ausgearbeitet wurde, einen existenzialen Ansatz für die Arbeit mit anderen Menschen, der von Heidegger als »vorausspringende Fürsorge« für den anderen charakterisiert wurde. Als ein Ansatz, der sich darauf konzentriert, die noch nicht verwirklichten Möglichkeiten eines bestimmten Menschen als Ausdruck seiner Freiheit ans Licht zu bringen, steht er in großem Gegensatz zu der »einspringenden Fürsorge« der meisten Psychotherapien. Boss hat die Andeutung eines solchen Ansatzes in Sigmund Freuds Psychoanalyse wiedergefunden, diese von ihrer Metapsychologie entlastet und eine Analyse des Daseins beschrieben, die nach einer Zeit des Dornröschenschlafs wieder das Interesse junger Therapeuten weltweit auf sich gezogen hat. Heute, fast ein Jahrhundert nach ihrer ersten öffentlichen Präsentation, ist Heideggers Sicht des menschlichen Daseins wieder aufgetaucht, und die Aussicht auf ihren Einfluss auf die »Psychotherapie«, wie sie im Allgemeinen verstanden wird, ist vielversprechend und wird wegen ihrer Radikalität anerkannt, da sich die Psychiatrie und die klinische Psychologie in ihrer derzeitigen Krise befinden.
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Robert D. Stolorow, Befindlichkeit, Emotional Phenomenology, and Psycho analytic Therapy Befindlichkeit—how-one-finds-oneself—is Heidegger’s term for a primordial mode of disclosedness that includes both affectivity and the situatedness in which affective experience takes form, prior to a Cartesian split between inside and outside. Heidegger illustrates this conception with his ontological account of anxiety and its disclosive power. His account of anxiety gives striking insight into the phenomenology of emotional trauma, both individual and collective. This understanding, in turn, holds profound implications for the formulation of a therapeutic comportment characterized as emotional dwelling. Befindlichkeit, Emotionale Phänomenologie und psychoanalytische Therapie Befindlichkeit – wie man sich selbst befindet – ist Heideggers Begriff für einen ursprünglichen Modus der Offenheit, der sowohl die Affektivität als auch die Situiert heit, in der die affektive Erfahrung vor einer kartesianischen Trennung zwischen Innen und Außen Gestalt gewinnt, einschließt. Heidegger veranschaulicht diese Begrifflich keit mit seiner ontologischen Interpretation der Angst und ihrer offenbarenden Macht. Seine Interpretation der Angst erlaubt einen bemerkenswerten Einblick in die Phäno menologie sowohl des individuellen als auch des kollektiven emotionalen Traumas. Dieses Verständnis hat seinerseits tiefreichende Implikationen für die Formulierung eines therapeutischen Verhaltens, das als emotionales Verweilen charakterisiert wird. Richard D. Chessick, Psychoanalytic Peregrinations: Phenomenology and The Zollikon Seminars This article proposes to clarify the use of phenomenology as a complementary approach to the psychoanalytic process. Because phenomenology is defined and used differently by many different authors, it is here specifically juxtaposed to the DSM-5 approach for purposes of comparison and elucidation. Phenomenology attempts to complement the objectivation and mathematization of reality by the sciences with allowing things to speak for themselves. This requires an attitude of acceptance of whatever appears from the patient in the consulting room without filtering it through judgements or presuppositions that we are all taught in our training. So, for example, such concepts as »empathic linkage," the »infectiousness« of anxiety, the »feel« of the schizophrenic ambiance, as described by various authors, come across more directly in an encounter based on the phenomenologic approach. This can be used in addition to DSM-5 and other approaches to gain new information. A brief review of how phenomenology arose and the use of it by certain well-known thinkers is presented and then an application and comparison of the psychoanalytic method and the phenomenological method is illustrated in describing the Zollikon seminars.
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Abstracts
Psychoanalytische Wanderungen: Phänomenologie und die Zollikoner Semi nare Dieser Artikel entwickelt den Vorschlag, die Verwendung der Phänomenologie als eines komplementären Ansatzes zum psychoanalytischen Prozess zu klären. Da die Phäno menologie von vielen verschiedenen Autoren unterschiedlich definiert und verwendet wird, wird sie hier zum Zwecke des Vergleichs und der Erläuterung ausdrücklich dem DSM-5-Ansatz gegenübergestellt. Die Phänomenologie versucht, die Objektivierung und Mathematisierung der Wirklichkeit durch die Wissenschaften zu ergänzen, indem sie die Dinge für sich sprechen lässt. Dies erfordert eine Haltung der Akzeptanz dessen, was sich seitens des Patienten im Behandlungszimmer zeigt, ohne es durch Urteile oder Annahmen zu filtern, die uns allen in unserer Ausbildung beigebracht werden. So zeigen sich zum Beispiel Konzepte wie »empathische Verknüpfung«, die »Ansteckungskraft« von Angst, das »Gefühl« der schizophrenen Atmosphäre, wie sie von verschiedenen Autoren beschrieben werden, direkter in einer Begegnung auf der Grundlage des phänomenologischen Ansatzes. Dies kann zusätzlich zu DSM-5 und anderen Ansätzen verwendet werden, um neue Informationen zu gewinnen. Es wird ein kurzer Überblick darüber gegeben, wie die Phänomenologie entstand und wie sie von einigen bekannten Denkern verwendet wurde, und dann wird eine Anwendung und ein Vergleich der psychoanalytischen Methode und der phänomenologischen Methode bei der Beschreibung der Zollikon-Seminare veranschaulicht. Françoise Dastur, Phänomenologie und Therapie. Die Frage nach dem Ande ren in den Zollikoner Seminaren Dieser Aufsatz wendet sich dem Verhältnis zwischen Martin Heidegger und Medard Boss zu und stellt dabei die Frage nach dem Anderen in den Seminaren, die in Boss' Haus in Zollikon von 1959 bis 1969 stattfanden und in denen Heidegger es darauf ankam, dass auch Ärzte neben der naturwissenschaftlichen Methode einen »phänomenologischen Blick« üben, in den Vordergrund. Es zeigt sich, dass die Rede von einem »therapeutischen« Verhältnis ein ähnlicher Pleonasmus wie die Rede vom »menschlichen Dasein« ist. Der einzige Name des Verhältnisses ist Sorge. Wenn die menschliche Krankheit in Störungen der Anpassung und der Freiheit besteht, bedeutet dies, dass es sich bei der therapeutischen Beziehung im engen Sinn (bei der Beziehung zwischen Arzt und Patient) darum handelt, eine Modalität der Beziehung, die die Freiheit des Patienten voraussetzt, ins Werk zu bringen. Es bedeutet also, dass der Arzt (oder der Lehrer) seine Freiheit dem Patienten (oder dem Lernenden) nur zurückgeben kann, indem er seine eigene Freiheit bezeugt. Und das ist gerade das, was Heidegger »vorausspringende Sorge« genannt hat. Phenomenology and Therapy. The Question of the Other in the Zollikon Semi nars This essay addresses the relationship between Martin Heidegger and Medard Boss and poses the question of the other in the seminars that took place in Boss' house in Zollikon from 1959 to 1969 and in which Heidegger argued that it is important 241 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
that doctors, in addition to the use of scientific methods, practice a »phenomenological view«. It turns out that talking about a »therapeutic« relationship is a similar pleonasm as talking about »human Dasein«. The only name of the relationship is care. If human disease consists in disorders of adjustment and freedom, this means that the therapeutic relationship in the strict sense (the relationship between doctor and patient) has the task to bring a modality of the relationship that presupposes the freedom of the patient into existence. This it means, therefore, that the doctor (or the teacher) can only give back his freedom to the patient (or the learner) by witnessing his own freedom. And this is precisely what Heidegger called »anticipatory care«. João Augusto Pompéia, Pain and Time The article brings the clinical work closer to the Daseinsanalysis therapist. It starts by outlining the fundamental aspects of Dasein (history in progress, indetermination of the future, temporal Gestalt); it reveals and deepens the knowledge of the temporal and historical dynamism involved in the human suffering of loss, guilt and restriction of freedom; and it approaches the psychotherapeutic process of the Daseinsanalyst as a movement of recovery from the historicity of past time (forgiveness) and the donation of future time (commitment). Schmerz und Zeit Der Artikel bringt dem Daseinsnalytiker die klinische Tätigkeit näher. Er beginnt mit der Darstellung der grundlegenden Aspekte des Daseins (Geschichte im Werden, Unbestimmtheit der Zukunft, zeitliche Gestalt); er enthüllt und vertieft die Erkenntnis über die zeitliche und historische Dynamik, die mit dem menschlichen Erleiden von Verlust, Schuld und Freiheitseinschränkung verbunden ist; und er setzt sich mit dem psychotherapeutischen, daseinsanalytischen Prozess als einer Bewegung der Wiedergewinnung der Geschichtlichkeit vergangener Zeit (Vergebung) und der Spende künftiger Zeit (Verpflichtung) auseinander. Kolia Hiffler-Wittkowsky, Die Frage nach der Leiblichkeit in den Zollikoner Seminaren. Heideggers problematisches Verhältnis zu Descartes’ Methode Von den Zollikoner Seminaren ausgehend wird in diesem Aufsatz eine kritische Analyse von Heideggers Interpretation der cartesischen Methode versucht. Für Heidegger ver körpert Descartes den Geist der modernen Wissenschaft, die alles Seiende verdinglicht. Besagte wissenschaftliche Methode, die auf entscheidenden cartesischen Begriffen fußt, so Heidegger, lasse den Begriff der Leiblichkeit unberücksichtigt. Der Aufsatz versucht jedoch im Gegensatz zu Heideggers Analyse und in Anlehnung an den phänomenologi schen Rückgriff auf Descartes zu zeigen, dass Descartes’ Denken Leiblichkeit in Betracht zieht, und dass die cartesische Weisheit einen Zugang zum Seienden ermöglicht, der über die reine Verdinglichung der Welt hinausgeht, die Heidegger der modernen Wissenschaft zuschreibt. 242 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
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The Question of Bodiliness in the Zollikon Seminars. Heidegger's Problematic Relation to Descartes' Method This article draws on the Zollikon Seminars, in an attempt to analyse critically Heide gger’s interpretation of the Cartesian method. According to Heidegger, Descartes epitomises the spirit of modern science, which objectifies every being. In his view, the scientific method, which hinges on fundamental Cartesian concepts, bypasses the concept of bodiliness (Leiblichkeit). However, shifting the focus onto phenomenological interpretations of Descartes, this article suggests that Descartes’s thought does take bodiliness into account, and that Cartesian wisdom allows access to the beings, thereby going beyond the pure objectification that Heidegger ascribes to modern science. Luisa Paz Rodríguez Suárez, Die ekstatische Leiblichkeit des Daseins als Existenzial. Die Bedeutung der Daseinsanalytik Heideggers für Medard Boss‘ Daseinsanalyse Die Daseinsanalytik Heideggers bedeutet für die Daseinsanalyse eine Alternative zu den naturwissenschaftlichen Grundlagen der Psychiatrie und hat es dementsprechend für Boss' Daseinsanalyse unter anderem möglich gemacht, den existenzialen Charakter der menschlichen Leiblichkeit zu verstehen. Diese neue Sicht ist grundlegend, um die sogenannten psychosomatischen Störungen wie Halluzinationen oder Stress auf eine andere Weise zu erklären. Im Gegensatz zum cartesianischen Leib–Seele–Dualismus (d. h. den Menschen als res extensa und res cogitans verstanden), ist der Leib aus einem daseinsanalytischen Ansatz nicht als etwas Vorhandenes aufgefasst, sondern als Existenzial. Das Leiblich-sein setzt nämlich das Existieren als in-der-Welt-sein immer schon voraus. Das bedeutet, dass der Leib nicht als die Körperhaftigkeit eines leblosen Gegenstandes, sondern aus seinem ekstatischen Charakter heraus zu verstehen ist. Aus diesem Grund ist Leiblich-sein als ein Entsprechen verstanden, welches uns erlaubt, zu dem Schluss zu kommen, dass die Verfassung der ekstatischen Leiblichkeit hermeneutischer Natur ist. Es ist daher nicht notwendig – wie es die traditionelle Psychologie tat –, ein psychisches Vermögen zu postulieren, das das Somatische angeblich beseelt soll -welches Somatische als etwas bloß Körperliches verstanden wird. The Ecstatic Bodiliness of Dasein as Existential. The Importance of Heidegger's Analytic of Dasein for Medard Boss' Daseinsanalysis Heidegger’s analytic of Dasein stands as an alternative to psychiatry’s natural-scientific foundation for Daseinsanalysis and, consequently, has made it possible for Boss’ Daseinanalysis to understand the existential character of human bodiliness. This new perspective is paramount to making sense of the so-called psychosomatic disorders, such as hallucinations and stress, in a different way. In contrast to the Cartesian dualistic body-soul scheme (i.e., the human being understood as res extensa and res cogitans), the human body is understood, not as an inanimate object, but as an existential. This is, bodily-being necessarily presupposes being-in-the-world. This implies that the human body, instead of being a mere physical entity categorized as any other object, is of ecstatic nature. As a result, bodily-being is understood as corresponding, allowing 243 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
us to conclude that the constitution of ecstatic bodiliness is of hermeneutic nature. Therefore, it is not necessary to postulate a psychic faculty—as traditional psychology did—that would supposedly animate the somatic—taking the somatic to be a merely physical entity. Josef Jenewein, Die Zürcher Schule der Daseinsanalyse Die Daseinsanalyse, als eine klinische Psychotherapieform, entwickelte sich einerseits auf der Basis einer kritischen Auseinandersetzung mit der Freud‘schen Psychoanalyse, andererseits aufgrund eines wissenschaftlichen Unbehagens über die einseitig natur wissenschaftlich ausgerichtete Psychiatrie und der Suche nach einem neuen Grundla genverständnis menschlicher Existenz. Dieses Grundverständnis menschlicher Exis tenz (Menschenbild) wurde im Denken Martin Heideggers gefunden und gründet im Wesentlichen auf dessen Fundamentalontologie, wie sie erstmals in seinem Grundwerk Sein und Zeit ausgearbeitet wurde. Die Zürcher Schule der Daseinsanalyse entwickelte sich in enger Zusammenarbeit zwischen den Begründern (Medard Boss, Gion Con drau) und Heidegger. Ausgehend von Heideggers Grundverfassung des menschlichen Daseins als In-der-Welt-sein wurde unter streng phänomenologischer Methodik ein neues Verständnis von psychischen Störungen und deren Behandlung entwickelt. Krankheit bedeutet das Fehlen von oder den Mangel an Gesundheit und psychische Erkrankungen zeigen sich phänomenologisch in einem typischen Weltverhältnis, d. h. also in spezifischen Einschränkungen des Freiheits- und Handlungsspielraumes der betroffenen Person. Das Ziel der daseinsanalytischen Psychotherapie ist, den psychisch leidenden Menschen von dessen Einschränkungen so weit wie möglich zu befreien. Dies geschieht im Wesentlichen durch drei Elemente oder Wirkfaktoren: die therapeu tische Beziehung (Fürsorge und Mit-Sein), die phänomenologisch-hermeneutische Auslegung von Träumen und die Klärung bzw. Aneignung der Lebensgeschichte. The Zurich School of Daseinsanalysis Daseinsanalysis, as a clinical form of psychotherapy, developed on the one hand on the basis of a critical examination of Freudian psychoanalysis, on the other hand due to scientific unease about psychiatry, which was one-sidedly natural scientifically oriented, and the search for a new basic understanding of human existence. This basic understanding of human existence (idea of man) was found in Martin Heidegger's thinking and is essentially based on his fundamental ontology, as first elaborated in his basic work Being and Time. The Zurich School of Daseinsanalysis developed in a close cooperation between the founders (Medard Boss, Gion Condrau) and Heidegger. Based on Heidegger's basic constitution of human existence as being-in-the-world, a new understanding of mental disorders and their treatment was developed using strictly phenomenological methods. Illness means the lack of health and mental illnesses show up phenomenologically in a typical world relationship, i.e., in specific restrictions of the freedom and options of action of the person concerned. The aim of Daseinsanalytic psychotherapy is to free the mentally suffering person from their limitations as far as possible. This essentially happens through three elements or effective factors: the the 244 https://doi.org/10.5771/9783495995587 .
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rapeutic relationship (caring-for and being-with), the phenomenological-hermeneutic interpretation of dreams, and the clarification or appropriation of the individual biogra phy. Hans-Dieter Foerster, Die Entwicklung der Daseinsanalyse in Österreich Daseinsanalyse ist eine tiefenpsychologische Therapieform und Forschungsrichtung mit phänomenologisch-hermeneutischer Ausrichtung, die im Rahmen einer existen tial-ontologisch fundierten Anthropologie auf eine neue Weise nach dem Wesen (Sein) des Menschen fragt. Daseinsanalyse ist der sorgfältigste Zugang zum Menschen. Der Name »Daseinsanalyse« setzt sich zusammen aus Begriffen zweier sehr unterschiedli cher Richtungen, dem Begriff »Analyse« aus der »Psychoanalyse« von Sigmund Freud und dem Begriff »Da« aus der »Daseinsanalytik« von Martin Heidegger. The Development of Daseinsanalysis in Austria Daseinsanalyse is a deep-psychological form of therapy and research field with a phenomenological-hermeneutic orientation, which, within the framework of an exis tential-ontologically founded anthropology, poses the question of the essence (being) of human beings in a new way. The name »Daseinsanalyse« is made up of the terms of two very different schools of thought, the term »psychoanalysis« from Sigmund Freud and the term »analytic of Dasein« from Martin Heidegger. Johann Georg Reck, Mögliche Beziehungen in einer gemeinsamen Welt Einleitend wird auf die Möglichkeit eines weiteren Raumes hingewiesen, der sich »im Gespräch« zwischen noch Fremdem und schon Vertrautem in einer gemeinsamen Welt eröffnet. Sodann wird in drei Abschnitten zum Thema »Selbstsein und Mitsein – Phänomenologie von Beziehungen und therapeutische Praxis« Stellung bezogen: 1. zum philosophischen Hintergrund des Daseins; 2. zu Selbstseins- und MitseinsErfahrungen im Alltag; 3. zu Selbstsein und Mitsein in der Psychotherapie. Possible Relations in a Common World In the introduction it will be pointed to the possibility of a further space, which opens »in the dialogue« between what is alien and what is already familiar in a common world. Then statements are given in three sections on the theme »Being-one's-self and Being-with—phenomenology of relations and therapeutic practice«: 1. on the philosophical background of Dasein; 2. on everyday experiences of Being-one's-selfand Being-with; 3. on Being-one's-self and Being-with in psychotherapy.
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Hermes Andreas Kick, Wahn, Zweifelseinwand und Transzendierung im Dialog als verstehende Therapie und versöhnendes Kunstwerk (Heidegger) Die Wahnkriterien von Jaspers haben zur diagnostischen bzw. definitorischen Prä zisierung beigetragen. Wahn ist über die phänomenologische Bestimmung hinaus Ausdruck einer zugrundeliegenden Daseinsabwandlung. Aus der Daseinsabwandlung resultiert eine pathische Gewissheit, die zu einer der vorrangigen Problemstellungen für den therapeutischen Umgang mit Wahnkranken führt. Unter Rückgriff auf das Werk Martin Heideggers ergeben sich für den Psychotherapeuten erweiterte Möglichkeiten bestimmter Auseinandersetzung unter adäquater Einbeziehung des sog. Zweifelsein wandes. Auseinandersetzung heißt hier stets zugleich dialogische Offerte als Ausdruck einer Hoffnung auf Transzendierung der Grenzsituation hin auf eine schließlich zu gewinnende, gemeinsame Wirklichkeit als Wahrheit im versöhnenden Kunstwerk. Delusion, Doubt Objection, and Transcending in the Dialogue as Understand ing Therapy and Reconciling Work of Art (Heidegger) Jaspers' criteria of delusion have contributed to the diagnostic or definitional specifi cation. Delusion is, beyond the phenomenological definition, the expression of an underlying change of Dasein. A pathic certainty results from the change of Dasein and leads to one of the primary problems for the therapeutic treatment of delusional patients. On the basis of the work of Martin Heidegger, the psychotherapist has further possibilities for certain confrontations with adequate consideration of the so-called doubt objection. Confrontation here always means at the same time a dialogical offer as an expression of hope for transcending the limit situation towards a common reality that can eventually be won as truth in the reconciling work of art.
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